Gehirn Und Geist September Nr 09 2009 (Elements ATTiCA)
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Transcript of Gehirn Und Geist September Nr 09 2009 (Elements ATTiCA)
Nr. 9/ 2009
€ 7,90 / 15,40 sFr.
D 5
7525
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung
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gehirn-und-geist.de
gehirn&geist
PsYChe UnD KreBsFördert positives Denkendie Heilungschancen? (S. 36) WeiBLiChes gehirnWarum Frauen anders denken (S. 60) KAUFsUChtDas verkannte Leiden (S. 14)
Mosaik der Persön- lichkeit
Mosaik der Persön- lichkeit hirnforscher erkunden das ich
www.gehirn-und-geist.de 3
editorial
Carsten KönnekerChefredakteur
Neu im HaNdel!Soeben erschien das vierte Heft unserer Serie »Kindesentwick-lung« – mit einer Auswahl der besten G&G-Artikel zum Jugendalter. Themen unter anderem: Hirnumbau während der Pubertät, Ursachen und Therapie von Essstörungen, Sucht-gefahr durch Partydrogen, Mobbing per Internet und Handy sowie Schuleschwänzen
AUTorEn In dIESEM HEfT
Kaufsucht stellt für Betroffene wie für deren Angehörige ein gravierendes Problem dar. Warum die Störung häufig unbehandelt bleibt, erklärt die Psychologin Astrid Müller vom neuropsychiatric research Institute in fargo, north dakota (S. 14).
Gibt es seelische risikofak-toren für Krebs? Hilft positives denken bei der Genesung? Volker Tschuschke, Professor für Medizinische Psychologie an der Universität Köln, erforscht, wie die Psyche Ausbruch und Verlauf von Tumorerkrankungen beein-flusst (S. 36).
Vor mehr als 2000 Jahren beschrieb Herophil von Chalcedon als Erster den Aufbau des Gehirns. der Anatom Helmut Wicht von der Universität frankfurt am Main und G&G-redakteur Hartwig Hanser stellen den Urvater der Hirnforschung und sein Wirken vor (S. 50).
die GeHeimNisse des icH
Als wir in der Redaktion die aktuelle Serie über »Die 5 größten Rätsel der
Hirnforschung« planten, stand schnell fest, dass die Folge »Gehirn und Persön
lichkeit« gleichzeitig Titelthema werden würde. Denn die Frage, wie Gehirn
aktivität mit unserem IchErleben sowie mit individuellen Persönlichkeitsmerk
malen zusammenhängt, betrifft jeden – und beschäftigt seit einigen Jahren eine
wachsende Zahl von Wissenschaftlern.
Ein intaktes Selbstbild zu haben ist für die meisten von uns so selbstverständ
lich wie laufen oder sehen können. Erst psychische Erkrankungen führen uns vor
Augen, dass das Ich aus den Fugen geraten kann, etwa wenn während einer
psychotischen Phase die Grenze zwischen Ich und »Welt« verschwimmt. Der
Psych iater Uwe Herwig geht davon aus, dass die Suche nach den neurobiolo
gischen Korrelaten solcher Störungsbilder neue Therapiewege eröffnet. Darüber
hinaus hofft der Forscher von der Uniklinik Zürich, eine ganz andere Frage be
antworten zu können: Warum verfügen wir überhaupt über ein Ich, das sich sei
ner selbst und der Umwelt bewusst ist und im Normalfall beides klar voneinan
der trennt? Dieses Rätsel, das die Philosophie und Wissenschaftsgeschichte seit
2500 Jahren beschäftigt, greift die aktuelle Forschung auf (S. 24).
Die Erkundung des Selbst geht aber noch weiter. Zumindest in Ansätzen lernen
Neuroforscher heute zu verstehen, wie Persönlichkeitseigenschaften und Gehirn
prozesse zusammenhängen. Hier gilt es vorsichtig zu sein und nicht vorschnell
das biologische Geschehen als Ursache bestimmter Charaktermerkmale eines
Menschen auszugeben. Dennoch ist es hochspannend zu beobachten, dass eine
lange bestehende Kluft zwischen Persönlichkeitspsychologen einerseits und Neu
rowissenschaftlern andererseits aktuell durch eine Reihe von Studien überbrückt
wird. Einer der Protagonisten dieser Forschung ist Christian Fiebach, Professor für
Kognitive Neurowissenschaften an der Universität Heidelberg. Ab S. 30 trägt er
die wichtigsten Befunde seines jungen Forschungszweigs zusammen.
Eine gute Lektüre wünscht Ihr
titelthema
24DerBlicknachinnenWie entsteht unser Selbstbild? Und – warum überhaupt? Immer tiefer dringen Neuropsychologen und Hirnforscher in das menschliche Bewusstsein vor. Ihr Fazit: Ein »Ich« zu haben, ermöglicht es dem Menschen, flexibel und kontrolliert zu agieren
Serie: die 5 gröSSten rätSel der HirnforScHung (iii)30PuzzleDerPersönlichkeitDie grauen Zellen bringen unsere geistigen Leistungen hervor. Sollte man dann nicht an Eigenarten des Gehirns individuelle Züge wie Impulsivität oder Intelligenz ablesen können? So weit sind Forscher noch nicht. Doch schon heute zeichnet sich ein Bild des »charakterbildenden« Wechselspiels von Genen, Gehirn und Umwelt ab
psychologie
14 WennshoPPenzursuchtWirD
Obwohl Betroffene lieber schweigen und Ärzte sie oft nicht beachten, ist Kaufsucht ein ernsthaftes Problem. Die Psychologin Astrid Müller erklärt, wann die Shoppinglust entgleitet und welche Behandlung hilft
Angemerkt!19 FalscheGeWichtunGForscher, Politiker und Medien sollten nicht länger so tun, als sei in erster Linie jeder selbst für sein Körpergewicht verantwortlich, kritisiert der Mediziner Johannes Hebebrand von der Universität DuisburgEssen
interview20»lernenistein
kommunikativerakt«Die Entwicklungspsychologin Uta Frith verrät, warum es den Schulerfolg von Kindern fördert, wenn sie sich in andere hineinversetzen
8 GeistesBlitze
ProteinalserFolGsinDikatorDepressionsbehandlung hinterlässt chemische Spuren
GeschWächtealzheimeraBWehrMit dem Alter und im Krankheitsverlauf schwindet die Zahl schützender Antikörper
skePtischesitzenBleiBerMänner und Frauen »speeddaten« doch nicht verschieden!
GutGeBrüllt!Kapuzineraffen manipulieren Art
genossen mit fingierten Warnschreien
schWieriGerstartinsleBenNächstgeborene Kinder nach einer Totgeburt haben ein schlechteres
Verhältnis zur Mutter
meinezanGeGehörtzumirDas Gehirn integriert Werkzeuge ins eigene Körperbild
Dochkein»GlücksGen«?Ein einzelner Erbfaktor erhöht nicht das Depressionsrisiko
Titelmotiv: Meganim / Porträt: Fotolia / Daniel Dash [M]
Das sind unsere Coverthemen Diese Artikel können Sie als Audiodatei im Internet beziehen: www.gehirn-und-geist.de/audio
inHAlt
kAufSucHt 14
502300 JAHre HirnAnAtomie 3636PSycHe und krebSHermAnn-gitter-illuSion 56
rubriken
3 Editorial 6 Leserbriefe66 Besser Denken: Coaching statt
Nachhilfe – so fördern Eltern ihre Kinder am besten
70 Auf Sendung 72 Termine77 Bücher und mehr
u. a. mit Rezensionen zu Jonah Lehrer: Wie wir entscheiden Stephan Schleim et al.: Von der Neuroethik zum Neurorecht? Sam Gosling: Snoop
80 Gewinnspiel 84 Impressum85 Winters’ Nachschlag 87 Marktplatz 88 Online 90 Vorschau
geHirn&geiSt – das Magazin für Psychologie und Hirn forschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft
spezial psyche und krebs
36DentoDimleiBDie Diagnose Krebs hat nichts von ihrem Schrecken verloren. Wie bewältigen Tumorpatienten ihr schweres Schicksal? Kann die Psyche Ausbruch und Verlauf der Krankheit beeinflussen? Wirkt sie sich gar auf die Lebenserwartung der Betroffenen aus? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der Kölner Psychoonkologe Volker Tschuschke
42»meinleBenmitDemkreBs«2004 wurde bei Petra Bugar Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Nach sofortiger Operation folgten diverse Chemotherapien – doch der Tumor kam wieder. Heute berichtet die 53Jährige, wie sie gelernt hat, sich trotz ihrer unheilbaren Erkrankung die Freude am Leben zu bewahren
hirnforschung
50anatomDererstenstunDeVor mehr als 2000 Jahren begründete Herophil von Chalcedon die Humananatomie – die Lehre vom Aufbau des menschlichen Körpers. Er beschrieb als Erster die Teile unseres Gehirns, die Hirnnerven sowie die Netzhaut des Auges. Doch seine Methoden waren nicht gerade zimperlich
von Sinnen56 FlüchtiGeschatten
auFDerstrassenkreuzunGWie die berühmte HermannGitterIllusion zu Stande kommt, galt längst als geklärt. Doch 2004 brachte ein einziges Bild die Lehrbuchweisheit zu Fall. Bis heute stehen Wahrnehmungsforscher vor einem Rätsel, konstatiert der Psychologe Rainer Rosenzweig
60hormonelleharmonieZwei Hirnhälften sitzen in unserem Kopf. Von unseren Hormonen hängt ab, ob wir beide Hemisphären zu gleichen Teilen oder eher einseitig nutzen, entdeckten die Biopsychologen Markus Hausmann und Ulrike Bayer von der Durham University
24 Das Selbst im Gehirn
30 Neuronale Grundlagen des Charakters
titelthema
Mosaik derPersönlichkeit
6 G&G 9_2009
In BezIehungen denkenIm Interview erläuterte der Psychiater und Philosoph Thomas Fuchs, wie kulturelle Ein - flüsse die Informationsverarbeitung in un- serem Gehirn verändern. (»Kultur exis tiert zwischen Gehirnen«, Heft 6/2009, S. 20)
Wolf Delong, Erlangen: Den Beginn der
Artikelserie »Die 5 größten Rätsel der Hirn
forschung« in Heft 6/2009 begrüße ich
sehr. Besonders bemerkenswert fand ich
das Interview mit Herrn Professor Fuchs,
das die Aussage »Eine Tasse ist nicht ein
fach eine Tasse, sondern ein Ding mit ei
ner bestimmten Handhabung« enthielt.
Die Frage wäre: Wie muss man sich
das praktisch vorstellen? Warum fällt es
uns so schwer, derart in Beziehungen zu
denken? Prof. Fuchs stößt hier ein Thema
an, dessen Raum gar nicht groß genug
sein kann, weil es unser Weltbild nachhal
tig verändern wird, falls wir die Diskus
sion ernsthaft fortführen. Meines Erach
tens zeigt sich hier unser Unvermögen,
ausreichend in Beziehungen zu denken.
Stets fokussieren wir auf Objekte und
versuchen, diese in Modellen zu beschrei
ben. Dabei bleiben die Beziehungen auf
der Strecke.
keIne TaBus In der WIssen-schafT!Jens Asendorpf und Matthias Wenderlein präsentierten unterschiedliche Sichtweisen zum Einsatz von Intelligenztests. (»Darf man mit IQ-Tests Ethnien oder Geschlechter vergleichen?«, Heft 5/2009, ab S. 14)
Dr. Tobias Wieczorek, Karlsruhe: Der Aus
sage, dass mit Intelligenztests Ethnien
oder Geschlechter nicht verglichen wer
den dürfen, ist aufs Heftigste zu wider
sprechen. Bei Wissenschaft geht es in
ers ter Linie um Erkenntnisgewinn, unab
hängig davon, ob einem die gewonnenen
Erkenntnisse gefallen oder nicht – wobei
stets die angewendeten Methoden eben
so zu untersuchen sind wie das eigent
liche Untersuchungsobjekt. Irgendwelche
Bereiche aus diesem Erkenntnis streben
herauszunehmen, quasi zu ta buisieren,
aus welchen Gründen auch immer, ent
spricht nicht der wissenschaftlichen Vor
gehensweise. Selbst wenn man sich auf
einen Kanon einigte, was erforschbar ist
und was nicht – und das ist schon schwer
genug vorstellbar, man denke nur an die
divergierenden Ansichten zu Themen
wie Gentechnik, Kerntechnik, Evolution
oder moderne Chemie –, es bleibt die Tat
sache, dass eine solche Einschränkung
nicht dem Wesen der Wissenschaft ent
spricht.
Dass Intelligenztests noch nicht am
Ende ihrer Möglichkeiten angelangt sind,
alTernaTIve TraumaTherapIenDer Mediziner Ulrich Frommberger und der Psychologe Nikolas Westerhoff gaben einen Überblick über die effektivsten Behandlungsmethoden bei Posttraumatischer Belastungs-störung. (»Dem Schrecken ein Ende setzen«, Heft 6/2009, ab S. 38)
Ute Kaiser, Erding: Ein großer Teil des Artikels stellt pharmakologische und nur ein
verhältnismäßig kurzer Teil therapeutische, rein aufdeckende, konfrontative Metho
den vor. Die große Richtung der stabilisierenden, langwierigeren Verfahren aber spa
ren die Autoren aus.
Maßgebliche Traumaforscher wie Luise Reddemann und Willi Butollo haben he
rausgefunden, dass der Betroffene erst viermal Stabilisierung braucht, bevor er sich
konfrontieren kann, und dass der Wert der Konfrontation sehr überschätzt wird. Ein
maligen Ereignissen von Gewalt und Grauen kann man vielleicht gut mit narrativer
Expositionstherapie begegnen, aber chronische, diffuse oder frühkindliche Traumata
können durch zu schnelle Konfrontation im Gegenteil sogar massiv verstärkt werden.
Es ist nicht jedes Trauma gleich, und auch nicht jedem kann man gleich begegnen. Das
aber legt der Artikel nahe!
Es ist eine Frage der Werte, die man zu Grunde legt: Was ist wichtiger, die Heilung
eines Menschen oder sein schnelles wieder Funktionieren?
Michael Peter Antes, Saarlouis: Als Hypnopsychotherapeut und Ausbilder in Hypno
therapie bedauere ich es sehr, dass die Autoren die Hypnotherapie noch nicht einmal
im Ansatz erwähnten, obwohl dieses Verfahren neben der EMDR wahrscheinlich das
wirkungsvollste Traumabehandlungskonzept enthält. Insbesondere die kombinierte
Traumatherapie von Götz Renartz stellt ein innovatives und leicht anwendbares Ver
fahren dar, Traumata aufzulösen. Sie erwähnen zwar auf S. 44 den Behandlungsansatz
von Mervin Smucker aus den USA, der teilweise Elemente enthält, die in der Hypno
psychotherapie verwendet werden, doch wäre es sicher hilfreich und sinnvoll, auf das
bekannte Expertenwissen der Praktiker zurückzugreifen, statt so zu tun, als müsste
man hier das Rad neu erfinden.
Langer SChatten der Vergangenheitals Kind erlebte Misshandlungen können ein trauma verursachen. Fo
toli
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leserbriefe
www.gehirn-und-geist.de 7
Briefe an die Redaktion …… sind willkommen! Schreiben Sie bitte mit Ihrer vollständigen Adresse an:Gehirn&Geist Frau Anja Albat-Nollau Postfach 10 48 40, 69038 HeidelbergE-Mail: [email protected] Fax: 06221 9126-729 Weitere Leserbriefe finden Sie unter: www.gehirn-und-geist.de/leserbriefe
Nachbestellungen unter: www.gehirn-und-geist.de oder telefonisch: 06221 9126-743
Zuletzt erschienen:
6/2009 5/20097-8/2009
mag zutreffen, nur lässt sich dieser Zu
stand gewiss nicht verbessern, indem
man die Forschung mit ihnen verbietet.
Außerdem ist die Behauptung, es gehe
um das Wohl der Menschen, ohnehin
meist vorgeschoben; in der Regel stehen
andere Interessen dahinter wie Machter
halt, religiöse Deutungshoheit, Festhal
ten an lieb gewonnenen Überzeugungen,
Aufrechterhalten von Ideologien – kurz
der Versuch, Diskrepanzen zwischen der
Welt und dem eigenen Weltbild durch
Korrektur der Welt (oder eben durch nicht
Hinsehen) aufzulösen.
Das mag für sich privat jeder nach ei
genem Belieben entscheiden, aber aus
seiner Entscheidung Verbote für andere
abzuleiten, führt früher oder später zur
Gefährdung der Freiheit der Wissen
schaft. Wehret den Anfängen!
zölIBaT und mIssBrauchDen evolutionären Wert von Spiritualität und Frömmigkeit erkundete der Religions-wissenschaftler Michael Blume (»Homo religiosus«, Heft 4/2009, ab S. 32)
Prof. Kuno Kirschfeld, Tübingen: Im Ar
tikel wird die Fotografie einer lachenden
Kinderschar an der Hand einer Nonne ge
zeigt. Daneben steht: »Die freiwillige Ehe
und Kinderlosigkeit wichtiger Glaubens
vertreter stärkt unterm Strich den Erhalt
der Gemeinschaft.« Leider kann ich sol
che Bilder nicht mehr unbefangen an
schauen; heute müsste der positive Kom
mentar zum Bild doch kritisch hinter
fragt werden. Zu lang ist die Kette der
Berichte über den Missbrauch von Kin
dern und Jugendlichen durch katholische
Priester und kirchliche Einrichtungen,
wie vor Kurzem aus Irland.
Meines Erachtens müsste geklärt wer
den, ob der Missbrauch von Kindern
durch zölibatär lebende Priester beson
ders häufig ist. Parallel müsste von ideo
logiefreien Psychotherapeuten oder Psy
chiatern untersucht werden, ob zölibatä
res Leben dieses Fehlverhalten womög
lich begünstigt.
Die »freiwillige Ehelosigkeit« ist zu
dem nur bedingt freiwillig. Natürlich ent
scheiden sich angehende Priester und
Nonnen in ihrer Jugend aus freien Stü
cken für das Zölibat. Während eines über
lange Jahre gelebten Lebens kann sich
aber die Einstellung zur Ehelosigkeit än
dern, ein Weg zurück ist dann allerdings
versperrt: Er würde fast immer den Ver
lust der Arbeit bedeuten und damit der
sozialen Sicherheit.
Sollte sich ein ursächlicher Zusam
menhang zwischen Kindesmissbrauch
und zölibatärem Leben ergeben, so
müsste unsere Regierung diese Evidenz
der katholischen Kirche vorlegen mit
dem Ziel, eine Abschaffung des Zölibats
zu erreichen. Schlimmstenfalls müsste
der Gesetzgeber tätig werden. Wenn es
um unsere Kinder geht, darf es keine Ta
bus geben.
chemIe BrauchT zeITLaut einer neuen EEG-Studie bemerkt das Gehirn von Klavierspielern einen Fehlgriff, noch bevor der falsche Ton erklingt. (»Fehler erkannt, doch nicht gebannt«, Geistesblitze Heft 6/2009, S. 8)
Dr. Joachim von Hirsch, Schwerte: Der
Impuls, der zur Handbewegung führt,
dauert 0,1 Sekunden, weil er chemisch,
nämlich molekular durch Botenstoffe,
erfolgt. Ähnlich erfolgt die Diffusion in
wässriger Lösung. Botenstoffe heißen
Botenstoffe, weil sie Stoffe, also Materie,
sind. Die Informationsweitergabe durch
Materie erfolgt mit einer endlichen Ge
schwindigkeit. So dauert es eine halbe
Sekunde, bis ich den Schmerz verspüre,
wenn ich mir mit einer Nadel in den gro
ßen Zeh steche. Diese endliche Geschwin
digkeit beträgt somit rund fünf Meter
pro Sekunde.
erraTumIm Inhaltsverzeichnis von G&G 6/2009
war bei einem Geistesblitz unter der
Über schrift »Universeller Ohrenschmaus«
von »Afrikanern« statt (richtigerweise)
von »Urwaldbewohnern« die Rede. Wir
bitten diese unglückliche Formulierung
zu entschuldigen.
Foto
lia
/ Gri
Sch
a G
eorG
iew
daneben gegriffeneinen fehler beim Klavierspiel registriert das gehirn von Pianisten sogar schon, bevor er zu hören ist.
8 G&G 9_2009
geistesblitzefo
toli
a / B
ori
s fr
anz
Um Depressionen zu behandeln, grei-
fen Ärzte häufig auf Medikamente
zurück, die den Stoffhaushalt des Gehirns
verändern. Nun konnten Kieler Forscher
nachweisen, dass auch reine Psychothe-
rapie auf ähnliche Weise wirkt: Eine er-
folgreiche Behandlung lässt die Konzen-
tration des Transkriptionsfaktors CREB
(CyclicAMP Response Element-Binding
Protein) ansteigen. Dieses Protein sorgt
dafür, dass bestimmte Gene in den Zell-
kernen von Neuronen vermehrt abgele-
sen werden.
Ein Team um den Psychiater Jakob
Koch von der Kieler Christian-Albrechts-
Universität untersuchte insgesamt 30
Patienten, die unter Depressionen litten.
Sechs Wochen lang absolvierten die Pro-
banden eine Interpersonelle Psychothe-
rapie mit insgesamt zwölf Gesprächs-
sitzungen. Bei rund der Hälfte der Teil-
nehmer zeigte diese Kurzzeitbehandlung
Wirkung: Die Schwere ihrer Depression –
per Fragebogen ermittelt – ging deutlich
zurück.
Bereits eine Woche nach Therapiebe-
ginn konnten die Forscher bei diesen Pa-
tienten eine erhöhte Konzentration an
pCREB, der aktiven Form des Proteins,
messen. Bei jenen Teilnehmern, die nicht
auf die Behandlung ansprachen, fand
sich dagegen kein solcher Anstieg.
Was zuvor schon für Antidepressiva
bekannt war, trifft somit auch für die
Psychotherapie zu: Eine erfolgreiche Be-
handlung führt zu mehr aktiviertem
CREB. Das Protein fördert unter anderem
das Wachstum neuer Nervenzellen und
Synapsen, was eine wichtige Rolle beim
Lernen spielt. »Zum ersten Mal zeigt ein
zellulärer, biologischer Marker die Wir-
kung einer Psychotherapie an«, so die
Autoren der Studie. (sc)
Psychotherapy and Psychosomatics
78, S. 187 – 192, 2009
PsychotheraP ie
Protein als ErfolgsindikatorDepressionstherapie erhöht die Konzentration eines wichtigen Transkriptionsfaktors im Gehirn.
Bei der Alzheimerkrankheit kommt es
vermehrt zu Ablagerungen im Ge-
hirn und in den Blutgefäßen. Diese so
genannten Plaques bestehen aus ver-
klumpten Eiweißresten, den Beta-Amy-
loiden. Wie Wissenschaftler der Stanford
University in Palo Alto (US-Bundesstaat
Kalifornien) jetzt herausfanden, besitzen
auch gesunde Menschen Antikörper ge-
gen diese Proteinklumpen. Das Immun-
system kann sie demnach also bekämp-
fen – im Prinzip jedenfalls. Die Zahl der
Antikörper sinkt jedoch mit zuneh-
mendem Alter und fortschreitender Er-
krankung.
Das Team um Markus Britschgi und
Tony Wyss-Coray untersuchte bei insge-
samt 250 gesunden sowie an Alzheimer
erkrankten Probanden zwischen 21 und
89 Jahren, auf welche Arten von Plaques
ihre natürlichen Antikörper reagieren.
Diese Eiweißklumpen gibt es nämlich in
vielen Varianten – aus verschieden ab-
gewandelten und mutierten Formen des
ursprünglichen Beta-Amyloids.
Auf Mikrochips testeten die Wissen-
schaftler für 100 davon, wie das Blut der
Probanden auf sie reagierte. Ergebnis:
Am stärksten banden die Antikörper an
so genannte Oligomere, kleinere Klum-
pen aus nur wenigen Peptiden. Statt der
großformatigen Ablagerungen bekämpft
das Immunsystem offenbar eher die frü-
hen Vorläufer, die sich nur aus wenigen
Molekülen zusammensetzen. Diese Pla-
ques haben alle noch eine relativ ähn-
liche Form und können von den Antikör-
pern besser erkannt werden.
Frühere Experimente hatten bereits
gezeigt, dass es Antikörper gegen die nor-
male, nichtmutierte Form des Beta-Amy-
loids gibt. Deren Anzahl kann durch ge-
zielte Immunisierung sogar erhöht wer-
den. Die Forscher konnten nun erstmals
belegen, dass selbst junge und gesunde
Menschen Antikörper gegen die abge-
wandelten Formen des Peptids in sich
tragen. Nach Ansicht der Wissenschaftler
könnte eine Behandlung mit diesen Pep-
tiden zu einer stärkeren Bildung von
Antikörpern führen und so das Immun-
sys tem besser gegen die Alzheimerkrank-
heit wappnen. (sc)
PNAS online 2009, DOI:
10.1073pnas.0904866106
DeMeNZ
Geschwächte AlzheimerabwehrMit dem Alter und mit fortschreitender Erkrankung schwindet die Zahl schützender Antikörper.
sPiEl mit!Der natürliche schutz gegen Alzheimer bröckelt mit den Jahren. Umso wichtiger ist es, das Gehirn im Alter fit zu halten.
www.gehirn-und-geist.de 9
PartNerWahL
skeptische sitzenbleiberMänner und Frauen sind beim Speeddating ähnlich wählerisch.
Untersuchungen zum Speeddating schienen bislang stets
eine alte Weisheit zu bestätigen: Frauen seien bei der Part-
nerwahl kritischer als Männer. Doch nun sammelten die Psy-
chologen Eli Finkel und Paul Eastwick von der Northwestern
University in Evanstown (US-Bundesstaat Illinois) Belege dafür,
dass diese Erkenntnis dem »Versuchsaufbau« geschuldet sein
könnte.
Beim Speeddating treffen sich männliche und weibliche Sin-
gles jeweils zu einem kurzen Geplauder. Üblicherweise bleiben
die Damen an ihrem Tisch sitzen, während die Herren alle fünf
Minuten den Platz wechseln. Nach Ende der Veranstaltung kreu-
zen die Teilnehmer auf einem Fragebogen an, welchen ihrer Ge-
sprächspartner sie gerne wiedersehen möchten.
Im ersten Durchlauf eines solchen Prozederes konnten Fin-
kel und Eastwick die gängige Lehrmeinung bestätigen. Männer
wollten im Schnitt 50 Prozent ihrer Dates noch einmal treffen;
die Frauen konnten sich dies lediglich in 43 Prozent der Fälle
vorstellen.
In einem zweiten Durchgang ließen die beiden Psychologen
ihre Probanden jedoch kurzerhand die Rollen tauschen. Nun
blieb Er sitzen und empfing alle fünf Minuten eine neue Sie.
Und siehe da: Die Männer votierten jetzt ihrerseits nur noch
bei 43 Prozent der Damen für ein Wiedersehen, dagegen waren
die Frauen mit 46 Prozent weniger wählerisch als zuvor.
Finkel und Eastwick organisierten 15 Speeddating-Abende
mit insgesamt 350 Teilnehmern. Ihr Fazit: Nicht das Geschlecht
entscheidet darüber, wie kritisch die Probanden bei der Partner-
wahl sind – sondern, ob sie stets am gleichen Tisch sitzen blei-
ben oder umherwandern!
Die Dauerhocker könnten die Hinzutretenden leichter als
»Bewerber« wahrnehmen und sich dadurch besonders begehrt
fühlen. Das verleite dazu, strengere Maßstäbe anzulegen. Zu-
dem würden Männer bei möglichen Partnerinnen besonderes
Augenmerk auf das Verhältnis von Hüfte zu Taille legen – und
das lässt sich besser beurteilen, wenn die Frau steht. (jd)
Psychological Science 2009 (im Druck)
sCHÄtZCHEN WECHsEl DiCHWer beim speeddating die Plätze wechseln muss, beurteilt potenzielle Partner/innen weniger kritisch.
Mit
frd
l. G
en. d
es o
Bs /
dat
inG
café
Tagesaktuelle Meldungen aus Psychologie und Hirnforschung finden
Sie im Internet unter www.wissenschaft-online.de/
psychologie
10 G&G 9_2009
EiN KlUGEs KERlCHEN …schlägt Artgenossen per Fehlalarm in die Flucht – und heimst das Futter selbst ein.
Um Konkurrenten auszustechen, stoßen südamerikanische
Schwarze Kapuzineraffen (Cebus apella nigritus) falsche
Alarmschreie aus: Diese sollen Artgenossen vor vermeintlichen
Raubtieren warnen. Während die alarmierten Tiere fliehen, nut-
zen die Schreihälse die Gelegenheit, Futter zu stibitzen.
Dies beobachtete Brandon Wheeler von der Stony Brook
University (US-Bundesstaat New York) bei einer Affenherde, der
er Bananenstücke auf Holzplattformen anbot. Dabei variierte
Wheeler die Menge und Aufteilung des Futters. Rangniedere
Tiere nutzten die Strategie des gezielten Fehlalarms häufiger als
dominante Affen.
Außerdem lenkten die Tiere ihre Gruppenmitglieder umso
eher in die Irre, je größer der Vorteil war, den dieses Manöver
versprach. Indem sie andere täuschten, sparten sich die Trickser
offenbar wertvolle Energie im Wettstreit um Nahrung, glaubt
Wheeler.
Obwohl die Primaten ihre Artgenossen regelmäßig irre-
führten, reagierten die anderen Gruppenmitglieder immer wie-
der auf die vermeintlichen Warnrufe und flüchteten. Offen-
sichtlich schätzen sie den Verlust einer kleinen Nahrungsration
geringer ein als die Gefahr zu sterben, falls tatsächlich ein Feind
die Horde bedroht. Falsche Warnschreie, um eine Beute nicht
mit anderen teilen zu müssen, wurden zuvor bereits bei Vögeln
beobachtet. (lw)
Proceedings of the Royal Society B online 2009,
DOI: 10.1098/rspb.2009.0544
VerhaLteNsforsch uNG
Gut gebrüllt!Kapuzineraffen manipulieren Artgenossen mit fingierten Warnschreien.
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KiNDeseNtWicKLuNG
schwieriger start ins lebenNächstgeborene Kinder nach einer Totgeburt haben ein schlechteres Verhältnis zur Mutter.
Eine Totgeburt schadet der körperli-
chen und geistigen Gesundheit des
nächstgeborenen Kindes nicht – erhöht
aber die Gefahr familiärer Spannungen.
Das fand ein Team um Penelope Turton
von der St George’s University of London
heraus. Die Forscher begleiteten insge-
samt 52 Frauen, die ein Kind tot geboren
hatten und danach ein weiteres auf die
Welt brachten, bis der Nachwuchs sechs
bis acht Jahre alt war. Als Vergleichsgrup-
pe dienten 51 Mütter, die noch kein Kind
verloren hatten.
Während die Nächstgeborenen nach
einer Totgeburt ebenso intelligent sowie
psychisch und körperlich gesund waren
wie Gleichaltrige aus der Kontrollgruppe,
fanden die Forscher vermehrt Probleme
in der Mutter-Kind-Beziehung. Die Müt-
ter kritisierten und kontrollierten ihren
Nachwuchs häufiger, die Atmosphäre
beim gemeinsamen Spiel war weniger
harmonisch, und beide waren weniger
engagiert bei der Sache.
Außerdem meinten die Mütter bei ih-
ren Kindern mehr Schwierigkeiten im
Kontakt mit Gleichaltrigen zu beobach-
ten – auch wenn das aus Sicht der jewei-
ligen Lehrer nicht zutraf. Ob beim Kind
tatsächlich Probleme vorlagen, blieb un-
klar, so Turton.
Die neuen Befunde passen zu einem
Phänomen, das bislang nur aus Einzel-
fällen bekannt war: Beim »Ersatzkind-
Syndrom« sind Mütter kritischer gegen-
über ihrem Kind eingestellt, weil sie den
Nachwuchs mit einer Idealvorstellung
vom verlorenen Geschwister vergleichen.
Es könnte allerdings auch sein, dass sie
ihr Kind als besonders verletzlich wahr-
nehmen und besorgter beobachten.
Die Forscher wollen die Entwicklung
der Nächstgeborenen nun bis in das Ju-
gendalter hinein beobachten, um heraus-
zufinden, ob sich das problematische
Mutter-Kind-Verhältnis langfristig nicht
doch auf Psyche oder Gesundheit aus-
wirkt. (cg)
Journal of Child Psychology and
Psychiatry online 2009;
DOI: 10.1111/j.1469-7610.2009.02111.x
Unser geschickter Umgang
mit Werkzeugen – eine
der leichtesten Übungen für
Homo sapiens – wurzelt offen-
bar darin, dass das Gehirn die
entsprechenden Gerätschaf-
ten sehr schnell als Teil des
Körpers wahrnimmt. Das be-
richten französische Forscher
von der Université Claude Ber-
nard in Lyon.
Ein Team um Alessandro
Farné ließ Probanden zunächst
mit Hilfe eines mechanischen
Greifers kleine Objekte von ei-
ner Tischplatte auflesen. In-
nerhalb kurzer Zeit veränderte
dies das normale Koordina-
tionsvermögen der Versuchs-
personen: Wer mehrfach mit
dem künstlich verlängerten
Arm zugelangt hatte, konnte
zwar weiterhin mit bloßer
Hand nach Objekten greifen,
ging dabei jedoch langsamer
und vorsichtiger zu Werke als
zuvor – so, als müsse sich der
Bewegungsapparat erst wieder
auf die kürzere Gliedmaße
einstellen.
In einem zweiten Schritt
demonstrierten die Forscher,
dass das Hantieren mit Ge-
genständen tatsächlich die ei-
gene Körperwahrnehmung
beeinflusst: Berührungen an
Ellbogen, Handgelenk oder
Mittelfinger verorteten die
»werkzeugerprobten« Pro-
banden weiter von ihrer Kör-
permitte entfernt als vor dem
Gerätetraining.
»Ist das Werkzeug erst ein-
mal in das Körperschema in-
tegriert«, erklärt Farnés Kolle-
gin Lucilla Cardinali, »kann es
wie ein echter Körperteil kon-
trolliert werden.« Diese Mani-
pulation der Selbstwahrneh-
mung erfolgt sehr schnell, hält
aber nur kurz an. Nach zehn
bis fünfzehn Minuten war der
Effekt bereits wieder ver-
schwunden. (cs)
Current Biology 19(12),
R478 – R479, 2009
seLBstWahrNehMuNG
meine Zange gehört zu mirBinnen kurzer Zeit integriert unser Gehirn Werkzeuge ins eigene Körperbild.
foto
lia
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chG
rat
WiE ANGEWACHsENDas Hantieren mit Werkzeugen verändert die Wahrnehmung des eigenen Körpers.
12 G&G 9_2009
PsychoGeNet iK
Doch kein »Glücksgen«?Forscher bezweifeln, dass ein einzelner Erbfaktor das Depressionsrisiko erhöht.
ZWisCHEN FREUD UND lEiDDen Verdacht, ein spezifischer Erbgutfaktor erhöhe das Risiko, an einer Depression zu erkranken, konnten Us-Forscher in einer neuen Überblicksstudie nicht bestätigen.
illu
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Wer eine bestimmte Form des Gens
5-HTTLPR in sich trägt, soll mehre-
ren Studien zufolge eher dazu neigen, die
guten Seiten des Lebens in den Blick zu
nehmen und Stress besser verarbeiten zu
können. Träger anderer Erbgutvarianten
seien dagegen anfälliger für Depressio-
nen (siehe auch G&G 9/2007, S. 52).
Doch nun kamen Zweifel an dieser
Theorie auf: Amerikanische Psychogene-
tiker konnten den besagten Zusammen-
hang in der bislang umfangreichsten Da-
tenanalyse nicht bestätigen.
Neil Risch von der University of Cali-
fornia in San Francisco (USA) wertete zu-
sammen mit Kollegen insgesamt 14
Studien mit über 14 000 Probanden aus.
Von jedem Teilnehmer kannten die For-
scher die Ausprägung des vermeintlichen
»Glücksgens«, das wichtig für den Trans-
port des Hirnbotenstoffs Serotonin ist.
Zudem wussten sie, ob die Probanden
mit belastenden Lebensumständen zu
kämpfen hatten und ob sie an Depressi-
onen litten.
Ergebnis der statistischen Auswer-
tung: Es fand sich zwar eine Verbindung
zwischen der psychischen Störung und
emotionaler Belastung – die jeweilige Va-
riante des Gens 5-HTTLPR spielte jedoch
keine Rolle. Weder fühlten sich Personen
mit einer Mutation in diesem Gen allge-
mein öfter niedergeschlagen noch schie-
nen sie anfälliger dafür zu sein, unter
schwierigen Lebensumständen an De-
pression zu erkranken.
Risch und seine Kollegen kritisieren,
dass die »genetisch bedingte Schwer-
mut« vorschnell als wissenschaftlich er-
wiesen gegolten habe. Einzelne positive
Befunde stellten noch keinen Beweis für
ein genetisch verankertes Erkrankungs-
risiko dar, so die Wissenschaftler. (sc)
Journal of the American Medical
Association 301(23), S. 2463 – 2471, 2009
12
14 G&G 9_2009
Als Frau L. zum ersten Mal in die Sprechstun
de kam, war sie sehr niedergeschlagen. Sie
berichtete, dauernd Streit mit ihrem Mann zu
haben. Auslöser waren meist Mahnungen we
gen unbezahlter Rechnungen – offenbar gab
Frau L. zu viel Geld für Kleidung und Wohnungs
dekoration aus. Fast täglich gefielen ihr neue Sa
chen, die sie unbedingt haben musste. Obwohl
die Freude an den erworbenen Dingen stets sehr
schnell nachließ, konnte sie dem Kaufdrang
nicht widerstehen. Manchmal versteckte sie die
Einkäufe sogar vor ihrem Mann und ihren Kin
dern. Der Keller war längst mit Kisten voller
Vasen, Sofakissen und Kerzenständern vollge
stopft. Aus Angst prüfte Frau L. schon gar nicht
mehr ihren Kontostand; auch die Post öffnete
sie nicht mehr. Sie schämte sich dermaßen für
ihr Verhalten, dass sie mit niemandem darüber
sprechen konnte.
So wie dieser Patientin geht es vielen Men
schen: Die Lust am Einkaufen entgleitet ihnen.
Vorher vertrieb das Shoppen trübe Launen
oder belohnte für erledigte Arbeit – jetzt ist ein
ernsthaftes, behandlungsbedürftiges Problem
entstanden, Psychologen sprechen vom »patho
logischen Kaufen«.
Die Betroffenen benutzen die Waren so gut
wie nie, manchmal packen sie diese nicht ein
mal aus. Oft verheimlichen oder verstecken
sie ihre Einkäufe; mitunter vergessen sie sie
schlichtweg. Was erstanden wird, hängt von per
sönlichen Vorlieben ab: Schuhe, Taschen, Elek
tronikartikel, Bücher, Küchengeräte oder auch
Lebensmittel. Dabei kaufen die Betroffenen
nicht unbedingt nur Dinge für sich selbst,
manchmal beschenken sie auch andere. Wäh
rend manche Kaufsüchtige die Komplimente,
die exklusive Zuwendung und das quasifreund
schaftliche Verhältnis zu den Verkäufern genie
ßen, bevorzugen andere das vermeintlich ano
nyme Katalog oder Onlineshopping.
Unabhängig davon, was oder wie jemand am
liebsten kauft – Shoppingsüchtigen geht es im
mer um den Akt an sich. Dieser kann eine Art
Flucht sein: Betroffene konzentrieren sich so
stark auf den Erwerb von Waren, dass sie unan
genehme Gefühle nicht mehr spüren und auf
diese Weise Konflikte ausblenden können. Für
die Patienten scheint keine andere Ablenkungs
strategie so schnell zu wirken, so einfach und
gesellschaftlich so akzeptiert zu sein wie das
Einkaufen.
psycholoGie i patholoGisches Kaufen
Wenn Shoppen zur Sucht wird
Au f e i n en Bl ick
Kauflust außer Kontrolle
1 Eine Kaufsucht kann vorliegen, wenn
jemand permanent und über längere Zeit überflüs-sige Dinge erwirbt. Der Akt des Kaufens löst dabei ein Hochgefühl aus, das schnell wieder verfliegt.
2 Die Betroffenen wissen um die Sinnlosigkeit
ihres Verhaltens, können dieses jedoch nicht kon-trollieren. Die Folgen sind Angst, Scham und Depres-sionen – und ein wachsen-der Schuldenberg.
3Bisher gibt es nur wenige Behandlungs-
ansätze. Eine neu entwi-ckelte Verhaltenstherapie zeigt erste Erfolge.
1-2-3 Kasten
1.
2.
3.
Wer seinem ständigen Kaufdrang nicht widerstehen kann, hat möglicherweise ein behandlungs
bedürftiges Problem. Meist suchen Betroffene jedoch erst Hilfe, wenn die Schulden sie
erdrücken oder die Partnerschaft zu zerbrechen droht. Die Psychologin Astrid Müller erforscht,
was das pathologische Kaufen kennzeichnet, und erklärt die Therapiemöglichkeiten.
