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Ein Kaleidoskop zur Geschichte und Gegenwart der österreichisch-albanischen Beziehungen GEMEINSAMES NEUENTDECKEN

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Ein Kaleidoskop zur Geschichte und Gegenwart der österreichisch-albanischen Beziehungen

GEMEINSAMES NEUENTDECKEN

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GEMEINSAMES NEUENTDECKEN

Ein Kaleidoskop zur Geschichte und Gegenwart der österreichisch-albanischen Beziehungen

AUSTRIA - ALBANIA CULTURAL YEAR 2018

T Ë R I Z B U L O J M ËT Ë P Ë R B A S H K Ë T A T

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VorwortTeresa Indjein

Lasgush Poradeci. Ein PorträtIsmail Kadare

All you need is love. Oder: Drei alte LiebesgeschichtenFatos Baxhaku

Die Düfte Österreichs: Vier Begegnungen mit ÖsterreichStefan Çapaliku

Wir gibt es nicht. Ein FragmentIlir Ferra

Der jüdische Albanologe Norbert Jokl und seine Bibliothek: Spielball zwischen Begehrlichkeit und akademischer Solidarität?Mechthild Yvon

Gedichte (Sozusagen gestern; Das Ende des Sommers; Der Inhalt des Koffers; Die Eisenbahnjungs; Es nähert sich ...)Luljeta Lleshanaku

Ein Jahrhundert österreichische Archäologie in AlbanienNeritan Ceka

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INHALT

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Die österreichisch-ungarische Albanologie: Wissenschaft im Bann des MachtfeldsKurt Gostentschnigg

Die Stadt, die Musik, der MenschMikaela Minga

Projektionsfläche Nordalbanien: Bildmächtigkeit und Deutung der Kultur der Berge in Albanien und in Österreich in den 1990er-Jahren (und heute)Robert Pichler

Gedichte (Teller mit Erdbeeren; Lebensart; Liebeskummer; Abendnachrichten; Mal del Paese; Wald; Windschutzscheibenputzer)Andrea Grill

AnhangAutorinnen & Autoren

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Alban MujaMy name their cityFotografi2013

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Alban MujaMy name their cityFotografi2013

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13T e r e s a I n d j e i n

Vorwort

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser!

Die Idee zu diesem Buch entwickelte sich im Zuge der Planungen für das „Öster-reichisch-Albanische Kulturjahr 2018“. Letzteres gehört in die Projektreihe der vorerst auf das südöstliche Europa gerichteten, jährlich wechselnden bilateralen Länderschwerpunkte des Außenministeriums. Dem Modell der Vorjahre folgend, wurde im Bereich der kulturellen und wissenschaftlichen Veranstaltungen unter Einbeziehung der Österreichischen Botschaft in Tirana, der Botschaft Albaniens in Wien sowie diverser Kultureinrichtungen in Albanien und Österreich ein reger künstlerischer Austausch in sämtlichen Sparten organisiert. Deren offenkundiges Ziel: die Aufmerksamkeit auf den jeweils anderen zu steigern, auf die Kreativität des anderen neugierig zu machen und derart Impulse zu setzen, die beide Länder für langfristige Kooperationen einander näherbringen. Für die dies-jährige intensive Zusammenarbeit kristallisierte sich das Motto „Gemeinsames Neuentdecken“ heraus. Diese Zwei-Wort-Phrase darf ruhig mit unterschiedlichen Gewichtungen gelesen werden, nämlich als gemeinschaftliche Tätigkeit und als der Vorsatz, Gemeinsames neu zu beleuchten. Die Kulturjahre stellen an sich selbst jedes Jahr den Anspruch, die Beziehung zwischen Österreich und dem jeweiligen Partner zu überdenken und zu aktualisieren. Aber um die Potenziale und Dimensionen einer freund-schaftlichen und respektvollen Beziehung zwischen zwei Ländern begreifbarer zu machen, gehört nicht nur gemeinsames Produzieren, sondern unabding-bar – gemeinsames – Innehalten. Diesem wollen wir für das „Österreichisch- Albanische Kulturjahr 2018“ mit dem vorliegenden Buch zusätzlich Raum geben. Prosa, Dichtung, auf Zeitzeugen-Interviews beruhende Reportage, Darstellungen auf der Basis der historischen Forschung, der soziologischen Theoriebildung als auch auf der der sprichwörtlichen Praxis des Grabens und Aufdeckens, für die die Archäologie steht, sollen ein Kaleidoskop der albanisch-österreichischen Beziehungen entwerfen, das einerseits Fakten präsentiert, deren Reflexion aus dem Blickwinkel des beginnenden 21. Jahrhunderts

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Anspruch erheben dürfen als aktueller Stand zu gelten, und andererseits der Imagination und Phantasie Platz gibt.

Um unser Buch-Projekt in Gang zu bringen, berieten wir uns mit dem alba-nischen Botschafter in Wien Roland Bimo sowie mit dem österreichischen Botschafter in Tirana Johann Sattler und seinem Team (aus dem uns v.a. Eljana Mankollari in den inneralbanischen Korrespondenzen noch tatkräftig zur Seite stehen würde), suchten Anregungen beim Übersetzungsnetzwerk „Traduki“, bei unserem Residenzprogramm „Südosteuropa“ und nahmen schließlich auch die Hilfe des mit diesen Einrichtungen ebenfalls vernetzten Politologen Egin Ceka in Anspruch, aus dessen Vorschlägen – für die wir uns recht herzlich bedan-ken – wir zehn Autorinnen und Autoren auswählten. Ein weiterer Beitrag sollte uns durch die großzügige Hilfe Joachim Röhms gelingen. Als Albanienkundiger und bewährter Übersetzer ins Deutsche sämtlicher Werke des derzeit wohl renommiertesten albanischen Autors, Ismail Kadare, vermittelte er uns dessen Porträt des Dichters Lasgush Poradeci (1899–1987). Für die deutsche Ausgabe des vorliegenden Buches ergibt sich mit dem Abdruck von „Lasgush Poradeci. Ein Porträt“ übrigens die Erstübersetzung dieses Essays ins Deutsche, was uns besonders ehrt. Mit der ihm eigenen Sprach- und in sich ruhenden Beobachtungskunst entwirft Kadare ein „saumselig“-erstaunliches Porträt eines albanischen Dich-ters, der durch seine zurückgezogene Lebensweise ab 1944 aus dem Blickfeld eines breiteren nationalen und internationalen Interesses geriet, nachdem er in den 1920er-Jahren noch als mit Rilke ebenbürtig gegolten hatte. Abseits dessen verweist die Wieder- oder Neuentdeckung Lasgush Poradecis auf einen historischen Ausschnitt positiv erlebter albanisch-österreichischer Beziehun-gen, da der Poet seine literarische Ausbildung zu einem Großteil in Österreich erhielt, wo er gefühlte 40 Jahre, wie Kadare erzählt, und tatsächlich rund zehn Jahre zubrachte. (Beitrag 1) Manchmal ergab sich aus derartigen Migrationsbewegungen zwischen Österreich und Albanien nicht nur berufliche Ausbildung sondern Liebe. 2012 führte der Journalist und Autor Fatos Baxhaku mehr als 50 Interviews mit sogenannten „Herzensösterreichern“ und „Herzensösterreicherinnen“ durch – Nachkommen österreichisch-albanischer Ehen, die überwiegend in der Zwischenkriegszeit geschlossen wurden und zumeist Frauen aus Österreich

14 Teresa Indjein: Vorwort

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durch Heirat nach Albanien führten. Vom Autor 2013 unter dem Titel „Cadra e Kuqe“ (Der rote Schirm) veröffentlicht, freuen wir uns, daraus „Drei alte Liebes-geschichten“ vorstellen zu dürfen. (Beitrag 2) Wenn Fatos Baxhaku in seiner Einleitung dazu schreibt, dass die Erwäh-nung von Albanien in seinen österreichischen Gesprächspartner_innen vor 30 Jahren oftmals „ein geheimes Leuchten“ erzeugt habe, das mitunter mit den Reise-Imaginationen eines Karl May und dessen Band „Durch das Land der Skipetaren“ in Zusammenhang stand, oder aber auch mit den – offensichtlich ebenfalls romantisierten – kriegsbedingten Albanien-Aufenthalten der Groß-väter, dann versteht man diesen Hinweis liebevoll nostalgisch. Einer solchen Idylle begegnet man im Beitrag von Stefan Çapaliku gleich in vier Anekdoten. Die Österreicher_innen hätten „die linden Düfte der Zivilisation“ gebracht, heißt es da einleitend, um diese Ankündigung in Folge sanft ironisierend mit Geschichten zu konkretisieren, die von österreichischer Backware wie der „Plunderschlange“ handeln oder von einem in Albanien verbliebenen Hufeisen eines ausrangierten österreichisch-ungarischen Militärgauls. (Beitrag 3) Ilir Ferras Kurzgeschichte „Wir gibt es nicht“ bringt den Widerspruch zwischen „den Deutschen“, die man in Albanien der 1930er-/40er-Jahre zum Freundes- bzw. Familienkreis zählte, und denen, die man als Repräsentanten des Nazi-Regimes erlebte, als Teil österreichisch-albanischer Beziehungen in Erinnerung. Mit Ilir Ferra präsentieren wir gleichzeitig einen seit Jahrzehnten in Österreich ansässigen albanischen Autor, der u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis geehrt wurde, einem Preis, der sich über Jahre darauf konzent-rierte, auf Deutsch schreibende Autor_innen, die einen „die deutsche Literatur bereichernden Umgang mit Sprache“ aufweisen, auszuzeichnen. (Beitrag 4) Sprache war das Lebenselixier Norbert Jokls (1877–1942), eines unbe-stritten hochverdienten österreichischen albanischen Philologen. Mechthild Yvon schildert anhand ihrer im Zuge der Provenienzforschung der Österreichi-schen Nationalbibliothek zusammengetragenen Fakten eindringlich die politi-sche Spirale, in die der 1942 von den Nationalsozialisten ermordete Albanologe mit seiner Bibliothek als Unterpfand zur vergeblichen Lebensrettung geriet. (Beitrag 5) In der Mitte des vorliegenden Buches soll der Reigen der literarischen und (sozial-)historischen Informationen kurz angehalten werden. Die zeitge-nössische Dichterin Luljeta Lleshanaku, die als Heranwachsende politischen

15 Teresa Indjein: Vorwort

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Repressionen ausgesetzt war, provoziert in einer Auswahl aus ihren Bänden „Homo Antarcticus“ und „Sozusagen gestern“ paradoxe Synchronität aus Gefüh-len der Hoffnung und Verzweiflung, wenn sie von Erfahrungen spricht, die man selber machen muss, um wirklich Bescheid zu wissen, oder das Axiom – das Unbe-gründbare – unserer Existenz in alltägliche Zusammenhänge bringt. (Beitrag 6) Im zweiten Teil unseres Kompendiums rückt zunächst die Überprüfung der frühen Albanologie in Hinblick auf ihre Instrumentalisierung durch Macht-interessen des Kaisertums Österreich-Ungarn ins Zentrum. Sie ist Thema des Beitrags des renommierten albanischen Archäologen Neritan Ceka. Indem diese Auseinandersetzung zur „politischen Einfärbung“ wissenschaftlicher Interessen zudem lebendiges Wissen eines jahrzehntelangen archäologischen Praktikers und Forschers widerspiegelt, eröffnet sie zusätzlich einen Blick in die Welt der geschichtsträchtigen antiken illyrischen Städte Albaniens – und weckt mitunter auch den Wunsch, diese vor Ort kennenzulernen. (Beitrag 7) Auf unserer Suche nach aktuellen österreichischen Forschungsarbeiten zur Geschichte der frühen österreichischen Albanologie stellten wir beglückt fest, dass das Projekt des FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung), „Die österreichisch-ungarische Albanologie 1867–1918 – ein Fall von Kulturimperialismus?“, 2017 zum Abschluss kommen würde. Die soziologisch-theoriebasierten Ergebnisse, die einen wichtigen Beitrag zur entzerrten Erin-nerung an die Verdienste, aber v. a. auch an die zahlreichen außerwissenschaft-lichen Motive österreichischer Albanologen leisten, legte Kurt Gostentschnigg Anfang des Jahres 2018 vor. Seine eigene Zusammenfassung dieser Forschun-gen finden Sie in Beitrag 8. Einen Bogen von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er-Jahre spannt die Musikethnologin Mikaela Minga mit ihren Ausführungen zum Korçaer-Lied. Die Musik- und Sozialgeschichte dieses Liedes besitzt die Kapa-zitäten, unsere Vorstellung dafür zu schärfen, dass, wenn wir über die aus der Absorption mehrerer Strömungen entstandenen Kulturleistungen vor und um 1900 sprechen, neben dem portugiesischen Fado, dem griechischen Rembetiko oder dem österreichischen Wienerlied, unbedingt das weltoffene albanische Korçaer-Lied nennen sollten. Angesichts der von Mikaela Minga unternomme-nen Feldforschungen und Recherchen zur Wiederentdeckung der unter dem Regime verbotenen Interpret_innen, freuen wir uns, musikbezogenes „Gemein-sames Neuentdecken“ zu befördern. (Beitrag 9)

16 Teresa Indjein: Vorwort

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Auch der letzte wissenschaftliche Beitrag dieses Buches widmet sich österrei-chisch-albanischem Neuentdecken mit Blick auf das kommunistische Regime und dessen Sturz. Die österreichische Wahrnehmung der speziellen Vorgänge in Albanien der frühen 1990er-Jahre verzerrte sich im Zusammenhang mit der dominierenden Berichterstattung zur Auflösung Jugoslawiens in der Sub-summierung „Balkankrieg“. Ein Punkt, den der Balkanforscher Robert Pichler in seinen Reflexionen über die Auswirkungen der 1990er-Jahre in der Bergre-gion Albaniens zur Sprache bringt, wenn er die Ambivalenzen anspricht, die seine Fotografien dazu bei Vorträgen in Österreich auslösten. Diese Fotos, die das Erstarken vorkommunistischer, traditioneller gesellschaftlicher Überein-künfte als Reaktion auf den Sturz des Regimes in der albanischen Bergregion thematisieren, wurden allerdings auch in der städtischen Bevölkerung Alba-niens selbst zur provokanten Neuentdeckung. Robert Pichlers Bilder rufen „unsere kollektive Erinnerung“ wach, wie es die albanische bildende Künstlerin Edit Pulaj formuliert, „aber nicht als Nostalgie, sondern als Bezugspunkt für eine abhandengekommene Zeit“ (cargocollective.com/robert-pichler/so-close-and-yet-so-far-away). Die für das vorliegende Buch getroffene Auswahl dieser zwischen Reportage und künstlerischer Gestaltung oszillierenden fotografischen Arbeiten bildet zugleich Inhalt und Anschauungsmaterial von Beitrag 9. Es war unser Wunsch, mit diesem Buch Menschen aus und in Albanien zu begegnen. Vor diesem Hintergrund nehmen die Porträtfotografien Jutta Benzenbergs den Großteil der künstlerischen Aufmachung ein. Die seit 1991 mit Unterbrechungen in Albanien lebende und arbeitende deutsche Fotogra-fin gilt nicht nur als hervorragende Albanien-Kennerin, sondern als jemand, der sich in seiner Arbeit mit nichts weniger zufriedengibt als mit dem Einfan-gen der Seele der Porträtierten. Unter diesen Bildern befinden sich auch zwei „Herzensösterreicher“ – Fotos, die in der Zusammenarbeit zwischen Fatos Baxhaku und Jutta Benzenberg anhand des Buches „Der rote Schirm“ ent-standen und die wir uns freuen, zu den „Drei alten Liebesgeschichten“ des Autors in Beitrag 2 erneut abdrucken zu dürfen. Nicht vorenthalten wollten wir Ihnen einen Kulturschatz: Im Archiv der „Nationalen Fotosammlung Marubi“ (Fototeka Marubi) lagern 150 000 Foto-platten, die Menschen und Leben der Stadt Shkodra zwischen 1858 und 1974 dokumentieren. Mit Ausschnitten muslimischen Lebens um 1900 wählten wir

17 Teresa Indjein: Vorwort

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Beispiele, welche die hohe Kunst dieser ausdrucksstarken frühen Fotografie vermitteln (montiert zu Beitrag 7). Die am Anfang und am Ende des Buchs präsentierten zeitgenössischen Werke von Alban Muja und Olson Lamaj konzentrieren sich ebenfalls auf Men-schen, rücken aber die reflexive Beschäftigung mit Identität in den Mittelpunkt. Der aus Tirana stammende Olson Lamaj setzt seinen Fokus hierbei auf die Auseinandersetzung mit semiotischen Überladungen und Mythen. Alban Muja wurde in Priština geboren, arbeitet zu gesellschaftlichen und politischen Trans-formationsprozessen der Region und widersetzt sich künstlerisch dem Thema Zuschreibung. Mit den sprachlichen Bildern Andrea Grills beenden wir das vorliegende Buch und kommen in den urbanen Gefilden des 21. Jahrhunderts an: Da sitzen wir nicht nur im Café, sondern suchen auch die Nähe der Natur. Im Kontext des Bezugs der Autorin zu Albanien in diversen ihrer literarischen Werke und des Wissens um ihre Übersetzungstätigkeiten aus dem Albanischen nehmen die ausgewählten Gedichte einen spezifischen Albanien-Bezug an. Oder machen sie uns nur vor, über Albanien zu sprechen? Vielleicht erzählen sie über Öster-reich? Im Grunde kann man annehmen, dass es hier wie dort Menschen gibt, die sich in Konsumgütern „gemütlich & still“ einrichten wollen, dass hier wie da zu Ende gegangene Liebesbeziehungen wie leblose Obstschälchen her-umstehen. Andrea Grill, deren Prosa für sprachliche Überraschungen bekannt ist, lässt uns in ihren Gedichtformen über Absätze stolpern – und in diesem Rahmen über unsere Erwartungen.

Abschliessend möchte ich mich bei allen Personen bedanken, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben, insbesondere bei Johannes Peterlik für die Idee zu diesem Buch, bei Egin Ceka und Annemarie Türk für viele Anregungen und bei Anna Gadzinski und Renate Seib für ihr großes Engagement.

Wir alle hoffen, mit diesem Buch einen konstruktiven und inspirierenden Beitrag zu den albanisch-österreichischen Beziehungen zu leisten.

18 Teresa Indjein: Vorwort

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Jutta BenzenbergQeapro, ein Dorf in SüdalbanienFotografie 2017

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Alban MujaMy name their cityFotografi2013

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Alban MujaMy name their cityFotografi2013

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23I s m a i l K a d a r e

Lasgush Poradeci. Ein Porträt

Jedes Mal, wenn ich Lasgush Poradeci begegnete, wurde ich mir einer Unmög-lichkeit bewusst, die mich allerdings nicht abschreckte, sondern sogar faszinier-te. Es war unmöglich, mit ihm zu kommunizieren wie mit anderen Menschen. Wenn man an seine Tür klopfte, spätestens aber, wenn man die Wohnung be-trat, veränderte sich alles: die Logik des Gesprächs, der Code, die Worte samt dem Sinn, den sie beförderten. Stets fehlte etwas, und an etwas anderem bestand ein Überschuss. Er selbst war da, aufmerksam in jeder Hinsicht, und trotzdem, so viel man erhielt, so viel vermisste man auch. Seltsamerweise fand man daran sogar Gefallen. Man bemühte sich, alles zu vermeiden, was den Zauber vertreiben, die Worte ihrer Mehrdeutigkeit berauben konnte, denn wäre der Nebelschleier verflogen, hätten sie ihre ursprüngliche Bedeutung wiedererlangt, sie wären einem blass und nichtssagend erschienen. Mediokre Charaktere meinten, er habe den Verstand verloren, andere machten sein fortgeschrittenes Alter für das Nebelhafte an ihm verantwortlich. Weder das eine noch das andere stimmte. Lasgush war schon immer so gewe-sen. Ich hatte ihn nie anders erlebt. Manchmal, wenn man am Schreibtisch oder mit Freunden vor dem Kamin saß, während einer Versammlung oder am Meeresstrand, kam es einem plötzlich, gleichsam als Erleuchtung: Lasgush lebt noch! Natürlich, man wusste, dass er am Leben war, trotzdem nickte man erleichtert, als habe sich eine gute Nachricht bestätigt. Er war noch unter uns, und nur ein paar hundert Schritte entfernt. Ein Glück! Warum war man dann immer wieder verwundert? Warum schmeckte alles, was mit ihm zu tun hatte, nach Traum? Es fühlte sich an, als käme jemand angerannt und riefe: Kommt mit, drüben auf der anderen Seite des Boulevards findet eine Schlacht mit Schwertern und Spießen statt, die Zeit scheint einge-froren. Oder: Im Park duellieren sich zwei, ein Dekret wird verkündet, der König gibt einen Ball …

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24 Ismail Kadare: Lasgush Poradeci. Ein Porträt

Nur ein paar hundert Schritte trennten uns von Lasgush, wieso lief man nicht gleich los, um nicht zu spät zu kommen? Man hatte ein schlechtes Gewissen, weil man ihn so selten besuchte, und ging trotzdem nicht öfter hin. Ich kann nicht sagen, dass ich fürchtete, ihn zu stören. Er freute sich stets, wenn ich kam, manchmal ließ er mir sogar ausrichten, ein Besuch sei ihm willkommen. Etwas anderes hielt mich zurück. Etwas, das seinen Ursprung im Traum hatte. Ein Traum verlangt keine Eile. Saumseligkeit ist ein Teil seines Mechanismus. Lasgush Poradeci einen Besuch abzustatten, glich einer Auslandsreise. Man schien die Zeit, das herkömmliche System des Denkens hinter sich zu las-sen. Nur noch ein Schritt fehlte und man wäre in einer Dante schen Ödnis ge-landet, außerhalb der Grenzen des Lebens. Seit vielen Jahren, schon seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, gehörte er gleichermaßen zu den Lebenden wie zu den Toten. Viele Gymnasiasten, die sich im Unterricht mit ihm beschäftigten, waren der Meinung, er sei längst gestorben. Man belehrte sie, ohne sich über den Irrtum wirklich zu wundern. Die meisten hatten sich an den Doppelzustand gewöhnt, der so gut zu ihm passte. Seine Konturen verschwammen, als würde man ihn durch eine Wasserfläche hindurch sehen. Er war einer der wenigen Menschen und vielleicht der einzige bedeu-tende Schriftsteller, der über eine so lange Zeit hinweg lebend seinen Tod erlitt. Diese doppelte Beschaffenheit spiegelte sich häufig in seinem Erschei-nungsbild wider, besonders, wenn er seinen schwarzen Anzug und den dunklen Borsalino trug, und einem die Frage ganz normal erschien, ob er eben dem Sarg entstiegen war oder sich auf ihn zu bewegte. Seltsamerweise erregte sein Schicksal kein Bedauern. Jede Anwandlung von Mitgefühl und Trauer darüber, dass er ungerechterweise in Vergessenheit geraten war, zerstob, wenn er plötzlich leibhaftig vor einem stand. Betrat er in Pogradec ein Café, hatten die Schriftsteller, die in der Stadt ihre Sommerferien verbrachten, das Gefühl, ein Sturmwind wehe ihnen ins Gesicht. Er war unberechenbar, ätzend wie Säure, gefährlich, jäh. Sein Lachen klang unirdisch, freudlos, sein Schmerz entbehrte der Trauer. Auch sein Zorn war so, luxuriös und kalt. Seine Verachtung funkelte schon von weitem wie Silber. Am erstaunlichsten war jedoch seine Art zu reden. Etwas einem gewöhn-lichen Gedankenaustausch Unähnlicheres ließ sich kaum vorstellen. Zwar drück-te er sich klar, unkompliziert und überaus anschaulich aus, und dennoch war bei ihm selbst in den alltäglichsten Äußerungen alles anders: die Abfolge, die Logik,