Von astrid Müller
www.gehirn-und-geist.de 15
FETTE BEUTEAusgedehnte Streifzüge durch die Innenstadt oder gelegent-liche Frustkäufe sind noch nicht krankhaft. Kaufsüchtigen dagegen vergeht die Freude am Erworbenen schnell, ihr Shop-pingdrang bleibt auch bei leerem Konto ungebrochen.
Andere empfinden ein regelrechtes Hochge
fühl beim Kaufen. Zwar reicht die Intensität der
Glücksmomente nicht an die eines Drogen
rausches heran – das Bewusstsein ist beim Shop
pen kaum getrübt. Doch vor allem in der Fanta
sie der Betroffenen scheint das Hochgefühl gren
zenlos: Viele stellen sich während des Kaufens
vor, wie sie hinterher mit Bewunderung und
Lob für ihre »gute Wahl« überschüttet werden.
Frust statt VergnügenDiese Wirkung verfliegt allerdings schnell. Be
reits beim Bezahlen an der Kasse oder mit Ein
treffen einer bestellten Sendung stellen sich
Reue, Scham und Schuldgefühle ein. Die kurz
fristig verdrängten Probleme treten wieder in
den Vordergrund.
Unvernünftige Kaufimpulse überfallen jeden
Menschen ab und an. Pathologisches Kaufen
unterscheidet sich jedoch vom gelegentlichen
Schnäppchenwahn oder von Frustkäufen da
durch, dass die Betroffenen extrem häufig und
in unüberschaubaren Mengen Waren erstehen,
die sie sich gar nicht leisten können. Kaufsüch
tige versuchen, die negativen Konsequen zen
ihres Verhaltens zu verharmlosen, zu rechtfer
tigen oder oft auch durch Lügen oder Betrüge
reien zu kaschieren. Mitunter kommt es sogar
zu Strafdelikten, um dem Kaufdrang nachge
hen zu können – darunter Scheckbetrug oder
Bestellungen unter falschem Namen.
Die amerikanische Psychiaterin Susan McEl
roy von der University of Cincinnati formulierte
bereits 1994 wissenschaftliche Diagnosekrite
rien für pathologisches Kaufen oder compulsive
buy ing (siehe Kasten auf S. 16). Die Betroffenen
sind sich ihres ungezügelten Konsumverhaltens
und den daraus resultierenden Schäden durch
aus bewusst, dennoch gelingt es ihnen nicht,
den Drang unter Kontrolle zu bringen. Erschwe
rend kommt hinzu, dass eine Kaufsucht meis
tens nicht plötzlich auftritt, sondern sich über
Jahre hinweg langsam entwickelt. Den Kontroll
verlust verheimlichen viele Betroffenen so lange,
bis ihnen der Schuldenberg über den Kopf
wächst oder der Partner mit Trennung droht.
Obwohl es auf den ersten Blick so aussehen
mag, ist diese Verhaltensstörung kein neues
Phänomen: Bereits vor 100 Jahren beschrieb
der deutsche Psychiater Emil Kraepelin (1856 –
1926) die »krankhafte Kauflust« in seinen Lehr
büchern. Er bezeichnete sie als »Oniomanie«
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an
16 G&G 9_2009
(zu Deutsch: krankhafter Kauftrieb) und hielt
sie für eine Störung der Impulskontrolle.
Trotz der langen Geschichte des Konzepts ist
die Forschungslage zum pathologischen Kaufen
noch immer eher dürftig. Breitere Beachtung bei
Psychiatern, Soziologen und Konsumforschern
fand das Phänomen erst in den 1990er Jahren.
Dabei scheint es durchaus weit verbreitet zu
sein: Laut Schätzungen sind in Deutschland
rund sechs Prozent der Erwachsenen zumindest
akut gefährdet, wenn nicht gar eindeutig betrof
fen. Dies ergab eine 2005 veröffentlichte Reprä
sentativbefragung, bei der Wissenschaftler der
Universität Hohenheim und der Fachhochschu
le Ludwigshafen die Kaufsuchtgefährdung mit
Hilfe eines Fragebogens erfassten (siehe Kasten
auf S. 18).
Zu ähnlichen Ergebnissen gelangte 2006 ein
amerikanisches Forscherteam der Stanford Uni
versity um den Psychiater Lorrin Koran. Dem
nach zeigen in den USA gleichfalls knapp sechs
Prozent der Bevölkerung Symptome einer Kauf
sucht. Beide Studien ergaben zudem, dass jün
gere Menschen deutlich öfter dem Shopping
wahn erliegen als ältere.
Exzessive Kaufgewohnheiten gelten gemein
hin als ein typisch weibliches Problem. Tatsäch
lich bewegte sich der Frauenanteil unter den
Kaufsuchtpatienten in mehreren Untersuchun
gen zwischen 80 und 95 Prozent. In der Bevöl
kerung scheinen jedoch Männer und Frauen
gleich häufig kaufsuchtgefährdet zu sein – dies
belegen die Resultate der amerikanischen Stu
die von Koran.
Viele Betroffene horten die erworbenen Wa
ren zu Hause. Die entstehende Unordnung und
das NichtsmehrfindenKönnen provozieren
weitere unnütze Einkäufe. Soziale Aktivitäten
wie etwa Einladungen an Freunde nehmen im
mer mehr ab, da sich die Betroffenen für das zu
nehmende Chaos in ihrer Wohnung schämen.
Es fällt ihnen auch immer schwerer abzuschät
zen, ob eine Kaufentscheidung angemessen ist,
weil sie längst die Übersicht über ihren Haus
halt verloren haben (siehe den Beitrag über das
»MessieSyndrom«, G&G 78/2009, S. 20).
Von den Kaufsüchtigen, die sich in Behand
lung begeben, leiden mehr als 90 Prozent an
mindestens einer weiteren psychischen Er
krankung: Wie wir in einer eigenen Studie am
Universitätsklinikum Erlangen feststellten, sind
Depressionen und Ängste mit etwa 80 Prozent
am weitesten verbreitet; fast jeder Dritte litt
an Essstörungen oder einer weiteren Suchter
krankung.
Angesichts der vielen Begleitsymptome stellt
sich die Frage, ob Kaufsucht überhaupt ein ei
genständiges Störungsbild ist – oder ob es sich
nicht vielmehr um ein »Nebenphänomen« an
derer psychiatrischer Erkrankungen handelt.
Bislang ist es Wissenschaftlern nicht gelungen,
diese Frage endgültig zu beantworten. Auch
ein erschöpfendes Modell darüber, wie patho
logisches Kaufverhalten entsteht, gibt es noch
nicht.
Kaufsüchtig oder nicht?
Bereits 1994 formulierte die amerikanische Psychiaterin Susan McElroy von der University of Cincinnati folgende Diagnosekriterien für pathologisches Kaufen oder compulsive buying:
ó unwiderstehliche, sich aufdrängende und sinnlose Kaufimpulse oder -handlungenó Erwerb von mehr Waren, als der Betroffene sich leisten kannó Erwerb unnötiger Waren über längere Zeitspannenó erheblicher Leidensdruck, verursacht durch den ständigen Kaufdrang; Beeinträchtigung
von sozialen und beruflichen Funktionen und/oder Verursachung finanzieller Probleme (Verschuldung oder Konkurs)
ó Auftreten der Kaufexzesse nicht nur im Rahmen manischer oder hypomanischer Phasen
KICK PER KARTEDer Akt des Kaufens löst bei den Betroffenen ein regel-rechtes Hochgefühl aus. Dabei ist nebensächlich, was sie erwerben – solange sie shop-pen, sind sie von ihren Proble-men abgelenkt.
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www.gehirn-und-geist.de
Allerdings mehren sich die Hinweise darauf,
dass Selbstwertprobleme, hohe Impulsivität
und geringe Selbstkontrolle wesentlich dazu
beitragen, dass Menschen kaufsüchtig werden
und es lange Zeit bleiben. Die Patienten be
schreiben sich oft als wenig selbstbewusst und
sozial ängstlich. Offenbar gibt es einen engen
Zusammenhang zwischen dem Konsumdrang
und der emotionalen Befindlichkeit: In vielen
Fällen lösen negative Stimmungen die »Kaufat
tacken« aus. Ganz sicher spielt auch die kultu
relle Umgebung eine Rolle – pathologisches
Kaufen ist fast ausschließlich in Ländern mit
kapitalistischen Wirtschaftssystemen bekannt.
Auch neurobiologische Ursachen könnten
zur Störung beitragen, zum Beispiel ein Un
gleichgewicht im Serotonin oder Dopamin
haushalt. Allerdings lassen sich auf Grund der
häufigen Begleiterkrankungen solche Befunde
kaum spezifisch der Kaufsucht zuordnen.
Unwiderstehliche ImpulseExperten sind sich auch noch uneinig, wie sich
die Kaufsucht in die gängigen psychiatrischen
Klassifikationssysteme einordnen lässt. Am
plausibelsten erscheint den meisten Psychia
tern, sie als »Impulskontrollstörung« zu werten.
Darunter fallen auch andere Verhaltensmuster,
die den Betroffenen oder anderen Menschen
schaden, wie Kleptomanie oder pathologisches
Glücksspiel. Mit diesen Phänomenen hat die
Kaufsucht beispielsweise gemein, dass der Pa
tient die aufkommenden Impulse als unwider
stehlich erlebt und sein Verhalten nicht rational
begründen kann. Außerdem setzen Kaufsüch
tige ihre Handlungen trotz negativer Konse
quenzen fort – dies spricht für eine Störung der
Impuls kontrolle.
Andere Autoren betrachten den psycholo
gischen Mechanismus dahinter tatsächlich als
Sucht – nur dass die Betroffenen nicht von einer
Substanz abhängig sind. Nach diesem Verständ
nis fallen Kaufsucht, Spielsucht, Arbeitssucht,
Sexsucht und Internetsucht in die gemeinsame
Kategorie der »Verhaltenssüchte«.
Ob mangelnde Impulskontrolle oder Sucht –
den meisten Patienten dürfte die Antwort auf
diese Frage egal sein. Doch die unklare wissen
schaftliche Einordnung trägt dazu bei, dass es
bisher nur wenige professionelle Behandlungs
angebote gibt. Denn obwohl die Konsumexzes
se sowohl bei den Betroffenen selbst als auch
bei ihren Angehörigen einen enormen Leidens
druck erzeugen, übersehen oder bagatellisieren
Ärzte und Psychologen das Beschwerdebild
Hilfe zur SelbsthilfeDa es bislang kaum Be- handlungsangebote speziell für Kaufsüchtige gibt, gründeten sich in den letzten Jahren mehrere Selbsthilfegruppen in Deutschland. So ist zum Beispiel seit 2002 in Hannover »Lindes Selbst-hilfegruppe« aktiv (www.kaufsuchthilfe.de) und in Bayern seit 2006 die Fürther Selbsthilfegruppe »KAUSUD«.
liTeRATuRTiPPkarsten, c.: shoppen ohne ende. Wenn kaufen zur sucht wird. patmos, Düsseldorf 2008.Ratgeber für Betroffene, inklu- sive Fragebogen zur Selbstein-schätzung. Die Autorin Carien Karsten ist Psychotherapeutin mit dem Spezialgebiet Kauf-sucht.
18 G&G 9_2009
QuellenBlack, D. W.: a review of compulsive Buying Disorder. in: World psychiatry 6, s. 14 – 18, 2007.Koran, L. M. et al.: estimated prevalence of compulsive Buying Behavior in the united states. in: american Journal of psychiatry 163, s. 1806 – 1812, 2006.Müller, A. et al.: a randomized, controlled trial of group cognitive Behavioral therapy for compulsive Buying Disorder: posttreatment and 6Month Followup results. in: Journal of clinical psychiatry 69, s. 1131 – 1138, 2008.
Weitere Quellen unter:www.gehirnundgeist.de/artikel/1001648
nach wie vor häufig. Selbst wenn die begleiten
den Erkrankungen wie Ängste oder Depressio
nen erfolgreich behandelt wurden, normalisiert
sich das Kaufverhalten nur selten.
Daher wirken auch die etablierten Medika
mente in der Regel nicht: Eine Behandlung mit
Antidepressiva hilft nur in Einzelfällen. Die we
nigen bisher publizierten Studien zu Serotonin
Wiederaufnahmehemmern (SSRI) konnten kei
ne Überlegenheit dieser Stoffe gegenüber einem
Placebo in der Behandlung von pathologischen
Käufern belegen.
Neues Konsumverhalten lernenErste Ergebnisse sprechen jedoch dafür, dass
eine gezielte Psychotherapie den Betroffenen
helfen könnte. Eine Forschergruppe um den
Psychiater James Mitchell von der University of
North Dakota erprobt derzeit eine speziell für
Kaufsüchtige entwickelte kognitive Verhaltens
therapie. An der Psychosomatischen und Psy
chotherapeutischen Abteilung des Universitäts
klinikums Erlangen haben wir eine modifizierte
deutsche Version dieses Programms entwickelt.
In zwölf Therapiesitzungen lernen die Patien
ten, ihre Kaufattacken zu reduzieren, indem sie
deren Ursachen auf den Grund gehen. Gleich
zeitig üben sie ein angemessenes Konsumver
halten ein. Da Kaufsüchtige in der Regel schlecht
mit Geld umgehen können, stehen auch Finanz
management und die Bedeutung von EC und
Kreditkarten auf dem »Lehrplan«. Die meisten
Patienten verwalten ihre Konten längst nicht
mehr selbst, weil die Karten von den Banken
eingezogen wurden oder Angehörige die finan
zielle Verantwortung übernommen haben. Doch
das hilft nur kurzfristig, die Patienten müssen
den Umgang mit Geld selbst neu erlernen.
2008 haben wir in einer Gruppentherapie
studie mit 60 Patienten gezeigt, dass diese Be
handlung wirksam ist: Etwa die Hälfte der Teil
nehmer erfüllten nach der Therapie nicht mehr
die Kriterien einer Kaufsucht – auch wenn bei
vielen noch Restsymptome bestanden. Die Wei
terentwicklung solcher störungsspezifischen An
gebote scheint derzeit der vielversprechendste
Ansatz, um das Problem »pathologisches Kau
fen« in den Griff zu bekommen. Ÿ
Astrid Müller ist Psychologin und leitete die Studie zur Verhaltenstherapie Kaufsüchtiger am Universi-tätsklinikum Erlangen. Zurzeit forscht sie am Neuro-psychiatric Research Institute in Fargo (US-Bundes-staat North Dakota).
www.gehirn-und-geist.de/audio
Der »Hohenheimer Kaufsuchtindikator«
Die Forschungsgruppe Kaufsucht der Universität Hohenheim entwickelte einen Fragebogen, um Patienten oder Versuchspersonen auf Anzeichen von pathologischem Kaufen zu testen. Hier ein Auszug aus den insgesamt 16 Fragen: trifft trifft nicht zu zu
Wenn ich Geld habe, dann muss ich es ausgeben.
Oft verspüre ich einen unerklärlichen Drang, einen ganz plötzlichen, dringenden Wunsch, loszugehen und irgendetwas zu kaufen.
Ich kaufe oft etwas, nur weil es billig ist.
Ich habe schon öfters etwas gekauft, das ich mir eigentlich gar nicht leisten konnte.
Einkaufen ist für mich ein Weg, dem unerfreulichen Alltag zu entkommen und mich zu entspannen.
Manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir etwas gekauft habe.
(aus Raab, G. et al.: Screeningverfahren zur Erhebung von kompensatorischem und süchtigem Kaufverhalten (SKSK). Hogrefe, Göttingen 2005.)
www.gehirn-und-geist.de 19
angemerkt!
Die Datenlage zur Therapie der Adipositas (»Fettleibigkeit«) im Kindes- und Jugendalter ist entmutigend. Laut einer Auswer-
tung von mehr als 60 bis zum Jahr 2006 veröffentlichten Studien sind die Erfolge der gängigen Behandlungen zur Gewichtsreduk-tion äußerst bescheiden. Selbst wenn die Pfunde während der Therapie purzeln, so nehmen doch die allermeisten Kinder auf längere Sicht wieder zu. Ähnliches gilt für die Prävention: Zwar gelingt es häufig, Teilnehmer entsprechender Kurse zu mehr Be-wegung zu animieren. Das Körpergewicht lässt sich damit jedoch allenfalls marginal beeinflussen – so das Ergebnis einer großen Metaanalyse aus dem vergangenen Jahr mit nahezu 10 000 Kin-dern und Jugendlichen. Es erstaunt, dass Mediziner und Politiker dennoch weiter so tun, als sei dem Problem mit Imagekampa-gnen und guten Worten beizukommen.
Setzen wir an den falschen Ursachen an? Das Körpergewicht eines Menschen ergibt sich aus dem komplexen Zusammenspiel
zahlreicher innerer und äußerer Faktoren. Die etwa 20 bislang be-kannten beteiligten Genvarianten haben zwar jeweils nur kleine Effekte – Menschen jedoch, die viele solcher Adipositas fördernder Erbanlagen besitzen, sind tatsächlich häufiger übergewichtig als solche mit nur wenigen. Für die wachsende Zahl fettleibiger Men-schen zeichnen aber nicht die Gene verantwortlich. Verändert ha-ben sich vor allem die Umweltbedingungen, unter denen gene-tisch vorbelastete Menschen leichter dick werden: preiswerte, kalorienreiche Lebensmittel, die überall erhältlich sind, gepaart mit Bewegungsmangel.
Die Vielzahl erfolglos erprobter Präventionsansätze stimmt skeptisch. Sollte man nicht eher zu repressiven Mitteln greifen? In Kalifornien etwa hatte die Verteuerung von Zigaretten, das Ab-schaffen von Zigarettenautomaten, das Anheben des gesetzlichen
Mindestalters für den Kauf und das Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden durchaus Wirkung. Dort rauchen nur noch etwa acht Prozent der Jugendlichen – in Deutschland liegt die Rate dagegen bei über 40 Prozent!
Ähnliche Maßnahmen im Kampf gegen Übergewicht scheinen denkbar: So wird gegenwärtig etwa diskutiert, die Werbung der Lebensmittelindustrie im Umfeld von Kindersendungen einzu-schränken. Auch könnte der Mehrwertsteuersatz für industriell verarbeitete Lebensmittel auf den Regelsatz von 19 Prozent er-höht werden, während der für unverarbeitete Produkte entfällt. Statt sportliche Aktivität nur zu propagieren, wäre es sinnvoll, echte Anreize für körperliche Bewegung zu schaffen – sei es durch den Ausbau von Spielplätzen, Fahrradwegen und Fußgängerzo-nen, sei es durch die Verteuerung des Autofahrens. Und wie wäre es mit einer Vergnügungssteuer für Internet und PC-Spiele?
Bislang hat man solche strukturellen Massnahmen kaum ins Auge gefasst, etwa aus Sorge um jene Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt an der Auto-, Nahrungsmittel- und Medienindustrie hängen. Doch scheint eine gesellschaftliche Diskussion darüber dringend geboten: Schließlich sind in den westlichen Industrie-ländern zwischen 15 und 30 Prozent der Bevölkerung von Adiposi-tas betroffen.
Ein weiterer wichtiger Faktor, um die Rate an Übergewichtigen zu senken, lautet: mehr Bildung! In den Industrieländern erhöht ein niedriger oder fehlender Schulabschluss ebenso wie ein gerin-ger sozialer Status das Adipositasrisiko deutlich. Politiker, Medien und Adipositasforscher sollten nicht länger einfach so tun, als sei in erster Linie jeder selbst für sein Körpergewicht verantwortlich. Eine solche Haltung stigmatisiert adipöse Menschen zu Unrecht.
Johannes hebebrand ist Professor an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität duisburg-essen.
falsche gewichtUngIm Kampf gegen Adipositas helfen gute Ratschläge allein nicht weiter.
literaturtipp hebebrand, J., simon, c.-P.: Irrtum Übergewicht. Zabert Sandmann, München 2008.
Politiker, Medien und Adipositasforscher sollten nicht länger einfach so tun, als sei in erster Linie jeder selbst für sein Körpergewicht verantwortlich
www.gehirn-und-geist.de 19
20 G&G 9_2009
»Lernen ist ein kommunikativer Akt«
Frau Frith, was versteht man unter »natür-
licher Pädagogik«?
Kinder kommen mit der Erwartung zur Welt,
dass ihnen etwas beigebracht wird. Sie reagie
ren von Anfang an höchst sensibel auf Signale,
die ihnen die Bedeutung einer Information an
zeigen und an denen sie erkennen: Achtung,
jetzt kommt etwas, was ich mir merken sollte!
Das lässt sich schon früh beobachten, etwa bei
wenigen Monate alten Säuglingen: Wenn man
sie durch Blickkontakt und Heben der Stimme
auf die Wichtigkeit eines Objekts hinweist, se
hen sie es länger an. Die Psychologen György
Gergely und Gergely Csibra haben das in bahn
brechenden Experimenten gezeigt (siehe Kas
ten S. 22). Es gibt eine ganze Reihe metakogni
tiver Prozesse, die dem Lernen den Weg ebnen.
Was bedeutet »metakognitiv« in diesem Zu-
sammenhang?
Wörtlich meint der Begriff so viel wie »denken
über das Denken«. Darin liegt eine ganz große
Stärke des Menschen: Er reflektiert sein eige
nes geistiges Vermögen und das von anderen.
Psychologen sprechen hier auch von »Theory
of Mind«. Laufend bilden wir Hypothesen da
rüber, was unsere Mitmenschen im Schilde
führen, wie sie uns sehen und welches Wissen
und Können wir bei ihnen voraussetzen kön
nen. Das muss allerdings nicht bewusst ablau
fen. Die Mechanismen, die das kindliche Ler
nen leiten, sind meist so subtil, dass sie uns im
Alltag kaum auffallen. Vielleicht haben For
scher deshalb so lange gebraucht, sich ihrer an
zunehmen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn ich in der Bahn sitze und Mitreisende
beobachte, bin ich ständig dabei, im Geist die
Perspektive zu wechseln. Der Mann da sieht
müde aus, hatte bestimmt einen harten Tag.
Die in dem dünnen Kleid dachte wohl, es sei
wärmer draußen. Das passiert automatisch,
ich merke es kaum. Eine wesentliche Erkennt
nis der »natürlichen Pädagogik« ist nun, dass
die Fähigkeit zu solchen mentalen Rollenwech
seln das Lernverhalten von Kindern formt.
Funktioniert Lernen nicht ganz unterschied-
lich, je nachdem ob es um Geschichtsdaten,
Radfahren oder um ein verträgliches Sozialver-
halten geht?
psycholoGie i kindesentwicklunG
Wie begreifen Kinder die Welt? Unter welchen Bedingungen erwerben sie Wissen
besonders gut? Welche Rolle spielt dabei die Fähigkeit, sich in andere hineinzu
versetzen? Diese Fragen beschäftigen die renommierte Entwicklungspsychologin
Uta Frith seit Jahrzehnten. Ihr Kredo: Der natürliche Wissenserwerb liefert das
beste Vorbild für die Schule.
»Die Mechanismen, die das kindliche Lernen lei-ten, sind meist so subtil, dass sie uns im Alltag kaum auffallen. Vielleicht haben Forscher des-halb so lange gebraucht, sich ihrer anzunehmen«
www.gehirn-und-geist.de 21
Mit
frd
l. G
en. v
on
Uta
fri
th
Das ist richtig. Ich beziehe mich hier aber auf
eine tief verankerte Grundausstattung, die
überall zum Tragen kommt. Bei der Suche nach
dem Erfolgsrezept für effektives Lernen haben
Forscher oft allein die Inhalte betrachtet, den
zu lernenden Gegenstand. Dabei machen viel
leicht gerade die sozialen und emotionalen
Umstände den Unterschied. Natürlich muss
sich ein Mathematiklehrer überlegen, wie er
Formeln und Rechenwege didaktisch geschickt
aufbereitet. Vermeintlich nebensächliche Fak
toren sind aber ebenso wichtig, angefangen
bei der Atmosphäre im Klassenzimmer bis zur
Erlaubnis, Fehler zu machen oder selbst etwas
austüfteln zu dürfen. Diese Faktoren entschei
den oft darüber, ob ein Lernstoff hängen bleibt
oder nicht.
Sie meinen also, statt sich nur auf das Was
zu konzentrieren, sollte man auch das Wie des
Lernens betrachten?
Genau. Worauf es letztlich ankommt, ist dies:
Lernende und Lehrende, Kinder und Eltern,
Schüler und Pädagogen müssen sich aufeinan
der einstimmen. Wenn das Kind dafür nicht
zugänglich ist, kann ich noch so oft die Augen
brauen heben oder meine Stimme modulieren.
Ich muss es im richtigen Moment tun. Beson
ders offensichtich wird das bei Autisten. Viele
ihrer kognitiven Defizite gründen darin, dass
sie die Bedeutung metakognitiver Signale nicht
einschätzen können oder sie gar nicht wahr
nehmen. Weil sie die Absichten und Gedanken
anderer Menschen spontan nicht entschlüs
seln können, ist es sehr schwierig, den Betrof
fenen gezielt bestimmtes Wissen zu vermit
teln. Irrelevante Informationen haben für sie
den gleichen Stellenwert wie das eigentlich
Wichtige. Das zeigt: Lernen ist in hohem Maß
ein kommunikativer Akt.
Wie hängt das mit dem Talent zusammen,
sich in den Kopf anderer hineinzuversetzen?
Ich glaube, dass vieles von dem, was wir unter
dem Begriff Metakognition zusammenfassen,
letztlich im Selbstkonzept von Kindern wur
zelt. Im Englischen gibt es dafür den Begriff
self awareness, der nicht so leicht ins Deutsche
zu übersetzen ist. Self awareness bezieht sich
auf die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen
und in unterschiedliche Rollen zu schlüpfen.
Das kann wie gesagt vollkommen implizit
bleiben, also ohne, dass wir es recht mitbekä
men oder steuern würden. Ein Sechsjähriger
denkt ja nicht bewusst »Oh aufgepasst, der
Lehrer räuspert sich, jetzt sagt er gleich etwas
Wichtiges«. Dennoch verfehlt das Signal nicht
seine Wirkung.
Fördert es auch das Lernen?
Erfolgreicher Wissenserwerb basiert auf mehr
als nur auf Lehrdidaktik. Hier spielen geistige
Prozesse hinein, die auf höherer Ebene ange
siedelt sind. Kinder sind keine passiven Spei
cher oder Schwämme, aber sie nehmen andau
ernd für sie interessante Informationen auf.
Heute begreifen wir, wie differenziert bereits
die Kleinsten auf besonders wertvolles Wissen
achten. Sie nehmen nicht unbesehen alles in
sich auf, sondern selektieren aktiv. In Ge
sprächen mit Eltern oder Lehrern höre ich im
mer wieder diesen Satz: »Wenn sie (die Kinder)
doch nur lernen würden, was wir ihnen sagen.«
Ich denke dann oft, aber sie lernen doch – im
merzu! Nur nicht immer genau das, was man
ihnen vorgibt.
Halten Sie es für eine Illusion zu glauben,
man könne Lernprozesse exakt steuern?
Man sollte sich jedenfalls von der Idee des »Ein
trichterns« verabschieden. Das fördert nicht
den Lernerfolg. Dafür braucht es ein funktio
nierendes Wechselspiel von Lehrenden und
Lernenden.
Wie lassen sich metakognitive Fähigkeiten
besser in der Schule berücksichtigen?
UTA FRITH> geboren 1941 in Rockenhausen bei Kaiserslautern> studierte experimentelle und klinische Psychologie in Saarbrücken und London> Promotion und langjährige Forschungstätigkeit am University College sowie dem Medical Research Council in London> Mitbegründerin des Institute of Cognitive Neuroscience in London, wo sie die Abteilung für kognitive Entwicklungspsychologie leitete> Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Akademien, darunter die Royal Society und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina> seit 2007 Research Foundation Professor an der Universität in Aarhus (Dänemark)> verheiratet mit dem Psychologen Chris Frith (siehe G&G 4/2008, S. 42), zwei Söhne
22 G&G 9_2009
Indem man sie übt! In einer originellen Unter
suchung haben Angela DavisUnger und Ste
phanie Carlson von der University of Washing
ton in Seattle Kinder gebeten, die Rolle von
Lehrern einzunehmen. Ich denke, man sollte
die Rollen von Lehrern und Schülern nicht im
mer strikt trennen. Viele Kinder profitieren da
von, wenn sie einmal die Seiten wechseln und
selbst erklären sollen. Das fördert die Fähigkeit
zur Selbstreflexion unbewusst. Kinder sind au
ßerdem oft viel eher bereit, von Altersgenossen
zu lernen – es ist ganz natürlich für sie, sich mit
Gleichaltrigen zu vergleichen und sich Dinge
abzugucken.
Und das wiederum verbessert den Wissens-
erwerb?
Vielleicht nicht unmittelbar, aber Interesse,
Motivation, Wichtiges von Unwichtigem tren
nen zu können – das sind Grundvorausset
zungen für nachhaltiges Lernen. Das meiste,
das Kinder lernen sollen, ist mit keiner direk
ten Belohnung verbunden. Aus diesem Grund
ist auch die Übertragbarkeit von Tierexperi
menten begrenzt: Ratten lernen Assoziationen
zwischen einfachen Reizen und damit gekop
pelten Veränderungen in der Umwelt – Futter
gabe oder Stromschläge zum Beispiel. In der
Schule fallen ganz andere Faktoren ins Ge
wicht, etwa die Signale anderer richtig zu
deuten.
Haben Sie Zweifel, dass sich Erkenntnisse
aus der Lernforschung an Tieren auf den Schul-
unterricht übertragen lassen?
Menschen lernen viel mehr von anderen Men
schen als aus eigener Erfahrung. Das hat riesige
Vorteile: Wir müssen nicht alle die gleichen
Fehler machen! Die soziale Weitergabe von
Wissen mag ansatzweise bei einigen Affen
arten zu beobachten sein, aber sie ist weit ge
hend ein Privileg des Menschen. Die Fähigkeit,
Traditionen und Wissensbestände weiterzu
geben und immer weiter auszubauen, bildet
die Grundlage unserer Kultur. Und Kultur ist
für mich gleichbedeutend mit Bildung.
Es heißt oft, schulisches Lernen solle Spaß
machen. Dennoch muss man immer auch
Durststrecken und Widerstände dabei überwin-
den. Ist das Ideal vom selbstbestimmten, fröh-
lichen Lernen nicht eine Illusion?
Ganz bestimmt. Lernen erfordert viel Selbst
kontrolle, also das Vermögen, spontane Im
pulse zu unterdrücken, Belohnungen aufzu
schieben. Fragen Sie ein Kind, ob es jetzt sofort
einen Lolli haben will oder zwei in einer Stun
de, dann wird es bei hoher Selbstkontrolle eher
bereit sein zu warten. Und diese hängt statis
tisch gesehen enger mit dem schulischen Er
folg zusammen als der IQ. Ÿ
Die Fragen stellte G&G-Redakteur Steve Ayan.
quellenDavisUnger, A., Carlson, S. M.: development of teaching Skills and relations to theory of Mind in Preschoolers. in: Journal of Cognition and de-velopment 2009 (im druck).Duckworth, A., Seligman, M. E. P.: Self-discipline outdoes iQ in Predicting academic Per-formance of adolescents. in: Psychological Science 16, S. 939 – 944, 2005.
»Natural Paedagogy« – eine neues ForschungsprogrammVeRANsTAlTUNgsTIPP»Psychologie und Zu-kunftsfragen« heißt eine neue Veranstaltungsreihe der Deutschen Gesell-schaft für Psychologie (DGP). In diesem Rahmen findet am Mittwoch, den 9. September 2009, in der Fruchthalle Kaiserslautern eine Podiumsdiskussion statt mit dem Titel »Die Rolle der Hirnforschung in der Entwicklungs- und Lernpsychologie: Zwischen Euphorie und Ablehnung«. Uta Frith und andere Experten diskutieren mit dem Publikum, wie die Schule von morgen aussehen sollte. Beginn: 19.30 Uhr; der Eintritt ist frei. Informationen im Internet: www.sowi.uni-kl.de/wcms/dgps-podium.html
Heute richten Psychologen und lernforscher ihr Augenmerk vermehrt auf jene metakogni-tiven Einflüsse, die das natürliche Lernen vom jüngsten Kindesalter an vorbereiten, prägen und begleiten. Dazu zählen etwa die Modula-tion der Stimme oder der Mimik. So etablierte sich in den letzten Jahren ein neues Arbeits-gebiet – die »Natural Paedagogy«.
Die Forschergruppe um György Gergely und Gergely Csibra an der Central European University in Budapest zeigte, wie stark der Blickkontakt zu Erwachsenen die Aufmerksam-keit von Babys lenkt. In einem Experiment sah eine Frau den Testsäugling zunächst direkt an und wandte sich dann einem von zwei vor ihr befindlichen Gegenständen zu (siehe Bild). Der zuvor hergestellte Kontakt ließ den Blick des Kindes sehr viel länger beim jeweili gen Objekt verweilen.
Laut den Forschern strukturieren mimische und sprachliche Signale seitens der Eltern das kindliche Lernen, da sie zwischen wichtiger und unwichtiger Information unterscheiden helfen. Kinder lernen so, effektiver zu lernen.
(Csibra, G., Gergely, G.: Natural Paedagogy. In: Trends in Cognitive Sciences 13(4),
S. 148 – 153, 2009.)
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24 G&G 9_2009
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]In vIelfalt vereInt So zahlreich wie die einflüsse, die einen Menschen prägen, sind auch die Schichten des Ichs. Dennoch erleben wir es als den mentalen fixpunkt schlechthin.
titelthema i ich-bewusstsein
www.gehirn-und-geist.de 25
Jeder Mensch besitzt ein Bild seines Selbst, das stabil und nur schwer
wandelbar erscheint. Doch wozu ist es gut, ein »Ich« zu haben? Der
Psychiater Uwe Herwig kennt eine plausible Antwort: Es ermöglicht
uns, Gefühle und Handlungen zu steuern.
Von uwe herwiG
Frau K. fragt sich, wer sie eigentlich ist. Seit
Monaten fühlt sich die 37-Jährige befrem-
det, oft kommt es ihr so vor, als würde sie ne-
ben sich stehen. Ihre Familie, ihr Beruf, ihr gan-
zes Lebens erscheinen ihr irgendwie sinnlos.
Frau K. grübelt viel, leidet unter Beklemmungen.
Manchmal gerät sie ihren Kindern gegenüber
grundlos in Wut und macht sich anschließend
Vorwürfe. Sie denkt daran, sich umzubringen.
Herr M. dagegen glaubt, er sei höchstpersön-
lich dazu auserkoren, die Welt zu retten. Er hält
sich für außergewöhnlich begabt, tüftelt näch-
telang an einer grandiosen, neuen Weltordnung.
Er schlägt das fertige Manuskript mehreren
Buchverlagen zur Veröffentlichung vor, bestellt
einen teuren Sportwagen, obwohl er schon jetzt
Schulden hat. Herr M. fühlt sich so gut und
selbstsicher wie noch nie.
Das sind nur zwei Beispiele dafür, was passie-
ren kann, wenn das Selbstbild von Menschen
aus den Fugen gerät. Psychische Erkrankungen
wie die von Frau K. und Herrn M. – Depression
und Manie – verzerren die Vorstellung, die die
Betroffenen von sich haben. Eine realistische
Selbstwahrnehmung ist wesentlich für eine ge-
sunde Psyche. Mag das eigene Ich auch oft
schwer zu fassen sein, haben wir doch alle intui-
tiv eine Idee davon, wer wir sind.
Neurowissenschaftler versuchen aus zwei
Gründen, den Wurzeln des Selbst im Gehirn auf
die Spur zu kommen. Zum einen versprechen
sie sich davon, seelische Erkrankungen besser
zu verstehen und behandeln zu können. Zum
anderen wollen sie ein alte Frage des Mensch-
seins beantworten helfen: Weshalb besitzen wir
überhaupt ein Ich? Warum sind wir nicht ein-
fach biologische Automaten, die sich ihrer selbst
und ihrem Verhältnis zur Umwelt eben nicht
bewusst sind – Wesen, die manche Neurophilo-
sophen (etwas geringschätzig) als Zombies be-
zeichnen?
In unserem subjektiven Erleben existiert für
gewöhnlich eine klare Grenze zwischen innen
und außen. Gedanken und Gefühle, Motive und
Erinnerungen empfinden wir als uns selbst zu-
gehörig. Auch wenn wir uns mental in andere
Menschen hineinversetzen und deren Wünsche
und Gefühle erschließen, verwechseln wir diese
normalerweise nicht mit unseren eigenen. Die
Trennung zwischen »ich« und dem Rest der
Welt erscheint somit als erstes wichtiges Merk-
mal des Selbst.
Stabilität trotz VeränderungDas zweite ist seine Stabilität. Das Selbst bildet
einen festen Rahmen, in den wir all unsere Ge-
danken, Gefühle und Erfahrungen einordnen.
Das Merkwürdige daran: Während wir das eige-
ne Ich als konstant erleben, unterliegt es doch
einem ständigen Wandel. Jede neue Erfahrung
formt uns, sowohl biografisch als auch biolo-
gisch. Wie sich der Körper durch seinen Stoff-
wechsel laufend verändert, tritt auch das Selbst
nie auf der Stelle. Viele innere und äußere Fak-
toren prägen es – angefangen bei der Erziehung
und Sozialisation bis hin zu alltäglichen Erfah-
rungen im Erwachsenenalter. Denn diese beein-
flussen das Ablesen genetischer Information
und somit auch den Aufbau synaptischer Kon-
takte oder die Geburt neuer Nervenzellen im
Au f e i n en Bl ick
Selbst ist ... das Hirn
1 Jeder Mensch hat ein Bewusstsein für innere
Vorgänge wie Gedanken, Gefühle, Erinnerungen. Diese erscheinen als der eigenen Person zugehörig und stabil – außer bei bestimmten psychischen Störungen.
2 Viele Hirnareale, die mit dem Ich-Bewusst-
sein zu tun haben, liegen an der »kortikalen Mittellinie« der beiden Hemisphären.
3 Selbstwahrnehmung ermöglicht es, Emotio-
nen und Handlungsim-pulse bewusst zu kontrol-lieren. Dies lässt sich auch trainieren.
Mehr zuM titelheMa> Puzzle der PersönlichkeitWie sich der Charakter im Gehirn abbildet (S. 30)
26 G&G 9_2009
Gehirn. Das lässt vermuten, dass sich die Kon-
stanz des Selbst nicht irgendwie automatisch
ergibt, sondern eine aktive Leistung unseres
Gehirns darstellt. Nur, wie erbringt es sie? Und
warum überhaupt?
Ein Blick auf die Entwicklung des Ich-Kon-
zepts bei Kleinkindern liefert erste Anhalts-
punkte. Ab dem Alter von etwa drei bis fünf Mo-
naten können Babys ihre Körperbewegungen
einigermaßen sicher kontrollieren, mit zirka an-
derthalb Jahren erkennen die Kleinen sich dann
erstmals im Spiegel. Ab zwei Jahren verwenden
sie Begriffe wie »ich« und »mein«; eigene Ge-
fühlsregungen (»Ich bin traurig«) benennen sie
mit etwa drei Jahren. Im Grundschulalter meh-
ren sich die Vergleiche mit anderen, die Zeit des
Kräftemessens beginnt, woraus nach und nach
ein Selbstwertgefühl entsteht. Jugendliche und
junge Erwachsene erwerben über immer diffe-
renziertere soziale Rollen schließlich eine aus-
gereifte persönliche Identität.
Explosionsartiges WachstumParallel zu diesen Entwicklungsstufen formen
sich die neuronalen Verbindungen. Bei der Ge-
burt existieren nur wenige synaptische Ver-
knüpfungen zwischen den schätzungsweise 100
Milliarden Nervenzellen des Gehirns. Bis zum
sechsten Lebensjahr kommt es zu einem ex-
plosionsartigen Anwachsen der synaptischen
Verdrahtung, die sich gleichzeitig immer mehr
Das Selbst – philosophisch betrachtetGeistesgeschichtlich ist die Beschäftigung mit dem Selbst sehr alt. In der an-tiken griechischen Philosophie kam wohl erstmals der Gedanke auf, dass un-ser Verhalten durch eine dahinterstehende Psyche bestimmt wird. Von He-raklit (540/535 – 483/475 v. Chr.) stammt der Appell »Erkenne dich selbst!«. René Descartes (1556 – 1650) unterschied in seinem Dualismus von Geist und Körper die »res extensa« von der »res cogitans«. Beide Sphären träfen sich in der Zirbeldrüse des Gehirns. Descartes’ »Ich denke, also bin ich« definiert das Selbst als über jeden philosophischen Zweifel erhaben.