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der Rhythmus, die Bezüge. Dass jemand mit einer Bemerkung über das Wetter, das Befinden oder irgendein Ereignis ins Gespräch mit ihm kam, war undenk-bar. Wer es versuchte, blieb ohne Antwort, erntete allenfalls einen kalten Blick und wurde fortan übersehen. Begegnungen mit ihm waren stets sonderbar, sie entzogen sich den üblichen Mustern und jeglicher Vorausschau. Einen jungen Dichter, der ihn seit Jahren regelmäßig besuchte, verblüffte er, nachdem er ihn in den Salon gebeten hatte, mit der Aufforderung: „Und nun sagen Sie mir erst einmal, wer Sie sind, mein Herr!“ Der Besucher nahm es für einen Scherz und breitete lächelnd die Arme aus, doch Lasgush stieß zornig seinen Gehstock auf den Boden, worauf sein Hund Cuci, der sich mit seinem Herrn auf die wunderbarste Weise verstand, heftig zu bellen anfing und möglicherweise auf den Ankömmling losgegangen wäre, wenn dieser nicht rasch seinen Vor- und Nachnamen genannt hätte. Ob dieser unfreundliche Empfang dem nachlassenden Gedächtnis des alten Herrn oder einer bloßen Laune geschuldet war, wagte der Gast nicht zu fragen. Als ich Lasgush einige Zeit später auf den Vorfall ansprach, schaute er mich kurz an und sagte dann: „Ich kann mich sehr gut daran erinnern. Bestimmt hielt er mich für verrückt, aber ich habe die Frage ernst gemeint. Sicher, er besucht mich seit Jahren, mein Gedächtnis ist Gott sei Dank noch in Ordnung, und Gesichter vergesse ich selten. Aber wie sollte ich an diesem speziellen Nachmittag wissen, dass er es tatsächlich war? Wie konnte ich wissen, dass er sich in den zwei Wochen seit unserer letzten Begegnung nicht verändert hatte und auf Abwege geraten war. Und er steht bloß da und schaut mich einfältig an. Sogar Cuci hat es bemerkt, du weißt ja, er ist klüger als die Hälfte der Men-schen, die in dieses Haus kommen.“ Einmal erzählte er mir, kaum dass er mich eingelassen hatte, er habe sich Nudeln gekocht, und den Kochvorgang schilderte er so ausführlich, dass ich unruhig wurde. Daraufhin ging er noch mehr in die Einzelheiten, und seine Sätze glichen nun den besonders langen Spaghetti, deren Verzehr so große Schwierigkeiten bereitet. „Ich sehe schon, dass ich dich langweile“, sagte er. „Aber du bist ja auch ein Dichter und solltest deshalb wissen, was es bedeutet, wenn ein Poet sich Nudeln kocht.“ Und als hätte ich noch nicht genug gelitten, schickte er mir ein paar Tage später einen Brief, in dem er mir in endlosen, komplizierten Sätzen einen weiteren Akt des Nudelkochens beschrieb.

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Einmal schaute er mich unverwandt an und sagte: „Du bist genau wie ich. Wir sind beide Mörder. Wenn man uns an eine Kreuzung stellt und eine Waffe in die Hand drückt, richten wir ein Blutbad an. Nur die Poesie verhindert das.“ Mir ist nie richtig klar geworden, was er damit meinte, aber so war es nun einmal bei ihm: Je mehr man sich bemühte, ihn zu verstehen, desto mehr entglitt er einem. Aber wenn man mit ihm ins Gespräch gekommen war und er sich in Begeisterung geredet hatte, sah es ganz anders aus. Ich höre ihn noch immer über Frauen reden, über Kunst, Goethe, das Kloster Sveti Naum, altindische Lyrik, Kant, Buddha, die Chinesen, Christus, das Ministerium für Innere Ange-legenheiten, Paris, die Liebe, wieder das Kloster Sveti Naum, in das man ihn als Kind gebracht hatte, um ihm die bösen Geister auszutreiben, die Fluglinie Tirana–Korça in den 1930er-Jahren, Schopenhauer, Holland, die aktuelle Regie-rung, Pjetër Bogdani, die Zubereitung von Nudeln, Malerei, das Paradies und so fort. Jedes Mal grübelte ich, von welcher fremden Welt diese ganz besondere Art zu kommunizieren stammte, aus welchen Salons auf dem Saturn oder dem Jupiter. Er hatte sein eigenes Zeitmaß, die Uhren gingen bei ihm anders, davon war ich überzeugt. Damit ließ sich erklären, dass ich stets das Gefühl hatte, ihn nicht oft genug zu besuchen. Unsere Tage stimmten nicht zusammen. Das Räderwerk der Zeit drehte sich bei ihm einmal vorwärts, einmal rückwärts, manchmal blieb es stehen. Auch sein Tagesablauf war durchaus eigenartig. Um 11 Uhr vormittags stand er auf und frühstückte. Um 12 Uhr legte er sich wieder schlafen. Das Mittagessen nahm er um fünf Uhr nachmittags ein. Um sechs Uhr ging er wieder zu Bett. Um acht Uhr abends stand er auf und arbeitete bis drei Uhr morgens. Sein physisches Erscheinungsbild entzog sich wie sein Redestil einer eindeutigen Beschreibung. Er war zugleich Aristokrat und Bauer, kultivierter Wiener und Balkanese mit Knotenstock, blond und braunhaarig, grob und zartsinnig. Manchmal glich er dem deutsch-albanischen Schauspieler Alexan-der Moissi in den 1930er-Jahren, manchmal einem alten Griechen in zeitlosem Gewand, manchmal Papst Johannes Paul II. Ich hatte Gelegenheit, bedeutende Persönlichkeiten aus vielen Ländern der Welt kennenzulernen, Nobelpreisträger, Philosophen, Schauspieler, Politiker, bekannte Schriftsteller, doch Lasgush Poradeci ist für mich die

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ungewöhnlichste, komplizierteste und rätselhafteste Person geblieben, der ich je begegnet bin. Und in Gesprächen mit den Menschen, die ihm am nächsten standen, also seiner Frau, seinen Töchtern und seiner letzten großen Liebe, musste ich feststellen, dass sie auch nicht klüger aus ihm geworden waren als ich. Offenbar hat er den Code zu seiner Entschlüsselung mit ins Grab genommen. Bei seinem Anblick, vor allem aber, wenn ich ihm zuhörte, wunderte ich mich jedes Mal, wie ein Bewohner des Balkan, ein Albaner, ein solches Maß an Komp-lexität, Vollendung, Unabhängigkeit, Rätselhaftigkeit hatte erreichen können. Sein poetisches Werk gehört zum Schönsten, das die albanische und europäische Literatur der 1930er-Jahre hervorgebracht hat, doch er selbst, die menschliche Maschine, ragte darüber noch hinaus. Da es in unserer Welt aber keine andere Methode zur Erfassung von Werten gibt, kein besseres Aufzeichnungsmittel als Schriftzeichen oder Noten, um verborgene Kleinode festzuhalten und für andere sichtbar zu machen, sind wir gezwungen, den Wert eines Künstlers mithilfe solcher Zeichen zu ermitteln, wobei unweigerlich etwas von dem, was sie sagen wollen, stirbt. Zu den ersten Verlierern dieses Systems gehört fraglos Lasgush Poradeci.

An einem Tag im Jahr 1985 klopfte ein junger Poet an die Tür des einstöckigen Wohnhauses im Ostteil von Tirana, in der Lasgush Poradeci wohnte. Von drin-nen hörte er den Hausherrn rufen: „Ich kann nicht aufmachen, meine Frau hat den Schlüssel mitgenommen.“ Seine Frau war seit zwei Jahren tot. An diese Episode musste ich denken, als im Februar 1989 bei einer Ge-sellschaft in Claude Simons Wohnung am Place Monge in Paris das Gespräch auf Samuel Beckett kam. Eine Bekannte, die Journalistin und Künstlerin Helen Bishop, hatte mich und meine Frau bei dem Nobelpreisträger eingeführt, von dem sie 15 Jahre zuvor auf meinen Roman „Der General der toten Armee“ aufmerksam gemacht worden war. Ihr Ehemann Tom Bishop, der an der New York University französische Literatur lehrte, hielt sich, wenn man der Presse glauben durfte, bevorzugt im La Coupole am Boulevard de Montparnasse und in der Brasserie Lipp am Boulevard Saint-Germain auf. In der Wohnung des Ehepaars hatte ich bei einem Abendessen Alain Robbe-Grillet kennengelernt. Der damals 75-jährige Claude Simon war im Umgang so bescheiden wie liebenswürdig, doch für den Fortgang des Gesprächs sorgte hauptsächlich seine Gattin Rhea, eine gebürtige Griechin. Die beiden besuchten häufig Korfu,

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und eine überschlagsmäßige Berechnung ergab, dass einer ihrer Aufenthalte auf der Insel mit unseren Sommerferien in Saranda, auf der anderen Seite der nur wenige Kilometer breiten Meerenge, zusammengefallen war. Meistens drehte sich die Unterhaltung allerdings um Samuel Beckett, mit dem sowohl sie als auch wir befreundet waren. Helen Bishop hatte versprochen, mich bei Gelegenheit dem legendären Schriftsteller vorzustellen, der inzwischen 84 Jahre alt war. Aus dem, was sie berichteten, sprach neben Mitleid auch so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Die literarische Welt in Frankreich machte sich noch immer Vorwürfe, weil René Char, einer der bedeutendsten französischen Lyriker der Gegenwart, vor noch nicht allzu langer Zeit vereinsamt und fast vergessen gestorben war, in einem … Asyl. Und jetzt gab es schon wieder einen solchen Fall ... Was da alles getuschelt wurde … Immerhin, warf Rhea ein, sieht es im Fall Beckett nicht ganz so hoffnungslos aus. Schließlich hat er Familie, eine Frau, und außerdem … Aha, seine Frau, fiel ihr jemand ins Wort. Sie geht auf die neun-zig zu, und wisst ihr, was sie treibt, seit Samuel im As…, im Krankenhaus liegt? Sie lädt ihre Freundinnen, die er nicht ausstehen kann, zum Tee ein, und sie schwatzen den ganzen Tag. Als ob sie nur auf diesen Augenblick gewartet hätte. Beim Zuhören musste ich ständig an Lasgush Poradeci denken. Auch um das überaus merkwürdige Verhältnis zwischen ihm und seiner Frau rankten sich groteske Legenden. Sie starb im Sommer 1983 in Pogradec. In jenem Jahr verbrachten besonders viele Schriftsteller ihren Som-merurlaub in der kleinen Stadt am Ohridsee. Wie immer war auch Lasgush da, verschanzt in seinem „Turm“. Zu den stets gleichen Stunden am Morgen und Abend ging er mit seinem Hund am Seeufer spazieren. Am fraglichen Morgen passierte, wie er mir später selbst erzählte, Folgendes: Als er erwachte, sagte er zu seiner Frau: „Steh auf, mach mir einen Kaffee!“ Sie gab keine Antwort, sondern lag nur da, worauf er seine Aufforderung wiederholte: „Steh endlich auf, spiel nicht die Tote!“ Nun war sie tatsächlich gestorben, was er durchaus ahnte, worüber er jedoch vermied, sich Gewissheit zu verschaffen. Vielmehr stand er zornig auf und ging mit dem Hund spazieren. Als er nach zwei Stunden zurückkam, musste er seine letzte Hoffnung endgültig fahrenlassen: Der Tod ließ sich nicht verscheuchen, indem man ihn einfach ignorierte oder Blindekuh mit ihm spielte.