Immanuel Kant (1724 – 1804) erklärte, dass der menschliche Verstand seine eigene Welt konstruiert, und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) sah in der Selbsteinsicht einen höheren Entwicklungsstand des Bewusstseins. Der amerikanische Psychologe William James (1842 – 1910) betrachtete Emo-tionen und Selbst in naturwissenschaftlich-reduktionistischer Weise als Funktionen des Gehirns. Sigmund Freud (1856 – 1939) wiederum entdeckte das Unbewusste als mitbestimmende Instanz, die man bei der psychothera-peutischen Modifikation des Selbst berücksichtigen müsse.
festigt. Dabei verschwinden ungenutzte Ver-
knüpfungen; andere, die durch bedeutende
oder wiederholte Erlebnisse gebahnt werden,
konsolidieren sich.
Der Neurologe Antonio R. Damasio von der
University of Iowa entwarf Mitte der 1990er Jah-
re ein hierarchisches Drei-Ebenen-Modell des
Selbst. Demnach stellt das »Protoselbst« eine
neuronale Repräsentation des Organismus dar.
Auf dieser zunächst unbewussten Ebene geht es
vor allem darum, allgemeine Körperfunktionen
und das innere biochemische Gleichgewicht,
die Homöostase, zu erhalten. Zuständig sind
hierfür der Hirnstamm, das Mittelhirn sowie
der Hypothalamus. Erst wenn hier Probleme
auftreten, werden diese höheren Hirnzentren
gemeldet.
Auf der mittleren Ebene – Damasio spricht
vom »Kernselbst« – steht die Interaktion mit der
Umwelt im Vordergrund. Hier entsteht ein un-
mittelbares Bewusstsein unseres Selbst im Hier
und Jetzt. Neuronal betrachtet sind unter ande-
rem Teile des Zwischenhirns beteiligt, vor allem
der Thalamus sowie die Mandelkerne (Amygda-
lae), der zinguläre Kortex, die Insula und der me-
diale präfrontale Kortex (Grafik rechts). Körper-
signale erzeugen im »Kernselbst« einfache Be-
wusstseinsinhalte wie etwa Hungergefühle.
An der Spitze von Damasios Modell steht das
»autobiografische Selbst«. Es gewährleistet, dass
wir das eigene Verhalten reflektieren und es ge-
zielt beeinflussen können. Dafür ist laut Dama-
sio ein sprachliches Bewusstsein erforderlich,
wie es nur der Mensch besitzt. Entsprechend
sind neuronale Sprachzentren wie die Broca-Re-
gion sowie der Hippocampus als Vermittler-
instanz für den Gedächtnisabruf beteiligt. Auf
dieser Bewusstseinsebene können wir unter
Einbeziehung früherer Erfahrungen und aktu-
eller Ziele Handlungsimpulse rational und ana-
lytisch abwägen. Der präfrontale Kortex im
Stirnhirn übt dabei die Funktion eines internen
Kontrolleurs aus.
Damasios Modell beschreibt viele Aspekte
des Selbst – um diese zu erforschen, greifen For-
scher jedoch oft auf einfachere Unterscheidun-
gen zurück. Eine verbreitete ist die zwischen
körperlichen und gedanklichen (kognitiven)
Komponenten. Wir spüren den eigenen Körper
über somatosensorische Rückmeldungen von
der Haut und den Gelenken, aber auch aus dem
Bauchraum (viszeral). Besonders wichtig für
diese Eigenwahrnehmung ist ein Abschnitt der
Hirnrinde am Übergang vom Frontal- zum
Schläfenlappen – die vordere Insula. Dies konn-
Weshalb besitzen wir überhaupt ein Ich? Warum sind wir nicht einfach biolo-gische Auto-maten, die sich ihrer selbst nicht bewusst sind?
www.gehirn-und-geist.de 27
ten Hugo D. Critchley und seine Kollegen vom
Wellcome Department for Imaging Neurosci-
ence in London 2004 nachweisen.
Die Forscher ließen Probanden die eigene
Herzfrequenz einschätzen: Während die Ver-
suchsteilnehmer im Magnetresonanztomogra-
fen (MRT) lagen, lauschten sie per Kopfhörer ih-
rem eigenen Pulsschlag entweder in Echtzeit
oder um 500 Millisekunden verzögert. Die Auf-
gabe: zu entscheiden, ob der eigene Puls direkt
oder zeitversetzt erklang. Je besser ein Proband
dies unterscheiden konnte, desto stärker fiel die
Aktivität in der Inselregion aus. Wie weitere
Messungen ergaben, hatten Probanden mit be-
sonders sensiblem Körperempfinden (sie kla-
gen beispielsweise eher über trockene Augen
oder Magendrücken) eine größere Inselrinde als
andere Personen.
Kognitive Aspekte des Selbst spiegelten sich
dagegen im medialen präfrontalen Kortex
(MPFC) wider. In einem Experiment von Joseph
Moran und Kollegen am Dartmouth College in
Hanover (US-Bundesstaat New Hampshire) von
2006 sollten gesunde Probanden beurteilen,
wie gut eine Reihe von Adjektiven auf sie per-
sönlich beziehungsweise auf eine andere, ihnen
bekannte Person zutrafen. Waren die Wörter auf
sich selbst zu beziehen, fiel die Aktivität jener
Frontalhirnregion stärker aus – und zwar unab-
hängig vom emotionalen Wert des Adjektivs,
also ob es eine positive oder negative Eigen-
schaft beschrieb.
Erregung beim eigenen AnblickZu ähnlichen Befunden kamen Thilo Kircher
von der Psychiatrischen Universitätsklinik Mar-
burg sowie Stephen M. Platek und Kollegen
von der University of Pennsylvania in Philadel-
phia. Ihre Probanden sahen Fotos des eigenen
Gesichts sowie von anderen bekannten und
un bekannten Menschen. Wie der gleichzeitige
Hirnscan ergab, aktivierte das Betrachten des ei-
genen Porträts vermehrt mediale präfrontale,
insuläre und parietale Kortexareale.
Diese Regionen melden sich schon bei der
bloßen Erwartung des Probanden, sich gleich
selbst zu sehen, also ehe das Bild erscheint. Das
berichtete Annette Brühl von der Universitäts-
klinik Zürich auf dem Kongress der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und
Nervenheilkunde (DGPPN) 2008 in Berlin.
Die Unterscheidungen zwischen »ich« und
»andere« bietet Forschern einen naheliegenden
Ansatzpunkt, um der neuronalen Selbstreprä-
sentation auf die Spur zu kommen. Offenbar
unterscheidet das Gehirn sehr genau zwischen
Eigen- und Fremdreizen. Das führt beispielswei-
se dazu, dass wir uns nicht selbst kitzeln kön-
nen, obwohl der entsprechende Hautreiz mit
dem beim Gekitzeltwerden durch eine andere
Person identisch ist. Wir hören auch unsere ei-
gene Stimme in der Regel nicht bewusst, obwohl
sie wie jedes andere Geräusch von außen ans
Ohr dringt.
Knut Schnell von der Psychiatrischen Uni-
versitätsklinik in Bonn untersuchte dies näher.
Laut Ergebnissen seiner Arbeitsgruppe nehmen
wir Reize, die als Folge eigener Handlungen ent-
stehen, tatsächlich deutlich schwächer wahr als
extern erzeugte. In einer bildgebenden Studie
konnte Schnell zeigen, dass beim Beobachten
von eigenen im Vergleich zu fremden Hand-
lungen während eines einfachen Videospiels
ein Netzwerk aus präfrontalen Kortexarealen
sowie dem unteren Scheitellappen (inferior pa-
rietal) verstärkt in Aktion trat.
Wie ist das zu erklären? Der präfrontale Kor-
tex ist als Planungs- und Kontrollinstanz für
Handlungen bekannt. Er sendet eine Kopie sei-
ner Bewegungsprogramme in Regionen des
Scheitellappens, der wiederum für die Wahr-
nehmung fremder Bewegungen zuständig ist.
Durch dieses Feedback kann selbst erzeugter In-
put quasi herausgerechnet werden – das heißt,
Innere MitteDie neuronale Selbstrepräsen-tation beansprucht Areale in vielen verschiedenen Hirntei-len. Besonders dicht gesät sind sie auf der Innenseite der Hemisphären, auch »kortikale Mittellinie« genannt. Zu den als »CMS« zusammenge-fassten Strukturen (von englisch Cortical Midline Structures) zählen neben dem orbitofrontalen und dem zingulären vor allem der mediale präfrontale Kortex. Dieser teilt sich in einen ventral (»zum Bauch hin«) und einen dorsal (»zum Rücken hin«) gelegenen Ab- schnitt auf. Auch Gebiete im Scheitellappen (hier markiert: medial parietal) und die Amygdala werden – je nach experimentellem Vorgehen – von ichbezogenen Reizen aktiviert.
transparente Schnittansicht des Großhirns (grün)
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medialer parietaler Kortex (MPC)
posteriorer zingulärer Kortex (PCC)
orbitofrontaler Kortex (OFC)
ventromedialer präfrontaler Kortex (VMPFC)
dorsomedialer präfrontaler Kortex (DMPFC)
Mediale Schnittansicht des Großhirnsanteriorer zingulärer Kortex (ACC)
Amygdalae
Hippocampus Kleinhirn(Cerebellum)
28 G&G 9_2009
die Intensität der Wahrnehmung schwächt sich
deutlich ab. Bei akut psychotischen Patienten
kann diese Selbst-fremd-Unterscheidung gestört
sein – mit dem kuriosen Nebeneffekt, dass sie
selbst herbeigeführte Berührungen der eigenen
Haut unverändert stark empfinden und sich so-
mit prinzipiell auch selbst kitzeln könnten.
Das führt uns zu der Frage, weshalb sich
überhaupt so etwas wie ein Selbst entwickelt
hat. Welchen Vorteile hat ein »autoreflexiver«
Organismus gegenüber einem alternativen, der
sich seiner selbst nicht bewusst ist und folglich
kein Ich besitzt? Eine große Rolle dürfte dabei
die Regulation von Gefühlen spielen. Denn hier
kommt der Selbstwahrnehmung eine wichtige
Funktion zu: Sie erlaubt uns, unserer Gefühle
bewusst zu werden, sie zu bewerten und gegebe-
nenfalls zu modulieren. Das eigene Ich dient da-
bei als eine Art Projektionsfläche.
Gefühlskontrolle im AlltagWir begegnen laufend vielerlei Reizen, die emo-
tional bedeutsam sind: vom bissigen Nachbars-
hund über den nervigen Kollegen bis hin zum
lang ersehnten Kinoabend mit Freunden. Unse-
re Gefühlsreaktionen und daraus entstehende
Verhaltensimpulse wie Flucht, Kampf oder Freu-
densprünge zu regulieren, ist eine wichtige Fä-
higkeit; ohne sie wäre ein verträgliches soziales
Miteinander unmöglich. Areale des präfronta-
len Kortex spielen hier abermals eine entschei-
dende Rolle. Sie modulieren die von den Man-
delkernen ausgehende Aktivität und können so
die emotionale Erregung hemmen.
Doch wie gehen wir im Alltag eigentlich mit
unseren Gefühlen um? Eine simple Strategie be-
steht darin, sie einfach über sich ergehen zu las-
sen. Das ist allerdings oft nicht praktikabel. Eine
andere Möglichkeit ist die Unterdrückung des
emotionalen Ausdrucks – etwa, indem man in
belastenden oder Angst auslösenden Situatio-
nen bewusst »gute Miene« macht. Wie Studien
gezeigt haben, verändern mimische oder an-
dere motorische Signale durchaus unsere Stim-
mungslage. Allerdings kann ständiges Unter-
drücken von Emotionen den subjektiven Lei-
densdruck und die damit verbundene Erregung
noch verstärken.
Eine dritte, günstigere Variante bezeichnen
Psychologen als »kognitive Neubewertung«
(oder Reappraisal, wie der englische Fachbegriff
lautet). Sie zielt auf eine Entspannung des emo-
tionalen Erlebens und eine reduzierte physiolo-
gische Reaktion wie zum Beispiel verlangsam-
ten Herzschlag. Mittels funktioneller Bildge-
bung konnten Kevin Ochsner und James Gross
von der Stanford University in Kalifornien 2005
die neuroanatomischen Korrelate der kogni-
tiven Neubewertung aufzeigen.
Die Forscher präsentierten gesunden Pro-
banden unangenehme oder neutrale Bilder. Ein
Teil der Versuchspersonen sollte sie einfach auf
sich wirken lassen. Andere hatten die Aufgabe,
sie durch gedankliche Neubewertung so zu
interpretieren, dass sie ihre negative Bedeu-
tung verloren. Einen bedrohlich die Zähne flet-
schenden Hund kann man beispielsweise zum
treuen Beschützer seines Frauchens umdeuten.
Ergebnis: Neubewertung führte zu weniger
unangenehmen Gefühlen. Dabei wurden vor
allem mediale und laterale präfrontale Areale
aktiv, während die Mandelkerne sowie der orbi-
tofrontale Kortex in ihrer Aktivität gehemmt
waren.
In einer eigenen Studie von 2007 ließen wir
gesunde Probanden schon bei Erwartung unan-
genehmer Bilder die Strategie der kognitiven
Neubewertung anwenden. Sie sollten sich in
Der feine UnterschiedIch und Selbst: Der ame- rikanische Psychologe Wil- liam James (1842 – 1910) unterschied zwischen »I« und »Me«. Ersteres sei der »Wissende« (Ich). Den Inhalt seines »Wissens« – Gedan-ken, Wünsche, Vorlieben et cetera – bilde dagegen das Selbst. Nach einer anderen Definition ist das Ich der je- weils aktuell bewusste Teil des Selbst, quasi die Spitze des Eisbergs.
Emotion und Gefühl: Als Emotionen bezeichnen manche Forscher grundle-gende körperliche Erregungs - zustände. Erst aus deren gedanklicher Bewertung entstünden Gefühle. In der Alltagssprache benutzen wir beide Begriffe meist synonym.
»SIeh an, DaS bIn ja Ich!«In einem von Uwe herwigs experimenten betrachteten Probanden fotos der eigenen oder anderer Personen. bei Selbstbetrachtung regte sich der zinguläre Kortex (hier gelb) besonders stark.
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www.gehirn-und-geist.de 29
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literAturtipp Damasio, a.: ich fühle, also bin ich. dtv, münchen 2001.Sachbuch-Klassiker zum Ver - hältnis von Ich und Gehirn
einem »Reality Check« jeweils vor einer Bilder-
reihe vergegenwärtigen, dass sie nur in einem
Scanner lagen und an einem Experiment teil-
nahmen, welches für sie persönlich keinerlei Be-
drohung darstellte. Probanden, die sich dies
nach eigenem Bekunden erfolgreich zu Herzen
nahmen, zeigten ebenfalls eine stärkere Aktivi-
tät insbesondere im medialen und dorsolate-
ralen präfrontalen Kortex sowie verminderte
Aktivität in den Mandelkernen. Das funktio-
nierte selbst dann, wenn den Probanden unbe-
kannt war, ob sie gleich einen angenehmen oder
unangenehmen Reiz zu sehen bekommen wür-
den. Die Strategie hilft also auch in Situationen,
in denen man nicht weiß, was auf einen zu-
kommt.
Auf die Bewertung kommt es anEmotionen zu kontrollieren ist somit zu einem
gewissen Grad möglich. Nicht umsonst ist dies
ein Element vieler psychotherapeutischer Tech-
niken. Das Grundprinzip reicht aber noch viel
weiter zurück: Bereits Mark Aurel schrieb in sei-
nen »Selbstbetrachtungen«, dass seelische Be-
lastung nicht durch ein äußeres Ereignis selbst
entsteht, sondern durch unsere Bewertung des-
selben. Der Mensch habe jederzeit die Macht,
diese zu verändern.
Ganz so einfach ist es wohl nicht. Schließlich
scheitern wir häufig bei dem Versuch, uns im
Zaum halten. Oft überwältigen uns Gefühle, ehe
wir uns zur Räson rufen können. Und bei tief
verwurzelten Ängsten wie etwa einer Spinnen-
phobie hilft es zunächst ohnehin nicht viel, sich
einfach zu sagen: »Das ist doch nur ein harm-
loses Tierchen!« Allerdings können wir jene
Hirnregionen, die für die kognitive Kontrolle
zuständig sind, durchaus trainieren.
Meditationstechniken wie die der Achtsam-
keit fördern das bewusste Wahrnehmen der ei-
genen Emotionen und körperlichen Empfin-
dungen. Gleichzeitig helfen sie, sich innerlich
davon zu lösen. Mindfulness – so die englische
Übersetzung – umfasst das absichtliche, auf-
merksame und nicht wertende Bewusstsein für
den Moment. Die achtsamkeitsbasierte Psycho-
therapie hat in den letzten Jahren einen be-
merkenswerten Aufschwung erlebt (siehe G&G
12/2006, S. 40).
Mittlerweile sind begleitende neurobiolo-
gische Vorgänge auch recht gut erforscht. Of-
fenbar sind dabei ähnliche Hirnregionen aktiv
wie bei der Emotionsregulation. J. David Cres-
well, Psychologe an der University of California
in Los Angeles, bestimmte 2007 mittels Frage-
bogen die natürliche Neigung von Probanden,
im Alltag achtsam zu sein. Dies lässt sich zum
Beispiel an der Sensibilität des eigenen Körper-
empfindens festmachen. Dann führten die Teil-
nehmer im Hirnscanner eine Aufgabe aus, bei
der sie emotionalen Gesichtsausdrücken die
passenden Affektwörter wie Freude, Trauer
oder Ekel zuordnen sollten. Als Kontrollauf-
gabe galt es, das Geschlecht der Abgebildeten
anzugeben.
Wiederum zeigten besonders achtsame Per-
sonen stärkere präfrontale Aktivierung. Die
Mandelkerne regten sich bei der Affektbenen-
nung gleichzeitig weniger heftig als bei anderen
Probanden. Offenbar üben vor allem präfron-
tale Areale über hemmende Signale Kontrolle
über die Amygdala aus.
Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren könn-
ten sich hier in Zukunft ganz neue Perspektiven
ergeben: Angenommen, man würde Proban-
den, die solche mentale Techniken üben, in Echt-
zeit die eigene Hirnaktivität rückmelden, zum
Beispiel indem man die registrierten Erregungs-
muster auf einem Bildschirm darstellt. Dann
könnten die Probanden ihren »Trainingserfolg«
anhand der geänderten Hirnaktivität über-
prüfen und diese so leichter zu beeinflussen
lernen.
Einen solcher Ansatz stellte Christian Plew-
nia von der Klinik für Psychiatrie und Psycho-
the rapie der Universität Tübingen ebenfalls auf
dem DGPPN-Kongress 2008 in Berlin vor. Zu-
sammen mit anderen Instituten untersucht sei-
ne Arbeitsgruppe, ob diese Art des Neuro-Feed-
backs die emotionale Selbstregulation unter-
stützen kann. Neuere Studien lassen das zwar
vermuten, doch ist die Technik bislang noch zu
aufwändig, um sie im Behandlungsalltag ein-
zusetzen.
Auch wenn es also noch einige Zeit dauern
dürfte, bis Menschen wie Frau K. und Herrn M.
mit solchen Methoden geholfen werden kann –
die Erforschung der neuronalen Grundlagen des
Selbst ist noch für manche Überraschung gut.
Vor allem führt sie uns vor Augen, dass das Bild,
welches wir uns von uns selbst machen, eine
Leis tung unseres Denkorgans darstellt und dass
wir es positiv beeinflussen können. Ÿ
Uwe Herwig ist Leiter der Arbeitsgruppe Emotions-regulation an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und außerplanmäßiger Professor an der Uni-versität Ulm.
www.gehirn-und-geist.de/audio
30 G&G 9_2009
Die Geheimnisse des Charakters galten bislang als das Terrain von Psychologen.
Doch heute können Neurowissenschaftler immer besser individuelle Eigenarten
im Denkorgan verorten, weiß Christian Fiebach von der Universität Heidelberg.
Er umreißt eines der großen Rätsel der Hirnforschung: Wie hängt die Persönlich
keit eines Menschen mit den Eigenheiten seines Gehirns zusammen?
von christian Fiebach
In den letzten Jahrzehnten haben wir sehr viel
über die Arbeitsweise des Gehirns gelernt. Das
betrifft sowohl die Funktion der Nervenzellen
als auch – auf höherer Ebene – die Aufgabentei
lung zwischen den verschiedenen Hirnarealen,
die für psychische Leistungen wie das Verste
hen von Sprache, die Gedächtnisspeicherung
oder auch unser emotionales Erleben maßgeb
lich sind.
Neurowissenschaftler versuchen dabei in
ers ter Linie zu verstehen, wie das Gehirn ganz
allgemein mentale Leistungen erbringt – das
heißt, sie erforschen universelle, bei jedem von
uns im Prinzip gleich ablaufende Prozesse. Nun
wissen wir aber aus alltäglicher Erfahrung, dass
sich Menschen durchaus stark voneinander un
terscheiden. Der eine ist besonders sprachbe
gabt, die andere dagegen gewieft im Rechnen
oder logischen Schlussfolgern; die eine fürchtet
sich leicht, der Nächste fällt durch einen beson
ders impulsiven Charakter auf.
Solche mehr oder weniger stabilen Vorlieben
und Persönlichkeitszüge bilden die Grundlage
unserer Individualität. An den extremen Enden
ihrer Ausprägungen stehen oft psychische Er
krankungen wie zum Beispiel Angststörungen.
Persönlichkeitspsychologen entwickelten viel
fältige Instrumente, um interindividuelle Un
terschiede im Erleben und Verhalten von Men
schen einordnen und beschreiben zu können.
Dazu zählen vor allem standardisierte Frage
bögen, mit deren Hilfe empirisch begründete
Persönlichkeitsdimensionen ermittelt werden
können, wie etwa die so genannten Big Five (sie
he Kasten auf S. 33). Dagegen verstehen wir die
biologischen Grundlagen der Persönlichkeit bis
heute noch wenig.
Hans Jürgen Eysenck (1916 – 1997), ein bedeu
tender britischer Psychologe deutscher Abstam
mung, entwickelte in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts seine »Aktivierungstheorie der
Persönlichkeit«. Sie basiert auf der Annahme, es
gebe drei wesentliche charakterliche Dimen
sionen: Neurotizismus (etwa gleichbedeutend
mit emotionaler Labilität und Ängstlichkeit so
wie einem Hang zu negativen Gefühlen), Extra
version – darunter fallen vor allem Geselligkeit
und Optimismus – sowie Psychotizismus. Die
ser zuletzt genannte Begriff gilt als relativ un
scharf, weil er unter anderem so verschiedene
Mehr zuM theMa> Der Blick nach innenhirnforscher erkunden das Ich-Bewusstsein (S. 24)
Puzzle dertitelthema i neuropsycholoGie
Teil 1: Kultur (6/2009) Teil 2: Neurogenese
(7-8/2009) Teil 3: Persönlichkeit
(9/2009) Teil 4: Empathie (10/2009) Teil 5: Bewusstsein
(11/2009)
der Hirnforschung
NEUE SERIE
DieG&G-SERIE
www.gehirn-und-geist.de 31
Au f e i n en Bl ick
Hirn mit Charakter
1 Persönlichkeitszüge wie Ängstlichkeit,
Impulsivität und Intelli-genz lassen sich ansatz-weise auf bestimmte Eigen- arten der Gehirne von Menschen zurückführen.
2 Dazu gehören Unter-schiede in der Hirn-
aktivität und -anatomie sowie im Erbgut.
3 Individuelle Persönlich-keitsmerkmale entste-
hen im Wechselspiel von Genen, Gehirn und Umwelt.
Eigenschaften wie Neugier, Ag gres sivität, Domi
nanz und Gewissenhaftigkeit in sich vereint.
Der springende Punkt in diesem Modell ist
jedoch folgender: Die jeweilige Ausprägung der
drei Grunddimensionen ist laut Eysenck weit
gehend genetisch festgelegt und geht auf die Er
regbarkeit bestimmter körperlicher Systeme zu
rück. So reagiere bei Personen mit starkem Neu
rotizismus bespielsweise das limbische System,
das am Entstehen von Emotionen beteiligt ist,
besonders schnell und heftig auf Reize, die an
dere Menschen eher kalt lassen.
Historische VorläuferAnders als Eysenck führte dessen jüngerer Kol
lege Jeffrey Gray (1934 – 2004) Unterschiede hin
sichtlich der Ängstlichkeit und Impulsivität von
Menschen auf deren neurobiologische Emp
fänglichkeit für belohnende und bestrafende
Reize zurück. Gray postulierte ein fest im Ge
hirn verankertes Behavioural Approach System
(BAS), das die Annäherung an positiv verstär
kende Reize kontrolliere – etwa Nahrung, Sexu
alpartner, aber auch Lob, Geld oder Drogen. Ist
dieses System leicht erregbar, so äußere sich das
in besonders impulsivem Verhalten. Das Beha-
vioural Inhibition System (BIS) hingegen steuert
nach Gray das Vermeiden von negativen Kon
sequenzen. Eine hohe Reaktivität des BIS bringt
somit erhöhte Ängstlichkeit mit sich.
Der Neuropsychologe Richard Davidson von
der University of WisconsinMadison vertritt
ähnliche Ideen im Rahmen seiner Lateralisie
rungstheorie der Persönlichkeit. Grob verein
facht besagt dieses Modell, dass der linke Fron
talkortex eher die Hinwendung zu angenehmen
oder gewünschten Reizen steuere, während das
Pendant in der rechte Hirnhälfte für Vermei
dung oder Rückzug bei Gefahr zuständig sei.
Davidson schloss dies aus Hemisphärenun
terschieden in der Verarbeitung emotionaler
Reize. So zeigen sich stärkere EEGSignale über
dem linken Stirnhirn, wenn Testpersonen freu
dige Gesichter betrachten; die vom rechten
Stirnhirn ausgehenden elektrischen Potenzial
schwankungen sind dagegen größer beim An
blick trauriger Gesichter.
Unterschiede im emotionalen Erleben zwi
schen Individuen wurzeln laut Davidson in
Asymmetrien der neuronalen Grundaktivität,
Geh
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graue zellen, Buntes ichOb kreativ, expressiv, rational oder impulsiv – das gehirn macht den unterschied.
32 G&G 9_2009
die den »affektiven Stil« einer Person begrün
den. Je nach Dominanz einer der beiden Seiten
des Frontalhirns spreche sie eher auf positive
Reize wie Belohnungen an oder trachte eher
danach, negative zu vermeiden.
Davidson geht dabei von einem biologisch
bedingten Kontinuum zwischen Hinwendung
und Rückzug aus, während Gray diese als unab
hängige Dimen sionen auffasste. Eine Person
könne Grays Theorie zufolge durchaus auf bei
den Gebieten hohe Ausprägungen zeigen – eine
solche hochimpulsive und gleichzeitig ängst
liche Persönlichkeit entspreche dem klassischen
Neurotizismus.
Die differenzialpsychologische Forschung
hat also eine Reihe von Theorien und Modellen
hinsichtlich der biologischen Grundlagen der
Persönlichkeit hervorgebracht. Allerdings gibt
es bislang wenig Klarheit darüber, welcher
Erklärungsansatz am ehesten zutrifft. Mit da
zu beigetragen haben dürfte, dass der Main
stream der Persönlichkeitspsychologie lange
Zeit kaum nach den zu Grunde liegenden neu
ronalen Mechanismen forschte, während sich
Neurowissenschaftler umgekehrt wenig für
interindividuelle Unterschiede interessierten.
Verfeinerte Methoden der kognitiven Neuro
wissenschaften ermöglichen es heute jedoch,
diese Kluft zu überwinden und die biologischen
Korrelate der Einzigartigkeit des Individuums
zu ergründen.
Ein Aspekt der Persönlich
keit, der in den meisten
Modellen auftaucht, ist der
Faktor Neurotizismus. Er be
schreibt in erster Linie Un
terschiede in den emotionalen Reaktionen von
Menschen. Bei geringer Ausprägung neigt die
Person zu wenig Ängstlichkeit und ist eher po
sitiv gestimmt. Wie bereits Eysenck annahm,
dürfte der Grad des Neuroti zismus somit auf
die emotions verarbeitenden Netzwerke des
Gehirns zurückzuführen sein.
Grundsätzlich wären zwei Möglichkeiten
denk bar: Einerseits könnten sich verschiedene
Persönlichkeitstypen hinsichtlich der Hirnanato
mie unterscheiden – beispielsweise in Größe oder
Struktur der grauen Substanz in bestimm ten
Arealen. Andererseits könnten die Gehirne ängst
licherer Menschen aber auch sensibler auf (ver
meintlich) bedrohliche Reize reagieren als die von
forscheren Naturen. Für beides gibt es Belege.
So berichtete die Forschergruppe um Turhan
Canli von der Stony Brook University (USBun
desstaat New York), dass das Volumen der Man
delkerne (Amygdalae), einem wichtigen Gefühls
zentrum des Gehirns, mit gleich zwei Persön
lichkeitsdimensionen zusammenhängt (siehe
Grafik links). Die linke Amygdala war bei Canlis
Probanden umso größer, je extrovertierter sich
diese in entsprechenden Tests zeigten. Die rech
te Amygdala erwies sich dagegen als umso klei
ner, je höher die Betreffenden auf der Neuroti
zismusskala abschnitten.
Dieser zweite Befund passt zu früheren Er
kenntnissen, wonach auch depressive Patienten
häufig eine verkleinerte Amygdala besitzen. Ob
starker Neurotizismus somit eine Art Vorläufer
depressiver Erkrankungen darstellt, wie man
che Forscher vermuten, ist allerdings nicht end
gültig geklärt. Doch spielt die Amygdala offen
bar eine besonders wichtige Rolle für Persön
lichkeitsdispositionen, die mit dem emotionalen
Erleben verknüpft sind.
Doch auch hinsichtlich der Hirnfunktion gilt
es zu differenzieren: Die Aktivität der Mandel
kerne verschiedener Menschen mag einerseits
in ihrer Grundaktivität variieren – so könnten
ängstliche Personen eine dauerhaft erhöhte Er
regung der Amygdala aufweisen. Andererseits
wäre es denkbar, dass diese Hirnregion nur zeit
lich begrenzt heftiger reagiert, etwa wenn man
mit Furcht einflößenden Reizen oder potenziell
gefährlichen Situationen konfrontiert wird.
Studien mittels Positronenemissionstomo
grafie (PET), in denen die neuronale Grundakti
Masse Mit Klasseeine studie von 2005 legt nahe: Je größer die linke amygdala eines Menschen anatomisch ausgeformt ist, desto extrover-tierter ist er (links). Mit wach-sendem Volumen der rechten amydala hingegen verringert sich der neurotizismus (rechts).
(aus Omura, K. R. et al.: Amygdala Gray Matter Concentration is
Associated with Extraversion and Neuroticism. In: Neuroreport
16(17), S. 1905 – 1908, 2005.)
0,870,860,850,840,830,820,810,800,790,780,77
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www.gehirn-und-geist.de 33
vität durch Messungen des Glukoseumsatzes
im Gehirn unter Ruhebedingungen bestimmt
wird, ergaben tatsächlich einen dauerhaft er
höhten Energieverbrauch der Amygdala bei de
pressiven Patienten. Das legt in der Tat nahe,
dass eine ängstliche Persönlichkeit (wie Eysenck
annahm) mit einer Erhöhung der Amygdala
Grundaktivität einhergeht – auch wenn dies an
gesunden Probanden noch nicht nachgewie
sen wurde. Vielleicht stellt die erhöhte Grund
akti vität auch nur eine Überkompensation des
reduzierten Volumens der Mandelkerne bei
psychisch Kranken dar.
Auch kurzfristige (phasische) Antworten auf
furchtbezogene Reize (wie etwa ängstliche Ge
sichter) fallen bei ängstlichen Personen stärker
aus als bei wenig ängstlichen, was Grays Annah
me einer erhöhten Empfindlichkeit der neuro
nalen Emotionsverarbeitung stützt.
Von den Genen zum BotenstoffSo spannend solche Befunde sind, erklären sie
noch nicht, warum die Gehirne verschiedener
Personen unterschiedlich reagieren. Durch die
Kombination persönlichkeitspsychologi scher
Fragebögen mit molekulargenetischen Metho
den gelang dem Psychiater KlausPeter Lesch
von der JuliusMaximiliansUniversität Würz
burg vor wenigen Jahren ein wichtiger Schritt
zur Beantwortung dieser Frage (siehe Interview
in G&G 3/2004, S. 39).
Lesch und seine Mitarbeiter untersuchten
ein Gen, das die Bauanleitung für den Seroto
nintransporter enthält. Hierbei handelt es sich
um ein Protein, das den Botenstoff Serotonin
nach getaner Arbeit aus dem synaptischen Spalt
entfernt, also dem Raum zwischen zwei Zellen.
Dieser wird bei der neuronalen Kommunika
tion durch chemische Botenstoffe, so genannte
Neurotransmitter, überbrückt. Der Serotonin
transporter befördert den Transmitter in die
präsynaptische Zelle zurück. Ist diese Wieder
aufnahme nicht sehr effektiv, so kann die er
höhte Konzentration des Botenstoffs eine leich
tere Reizbarkeit etwa der Amygdala bewirken.
Nun gibt es das Gen mit dem Bauplan für
den Serotonintransporter in zwei Varianten:
Etwa jeder Fünfte von uns trägt ein kürzeres, so
genanntes sAllel in sich, das gegenüber der wei
ter verbreiteten, längeren Form zu einem etwas
weniger effizienten Serotoninabbau an den Sy
napsen führt. Wie Lesch und seine Mitarbeiter
zeigten, neigen sAllelTräger im Mittel zu grö
ßerer Ängstlichkeit. Offenbar können also Un
terschiede in zellulären und molekularen Me
chanismen zu dispositionellen Unterschieden
im emotionalen Erleben führen.
Ein Team um Ahmad Hariri und Daniel Wein
berger von den National Institutes of Mental
Health in den USA stützte diese Annahme in
einer viel beachteten Arbeit von 2002: Beim
Betrachten von angstbesetzten Bildern zeigten
sAllelTräger stärkere Aktivität in der Amygdala
als Träger des längeren lAllels.
Allerdings sollten solche Ergebnisse mit Vor
sicht interpretiert werden. Einzelne Genvaria
tionen (so genannte Polymorphismen) erklären
statistisch in der Regel nur sehr geringe Anteile
der Unterschiedlichkeit zwischen Personen –
meist deutlich weniger als zehn Prozent der ge
samten Streubreite. Das ist kaum überraschend,
da neurobiologische Einflüsse wie die Aktivität
eines Neurotransmittersystems multigeneti
schen Ursprungs sind – also durch eine Vielzahl
von Erbfaktoren kontrolliert werden (siehe
»Geis tesblitze«, S. 12 in diesem Heft).
Zudem ist – neben genetischen Faktoren –
der Einfluss der Umgebung sehr bedeutsam.
»Big Five« – das Fünf-Faktoren-Modell der Persönlichkeit
Das heute am weitesten verbreitete Modell der Persönlichkeit umfasst fünf Faktoren – die so genannten Big Five: Neurotizismus beschreibt eine emotionale Labilität, die sich in erhöhter Ängstlichkeit oder Reizbarkeit ausdrückt, in Sorgen sowie in der Tendenz, negative Emotionen zu erleben. Extraversion umfasst Aspekte wie Geselligkeit, Aktivität, Erlebnishunger und die Tendenz, positive Emotionen zu erleben. Offenheit für Erfahrungen bezeichnet intellektuelles Interesse, aber auch Fantasie und Experimentierfreude. Verträglichkeit beschreibt soziale Kom-petenzen, Kooperationsbereitschaft und Uneigennützigkeit, während der Faktor Gewissenhaf-tigkeit auf Organisiertheit und Ordnungsliebe abzielt.
Die kognitiven Neurowissen-schaften ermögli-chen es heute, die biologischen Korrelate der Einzigartigkeit des Individuums zu ergründen
34 G&G 9_2009
Das Wissen um den jeweiligen Genotyp allein
bringt daher wenig. Wie er sich im Verhalten ei
ner Person auswirkt, bestimmen andere Gene
sowie die Erfahrungen und Lebensweise des
Einzelnen sehr stark mit.
Die Gefühlsreaktionen ei
nes Menschen sind zwar ein
wichtiger, beileibe aber nicht
der einzige Aspekt seiner Per
sönlichkeit. Auch andere Ei
genschaften lassen sich an definierten Hirn
strukturen festmachen.
Denken wir zurück an das Streben nach Be
lohnung, das Jeffrey Gray in seinem Modell des
Behavioural Approach System (BAS) als Basis der
Impulsivität von Menschen beschrieb. Aus neu
rowissenschaftlicher Sicht wurzelt dieses Merk
mal sehr wahrscheinlich im Belohnungssystem
des Gehirns.
Die dazugehörigen Kerngebiete wie das ven
trale Striatum in den Basalganglien betrachten
Forscher als Motor unseres zielgerichteten Han
delns. In einer noch unveröffentlichten Studie,
die wir zusammen mit Joe Simon und Stefan
Kaiser von der Psychiatrischen Universitäts
klinik Heidelberg durchführten, reagierte das
ventrale Striatum bei Personen mit stark ausge
prägter Annäherungstendenz – also bei impul
siven Naturen – stärker auf einen Geldgewinn
als bei anderen Personen.
gene, gehirn, geistDieses schema ilustriert den stand der Forschung: Die gene beeinflussen über anatomische und biochemische Faktoren die hirnfunktion. Diese steuert, vor dem hintergrund der jeweiligen umwelt, Psyche und Verhalten.
Und auch hier lassen sich anatomische so
wie genetische Unterschiede nachweisen. Einen
spannenden Befund lieferte Anfang 2009 die
Arbeitsgruppe um Bernd Weber vom Life &
Brain Center der Universität Bonn. In ihrer Stu
die wurden Novelty Seeker neuroanatomisch
untersucht – das sind Zeitgenossen, die beson
ders oft neue, aufregende Situationen suchen
(siehe auch G&G 5/2008, S. 28).
Weber und Kollegen bestimmten mittels der
DiffusionstensorMRT, wie stark bei ihren Ver
suchsteilnehmern bestimmte Hirnregionen
anatomisch miteinander verbunden waren. Der
Grad der Vernetzung zwischen dem Striatum
und der Amygdala stieg dabei mit wachsender
Tendenz zum Novelty Seeking. Die erhöhte Kon
nektivität könnte etwa dazu führen, dass mehr
relevante Informationen in eine Region gelan
gen, wodurch diese – etwa das Striatum – ver
mutlich stärker erregt wird.
Der Stoff, aus dem Wünsche sindIm Belohnungssystem des Gehirns ist Dopamin
der wichtigste Botenstoff. Für diesen Transmit
ter sind inzwischen ebenfalls eine Reihe von ge
netischen Variationen bekannt. Der Psychologe
Martin Reuter von der Universität Bonn unter
suchte in einer Studie aus dem Jahr 2006, wie
die individuelle Tendenz zu positiven Gefühlen
und Annäherungsverhalten durch zwei Gen
varianten beeinflusst wird, welche die Wirksam
keit von Dopamin kontrollieren. Eines davon
steuert den Abbau des Transmitters durch das
COMTEnzym (CatecholOMethyltransferase);
das andere reguliert die Dichte des D2Dopa
minrezeptors im Gehirn.
Reuter konnte zeigen, dass genau diejenigen
GenotypKombinationen zu einer erhöhten
Annäherungstendenz führten, die auch erhöhte
Dopaminkonzentrationen mit sich brachten.
Indem sie den gemeinsamen Einfluss zweier
Genpolymorphismen ins Visier nahmen, tru
gen Reuter und seine Kollegen dem multigene
tischen Ansatz Rechnung.
Neben Gefühlen und Motiva
tion macht auch die intellek
tuelle Leistungsfähigkeit die
Individualität einer Person
aus. Um sie bestimmen zu
können, hat die differenzielle Psychologie ver
scheidene Intelligenztests entwickelt.
Hirnforscher fahnden auch auf diesem Ge
biet nach biologischen Korrelaten. So suchte
etwa Richard Haier von der University of Cali
anatomie
Verhalten
transmitter
reaktivität/hirnfunktion
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Kognitionen/emotionen
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QuellenBishop, s. J.: CoMt val158met Genotype affects recruit-ment of neural Mechanisms supporting fluid intelligence. in: Cerebral Cortex 18(9) s. 2132 – 2140, 2008.cohen, M. X. et al.: Connecti-vity-Based segregation of the human striatum Predicts Pe-rosnality Characteristics. in: nature neuroscience 12(1), s. 32 – 34, 2009.
Quellen (fortsetzung)haier, r. J. et al.: structural Brain Variation and General intelligence. in: neuroimage 23, s. 425 – 433, 2005.reuter, M. et al.: Molecular Genetics support Gray’s Per-sonality theory: the inter-action of CoMt and DrD2 Polymorphisms Predicts the Behavioral approach system. in: international Journal of neuropsychopharmacology 9, s. 155 – 166, 2006. stelzel, c. et al.: effects of Do-pamine-related Gene-Gene in teractions on Working Me-mory Component Processes. in: european Journal of neu-roscience 29, s. 1056 – 1063, 2009.
fornia in Irvine als einer der Ersten nach Hirn
regionen, deren Volumen statistisch mit der In
telligenz von Probanden zusammenhängt. Laut
seinen Studien sind anatomische Korrelate der
Intelligenz über das gesamte Gehirn verteilt.
Die stärksten Effekte seien jedoch im Präfron
talkortex zu finden.
2008 berichteten Sonia Bishop und John
Duncan von der University of Cambridge au
ßerdem, dass die Aktivierung dieser Hirnregion
während der Bearbeitung von Aufgaben aus In
telligenztests wiederum von der genetischen
Ausstattung abhängt: Probanden mit einem
COMTGenotyp, der zu höheren Dopaminkon
zentrationen im Frontalhirn führt, zeigten bei
gleicher Leistung geringere Hirnaktivierung –
ihre Gehirne arbeiteten sozusagen effizienter.
Da Intelligenz ein hochkomplexes Maß dar
stellt, in das verschiedene Teilfähigkeiten wie
Aufmerksamkeit, Gedächtnis oder Verarbei
tungstempo einfließen, dürfte eine Vielzahl von
Einflüssen darauf wirken. Wie die einzelnen As
pekte der geistigen Leistungsfähigkeit neuronal
und genetisch genau kontrolliert werden, ist ein
spannendes Forschungsfeld der Zukunft.
Befunde von Christine Stelzel aus meiner Ar
beitsgruppe deuten darauf hin, dass die oben
beschriebenen Dopamingene auch die Leistung
des Arbeits gedächtnisses beeinflussen – etwa
die Fähigkeit, Informationen im Geist zu mani
pulieren, was zum Beispiel beim Kopfrechnen
sehr wichtig ist.
Persönlichkeitseigenschaften wie Ängstlich
keit, Impulsivität und Intelligenz weisen also
Korrelate in der Funktion des Gehirns, in seiner
Struktur sowie in der genetischen Ausstattung
auf. Wie sich diese auf das Erleben und Verhal
ten auswirken, hängt dabei auch von den Be
dingungen der Umwelt ab (siehe dazu die Gra
fik links unten). Die Erforschung dieses kom
plexen Wechselspiels steht zwar noch am
Anfang, doch zeichnet sich bereits ab: Die Indi
vidualität eines Menschen wurzelt in seinem
Denkorgan – wenn auch nicht in einer einzel
nen Hirnregion. Ÿ
Christian Fiebach ist Leiter der Arbeitsgruppe »Neu-rokognition interindividueller Unterschiede« und Professor für Kognitive Neurowissenschaften an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg.
PLK-Anzeige_7_2009.indd 1 22.07.2009 11:42:45 Uhr
36 G&G 9_2009
Wie bewältigen Krebspatienten ihr schweres Schicksal? Beeinflusst die
Psyche den Ausbruch und den Verlauf der tödlichen Erkrankung?
Kann eine optimistische Einstellung gar das Leben der Betroffenen ver-
längern? Das erforscht der Kölner Psychoonkologe Volker Tschuschke.
Von Volker Tschuschke
Leipzig im Sommer 1990. Fast sieben Jahre
litt Rolf B.* bereits an Leukämie – jetzt schien
seine Chance gekommen. Nach der Wende in
der DDR konnte der Statiker endlich auf eine
Transplantation hoffen. Das Knochenmark sei-
nes in Westdeutschland lebenden Bruders sollte
die tödliche Krankheit stoppen.
Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuß:
Die Ärzte machten ihrem Patienten nur wenig
Hoffnung, da sich sein Gewebe stark von dem
seines Bruders unterschied. Tatsächlich löste
das fremde Knochenmark nach dem Eingriff
heftige Abstoßungsreaktionen des Immunsys-
tems aus, welche die Mediziner medikamentös
nur schwer in den Griff bekamen. Ein Jahr nach
der Operation brach der Blutkrebs erneut aus.
Doch Rolf B. gab nicht auf. Er suchte sich eine
neue Stelle und baute mit seiner Familie ein
Haus – für ihn existierte die Krankheit nicht.
Trotz der »Minuslebenserwartung«, wie er seine
eigenen Chancen realistisch einschätzte, kon-
zentrierte er sich auf ein einziges Ziel – die fi-
nanzielle Absicherung seiner Familie. Mit unge-
brochenem Lebenswillen bekämpfte er seine
Krebserkrankung mehr als 17 Jahre lang.
Wir wissen nicht, ob Rolf B. gestorben wäre,
wenn er sich nicht an seinem Lebensziel fest-
gehalten hätte. Doch sein Beispiel stützt eine in
der Bevölkerung und bei etlichen Medizinern
weit verbreitete Überzeugung: Die Psyche eines
Menschen könne den Verlauf einer tödlichen
Krankheit wie Krebs verzögern oder gar stop-
pen. Doch ist das wirklich so? Und wie sieht es
umgekehrt aus – können bestimmte psycho-
logische Faktoren den Ausbruch des Leidens
begünstigen? Gibt es gar, wie mitunter gemut-
maßt wird, eine »Krebspersönlichkeit«?
Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Psy-
choonkologie, eine Disziplin, die unter anderem
erforscht, ob es zwischen der psychischen Kon-
stitution einer Person und der Entstehung bös-
artiger Tumoren Zusammenhänge gibt. Um es
gleich vorwegzunehmen: Die Meinungen hie-
rüber sind auch unter Experten gespalten. Wäh-
rend ein großer Teil der Psychoonkologen ent-
schieden abstreitet, dass es psychisch oder so-
zial verursachte Krebserkrankungen gibt, wollen
andere Forscher dies zumindest nicht von vorn-
herein ausschließen.
Zweifelhafte StudienSchon 1991 hat der dänische Onkologe Anders
Bonde Jensen vom Universitätskrankenhaus
Odense die bis dahin vorliegenden Studien
zur Entstehung von Brustkrebs kritisch durch-
leuchtet: Erhöht ein bestimmter Persönlich-
keitstypus tatsächlich das Risiko von Frauen, an
dieser tückischen Krebsart zu erkranken, wie
einige Mediziner behaupten? Jensen ging mit
seinen Kollegen hart ins Gericht. Die meisten
Arbeiten schienen zweifelhaft, da sie zu kleine
Stichproben umfassten und häufig statistische
Mängel aufwiesen. Dennoch zeigte sich zumin-
dest ein schwacher Zusammenhang: Frauen, die
spezial i psychoonkoloGie
Den Tod im Leib
Au f e i n en Bl ick
Psyche und Krebs
1 Seelische Prozesse wirken sich auf das Im-
munsystem aus und können damit den Aus-bruch und Verlauf von Krebserkrankungen beein- flussen.
2 Ob eine positive Grundeinstellung die
Überlebenschance von Tumorpatienten erhöht, ist unter Psychoonkologen umstritten.
3 Eine fundierte psycho-logische Betreuung
kann aber zumindest die Lebensqualität von schwer kranken Krebspatienten er-heblich verbessern.
Mehr zuM theMa> »Mein Leben mit dem
Krebs« (S. 42)Psychologische Patientenbetreuung in einer Krebsklinik in Freiburg
* Name geändert
www.gehirn-und-geist.de 37
Den Tod im Leib
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WUNDER KÖRPER, WUNDE SEELEDieses Selbstbildnis malte eine 32-jährige Patientin nach ihrer Brustoperation in einer Freiburger Tumorklinik. Die künstlerische Beschäftigung mit dem eigenen Körper hilft vielen Betroffenen, dessen Verletzlichkeit zu akzeptieren.
38 G&G 9_2009
Schwierigkeiten haben, Gefühle wie Ärger oder
Wut auszudrücken, litten demnach häufiger an
Brustkrebs.
Zu einem ähnlichen Schluss kamen im sel-
ben Jahr Jürg Bernhard von der Schweizerischen
Arbeitsgemeinschaft für Klinische Krebsfor-
schung in Bern und Patricia Ganz von der Uni-
versity of California in Los Angeles. Auch ihre
Literaturrecherche deutete darauf hin, dass
Emotionsunterdrückung mit einem erhöhten
Risiko für Tumorerkrankungen – in diesem Fall
Lungenkrebs – verbunden sein könnte. Aller-
dings: Da diese Krankheit sehr stark vom Rauch-
verhalten der Betroffenen abhängt, ließ sich ein
Zusammenhang mit dem jeweiligen Gefühls-
leben der Patienten nicht eindeutig belegen.
Gibt es die »Krebspersönlichkeit«?Ebenfalls 1991 erschien die Studie der Arbeits-
gruppe von Gabriel Kune von der University of
Melbourne (Australien). Die Forscher hatten 637
Dickdarmkrebspatienten zu ihren familiären
Hintergründen und Lebensgewohnheiten be-
fragt und mit denen von 714 Gesunden vergli-
chen. Ergebnis: Unter den Erkrankten berichte-
ten signifikant mehr Personen über eine un-
glückliche Kindheit als in der Kontrollgruppe.
Außerdem sprachen sie häufiger davon, dass sie
sich nach einer für sie ärgerlichen Situation be-
sonders unwohl fühlten.
Problematisch an all diesen Studien war ihr
retrospektiver Charakter: Die Betroffenen wur-
den rückblickend befragt, nachdem sie ihre Dia-
gnose kannten – was ihr psychisches Befinden
wie auch ihr Urteil über ihre Lebenssituation
mit Sicherheit beeinflusste. Solidere Ergebnisse
sollten dagegen groß angelegte prospektive Stu-
dien liefern, bei denen die Probanden zuvor
einem bestimmten Persönlichkeitstyp zugeord-
net werden, um dann zu überprüfen, wie viele
von ihnen bösartige Tumoren entwickeln.
Die britische Krebsforscherin Tina Morris
vom King’s College Hospital in London stellte
bereits in den 1980er Jahren die These auf, Per-
sönlichkeiten vom so genannten Typ C seien
für Krebserkrankungen besonders empfänglich.
Hierunter fallen Menschen, die als gutmütig,
selbstaufopfernd, geduldig und unterwürfig er-
scheinen. Demgegenüber steht der risikofreu-
dige, ungeduldige und ehrgeizige Typ A, der ein
höheres Risiko für Herzinfarkte tragen soll.
Diese Typologie erweist sich allerdings in der
klinischen Praxis als problematisch, da sich nur
ein Bruchteil der untersuchten Personen klar
einer solchen Kategorie zuordnen lässt. Es
wundert daher kaum, dass seriöse prospektive
Studien zum Thema »Krebspersönlichkeit« bis
heute an einer Hand abzuzählen sind.
So zeigt sich – falls überhaupt – nur eines:
Menschen, die zur emotionalen Unterdrückung
neigen, die vor allem ihren Ärger herunterschlu-
cken und eher angepasst auftreten, scheinen im
Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung häu-
figer an Tumoren zu erkranken. Eine derartige
Beziehung zwischen Persönlichkeitsstil und
Krebs stellt allerdings noch keine kausale Erklä-
rung dar. Es bleibt die Frage: Warum ist das so?
Wir können von vornherein nicht ausschlie-
ßen, dass psychische oder auch soziale Faktoren
die Entstehung einer Tumorerkrankung beein-
flussen. Schließlich gibt es eine zentrale Körper-
funktion, auf die sich die Psyche nachweislich
auswirkt: das Immunsystem. 2001 wertete die
Arbeitsgruppe von Eric Zorrilla von der Univer-
sity of Pennsylvania in Philadelphia hierzu zahl-
reiche Studien aus. Demnach zeichneten sich
depressive Patienten durch ein geschwächtes
Immunsystem aus. Vor allem die Anzahl der
weißen Blutkörperchen, die eine entscheidende
Rolle bei der Abwehr von Krankheitserregern
spielen, lag bei manchen Patienten dramatisch
niedrig. Janice Kiecolt-Glaser und Ronald Glaser
von der Ohio State University in Columbus ka-
men 2002 zu einem ähnlichen Ergebnis. Ihre
Metastudie wies eine Zunahme von entzün-
dungsfördernden Zytokinen im Blut der Betrof-
fenen nach. Entzündungen beschleunigen wie-
derum Alterungsprozesse, belasten das Herz-
Kreislauf-System und gelten als kanzerogen.
Damit ist die Frage nach einer psychosozial
bedingten Tumorentstehung, die viele Medi-
ziner energisch verneinen, noch längst nicht
vom Tisch. Wir dürfen eines nicht vergessen:
Beim Zusammenspiel von Psyche, Immunsys-
tem und Krebs handelt es sich keineswegs um
eine eindeutige Verknüpfung von Ursache und
Wirkung. Krebs ist eine hochkomplexe Krank-
heit, die von zahlreichen Faktoren bestimmt
wird. So können die genetische Veranlagung,
Umweltgifte wie Tabakrauch und Alkohol oder
Viren das Leiden direkt auslösen. Falsche Er-
nährung, mangelnde Be wegung sowie Stress
und gestörter Schlaf tragen ebenfalls zur Er-
krankungsrisiko bei. Und solche Verhaltens-
weisen werden von der menschlichen Psyche
gesteuert, die – wie beschrieben – auch unmit-
telbar das Immunsystem beeinflusst. Dieses
wiederum kann seinerseits auf Grund negativer
Effekte von Umweltfaktoren, Krankheitserre-
tschuschke, V.: Psychoonkologie. Psychologische aspekte der entstehung und bewältigung von krebs. schattauer, stuttgart 2006. 314 s., € 39,95.In seinem Buch fasst unser Autor Volker Tschuschke die wich - tigsten Forschungsergebnisse der Psychoonkologie zusammen.
Die Psyche spielt auf vielfältige Weise eine Rolle bei der Entste-hung von Krebs
www.gehirn-und-geist.de 39
gern oder Gendefekten versagen. Damit spielt
die Psyche wohl auf vielfältige Weise eine Rolle
bei der Entstehung von Krebs (siehe Bild oben).
Umgekehrt wirkt sich selbstverständlich ein
bösartiger Tumor auf das psychische Befinden
des Betroffenen aus. Die Patienten müssen ihr
Schicksal seelisch verarbeiten, was je nach Kon-
stitution unterschiedlich gut gelingt. So wies
etwa eine 1998 publizierte Studie von Forschern
um Robert Schnoll von der University of Rhode
Island in Kingston (USA) nach, dass aktive,
kämpferische Frauen wesentlich leichter eine
Brustkrebsdiagnose bewältigten als Leidensge-
nossinen, die eher ängstlich, resignierend und
fatalistisch veranlagt waren.
Offensive Krankheitsbewältigung2003 haben Mediziner um Susanne Sehlen von
der Ludwig-Maximilians-Universität München
2169 Tumorpatienten befragt, die sich einer
Strahlentherapie unterziehen mussten. Auch
hier zeigte sich, dass sowohl subjektiv empfun-
dene Hilflosigkeit als auch eine zwanghafte Be-
schäftigung mit der Krankheit das seelische
Wohlbefinden der Betroffenen stark beeinträch-
tigten. Zu ähnlichen Schlüssen kamen 2004
Thomas Hack und Lesley Degner von der kana-
dischen University of Manitoba, die 55 Brust-
krebspatientinnen drei Jahre lang begleitet hat-
ten, sowie zwei Jahre zuvor die Arbeitsgruppe
von Annette Stanton von der University of Kan-
sas in Lawrence bei der Befragung von 70 Pa-
tientinnen: Frauen, die sich offensiv mit ihrer
Krankheit auseinandersetzten, ging es deutlich
besser als denjenigen, die ihr Leiden verdräng-
ten. Entsprechende Ergebnisse fand 2005 un-
sere Arbeitsgruppe in Köln zusammen mit
Kol legen aus Ulm, Hannover und Berlin bei ei-
ner Langzeitstudie mit Leukämiepatienten, die
eine Knochenmarkstransplantation überstan-
den hatten.
Eine offensive Einstellung zur Krankheit
kann also für die Psyche der Betroffenen durch-
aus hilfreich sein. Aber wirken sich psycholo-
gische Komponenten auch auf den Verlauf ei-
ner Krebserkrankung aus?
Hier gehen die Meinungen von Wissen-
schaftlern wiederum weit auseinander. James
Levenson und seine Kollegen vom Medical Col-
lege of Virginia in Richmond kamen Anfang der
1990er Jahre nach einer Literaturrecherche zu
einem ernüchternden Fazit: Mit den bis dahin
vorliegenden Untersuchungen ließ sich kaum
ein positiver Einfluss der Psyche auf den Krank-
heitsverlauf nachweisen. Spätere Studien wie
die von Bert De Brabander von der Universität
Antwerpen aus dem Jahr 1999 deuteten hinge-
gen darauf hin, dass Stress die Rückfallrate er-
höht. Inwieweit sich das soziale und familiäre
Umfeld des Patienten auf den medizinischen
Status auswirkt, ist unter Forschern ebenfalls
bis heute umstritten.
Wenn wir davon ausgehen, dass der biolo-
gische Krankheitsverlauf sowie die psychischen
Bewältigungsstrategien nicht vollkommen un-
abhängig voneinander ablaufen, könnten sie
sich theoretisch auf dreifache Weise gegenseitig
beeinflussen:
Psyche und KrebsDas unkontrollierte Zellwachstum von Tumo-ren wird von zahlreichen Faktoren beeinflusst: Umweltgifte oder Viren können die Krankheit auslösen; die genetische Veranlagung spielt eben-falls eine Rolle. Nicht zu unterschätzen ist eine ungesunde Lebensweise mit falscher Ernährung, mangelnder körperlicher Bewegung und gestörtem Schlaf. Etliche dieser Faktoren beeinträchtigen ihrerseits das Immunsys-tem, so dass der Körper sich schlechter gegen Zellwucherungen zur Wehr setzen kann. Damit beein-flusst die Psyche sowohl direkt über das Verhalten als auch über das Immun-system die Krankheit Krebs.
KREBS(unkontrolliertes
Zellwachstum)
mangelndekörperliche Bewegung Fehlernährung
falsches Schlaf- und Entspannungs-verhalten
Vitamine?
Gendefekte/AnlageViren
Hormone
Umweltgifte
Versagen des Immunsystems
ungesunde Lebensführung
PSychE
40 G&G 9_2009
literAturtipps für pAtienten:Servan-Schreiber, D.: das antikrebs-buch. kunstmann, München 2008.Der Hirnforscher und Psych- iater David Servan-Schreiber erklärt die Zusammenhänge zwischen Krebs und Lebens-stil aus Sicht des Betroffenen: Bei ihm selbst wurde ein Hirn tumor diagnostiziert.
für Mediziner:Angenendt, G. et al.: Praxis der Psychoonkologie. Psy cho-edukation, beratung und the rapie. hippokrates, stutt-gart 2007.Weis, J. B. et al.: Psychoedu-kation mit krebspatienten. therapiemanual für eine strukturierte Gruppeninter-vention. schattauer, stutt-gart 2006.
originalquellen finden sie im internet unter:www.gehirn-und-geist.de/artikel/1001595
1. Eine kämpferische Einstellung stärkt das Im-
munsystem und fördert so direkt die Heilung
oder reduziert wenigstens das Rückfallrisiko.
2. Die mentale Auseinandersetzung mit der
Krankheit hilft bei der Zusammenarbeit zwi-
schen Arzt und Patient und unterstützt so indi-
rekt den Heilungsprozess.
3. Das psychische Wohlbefinden hängt seiner-
seits davon ab, wie schnell oder langsam die
Krankheit fortschreitet.
Welche Zusammenhänge wirklich zutreffen,
bleibt noch wissenschaftlich zu klären. Für die
Betroffenen selbst viel entscheidender scheint
die Frage: Was kann man tun, um mit seinem
schweren Schicksal besser fertig zu werden?
20 Jahre psychoonkologische Forschung ha-
ben inzwischen gezeigt, dass vor allem eine pro-
fessionelle Unterstützung den Patienten zu-
gutekommt. So lassen sich Angst, Depression,
Stress und seelische Erschöpfungszustände mit
entsprechenden Methoden deutlich reduzieren,
was zu einer höheren Lebensqualität der Betrof-
fenen beiträgt.
Entspannungsübungen wie autogenes Trai-
ning scheinen zwar nicht unmittelbar in den
biologischen Krankheitsverlauf einzugreifen,
doch lassen sich damit Nebenwirkungen von
Bestrahlungs- und Chemotherapie mildern. Der
therapeutische Effekt von Musik, der sich bei-
spielsweise bei Kindern mit Migräne bewährt
hat (siehe G&G 3/2005, S. 32), ist in der Onko-
logie bislang kaum untersucht; es gibt aller-
dings Hinweise, dass Musiktherapie zumindest
kurzfristig für Entspannung sorgen und Schmer-
zen bei Krebspatienten lindern kann. Eine sol-
che Unterstützung bietet sich vor allem bei akut
be lastenden Behandlungszyklen oder am na-
henden Lebensende der Patienten an. Auch
alternative Methoden wie Akupunktur (siehe
G&G 7-8/2005, S. 32) oder Aromatherapie (siehe
G&G 5/2006, S. 12) können wenigstens kurz-
fristig Ängste lösen.
Besonders bewährt bei Tumorpatienten ha-
ben sich Gruppentherapien: In einem psycholo-
gisch betreuten Kreis von Menschen, die dassel-
be Schicksal teilen, lernt der Patient, dass er mit
seiner Krankheit nicht allein steht, und erfährt
seelische Unterstützung durch Leidensgenos-
sen. Allerdings sträuben sich viele Betroffene,
an solchen Gruppensitzungen teilzunehmen –
aus Angst, noch intensiver mit belastenden The-
men wie Schmerz und Tod konfrontiert zu wer-
den oder die eigene Leidensgeschichte offenba-
ren zu müssen. Doch letztlich liegt genau hierin
die Chance: Der Betroffene muss sich dem Un-
vermeidlichen stellen – und gefürchteten Tabus
offensiv begegnen. Diese aktive Auseinander-
setzung mit Todesängsten hilft vielen Patienten,
mit dem eigenen Schicksal fertig zu werden und
das Thema Sterben für sich seelisch zu ent-
schärfen.
Ungebrochener LebenswilleFehlt es an psychischer Unterstützung, etwa
durch Familie oder Freunde, führt dies nach-
weislich zu schlechteren Krankheitsverläufen.
Doch selbst viele Ärzte fragen sich: Kann eine
positive Grundeinstellung tatsächlich das Fort-
schreiten der Krankheit verzögern? Leben sol-
che Patienten länger? Die Studienlage hierzu
könnte kaum verwirrender sein: Untersuchun-
gen, die keinerlei Zusammenhänge zwischen
psychoonkologischer Betreuung und Überle-
benszeit nachwiesen, stehen etwa gleich vielen
Studien gegenüber, die sehr wohl einen Effekt
entdeckten. Auch hier gehen die meisten For-
scher davon aus, dass die Psyche zumindest
über den Umweg des Immunsystems die
Krebserkrankung positiv oder negativ beein-
flussen kann.
Dennoch wissen wir bis heute nicht, ob eine
psychologische Betreuung die Überlebenschan-
cen von Tumorpatienten tatsächlich verbessert.
Methodische Mängel vieler Untersuchungen
könnten hierfür mitverantwortlich sein. So ver-
glichen Forscher gerade bei Studien, die gegen
eine lebenszeitverlängernde Wirkung sprechen,
verschiedene Krebserkrankungen mit jeweils
unterschiedlichen Prognosen und Therapien
miteinander. Auch die Qualifikation des einge-
setzten Personals könnte eine kritische Größe
darstellen: Wenn eine Krankenschwester ab und
an die Hand des Patienten hält, ist das kaum als
psychoonkologische Behandlung zu werten. Es
bedarf hier schon eines therapeutisch versier-
ten Arztes oder Psychologen.
Letztlich sollten Ärzte, Patienten und An-
gehörige jeder mit Inbrunst vorgetragenen Auf-
fassung zu diesem Thema – sei sie pro oder
kontra – mit gesunder Skepsis begegnen. Oft
handelt es sich um ideologisch motivierte Äu-
ßerungen, die nicht sachlich fundiert sind. Eines
scheint jedoch sicher: Ein ungebrochener Le-
benswille, wie ihn Rolf B. trotz schlechter Aus-
sichten zeigte, kann helfen, ein schlimmes
Schicksal seelisch zu bewältigen. Ÿ
Volker Tschuschke ist Psychoanalytiker und leitet die Abteilung für Medizinische Psychologie am Uni- ver sitätsklinikum Köln.
Vor fünf Jahren erfuhr Petra Bugar von ihrer Tumorerkrankung – und die Prognosen sind
schlecht. Heute sagt sie: »Obwohl ich unheilbar krank bin, lebe ich gerne.« Doch das war
nicht immer so, wie sie Gehirn&Geist-Redakteurin Rabea Rentschler bei einem Besuch in
einer Freiburger Tumorklinik erzählt.
text: Rabea RentschleR I Fotos: ManFRed Zentsch
speZIal I RepoRtage
»Mein Leben mit dem Krebs«
43
Die Überlebensrate von Krebspatienten hat
sich dank verbesserter Diagnostik und
neuer Behandlungsmöglichkeiten in den letz-
ten vier Jahrzehnten verdoppelt: In den 1970er
Jahren starben drei Viertel aller Patienten inner-
halb von fünf Jahren, heute ist es nur noch jeder
zweite – statistisch betrachtet ein großer Erfolg.
In der Realität nehmen solche Zahlen der Dia-
gnose Krebs aber nicht den Schrecken: Als ein
Onkologe Petra Bugar 2004 mitteilte, dass sich
in ihrem Unterleib ein Rektumkarzinom gebil-
det habe, kam das für sie einem Todesurteil
gleich. Heute, fünf Jahre später, ist sie 53 Jahre
alt und hat so viele Klinikaufenthalte hinter
sich, dass sie aufgehört hat zu zählen. Die nächs-
te Chemotherapie in einer privaten Krebsklinik
in Freiburg im Breisgau steht kurz bevor. Angst
habe sie mittlerweile nicht mehr.
»Mein Leben mit dem Krebs«, wie sie es
nennt, »begann vor fünf Jahren.« Die Beamtin
und Kommunalpolitikerin aus Magdeburg fuhr
wie jedes Jahr mit ihrem Mann und ihren bei-
den Kindern zum Skifahren. Nach einem Tag
auf der Piste entdeckte sie abends Blut im Stuhl.
Am folgenden Montag konsultierte sie ihren
Hausarzt. Der schickte sie umgehend zu einem
Spezialisten. Die 48-jährige wurde gründlich
untersucht, eine Stuhlprobe an ein externes
Labor geschickt – dann hieß es abwarten. Zwei
Tage später der Anruf: Die Befunde seien da,
und Petra Bugar solle in die Praxis kommen. Der
Arzt hatte keine guten Nachrichten für sie: »Der
Krebs ist bereits fortgeschritten, Sie müssen
dringend operiert werden.«
Während der Onkologe, den sie an diesem
Vormittag zum zweiten Mal in ihrem Leben sah,
ihr sichtlich verlegen die nächsten Therapie-
schritte erklärte, hatte Petra Bugar das Gefühl,
ihn aufmuntern zu müssen: »Machen Sie sich
keine Gedanken, Sie können ja nichts dafür.«
Das Ganze dauerte kaum eine Viertelstunde.
Vielen Ärzten fällt es schwer, Patienten eine
schlimme Diagnose mitzuteilen. Zwar befür-
worten die meisten Mediziner heute den of-
fenen Umgang mit schlechten Nachrichten – in
den 1980er Jahren galt das noch als unverant-
wortlich –, aber aus Angst, nicht den richtigen
Ton zu treffen, weichen manche auf die Sach-
ebene aus, ohne die emotionale Verfassung
ihrer Patienten zu berücksichtigen. »Das ist
auch nicht verwunderlich«, sagt Monika Keller
von der Universität Heidelberg, »denn kaum ein
Arzt hat gelernt, wie man solche Gespräche
führt.«
Die Psychotherapeutin setzt sich dafür ein,
dass Onkologen schon während der Facharzt-
ausbildung üben, niederschmetternde Dia g-
nosen einfühlsam mitzuteilen. Unter ihrer
Leitung wird seit 2008 an sieben deutschen
Universitätskliniken das Trainingsprogramm
KoMPASS (Kommunikative Kompetenz zur
Verbesserung der Arzt-Patienten-Beziehung) er-
probt. Ärzte aus Leipzig, Köln, Düsseldorf, Mainz,
Heidelberg, Tübingen und Nürnberg lernen in
Rollenspielen, denen reale Fälle zu Grunde lie-
gen, wie sie sich nicht nur fachlich, sondern
auch psychologisch bewähren. Die Gespräche
mit speziell geschulten Schauspielern, welche
die Patienten mimen, werden auf Video aufge-
zeichnet und später analysiert.
Die Unsicherheit der Ärzte»Anfangs denken viele: Oh nein, ich habe alles
falsch gemacht!«, beschreibt Keller die Reaktion
einiger Onkologen zu Beginn der Schulung.
Doch mit der Zeit empfänden sie die Hilflosig-
keit, die Gesprächspausen oder auch die emoti-
onalen Ausbrüche ihrer Patienten als weniger
belastend. Dafür spricht ebenfalls der Vergleich
der 150 bislang trainierten Mediziner mit einer
Kontrollgruppe – Fachärzten, die nicht an dem
Kurs teilgenommen haben. Fast alle Absolven-
ten melden zurück, dank des Trainings weniger
Angst vor schwierigen Begegnungen zu haben
und besser auf die Bedürfnisse der Patienten
eingehen zu können.
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Mehr zuM theMa> Den Tod im Leib (S. 36)Psychoonkologen untersuchen den zusammenhang zwischen Psyche und Krebs (S. 36)
Im EInKLang mIT SIchanfangs fühlte sich die 53-jährige Petra Bugar ihrer Tumorerkrankung hilflos ausgeliefert. Trotz mehrerer Rückfälle hat sie im Lauf der letzten fünf Jahre gelernt, mit dem Krebs zu leben.
44 g&g 9_2009
Vier Monate nach der Schulung findet ein
Anschlussseminar statt. »Hier zeichnet sich ab,
dass die meisten Onkologen – und damit indi-
rekt auch ihre Patienten – von einer berufs-
begleitenden Supervision profitieren würden«,
so Keller. »Doch dafür fehlt schlicht das Geld.«
KoMPASS wird von der Deutschen Krebshilfe fi-
nanziert, die 2008 an die 100 Millionen Euro für
174 Forschungsprojekte ausgab. Doch nur ein
Bruchteil der Gelder fließt in psychologische
Projekte; das meiste kommt der Grundlagen-
sowie der somatischen Therapieforschung zu-
gute. »Das ist ja auch verständlich«, sagt Keller.
Das Beste, was einem Patienten passieren kann,
ist, dass er geheilt wird. Doch obwohl sich die
Prognosen für viele der über 200 verschiedenen
Krebsarten ständig verbessert haben, stürzt eine
Tumorerkrankung praktisch jeden in eine exis-
tenzielle Krise.
Damit Onkologen von Anfang an auf die
damit einhergehenden emotionalen Probleme
eingehen können, wollen Keller und ihr Team
die KoMPASS-Daten bis Ende 2009 vollständig
auswerten, um die positiven Effekte des Trai-
nings auf das Empathievermögen, die Kommu-
nikationsfähigkeit und die berufsbedingten
Belastungen der Ärzte schwarz auf weiß prä -
sen tieren zu können, was wiederum der ganz-
heitlichen Behandlung von Tumorpatienten
zugutekommen soll. »Dies ist ein erster Schritt
dahin, dass ein Kommunikationstraining für
Onkologen auch in Deutschland verpflichtend
in die Facharztausbildung integriert wird. In
England und der Schweiz ist das schon üblich.«
Dass solche Maßnahmen nötig sind, zeigt
nicht nur die Erfahrung von Petra Bugar. 2008
veröffentlichte das Wissenschaftliche Institut
der Niedergelassenen Hämatologen und Onko-
logen (WINHO) die Ergebnisse einer Studie, bei
der über 15 000 Tumorpatienten in 145 Krebs-
kliniken und -praxen in Deutschland befragt
wurden. Auf den ersten Blick klingen die Resul-
tate ganz gut: Die meisten Patienten sind ins-
gesamt zufrieden mit ihrer ärztlichen Versor-
gung. Im Detail betrachtet schnitten allerdings
drei Punkte relativ schlecht ab: geringe ärztliche
Kompetenz bei Fragen zu alternativen Behand-
lungsmethoden, zu wenig Aufklärung und Mit-
spracherecht bei Therapieentscheidungen –
und vor allem eine mangelhafte psychosoziale
Betreuung, auch für die Angehörigen.
Drei Punkte, die massive Konsequenzen für
die Lebensqualität der Betroffenen haben kön-
nen, wie eine weitere Umfrage des Instituts er-
gab: Nicht ausreichend unterrichtete und be-
treute Patienten fühlen sich dem Krebs stärker
ausgeliefert. Sie sind unsicherer, ängstlicher
und häufiger depressiv. Sowohl ihre psychi-
schen Belastungen als auch ihre körperlichen
Schmerzen oder Nebeneffekte der Therapie wer-
den oft übersehen.
Hilflose AngehörigeAuch Petra Bugar sah sich dem Krebs anfangs
hilflos ausgeliefert. Verstärkt hatte dieses Ohn-
machtsgefühl nicht nur die ungenügende me-
dizinisch-psychologische Betreuung. Auch pri-
vat fand sie wenig Unterstützung. Als sie nach
dem Termin beim Onkologen nach Hause kam
und ihrem Mann von der Diagnose erzählte,
fehlten ihm die Worte. Er wusste nicht, wie er
mit der Schreckensnachricht umgehen sollte,
und ignorierte fortan schlicht die Tatsache, dass
seine Frau schwer krank war.
Auch am Arbeitsplatz zogen sich die meisten
zurück, als sie von der Krankheit ihrer Kollegin
hörten. »Die Diagnose schockiert nicht nur die
Betroffenen selbst, auch Freunde und enge An-
gehörige wissen oft nicht, wie sie sich nun ver-
halten sollen«, erklärt Nina Rose, Psychologin
an der Freiburger Tumorklinik SanaFontis. Die
Krankheit stelle Beziehungen auf die Probe;
manche Paare schweiße der Krebs fester zusam-
men, andere zerbrechen daran.
Bei Petra Bugar und ihrem Mann war Letzte-
res der Fall. »So schrecklich die Zeit war, rückbli-
ckend bin ich froh, dass es so gekommen ist«,
sagt sie heute. Bei Gesprächen mit Psychologen
merkte Petra Bugar, dass sie ihr Leben lang ver-
sucht hat, den Erwartungen anderer gerecht zu
werden – ihre eigenen Bedürfnisse hatte sie
hintangestellt. »Viele Patienten nehmen eine
mEnTaLE hILfESTELLungVon allein wäre Petra Bugar nicht auf die Idee gekommen, sich psychologische unterstüt-zung zu suchen. »Krebspatien-ten kommen nur selten von sich aus auf uns zu«, sagt die Psychotherapeutin nina Rose. »Dabei können wir helfen, mit der aktuellen Krise umzu-gehen.«
Acht Minuten… Zeit haben Ärzte in Deutschland im Schnitt dafür, ihren Patienten eine Krebsdiagnose mitzutei-len – in anderen europäi-schen Ländern dauert ein solcher Patientenkontakt zwischen elf und 19 Minu- ten. Wenn sie wirtschaft-lich arbeiten wollen, müssen Onkologen jähr- lich rund 4000 emotional belastende Gespräche führen.
(Untersuchung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlich-
keit im Gesundheitswesen in Köln, 2007)
www.gehirn-und-geist.de 45
Krebserkrankung zum Anlass, neu über ihr Le-
ben nachzudenken«, bestätigt Nina Rose. Man-
che fühlen sich schuldig, weil sie vielleicht ster-
ben und ihre Lieben dann ohne sie zurecht-
kommen müssen, andere verzweifeln an der
Frage: Warum gerade ich? Wieder andere treffen
die Entscheidung, etwas Grundlegendes zu än-
dern – so auch Petra Bugar. Sie verließ ihren
Mann samt Eigenheim und zog in eine kleine
Zwei-Zimmer-Wohnung in der Magdeburger In-
nenstadt.
»Wir bewerten die Situation nicht, in der sich
ein Patient befindet, sondern unterstützen ihn
da, wo er gerade steht«, sagt Rose. »Dabei versu-
chen wir, den Partner und die Familie mit einzu-
beziehen, denn Krebs betrifft in den seltensten
Fällen nur den Erkrankten allein.« Auch die An-
gehörigen seien dabei gefordert. »Oft stehen sie
unter dem Druck, für den Patienten stark sein
zu müssen, und bagatellisieren ihre eigenen Be-
lastungen, um den Kranken nicht zu beunruhi-
gen«, fährt die Psychologin fort. Deshalb lehnen
Familienmitglieder solche Gespräche häufig ab.
»Sehr viele Leute stecken Psychoonkologie in
eine Schublade mit einer problemorientierten
Einzel-, Familien- oder Paartherapie. Dabei wol-
len wir den Menschen ganz einfach helfen, mit
dem Sturz aus ihrer bisherigen Wirklichkeit
klarzukommen«, so Rose.
Die Diagnose Krebs löst oft nicht nur ein
emotionales Chaos aus, sondern auch ein orga-
nisatorisches. Vielfach kommen Geldsorgen
hinzu. Psychoonkologen versuchen das Thema
Krebs zu enttabuisieren und ermutigen Patien-
ten und Angehörige, ihre Bedürfnisse auszu-
sprechen. Scheinbar banale oder lieblose Fragen
kommen zur Sprache: Sind finanzielle Engpässe
zu erwarten, und wie kann man ihnen begeg-
nen? Welche staatlichen und gemeinnützigen
Hilfeleistungen gibt es? Wer kann sich um Kin-
der, Eltern oder Haustiere kümmern? Darf man
überhaupt schon darüber nachdenken, wie es
Eine bösartige Tumorerkrankung wird von vielen Menschen als die gefährlichste aller Krankheiten angesehen, ungeachtet der verbesserten Behandlungsmöglichkeiten. Mangelhaftes Wis-sen darüber, was sich hinter der Diagnose Krebs verbirgt – etwa die Tatsache, dass es rund 200 verschiedene Tumorarten mit jeweils unterschiedlichen Verläufen gibt –, ist eine Ursache. Hinzu kommen häufig Erfahrungen mit Krebskranken im wei-teren Umfeld. Die Erinnerung kann dabei trügerisch sein: Un-günstige Krankheitsverläufe bleiben besonders in Erinnerung und prägen die eigenen Erwartungen.
Wer einmal an Krebs erkrankt war, kennt die Angst vor einem Rückfall (Rezidiv). Die Gewissheit, endgültig geheilt zu sein, stellt sich auch nach einer längeren krankheitsfreien Zeit kaum ein. Ein Rest von Unsicherheit und Angst bleibt.
Was kann man gegen Angst tun?Alles, was dem Gefühl von Unsicherheit entgegenwirkt oder die Bedeutung der ängstigenden Situation verringert, kann die Furcht bannen oder erträglicher machen. Dazu gehört:ó InFORMATIOnEn EInHOLEn. Über die Krankheit allgemein ebenso wie über erprobte Behandlungsmöglichkeiten und da-rüber, wie man selbst die eigene Gesundung unterstützen kann. Fragen des individuellen Krankheitsverlaufs wie auch des Risikos für ein Wiederauftreten der Krankheit sollten mit einem Arzt besprochen werden, der alle Untersuchungsbe-funde kennt.ó DIE AnGST MöGLIcHST GEnAU »AnSEHEn«. Was ängstigt am meisten? Die Furcht vor Schmerzen, vor der Behandlung,
vor der Abhängigkeit von anderen oder die Angst zu sterben? Die Befürchtungen sollten zu Ende gedacht werden, denn wenn die Furcht greifbar wird, lässt sich eher Abhilfe finden. Auch Verleugnung kann in bestimmten Phasen eine sinnvolle Reaktion darstellen, wenn die Angst sonst unerträglich wäre.ó DIE AnGST AUSDRÜcKEn. Schreiben, malen oder mit an-deren schöpferischen Mitteln der Furcht eine Gestalt geben, hilft oft, sie besser zu verstehen, was wiederum entlastend wir-ken kann.ó SIcH ERInnERn. An schwierige Situationen zurückdenken, die man schon erfolgreich durchgestanden hat, stärkt das Ge-fühl für die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten.ó PLAnEn. Was man im Fall einer Verschlechterung konkret tun kann und wer dabei helfen könnte. Dazu gehört die Mit-verantwortung für Behandlungsmethoden, das Ausschöpfen der Schmerztherapie, Vereinbarungen mit Familienangehöri-gen etwa in Form einer Vorsorgevollmacht und möglicherwei-se eine Patientenverfügung.ó EnTSPAnnEn. Innere und äußere Verkrampfungen sind eine Begleiterscheinung der Angst. Sie lassen sich mit Entspan-nungsverfahren abbauen oder, soweit es die körperliche Ver-fassung zulässt, mit körperlicher Bewegung (spazieren gehen, Rad fahren, schwimmen oder anderer Sport). ó DEn ScHönEn SEITEn DES LEBEnS GEWIcHT GEBEn. Was ist in meinem Leben sinnvoll, wo kann ich meine besonderen Fä-higkeiten einbringen, was macht mir Freude, und was sollte ich erweitern oder ausbauen? Wie kann ich mir dabei von anderen helfen lassen?