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Als er dann in seinem altmodischen schwarzen Anzug hinter dem Sarg herging, wirkte er wieder versteinert und undurchdringlich, und erst als er neben dem frisch zugeschütteten Grab auf einem Stein saß, schlug er die Hände vors Gesicht und seufzte: „Ach je, was für ein Unglück!“ Diese paar Worte und sein weißes, im Wind flatterndes Haar brachten ihn, der sein Leben lang anders gewesen war, für einen Moment herab auf die Erde zu den übrigen Menschen. Doch es war wirklich nur ein sehr kurzer Augenblick. Gleich darauf erhob er sich, setzte mit einer jähen Bewegung, als gelte es, alle überflüssigen Verbindun-gen zu kappen, den schwarzen Borsalino auf und ging zu seinem „Turm“ zurück. Daran musste ich während der Unterhaltung über Samuel Beckett den-ken. Ich hatte immer gefunden, dass er sich vielleicht als Einziger mit Lasgush vergleichen ließ. Wenn du das nächste Mal nach Paris kommst, sagte Helen Bishop, besu-chen wir ihn auf jeden Fall. Zwei Monate später war ich wieder in der französischen Hauptstadt, aber aus der Begegnung mit Beckett wurde nichts. Er war zwar aus dem Kranken-haus entlassen worden, aber nun, so hieß es, lag seine Frau auf dem Sterbebett. Ein paar Tage später erfuhr ich am Telefon von Helen Bishop, dass sie gestor-ben war. „Die Arme …“, meinte sie, und obwohl sie den Satz nicht zu Ende führte, begriff ich, was sie hatte sagen wollen: Die Arme, da wartet sie ein Leben lang darauf, endlich einmal die Wohnung für sich allein zu haben, um mit ihren Freun-dinnen ungestört Tee trinken und plauschen zu können, und dann stirbt sie. „Aber das nächste Mal klappt es bestimmt mit einem Treffen“, fuhr sie fort. „Dieser Tage geht es ihm wirklich nicht gut. Er spricht mit niemandem ein Wort. Es würde keinen Sinn machen, ihn zu besuchen.“ Dieses nächste Mal lag er bereits auf dem Friedhof Montparnasse, und auch Lasgush ruhte schon ein Jahr unter der Erde, auf einem sanften Hügel am Ufer des Ohridsees. Glaubte ich an Vorsehung, würde ich sie dafür verantwortlich machen, dass ich Lasgush Poradecis Doppelgänger Samuel Beckett (so sehe ich ihn) nie begegnet bin. Als ich ein Kind war, hielt meine Großmutter alle möglichen Lebensregeln für mich bereit. Ich erinnere mich nicht genau, aber in einer ging es um Spiegel, in die man zu ganz bestimmten Stunden nicht schauen durfte … Der Ire Beckett und der Albaner Poradeci sollten sich am Ende des Jahrhunderts

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offenbar nicht zu sehen bekommen, auch nicht durch die Augen eines Dritten.1944, als Albanien von der Fremdherrschaft befreit wurde, war Lasgush Poradeci sicherlich der bedeutendste Schriftsteller im Land. Der andere Große, Fan Noli, lebte in den Vereinigten Staaten von Amerika. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stammten von den sieben wichtigsten Schriftstellern der Balkanhalbinsel drei – Katzansakis, Seferis und Elytis – aus Griechenland, zwei – Poradeci und Noli – aus Albanien und gleichfalls zwei – Andrić und Krleža – aus Jugoslawien. Schon 1929 hatte der bedeutende Albanologe Eqrem Çabej seinen engen Freund Lasgush Poradeci auf eine Stufe mit zwei der größten Lyriker der Zeit, Rilke und D‘Annunzio, gestellt. Poradecis Gedichte, so schrieb er, seien „weit ausgreifend und voller Abgründe“, kleine Tragödien in strengem, düste-rem Ton, so verschieden von Naim Frashëris Versen wie Beethovens Musik von der Mozarts. Lasgush Poradeci, diesen großen albanischen und europäischen Dichter, so Çabej, habe „ein günstiges Geschick Albanien geschenkt, damit er zu jenem Schriftsteller werde, den Albanien einmal der Welt schenkt“. Leider erfüllte sich die Prophezeiung des großen Sprachgelehrten nicht. Lasgush fiel finsteren Mächten zum Opfer, die einfach wegwischten, was die albanische Nation bis dahin an kulturellen Werten geschaffen hatte. Als 1945 der albanische Schriftstellerverband gegründet wurde, überging man ihn, und auch später änderte sich daran nichts. Das mediokre, missgünstige Führungs-personal machte ihn schlecht, hielt ihn auf Abstand, zu Veranstaltungen wurde er niemals eingeladen. Bedauerlicherweise schlossen sich den rufmörderischen Attacken auch vermeintliche Großschriftsteller an, die sich auf die Prinzipien der „neuen Kunst“ beriefen, obwohl ihr wahres Motiv der Neid war. Lasgush Poradeci in die Vergessenheit zu stoßen, schien einfach, er lud dazu sogar noch ein, indem er immer wieder verschwand, sozusagen im Nebel untertauchte. Schon 1929 redete das literarische Albanien von einer schweren Erkrankung des damals 33-jährigen, die auch Çabej in seinem eben zitierten Aufsatz erwähnt. Man prophezeite dem Dichter nicht nur eine glanzvolle Karrie-re, sondern auch einen frühen Tod. Tatsächlich hatte er noch 58 Jahre zu leben. Immerhin trug er seit damals das Siegel des Todes, allerdings eines von feiner, vornehmer Beschaffenheit. Das verführte ihn nicht dazu, in seinem Schaffen eine irgendwie geartete Todesnostalgie hervorzukehren, obwohl die Versu-chung für jemanden mit seinem Schicksal sicherlich vorhanden gewesen wäre.

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Er sprach überhaupt nie vom Tod (schon gar nicht von einem frühzeitigen), obwohl dieser stets seinen Schatten über ihn warf, wenn auch auf eine beson-dere Art, wie immer bei ihm. So existierte er in doppelter Gestalt, was manche dazu verführte, ihn auf diejenige seiner beiden Seiten (die sichtbare oder die verborgene) beschrän-ken zu wollen, die ihnen gerade in den Kram passte. Diesem Trugschluss erlagen auch die erbittertsten seiner Widersacher, die meinten, sich mit ihm selbst verschwören, seine Selbstverleugnung und Selbstabsonderung ausnutzen zu können, um ihn in der Versenkung verschwinden zu lassen. So einfach dies bei solchen Schriftstellern erscheint, so unmöglich ist es. Ein Berg verschwindet nie für immer im Nebel. Genauso tauchen auch sie wieder am Horizont auf, mächtiger, überwältigender und verstörender, als man sie in Erinnerung hatte. Lasgush Poradeci ließ sich niemals auf Scharmützel mit der Sippschaft der Mittelmäßigen ein und erwartete keine Gerechtigkeit. Er verachtete diese Leute zutiefst, und weil er den Wert seines Werkes kannte, wusste er auch, dass sie ihm nichts anhaben konnten. Was mich an ihm am meisten beeindruckte, war seine Souveränität. Jeder andere hätte sich wenigstens im engen Kreis über die Ausgrenzung, den Staat, „die Bürokraten da oben“ beklagt. Dieser eingefleischte Antikonfor-mist ließ sich zu solchen Formen der Dissidenz jedoch nie herab. Angst oder übertriebene Achtsamkeit waren dafür bestimmt nicht der Grund, schließlich verhielt er sich Gefahren gegenüber so gleichgültig, ja fahrlässig, dass zum Beispiel 1985 einige Journalisten, die ihn hatten interviewen wollen, in Panik aus seinem Haus flüchteten. Er klagte nicht, weil er, obwohl an den Rand gedrängt, sich für den wichtigsten Menschen in Albanien hielt, verantwortlich für alles, was im Land geschah. Es mag seltsam erscheinen, aber wenn man sich mit ihm unterhielt, merkte man, dass er in sich einen Minister, Bischof, Staatsanwalt, Armeekom-mandeur oder was auch immer, jedenfalls einen Führer beherbergte. Einmal sagte er: „Als wir Viçens Prenushi zu 80 Jahren Haft verurteilten, war er 76 Jahre alt.“ Ich glaubte mich verhört zu haben und fragte nach: „Sie sagten, wir haben ihn verurteilt. Soll das heißen, Sie haben damit zu tun?“ Er schaute mich lange an, bevor er antwortete: „Selbstverständlich. Ein Dichter ist für alles verantwortlich.“

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Ein andermal fragte er mich: „In welchem System leben wir gerade?“ „Im Sozi-alismus, Herr Lasgush.“ Er schwieg eine Weile. Dann machte er „Hm“. Ich wagte die Frage, ob dies ein Scherz gewesen sei. Er schaute mich empört an: „Keines-wegs. Ich wusste es wirklich nicht mehr. Einem Poeten ist alles gestattet.“ Ob Gedächtnisaussetzer und Zeitverwechslungen auf sein Alter oder den höchst eigenartigen Filter- und Auswahlmechanismus seines ungewöhn-lichen Gehirns zurückzuführen waren, ließ sich nie genau sagen. Wenn er von seiner Studienzeit in Österreich erzählte, wo er knapp zehn Jahre gelebt hatte, kam es vor, dass er erst die richtige Zahl nannte, um sie gleich darauf zu verdoppeln. Sprachlos war ich allerdings, als er eines Tages da-rauf beharrte, 40 Jahre lang in Graz studiert zu haben. Als ich zu widersprechen wagte, antwortete er mit beißendem Sarkasmus: „Bei jedem anderen hätte ich mit so etwas gerechnet, sogar bei dem lieben Çabej, schließlich hat die Wissenschaft sein Gehirn verriegelt. Aber bei einem Dichter? Niemals! Der müsste wissen, dass die Zeit hier drinnen (er tippte mit dem Finger an seine Schläfe) bei einem Poeten anders abläuft.“ Er war der festen Überzeugung, das Gehirn eines Poeten unterscheide sich in seiner Beschaffenheit von einem gewöhnlichen Gehirn: „Offen“ und „zersprungen“ waren die Begriffe, die er in diesem Zusammenhang gerne verwendete. Ich betrachtete sein ergrautes Haupt und überlegte mir, welche Risse seinem Gehirn den Austausch mit Bereichen erlaubten, die für andere uner-reichbar waren. Durch welche Sprünge sich triviale, überflüssige Gedanken und banale Gefühle verflüchtigten, um Raum für etwas anderes zu schaffen, das irgendwelchen astralen Sphären entströmte. In den meisten europäischen Sprachen lassen sich die Wörter, die einen Zustand geistiger Unregelmäßigkeit bezeichnen, aus dem Lateinischen herlei-ten: von demens, was „von Sinnen“ bedeutet, oder von follis, womit ein luft-gefüllter Lederschlauch gemeint ist. Alle Sprachen verfügen zudem über eine Vielzahl von Synonymen, was darauf hindeutet, dass der gemeinte Geisteszu-stand die menschliche Anschauungskraft in besonderem Maße zur Bildung von Begriffen anregt, die auf der Annahme basieren, es liege eine Ordnungsver-letzung vor, eine Abweichung, eine Verlagerung, ein Orientierungsverlust, eine Störung der Balance, etwas Vogelartiges, Gewichtsloses, ein Davonlaufen, eine Überschreitung des Maßes oder dergleichen. Alles davon findet sich auch im

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Albanischen. Dazu kommt noch krisë oder krisje, was einen Sprung, einen Riss, einen sich auftuenden Spalt bezeichnet. Man verwendet diese Analogie gerne, wenn ein Zusammenfallen von Genie und Wahnsinn wahrgenommen wird. Dem liegt die altüberlieferte Vorstellung zugrunde, dass nur sehr bestimmte Men-schen den „Riss“ zur Verfügung haben, durch den eine Kommunikation mit dem Bereich des Inkommunikablen möglich ist. Ich weiß von Lasgush Poradeci selbst, dass man ihn in seiner Jugend für verrückt hielt und deshalb ins Kloster von Sveti Naum schickte, wo er von tatsächlich geistesgestörten russischen Mönchen mit Dostojewski bekanntge-macht wurde. Nicht nur die Zeit floss in seinem Kopf anders. Vieles, was er sagte, hörte sich seltsam an, obwohl seine Formulierungen für gewöhnlich von unüber-trefflicher Genauigkeit waren. Einem für seine überaus enthusiastischen Verse bekannten Poeten attestierte er einmal öffentlich, quasi als Lob, „die Hupe der Partei“ zu sein, und ein paar gefühlsselige junge Lyriker qualifizierte er als „Nymphen der Partei“. Dabei bediente er sich eines durchaus ernsthaften Tons, und überhaupt durfte man bei ihm niemals mit dem Eingeständnis rechnen, etwas ironisch gemeint zu haben. Manchmal hörte er sich wirr und seltsam an, dann wieder war glasklar, was er äußerte. In vier oder fünf Fremdsprachen konnte er sich fließend unter-halten. Deutsch und Französisch bevorzugte er zwar, doch genauso versiert war er in Italienisch, Griechisch und Rumänisch, während er Englisch, Russisch und Sanskrit immerhin lesen konnte. Einmal musste ich ihn so behutsam wie möglich darauf hinweisen, dass er mitten in der Unterhaltung mit mir ins Deutsche übergewechselt war. Ein andermal brachte er das ganze Frühjahr über sein eigenes Leben mit dem Goethes durcheinander. Ein bestimmtes Ereignis, ein Ball, war entweder in Korça oder Wien vonstattengegangen, und bei dieser Gelegenheit hatten er oder Goethe einer guten Freundin Unrecht getan. Diese Geschichte erzählte er immer wieder, aber jedes Mal klang sie so anders, dass keiner so richtig schlau aus ihr wurde: Man hätte glauben können, die beiden seien Nebenbuhler im Werben um eine deutsche und/oder albanische junge Dame gewesen, und zwar in einem Jahrhundert, das weder Lasgushs noch Goethes war. Manchmal war er so unzugänglich, dass man Angst bekommen konnte. Bei einem Besuch in seiner Wohnung in Tirana versuchte meine Frau das ins