Krebs in DeutschlandJedes Jahr erkranken 436 000 Menschen in Deutschland an Krebs, 211 500 Patienten sterben jährlich daran. Exper-ten schätzen, dass die Zahl der Tumorerkrankungen bis zum Jahr 2030 um 50 Prozent zunehmen wird. Der Grund: Die Lebenserwartung steigt – und Krebs ist eine Erkrankung, von der insbesondere ältere Menschen betroffen sind.
Wege aus der Angst: Die Zukunft zulassen
46 g&g 9_2009
weitergeht, falls der geliebte Mensch tatsächlich
stirbt?
»Tumorpatienten und ihre Angehörigen ha-
ben in der Regel bereits genug Belastungen, des-
halb wird prinzipiell auch nicht ›aufdeckend‹
gearbeitet, also nach Defiziten aus der Kindheit
gesucht«, erklärt Rose. Vielmehr wird gemein-
sam besprochen, welche Ressourcen vorhanden
sind und welche noch aktiviert werden können:
Welche Form der Unterstützung durch Famili-
enmitglieder oder Freunde ist sinnvoll? Was hat
allen Betroffenen seit Diagnosestellung gutge-
tan? Wie kommt der Patient zur Ruhe?
Petra Bugar entspannt sich beim Malen. Des-
halb nahm sie die Einladung der Kunsttherapeu-
tin Wendy Routen-Hardy, gemeinsam kreativ zu
werden, gerne an. Sie freut sich auf ihre zwei
Stunden Kunsttherapie pro Woche während
ihres Aufenthalts in der Freiburger Tumorkli-
nik. Die Sitzungen basieren auf einer Methode
der italienischen Psychiater Gaetano Benedetti
und Maurizio Peciccia, die das »progressive the-
rapeutische Spiegelbild (PTS)« 1986 ursprüng-
lich im Umgang mit psychotischen Menschen
erfanden. Auf Basis der PTS-Methode entwi-
ckelte Wendy Routen-Hardy eine Kunsttherapie-
form speziell für Tumorpatienten: Therapeut
und Patient malen dabei gemeinsam ein Bild,
wobei Letzterer das Thema vorgibt. »Die Spie-
gelbild-Methode«, so Wendy Routen-Hardy, »ist
wie das PTS eine Art nonverbaler Kommunika-
tion, bei der der Therapeut versucht, in die Ge-
fühlswelt des Patienten einzutauchen und in
seinen Skizzen spiegelt oder gar verstärkt, was
er in den Zeichnungen des Patienten sieht.«
Ziele der Übung können sein: Emotionen, Sor-
gen oder Konflikte ausdrücken und verarbeiten,
Entspannung erfahren sowie die Selbst- und
Körperwahrnehmung verbessern.
Petra und Wendy setzen sich gemeinsam vor
einen weißen Bogen Papier, und die Patientin
beginnt: Sie wählt blaue Kreide und malt einen
großen Kreis. Wendy zeichnet einen kleinen
hellblauen daneben. Danach nimmt Petra eine
andere Farbe und zeichnet einen Stamm in die
Mitte ihres Kreises – Wendy einen in ihren. So
geht es hin und her.
Emotionen Gestalt gebenWährend sie malen, sprechen Therapeutin und
Patientin nicht miteinander. Ab und zu müssen
beide lachen, weil eine Figur nicht so gelingt,
wie sie es sich vorstellen. Sonst sind sie ernst
und konzentriert bei der Sache. Zum Schluss
fragt Wendy ihre Patientin, wie sie sich beim
Malen gefühlt hat, und ob sie mit dem Bild et-
was Bestimmtes verbindet. Petra sagt, dass die
Farben und Motive ihrer Werke immer etwas da-
mit zu tun haben, was sie gerade beschäftigt.
»Andere Patienten«, so Routen-Hardy, »ver-
binden nicht sofort etwas mit ihren Zeich nun-
gen.« In solchen Fällen versucht die Therapeu-
tin auch nicht, eine besondere Bedeutung he-
rauszulesen. Nach ein paar Sitzungen werden
In BILDERn SPREchEnWorte sind nicht erlaubt, wenn Kunsttherapeutin Wendy Routen-hardy und Petra Bugar gemeinsam kreativ werden. hingegen sind Lachen und andere gefühlsregungen nicht nur geduldet, sondern sogar gewünscht.
Krebszahlen weltweitWeltweit erkranken jedes Jahr mehr als 11 Millionen Menschen erstmals an Krebs. 7,9 Millionen ster- ben daran. Damit ist Krebs die zweithäufigste Todes-ursache überhaupt nach Herz-Kreislauf-Erkrankun-gen. Im Jahr 2030 werden voraussichtlich 16 Millionen Menschen jährlich an Krebs erkranken.
www.gehirn-und-geist.de 47
alle Bilder nochmals auf den Tisch gelegt und
betrachtet. Dann erkennen viele Patienten
plötz lich doch eine tiefere Bedeutung darin: Sie
entdecken Gefühle wie Angst oder Wut oder
fangen an zu weinen – unterdrückte Emotionen
kommen an die Oberfläche. Manchen fällt auf,
dass ein Motiv plötzlich nicht mehr vorkommt
oder eines im Lauf der Zeit besonders dominant
geworden ist.
Für Petra Bugar symbolisiert der Kreis, der
sich in fast allen ihren Bildern wiederfindet, ihre
»kleine heile Welt«. Anfangs platziert sie kein
Motiv außerhalb der blauen Linie. Statt der
zarten Pflanze, die sie meist hineinmalt, zeigen
einige neuere Bilder einen starken Baum oder
ein lachendes Gesicht (siehe Bilderserie oben).
Für Petra spiegelt dies eine Sorge der letzten
Monate: Sie fragt sich, wie sie auch außerhalb
des geschützten Umfelds der Klinik mit der Tat-
sache klarkommen soll, dass sie nicht mehr wie
früher zur Mehrheit der Gesunden in der Ge-
sellschaft gehört. Sie möchte ihren Körper trotz
seines Versagens wieder lieb gewinnen.
Im Hier und Jetzt lebenHass auf den eigenen kranken Körper empfin-
den sehr viele Krebskranke irgendwann. »Wir
haben die Erfahrung gemacht, dass diesen Pati-
enten neben der Kunsttherapie auch Achtsam-
keitsübungen sehr guttun«, sagt Nina Rose. Sie
helfen Betroffenen, im Hier und Jetzt zu leben
und sich in ihrer Verletzlichkeit zu akzeptieren,
statt unablässig über die Vergangenheit zu trau-
ern oder sich in Zukunftsängsten zu verlieren.
Zwar hat die Kunsttherapie eine lange Ge-
schichte in der Psychoonkologie, ihre Erfor-
schung steckt aber tatsächlich noch in den Kin-
derschuhen. »In den letzten 25 Jahren wurden
unzählige Fallbeispiele beschrieben und analy-
siert und auch kleinere kontrollierte Studien
durchgeführt«, sagt Harald Gruber, Leiter des
Fachbereichs Kunst und Therapie an der Alanus
Hochschule bei Bonn. So ergab eine im Januar
2009 veröffentlichte schwedische Studie von
der Umeå-Universität, dass bereits eine Stunde
Kunsttherapie pro Woche die Lebensqualität
von Brustkrebspatientinnen deutlich erhöhte.
Untersucht wurden 41 zufällig ausgewählte
Frauen unmittelbar vor einer Bestrahlung so-
wie zwei und sechs Wochen danach. Jene, die
künstlerisch aktiv wurden, fühlten sich sowohl
psychisch als auch körperlich besser als die 21
Patientinnen, die nicht an den Sitzungen teilge-
nommen hatten. Erstere hatten weniger Angst
vor der Zukunft und ein positiveres Selbstbild.
Eine Leipziger Studie aus demselben Jahr
kam zu ähnlichen Ergebnissen. Bei dieser
Untersuchung nahmen 18 Männer und Frauen
mit unterschiedlichen Tumorerkrankungen an
einem wöchentlichen Gestaltungskurs teil. 22
Wochen lang beschäftigten sie sich zunächst
mit unterschiedlichen Maltechniken und -ma-
terialien. »In der Anfangsphase sollten sich die
Patienten einfach nur mit den kreativen Gestal-
tungsmöglichkeiten vertraut machen«, erklärt
Heide Götze von der Universität Leipzig. In
einem zweiten Schritt wurden die Teilnehmer
ermutigt, ein Thema ihrer Wahl künstlerisch
umzusetzen. War dies gefunden, sollten sie die
verbleibenden Wochen dazu nutzen, eine Art
Bildband zu erstellen, in dem neben den im
Kurs entstandenen Werken auch erklärende
Texte einfließen konnten. In praktisch allen
»Büchern« thematisierten die Patienten ihre
Krebserkrankung, wobei dies nicht vorgegeben
war. Die psychische Belastung der Erkrankten
Die häufigsten Krebserkrankungen Frauen erkranken vorran-gig an Brust-, Lungen-, Magen- und Darmkrebs. Bei Männern treten vor allem Lungen-, Magen-, Leber-, Darm-, Speiseröh-ren- und Prostatakrebs auf. Lungen-, Magen-, Leber-, Darm- und Brust-krebs verlaufen in beson-ders vielen Fällen tödlich. Rauchen ist der größte Risikofaktor, der zu einer Tumorerkrankung führt.
VoRSIchTIgE KonTaKTaufnahmE Die meisten Bilder von Petra Bugar dominiert ein blauer Kreis. Er symbolisiert ihre »kleine heile Welt«. Zu Beginn der Kunsttherapie spielte sich alles darin ab (links). Erst nach und nach verband sie ihren Kreis mit dem kleineren der Therapeutin (mitte) und öffnete ihn schließlich der außenwelt (rechts).
48 g&g 9_2009
war im Anschluss an den Kurs wesentlich gerin-
ger als zuvor und zugleich deutlich niedriger als
bei den Krebspatienten der zufällig ausgewähl-
ten Vergleichsgruppe.
»Welche Künstlerische Therapieform für wel-
chen Patienten in welchem Krankheitsstadium
am besten geeignet ist, können wir derzeit noch
nicht sagen«, so Gruber weiter. Er arbeitet gera-
de an einer vergleichenden Überblicksstudie zu
den Wirkfaktoren in den Künstlerischen Thera-
pien (Musik-, Tanz- und Kunsttherapie). Seiner
Einschätzung nach scheinen soziale Herkunft
und Bildungsgrad keine Rolle zu spielen. Es
komme vermutlich eher auf die Charakterei-
genschaften eines Menschen an. »Generell öff-
nen sich mehr Frauen als Männer kreativen
Behandlungsmethoden«, ergänzt Gruber. Ein
Umstand, der in der Psychotherapie allgemein
bekannt sei.
»Dass Männer eine Krebserkrankung grund-
sätzlich anders verarbeiten als Frauen, lässt sich
daraus nicht ableiten«, betont Monika Keller.
»Erfahrungsgemäß kommunizieren sie ihre mit
dem Krebs verbundenen Ängste aber auf unter-
schiedliche Weise.« Deshalb würden emotional
stark belastete Männer oft übersehen. Für sie sei
es besonders wichtig zu wissen, dass sie nicht
etwa deshalb Unterstützung brauchen, weil sie
psychisch krank sind. »Diese Männer standen
vor ihrer Erkrankung mitten im Leben und hat-
ten alles im Griff«, so die Leiterin der psycho-
onkologischen Abteilung der Heidelberger Uni-
klinik. Jetzt sind sie in hohem Maß von anderen
abhängig, was sie beschämt und nicht selten
dazu führt, dass sie sich zurückziehen und ihre
Krankheit und deren Konsequenzen verdrän-
gen. Dabei leiden Männer wahrscheinlich ähn-
lich stark wie Frauen unter den psychischen Fol-
gen einer Krebserkrankung – und diese können
zu einer schweren Depression oder gar zu Selbst-
mordgedanken führen.
Vanessa Strong und Kollegen von der Univer-
sity of Edinburgh untersuchten 2007 über 3000
Tumorpatienten. Knapp ein Viertel von ihnen
litt unter klinisch relevanten Belastungen wie
Angstzuständen und Depressionen. 2008 un-
tersuchten die Forscher eine zweite Stichprobe
von mehr als 2900 Krebserkrankten. Ergebnis:
Knapp acht Prozent von ihnen quälten Gedan-
ken wie »Tot wäre ich besser dran« oder »Viel-
leicht tue ich mir selbst etwas an«. Zwei Fak-
toren korrespondierten überdurchschnittlich
stark mit den Selbstmordgedanken: emotio-
naler Stress und chronische Schmerzen.
Die Angst im NackenAuch Petra Bugar hat immer wieder starke
Schmerzen und weiß, dass sie – statistisch gese-
hen – an ihrer Krankheit sterben wird, weil die
Wahrscheinlichkeit für ein Rezidiv, eine erneute
Tumorbildung, in ihrem Fall hoch ist. Drei Jahre
lang zog sie von einer Kontrolluntersuchung
zur anderen, immer mit der Angst im Nacken,
der Krebs könnte trotz mehrerer Operationen
und Chemotherapien zurückkommen. Im Som-
mer 2007 hatte sie die Nase voll davon. Sie er-
füllte sich einen lang gehegten Wunsch und
machte eine Reise durch Indien. »Krebserkrank-
te, die in ihrem Alltag immer nur funktioniert
haben, wollen nun endlich einmal etwas nur für
sich tun«, sagt Nina Rose. Viele beginnen ein
neues Hobby oder planen Unternehmungen für
die Zeit, wenn es ihnen wieder besser geht.
Nach ihrer Heimkehr lebte Petra Bugar, als
sei nie etwas gewesen – nur viel bewusster: »Ich
regte mich nicht mehr wegen Kleinigkeiten auf,
besuchte meine Kinder öfter und meditierte
viel«, sagt sie. Zu Kontrolluntersuchungen ging
sie nicht mehr. Endlich wuchsen die Haare nach,
heilten die Schleimhäute, schmeckte das Essen
wieder. Den Krebs schloss sie einfach aus ihrem
Leben aus. »Positiv denken«, lautete ihr Motto.
Wie schön, wenn die Geschichte hier zu Ende
wäre. Doch Anfang August 2008 erkältete sich
Petra Bugar. Sie wurde immer schwächer, ver-
drängte aber den Gedanken an Krebs: »Alles,
nur nicht wieder ins Krankenhaus.« Im Januar
2009 brach ihr Immunsystem zusammen, sie
VERgängLIch, aBER SchönBeim anblick der gänseblüm-chen muss Petra Bugar daran denken, wie verletzlich ihr Körper ist. Die Kunsttherapie hat ihr geholfen, ihn dennoch lieb zu haben.
Krebs bei KindernJährlich erkranken in Deutschland ungefähr 1800 Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren an Krebs. Diese Zahl ist seit vielen Jahren konstant. Die Heilungschancen liegen mittlerweile bei 80 Prozent. Die häufigsten Krebserkrankungen im Kindesalter sind Leukä-mien (Blutkrebs), Tumoren des Gehirns und des Rü- ckenmarks sowie Lymph-knotenkrebs.
(Quelle aller statistischen Angaben: Robert Koch-Institut,
2008)
www.gehirn-und-geist.de 49
konnte nicht mehr laufen und sehen. Der Not-
arzt brachte die geschwächte Frau in die Unikli-
nik Magdeburg. »Sie haben Metastasen im Ge-
hirn«, teilte ihr ein Arzt mit; übermorgen werde
operiert, danach Chemotherapie und Reha. »Ihr
könnt mich alle mal!«, dachte Petra Bugar da.
Sie wollte einfach nicht mehr.
Damals fragte sie sich, ob sie womöglich
nicht genug gekämpft hätte und selbst die
Schuld für den Rückfall trage. »1989 und zu Be-
ginn der 1990er Jahre sorgten ein paar Studien
für Aufsehen in der Onkologie«, sagt Monika
Keller. Die Untersuchungen stellten einen Zu-
sammenhang zwischen einer optimistischen
Einstellung und einem positiven Krankheitsver-
lauf bei Tumorpatienten fest. »Doch die Ergeb-
nisse ließen sich nicht replizieren«, betont die
Expertin. Heute gelte als gesichert, dass eine be-
sonders kämpferische Einstellung die Krebshei-
lung nicht nachweisbar beeinflusse. »Dieser My-
thos kursiert aber immer noch in den Köpfen
der Menschen«, so Keller weiter. Problematisch
daran sei nicht die Hoffnung auf Genesung, son-
dern der Druck, unter den Menschen geraten,
wenn ihr Körper trotz guten Willens nicht auf
Therapiemaßnahmen anspricht oder der Krebs
erneut ausbricht. Nach Kellers Einschätzung
vermittelt auch das Umfeld vielen Betroffenen,
sie hätten nicht stark genug an ihre Genesung
geglaubt oder sich zu sehr hängen lassen.
Die Kinder von Petra Bugar machten ihrer
Mutter keine derartigen Vorwürfe, sondern er-
mutigten sie, die Situation anzunehmen und
das Beste daraus zu machen. »Das ist enorm
wichtig, damit Betroffene nicht in Hoffnungs-
losigkeit versinken und resignieren«, sagt auch
die Psychologin Rose. Dank der Unterstützung
durch ihre Kinder, Therapeuten und Ärzte fasste
Petra Bugar neuen Mut. Sie willigte in die erneu-
te Operation ein. Für die Nach- und Weiterbe-
handlung reist sie jedes Mal in die Privatklinik
nach Freiburg. Die Kosten für den Aufenthalt
muss sie teilweise selbst tragen, aber sie fühlt
sich hier gut aufgehoben. Es stehen mehrere
Chemotherapien auf dem Plan. Das heißt pro
Behandlung drei Tage lang Erbrechen und wun-
de Schleimhäute, meist gepaart mit Hautaus-
schlag und Haarausfall, danach folgen elf Tage
Pause. Wie oft sie diese Tortur in ihrem Leben
noch aushalten muss, weiß sie nicht. »Sterben
will ich so bald jedenfalls nicht.« Ÿ
Rabea Rentschler ist G&G-Redakteurin.
www.gehirn-und-geist.de/audio
EIn WEITER WEgBeim Interview vertraute Petra Bugar g&g-Redakteurin Rabea Rentschler viele persönliche Details an. Doch es dauerte lange, bis die 53-Jährige so offen mit einer fremden über ihre Krebserkrankung sprechen konnte.
Quellengötze, h. et al.: Gestaltungskurs für krebspatienten in der ambulanten nachsorge. in: forschende komplementärmedizin 16(1), s. 28 – 33, 2009. oster, I. et al.: art therapy improves experienced Quality of life among Women undergoing treatment for breast cancer: a randomized controlled study. in: european Journal of cancer care. 18(1), s. 69 – 77, 2009.Strong V. a. et al.: better off dead: suicidal thoughts in cancer Patients. in: Journal of clinical oncology: official Journal of the american so ciety of clinical oncology 26(29), s. 4725 – 4730, 2008.
Weitere Quellen unter: www.gehirnundgeist.de/artikel/1002094
Weblinksinformationsseiten für krebspatienten:www.krebsinformations dienst.dewww.krebsgesellschaft.dewww.frauenselbsthilfe.dewww.prostatakrebsbps.detraining für Ärzte:www.kompasso.de
50 G&G 9_2009
�Vor mehr als 2000 Jahren begründete Herophil von Chalcedon die
Human anatomie – die Lehre vom Aufbau des menschlichen Körpers.
Der Arzt beschrieb als Erster die Architektur unseres Gehirns, die
Hirnnerven sowie die Netzhaut des Auges. Doch seine Methoden waren
alles andere als zimperlich.
Von Helmut WicHt und HartWiG Hanser
Alexandria im Jahr 270 v. Chr. Eine junge
Stadt, die Gründung liegt kaum zwei
Menschenalter zurück. Auf der Insel Pharos, die
dem Hafen vorgelagert ist, entsteht gerade der
höchste Leuchtturm der Welt. Er wird einmal als
eines der sieben Weltwunder der Antike in die
Geschichte eingehen. Der Herrscher, der in Ale
xandria Hof hält, ist Ptolemäus II. – Sohn eines
Generals von Alexander dem Großen. Im Grun
de ein Militärdiktator, lässt sich Ptolemäus als
Pharao feiern und bekennt sich öffentlich zum
Inzest mit seiner Schwester Arsinoë.
In diesem turbulenten Schmelztiegel treffen
Menschen aus aller Herren Länder aufeinander.
Alexandria boomt – wirtschaftlich wie kulturell.
Auch auf wissenschaftlichem Gebiet ist einiges
los. Mitten im Stadtteil Brucheion hat die Regie
rung eine Akademie hochgezogen: das Museion
mit Labors, Sammlungen und Bibliotheken. Hier
pflegt man keine mühseligen Debatten über die
Ethik der Forschung oder skrupulöse Betrach
tungen zur Technikfolgenabschätzung. Die For
scher wie Politiker der Antike fackeln nicht lan
ge, sondern machen Nägel mit Köpfen. Üppige
Budgets und Topgehälter lassen kluge Köpfe von
überall her in das Forscherparadies strömen. Ei
ner der bedeutendsten kam schon vor vielen
Jahren: Herophil von Chalcedon.
Geboren um 330 v. Chr. in einem Stadtteil
des heutigen Istanbul, studierte Herophil bei
dem zehn Jahre älteren Praxagoras von Kos Me
dizin – in der Tradition des berühmten Hippo
krates (um 460 – 370 v. Chr.), was ihm sicher die
Türen des Museion zu öffnen half. Als prakti
zierender Arzt hält sich Herophil an bewährte
Therapiemethoden: Diäten, Medikamente, hie
und da ein Aderlass. Diagnostisch aber ist er
seiner Zeit weit voraus. Bei Krankenbesuchen
hat er stets seine Klepshydra dabei, eine trag
bare Wasseruhr. Fühlt er den Puls des Patien ten,
vergleicht er ihn nicht wie die anderen Ärzte
mit seinem eigenen, sondern misst mit der
Wasseruhr die exakte Zeit und rechnet dann die
genaue Frequenz aus. Die Patienten sind von so
viel Kompetenz und Hightech tief beeindruckt,
vielleicht wirkt schon das allein heilend. Hero
phils Geschäfte laufen gut, denn ganz Alexand
ria ist zwangskrankenversichert.
Mediziner, Forscher und Günstling der MächtigenDoch im Inneren seines Herzens fühlt sich He
rophil mehr als Forscher denn als Arzt. Er leitet
im Museion eine eigene Arbeitsgruppe mit
technischem Personal und Arztschülern. Seine
Kontakte zu den Schaltstellen der Macht sind
bestens, mit Ptolemäus pflegt er fast freund
schaftlichen Umgang. Was Herophil für seine
Forschung braucht, bekommt er umgehend.
Als Mediziner mit anatomischen Interessen ist
HirnforscHunG i GescHicHte
Au f e i n en Bl ick
Die Geburt der Neuroanatomie
1 Herophil von Chalce-don (um 330 v. Chr. –
250 v. Chr.) gilt als erster Forscher, der systema- tisch den Aufbau des menschlichen Nervensys-tems studierte.
2Laut Berichten des Römers Celsus (um 25 v.
Chr. – 50 n. Chr.) nahm Herophil dafür auch Vivisektionen vor – sprich er schnitt Menschen bei lebendigem Leib auf.
3 Herophil beschrieb unter anderem Groß-
und Kleinhirn, die Hirn-nerven, die venösen Blutleiter im Gehirn, den vierten Hirnventrikel sowie die Netzhaut des Auges. Zudem unterschied er erstmals zwischen senso-rischen und motorischen Nerven.
natom der ersten Stunde
www.gehirn-und-geist.de 51
das vor allem eins: menschliche Körper als Se
zierobjekte.
Hier reißt nun leider der bunte Historien
film, und wir betreten vermintes Gelände –
denn was sonst über Herophil bekannt ist, ba
siert im Wesentlichen auf Mutmaßungen und
Informationen aus zweiter Hand. Von ihm
selbst ist kein längerer Text überliefert. Es gibt
lediglich ein paar Fragmente, zusammenge
nommen vielleicht 20 oder 30 Zeilen, die spä
tere Autoren vermutlich wörtlich von ihm
übernommen haben. Die Bibliothek im Musei
on, die seine Schriften enthielt, fiel 48 v. Chr.
einem Brand zum Opfer.
Was Herophil tat, schrieb und lehrte, wissen
wir also nur aus den Berichten anderer – Celsus,
Galen, Rufus, Soranus, Tertullian –, die alle lan
ge nach ihm lebten. Ihnen zufolge schrieb He
rophil mindestens sechs Bücher, womit wohl
Pergamentrollen gemeint sind: ein Werk über
Anatomie, eines über den Puls, eines über die
Hebammenkunst, eines über Therapie, eines
über Diät und eines mit dem rätselhaften Titel
»Gegen die vorherrschenden Meinungen«.
Aus dem, was Celsus und Kollegen berich
ten, geht hervor, dass Herophil ein exzellenter
Anatom gewesen sein muss, ja geradezu der
Anatom der Antike. Was andererseits auch
kaum überrascht, denn er war schlicht der Ers
te, der systematisch den menschlichen Körper
aufschnitt und in ihn hineinschaute. Angeblich
sogar in lebende Körper. Und genau das ist die
Tretmine: Herophil war Vivisektionist!
Zumindest hat das der Römer Aulus Corne
lius Celsus behauptet (siehe Kasten S. 52 oben),
der von etwa 25 v. Chr. bis 50 n. Chr. lebte, also
gut 200 Jahre nach dem Griechen. Aber es
spricht viel dafür, dass er Herophil und dessen
Zeitgenossen und Kollegen Erasistratos Vivi
sektionen keineswegs einfach unterstellte, um
sie zu diskreditieren. Vielmehr lassen auch ei
nige der Entdeckungen des Forscherduos ver
muten, dass sie auf Beobachtungen am leben
den Organismus zurückgingen.
So hat Herophil als Erster die Lungenvenen
und arterien richtig beschrieben. Das kann
man aber nur, wenn man die Strömungsrich
tung und die Art des Bluts (hellrot = arteriell
klassiker der anato-mischen präparationnach dem entfernen des schädeldachs und dem Weg-klappen der harten hirnhaut (dura mater) sieht man den längs verlaufenden sinus sagit- talis superior und die Venen der Großhirnrinde, die in ihn einmünden (blau hervorgeho-ben). dieses und die folgenden Bilder stammen aus Vesals »de humani corporis fabrica« von 1543. Vesal ist für die neuzeit das, was herophil für das altertum war: der anatom schlechthin. Viele Beschrei-bungen herophils, der keine Bilder hinterließ, lassen sich anhand von Vesals illustratio-nen gut nachvollziehen.
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52 G&G 9_2009
Herophil und Erasistratos haben als Erste die Fähigkeit des Empfindens (Sensorik) und des Agierens (Motorik) den Nerven zugeordnet – vorher glaubte man, die Blutgefäße seien dafür zuständig. Das griechische For-scherduo erkannte, dass unterschiedliche Nerven für diese beiden Aufgaben verantwortlich sind, es also spezielle sensorische und motorische Nerven gibt. Unsinn ist aus heutiger Sicht allerdings Erasistratos’ Behauptung, die sensorischen Nerven gingen aus den Hirnhäuten hervor, die motorischen hingegen aus dem Hirn selbst.
Anerkannt wurde das sensomotorische Konzept damals nicht. Schon in der Antike wiesen Kritiker zu Recht darauf hin, dass es Fälle von Nervenschä-digungen gibt, bei denen sowohl sensorische als auch motorische Ausfälle auftreten. Also seien die Nerven gemischt und nicht entweder sensorisch oder motorisch.
Im Grunde hatten alle Recht: Im peripheren Nervensystem, also außer-halb von Gehirn und Rückenmark, sind tatsächlich die meisten Nerven ge-mischt, haben also sensorische und motorische Anteile. Dort aber, wo die Nerven ins Rückenmark eintreten, spalten sie sich stets in zwei Wurzeln auf: die sensorische Hinterwurzel und die motorische Vorderwurzel. Charles Bell (1774 – 1842) und François Magendie (1723 – 1855) konnten zeigen, dass die Durchtrennung der vorderen Wurzeln der Spinalnerven zu Lähmungen füh-ren, die der hinteren Wurzeln jedoch zu Gefühllosigkeit. Auch diese Versuche waren übrigens Vivisektionen – allerdings an Hunden.
Sensorik und Motorik: Gewaltenteilung im Nervensystem
Auf Vivisektionen Herophils weist vor allem folgender Text des römischen Medizinschriftstellers Aulus Cornelius Celsus (um 25 v. Chr. – 50 v. Chr.) hin (Übersetzung: Helmut Wicht).
»Weil die verschiedenen Arten von Schmerzen und Krank-heiten in den inneren Organen entstehen, so glauben sie [eine bestimmte Gruppe von Ärzten, die »Rationalisten«], dass nie-mand jenen mit einer Kur abhelfen könne, der diese nicht kenne. [Sie glauben also], dass es notwendig ist, die Körper der Toten aufzuschneiden und deren Eingeweide und Gedärme zu durch-forschen. [Sie glauben weiter], dass dies bei Weitem am besten Herophil und Erasistratos gemacht haben, die [aber auch] ver-brecherische Menschen, die sie von den Königen aus den Kerkern erhielten, bei lebendigem Leibe aufgeschnitten haben sollen und bei noch anhaltender Atmung dasjenige beschaut haben sollen, was die Natur vorher verborgen gehalten hätte …«
Celsus selbst findet die Methode gleichermaßen brutal wie nutzlos:»Es ist aber sowohl grausam als auch überflüssig, die Körper von Lebenden aufzuschneiden, die von Toten zu eröffnen hingegen ist für die Wissbegierigen unerlässlich: Denn sie müssen die Lage
und Anordnung kennen, die der Leichnam besser als der lebende und verwundete Mensch darbietet.«
Celsus formuliert dabei sehr vorsichtig. Er sagt lediglich, dass es Leute gibt, die behaupten, dass Herophil und Erasistra-tos Vivisektionen vorgenommen haben sollen.
Für Latinisten hier zum Vergleich der Originaltext aus Celsus’ »De medicina« (prooemium, 23, 24 und 74): »Praeter haec, cum in interioribus partibus et dolores et morborum varia genera nas cantur, neminem putant his adhibere posse remedia, qui ipsas ignoret. Ergo necessarium esse incidere corpora mortuo-rum, eorumque viscera atque intestina scrutari; longeque op-time fecisse Herophilum et Erasistratum, qui nocentes homines a regibus ex carcere acceptos vivos inciderint, considerarintque eti-amnum spiritu remanente ea, quae natura ante clausisset …«
Und die zweite, oben zitierte Stelle:»Incidere autem vivorum corpora et crudele et supervacuum est, mortuorum discentibus necessarium: nam positum et ordinem nosse debent, quae cadaver melius quam vivus et vulneratus homo repraesentat.«
Herophil – ein Vivisektionist?
beziehungsweise dunkelrot = venös) kennt –
und dazu muss das Blut noch fließen. Auch die
Unterscheidung von motorischen und senso
rischen Nerven (siehe Kasten links) geht auf
Herophil und Erasistratos zurück – wobei die
beiden Forscher mitunter noch Sehnen und
Nerven verwechselten. Ob ein durchschnitte
ner oder gequetschter Nerv sensorisch oder
motorisch ist, lässt sich am leichtesten anhand
der Funktionsausfälle ermitteln. Und Funktion
setzt wiederum Lebendigsein voraus.
Von Grausamkeit umwehtUnd schließlich war Herophil bestimmt kein
zimperlicher Mensch. Als Gynäkologe erfand er
ein Gerät mit dem Namen Embryosphakter:
den »Embryozerhacker«. Diesen soll er nicht
nur für Abtreibungen eingesetzt haben, son
dern wohl auch zur Rettung der Schwangeren
bei schweren Komplikationen. Dennoch umwe
hen gewaltsamer Tod und Grausamkeit diesen
Mann. Er hätte ja stattdessen auch das Stetho
skop erfinden können – hat er aber nicht.
Die Fülle von Herophils anatomischen Ent
deckungen ist beeindruckend. Die Netzhaut des
Auges, die Eileiter, die inneren männlichen Ge
schlechtsorgane, der Kanal des Gesichtsnervs
www.gehirn-und-geist.de 53
Wenn man das Schädeldach entfernt, blickt man zunächst nicht auf das Gehirn, sondern auf die harte Hirnhaut, die Dura mater (siehe Bild oben links). Sie enthält blutgefüllte Hohlräu-me (blau hervorgehoben), durch die das Blut aus dem Hirn ab-fließt. Es handelt sich dabei anatomisch gesehen nicht um echte Venen, denn ihnen fehlt die elastische Muskelschicht in der Wand, die alle Blutgefäße auszeichnet. Aus diesem Grund
nennen Anatomen diese Hohlräume Sinus durae matris – die Buchten der Dura mater oder venöse Blutleiter. Die größeren von ihnen treffen sich am Hinterrand des Kleinhirnzelts im »Torcular des Herophil«, heute Confluens sinuum genannt (siehe Bild rechts). Von dort aus strömt das Blut weiter abwärts zur Vena jugularis, der Drosselvene des Halses, die unterhalb der Schädelbasis entspringt.
Das »Torcular des Herophil«
unterm schädeldachBlick auf die dura mater, nachdem das schädeldach ringsherum aufgesägt und abgehoben wurde. Blau hervorgehoben ist der sinus sagittalis superior, einer der venösen Blutleiter der dura mater.
kanalisation im GehirnGroßhirn samt dura mater sind hier entfernt, in der vorderen kopfhälfte erkennt man die horizontale schnittfläche. dahinter fehlt das Großhirn, so dass ein weiteres stück dura mater zum Vorschein kommt, welches das kleinhirn bedeckt: das tentorium cerebelli (großer stern). Blau hervorgehoben sind Blutleiter, die im »torcular des herophil« (kleiner stern) zusammenlaufen.
im Schädel, ein Ventrikel des Gehirns sowie des
sen große venöse Blutleiter, die Gliederung in
Groß und Kleinhirn, diverse Hirnnerven – all
das hat er als Erster korrekt beschrieben (siehe
Kasten S. 55).
Gewürdigt haben es seine Nachfolger kaum.
Nur eine einzige Struktur, ein Hohlraum in den
Hirnhäuten, ist nach ihm benannt: das Torcu
lar Herophili (siehe Kasten oben). Und dabei
handelt es sich auch noch um einen Überset
zungsfehler. Ein Torcular ist eine Schrauben
presse für die Weinherstellung. Herophil nann
te diesen Hohlraum lenos, was man zwar mit
Presse übersetzen kann, aber auch mit Trog
oder Behälter. In letzterem Sinne hat Herophil
es vermutlich gemeint: ein Gefäß für das ve
nöse Blut. Ohnehin strich man das Torcular He
rophili Ende des 19. Jahrhunderts aus der ana
tomischen Nomenklatur. Der Hohlraum heißt
jetzt schlicht Confluens sinuum – der Zusam
menfluss der venösen Sinus (Blutleiter).
Für die fiktive Schlussszene läuft unser His
torienschinken noch einmal an: Um 250 v. Chr.
liegt Herophil auf dem Sterbebett, rund 80 Jah
re alt ist er geworden! Neben ihm sitzt sein Kol
lege Erasistratos – auch schon um die 70 und
ein wenig klapprig. Ihr Lebtag haben sich die
zwei gestritten, ob die Arterien normalerweise
54 G&G 9_2009
Abfluss für die Hirnflüssigkeit
Quellenleven, k. (hg.): Antike medizin – ein lexikon. c.h.beck, münchen 2005.potter, p.: herophilus of chalcedon: An Assessment of his place in the history of Anatomy. in: bulletin of the history of medicine 50, s. 45 – 60, 1976.von staden, h.: herophilus – the Art of medicine in early Alexandria. cambridge university press, cambridge 1989.Komplette Sammlung der antiken Quellen inklusive detaillierter Auseinandersetzung mit den Vivisektionen
Calamus scriptorius bedeutet so viel wie Schreibfeder. Tatsächlich hat der vom Hirnstamm ge-bildete Boden des vierten Ventrikels eine vergleichbare Gestalt. Dem römischen Arzt Galen (um 130 – 215) zufolge war Herophil der Erste, der in den vierten Ventrikel hineinschaute und dabei diese Struktur beschrieb.
Heute wird der Begriff immer noch verwendet, aber inzwischen nur noch für die Spitze des schreibfederartigen Gebildes. Und man weiß inzwischen auch, wozu der Calamus scriptorius gut ist: Er sorgt dafür, dass der Liquor – das Hirnwasser, von dem im Inneren des Gehirns pro Tag fast ein halber Liter entsteht – nach außen abfließen kann, damit sich kein Wasserkopf bildet (der Liquor gelangt letztlich in den Blutkreislauf). Dies geschieht durch eine Öffnung an der Spitze der Schreibfeder: die Apertura mediana ventriculi quarti. Davon wusste Herophil aller-dings wohl noch nichts.
der Vierte Ventrikelschneidet man das tentorium cerebelli heraus (siehe Bild s. 53 rechts), nimmt das kleinhirn aus seiner Grube und klappt es nach vorn, wird der vierte Ventrikel des hirnstamms sichtbar (hier gelb). er ähnelt seiner Form nach einer schreibfeder: herophils calamus scriptorius. Blau hervorgehoben sind venöse Blutleiter.
Groß- und Kleinhirn Auch Laien fällt beim Betrachten eines Gehirns als Erstes die Unterteilung in das dominierende Großhirn und das feiner gefurchte Kleinhirn am unteren Hinterkopf auf. Schon Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) beschrieb 100 Jahre vor Herophil diese beiden Teile als Enke-phalon und Parenkephalis (Hirn und Nebenhirn) – aber nur bei Tieren. Herophil war der Erste, der beim Menschen nachsah.
www.gehirn-und-geist.de 55
Die Verkabelung von Gehirn und Augen
nur die luftartigen Lebensgeister (Erasistratos
nennt sie Pneuma) oder auch Blut (das glaubt
Herophil) enthalten. Auch jetzt können sie sich
nicht einigen. »Schneid’ mich halt auf und
guck nach!«, ächzt Herophil schließlich und
stirbt. Erasistratos folgt seinem Ratschlag und
findet: Die Arterien sind fast blutleer, es ist
nichts drin – nur Pneuma eben, wie er selbst ja
meinte.
Heute wissen wir: Nach dem Tod versackt
das Blut in den Venen. Ihre Wände sind wesent
lich dünner und nachgiebiger als die von Arte
rien (was ebenfalls Herophil entdeckte). Hier
sammelt sich daher nach dem Kreislaufstill
stand das Blut. Selbst so große Arterien wie die
Aorta enthalten bald nach dem Tod nur noch
Reste geronnenen Lebenssafts. Manchmal
muss man eben doch beim Lebenden nach
schauen, um die Wahrheit zu finden. Ÿ
Helmut Wicht ist promovierter Biologe und Privatdozent für Anatomie an der Dr. Senckenbergischen Anatomie der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a. M. Hartwig Hanser ist G&GRedakteur.
Die Hirnnerven zu finden ist nicht ganz einfach, denn sie liegen versteckt an der Basis des Gehirns. Es gibt zwölf Paare von ihnen. Herophil hat sie wohl alle ge-sehen, aber nur sieben Paare gezählt; er hat einige Nerven zusammengefasst, die Anatomen heute unterscheiden.
Die Sehnerven nannte er laut Galen poroi, was so viel heißt wie Gänge oder Röhren. Die irreführende Vorstellung, dass die Nerven hohl seien und in ihnen irgendein pneumatisches oder hydrau-lisches Wirkprinzip am Werk sei, findet sich bei den Griechen schon lange vor Herophil. Diese Hypothese wurde erst in der Neuzeit überwunden, als man die elektrische Erregbarkeit von Nerven, Hirn und Muskeln entdeckte.
Interessanterweise gebrauchte Hero-phil aber das Wort poroi nur für die Seh-, nicht für die anderen Hirnnerven. Damit erwies er sich als erstaunlich hellsichtig, denn der Sehnerv ist der einzige, der in seinem Inneren einen winzigen Hohl-raum besitzt – durch den die Arteria cen-tralis retinae zur Netzhaut des Auges ge-langt. Das Auge selbst hat Herophil übrigens auch als Erster detailliert be-schrieben, mitsamt allen Häuten und Adern.
Wenn Herophil diesen Hohlraum tat-sächlich gesehen haben sollte, muss er sehr gute Augen gehabt haben. Aber dann müsste ihm auch aufgefallen sein, dass der Hohlraum nicht bis zum Gehirn reicht, denn die Arterie tritt erst in der
Nähe des Augapfels in den Nerv ein. An-dererseits ist das nur beim Erwachsenen so. Am Anfang der Embryonalentwick-lung erscheint der Sehnerv tatsächlich durchgängig hohl, und sein Hohlraum hängt mit dem des Hirns zusammen. Er wächst samt Auge aus dem Gehirn her-vor, Auge und Sehnerven sind letztlich
hohle Ausstülpungen des hohlen Ge-hirns! Später verschwinden diese Gänge, und nur ein winziger Rest bleibt: jener, in dem die Arteria centralis retinae liegt. Das alles aber konnte Herophil kaum wissen, dazu hätte er ein Mikroskop ge-braucht. Und das war zu seiner Zeit noch lange nicht erfunden.