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Jutta BenzenbergMädchen in Tracht aus Mirdita, Albanien Fotografie 2010

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Stocken geratene Gespräch wieder in Gang zu bringen, indem sie auf ein Por-trät wies, das ein deutscher Maler in den 1930er-Jahren von ihm angefertigt hatte, und sagte: „Was für ein schönes Bild!“ Das Thema wurde dankbar angenommen, aber als es um den Künstler ging, hob Lasgush plötzlich den Kopf und erklärte mit kalter Stimme: „Dieses Gemälde stammt von mir, nicht von diesem Deutschen.“ Wir schauten uns verwirrt an, und seine Tochter hielt eine Klarstellung für nötig: „Aber Papa, jeder weiß doch, dass das Bild von einem deutschen Künstler gemalt wurde.“ „Nein, das stimmt nicht“, beharrte Lasgush auf seiner Behauptung.Peinliches Schweigen trat ein. Er saß da und schaute zum Fenster hinaus. Schließlich sagte er: „Also gut, dann schauen wir eben noch einmal nach!“ Er erhob sich vom Sofa auf, ging zu der Wand, an der das Bild seit über 40 Jahren hing, zeigte mit dem Finger auf den deutlich lesbaren Namenszug des deutschen Malers und verkündete: „Hier steht es klar und deutlich: Lasgush Poradeci! Glaubt ihr mir nun endlich?“ Wir bedeuteten seiner Tochter durch ein Zeichen, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Er schalt sie noch einmal: „Das ist diese schlechte Ange-wohnheit bei dir, allem zu widersprechen, was ich sage.“ Damit war das Thema erledigt. Ich versuchte später noch oft, einen Grund für sein Verhalten zu finden, kam aber nie zu einem Ergebnis. Manchmal war er aber auch ganz anders. Er erzählte oft von einer der Frauen in seinem Leben, einer Malerin: „Sie war blond wie meine Verlobte, und als wir uns dann trennten, wurde sie plötzlich braun.“ Von der jungen Holländerin, die er aus dem Ausland mitgebracht hatte und die ihm irgendwann weggelaufen war, sprach er hingegen nie. Welche sonnengleichen Eruptionen mussten damals in seinem Inneren stattgefunden haben! Er hatte das Mädchen in den Himmel gehoben, geradezu „versternt“. Alle erlebten mit, wie er ihr mit dem Flugzeug vom kleinen Provinzflughafen in Korça nach Tirana folgte, von dort nach Rom, von Rom nach Budapest und von Budapest weiter nach Kopenhagen. Aus dieser verzweifelten, aussichtslosen Verfolgungsjagd wurde in einem Gedicht der Tanz zweier Sterne, die am Ende nicht zueinander finden können. Er hatte sie aus sich entfernt, und nicht nur aus sich selbst, sondern aus dem ganzen Sonnensystem. Deshalb sprach er nicht mehr von ihr.

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Das galt auch für seine letzte große Liebe. Über sie hatte er aber wenigstens geschrieben, erstaunlicherweise nicht in Versen. Es handelte sich um einen der besonders kostbaren, weil äußerst raren Prosatexte, die ich von ihm lesen durfte: „Die Besuche von Fräulein Anna X. in meinem Turm“. Lasgush Poradecis Äußerungen über die Prosa mochten jemandem, der ihn nicht kannte, anmaßend erscheinen. Doch wenn man mit seinem Code vertraut war, also wusste, von welcher „Prosa“ er sprach, und außerdem die typisch lasgushianische Süffisanz in Rechnung stellte, fiel es schwer, den Stab über ihn zu brechen. Die Prosa war für ihn „der Tod der Poesie“, „Lehm“, und als ich ihm einmal zu widersprechen wagte, warf er mir den Blick zu, den er für solche Gelegenhei-ten in Reserve hielt: „Auch du, Brutus?“ Dann sagte er: „Was willst du denn, gibt es etwas Edleres als Tod und Lehm?“ Vielleicht hat er über seine letzte große Liebe in Prosa geschrieben, weil er spürte, dass der Tod sich ihm näherte.

Dem See von Pogradec, den er überaus liebte, hat er einige der Perlen unter seinen Gedichten gewidmet. Selten ist eine Wassermenge mit so viel Inbrunst und Tiefsinn, so viel funkelnder Trauer beschrieben worden. Bei seinen Spaziergängen am Ufer wagte ihn niemand zu stören, auch wenn im Sommer Scharen von Urlaubern die kleine Stadt überschwemmten.Er schien ständig auf der Suche, womöglich nach dem Ort, an dem er begraben werden wollte. Oft führen ja die Lieblingswege großer Poeten zu den Stellen, an denen später ihre Denkmäler stehen. Mehr und mehr wirkte er wie ein Wesen, das allen Zeiten angehörte, zugleich hier und dort sich aufhielt, wie er es in einem Gedicht beschrieb. Daran war nichts Künstliches, und die Tatsache, dass er sein Leben lang dafür zu bezahlen und große Opfer zu bringen hatte, bezeugte seine Wahrhaftigkeit. Vielleicht ist es ein Beweis seiner Nähe zu den Tragöden des Altertums, dass sein Werk schon zu Lebzeiten verloren zu gehen begann. Wenn er am Ende einer Sommersaison den „Turm“ in Pogradec verließ, um den Winter in Tirana zu verbringen, verschwanden stets einige seiner Manuskriptbücher. Zu den Verlusten gehört auch der bereits erwähnte Prosatext „Die Besuche von Fräulein Anna X. in meinem Turm“. Jemand, der die Schrift unter mir unbekannten Umständen in die Hände bekommen hatte, gab sie mir einmal

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über Nacht zu lesen. Als Poradeci gestorben war, fragte ich bei der betreffen-den Person nach, doch plötzlich wusste sie nichts mehr von dem Manuskript. „Wie könnte ich Ihnen etwas gegeben haben, das ich selbst nie hatte?“, bekam ich zu hören, begleitet von einem Blick, der wohl besagen sollte: Wahrscheinlich hast du wieder einmal zu lebhaft geträumt! Nun gut, bei Lasgush Poradeci war alles möglich. Vielleicht hatte er mir aus der Tiefe seines Grabes tatsächlich etwas von den Träumen und Mysterien heraufgeschickt, die ihn zu seinen Lebzeiten umgaben. Ich hätte mich wohl in diese Erklärung gefügt, wäre nicht eine Zeugin vorhanden gewesen: meine Frau, die den unvergesslichen Text ebenfalls gelesen hatte.

Etwas Schicksalhaftes, dem er nicht widerstehen konnte, trieb Lasgush immer wieder nach Pogradec. In seinem letzten Jahr, als die Reise zu anstrengend für ihn geworden war, unternahm man alles, um ihn glauben zu lassen, er befinde sich in seinem geliebten „Turm“. Sie stellten sogar Apfelzweige ins Fenster, um den Obstgarten draußen vorzutäuschen. Er wurde bestattet, wie er es sich gewünscht hatte. Es war am 12. Novem-ber 1987, bei strahlendem Wetter. Die feuchten Lehmbrocken, die man auf den Sarg warf, glänzten festlich in der Sonne. „In Sonne gekleidet, mit Mond beschuht“, wie es in einem über 300 Jahre alten Gedicht von Pjetër Bogdani heißt, brachte man ihn unter die Erde. Aus dem Albanischen von Joachim Röhm

Llazar Gusho (1899–1987) formte aus den Anfangsbuchstaben seines Vor- und Nachnamens und dem Namen seiner Heimatstadt Pogradec das Pseudonym Lasgush Poradeci. [Anmerkung von Joachim Röhm]

Der Text wurde ohne inhaltliche Änderungen folgendem bislang nur in albanischer Sprache vorliegenden Sammelband von Erinnerungen und Essays des Autors entnommen:Kadare, Ismail: Ftesë në Studio. Tirana: Naim Frashëri, 1990.

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All you need is loveOder: Drei alte Liebesgeschichten

In Wien oder Graz fühlte ich vor 30 Jahren als Albaner eine besondere Atmo-sphäre um mich herum und hatte das Gefühl von Geborgenheit, als ob man alte Cousins wieder träfe. Allein das Wort „Albaner“ reichte, um in den Augen meiner Gesprächspartner ein geheimes Leuchten zu entfachen, als ob in ihrem Unterbewusstsein plötzlich die Großväter als Soldaten in Albanien auftauchen würden, oder Karl Mays „Durch das Land der Skipetaren“, oder die vielen Erzäh-lungen, welche Reisen über die Berge meines Landes schildern. 2012 bekam ich den ehrenvollen Vorschlag, mich damit konkret zu be-fassen. Florian Raunig, der damalige österreichische Botschafter in Tirana, und Petrit Ymeri, der Leiter des Verlags Dituria, hatten die Idee, das von Ardian Klosi (1957–2012) begonnene Projekt über „Die Herzensösterreicher“ in Albanien fortzusetzen. Ein Jahr später sollte mein Buch „Der rote Schirm. Österreichisch-albanische Schicksalgeschichten vom 19. bis zum 21. Jahrhundert“ erscheinen. Plötzlich fand ich mich vor einem Berg von Dokumenten und einer Liste mit 56 Adressen von Familien, die über das ganze Land verstreut waren, wieder. Schon bei den ersten Treffen mit diesen Familien in Shkodra verstand ich die Emotionalität der Geschichten, die Tränen der Ergriffenheit, die auf alters-vergilbte Fotos flossen, und insbesondere die Tatsache, dass es sich in den meisten Fällen vor allem um ungewöhnliche Liebesgeschichten handelte. Das brachte mich dazu, eine Kollegin um Hilfe zu bitten. Gemeinsam konnten wir die Feinheiten, die Schatten und Sorgen dieser Geschichten verstehen. Auf die Weise schloss sich die Kollegin Klodiana Kapo dem Projekt an. Gewappnet mit einem weiblichen Part, nahm ich die Arbeit auf. Wenn ich das Buch jetzt, nach fünf Jahren, wieder aufschlage, sehe ich, dass mein erstes Empfinden nicht falsch war. Diese Geschichten sind einfach Liebesgeschichten, im wahrsten Sinn des Wortes.