Von unten Betrachtetdie gelb hervorgehobene struktur stellt den sehnerv und die hinteren teile der augen dar. nachträglich rot markiert ist die arteria centralis retinae, die in den sehnerv eindringt, so dass dieser auf seinem letzten Wegstück zum augapfel einen zentralen hohlraum aufweist: den kanal für diese arterie.
56 G&G 9_2009
Wie die berühmte Hermann-Gitter-Illusion zu Stande kommt, galt
längst als geklärt. Doch ein einziges Bild brachte 2004 die alte Lehr meinung
zu Fall und stellt Wahrnehmungsforscher aufs Neue vor ein Rätsel.
Von RaineR RosenzweiG
hiRnfoRschunG i optische täuschunG
Flüchtige Schatten auf der Straßenkreuzung
Mit
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l. G
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Gel
Bach
LingeLbach-gitter Bei der 1995 von Elke und Bernd Lingelbach sowie Michael Schrauf geschaffenen Variante des Hermann-Gitters scheinen schwarze Punkte in den weißen Kreisen an den Kreuzungen wild durcheinanderzuflackern. Im Dezember 2000 wurde das Muster per E-Mail mit der Aufforderung verbreitet, schwarze Punkte als Stimmen für Al Gore und weiße für George W. Bush zu zählen und das Ergebnis danach noch einmal zu kontrollieren – als Anspielung auf die seinerzeit erforderliche Neuauszählung der Stimmen zur US-Präsident-schaftswahl. Dadurch wurde die Illusion weltweit bekannt.
von sinnen
www.gehirn-und-geist.de 57
Mit
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l. G
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Gel
Bach
Dunkle Quadrate, an deren Ecken graue Fle-
cken aufschimmern: Das Hermann-Gitter
(siehe Bild oben) zählt zu den bekanntesten
Wahrnehmungstäuschungen. Bereits 1844 be-
schrieb sie der schottische Physiker Sir Dawid
Brewster (1781 – 1868). 1870 wurde der deutsche
Physiologe Ludimar Hermann (1838 – 1914) auf
die Illusion aufmerksam – eher zufällig beim
Betrachten einer Abbildung in einem Physik-
buch. Deshalb erwähnte er sie auch nur in einem
beiläufigen Kommentar, und die Täuschung
verschwand wieder in der Versenkung. Erst Mit-
te des 20. Jahrhunderts entdeckten Wahrneh-
mungspsychologen sie neu und begannen, ver-
schiedene Variationen zu produzieren, die alle
einen ähnlichen Effekt aufweisen (Bild links).
Bei der Originaltäuschung bildet der weiße Hin-
tergrund zwischen den regelmäßig angeord-
neten schwarzen Quadraten helle »Straßen«.
An deren Kreuzungen erscheinen verwaschene
dunkle Flecken – kurioserweise aber immer nur
dort, wo man gerade nicht genau hinblickt, also
in der Sehperipherie. Wie entstehen diese
»flüchtigen Schatten«?
Schon 1960 schlug der Neurophysiologe
Günter Baumgartner eine höchst plausibel klin-
gende Erklärung des Phänomens vor. Sie basiert
auf der Tatsache, dass Informationen der Seh-
zellen bereits in der Netzhaut des Auges von
den Ganglienzellen verarbeitet werden. Diese
hermann-gitterAn den Kreuzungen der hellen Linien fallen dunkle Flecken auf, die verschwinden, wenn man den Blick genau darauf richtet. Die Illusion ist nach dem deutschen Physiologen Ludimar Hermann (1838 – 1914) benannt, der sie 1870 als einer der ersten Forscher erwähnte.
58 G&G 9_2009
empfangen Signale von einem annähernd kreis-
förmigen Gebiet der Netzhaut – dem rezeptiven
Feld der Ganglienzelle. Dieses ist in einen inne-
ren und einen äußeren, ringförmigen Bereich
aufgeteilt (siehe Bild oben).
Die visuelle Täuschung des Hermann-Gitters
erklärte Baumgartner mit Hilfe eines speziellen
Typs von Ganglienzellen: den On-Zentrum-Zel-
len. Diese reagieren besonders stark, wenn der
innere Bereich des rezeptiven Felds stimuliert
wird, der äußere jedoch nicht. Off-Zentrum-Zel-
len verhalten sich genau umgekehrt. Diese Vor-
verarbeitung erleichtert es unserem Sehsystem,
Änderungen in der Umwelt effektiv zu verarbei-
ten und beispielsweise Stufen und Kanten auch
unter schlechten Sehbedingungen zu identifi-
zieren, etwa bei Nebel.
Erfasst nun eine On-Zentrum-Zelle beim
Hermann-Gitter eine »Kreuzung« (im Bild
rechts oben), wird der äußere Bereich des rezep-
tiven Felds stärker gereizt, als wenn sie die Mitte
zwischen zwei Quadraten im Visier hat (links
oben). Entsprechend schickt die Zelle ein etwas
schwächeres Signal ans Gehirn. Dieser Signal-
unterschied sei verantwortlich für die dunklen
Flecken an den Kreuzungen, so Baumgartner.
Das Modell erklärt auch, warum das Phäno-
men nur am Rand des Sehfelds funktioniert und
nicht dort, wo wir gerade hinsehen. Wenn wir et-
was fixieren, fällt das Bild auf den Bereich des
schärfsten Sehens der Netzhaut: die Fovea. Dort
ist die Dichte der Sehzellen etwa 14-mal höher
als in den übrigen Bereichen des Sehfelds. Die
rezeptiven Felder der für die Fovea zuständigen
Ganglienzellen sind somit auch viel kleiner –
und registrieren entsprechend keinen Unter-
schied mehr zwischen »Straße« und »Kreu-
zung« (im Bild unten).
Zerstörte IllusionWahrnehmungsforscher stürzten sich be-
geistert auf Baumgartners Erklärung, denn sie
gab ihnen eine Möglichkeit, rezeptive Felder
mittels Variation des Gitters zu vermessen und
genauer zu untersuchen. Das Hermann-Gitter
entwickelte sich in der Folge zu einem der be-
liebtesten Forschungsobjekte der Wahrneh-
mungspsychologen.
Doch vor fünf Jahren erfolgte der Pauken-
schlag: Eine ungarische Forschergruppe um
János Geier vom »Stereo Vision«-Forschungsin-
stitut in Budapest stellte im Sommer 2004 eine
daS aLte modeLLLaut Günter Baumgartners klassischer Erklärung der Hermann-Gitter-Illusion rufen unterschiedliche Antworten von »On-Zentrum-Zellen« aus der Sehperipherie die dunklen Flecken hervor (oben): Licht im grün markierten Bereich des rezeptiven Felds lässt die Zelle feuern (+), Licht im rot mar-kierten Bereich dagegen führt zur Hemmung (–). Im Bereich des schärfsten Sehens auf der Netzhaut, in der Fovea, sind die rezeptiven Felder deutlich kleiner, weshalb sich die Zellantworten beim direkten Fokussieren nicht mehr unter-scheiden und der Effekt ver-schwindet (unten).
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www.gehirn-und-geist.de 59
auf den ersten Blick unverdächtig anmutende,
aber revolutionäre Variation des Hermann-Git-
ters vor und stürzte damit die heile Welt der
Wahrnehmungsforscher in eine Krise. Eine ein-
fache Verzerrung der »Straßen« im Hermann-
Gitter ließ die Täuschung ausbleiben: Die grau-
en Flecken waren verschwunden (siehe Bild
oben)! Laut Baumgartners Modell müssten je-
doch auch in der neuen Variante des Gitters
dunklere Stellen an den Kreuzungen auftreten.
Ein einziges Bild brachte damit ein von den
meisten Experten akzeptiertes Erklärungsge-
bäude zum Einsturz – ein wissenschaftshisto-
risch höchst seltenes Ereignis. Zwar äußerten
bereits Jahre zuvor verschiedene Wissenschaft-
ler immer wieder Zweifel an Baumgartners Er-
klärung und führten dabei durchaus überzeu-
gende Argumente ins Feld, doch das allein konn-
te die Mehrzahl der Fachleute nicht überzeugen.
Offenbar bedurfte es eines starken visuellen Be-
weises – und der lag nun mit Geiers Bild vor.
Bis heute sind sich die Wahrnehmungsfor-
scher noch nicht darüber einig, welche Erklä-
rung des Phänomens das obsolete Modell von
Baumgartner ablösen wird. Vielleicht muss man
sich ja sogar ganz von der Vorstellung verab-
schieden, die Illusion ließe sich einfach und an-
schaulich begründen. Einen Hinweis darauf,
dass diese pessimistische Einstellung berechtigt
sein könnte, lieferte kürzlich ein Experiment
zweier britischer Forscher: Der Informatiker Da-
vid Corney und der Wahrnehmungspsychologe
Beau Lotto vom University College London trai-
nierten ein künstliches neuronales Netz, aus
einer Vielzahl von Eingangssignalen, die dem
visuellen Input ähneln, korrekte Antworten zu
erzeugen. Und siehe da – das Netzwerk unterlag
ganz von selbst einer Reihe von Täuschungen,
die optischen Illusionen vergleichbar sind. Da-
runter fanden sich auch graue Flecken wie im
Hermann-Gitter.
Dieses Ergebnis liefert freilich noch keine
Erklärung. Aber es zeigt, dass unser Sehsystem
unter gewissen Umständen möglicherweise gar
nicht anders kann, als Effekte zu produzieren,
die mit der physikalischen Umwelt nicht in Ein-
klang zu bringen sind – eben visuelle Täu-
schungen. Ÿ
Rainer Rosenzweig ist promovierter Wahrnehmungspsychologe und Geschäftsführer des Nürnberger Erlebnismuseums »Turm der Sinne«.
LiteraturtippRosenzweig, R. (Hg.): nicht wahr?! Sinneskanäle, hirnwindungen und Grenzen der Wahrnehmung. Mentis, Paderborn 2009.Sammelband mit Beiträgen des TurmderSinneSymposiums von 2007
QueLLenCorney, D., Lotto, R. B.: What are lightness illusions and Why do We See them? in: Public library of Science computational Biology 3(9), e180, 2007.Geier, J. et al.: Straightness as the Main factor of the hermann Grid illusion. in: Perception 37(5) S. 651 – 665, 2008.Schiller, P. H., Carvey, C. E.: the hermann Grid illusion revisited. in: Perception 34(11), S. 1375 – 1397, 2005.
die widerLegungIn dieser Variante des Her-mann-Gitters nach János Geier tritt die Täuschung nicht auf, obwohl die On-Zentrum-Zellen laut Baumgartners Modell hier ebenfalls dunkle Flecken an den Kreuzungen erzeugen müssten. Noch gibt es kein allgemein akzeptiertes Modell, das dieses Phänomen zufrieden stellend erklären könnte.
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60 G&G 9_2009
Zwei Hirnhälften sitzen im Kopf. Ob wir beide Hemisphären gleich stark nutzen
oder bestimmte Probleme eher einseitig angehen, steuern unsere Hormone.
Von Markus HausMann und ulrike Bayer
HirnforscHunG i lateralisierunG
ungleiches duoÄhnlich wie in dieser künstlerischen darstellung sehen die beiden hirnhälften fast symmetrisch aus. doch sie sind auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert.
hormonelle harmonie
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www.gehirn-und-geist.de 61
Wie Bild und Spiegelbild erscheint unser
Gehirn auf den ersten Blick. Doch der Ein-
druck täuscht. Seit mehr als 100 Jahren wissen
Forscher, dass die nahezu symmetrischen, nur
durch den Balken verbundenen Hirnhemisphä-
ren trotz ihres ähnlichen Aussehens durchaus
unterschiedliche Aufgaben erfüllen. Sie kontrol-
lieren zwar in trauter Zweisamkeit unser Verhal-
ten, doch die linke Seite glänzt etwa mit ihren
»sprachlichen Fähigkeiten«, während das rechte
Pendant vor allem unserer räumlichen Wahr-
nehmung dient. Diese als »funktionelle zere-
brale Asymmetrie« bekannte Eigenschaft des
Gehirns kennzeichnet nicht nur den Menschen,
sondern auch viele Tierarten.
Das Ausmaß der Lateralisierung – also der
funktionellen Ungleichheit zwischen beiden
Hirnhälften – kann allerdings je nach Geschlecht
beträchtlich variieren: Während Männer sprach-
liche und räumliche Aufgaben stärker mit der
jeweils darauf spezialisierten Hirnhälfte bewäl-
tigen, scheinen Frauen dabei beide Hemisphä-
ren zu etwa gleichen Teilen einzusetzen. Das
weibliche Gehirn ist also funktionell symme-
trischer organisiert als das männliche (siehe
G&G 6/2003, S. 56). Dies zeigen auch moderne
Verfahren wie die Elektroenze phalografie (EEG)
oder die funktionelle Magnetresonanztomo-
grafie (fMRT).
Doch was verursacht diese Unterschiede in
der Symmetrie? Aus biologischer Sicht drängen
sich sofort Verdächtige auf: die Geschlechts-
hormone. Auch wenn Mann und Frau grund-
sätzlich über die gleichen Botenstoffe verfügen,
liegen sie doch in sehr unterschiedlichen Kon-
zentrationen vor. Männer zeigen hohe Spiegel
männlicher Sexualhormone – auch Androgene
genannt – mit dem prominentesten Vertreter
Testosteron. Auch Frauen besitzen diese Sub-
stanz, allerdings in viel geringeren Mengen. Als
wichtigste weibliche Hormone gelten dagegen
das zu den Östrogenen zählende Östradiol so-
wie das Progesteron.
Geschlechtshormone steuern in erster Linie
die Fortpflanzung. Im Gehirn, das sie über das
Blut erreichen, üben sie jedoch zahlreiche Ef-
fekte aus, die nicht unmittelbar mit Sexualität
zusammenhängen. Inzwischen mehren sich
Hinweise, dass die genannten Geschlechtsun-
terschiede in der Hirnasymmetrie zumindest
zum Teil hormonell verursacht sein könnten.
Um den Zusammenhang zwischen Hor-
monen und Hirnorganisation zu beleuchten,
eignen sich Männer nicht so gut als Versuchs-
personen, denn ihr Hormonspiegel bleibt trotz
tages- und jahreszeitlicher Schwankungen im
Großen und Ganzen ziemlich konstant. Frauen
zeigen hingegen im Lauf ihres Menstruations-
zyklus starke Veränderungen: In den Tagen der
Regelblutung produzieren sie nur geringe Men-
gen weiblicher Geschlechtshormone. Vor dem
Eisprung steigt dann der Östradiolgehalt stark
an, der Progesteronspiegel verharrt zunächst
weiter auf niedrigem Niveau. Erst nach dem
Eisprung erreicht Progesteron zusammen mit
einem zweiten Östradiolgipfel sein Maximum.
Am Ende des monatlichen Zyklus sinken beide
Hormonwerte wieder ab (siehe Kasten S. 62).
Diese natürlichen Schwankungen haben wir uns
in den letzten Jahren zu Nutze gemacht, um die
Auswirkungen der Sexualhormone auf die
funktionelle Hirnasymmetrie zu untersuchen.
Probandinnen im ZyklustestZunächst gingen wir bei unseren Untersu-
chungen von einem regelmäßigen Zyklus von
28 Tagen aus. Allerdings hält sich die Natur nur
selten an dieses strenge Lehrbuchschema – wir
mussten also die Hormonwerte unserer Pro-
bandinnen stets direkt messen, um deren Zy-
klusphase genau zu bestimmen. Dann ließen
wir die Frauen während ihrer Menstruation
(wenn die Hormongehalte niedrig lagen) sowie
nach dem Eisprung (mit hohen Hormonspie-
geln) verschiedene sprachliche und räumliche
Aufgaben lösen.
Um die funktionelle Hirnasymmetrie zu tes-
ten, setzten wir die Methode der visuellen Halb-
feldstimulation ein (siehe Kasten S. 63): Dabei
präsentierten wir auf einem Computermonitor
verschiedene Reize – Wörter oder geometrische
Figuren –, die für sehr kurze Zeit entweder im
rechten oder im linken Gesichtsfeld erscheinen
und damit nur von einer Hirnhälfte verarbeitet
werden können. Die Probandinnen sollten nun
möglichst schnell den jeweiligen Reiz mit
einem in der Bildschirmmitte präsentierten
Wort oder Muster vergleichen.
Wie erwartet zeigten die Frauen während ih-
rer hormonarmen Tage eine typisch männliche
Hirnasymmetrie. Im hormonellen Boom nach
dem Eisprung waren dagegen beide Hirnhälf-
Au f e i n en Bl ick
Flexible Asymmetrie
1 Die beiden Hirnhemi-sphären sind auf
unterschiedliche Aufgaben spezialisiert: Während die linke bei der Sprachverar-beitung dominiert, über-nimmt die rechte eher räumlich-geometrische Aufgaben.
2Geschlechtshormone beeinflussen den Grad
dieser Arbeitsteilung: Weibliche Gehirne zeigen bei niedrigem Hormon-spiegel (während der Menstruation) eine asym-metrische Organisation, wie sie auch für Männer typisch ist. Nach dem Ei- sprung, wenn die Hormon-werte ansteigen, wirken beide Hemisphären dage- gen stärker zusammen.
3 Nach der Menopause tritt die funktionelle
Hirnasymmetrie deutlicher hervor. Künstliche Hor-mongaben reduzieren dies.
62 G&G 9_2009
Der erste Tag der Regelblutung gilt als Beginn des Menstruationszyklus der Frau. Während der Menstruation (1), die etwa vier bis fünf Tage dauert, liegen die Geschlechtshormone nur in geringen Konzentrationen vor. In der an-schließenden follikulären Phase reift eine Eizelle mitsamt umgebendem Nährgewebe, den Follikelzellen, die wiederum das Hormon Östradiol (Ö) ab-geben (2). Dabei verdickt sich die Schleimhaut der Gebärmutter; die Östra-diolkonzentration steigt kurz vor dem Eisprung (Ovulation) am 14. Tag auf ihr Maximum an. Jetzt reißt der Follikel und gibt die Eizelle frei (3). Während des Eisprungs stimuliert das Luteinisierende Hormon (LH) die Umwandlung des restlichen Follikelgewebes in den so genannten Gelbkörper (Corpus luteum), der wiederum in der lutealen Phase Progesteron (P) ausschüttet. Etwa sie-ben bis acht Tage nach dem Eisprung erreicht die Konzentration von Östra-diol zusammen mit der von Progesteron ihren zweiten Gipfel (4). Wurde die Eizelle nicht befruchtet, degeneriert der Gelbkörper in der prämenstruellen Phase, die Hormonkonzentrationen sinken wieder ab (5). Jetzt wird auch die Schleimhaut der Gebärmutter abgebaut, mit der einsetzenden Regelblu-tung beginnt ein neuer Zyklus. Er dauert im Schnitt 28 Tage, kann aber indi-viduell stark variieren.
Weibliche Rhythmen: Hormonschwankungen während des Menstruationszyklus
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follikulär Ovulation luteal prämenstruell
ten gleich stark aktiv. Die zerebrale Asymmetrie
schien sich vor allem nach dem Progesteron-
spiegel zu richten: Je höher die Konzentra tion
dieses Botenstoffs lag, desto symmetrischer,
also »weiblicher« arbeitete das Gehirn.
Können Hormone die Symmetrie der Hirn-
funktionen tatsächlich direkt beeinflussen?
Wie unser Gehirn arbeitet, sollte zunächst ein-
mal davon abhängen, wie die beiden Hemi-
sphären miteinander kommunizieren. Dies ge-
schieht hauptsächlich über den Balken, auch
Corpus callosum genannt, der mit mindestens
200 Millionen Nervenfasern erregende und
hemmende Signale in beide Richtungen über-
trägt (siehe Bild links). Und wahrscheinlich be-
stimmt insbesondere die gegenseitige Hem-
mung das Ausmaß der zerebralen Asymmetrie:
Werden dem Gehirn sprachliche Reize dargebo-
ten, übernimmt die linke Hirnhälfte die Ober-
hand, indem sie die Aktivität der rechten Seite
zügelt. Umgekehrt verhält es sich vermutlich,
wenn räumliche Reize wie beispielsweise geo-
metrische Figuren oder auch Gesichter erschei-
nen. Jetzt arbeitet in erster Linie die rechte He-
misphäre – und hemmt gleichzeitig ihr linkes
Pendant.
Zeitweilig gehemmtWir gehen nun davon aus, dass die weiblichen
Geschlechtshormone diese Hemmprozesse ih-
rerseits vermindern, so dass die beiden Hemi-
sphären quasi »gleichberechtigt« agieren – das
Gehirn arbeitet symmetrischer. Unsere Experi-
mente mit der visuellen Halbfeldtechnik erlau-
ben jedoch nur indirekte Hinweise darauf, dass
Hormone auf die neuronale Kommunikation
einwirken. Um zu sehen, was wirklich im Ge-
hirn geschieht, haben wir 2008 zusammen mit
Susanne Weis und ihren Kollegen von der Rhei-
nisch-Westfälischen Technischen Hochschule
Aachen eine so genannte funktionelle Konnek-
tivitätsanalyse per fMRT durchgeführt: Wäh-
rend unsere Probandinnen wiederum sprach-
liche und räumliche Aufgaben bewältigten,
zeichnete der Hirnscanner die Aktivitäten in
ausgesuchten Gebieten der jeweiligen Hemi-
sphären auf.
Dabei offenbarte sich, dass Bereiche des
Frontallappens der sprachdominanten linken
Hirnhälfte tatsächlich entsprechende Areale
auf der rechten Seite hemmten – allerdings nur
während der Menstruation. In dieser Phase ar-
beiteten die Gehirne der Frauen eher asym-
metrisch, also »männlicher« (siehe Bild S. 64).
Wenige Tage vor dem Eisprung, wenn der Öst-
VerdrAhtetrechte und linke hirnhälfte kommunizieren miteinander über nervenfaserbündel, so genannte Kommissuren. die mächtigste dieser Querverbindungen ist der Balken (corpus callosum).M
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Mit der visuellen Halbfeldstimulation lässt sich bei gesunden Menschen die funktionelle Hirnasymmetrie testen: Die Pro-banden fixieren die Mitte eines Computermonitors, wo zu-nächst zentral ein Wort oder eine geometrische Figur auf-taucht (siehe Bild oben links). Nach einer kurzen Pause erscheint ein neuer Reiz – und zwar so, dass er entweder im rechten oder im linken Gesichtsfeld wahrgenommen wird. Da sich die Seh-bahnen im Gehirn überkreuzen, verarbeitet zunächst nur die
Hemisphäre, die der Präsentationsseite gegenüberliegt, diesen Stimulus (oben rechts). Die Versuchsperson soll möglichst schnell entscheiden, ob das aktuell wahrgenommene Objekt gleich (G) oder ungleich (U) zum zuvor gesehenen war.
Typischerweise erkennen wir Wörter schneller, wenn sie im rechten Gesichtsfeld auftauchen und damit direkt in die linke Hirnhälfte gelangen; bei räumlichen Mustern verhält es sich umgekehrt.
Einseitige Betrachtung: die visuelle Halbfeldstimulation
radiolspiegel deutlich ansteigt, nimmt diese
Hemmung dagegen deutlich ab – die Versuchs-
personen offenbaren jetzt eine typisch weib-
liche symmetrische Hirnorganisation. Dies be-
stätigt unsere Annahme, dass Sexualhormone
die Kommunikation zwischen den beiden Hirn-
hälften beeinflussen und darüber das Ausmaß
der zerebralen Asymmetrien verändern.
Auf gute ZusammenarbeitTrotz dieser gegenseitigen Hemmung agieren
rechte und linke Seite unseres Denkorgans kei-
neswegs gegeneinander; vielmehr können und
müssen sie zusammenwirken. Schließlich stößt
die dominierende Hirnhälfte bei schwierigen
Problemen schnell an ihre Kapazitätsgrenzen.
Wenn sich die beiden Hemisphären die Arbeit
teilen und ihre Informationen über den Balken
austauschen, kann das Gehirn auch bei hö-
heren Anforderungen schnell und effizient zu
einer Lösung gelangen.
Um das Ausmaß dieser interhemisphäri-
schen Integration zu bestimmen, zeigten wir
2008 unseren Probandinnen abermals ver-
schiedene Objekte, die sie mit einem zentral
präsentierten Reiz vergleichen sollten. Der Clou
diesmal: Die Versuchspersonen sahen jeweils
nur Teilbilder in der linken und rechten Ge-
sichtsfeldhälfte. Die beiden Hirnhälften muss-
ten also miteinander kommunizieren, um
schnell zu entscheiden, ob die Objekte überein-
stimmten. Dabei offenbarten sich wiederum
Schwankungen im Monatszyklus: Nach dem Ei-
sprung – wenn die Hormonwerte hoch sind –
kooperierten die beiden Hemisphären beson-
ders intensiv.
Ein direkter Beweis dafür, dass Hormone die
dynamischen Veränderungen in der funktio-
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64 G&G 9_2009
nellen Hirnorganisation auslösen, sind diese
Experimente allerdings immer noch nicht.
Schließlich geht der Menstruationszyklus mit
einer ganzen Palette von physiologischen und
psychologischen Veränderungen einher. Daher
erweiterten wir den Personenkreis unserer Ver-
suchspersonen und zogen nun auch Frauen hin-
zu, die bereits die Wechseljahre hinter sich hat-
ten. Manche von ihnen nahmen Östrogene und
Gestagene ein, um negative Symptome wie Hit-
zewallungen, Schlafstörungen oder Knochen-
schwund zu vermeiden, welche den allmäh-
lichen Rückgang des Östradiol- und Progeste-
ronspiegels begleiten können. Diese Hormon-
ersatztherapie, die allerdings auf Grund ihrer
Nebenwirkungen umstritten ist, gibt Neurowis-
senschaftlern die Gelegenheit, die Wirkung der
von außen zugeführten Stoffe zu untersuchen.
Tatsächlich zeigten unsere 2009 veröffent-
lichten Ergebnisse, dass Frauen nach der Meno-
pause, sofern sie keine Hormonpräparate ein-
nahmen, sprachliche oder räumliche Aufgaben
vorwiegend mit einer Hirnhälfte lösten – ähn-
lich wie Frauen während der Monatsblutung
oder auch Männer. Dieses Muster verändert
sich auch bei nach zwei bis drei Wochen wieder-
holten Tests bei den älteren Frauen kaum – of-
fensichtlich auf Grund der stabil bleibenden
Hormonspiegel.
Nicht besser, aber andersDiese Asymmetrie verschwand jedoch fast voll-
ständig bei Probandinnen, denen eine Hormon-
ersatztherapie verordnet worden war: Dann zeig-
ten ihre Gehirne eine ähnlich symmetrische Ar-
beitsweise wie bei jüngeren Geschlechtsgenos-
sinnen während der hormonreichen Zyklusphase.
Der Effekt trat besonders stark bei Frauen auf, die
Östrogene einnahmen. Weitere Studien ergaben,
dass sich dabei insbesondere die Leistung der
rechten Hirnhälfte veränderte. Die Kommunika-
tion zwischen den beiden Hemisphären scheint
jedoch – im Gegensatz zu unserem Befund bei
jüngeren Frauen – im Alter hormonell verhält-
nismäßig unbeeinflusst zu bleiben.
Bereits in den 1990er Jahren fanden Hirnfor-
scher Hinweise darauf, dass mit zunehmendem
Alter Areale im rechten Scheitel- und Hinter-
In den Diskussion um psychologische Unterschiede zwischen den Ge-schlechtern und die jeweiligen Vorlieben von linker und rechter Hirnhälfte kursieren viele Mythen und Missverständnisse. Neuropsychologische Expe-rimente ergeben zwar häufig hemisphärisch ungleich verteilte Aktivität im Gehirn, so genannte Lateralisierungen: So scheint das rechte Frontalhirn stärker an emotionalen Reaktionen beteiligt zu sein als das linke, und der rechte Scheitellappen wird besonders beim Verarbeiten von Zahlen sowie räumlichen Informationen aktiv. Demgegenüber sitzen in der linken Hirn-hälfte die neuronalen Sprachzentren.
Messungen der Hirnaktivität mittels bildgebender Verfahren betrachten allerdings immer nur die »Spitze des Eisbergs« – das heißt, sie offenbaren jene Hirnregionen mit der stärksten Aktivität bei einer gegebenen Aufgabe. Das bedeutet keinesfalls, dass das übrige Gehirn schweigt. Rechte und linke Hemisphäre arbeiten vielmehr stets Hand in Hand und ergänzen einander. Von einer »emotional-ganzheitlichen« rechten Hirnhälfte im Gegensatz zur »logisch-analytischen« linken zu sprechen, geht also an der Realität vorbei.
Ähnliches gilt für Geschlechterdifferenzen auf psychologischer Ebene. In entsprechenden Subkategorien von Intelligenztest schneiden Männer statis-tisch gesehen zwar bei räumlich-konstruktiven Problemen eher etwas bes-ser ab als Frauen. Diese wiederum haben in sprachlichen Untertests häufig die Nase vorn. Solche Unterschiede fallen jedoch erstens gering aus – zwei beliebig ausgewählte Personen gleichen Geschlechts schneiden meist weit unterschiedlicher ab als im statistischen Vergleich von Mann und Frau. Zwei-tens lassen derartige Differenzen keinerlei Aussage über einzelne Menschen zu (siehe auch G&G 5/2009, S. 14). Die Tücke der Statistik besteht darin, dass wir ihre Ergebnisse allzu schnell pauschalisieren. (sa)
Lechts und rinks: Mythen ums Gehirn
MonAtliche heMMungAreale des linken Frontalhirns regen sich bei der Verarbeitung von sprache (rot). gleichzeitig werden die entsprechenden gebiete der rechten seite ge hemmt (gelb). Während männ liche gehirne diese hirnasymmetrie konstant zeigen, tritt sie bei Frauen nur während der Menstruation auf.
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8)
literAturtipplautenbacher, s. et al. (hg.): Gehirn und Geschlecht. neu-rowissenschaft des kleinen unterschieds zwischen frau und Mann. springer, heidel-berg 2007.Markus Hausmann, Onur Güntürkün und Stefan Lau- tenbacher stellen die Unter-schiede zwischen Männer- und Frauengehirnen vor.
originalquellen finden sie im internet unter:www.gehirn-und-geist.de/artikel/1001597
hauptslappen, die insbesondere visuelle Reize
verarbeiten, an Leistungsfähigkeit verlieren.
Als Kompensation könnte das Gehirn die Stra-
tegie entwickelt haben, bereits bei leichteren
kognitiven Problemen in stärkerem Maß über
den Balken Informationen auszutauschen, um
so beide Hirnhälften einsetzen zu können. Da-
durch lassen sich altersbedingte kognitive Defi-
zite recht gut ausgleichen.
Was bedeuten nun die hormonell bedingten
Veränderungen im Gehirn für den Alltag?
Bringt ein mehr oder weniger symmetrisch or-
ganisiertes Gehirn Vorteile für seinen Besitzer?
Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantwor-
ten, da beide Organisationsformen ihre Trümp-
fe ausspielen könnten: In einem asymmetrisch
organisierten Gehirn wirken benachbarte Hirn-
areale eng zusammen. Die Informationen kön-
nen daher auf kurzen Wegen untereinander
ausgetauscht werden – das Gehirn sollte da-
durch rascher arbeiten als ein eher symme-
trisch organisiertes Denkorgan. Dieses wiede-
rum dürfte störungsfreier funktionieren, da
beide Hirnhälften an der Problemlösung mit-
wirken, so dass die eine Hälfte ein potenzielles
Manko der anderen teilweise ausgleichen kann.
Mit anderen Worten: Für die Asymmetrie
spricht höhere Geschwindigkeit, für die Sym-
metrie eine geringere Fehleranfälligkeit. Wel-
che Strategie besser ist, hängt von der jewei-
ligen Situation ab.
Zu bedenken ist auch, dass unsere Tests kei-
neswegs typische Alltagsaufgaben wie Autofah-
ren, Einkaufen oder Briefeschreiben widerspie-
geln. Daher lassen sich ihre Ergebnisse auch
nicht so ohne Weiteres verallgemeinern! Ob
»weibliche« Gehirne je nach Hormon spiegel be-
stimmte Probleme besser oder schlechter mei-
stern, kann also niemand pauschal beantworten.
Sicher bleibt nur eins: Es verändert sich die Art
und Weise, wie sie die Aufgaben angehen. Ÿ
Markus Hausmann ist promovierter Biopsychologe und forscht an der Durham University in Großbri-tannien. Ulrike Bayer ist promovierte Biopsychologin und Mitarbeiterin in Hausmanns Arbeitsgruppe.
www.gehirnundgeist.de/audio
AZ "G&G" Symposium2009 210x143 03-2009.indd 1 27.05.2009 15:53:53 Uhr
66 G&G 9_2009
besser denken – PraxistiPPs von trainern und beratern
richtiG fördern
CoaChing statt naChhilfeEin neuer Ansatz der Trainer Alexander Christiani und Jürgen Hoffmann nutzt bewährte
Methoden der Erwachsenenbildung, um Kinder und Jugendliche in der Schule und bei den
Hausaufgaben zu unterstützen. Sie machen Eltern zu erfolgreichen Coachs ihrer Sprösslinge.
Von AlexAnder christiAni und JürGen hoffmAnn
Kinder sind die Zukunft unseres
Landes – ihre Ausbildung stellt daher
eine äußerst wichtige gesellschaftliche
Aufgabe dar. Doch steckt unser Schulsys
tem seit Jahren in der Krise, wie die Pisa
Studien und zuletzt die bundesweiten
Bildungsproteste gezeigt haben. Wo die
Politik versagt, sind die Eltern gefordert.
Deren Engagement ist inzwischen zum
entscheidenden Faktor für den schuli
schen Erfolg der meisten Kinder und Ju
gendlichen in Deutschland geworden.
Um die Chance ihrer Sprösslinge auf
eine viel versprechende berufliche Karri
ere zu vergrößern, geben Eltern hier zu
Lande jedes Jahr rund eine Milliarde Euro
für professionelle Nachhilfe aus. Häufig
ist dabei gar nicht die Versetzung akut ge
fährdet; den meisten Eltern geht es um
eine nachhaltige Verbesserung des Noten
durchschnitts.
Dabei besitzen Kinder eine angebore
ne Lernmotivation und eignen sich neues
Wissen und neue Fertigkeiten oft viel
schneller an als Erwachsene. Nur macht
der Schulalltag es ihnen oft schwer, dieses
Potenzial zu realisieren. Hier bietet un
sere Initiative »LIFE’S’COOL« eine Alter
native zum herkömmlichen Nach hilfe
unterricht. Das Trainingsprogramm gibt
den Eltern bewährte Lern und Motiva
tionsmethoden aus der Erwachsenenbil
dung an die Hand, damit sie ihren Kin
dern das vermitteln können, was in erster
Linie den Schulerfolg ausmacht: Freude
am Lernen und ein effektiver Gebrauch
der eigenen Lernbegabung.
1) Lernen Die richtige Lerntechnik verhilft zu
schnelleren Erfolgen, und diese fördern
die Freude am Lernen. Damit Eltern das
Lerntalent ihrer Kinder bewahren und
fördern können, sollten sie sich in einem
ersten Schritt die notwendigen Techni
ken am besten selbst aneignen. Dann
können sie im Familienalltag vormachen,
wie man Sachverhalte schnell und nach
haltig verinnerlicht.
Bewährt sind Merkwortsys teme, die
in kürzester Zeit ermöglichen, beispiels
weise die 50 Bundesstaaten der USA oder
die Opern von Richard Wagner auswen
dig zu lernen. Hierbei werden den Zahlen
Bilder zugeordnet, die sich mit ihnen
leicht assoziieren lassen: Die Eins wird
zum Leuchtturm, die Zwei zum Schwan,
die Drei zur Brille, die Vier zum Stuhl und
so fort (siehe G&G 6/2003, S. 86). Um sich
neue Fakten einzuprägen, werden diese
mit den Bildern in Verbindung gebracht.
Hierbei gilt: Nicht lange nachdenken,
sondern sich den Zusammenhang ein
prägen, der spontan vor dem inneren
Auge entstanden ist.
Angenommen, Sie möchten sich die
Opern Richard Wagners (ohne die bei
den Frühwerke) in der Reihenfolge der
Ent stehung merken. »Rienzi« steht
dann etwa auf dem Leuchtturm, »Der
fliegende Holländer« reitet auf dem
Rücken des Schwans, beim »Tannhäuser«
schmücken Tannen die Brille, »Lohen
grin« sitzt auf dem Stuhl und so weiter.
Erfolgreiche Lerntechniken fördern das
assoziative Denken, da sie Begriffe und
Bilder mit einander verknüpfen und da
mit beide Gehirnhälften gleichmäßiger
bean spruchen.
Auch so genannte Mind Maps (siehe
G&G 10/2006, S. 74) nutzen beide Gehirn
hälften, da sie Begriffsbeziehungen visu
alisieren. Ein zentrales Thema steht im
Mittelpunkt, als Ausgangspunkt für da
mit in Verbindung stehende Begriffe, die
in abzweigenden Haupt und Unterästen
Das Engagement der Eltern ist ein entscheidender Faktor für den Schulerfolg
www.gehirn-und-geist.de 67
Gehirn&Geist / AndreAs rzAdkowsky
»du schaffst das!«Kompetente förderung durch die Eltern kann teure Nachhilfekurse überflüssig machen. dazu gehören Lerntechniken, Motivationshilfen und die richtige ansprache.
eingefügt werden (siehe Grafik S. 68). So
entsteht ein Netz zusammenhängender
Informationen. Bereits Grundschulkinder
können ihren Unterrichtsstoff mit Hilfe
einfacher Mind Maps strukturieren, an
wenden und sich einprägen.
Zudem steigert ein schnelleres Lese
tempo den Lernerfolg von Kindern. Schon
in den ersten Klassen lässt es sich spiele
risch schrittweise erhöhen. Dabei geht
der Zeitgewinn keineswegs auf Kosten
des Textverständnisses. Im Gegenteil –
wer schneller liest, kann auch mehr be
halten. Für ein höheres Lesetempo gilt es
vor allem, Bremsen in der Körpermotorik
zu lösen. Statt mit dem Finger an der Zei
le entlangzufahren und das Geschrie
bene in Gedanken mitzusprechen, muss
man versuchen, möglichst viel Text mit
einem Blick zu erfassen und Wörter sowie
Sätze als Bilder wahrzunehmen (siehe
G&G 6/2005, S. 74). Eltern sollten mit ih
ren Kindern versuchen, jeden Tag die pro
Minute gelesene Textmenge um fünf
Wörter zu steigern.
2) Motivation Die Vermittlung effizienter Lerntechni
ken nutzt freilich wenig, wenn die Kinder
einfach keine Lust haben, zu lernen. Stän
68 G&G 9_2009
dige Ermahnungen (»Mach jetzt endlich
deine Hausaufgaben«) sind ebenso kon
traproduktiv wie gut gemeinte Beste
chungsversuche (»Wenn du jetzt die Vo
kabeln lernst, darfst du …«). Ein guter
Coach dagegen braucht seine Schützlinge
gar nicht immer anzutreiben, da diese
sich freiwillig anstrengen.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen
Eltern herausfinden, was ihren Nach
wuchs am ehesten motiviert. Und das
hängt wiederum damit zusammen, über
welchen Informationskanal die Kinder
am leichtesten lernen: auditiv, visuell,
kommunikativ oder motorisch (siehe
Kasten rechts).
Oft haben Eltern aber Schwierigkeiten,
dies zu bestimmen, da ihnen die nötige
Distanz fehlt; dann hat es sich bewährt,
Großeltern oder andere Verwandte mit
häufigem Kontakt zu den Kindern da
nach zu fragen. Deren Beobachtungen
wie »Marie singt und tanzt den ganzen
Tag« (motorisch), »David ist ein richtiger
Bücherwurm« (visuell), »Michael ist der
große Sandkastenorganisator« (kommu
nikativ) geben meist klare Hinweise auf
den Lerntyp des Kindes. Natürlich pfle
gen viele Menschen durchaus zwei oder
mehrere Lernstile, aber häufig dominiert
einer davon.
Danach geht es daran, die kindlichen
Hauptmotivatoren zu ermitteln. Grund
sätzlich hat jeder Mensch die Fähigkeit,
sich selbst zu motivieren – fast wie auf
Knopfdruck. Wir alle haben Denk und
Gefühlsgewohnheiten, die sich nutzen
lassen, um uns zu begeistern und anzu
treiben. Eltern können diese Motivatoren
gezielt ansprechen – beispielsweise bei
Kindern, die stark auf Herausforderungen
reagieren. Werden diese mit dem Satz
»Das schaffst du nie« konfrontiert, setzen
sie meist alles daran, das Gegenteil zu be
weisen. Andere orientieren sich an Vor
bildern, die etwas erreicht haben, was sie
selbst anstreben, etwa der beste Freund,
der ältere Bruder oder der Vater. Diese
stacheln den inneren Antrieb an, nach
dem Motto: »Was der kann, kann ich
auch!«
Wieder andere Kinder brauchen als
Ansporn die Dynamik einer Gruppe. Hier
lässt die Verpflichtung gegenüber dem
Team innere Widerstände überwinden
und treibt zu Höchstleistungen an. Die
unterschiedlichen Motivatoren korres
pon dieren oft mit einzelnen Lernstilen.