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LOVE STORY 1

Diese Zeilen wurden von Loreta Prela, einer Lehrerin in Shkodra, geschrieben, die als Enkelin mit ihrer Großmutter (Oma) [Hier und im weiteren Verlauf dieser Erzählung steht „Oma“ im Original immer auf Deutsch; Anmerkung von Zuzana Finger] aus der Steiermark eng verbunden war. Sie erzählte uns diese traurige Geschichte: „… Ludmilla Jovan, die am 15. September 1905 in Leutschach geboren wurde, war die Tochter von Joseph Jovan und Flora Tschertche, das zweite von neun Kindern … Als ihre Mutter Flora an der spanischen Grippe starb, war Lud-milla erst 11 Jahre alt. Die Kindheit verbrachte sie in ihrem Geburtsort, wo sie die Grundschule abschloss, im Kirchenchor sang, viele Handarbeiten anfertigte und ihrem Vater half, der Bäcker war. Um das Jahr 1927 ging Ludmilla aus dem Elternhaus weg nach Dubrovnik. Ein Schwager von ihr fand dort Arbeit für sie in einem Fotogeschäft. In der Stadt wohnte sie bei einer alleinstehenden Frau, die sich um sie kümmerte und die sie sehr mochte. Währenddessen vervoll-kommnete sie ihr Kroatisch, das sie später auch zu Hause verwendete. Zu der Zeit verliebte sie sich in den Albaner Nikolla Shestani, der aus Cetinje in Monte-negro kam und an der Mittelschule in Dubrovnik Handel lernte. 1932 heiratete das Paar. Ludmilla und Nikolla wohnten anfangs in Cetinje, wo ihre zwei Töchter, Dorothea und Maria, geboren wurden. Maria, meine Mutter, war eines von Zwillingen, das dank Gott und der Fürsorge ihrer Mutter überlebte. Wegen der erwarteten Bombardierung von Cetinje durch die Deutschen kam die Familie 1942 nach Shkodra, wo sie Unterkunft fanden. Großmutter Ludmilla erzählte mir: ‚Auf dem Weg nach Albanien wurden wir von einem heftigen Regen über-rascht, so dass wir in Koplik rasten mussten. Mit uns war auch die Familie von Ndoc Hardalli, dessen Mutter ununterbrochen weinte. Wahrlich ein schlechtes Omen.‘ Großvater betrieb als Mitinhaber am Hauptplatz von Shkodra die Bar Impero, und die Großmutter, eine Meisterin in der Küche, bereitete alle Vor-speisen und die mit Wurst bestrichenen Sandwiches zu, wie nur sie das konn-te … 1944 zogen die Partisanen in die Stadt ein. Für die Familie begann eine weitere schwere Zeit. Dem Großvater wurde die ganze Ware konfisziert und er wurde für sechs Monate in Haft genommen. Tuk Jakova, ein kommunistischer Anführer, mit dem er befreundet war, half ihm, dass er freikam. (Jakova selbst

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starb im Gefängnis, eingesperrt von seinen früheren kommunistischen Ge-nossen.) 1948 gab der albanische Staat meinem Großvater einen Pass, damit er zu seinem Grundeigentum in Cetinje zurückkehren konnte. Es war Mai und die Töchter Dori und Meri, 11 bzw. 14 Jahre alt, waren in der Schule. Großvater brach nach Cetinje auf, um dort das Haus in Schuss zu bringen, das sechs Jahre lang verschlossen gewesen war. Nach drei Tagen, als er zurückkehren wollte, um seine Familie zu holen, wurden ohne jede Vorankündigung die diplomatischen Beziehungen zwischen Albanien und Jugoslawien abgebrochen, die Grenzen wurden geschlossen. Großvater Kola (Nikolla) konnte nicht mehr zurückkehren. Ludmilla, mit zwei schulpflichtigen Töchtern, blieb eine Fremde, in einem fremden Land, ohne Unterstützung. Mit dem Pass in der Hand, mit den gepackten Möbeln konnte sie diese absurde Trennung nicht fassen. Kurz danach begannen die Drohungen des kommunistischen Staates gegenüber Ausländern, und es bestand die Gefahr einer Internierung. Rechtsanwalt Shehi half ihr in der ersten Zeit. Dieser hatte eine kranke Frau, die in Zagreb in Behandlung war, der er aber kein Geld schicken konnte. Also dachten sie sich einen Tausch aus. Großvater Kola gab der Frau des Rechtsanwalts Geld für die Behandlung in Zagreb, und der Rechtsanwalt gab dieselbe Summe der Großmutter in Albanien. Aber das ging nicht lange. Die Töchter waren klein und brauchten viel, sodass die Groß-mutter sogar ihren Ehering verkaufte, bis sie mit ihren geschickten Händen begann, mit der Maschine zu nähen und ein wenig Geld zu verdienen, um über die Runden zu kommen. Obwohl sie nicht gut Albanisch sprach, interessierte sie sich dafür, was in Albanien geschah, weil sie hoffte, dass das Regime, das ihr die Grenzen geschlossen hatte, eines Tages zu Ende gehen wird … Meri, meine Mutter, begann im Alter von 15 Jahren am Schalter der Sparkasse zu arbeiten. Sie brach die Mittelschule im zweiten Jahr ab, weil die Familie Not litt, und setz-te die Abendschule für Wirtschaft fort. In 43 Jahren konnte Ludmilla ihren Mann nur einmal treffen. Das war 1966 bei ihrer Schwester Irmtraud, die in Linz lebte. Großvater kam von Cetinje an, und als sie sich trafen, wurde er vor Aufregung und Sehnsucht ohnmächtig. 1989 schloss Großvater die Augen für immer fern von seiner Familie. Keinem wurde erlaubt, ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Weder als sie mit dem Telegramm über sein Ableben im Innenministerium, noch als Oma und

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ihre Töchter in der Abteilung für Inneres in Shkodra vorsprachen. Sie wurden raus-geworfen. 1992 besuchte Oma zusammen mit den Töchtern ihr Haus in Cetinje. Als sich Oma über das Grab ihres Mannes beugte, weinte sie zum ersten Mal bitterlich. Sie blieb nicht lange dort. Sie hatte sich an uns gewöhnt, und das Haus schien ihr ohne den geliebten Menschen leer. Ihr letzter Wunsch war, neben ihrem Mann zu ruhen. Oma schloss die Augen für immer am 3. März 1994 in Shkodra. 15 Jahre später wurde ihr Testament erfüllt, und jetzt, am Ende, nach einem langen und schweren Kalvarienweg, ruht sie neben ihrem Mann. Der Tod vollbringt zuweilen das, wozu das Leben keine Kraft hatte!“

LOVE STORY 2

Xhaferr Belegu wurde 1905 in Elbasan geboren. Er war der Sohn eines stadtbe-kannten Handwerkermeisters. 1917 erhielt er ein Stipendium des albanischen Staates für Österreich. Nach der Mittelschule wurde er für das Wirtschaftsstu-dium in Linz nominiert. Während des Studiums von 1924 bis 1928 verliebte er sich in Leopoldina Stadlbauer, eine junge Adelige, und 1928 zog das jungverhei-ratete Paar nach Tirana, wo Xhaferr zuerst zum Hauptbuchhalter des Minister-präsidentenamtes und später zum Personalchef ernannt wurde. 1931 begann er eine diplomatische Laufbahn. Für einige Zeit arbeitete er als diplomatischer Kurier und als Leiter im Archiv des Außenministeriums Während des Zweiten Weltkriegs war er albanischer Konsul in Bari und in Manastir (Bitola). In Elbasan lebt an der alten Burg „Scampin“ heute die Familie Hoxha. Marlene Hoxha ist eines von zwei Kindern des Paares Belegu-Stadlbauer. „Das Erste, was mir einfällt, wenn ich an meine Mutter denke“, sagt sie, „ist das Wort ‚die Deutsche‘. So wurde meine Mutter in der Stadt genannt, während ich und mein Bruder Luan ‚die Kinder der Deutschen‘ waren. Als ich klein war, hat es mich verunsichert. In dieser Zeit war ‚Deutscher‘ zu sein ein Synonym des Bösen, weil nur die siegreichen Partisanen die Guten waren. Die alten Familien in Elbasan haben die Mutter indessen geachtet. Sie wurde ‚Poli‘ genannt. Ich erinnere mich an die Geschichten, die sie mir erzählt hat. In einer davon war Vater 1942 albanischer Konsul in Manastir (Bitola). Mutter kannte einige Juden, die sich in Manastir versteckten und die nach Italien wollten, um sich vor der Verfolgung

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durch die Gestapo zu retten. Der Wagen des Konsulats verkehrte oft zwischen Manastir und Tirana. Meine Mutter hat es ermöglicht, dass viele Juden in diesem Wagen mit diplomatischer Immunität von Manastir direkt nach Dur-rës fuhren, ohne dass es Vater immer wusste. 1944 zog unsere Familie nach Elbasan. Genau seit dieser Zeit wurde unsere Mutter als ‚die Deutsche‘ bezeich-net, und sie beschloss, sich lieber im Haus aufzuhalten, als in die Öffentlichkeit zu gehen. Sie vertrieb sich die Zeit mit dem Nähen von Schirmen, was zu der Zeit ein seltener Beruf war. Ich erinnere mich, dass sie die Elbasaner Mundart sprach. Ich erinnere mich auch, dass in unserem Haus gleichermaßen beiderlei Feste gefeiert wurden, sowohl die christlichen als auch die muslimischen. Ich habe auch noch den bunten Schmuck des Weihnachtsbaums vor Augen, den meine Eltern 1928 aus Linz mitgebracht hatten. Während des Kommunismus war mein Vater wegen der Ehe mit unserer Mutter immer verdächtig. Er wurde vom einfachen Buchhalter in den Stadtbetrieben auf die Stelle eines kommu-nalen Arbeiters abgeschoben, bis er 1962 noch jung starb. Mama Poli starb viel später, 1993.“

LOVE STORY 3

„In seinem Inneren war das Vaterland ein Gebäude, in dem sich das Unbewuss-te und das Bewusste stritten, wer das Vaterland mehr liebt. Die Fundamente dieses Gebäudes wurden im fernen Rumänien von der albanischen Kolonie in Bukarest errichtet. Ihm schien, als ob anstelle der Steine Diamanten in die Fundamente gelegt wurden, die sich miteinander zu rührenden patriotischen ‚Mörtel‘ verbanden. Jahre vergingen bei der Arbeit als Ingenieur Donau auf-wärts und Donau abwärts, aber seine Seele verlangte es nach dem Vaterland. Und diese Gelegenheit fand sich, als die Landsleute im Ausland zum Wiederauf-bau in das vom Krieg zerstörte Albanien eingeladen wurden ...“ Diese Zeilen wurden von Mirdit Kosta geschrieben, dem Sohn von Dhi-mitër Kosta und der Österreicherin Ermi Pirsch. Dhimitër Kosta wurde 1903 in Constanţa in Rumänien in einer albanischen Emigrantenfamilie geboren. 1926 begann er das Studium des Bauwesens in Wien und schloss es 1933 in Graz mit dem Diplom als Vermessungsingenieur ab. Bis 1946 arbeitete er in Österreich mal da, mal dort und beschäftigte sich mit dem Wiederaufbau

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kriegsbeschädigter Brücken. 1942 verliebte sich Dhimitër in Ermi Pirsch, die in Kroatien als Tochter eines Berufsmilitärs geboren wurde, und heiratete sie. 1946 vollzog das verliebte Paar einen Schritt, den es kurz danach schwer bereute. Aufgrund eines Aufrufs der kürzlich aus dem Krieg hervorgegange-nen Regierung, beim Wiederaufbau von Albanien zu helfen, beschlossen sie, eine große Entscheidung zu treffen, nämlich nach Tirana zu gehen, ohne jedes wirtschaftliches Interesse! Dhimitër arbeitete anfangs bei der Umsetzung der Agrarreform, später bei der Trockenlegung der Sümpfe und noch später im Bauministerium und an der Fakultät für Bauwesen. Dhimitër starb 1985 in Tirana im Alter von 82 Jahren. Ein Jahr nach ihm schloss auch seine Frau Ermi Pirsch für immer die Augen. Der literaturbegeisterte Mirdit erzählt uns: „Wir hatten ein besonderes Abenteuer mit den Häusern, in denen wir wohnten. Unser erstes Haus in Albanien war ein einfaches Militärzelt und es stand am Fluss bei der Hasan-Bey-Brücke, die man heute die Erdölbrücke nennt. Das war das erste Bild, das wir vom sehnlich erwarteten Vaterland sahen. Ich war ganz klein, aber ich habe noch das Bild der Mutter vor Augen, wie sie sich jeden Morgen im Fluss wusch und das Erstaunen und vielleicht auch den Neid der örtlichen Dörflerinnen weckte. Dann wurde Vater nach Maliq versetzt, und wir führten unser Leben im Zelt am Fluss weiter. Vater erschütterte damals sehr, dass sich, nachdem sogenannte ‚Saboteure‘ erschossen worden waren, die Vermessungen als völlig richtig erwiesen. Ich glaube, dass ihn die große Erschütterung und der enttäuschte große Traum vom Vaterland genau zu dieser Zeit ereilten. Von da an wurde er schweigsamer. Danach haben wir in Durrës in einem ebenerdigen Haus gewohnt, bei den ‚Pappeln‘, weil Vater als Ingenieur bei der Bahnverbin-dung Durrës–Tirana arbeitete. Mutter hatte noch die österreichische Staats-bürgerschaft. Sie war sehr traurig. Sie wollte ihre österreichischen Freundinnen treffen, die in Tirana wohnten, aber sie brauchte dafür eine besondere Geneh-migung, die sich entweder sehr verspätete oder gar nicht erteilt wurde. Einmal, als sie ohne Genehmigung nach Tirana gefahren war, zahlte sie dafür einen hohen Preis, denn sie musste für einen Tag in Gewahrsam. Mutter nahm die albanische Staatsbürgerschaft erst 1957 an, in dem Jahr, als meine Großmutter in Graz starb. Sie hat nie Albanisch gelernt. Zu Hause sprachen wir entweder Rumänisch oder Deutsch. 1948 wurde meine Schwester geboren. Wenigstens eine Freude für die Familie. Ich selbst habe ein schweres Leben gehabt, Alba-

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nisch habe ich gelernt, als ich in die erste Klasse kam, in Durrës, dann hat man zunächst gezögert, mich in die Mittelschule aufzunehmen. Später hat man mir meine große Leidenschaft, die Literatur, versagt. Ich erinnere mich an das Glück, das ich fühlte, als 1965 eine Erzählung von mir gedruckt wurde … dann wurde ich als Lehrer nach Orosh in die Mirdita verschickt, die damals als ein isoliertes Gebiet des Landes galt. Hier erfand man eine Geschichte mit einer Einberufung zur Reserve, der ich nicht Folge geleistet haben soll, und ich wurde mit sechs Monaten Gefängnis bestraft. Nach diesen ersten Abenteuern arbeite-te ich als Lastenträger in der Elektronik in Tirana und später als Bauzeichner im Unternehmen Straße-Brücke. Mit wenigen Worten, ich bin das traurige Produkt eines patriotischen Traumes …“

Im Vorwort des Buches „Der rote Schirm“ schrieb ich 2012 unter anderem: „Dieses Buch enthält Splitter flüchtigen Glücks, das Lachen träumender Lie-bender, das Zittern der Ängstlichen, glückserfüllte und fluchbeladene Schick-sale, gewagte Sprünge in den Wirbel des Lebens, unerklärliche Abenteuer, kurze und lange Leben, leuchtende und dunkle Tage, so wie das Lebens selbst. Dennoch wünscht sich der Autor, dass dieses Buch von möglichst vielen Men-schen gelesen wird. Er ist, wer weiß, warum, heimlich überzeugt, dass das Lesen dieser Zeilen der Güte und zugleich der Torheit hilft, dass wir alle einander näher und begreiflicher werden.“ Heute finde ich keinen wirklichen Grund, von dieser Überzeugung abzurücken, ganz im Gegenteil … Aus dem Albanischen von Zuzana Finger

Die Gespräche des Autors mit den Personen der „Drei alten Liebesgeschichten“ sowie deren Niederschriften fanden allesamt 2012 statt. [Anmerkung von Fatos Baxhaku]

Die Vorlagen zu den hier redigiert wiedergegebenen „Liebesgeschichten“ enstammen folgendem Buch: Baxhaku, Fatos: Der rote Schirm. Geschichten österreichisch-albanischer Schicksale vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Tirana: Dituria, 2013.

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Jutta BenzenbergFrederik Dashi, TiranaFotografie 2012

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Jutta BenzenbergBrigite Xhepa, Tirana Fotografie 2012

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Die Düfte Österreichs: Vier Begegnungen mit Österreich

Es gibt in der Welt etliche schöne Städte, erbaut an schönen Plätzen; es gibt in der Welt viele schöne Städte, erbaut an hässlichen Plätzen, es gibt hässliche Städte, erbaut an hässlichen Plätzen, aber man findet schwerlich eine hässli-chere Stadt, die am schönsten Platz der Welt erbaut wurde, als Shkodra. Nun, Shkodra ist nicht hässlich, wenn man es für sich nimmt, oder wenn man die Möglichkeit hätte, es an einen anderen Platz zu setzen. Ganz im Gegenteil. Es ist schön, d. h. bescheiden schön … Doch es handelt sich darum, dass der Platz, an dem es erbaut wurde, so schön ist, aber so schön, dass die besten Architekten und Städtebauer der Welt zusammenkommen müssten, um eine Stadt zu bauen, die würdig wäre, mit der Landschaft zu konkurrieren. Wie unschwer zu begreifen ist, wird der Unterschied zwischen der Stadt und der Landschaft tagtäglich zu einem schrecklichen, furchteinflößenden Ab-grund. Dieser Widerspruch zwischen dem, was Gott, und dem, was der Mensch schuf, beschwört die stärksten Gefühle herauf, die man bekommt, wenn man ihn sieht. Zuweilen scheint es sogar, dass der Mensch, Dummkopf, Lump und Heimtücker, der er ist, mit seinen Werken der Natur ständig den Krieg erklärt. (Fragment aus dem Roman von Stefan Çapaliku: „Jeder wird auf seine Art verrückt“, Tirana 2016.)

Doch Shkodra leistet dem menschlichen Wahnsinn Widerstand, auch dank einiger linder Düfte der Zivilisation, die durch seine alten und in tiefe Deka-denz versunkenen Straßen und Gassen wehen. Einige dieser Düfte, die der Nase schmeicheln und die für manche eine ferne und für manche eine nahe Herkunft haben, sind die Düfte Österreichs …

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DIE ERSTE BEGEGNUNG MIT ÖSTERREICH

Mir schien, dass unser Haus das größte, aber auch das älteste in unserem Vier-tel war: zweigeschossig – das Erdgeschoss größtenteils unbewohnbar – außen eine Steintreppe, davor ein Hof und seitlich und hinten ein Garten. Und eine Scheune! – ein Überbleibsel aus türkischer Zeit, als die Häuser noch nicht ganz städtisch waren. Was gab es dort nicht alles! Altes, nutzlos gewordenes Gerüm-pel. Alles, was von Opas Werkstatt und dem Café seines Bruders Toma nach der Enteignung durch die Kommunisten übriggeblieben war. Von Opa gab es viel Werkzeug und hölzerne Schuhleisten von Größe 35 bis Größe 45. Die Leisten lagen auf einem Bord am Eingang der Scheune, von Spinnweben bedeckt und ausgebreitet, als ob sie eine Kollektion Weinflaschen wären. Von seinem Bruder gab es ein Holzfass und einen Eisschrank, der in der Zeit vor der Elektrifizierung hergestellt worden war. Und leere Getränkefla-schen von Stroh, Doppio Kummel, Cinzano, Fernet-Branca, Schnaps. Als kleines Kind saß ich in der kühlen Scheune mit wachen Augen, vor allem an heißen Sommernachmittagen, wenn es einem vom Lichtspiel, das durch die kleinen Fenster hineindrang, schwindelte. Genau dort beim Bord mit den alten Leisten fand mich eines Tages mein Opa Tefa [Abkürzung des Namens Stefan, Anm. S. Ç], ein alter Schuster, der unbeugsam war, bis er starb. Ich erinnere mich, dass Opa vor mir in die Knie ging und zu erzählen begann, als ob er mit einem Freund sprechen würde. Er erzählte mir die Geschichte von einem österreichischen Offizier, dessen Stiefel kaputtge-gangen war, welchen er nun bei einem Schuster auf dem Bazar von Shkodra reparieren lassen wollte. Das muss irgendwann zwischen 1916 und 1918 gewe-sen sein, als die österreichisch-ungarische Armee nach Albanien einmarschiert war, um das Wort einzulösen, dass die Bajonette der Habsburger Armee die Unabhängigkeit Albaniens garantieren würden. Großvater liebte es sein Leben lang, diese Geschichte zu erzählen, wie nun dieser schlanke und hochgewachsene Offizier die Werkstatt des Shkodra-ner Schusters betrat und voller Abscheu bemerkte, dass alles darin schmutzig und eklig war. Dem Shkodraner Schuster, der den ungewöhnlichen Kunden aufmerksam wahrnahm, entging der verächtliche Blick nicht, und er knüpfte ein Gespräch daran an: „Der Türke war es, mein Herr, dass wir so zurückgeblie-ben sind. Wenn er in diesem Land nicht 500 Jahre lang gewesen wäre, sähe es

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anders aus“, sagte er flüsternd … „Ist es wirklich der Türke, der dich die Spinn-weben über deinem Kopf nicht entfernen lässt?“, antwortete ihm der Offizier, streckte den Arm aus und wischte die Spinnweben mit der Hand weg.

DIE ZWEITE BEGEGNUNG MIT ÖSTERREICH

„Geh, stell dich für Äpfel an, bitte. Du hast gerade nichts zu tun“, drängte die Oma. „Warum denn ich?! Ich habe Hausaufgaben für morgen.“ „Bitte, geh du, weil außer dir keiner da ist“, sagte sie sanft zu mir. „Geh und stell dich an, wenn du Plunderschlange essen willst.“ „Plunderschlange?!!!“, fragte ich, und das Wasser lief mir im Mund zusam-men. Für eine Plunderschlange wäre ich bereit gewesen, bis ans Ende der Welt zu gehen, und nicht nur, mich beim Geschäft in unserer Siedlung anzustellen. „Wie viele soll ich holen?“ „So viel sie dir geben“, sagte sie und steckte mir einen Fünfzig-Lek-Schein in die Hand. Als ich beim Geschäft ankam, war die Warteschlange zum Glück nicht sehr lang. Vor mir, auf der Seite der Männer, waren nur Hermenegjildo und Fric. Sie waren meine Nachbarn und unterhielten sich über irgendetwas, das mit Kunst zu tun hatte. Auf der Frauenseite der Wartenden waren die Frau des Professors Kola und die Lehrerin Frederika mit Marie, der Schwester des Herrn Rozari. Beide hatten selbstgemachte Stoffbeutel mit Holzringen als Tragegriff. Als ich an der Reihe kam, waren nur noch wenige verschrumpelte Äpfel übrig, klein wie Kieselsteine. „Wie viele Äpfel willst du, Sohn von Lazar?“, fragte mich die Verkäuferin, eine äußerst attraktive Frau aus dem Süden, die mit einem Offizier verheiratet war. „Zwei Kilo vielleicht“, sagte ich und streckte ihr den Fünziger entgegen. „Aber essen kann man die nicht wirklich, mein Junge“, sagte sie. „Das macht nichts, das macht nichts, die Oma braucht sie für die Plun-derschlange.“ „Wofür braucht sie die, wofür braucht sie die?!!!“, fragte sie wiederholt beim Wiegen der Äpfel.