So dürfte das letztgenannte Beispiel dem
kommunikativen Lerntyp entsprechen.
Anhand eines eigens entwickelten Fra
genkatalogs, der unter www.lifescool.de
kostenlos abrufbar ist, können Eltern ein
ganz individuelles Motivationsrezept für
jedes ihrer Kinder erstellen. Das erleich
tert nicht nur die Bewältigung der schu
lischen Aufgaben, sondern schafft auch
eine gute Basis für ein ausgegliche nes Fa
milienleben, da häusliche Regeln leichter
eingehalten werden.
3) Kommunikation
Oft stoßen jedoch Vorschläge der Eltern
beim Kind auf Ablehnung, etwa wenn
LaNdKartE dEs dENKENsMind Maps helfen bereits Grundschulkindern, ein thema zu strukturieren und sich wichtige Zusammenhänge einzuprägen. hier ein von einem schüler angefertigtes Beispiel.
Blutkreislauf
Kinder kriegen
sehen
Riechen
fühlenPickel
liebe, Mitgefühl
Blut waschen
schmerzlustKälteWärme
nährstofftransport
immunsystemschutz vor Krankheiten
alkohol
Wirbelsäule
augen
nase
haut
Becken
Brustkorb
nachdenken
nervenzellen
sinne
Beugemuskel
streckmuskel
KReislaUflymphsystem
Blutkreislauf
nerven
sKelett
DER KÖRPER
oRganenieren
leber
herz
MUsKeln
gehiRn
68 G&G 9_2009
Wie lernt mein Kind?
DER auDitivE LERntyP nimmt lerninhalte und informationen bevorzugt über das gehör auf, auch etwa, indem er sich texte selbst laut vorliest. Diese Menschen kön-nen besonders gut mündliche aufgaben absolvieren und texte auswendig lernen, sind meist sehr eloquent und verfolgen gern gespräche, hören Vorträge oder auch Musik. Zum lernen brauchen sie aber eine ruhige Umgebung, nebengeräusche stö-ren die Konzentration.
DER visuELLE LERntyP begreift lerninhalte, indem er sich davon ganz wörtlich ge-nommen ein Bild macht. er nimmt informationen durch lesen und Beobachten auf, sucht nach Veranschaulichungen durch filme oder grafiken, achtet auf formen und farben. schriftliche aufgaben liegen ihm mehr, notizen sind für ihn unverzichtbare hilfsmittel, um informationen zu verarbeiten und zu behalten. Der visuelle lerntyp braucht eine geordnete und aufgeräumte lernumgebung, nicht das kreative Chaos.
DER KoMMuniKativE LERntyP benötigt zum effektiven lernen einen Partner. er sucht das gespräch und die Diskussion, um lerninhalte sprachlich zu erfassen, zu hinterfragen, zu erläutern. seine stärke ist die gesprächsrunde, die öffentliche Dis-kussion.
DER MotoRischE LERntyP muss sich in den lernprozess körperlich einbringen. er will Dinge anfassen und selbst ausprobieren. lernen löst bei ihm einen Bewegungs-drang aus; er unterstreicht Worte und Reden mit ausholender gestik. Wie der kom-munikative typ bevorzugt er gesellschaft beim lernen, und zwar aktive Partner, die wie er selbst informationen motorisch aufnehmen und verarbeiten.
dabei nicht der richtige Ton getroffen
wurde. Nur ein positiver Gesprächsstart
ermöglicht eine zielführende Kommuni
kation! Eltern müssen lernen, die Koope
ration ihres Nachwuchses zu gewinnen.
Hierfür sollten sie nicht ihre eigene Ab
sicht ins Zentrum der Ansprache stellen
(»Du sollst jetzt endlich die Hausaufga
ben machen!«), sondern sich überlegen,
mit welchen Worten sie am besten die ge
wünschte Reaktion der Kinder erreichen
können.
Ganz allgemein können Eltern mit
den richtigen Formulierungen erstaun
liche Veränderungen im Verhalten ihrer
Sprösslinge erzielen. Zum Beispiel: Statt
den bewegungslustigen Sohn zu ermah
nen, wenn er mal wieder Sonntag früh
morgens die Treppe hinuntergetrampelt
ist und dabei alle anderen aufgeweckt
hat, sollte man ihn fragen, wie es sich sei
ner Ansicht nach ermöglichen ließe, dass
der Rest der Familie am Wochenende aus
schlafen kann. So lassen sich ganz unter
schiedliche Konflikte innerhalb der Fami
lie klären und entschärfen, auch Streitig
keiten zwischen Geschwistern. Sogar das
leidige Problem der Hausaufgaben ist auf
diese Weise meist lösbar. Zum Beispiel,
indem die Eltern den Nachwuchs in die
Entscheidung einbinden, wann wichtige
Schulaufgaben zu erledigen sind – etwa
vor oder nach einem anstrengenden Fuß
ballspiel mit Freunden.
Kinder dürfen ruhig selbst die Erfah
rung machen, wann der Lernerfolg grö
ßer für sie ist. Eltern sollten Angebote
machen, Vorschläge unterbreiten, Alter
nativen aufzeigen, aber nicht einfach
diktatorisch bestimmen. Denn die Kin
der müssen selbst ausprobieren, was für
sie gut ist. Dann können sie auch selbst
ständig zur richtigen Einsicht gelangen,
wenn sich der Erfolg einmal nicht ein
stellt. Ÿ
Alexander Christiani ist Coach und Trainer, Jürgen Hoffmann Unternehmensberater. Beide sind Väter von jeweils drei Jungen, die ihre Schullaufbahn gerade abgeschlossen haben beziehungsweise kurz vor dem Ab-schluss stehen.
www.gehirn-und-geist.de
70 G&G 9_2009
auf sendung
SamStag, 15. auguStDeutschlands größter Gedächtnistest
Wie kann man lernen, Namen, Gesichter
oder Zahlen besser zu behalten? Die Sen-
dung präsentiert Tests des Lang- und
Kurzzeitgedächtnisses und stellt wissen-
schaftlich fundierte Methoden vor, um
die eigene Merkfähigkeit zu steigern.
NDR, 21.45 Uhr
Sonntag, 16. auguStPhilosophie der Gefühle (5/5)
Herzensbildung: Vom Wesen der Gefühle
Heutzutage »fühlt es überall«, sagt Ute
Frevert, Direktorin am Max-Planck-Ins-
titut für Bildungsforschung in Berlin. Im
Medienzeitalter habe jeder die Möglich-
keit, Emotionen effektvoll zu inszenie-
ren. Monika Maria Trost fragt nach: Gibt
es überhaupt noch »echte Gefühle«?
3sat, 9.15 Uhr
DienStag, 18. auguStMessies: Leben im Chaos
Die Sammelleidenschaft von »Messies«
kann extreme Ausmaße annehmen (sie-
he auch G&G 7-8/2009, S. 20). Anett
Wundrak und Birgit Mittwoch beglei-
teten zwanghafte Horter durch ihr häus-
liches Chaos und befragten Experten,
welche Ursachen diese psychische Stö-
rung haben kann.
MDR, 20.45 Uhr
mittwoch, 19. auguStJungs auf der Kippe
Jungen sind die neuen Sorgenkinder, die
Verlierer – vor allem auf dem Arbeits-
markt. Elf Prozent scheitern schon am
Schulabschluss. Die Dokumentation geht
den Ursachen dafür auf den Grund: Wird
das angeblich so starke Geschlecht heute
vernachlässigt?
Phoenix, 12.30 Uhr
Freitag, 21. auguStDem Schmerz auf der Spur
Allein 2008 stieg die Zahl der Schmerz-
patienten um 20 Prozent auf zehn Mil-
lionen. Neue Untersuchungen zeigen:
Chronischer Schmerz ist ein erlerntes
Verhalten, ein in Körper und Geist ab-
gespeichertes Programm. Der Film von
Antje Schmidt beleuchtet aktuelle Er-
kenntnisse der Schmerzforschung.
3sat, 10.15 Uhr
Heilung durch Hypnose –
Neue Erfolge einer alten Therapie
Hypnose kann Angst nehmen, Geburts-
schmerzen lindern und sogar bei Opera-
tionen helfen, und das ganz ohne me-
dienträchtigen Hokuspokus. Was passiert
dabei im Gehirn? Lässt sich der Mensch
einfach »umprogrammieren«, und wel-
che Gefahren drohen dabei?
3sat, 11 Uhr
Planet Wissen
Auf der Suche nach dem Glück
Die meisten Menschen wünschen sich
mehr Erfolg, mehr Geld, mehr Freunde.
Ihr Ziel: dem Glück näherzukommen.
Doch was macht uns überhaupt glück-
lich? Die Sendung stellt das »Lustzen-
trum« im Gehirn vor und spürt den viel-
fältigen Wirkungen des Botenstoffs Do-
pamin nach.
Bayerisches Fernsehen, 12.30 Uhr
Nachtcafé
Glaube und Religion – Alles reiner
Selbstbetrug?
Dass der Glaube sogar Berge versetzen
kann, weiß der Volksmund schon lange.
Doch inzwischen behaupten auch seriöse
Wissenschaftler, dass Religiosität beim
Überwinden von Krankheiten hilft. Gäste
der Sendung sind unter anderem der Im-
munologe Beda Stadler von der Uni-
versität Bern sowie Nikolaus
Schneider, Vorsitzender der
evangelischen Kirche im
Rheinland.
SWR, 22 Uhr
Sonntag, 23. auguStFuture Kids (1/10)
Bildung in der frühen Kindheit
Kinder sind unsere Zukunft – deshalb hat
die frühkindliche Bildung eine immer
größere Bedeutung. Der bayerische Bil-
dungsplan sieht sogar vor, Naturwissen-
schaften schon in Krippen und Kinder-
tagesstätten zu vermitteln. Auch Hirn-
und Entwicklungsforscher haben längst
erkannt: Kleinkinder sind keine »leeren
Blätter«, die man beschreiben kann, son-
dern entdecken die Welt aktiv.
Bayerisches Fernsehen, 9.35 Uhr
SamStag, 29. auguStIch verstehe, was du fühlst
Der preisgekrönte Film von Gunther
Franke schildert den Umgang mit alten
und verwirrten Menschen.
3sat, 13.15 Uhr
montag, 31. auguStSchreiende Seelen
Die Posttraumatische Belastungs-
störung (PTBS)
Wer Extremsituationen erleben musste,
hat oft noch lange Zeit darunter zu lei-
den. Der Film befasst sich mit der Ver-
breitung Posttraumatischer Belastungs-
störungen unter Bundeswehrsoldaten.
Zu Wort kommen Betroffene und ihre
Angehörigen, Experten und Vertreter des
Militärs.
3sat, 18 Uhr
DienStag, 1. SeptemberGrenzen der Zeit
Zeit wird höchst subjektiv empfunden:
Aus dem Blickwinkel einer Fliege agieren
Menschen wie in Zeitlupe; umgekehrt
muss der Mensch Hochgeschwindigkeits-
kameras einsetzen, um die Flugmanöver
des Insekts zu verstehen. Mit extremen
Wechseln von Tempo und Perspektive
gibt der Film unerwartete Einsichten in
die Welt jenseits unserer alltäglichen
Zeitwahrnehmung.
3sat, 10.15 Uhr
Themenabend
Auf Kosten der Gesundheit
Auch ökonomisch gesehen richten Krank-
heiten großen Schaden an: Je mehr Be-
handlungen finanziert werden müssen,
RadiotippsDienStag, 11. auguStZeig mir dein Gesicht und ich sage dir,
wer du bist!
Oft glauben wir schon auf den ersten
Blick zu wissen, ob wir jemanden sym-
pathisch finden oder nicht. Aber liegen
wir damit auch tatsächlich richtig?
Dieses Feature erklärt, wie sehr wir
unseren intuitiven Urteilen vertrauen
können.
Nordwestradio, 19.05 Uhr
Freistil
Von Lust und Frust des Kaufens
In der bunten Warenwelt gibt es ganz
unterschiedliche Typen von Käufern:
Die Bandbreite reicht von den Shop-
ping-Begeisterten über Gelegenheits-
käufer oder Schnäppchenjäger bis hin
zu den völligen Konsummuffeln. Eine
kleine Alltagspsychologie des Kaufens.
(Siehe auch den Artikel ab S. 14 in diesem
Heft.)
Deutschlandfunk, 20.05 Uhr
Sonntag, 23. auguStForschung aktuell
Von wegen Spatzenhirn
Volkart Wildermuth über kluge Vögel
und die Evolution der Intelligenz.
Deutschlandfunk, 16.30 Uhr
Freistil
Benehmen Sie sich!
Der »Benimm-Knigge« macht’s mög-
lich: Wie man mit guten Manieren durch
schlechte Zeiten kommt.
Deutschlandfunk, 20.05 Uhr
DienStag, 25. auguStNeurochirurgie – Der Schnitt in Hirn
und Rückenmark
Die Arbeit von Neurochirurgen besteht
nicht nur aus spektakulären Fällen: Rü-
ckenmarksverletzungen zählen genauso
dazu wie Missbildungen, Blutungen und
Gefäßanomalien. Eine Reportage aus
der Universitätsklinik Heidelberg.
Deutschlandfunk, 10.10 Uhr
DonnerStag, 27. auguStWissenswert
Stottern – wenn die Sprache hängt
Für Stotterer gibt es mittlerweile viel-
fältige Hilfs- und Behandlungsangebote.
Die »Kasseler Therapie« nutzt jetzt so-
gar Erkenntnisse der Hirnforschung: Da-
bei werden gezielt ganz bestimmte Are-
ale im Denkorgan stimuliert, die offen-
sichtlich für den normalen Redefluss
von Bedeutung sind.
hr2 Kultur, 8.30 Uhr
SamStag, 5. SeptemberGesundheitsgespräch
Spitzenmedizin direkt –
Psychoonkologie
Zwei Mediziner der Ludwig-Maximili-
ans-Universität München im Gespräch
über die psychischen Auswirkungen ei-
ner Krebsdiagnose und -therapie. (Siehe
auch das Spezial zum Thema ab S. 36 in
diesem Heft.)
Bayern2, 12.05 Uhr
72 G&G 9_2009
Termine
26. – 30. auguSt, brixen / italien37. Interdisziplinärer Herbst-
Seminar-Kongress für Sozialpädiatrie –
Entwicklung, Intervention, Prävention
Information: Deutsche Akademie für
Entwicklungsförderung und Gesundheit
des Kindes und Jugendlicher e. V.,
Heiglhofstr. 63, 81377 München
Telefon: +49 89 724968-0, Fax: -20
E-Mail: [email protected]
www.akademie-muenchen.de
9. September, KaiSerSlautern Podiumsdiskussion: Die Rolle der
Hirnforschung in der Entwicklungs-
und Lernpsychologie –
Zwischen Euphorie und Ablehnung
Eine Veranstaltung im Rahmen der
Initiative »Psychologie und Zukunftsfra-
gen«, Fruchthallstr. 6, 67653 Kaisers-
lautern, mit einem Eröffnungsvortrag
von Uta Frith, London
Beginn: 19.30 Uhr
Information: Dr. Claudia Steinbrink,
Telefon: +49 631 205-3441
E-Mail: [email protected]
www.sowi.uni-kl.de/wcms/dgps-podium.
html
11. – 15. September, Freiburg81. Verhaltenstherapiewoche:
Psychotherapeutische und psycho-
soziale Versorgung von Migranten
Information: Institut für Therapie-
forschung (IFT),
Ellen Andersson, Montsalvatstr. 14,
80804 München
Telefon: +49 89 360804-94, Fax: -98
E-Mail: [email protected]
www.ift.de
12. – 16. September, erFurtErfurter Psychotherapiewoche:
Anything goes? Möglichkeiten und
Grenzen (nicht nur) von Psychotherapie
Information: Organisationsbüro der
Erfurter Psychotherapiewoche,
Fischmarkt 5, 99084 Erfurt
Telefon: +49 361 64224-48, Fax: -49
E-Mail: [email protected]
www.psychotherapie-woche.de
16. – 19. September, Köln2. Deutscher Suchtkongress
Veranstaltungsort: Fachhochschule Köln,
Geisteswissenschaftliches Zentrum,
Mainzer Str. 5, 50678 Köln
Information: Thieme.congress,
Rüdigerstr. 14, 70469 Stuttgart
Telefon: +49 711 8931-588
E-Mail: [email protected]
www.suchtkongress09.de
18. – 20. September, marburgTagung: Befreiende Sozialarbeit –
Jugendliche zwischen Autonomie und
den Institutionen
Information: St.-Elisabeth-Verein e. V.,
Hermann-Jacobsohn-Weg 22,
35039 Marburg
Telefon: +49 6421 1808-0, Fax: -40
E-Mail: [email protected]
www.elisabeth-verein.de
12. oKtober, berlin Das optimierte Gehirn
Sieben führende Experten stellen ge-
meinsam mit Gehirn&Geist ein Memo-
randum zu den gesellschaftlichen Chan-
cen und Risiken des »Neuro-Enhance-
ment« vor.
Veranstaltungsort: Leibniz-Saal der
Berlin-Brandenburgischen Akademie der
Wissenschaften, Akademiegebäude am
Gendarmenmarkt, Marktgrafenstr. 38,
10117 Berlin
Beginn: 16.00 Uhr
Anmeldung: Europäische Akademie
GmbH, Friederike Wütscher
Telefon: +49 2641 973-311
E-Mail: [email protected]
www.ea-aw.de
15. – 18. oKtober, Kempten im allgäu Festival »Emotion and Meaning
in Music«
Grundlagen der Musikwahrnehmung
aus neurokognitiver und aus musika-
lischer Sicht
Kartenvorverkauf: AZ Service Center,
Bahnhofstr. 13, 87435 Kempten
Telefon: +49 831 206 430
Information: Zeitklänge e. V.,
Bichelackerstr. 9, 87480 Wengen
www.zeitklaenge.com
19. oKtober, FranKFurt a. m.Symposium »Kopf oder Bauch –
Zur Biologie der ökonomischen
Entscheidung«
Diskussion mit dem Bremer Hirnfor-
scher Gerhard Roth über die Selbst-
betrachtung des Geistes und neuro-
biologische Ansätze des philosophischen
Denkens
Veranstaltungsort: Aula der Goethe-
Universität, Campus Bockenheim,
Mertonstr. 17, 60325 Frankfurt a. M.
Beginn: 13.00 Uhr, voraussichtliches
Ende: 19.00 Uhr
desto schlechter für die Gemeinschaft.
Müssen wir an der Gesundheit sparen?
ARTE, ab 21 Uhr
DonnerStag, 3. SeptemberIrre im Krieg
Seit dem Ersten Weltkrieg bedienen sich
Militärs psychiatrischer Methoden. Da-
mals sollten »Kriegszitterer« mit Elektro-
schocks geheilt werden. Im Zweiten Welt-
krieg experimentierte die US-Army mit
Tranquilizern, Amphetaminen und ande-
ren Psychopharmaka. Ein Streifzug durch
100 Jahre »Macht und Missbrauch der
Militärpsychiatrie«.
3sat, 21 Uhr
Freitag, 4. SeptemberDie Hölle im Kopf – Leben mit Migräne
In Deutschland leiden rund zehn Millio-
nen Menschen an Migräne. Viele gehen
in ihrer Not lieber zum Apotheker als
zum Schmerztherapeuten. Mittlerweile
gibt es Medikamente, die sogar bei aku-
ten Migräneattacken helfen – wenn sie
richtig eingesetzt werden.
3sat, 10.15 Uhr
Dick durch Diät?
Warum es manchmal aussichtslos ist, ab-
nehmen zu wollen. Ein Film von Tilman
Jens und Bettina Oberhauser.
3sat, 10.45 Uhr
Kurzfristige Programmänderungen der
Sender sind möglich.
www.gehirn-und-geist.de 77
bücher und mehr exzellent solide durchwachsen mangelhaft
JonahLehrerWIE WIR ENTSCHEIDENDaserfolgreicheZusammenspielvonKopfundBauch[Piper,München2009,352S.,€19,95]
Wer lenkt den Wagen?Intuition und Ratio ergänzen sich beim Entscheiden
Honig-Mandel-, Schoko-Kirsch- oder
doch lieber ein Waldbeeren-Müsli?
Weil sich Jonah Lehrer immer wieder mit
der Wahl zwischen verschiedenen Früh-
stückszerealien quälte, entschloss er sich
dazu, ein Buch über Entscheidungen zu
schreiben.
Der 28-jährige Neurowissenschaftler
klärt jedoch nicht nur die Frage, wie unser
Gehirn mit einem Überangebot an Kon-
sumgütern fertig wird. Vielmehr verwebt
er neueste Erkenntnisse seines Fachs mit
Entscheidungen etwa von Piloten, Poker-
spielern oder Anlageberatern, bei denen
oft nur ein schmaler Grat zwischen Erfolg
und Misserfolg liegt.
Der Hirnforscher, der auch Literatur
und Theologie studierte und bei Nobel-
preisträger Eric Kandel promovierte, be-
ginnt seine Erkundungsreise bei Platon
(zirka 428 – 348 v. Chr.). Der menschliche
Geist sei wie ein Wagengespann, das unter
anderem von den Gefühlen gezogen wer-
de, meinte der griechische Philosoph. Der
Verstand müsse die Richtung vorgeben
und die widerspenstigen Emotionen im
Zaum halten.
Anhand vieler aktueller Beispiele aus
den Neurowissenschaften modernisiert
Lehrer nun Platons Metapher. Er zeigt,
dass das Bauchgefühl die Wahl zwischen
zwei Alternativen nicht notwendigerwei-
se negativ beeinflusst, sondern oft sogar
eine bessere Entscheidungsgrundlage bie-
tet. Der Verstand solle deshalb die Zügel
auch mal aus der Hand geben.
In seinem Resümee gibt Lehrer prak-
tische Tipps, wie wir das Zusammen-
spiel von Vernunft und Intuition opti-
mieren können und so zu besseren Ent-
scheidungen gelangen. Bei kniffligen
Fragen solle man sich demnach besser
auf das Bauchgefühl verlassen. Es lohne
sich aber, den Verstand einzuschalten,
wenn die Wahl vergleichsweise einfach
erscheint, weil nur wenige Größen einzu-
berechnen sind.
Auch wenn solche Aussagen nicht voll-
kommen neu sind: Dem Autor gelingt
das Kunststück, die Hirnforschung aus
dem Labor in den Alltag zu holen. In be-
kömmlichen Häppchen serviert er sei-
nen Lesern aktuelle Ergebnisse der jun-
gen Forschungsdisziplin und erzählt ne-
benbei auch noch viel beispielsweise
über moderne Brandbekämpfung und
die Hydraulik von Flugzeugen.
Im Plauderton erläutert Lehrer, welche
Rolle der präfrontale Kortex bei der Wahl
TIPP des
mOnATs
G&G – Bestsellerliste
1. Grön, O.: »ICH HabE EINEN TRaum« Was hat er zu bedeuten? [Heyne, münchen 2009, 271 S., € 19,95]2. Reichholf, J. H.: RabENSCHWaRzE INTEllIGENz Was wir von Krähen lernen kön-nen [Herbig, münchen 2009, 253 S., € 19,95]3. Havener, T.: ICH WEISS, WaS Du DENKST Das Geheimnis, Gedanken zu lesen [Rowohlt, Reinbek 2009, 189 S., € 12,–]4. Geisselhart, O.: NOTIzbuCH Im KOpf So merken Sie sich alles [Gräfe & unzer, münchen 2009, 191 S., mit audio-CD, € 19,90]5. ustorf, a.-E.: WIR KINDER DER KRIEGSKINDER Die Generation im Schatten des zweiten Weltkriegs [Herder, freiburg 2009, 189 S., € 19,95]6. prior, m.: mINImax-INTERvENTIONEN fünfzehn minimale Interventionen mit maximaler Wirkung [Carl auer, Heidelberg 2009, 8. auflage, 97 S., € 9,95]7. baker, R.: WENN plöTzlICH DIE aNGST KOmmT panikattacken verstehen und überwinden [brockhaus, Witten 2008, 192 S., € 9,95]8. Salcher, a.: DER vERlETzTE mENSCH [Ecowin, Salzburg 2009, 279 S., € 19,95]9. birkenbihl, v.: KOmmuNIKaTIONSTRaINING zwischenmenschliche beziehungen erfolgreich gestalten [mvG, münchen 2008, 29. auflage, 315 S., € 8,90]10. Hüther, G.: DIE maCHT DER INNEREN bIlDER Wie visionen das Gehirn, den menschen und die Welt verändern [vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2009, 5. auflage, 137 S., € 14,90]
Nach verkaufszahlen des buchgroßhändlers KNv in Stuttgartmehr Informationen und bestellmöglichkeiten: www.science-shop.de/bestsellerliste
des richtigen Möbelstücks spielt oder wie
dopaminerge Neurone ein Schlachtschiff
im Golfkrieg retteten. »Jonah Lehrer
macht Hirnforschung alltagstauglich«,
urteilt darum der bekannte Neurowissen-
schaftler Antonio Damasio auf der Rück-
seite des Einbands.
Es mag auch Wissenschaftler geben,
die manche Ausführungen von Lehrer als
Spekulation betrachten würden. Doch
der Autor vollbringt, was bei eifrig publi-
zierenden Forschern manchmal zu kurz
kommt: Er setzt die unzähligen Einzel-
befunde des interdisziplinären Wissen-
schaftszweigs zu einem Gesamtbild zu-
sammen – und schafft es noch dazu, alles
in ein Werk zu verpacken, das sich span-
nender liest als mancher Kriminalroman.
Sabrina Boll ist Diplompsychologin und promoviert am Institut für systemische Neurowissenschaften des Universitätsklini-kums Hamburg-Eppendorf.
78 G&G 9_2009
StephanSchleim,TadeMathiasSpranger,HenrikWalter(Hg.)vON DER NEuROETHIK zum NEuRO-RECHT? [Vandenhoek&Ruprecht,Göttingen2009,263S.,€16,90]
revolution – oder fauler Zauber?Die Hirnforschung und ihre Folgen
Die Fallhöhe könnte kaum größer
sein: Für die einen revolutionieren
die Erkenntnisse der Neurowissen-
schaften unser Menschenbild und die
Gesellschaft, da sie das Zuschreiben von
Verantwortung und Schuld am eigenen
Tun als naiven Irrtum entlarven. Für die
anderen ist das alles nur ein fauler Zau-
ber – ein von den Medien und einigen
Hirnforschern inszeniertes Tamtam, das
die wissenschaftlichen Fakten in keiner
Weise rechtfertigen. Wer hat nun Recht?
Eine Tagung in Bonn ging 2007 dieser
Frage nach. Neuroforscher, Psychologen,
Philosophen und Juristen tauschten da-
bei ihre Argumente aus: über den neuro-
nalen Determinismus (»Ist das Verhalten
eines Menschen aus Hirnpozessen ableit-
bar?«), über die gerichtliche Verwertbar-
keit von Hirnscans (»Sind Straftäter mit
verminderter Frontalhirnaktivität nur
bedingt schuldfähig?«) sowie über die
Willensfreiheit an und für sich. Ein wich-
tiger Beitrag zum interdisziplinären Aus-
tausch über neuroethische Fragen.
Dieser Band versammelt nun die zehn
wichtigsten Diskussionsbeiträge jener
Veranstaltung. Die teils namhaften, wenn
auch ausschließlich deutschsprachigen
Autoren, darunter der Gedächtnisfor-
scher Hans J. Markowitsch und der Philo-
soph Dieter Birbaumer, stoßen im Gro-
ßen und Ganzen in das gleiche Horn: Die
weit reichenden Schlussfolgerungen be-
stimmter Hirnforscher (Gerhard Roth
und Wolfgang Singer an vorderster Front)
schaufenster – weitere neuerscheinunGen
Kinder und Familie• Knauff, C.: »ICH bIN EINE GuTE muTTER« Warum es Ihrem Kind besser geht,
wenn Sie nicht immer perfekt sind [Campus, frankfurt a. m. 2009, 227 S., € 17,90]• Ricking, H., Schulze, G., Wittrock, m.: SCHulabSENTISmuS uND DROp-OuT
Erscheinungsformen – Erklärungsansätze – Intervention [uTb, Stuttgart 2009, 200 S., € 16,90]
• Schaller, C.: ElTERN uND KIND – EIN STaRKES TEam So schaffen Sie die besten voraussetzungen für Schulerfolg [Kösel, münchen 2009, 208 S., € 14,95]
• Singer, K.: DIE SCHulKaTaSTROpHE Schüler brauchen lernfreude statt furcht, zwang und auslese [beltz, Weinheim 2009, 296 S., € 16,95]
HirnForscHung und PHilosoPHie• Grabe, S., pessler, O., Kästle, m., Kienemann-zaradic, u.: HIRNfORSCHuNG 3
Doping für die grauen zellen (2 audio-CDs) [frankfurter allgemeine zeitung, frankfurt a. m. 2009, zirka 120 minuten, € 19,90]
• Kornhuber, H.H.: fREIHEIT – fORSCHuNG – GEHIRN – RElIGION Wege durch dichtes Gelände [lit, münster 2009, 72 S., € 19,90]
• Schöne-Seifert, b., ach, J. S., Opolka, u., Talbot, D. (Hg.): NEuRO-ENHaNCEmENT Ethik vor neuen Herausforderungen [mentis, paderborn 2009, 367 S., € 39,80]
• Sloterdijk, p.: Du muSST DEIN lEbEN ÄNDERN Über Religion, artistik und an-thropotechnik [Suhrkamp, frankfurt a. m. 2009, 714 S., € 24,80]
PsycHologie und gesellscHaFt• levitin, D. J.: DER muSIK-INSTINKT Die Wissenschaft einer menschlichen leiden-
schaft [Spektrum akademischer verlag, Heidelberg 2009, 432 S., € 26,95]• molcho, S., Hennemann, p.: umaRmE mICH, abER RÜHR mICH NICHT aN
Die Körpersprache der beziehungen – von Nähe und Distanz [ariston, münchen 2009, 192 S., € 19,95]
• Schmid, W.: aNDERS DENKEN – aRbEIT am GlÜCK lebenskunst und Älterwerden [Hoffmann und Campe, Hamburg 2009, 57 minuten, € 12,95]
medizin und PsycHotHeraPie• batthyany, D., pritz, a.: RauSCH OHNE DROGEN Substanzungebundene Süchte
[Springer, Wien 2009, 369 S., € 49,95]• bohne, a.: TRICHOTIllOmaNIE [Hogrefe, Göttingen 2009, 90 S., € 19,95]• paulitsch, K.: GRuNDlaGEN DER ICD-DIaGNOSTIK
[facultas, Wien 2009, 320 S., € 24,90]• Schaade, G.: DEmENz Therapeutische behandlungsansätze für alle Stadien der
Erkrankung [Springer, Heidelberg 2009, 140 S., € 39,95]
ratgeber und lebensHilFe• Gaschke, S.: KlICK Strategien gegen die digitale verdummung
[Herder, freiburg 2009, 199 S., € 19,95]• Khaschei, K.: SCHON WIEDER mONTaG 50 Ideen, mit denen Sie den Jobfrust
überwinden [Campus, frankfurt a. m. 2009, 192 S., € 14,90]• Slater, l.: ERWaCHSENE bRauCHEN mÄRCHEN
magische Geschichten, die helfen, Konflikte und alltagsängste zu überwinden [beltz, Weinheim 2009, 212 S., € 17,95]
Sam GoslingSNOOp
What Your Stuff Says about You[basic books, New York 2009, 272 S., € 12,99]
meIn lIeblIngsbuchLektüretipps von klugen Köpfen
»snoop« ist englisch und bedeutet »herumschnüffeln« – und genau darum geht es in diesem buch: Wer erstmals die Wohnung eines neuen bekannten betritt, begutachtet gerne mal bücher und CDs oder wirft gar einen verstohlenen blick ins Schlafzimmer. aber welche Einrichtungsdetails sagen tatsächlich etwas über den bewohner aus? Worauf gründet unser urteil über die persönlichkeit des Gastge-bers? und was davon trifft tatsächlich zu? Solche fragen beantwortet der psycho-loge Sam Gosling von der university of Texas in austin in seinem ersten buch und bildet den leser dabei – spielerisch und mitreißend – zum profiler aus: Er lernt, die persönlichkeit eines unbekannten anhand von dessen besitztümern und vorlieben einzuschätzen. Hinweise geben Schlaf- und arbeitszimmer, CD-Sammlung, bücher-regal und Homepage – Spuren, die wir in unserer umwelt hinterlassen. Die aktu-elle persönlichkeitsforschung präsentiert der preisgekrönte psychologe in leicht verständlichem Englisch. Schade, dass es nichts vergleichbares auf Deutsch gibt.
bORIS EGlOff ist Professor für Persönlichkeitspsychologie und diagnostik an der universität Mainz.
gingen von unzulässigen Voraussetzun-
gen aus. Weder könne man anhand neu-
ronaler Parameter das Verhalten eines
Menschen vorhersagen noch Lügner ent-
tarnen. So weit sei die Hirnforschung
noch lange nicht, und ob es jemals dazu
komme, bleibe ungewiss. Zu vielschichtig
erscheine das Verhältnis von Gehirn und
Verhalten.
Letztlich rührt das Ganze an den Un-
terschied zwischen deskriptiver Wissen-
schaft und normativer Gesellschaftsord-
nung, wie etwa der Strafrechtler Günther
Jakobs in seinem Beitrag darlegt. Soll hei-
ßen: Begriffe wie »Störung« oder »Schuld«
haben in erster Linie ordnende Funktion –
sie sind aber nicht naturgegeben.
So existiert, bei aller fachlichen Exper-
tise, schlichtweg kein objektives Kriteri-
um dafür, wann ein Mensch »psychisch
krank« oder »schuldunfähig« ist. Solche
Kategorien müssen somit als das akzep-
tiert werden, was sie sind: gesellschaft-
liche Konstruktionen.
Der Sammelband bringt den Leser auf
den aktuellen Stand der Diskussion – eine
gute Grundlage zum Beispiel für Uni-
versitätsseminare über Neuroethik. Auf
Grund seiner nüchternen bis akade-
misch-spröden Sprache jedoch eher von
Insidern (oder solchen, die es werden wol-
len) zu goutieren.
Steve Ayan ist Diplompsychologe und G&G-Redakteur.
Mit
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l. G
en. v
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ulk
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DGSL-LernLust-Kongress 23. bis 25. Oktober 2009 Hotel Sonnenhügel, Bad Kissingen
"Spielend" lernen mit Methodenvielfalt heißt es auch in diesem Jahr für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des DGSL-LernLust-Kongresses. Genießen Sie mit uns:
- ca. 30 interessante Workshops, - viele Impulse für die Unterrichts- und Weiterbildungspraxis, - den Kontakt zu alten Bekannten und neuen Kollegen,- und natürlich die unnachahmliche Atmosphäre unserer Veranstaltungen.
Der DGSL-LernLust-Kongress – ein Muss für alle, die nach dem Motto „Freude am Lernen “ arbeiten.
Ausführliche Informationen finden Sie unter http://www.dgsl.de. DGSL gem. e.V. Telefon 08124 444111 Poigenberger Str. 1 Telefax 08124 444112 85669 Pastetten E-Mail [email protected]
80 G&G 9_2009
Oh Schreck – auf der Bank, wo wir im-
mer Eis essen, sitzt schon jemand!
Für Coline ist ein solcher Routinebruch
eine Katastrophe, denn sie hat das »As-
perger-Syndrom«, eine Sonderform von
Autismus. Die fiktive Tagebuchschreibe-
rin schildert, wie sie ihre Grundschulzeit,
Pubertät und Berufswahl erlebt hat.
Autorin Nicole Schuster, die selbst an
Asperger leidet, beschreibt anschaulich,
warum autistische Menschen unge-
schriebene Gesetze im alltäglichen Mit-
einander erst mühsam erlernen müssen
wie die Grammatik einer Fremdsprache.
Nach jedem Eintrag erklärt die Psycholo-
gin Melanie Matzies die gesellschaft-
lichen Gepflogenheiten genauer – etwa,
dass man sich für ein Geschenk sogar
dann bedankt, wenn es einem nicht be-
sonders gefällt.
Die Autorinnen richten sich auch an
Kinder mit Asperger-Syndrom. Doch
dazu sind einige Tagebucheinträge et-
was zu lang geraten, und sie thematisie-
ren oft zu viele Probleme auf einmal. Au-
ßerdem erwecken sie zuweilen den Ein-
druck, die Betroffenen seien dümmer
oder tollpatschiger als andere Kinder.
Aber vieles, was Coline erlebt, erfahren
Gleichaltrige ähnlich – nur quält es sie
weniger, oder sie passen sich klagloser
an. Für einen Lehrer oder Betreuer, der
mit autistischen Kindern zu tun hat, ist
das Buch jedoch eine große Hilfe.
Cordula Kienle ist Studienrätin und hat selbst schon autistische Kinder unterrichtet.
MelanieMatzies,NicoleSchusterCOlINES WElT HaT TauSEND RÄTSElAlltags-undLerngeschichtenfürKinderundJugendlichemitAsperger-Syndrom[Kohlhammer,Stuttgart2009,208S.,€24,80]
tagebuCH einer autiStinEinblicke in die Welt von Kindern mit Asperger-Syndrom
1. Kaufsucht …a) wurde schon vor rund 100 Jahren beschrieben.b) kennt man seit 1982 als klinisches Störungsbild.c) gibt es erst seit der Entwicklung des Internets.
2. eine reihe von Hirnarealen, die an der neuronalen repräsentation des selbst beteiligt sind, fassen Forscher unter dem Kürzel cms zusammen. es steht für …a) Coherence management Systemb) Cerebral mediators of the Selfc) Cortical midline Structures
3. Wie viel zeit nehmen sich Ärzte in deutschland durchschnittlich, um einem Patienten mitzuteilen, dass er an Krebs erkrankt ist?a) 8 minutenb) 11 minutenc) 19 minuten
4. Was hat der anatom Herophil von chalcedon (330 – 250 v. chr.) nicht entdeckt?a) die Netzhautb) den Hippocampusc) getrennte Nerven für Sensorik und motorik
5. Wie verändert sich das gehirn von Frauen nach den Wechseljahren?a) Es arbeitet »männlicher«.b) Es arbeitet »weiblicher«.c) Es verändert sich überhaupt nicht.
Hätten sie’s gewusst?Die antworten auf die folgenden fragen stehen in der aktuellen ausga-be von gehirn&geist. Wenn Sie die richtigen lösungen (zum beispiel 1a, 2b, 3c, ...) finden, schicken Sie diese bitte mit dem betreff »September« per E-mail an: [email protected]
unter allen korrekten zuschriften verlosen wir drei Exemplare von unserem tipp des monats:
JonahLehrerWIE WIR ENTSCHEIDENDas erfolgreiche zusammenspiel von Kopf und bauch[piper, münchen 2009, 352 S., € 19,95]
alle Teilnehmer des Jahres 2009 haben außerdem die Chance, ein g&g-abonnement für 2010 zu gewin-nen. machen Sie mit! Einsendeschluss ist der 15. September 2009. Die auflö-sung finden Sie in g&g 11/2009.
KOPfnussdAs g&g-gewInnsPIel
auflösung der Kopfnuss 6/2009: 1c, 2b, 3c, 4b, 5afür die richtige lösung der Kopfnuss 5/2009 geht jeweils eine ausgabe von »Denken hilft zwar, nützt aber nichts« an die drei Gewinner: Eva aich (Essen), Caroline Ott (Würzburg), Dr. Richard Teichner (Dresden).
für die korrekten antwortenzur Kopfnuss 6/2009 erhalten jeweils einmal »Die Welt der psychotherapie«: Sarah bleisinger (Erlangen), Dr. alexander Tewes (lüneburg), Dominik H. zimmermann (aschaffenburg)
www.gehirn-und-geist.de
Anlass zu diesem Buch war für Autor
Jens-Uwe Martens ein »Erweckungs-
erlebnis«: Der Diplompsychologe ärgerte
sich wie so oft darüber, dass das Spiel-
zeug seiner Kinder noch in der Garagen-
einfahrt lag. Doch diesmal brachte ihn
ein Nachbar mit einer beiläufigen Äuße-
rung dazu, die verstreuten Spielsachen
als Ausdruck der unbeschwerten Zeit zu
betrachten, die er mit dem eigenen Nach-
wuchs genießen könne.
Zu einem solchen Perspektivwechsel
möchte der Autor nun auch anderen
Menschen verhelfen, indem er sie dazu
anleitet, ihre Einstellungen sich selbst
und ihrem Leben gegenüber sorgfältig zu
analysieren und gegebenenfalls zu verän-
dern. Außerdem richtet er sich an Studie-
rende der Psychologie und an Trainer so-
wie Führungskräfte, welche die Einstel-
lung anderer Menschen beeinflussen
wollen.
Im ersten Teil stellt Martens anschau-
lich dar, was Einstellungen sind und wie
sie unser Leben bestimmen. Neben zahl-
reichen Zitaten untermalen Geschichten
und Anekdoten die graue Theorie. Im
weiteren Verlauf erläutert er verwandte
Konstrukte wie Ich-Stärke, Glück, Visio-
nen oder die Bedeutung des Selbstbilds.
Der Bezug zum Thema Einstellungen
wird dabei allerdings nicht immer deut-
lich, und Empfehlungen zur weiterfüh-
renden Lektüre fehlen ebenso wie man-
che Quellenangabe – zum Beispiel zu je-
nen Untersuchungen, die gezeigt haben
sollen, dass die rechte, mit dem Unbe-
Jens-UweMartensEINSTElluNGEN ERKENNEN, bEEINfluSSEN uND NaCHHalTIG vERÄNDERNVonderKunst,dasLebenaktivzugestalten[Kohlhammer,Stuttgart2009,178S.,€22,–]
iCH Will MiCH ändern!Anleitung zum Perspektivwechsel
wussten eng verbundene Gehirnhälfte
der linken, vernunftorientierten Hälfte
bei komplexen Entscheidungen überle-
gen ist.
Erst im letzten Drittel kommt der Psy-
chologe dann »zum Kern der Überle-
gungen«: Wie lassen sich Einstellungen
verändern? Anhand von 21 Regeln legt er
dar, was dabei zu beachten ist. Zum Bei-
spiel, warum man dazu den Verstand und
die Gefühle ansprechen sollte und wel-
che Rolle Belohnungen, Gewohnheiten
und der Freundeskreis spielen. Schade
nur, dass der Autor oft nicht zwischen
solchen Lesern unterscheidet, die sich
selbst ändern möchten, und jenen, die
Einstellungen bei anderen beeinflussen
wollen.
Dass Martens keine Geheimtipps ge-
ben kann, ist ihm nicht vorzuwerfen – im
Gegenteil, es spricht für seine Seriosität.
Wegen der Vielzahl an Regeln bleibt für
jede einzelne aber oft nur eine knappe
Seite und somit kein Raum für konkrete
Anweisungen oder Übungen. Und wie
lassen sich überhaupt die passenden
Tipps finden und auf die eigene Situation
übertragen?
Fazit: Für Studierende, die einen wis-
senschaftlichen Einstieg in das Thema
suchen, bleibt das Buch zu oberflächlich.
Und wer konkrete Methoden sucht, mit
denen er seinen Mitmenschen zum Bei-
spiel in Sachen Gesundheitsvorsorge auf
die Sprünge helfen kann, wird hier eben-
falls nicht fündig. Stattdessen fordert der
Autor dazu auf, zunächst die eigenen Ein-
stellungen ins Visier zu nehmen und die
dabei gewonnenen Erkenntnisse auf die
Arbeit mit anderen zu übertragen.
Geeignet ist das Buch für Menschen,
die aktiv an sich arbeiten möchten. Als
Leitfaden taugt es aber nur bedingt, denn
der Leser kommt nicht umhin, sich selbst-
ständig zu analysieren und eigene Strate-
gien zu entwickeln. Wie bei Büchern zur
Raucherentwöhnung hängt der langfris-
tige Erfolg wohl auch hier hauptsächlich
davon ab, wie groß der eigene Leidens-
druck tatsächlich ist.
Andrea Retzbach ist Diplompsychologin und promoviert an der Universität Koblenz-Landau.
82 G&G 9_2009
kurz und BündiG
martin Hautzinger, paul pauli
pSYCHOTHERapEuTISCHE mETHODEN (Enzyklopädie der psychologie, band 2)[Hogrefe, Göttingen 2009, 917 S., € 169,–]
Der neue band in der Reihe »Enzyklopädie der psychologie« liefert die bislang umfangreichste wissenschaft-liche bestandsaufnahme der gängigen psychotherapiemethoden. Die Titel der beiträge namhafter fachvertre-ter füllen allein 14 eng bedruckte Seiten des Inhaltsverzeichnisses. Der Schwerpunkt liegt auf kognitiv-verhal-tenstherapeutischen methoden, und jenseits der Therapieschulen ergänzen Themen wie Krisenintervention, Konfliktmediation, Kommunikationstraining und Gruppentherapie den band. als anleitung für praktiker ist das Werk zu unhandlich und zu wissenschaftlich. für das Regal eines Therapieforschers ist es jedoch ein muss.
Christian Hesse
DaS KlEINE EINmalEINS DES KlaREN DENKENS22 Denkwerkzeuge für ein besseres leben[C.H.beck, münchen 2009, 288 S., € 14,95]
Klar denken können – wer wollte das nicht! Der Stuttgarter mathematikprofessor Christian Hesse verspricht uns dafür einen kompakten Werkzeugkasten. Er führt 22 grundlegende Denkprinzipien auf, darunter die Suche nach analogien, das verallgemeinern oder das zergliedern in Teilprobleme, und garniert sie mit vielen anek-doten und bonmots aus der Geistesgeschichte. Doch statt praktischer Tipps enthält der band vor allem eins: viel mathematik. für leser mit formel-phobie ein Graus und für die meisten anderen auch kein Schmöker für müßige Nachmittage, sondern ein arbeitsbuch zum mittüfteln.
Wolfgang Seidel
EmOTIONSpSYCHOlOGIE Im KRaNKENHauSEin leitfaden zur Überlebenskunst für Ärzte, pflegende und patienten[Spektrum akademischer verlag, Heidelberg 2009, 292 S., € 19,95]
Der Glaube an die Wirksamkeit einer Heilmethode ist ein entscheidender faktor für die so genannte Com- pliance – die Therapietreue des patienten. Nur wenn dieser seinem arzt vertraut und sich verstanden fühlt, kann ein gemeinsames arbeitsbündnis entstehen. Chirurg Wolfgang Seidel, ehemaliger Direktor des lehrkran-kenhauses an der universität Tübingen, erläutert anhand von fallbeispielen die wichtigsten Emotions- und motivationstheorien für die arbeit in einer Klinik. mit viel verständnis für beide Seiten versucht er Wissen zu vermitteln, das die Kommunikation zwischen arzt, patient und pflegepersonal fördert. Ein leitfaden ohne fachsimpelei für alle, die im Krankenhaus arbeiten.
Judith Nestler, lutz Goldbeck
SOzIalE KOmpETENz Training für lernbehinderte Jugendliche (SOKO)[beltz pvu, Weinheim 2009, 118 S., € 39,95]
Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in ulm hat das bisher einzige deutschsprachige Training für sozial auffällige lernbehinderte Jugendliche entwickelt. pädagogen und Therapeuten in förderschulklassen und Jugendhilfe finden darin solides Hintergrundwissen, eine detaillierte beschreibung von acht Sitzungen und praktische arbeitsmaterialien auf einer beigelegten CD-ROm. lobenswert sind die klare Gliederung sowie ein Kapitel, das eine Studie zur Wirksamkeit von »SOKO« im internationalen vergleich erörtert.
www.gehirn-und-geist.de
Der berufliche Alltag des amerikani-
schen Hirnforschers Wilder Penfield
(1891 – 1976) dürfte auf die meisten Men-
schen schockierend gewirkt haben. In den
1930er Jahren sägte der Neurochirurg die
Schädel von rund 520 Patienten auf und
versetzte ihren grauen Zellen elektrische
Stromstöße. Die Betroffenen waren wäh-
renddessen bei vollem Bewusstsein –
Penfield sprach und scherzte sogar mit
ihnen. Weil das Gehirn selbst schmerz-
unempfindlich ist, genügte für die Proze-
dur eine örtliche Betäubung. Sinn und
Zweck des Unterfangens: Penfield suchte
bei seinen Patienten nach Anfallsherden,
die ihre Epilepsie verur sachten, um die
jeweilige Region schließlich operativ zu
entfernen.
Der Ruhm des Chirurgen beruht je-
doch nicht auf seiner medizinischen Heil-
kunst, sondern darauf, was er nebenbei
herausfand: etwa dass die Menschen ein
Kribbeln oder Kitzeln in den Armen oder
Beinen spürten, wenn er bestimmte Stel-
len im Gehirn elektrisch reizte. Nach und
nach erstellte Penfield eine Hirnkarte,
auf der sich der gesamte Körper abbilden
ließ – mit überproportional großen Are-
alen für Fingerspitzen und Lippen.
Diese Arbeit war so bahnbrechend,
dass sie heute in kaum einem Band zur
Hirnforschung fehlt. Nun versuchen die
amerikanische Sachbuchautorin Sandra
Blakeslee und ihr Sohn Matthew, ein Wis-
senschaftsjournalist, ein ganzes Buch mit
SandraundMatthewBlakesleeDER GEIST Im KöRpERDasIchundseinRaum[SpektrumAkademischerVerlag,Heidelberg2009,341S.,€24,95]
neurobiologiSCHeS allerleiNichts Neues zum Thema Körper und Geist
diesem Thema zu füllen. Aber gar so viel
geben Penfields Karten nicht her. Die
Blakeslees holen also weiter aus – sie
möchten mittels der Karten illustrieren,
»wie Körper und Geist ineinandergreifen,
um unser körperliches, fühlendes Selbst
zu schaffen«.
Doch was sie als neue Erkenntnisse prä-
sentieren, ist nur eine Mischung aus Alt-
be kanntem: neurobiologisches Allerlei,
einige Krankheitsbilder und psychologi-
sche Experimente. Wer also nicht blutiger
Neuro-Novize ist, trifft auf die üblichen
Verdächtigen, darunter den Hirnforscher
Vila yanur Ramachandran, der den so ge-
nannten Neglect – die eingeschränk te
Wahrnehmung einer Raumseite bei be-
stimmten Hirnschäden – beschrieb.
Damit die Kost leicht verdaulich ist,
werden die Seiten gefüllt mit Beispielen
aus dem Alltag und dem Erfahrungs-
schatz von Therapeuten, Hausfrauen und
Talkshow-Ikonen. Zum Beispiel erfährt
der Leser, wie es der Moderatorin Oprah
Winfrey gelang, mit Hilfe von strenger
Disziplin und Aerobic-Kursen abzuspe-
cken. So aufgekratzt und aufmerksam-
keitsheischend, wie das Buch daher-
kommt, wirkt es wie das gedruckte Pen-
dant zu einer bunten Talkshow im Nach-
mittagsprogramm, die sich auf wissen-
schaftliches Terrain verirrt hat.
Die Schicksale wechseln so oft wie das
TV-Programm, und nichts sagende Info-
boxen und Tipps sorgen für weitere Zer-
streuung – zum Beispiel die Empfehlung,
mehr barfuß zu laufen, weil das angeblich
so gesund ist. Der Klappentext verspricht:
Dieses Buch werde den Leser lehren, »an-
ders zu denken«. Hoffentlich nicht.
Olaf Schmidt ist promovierter Biologe und arbeitet als freier Journalist in Essen.
alle rezensierten bücher, cd-roms und dVds können sie im science-sHoP bestellen
Direkt unter: www.science-shop.deoder per E-mail: [email protected]: 06221 9126-841fax: 06221 9126-869
84 G&G 9_2009
ImPressum
Herausgeber: dr. habil. reinhard BreuerChefredakteur: dr. Carsten könneker (verantwortlich)artdirector: karsten kramarczikredaktion: dr. Hartwig Hanser (Chef vom dienst), dipl.-Psych. steve Ayan (textchef), dr. Andreas Jahn (online-koordinator), dr. katja Gaschler, dipl.-Psych. Christiane Gelitz, dipl.-theol. rabea rentschler freie Mitarbeit: Joachim Marschall Schlussredaktion: Christina Meyberg (ltg.), sigrid spies, katharina werlebildredaktion: Alice krüßmann (ltg.), Anke lingg, Gabriela rabelayout: karsten kramarczikredaktionsassistenz: Anja Albat-nollauredaktionsanschrift: Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg tel.: 06221 9126-776, fax: 06221 9126-779 e-Mail: [email protected] beirat: Prof. dr. Manfred Cierpka, institut für Psychosomatische koopera-tionsforschung und familientherapie, universität Heidelberg; Prof. dr. Angela d. friederici, Max-Planck-institut für neuro-psychologische forschung, leipzig; Prof. dr. Jürgen Margraf, Abteilung für klinische Psychologie und Psychotherapie, universität Basel; Prof. dr. Michael Pauen, institut für Philosophie, universität Magdeburg; Prof. dr. frank rösler, fachbereich Psychologie, Philipps-universität Marburg; Prof. dr. Gerhard roth, institut für Hirnforschung, universität Bremen; Prof. dr. Henning scheich, leibniz-institut für neurobiologie, Magdeburg; Prof. dr. wolf singer, Max-Planck-institut für Hirnforschung, frankfurt/Main; Prof. dr. elsbeth stern, institut für lehr- und lernforschung, etH ZürichHerstellung: natalie schäfer, tel.: 06221 9126-733Marketing: Annette Baumbusch (ltg.), tel.: 06221 9126-741, e-Mail: [email protected]: Anke walter (ltg.), tel.: 06221 9126-744verlag: spektrum der wissenschaft verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Hausanschrift: slevogtstraße 3–5, 69126 Heidelberg, tel.: 06221 9126-600, fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HrB 338114verlagsleiter: dr. Carsten könneker, richard Zinken (online)geschäftsleitung: Markus Bossle, thomas Bleckleser- und bestellservice: tel.: 06221 9126-743, e-Mail: [email protected] und abonnementsverwaltung: spektrum der wissenschaft verlagsgesellschaft mbH, c/o Zenit Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, 70523 stuttgart, tel.: 0711 7252-192, fax: 0711 7252-366, e-Mail: [email protected], vertretungsberechtigter: uwe Bronnbezugspreise: einzelheft: € 7,90, sfr. 15,40, Jahresabonnement inland (10 Ausgaben): € 68,–, Jahresabonnement Ausland: € 73,–, Jahres abonnement studenten inland (gegen nachweis): € 55,–, Jahres abonnement studenten Ausland (gegen nachweis): € 60,–. Zahlung sofort nach rechnungserhalt. Postbank stuttgart, BlZ 600 100 70, konto 22 706 708. die Mitglieder der dGPPn, des vBio, der GnP, der dGnC, der GfG, der dGPs, der dPG, des dPtv, des BdP, der Gkev, der dGPt, der dGsl, der dGkJP, der turm der sinne gGmbH sowie von Mensa in deutschland erhalten die Zeitschrift g&g zum gesonderten Mitgliedsbezugspreis.anzeigen/druckunterlagen: karin schmidt , tel.: 06826-5240315, fax: 06826-5240314, e-Mail: [email protected] Marktplatz: medienpunkt e. k., raimund t. Arntzen, Am Aichberg 3, 86573 obergriesbach, tel.: 08251 88808-52, fax: 08251 88808-53, e-Mail: [email protected]: Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste nr. 8 vom 1. 11. 2008.gesamtherstellung: vogel druck und Medien service GmbH & Co. kG, Höchberg
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bildnachweise: wir haben uns bemüht, sämtliche rechteinhaber von Ab bildungen zu ermitteln. sollte dem verlag gegenüber dennoch der nachweis der rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nach träglich gezahlt.issn 1618-8519 www.gehirn-und-geist.de
»Was kann man tun, wenn man ei-
gentlich nichts tun kann, weil
der Jugendliche nichts tun will?« Gründe,
warum psychisch auffällige Heranwach-
sende eine Therapie ablehnen, gibt es
viele. Sie wollen keine Hilfe, sie sind
misstrauisch, sie haben Angst, sie schä-
men sich oder wollen ihren Eltern den
Aufwand ersparen. Und wenn sie sich
doch von ihren besorgten Angehörigen
mitschleppen lassen, sitzen sie oft schwei-
gend da. Wie man diese harten Nüsse
trotzdem knackt, will uns Jürg Liechti ver-
mitteln.
Der Humanmediziner und Systemthe-
rapeut orientiert sich dabei am Konzept
des »konsultativen Einbezugs«. Dahinter
steht zunächst einmal die Überzeugung,
dass Therapiemotivation nicht nur vom
jugendlichen Klienten bestimmt wird,
sondern auch vom familiären Kontext,
und somit beeinflussbar ist. Im Kern geht
es darum, dem Jugendlichen einen Rah-
men zu bieten, der eine Zusammenarbeit
ohne Gesichtsverlust erlaubt. In mehre-
ren Schritten wird die widersprüchliche
Startsituation – Eltern suchen Hilfe, Ju-
gendliche weigern sich – auf eine gemein-
same Grundlage gebracht.
Wichtig ist dabei, zuerst die Perspek-
tiven aller Beteiligten zu akzeptieren und
sie anschließend »neu zu rahmen«, in-
dem sie um weitere Aspekte bereichert
werden. So kann sich beispielsweise eine
Mutter selbst eingestehen, dass auch sie
Hilfe braucht, anstatt sich nur über ihren
JürgLiechtiDaNN KOmm ICH HalT, SaG abER NICHTSMotivierungJugendlicherinTherapieundBeratung[CarlAuer,Heidelberg2009,252S.,€24,95]
Harte nüSSe Wie sich Jugendliche zur Teilnahme an einer Therapie animieren lassen
kiffenden Sohn zu beklagen. Der Thera-
peut zieht den Sohn, der bisher nur als
Problemfall gesehen wurde, als Experten
heran und bindet ihn ein: »Vielleicht
könntest du mir helfen, deine Mutter
besser zu verstehen?« Unter diesem neu-
en Blickwinkel entwickelt sich eine ge-
meinsame Basis zur weiteren Zusam-
menarbeit.
Ein wichtiges Thema, ein viel verspre-
chender Ansatz. Doch so groß das Inte-
resse beim Leser auch sein mag: Die Freu-
de an der Lektüre bleibt aus. Das Buch
wirkt trotz des fünfseitigen Inhaltsver-
zeichnisses und einer Aufteilung in neun
Ka pitel unstrukturiert. Immer wieder
schleicht Liechti um das eigentliche The-
ma »Therapiemotivation« herum wie die
Katze um den heißen Brei – und driftet
dann doch wieder ab. So mag ein eigenes
Kapitel über Pubertät seinen Sinn haben –
jedoch nur, wenn die Leser dabei etwas
Neues erfahren.
Die wissenschaftlichen Erklärungen
kommen allerdings meist nicht über das
Niveau eines Psychologiegrundstudiums
hinaus. Den therapeutisch arbeitenden
Lesern, an die sich Liechti unter anderem
richtet, werden diese psychologischen
Grundlagen sicherlich größtenteils be-
kannt sein.
Verstrickt in NebensächlichesInnerhalb der Kapitel springt der Autor
zwischen Theorie und spannenden Fall-
beispielen hin und her. Oft gelingt die
Verknüpfung jedoch nicht so recht, da
Liechti sich immer wieder in Nebensäch-
lichkeiten und Exkurse verstrickt. Mehr-
zeilige, verschachtelte und umständlich
formulierte Sätze sind bei ihm außerdem
keine Seltenheit. Und nicht zuletzt fällt es
schwer, über die wiederholte Werbung
für das Berner Zentrum für Systemische
Therapie und Beratung hinwegzulesen.
Ein Lichtblick ist das siebte Kapitel.
Hier erhalten die Leser wertvolle Ein-
sichten in das Handwerkszeug der syste-
mischen Therapie – mehr davon hätte
dem Buch gutgetan.
Johanna Senghaas ist Diplompsychologin und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in München.
GEHIRN&GEIST 06_09 85
winters’ nachschlag
Wissen Sie noch, was ein Pokemon ist? Nein?! Na ja, die Zeit des großen Wahns liegt auch lange zurück – so lange, dass
er bereits als »retro« gilt und inzwischen schon wieder angesagt ist. Knapp zusammengefasst stellt ein Pokemon ein abgrundtief hässliches, von irgendwelchen Asiaten erfundenes Monster dar, für das Kinder überall auf der Welt sämtliches Geld ihrer Eltern ausgeben, dessen sie habhaft werden können.
Wie ich nun kürzlich zu meinem Entsetzen feststellte, ist mein Lieblingsneffe Nikko eines der Opfer des derzeit erneut kursie-renden Pokemonvirus. Mit ihm infizierter Nachwuchs, das war mir sofort klar, lernt nichts mehr für die Schule und gerät unweiger-lich auf die schiefe Bahn. Ich als sein Patenonkel war fest ent-schlossen, Nikko zu retten.
Da kam mir der Artikel »Coaching statt Nachhilfe« (siehe S. 66) gerade recht. Ihm zufolge sollten Erwachsene den Lerntyp ihrer Kinder bestimmen und sich ein paar Lerntechniken antrainieren, um dann als leuchtende Vorbilder dem Nachwuchs das richtige Pauken beizubringen.
Sofort schritt ich zur Tat. Ich besorgte mir ein Pokemon-Buch mit dem Verzeichnis aller schätzungsweise 493 Monster und begann, ihre Namen mit der im Artikel beschriebenen Merkworttechnik auswendig zu lernen. Mit meiner beeindruckenden Gedächtnis-leistung wollte ich Nikkos Ehrgeiz anstacheln, mich im Lernen dann seinerseits zu übertrumpfen.
Während ich den verzweifelten Versuch unternahm, jeder Zahl ein Bild und dann jedem Pokemon ein solches Zahlenbild zuzu-ordnen, schweiften meine Gedanken immer wieder ab. Warum um alles in der Welt hieß ein und dasselbe Pokemon auf Japanisch Poppo und auf Deutsch Taubsi? Nein, ich werde hier nicht erklä-ren, mit welchem Bild ich mir dieses Fabelmonster merkte.
Ein unangenehmer Nebeneffekt meiner Bemühungen war, dass mich in meinem Stammcafé auf einmal alle anstarrten, nur
weil ich halblaut Pokemon-Namen memorierte. Schließlich je-doch fühlte ich mich bestens vorbereitet und empfing abends daheim meinen Lieblingsneffen mit der Frage, ob er mir den Na-men des schmetterlingartigen Pokemons mit den roten Augen nennen könne.
»Smettbo, 50 Prozent weiblich, 50 Prozent männlich, Gewicht 32 Kilo, Größe 1,1 Meter«, deklamierte Nikko. »Spielen wir Fuß-ball?« Nicht schlecht für den Anfang, der Kleine! Meine Trickkiste war aber noch lange nicht erschöpft. Also griff ich seinen Vor-schlag auf – offensichtlich gehörte er zum motorischen Lerntyp.
»Du triffst niemals das Garagentor«, forderte ich ihn heraus. »Falls doch, erkläre ich dir, wie man die Fläche eines Garagentors berechnet!« Lernen als Belohnung, lösbare Aufgaben als Motiva-tionsanreiz – die Autoren des Artikels wären sicher stolz auf mich! Sekunden später durchschlug der Fußball die Panoramascheibe des Wohnzimmers und blieb in der Vitrine mit den Porzellan-figuren liegen. »Hoppla, tut mir leid, Onkel Pipi!« »Onkel wer?!«, schrie ich, ohne zu merken, dass ich dabei war, innerlich von meinem durchdachten pädagogischen Konzept abzuweichen. »Wenn du die Pokemons besser gelernt hättest, dann wüsstest du, dass das ein Kompliment war!«, strahlte mich der kleine Klug-scheißer an.
Um es kurz zu machen – es wurde noch ein lehrreicher Tag. Al-lerdings hauptsächlich für mich. Unter anderem erfuhr ich, dass man a) die Fläche einer Glasscheibe am einfachsten mit dem im Handy eingebauten Taschenrechner berechnet und b) bei Poke-mon-Meisterschaften locker genug Geld verdienen kann, um sei-nem Onkel ein kaputtes Fenster zu ersetzen.
Und noch eins wurde mir klar: Wenn mir Gespräche mit meinem klugen, motivierten und darüber hinaus auch noch mit einem strammen Schuss gesegneten Neffen so viel Spaß machen, muss ich wohl ein kommunikativer Lerntyp sein.
ULI WINTErS ist Diplomkünstler – und verwechselt ständig Glutexo mit Glumanda.
Onkel PiPi und die PanOramascheibeWer Kinder motivieren möchte, sollte dazu besser keine japanischen Fantasieviecher verwenden!
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unseren Kopf einschließlich Gehirn trägt: die Halswirbelsäule.
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Mehr zuM TheMa»Unser flexibles Erbe« (S. 58): Wie Lebenserfah-rungen die Genaktivität steuern
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52 GEHIRN&GEIST 9_2007 GEHIRN&GEIST 9_2007 53
GenveränderunGen
Ein Atlas des Krebsgenoms 6Die Katalogisierung sämtlicher Gene, die hinter der Zell-Entartung
stecken, ist eine Herkulesaufgabe. Der Krebsatlas wird neue Wege
durch die komplexe Biologie der Tumorerkrankungen weisen
ZellbioloGie
Krebs – sind Stammzellen schuld? 16Die verborgene Wurzel allen Übels scheinen sie zumindest
bei mehreren Tumortypen zu sein
Missbrauchte iMMunabwehr
Bösartige Entzündungen 24Tumoren machen sich bei ihrem Wachstum auch immunologische
Entzündungsreaktionen zu Nutze, die sonst der Wundheilung dienen.
Daher sollte die traditionelle Chemotherapie durch eine neue
Generation von Entzündungshemmern ergänzt werden
anGioGenese-heMMer
Gebändigte Blutgefäße 32Medikamente, die eigentlich einem Tumor die Blutzufuhr abschnei-
den sollen, normalisieren zunächst seine chaotischen Gefäße – und
öffnen gerade damit ein Zeitfenster für seine Zerstörung
therapeutische iMpfunG
Mit Hitzeschockproteinen gegen Krebs 44Eine Blockade wichtiger Mitglieder dieser ungewöhnlichen
Proteinfamilie kann Krebszellen das Überleben erschweren. So
genannte antigenführende Mitglieder vermögen dagegen
das Immunsystem gegen die entarteten Zellen zu mobilisieren
Feind als Freund Viren umzubauen und gezielt auf Krebszellen anzusetzen, ist keine Utopie. Jegliche Form einer Virotherapie birgt allerdings ihre speziellen Vor- und Nachteile
Die dunkle Seite von Stammzellen Bei nicht wenigen Tumortypen kann eine nur kleine Gruppe von Zellen, die Schlüsselmerkmale mit Stammzellen gemein haben, die Krankheit verschlimmern. Sie gilt es gezielt auszurotten
Herkulesaufgabe Alle Mutationen bei unterschiedlichen Krebsarten aufzuspüren, damit entscheidende Veränderungen auf Gen- und Proteinebene gezielt behandelt werden können – diesen Zweck verfolgt das Großprojekt Krebsgenomatlas
Brandbeschleuniger Die Tumorentstehung wird bei man- chen Krebsformen durch eine schwe-lende Entzündung begünstigt
I N H A L T
Krebsprävention Die bislang gültige Aussage, dass hoher Obst- und Gemüsekonsum vor Krebs schützen kann, musste nach neueren Ergebnissen einer euro-päischen Großstudie abgeschwächt werden
6 24 7066 16
D O S S I E R : N E u E S T R A T E g I E N g E g E N K R E B SAusgewählte Spektrum-Artikel zum Thema
MedikaMente
Fortschritte in der Brustkrebstherapie 52Eine effektivere, individuellere Behandlung – diesen Wunschtraum
helfen die neuesten zielgerichteten Medikamente zu erfüllen
porträt
»Uns fehlt dieser Spirit« 60Der Krebsforscher Axel Ullrich, einer der Pioniere der
modernen gezielten Krebstherapie, kommentiert den Stand
der Forschung auf seinem Gebiet
interview
Mit Obst und Gemüse vorbeugen? 66 Nach neueren Ergebnissen der europäischen EPIC-Studie ist
der vor Krebs schützende Effekt hier schwächer als gedacht
virotherapie
Mit Viren gegen Krebs 70 Tumoren im Körper zerstören, ohne gesunde Zellenzu schädigen –
mit speziell umgebauten Viren wollen Forscher dieses Ziel erreichen
interview
»Den Impfstoff hätte es schon früher geben können« 78Gebärmutterhalskrebs lässt sich seit 2006 durch eine Impfung
vorbeugen – dank grundlegender Arbeiten von Harald zur Hausen,
Nobelpreisträger 2008
Editorial 3 · Impressum 39 · Kelchproteine gegen Krebs 42 Titelmotiv: Entartete Stammzellen, eine tödliche Gefahr
(Grafik: Kenn Brown & Chris Wren, Mondolithic Studios )
Spektrum der WissenschaftDossier 3/2009
erschienen in:G&G 9/2007, S. 52
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Zum Thema »naTürliche Pädagogik« (s. 20)Was kleinkinder brauchen»Frühkindliche Bildung« führt bei Eltern und Kindern
oft zu einem vollen Terminkalender. Ist Förderung
rund um die Uhr tatsächlich sinnvoll? Der zweite Teil
unserer Serie »Kindesentwicklung« hilft Eltern, Päda-
gogen und Erzieherinnen, sich eine eigene Meinung zu
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Jeder dritte Deutsche erkrankt einmal im Leben an
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tionen erklären, welche Symptome für welche see-
lische Erkrankung typisch sind, wie diese entsteht und
welche Konsequenzen sie haben kann. Ärzte, Psycholo-
gen und Pädagogen können die Informationsblätter als
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g&g-archivUnser Online-Archiv enthält alle in G&G erschienenen Artikel,
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liche Beiträge können Sie im Volltext als PDF-Dokumente her-
unterladen – als G&G-Abonnent kostenlos
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Blogs miT hirnOb freier Wille, Neuro-Enhancement oder Anekdoten aus
dem Forscheralltag: Was immer Psyche und Gehirn betrifft,
die Autoren der Brainlogs (»Hirntagebücher«) spießen es
auf. Mal tiefgründig, mal humorvoll – diskutieren Sie mit!
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besser FernsehenKinder müssen den Umgang mit der Flimmerkiste erst lernen. Gut zu wissen, welche TV-Inhalte ihnen nützen – und welche eher schaden
inhalt
schule aktuell
46 Lernen Fürs LebenDas Thüringer Bildungsprojekt »Nelecom« setzt auf lebensnahen Unterricht und nimmt dazu Eltern und die ganze Kommune in die Pflicht
interview50 »eIn seeLIsches PoLsTer aUFbaUen« Heidelberger Schüler wurden ein Jahr lang in dem neuen Schulfach »Glück« unterrichtet – mit messbarem Erfolg. Ein Gespräch mit dem Initiator des Projekts, dem Pädagogen Ernst FritzSchubert
30 Fernsehen wILL GeLernT seIn TVKonsum schade der kindlichen Entwicklung, heißt es oft kategorisch. Trotzdem sollten Eltern ihrem Nachwuchs die Flimmerkiste nicht völlig vorenthalten – sondern ihn behutsam an das Medium heranführen
38 saFer sUrFen Das Internet birgt für Kids viele Gefahren: Sie stoßen auf pornografische Inhalte, werden beim Chatten belästigt oder von Mitschülern gemobbt. Zum Glück gibt es Mittel und Wege, um solchen Risiken vorzubeugen
rubriken
3 Editorial71 Impressum90 �Bücher�und�mehr
Neue Literatur zu Schüler mobbing, Lernen, Jungen und innovativen Schulkonzepten
98 Vorschau
Psychologie
12 wenn dIe schULbanK drücKT Bauchweh, Unlust – oder Schulangst? Wie man Warnsignale richtig deutet und Kindern die Furcht vor dem Unterricht nimmt
18 Im hImmeL haben aLLe FLüGeL Die Jüngsten glauben noch, sie würden niemals sterben. Erst nach und nach entwickeln Kinder eine realistische Vorstellung vom Lebensende
24 schaU mIr In dIe aUGen, KLeIner! In vielen Schulklassen gibt es ein Kind, das seine Lehrer oder Kameraden schlecht wiedererkennt. Womöglich leidet es an Prosopagnosie – der »Gesichtsblindheit«
medienerziehung
6 schULKIndnews
bLoss schneLL erwachsen werden! Bei Problemen in der Familie kommen Mädchen früher in die Pubertät
maThe be-GreIFenGestikulieren hilft beim Rechnenlernen
ZaPPeLIG dUrch ZUsäTZe Lebensmitteladditive machen Kinder unruhig
FLexIbLes KöPFchenDie Gehirne hochbegabter Kinder sind besonders wandlungsfähig
KeIne brILLenschLanGeGrundschüler halten Altersgenossen mit Sehhilfen für klüger und ehrlicher
nIchT mIT äPFeLn Und bIrnenAbstrakt vermittelte Matheregeln sind für die Lernenden leichter auf andere Fälle zu übertragen
aUF LInKs GePoLTGehirne von Linkshändern lassen sich nicht auf Rechtshändigkeit umstellen
PädaGoGen In noT Beleidigungen durch Schüler belasten Lehrer besonders stark
morGenmUFFeL mIT GUTer enTschULdIGUnGKörperzellen von »Nachteulen« ticken langsamer als die von Frühaufstehern
sPezial hochbegabung
54 cLeVer, KreaTIV – erFoLGreIch? Außergewöhnliche Intelligenz ist noch kein Garant für schulischen Erfolg. Hochbegabte Kinder müssen auch optimal gefördert werden
58 hochbeGabUnG: FaKTen Und FIKTIonen
Über Menschen mit einem hohen IQ kursieren viele Klischees. Der Psychologe Detlef Rost räumt mit verbreiteten Missverständnissen auf
besser lernen
66 FIT Für babeL Lange dachten Lernforscher, zu viele Fremdsprachen verwirrten das Schülerhirn nur. Falsch: Kinder, die gleich in mehrere Idiome eintauchen, lernen sie oft leichter
interview74 KInder sInd
KeIne Taschenrechner Schüler müssen die tiefere Bedeutung von Zahlen beim Rechnenlernen von Anfang an verstehen. Wie das geht, erklärt die Mathematikdidaktikerin Inge Schwank
80 wIchTIGe handarbeITDas Abc lernen per Tastatur? Besser nicht, sagen Forscher. Denn das Schreiben mit der Hand hilft, Buchstaben zu verinnerlichen
84 dIe wUrZeLn der LeGasThenIe Ein maßgeschneidertes Computertraining halbiert die Zahl der Lesefehler bei Kindern bereits nach wenigen Minuten
schlauer sPrachmixGleichzeitig verschiedene sprachen lernen? das bringt sogar Vorteile, meinen Lernforscher
sicher im netzwas eltern tun können, um ihre Kinder vor den Gefahren im Internet zu schützen
ende ohne schreckenso begreifen Kinder, was »tot sein« bedeutet
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Das Magazin für Psychologie und Hirn forschung aus dem Verlag Spektrum der Wissenschaft
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Das sind unsere Coverthemen
keine angst vor der schule!Jedes zweite Kind fürchtet sich gelegentlich vor dem Unterricht. manche schwänzen, andere klagen morgens über bauch-schmerzen. was hilft gegen schulangst?
12
1 © www.gehirn-und geist.de / Eine Vervielfältigung für Klienten ist unter Angabe der Quelle Gehirn&Geist erlaubt. Stand: 2009
depression Informationen für Betroffene und ihre Angehörigen
WAS IST EINE DEPRESSION?
Depressive fühlen sich niedergeschlagen, verzwei-felt und haben keine Freude mehr an Dingen, für die sie sich zuvor begeisterten. Sie sind oft erschöpft, müde und antriebslos und können trotzdem nicht ein- oder durchschlafen. Das sexuelle Verlangen sinkt, einige verlieren deutlich an Gewicht, manche nehmen deutlich zu. Sie sind weniger leistungsfä-hig, empfinden auch geringfügige Tätigkeiten als anstrengend, können sich nicht mehr konzentrieren oder entscheiden und grübeln viel. Sie sehen pessi-mistisch in die Zukunft und fühlen sich wertlos – bis hin zu Todesgedanken und konkreten Suizidplänen oder -versuchen. Manche haben Schuldgefühle. Einige leiden auch an körperlichen Beschwerden wie Magenproblemen oder Kopfschmerzen. In schweren Fällen lassen sie sich gar nicht mehr aufheitern und fühlen sich emotional leer. Sie leiden dann häufig auch an einem Morgentief und bewegen sich entwe-der besonders langsam oder nervös und fahrig.
Eine chronische Depression (Dysthymie) liegt vor, wenn jemand über mindestens zwei Jahre an der Hälfte aller Tage niedergeschlagen ist und an zwei oder mehr der folgenden Merkmale leidet: Schlaf-, Konzentrations- oder Selbstwertprobleme, veränder-ter Appetit, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit.
Ein Sonderfall sind jene Depressionen, die sich mit manischen Episoden abwechseln (»bipolare Stö-rung«). Kennzeichen dieser mindestens vier Tage währenden Phasen mit übertrieben guter (manch-mal auch reizbarer) Stimmung sind ein geringes Schlafbedürfnis, gesteigerte Betriebsamkeit und innere Unruhe sowie ein überhöhter Selbstwert bis hin zu Größenwahn. Die Betroffenen beschäftigen sich übermäßig mit angenehmen Aktivitäten wie Sex oder Einkaufen. Sie sind penetrant gesellig und
blind für Gefahren, schmieden unrealistische Pläne, sind geschwätzig und kaum zu unterbrechen, aber leicht ablenkbar und springen schnell zwischen den Themen. Wer versucht sie in ihrem Eifer zu bremsen, erntet oft Wut und Ärger.
WIE VERBREITET SIND DEPRESSIONEN UND WIE VERLAUFEN SIE?
Studien zufolge erkrankt weltweit etwa jeder Sieb-te einmal im Leben an einer Depression – rund 12 Prozent der Männer und 20 Prozent der Frauen. Damit ist die Depression die häufigste psychische Störung bei Frauen. Jeder zweite Betroffene erkrankt vor dem 40. Lebensjahr, jeder Zehnte mit 60 oder älter. Eine depressive Phase dauert im Schnitt sechs bis acht Monate. Die Hälfte aller Betroffenen erleidet im Durchschnitt nach fünf Jahren einen Rückfall, jeder Dritte erholt sich ohnehin nur teilweise. Einen schwereren Verlauf erleben vor allem Frauen sowie diejenigen, die schon in jungen Jahren das erste Mal erkranken, die genetisch vorbelastet sind, viele Konflikte sowie wenig Unterstützung erfahren oder an weiteren psychischen oder körperlichen Erkran-kungen leiden.
WIE ENTSTEHEN DEPRESSIONEN?
Forscher nehmen an, dass verschiedene Faktoren zusammenwirken – wie genau, ist noch nicht geklärt.
Familie. Es gibt eine genetische Veranlagung für Depressionen. Das haben Vergleichsuntersuchungen von eineiigen und zweieiigen Zwillingen gezeigt. Biologie. Forscher haben bei Depressiven biologische
depressionINFORMATIONEN FÜR BETROFFENE
G&G-Serie »Kindesentwicklung« Nr. 2
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G&G-NewsletterWollen Sie sich einmal im Monat über Themen und Autoren des neuen Hefts informieren lassen? Wir halten Sie gern auf dem Laufenden: per E-Mail – und natürlich kostenlos.Registrierung unter www.gehirn-und-geist.de/newsletter
brennpunkt: Die folgen Der ArmutWie sich das Gehirn und die geistigen Anlagen eines Kindes
entwickeln, hängt auch vom Wohlstand seiner Eltern ab. Laut
aktuellen Studien leiden vor allem Sprache, Arbeitsgedächtnis
und Handlungsplanung unter einem niedrigen »sozioökono
mischen Status«. Neuer Zündstoff in der Debatte um Kinder
armut und Bildungschancen
Die krux mit Der StAtiStikWie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau tatsächlich
Brustkrebs hat, wenn das Ergebnis der Mammografie positiv
ausfällt? Nur jeder fünfte Gynäkologe kennt die richtige Antwort,
wie der Psychologe Gerd Gigerenzer herausfand. Der For scher
erklärt, wie man medizinische Daten richtig interpretiert
lAbSAl Der tränenWeinen reinigt die Seele.
Das glauben nicht nur Laien
psychologen, auch viele
Psych iater empfehlen ihren
Pa tienten, sich ab und zu mal
»auszuheulen«. Kontrollierte
Labortests konnten bislang
jedoch nicht belegen, dass wir
uns nach dem Weinen grund
sätzlich besser fühlen. Ent
scheidend ist vielmehr, wie
die Umwelt darauf reagiert!
vorschau ı g&g 10_2009 erscheint am 15. september 2009
»Was will ich eigentlich?« So sehr wir uns das auch fragen,
bleiben die Ziele unseres Handelns doch oft im Dunkeln.
Fest steht: Der Mensch verspricht sich von seinem Tun –
im Großen wie im Kleinen – zumeist Glück, Wohlbehagen,
Freiheit. Doch Forscher haben herausgefunden, dass be
wusste und unbewusste Motive überraschend wenig mit
einander zu tun haben: Was wir zu wollen glauben, entspricht
nicht unbedingt dem, was uns im Innersten bewegt!
Was uns wirklich antreibt
Von A nAch bJeder »mobile Organismus« – von der Ameise bis zum
Menschen – muss sich im Raum orientieren können. Nur,
wie geht das? Haben wir eine detaillierte Karte unserer
Umgebung im Kopf? Oder merken wir uns einzelne Land
marken? Hirnforscher studieren den inneren Kompass, der
uns den rechten Weg weist
Foto
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rizi
er-D
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