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Woher hätte sie denn die Plunderschlange kennen sollen? Die Plunderschlange war der beste Kuchen auf der Welt. Später, als ich erwachsen wurde, begriff ich, dass die Plunderschlange in Wirklichkeit nichts anderes war als ein österrei-chischer Strudel, den man in Shkodra wegen der Weise, wie er auf den kleinen Backblechen der Sparherde geringelt wurde, Plunderschlange nannte. Gerin-gelt wie eine Schlange, also …

DIE DRITTE BEGEGNUNG MIT ÖSTERREICH

Es war 1973. Aleks, mein Banknachbar in der dritten Klasse, der Locken hatte wie ein Afrikaner, war ein richtiger Störenfried. Ein Zappelphilipp. Deshalb setzte mich die Lehrerin Adelajda neben ihn, um ihn irgendwie unter Kontrolle zu halten. Etwa zwei Monate nach dem Schuljahresbeginn aber legte die Lehrerin fest, dass die guten Schüler Betreuer von den schwächeren Schülern der Klasse werden. Betreuer zu sein, hieß unter anderem, zu dem Schüler nach Hause zu gehen und mit ihm die Hausaufgaben gemeinsam zu lösen. Es versteht sich, dass nach einiger Zeit das Ergebnis dieser Methode mehr bei den guten Schülern zu spüren war, die schlechter wurden, als dass die schwachen Schüler besser geworden wären. Wir hatten zu dieser Zeit man-gels Klassenräumen den Schulunterricht nachmittags, also gingen alle meine Vormittage des ersten Halbjahres für die Hausbesuche bei Aleks drauf. Aleks schrieb ganz schnell die Hausaufgaben ab, die ich ihm fertig gab, und dann be-gann das Fußballspiel in seinem Hof, wo sich uns ein paar andere Gleichaltrige anschlossen. Das Spiel dauerte so lange, bis unser einziger Gummiball auf der Spitze der Hoftür aus Holz, an der sich ein riesiges Hufeisen befand, aufge-spießt hängen blieb. Ich weiß nicht mehr, warum man Hufeisen an die Hoftüren zu schlagen pflegte, aber damals war das in Shkodra so üblich. Nirgendwo aber sah ich jemals ein größeres Hufeisen als am Haus von Aleks, also dort, wo unser Ball verunglückt war. Kurz darauf kam der Vater von Aleks zum Mittagessen nach Hause. Er nahm eine Leiter, holte den Ball und versprach uns, ihn irgendwie abzudichten und zu reparieren. Bei der Gelegenheit putzte der Vater von Aleks das riesige Hufeisen mit seinem Taschentuch.

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„Das ist das Hufeisen des österreichischen Gemeindepferdes“, sagte er uns, „... desjenigen österreichischen Gemeindepferdes, das die Menschen zu ihrer letzten Ruhestätte brachte. Es lief langsam und lebte volle 40 Jahre. 1956 ist es gestorben.“ „Es war ein Haflinger“, fuhr der Vater von Aleks fort, „... die Österrei-cher ließen es hier als Geschenk zurück, als sie 1918 gingen. Sein Fell war weich und kastanienbraun. Einige Zeit benutzte man es zum Ziehen einer Wasserton-ne, um die staubigen Straßen von Shkodra zu besprengen. Auch diese Arbeit verrichtete es mit Würde, genauso wie wenn es die Menschen in jene Welt be-gleitete, mit gesenktem Kopf und langsamen Schrittes. Seit ich sein Hufeisen an der Tür befestigte habe, ist in diesem Haus nichts Böses passiert … nurdiesem Ball …“, schloss er und lachte.

DIE VIERTE BEGEGNUNG MIT ÖSTERREICH

Die vierte Begegnung mit Österreich trug sich in der Scheune eines anderen Kindheitsfreundes zu, im selben Jahr wie die dritte Begegnung vielleicht, oder ein Jahr später. Wie auch immer: Wir suchten ein Brett, um eine Seifenkiste zu bauen. Die ganze Scheune Pjerins liefen wir auf und ab und konnten nichts fin-den, bis Pjerin selbst sagte, dass das einzige geeignete Brett das Ladenschild seines Opas wäre, also jenes, das an den Balken angebracht war, wo die Zim-merdecke vom Obergeschoss begann. Das Schild war wohl aus Eichenholz, toll verarbeitet, und auf einer Seite stand etwas auf Deutsch geschnitzt: „Zurück für Frano“. „Nein“, sagte Pjerin, „das dürfen wir nicht nehmen … Papa bringt mich um, wenn er das mitkriegt.“ Das Stück Brett war ein Aushängeschild des Klubs, den Pjerins Opa Frano Lleshi in Badra – einem alten Stadtviertel – führte und der sich am Rande der-jenigen Straße befand, die die österreichischen Soldaten und Offiziere zu den Kasernen entlanggingen. „Papa sagt“, erzählte Pjerin weiter, „dass Opa dort Raki brannte, vor den Augen seiner Kunden, und das machte ihn vertrauenswürdig … Er hat später auch ein bisschen Deutsch gelernt, so viel, um sehr beliebt zu werden. Der Klub war bis in die Nacht voll mit Österreichern und einzelnen Shkodranern, die deren Sprache und Sitten lernen wollten.“

53 Stefan Çapaliku: Die Düfte Österreichs

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„Na gut, na gut, aber warum hebt dein Vater dieses Brett auf?“, fragten wir ihn, verwirrt von seiner Weigerung, es für die Seifenkiste zu verwenden. „Das wäre so ein fantastischer Wagen, mit deutscher Schrift.“ „Ich weiß nicht, warum es Papa aufhebt“, sagte Pjerin, „aber niemand darf es anfassen, Gott beschütze, dass es nicht irgendjemand anfasst.“

POSTSCRIPTUM

Die Düfte Österreichs, die aus der Zeit der „Deutschen“ übriggeblieben sind, gibt es weiterhin hie und da in der Stadt. Noch heute, wenn du zum Hof der Familie Staka gehst, siehst du dort die „Lilien des Onkels“ wachsen. Es sind weiße, wohlduftende Lilien, die von allen gepflegt werden. Der Onkel Shtjefën [albanische Form des Namens Stefan, Anmerkung von Stefan Çapaliku] Ingrizi hatte sie aus Österreich mitgebracht, als er zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückkam, um in Shkodra die Gewerkschaftsbewegung zu organisieren. September–November 2017 [Anmerkung von Stefan Çapaliku]

Aus dem Albanischen von Zuzana Finger

Der Text ist im Original nicht Hochalbanisch, sondern besitzt Shkodraner Färbung. [Anmerkung von Zuzana Finger] Die deutsche Übertragung wurde redaktionell der österreichischen Umgangssprache angeglichen.

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57I l i r F e r r a

Wir gibt es nicht. Ein Fragment

Vlora war nicht mehr seine Stadt. Sie war aber auch nicht sein Grab, wie seine Verwandten über diejenigen Städte, in welchen sie selbst lebten, in ihren letz-ten Briefen an Mojsi geschrieben hatten. Mojsi glaubte wirklich nicht, dass es für ihn jemals so weit kommen würde. Das konnte er sich nicht vorstellen. Sei-ner Frau und den zwei Töchtern, Hana und Rachel, konnte hier nichts zustoßen. Da war Mojsi zuversichtlich. Der Himmel war blau. Die Hauptstraße verlief breit und gerade, um in einen weiten, flachen Platz vor dem leuchtenden Meer zu münden. Hier gab es nur zwei Richtungen, zur Küste oder in die Stadt. Für Mojsi jedoch nur eine: um die Ecke in seine kleine Bäckerei. Aber heute nicht. Heute musste er in die Stadt, zum Bürgermeister. Die Menschen um ihn herum waren unverändert. Was kümmerte es sie, dass die Italiener gingen und die Deutschen kamen? Auch Mojsi hatte sich wochenlang geweigert, daran zu glauben, dass ihn das kümmern sollte. Dem Drängen seiner Frau Miriam, die ihm seit Wochen in den Ohren lag, für die Familie Ausweise zu besorgen, in welchen ihre jüdi-schen Namen nicht aufschienen, hatte er trotzdem nachgegeben, und jetzt war er froh darüber. Denn nun sah er auf einmal doch ein, dass die Welt um ihn herum bloß oberflächlich unverändert erschien, innerlich jedoch nicht mehr dieselbe war. Nicht nur war Vlora nicht mehr seine Stadt. Vlora gab es nicht mehr. „Die anderen kommen aus Polen, aus Griechenland, aus Serbien und allen anderen Ländern, um sich hier mit gefälschten Papieren auszustatten!“, hatte Miriam auf ihn eingeredet. „Und du meinst, du kannst deine Bäckerei nicht einmal eine Stunde zusperren.“ Er hatte nicht geantwortet. „Zu Mittag ist doch überhaupt kein Geschäft, da brauchst du nicht um-sonst da herumstehen. Mit einem Besuch beim Bürgermeister könntest du uns retten.“ „Wovor denn retten? Und was soll ich ihm sagen, wenn ich bei ihm auf-kreuze?!“

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„Kreuze doch einmal bei ihm auf und sage ihm, dass wir gehört haben, dass jüdische Flüchtlinge falsche Ausweise bekommen und wir …“ „Ich soll vom Bürgermeister falsche Ausweise holen …?!“ „Die Albaner machen das!“ „Doch nicht für uns, nur für die Flüchtlinge, die weiterziehen, wir leben doch hier!“ „Geh und frag.“ Über Wochen hindurch hatten sich diese Gespräche wiederholt, sodass Mojsi seine Frau zu meiden begonnen hatte, um sich am Abend in seinem Geschäft einzusperren und Radio zu hören. Eine Nachricht jagte die andere. Die Sprecher hatten nichts im Sinn als Kriegsfronten, Operationen, ranghohe Politiker, Staatsmänner der Herrenländer. Diese waren mehr oder weniger gewissenhaft. Mehr oder weniger eitel. Mehr oder weniger rechthaberisch. Mehr oder weniger schlecht informiert. Mehr oder weniger von ihren Leuten hintergangen. Mehr oder weniger gut. Mehr oder weniger böse. Mehr oder weniger die Herren, die das Schicksal der Welt in die Hände genommen hatten. Mehr oder weniger die Geister, die inzwischen Mojsis Geschäft bewohnten. In dem Teig, den er knetete, vermischten sich die Kriegsmeldungen, und Mojsi vermeinte darin schattenhaft die Züge der Opfer zu sehen. Auf den Gebäck-stücken die Landstriche, die das Kriegsfeuer versengt hatte. Dann blickte er auf den Boden, auf die Maserungen der Holzregale und stellte sich darin die Grenzen zwischen den Ländern vor, die mit Blut gelöscht wurden, um hin und her verschoben zu werden. Und während er darauf starrte, merkte er, dass diese Bewegung weder vor Vlora noch vor seinem kleinen Geschäft haltma-chen würde. Plötzlich erkannte er, dass er sich um die Stadt keine Gedanken machte, auch um sein kleines Geschäft nicht, nicht einmal um sich oder seine Frau machte er sich wirklich Gedanken. Er hätte in diesen Räumen ausgeharrt und sich von der Geschichte überrumpeln lassen. Dieses Schicksal war ihm wie all seinen Zeitgenossen beschert. Dieses Schicksal bewirkte ja auch, dass diese mächtigen Hitzköpfe, die tagaus, tagein um den heißen Brei redeten, nie auf die Idee kamen, diesem Adolf Hitler eine Kugel in seinen überhitzten Schädel zu jagen. Das würde nicht geschehen, dachte Mojsi bei sich, weil es vor dem Schicksal kein Entrinnen gäbe. Und seine Rolle war, in seinem Geschäft die Zeit abzusitzen, bis die grimmigen Trupps kommen würden, um ihn zu holen. So war das vorbestimmt. Das stand so geschrieben, wie es so schön hieß. Das hatten

58 Ilir Ferra: Wir gibt es nicht

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offenbar auch seine Vettern, die in Europa verstreut waren, erkannt. Deshalb waren sie nicht geflüchtet, hatten sich festnehmen und deportieren lassen. Doch dann hob er die Brauen hoch, starrte durch die Auslage zum staubigen Nachmittag hinaus, seufzte und widmete sich dem einzigen Gedanken, der ihn eigentlich beschäftigte: Hana und Rachel. Was konnten sie dafür! Weder war das ihre Zeit noch ihr Schicksal. Mit jedem Schritt, den er auf seinem Weg zum Rathaus setzte, spürte Mojsi deutlicher, wie ihm der Boden unter seinen Füßen schwand. Die von den Italienern bereits kontrollierten Städte wurden reibungslos der Wehrmacht übergeben. Die albanischen Widerstandskämpfer, Partisanen und andere, hatten dem nicht viel entgegenzusetzen. Sie hielten ihre Stellungen, aber ausschließlich in den gebirgigen Dörfern. Die Deutschen, hieß es, werden Vlora schon bald erreichen. Nicht besetzen oder erobern. Sondern einfach als neue Herrscher antanzen. Mojsi musste fast immer bei dem Ausdruck „die Deut-schen“ an seine Verwandten denken. In den Gesprächen seiner Eltern waren sie auch stets so bezeichnet worden, wenn im Allgemeinen von ihnen die Rede gewesen war. In gleicher Weise wurden sie in letzter Zeit in den Gesprächen zwischen ihm und Miriam erwähnt. „Die Deutschen, die Deutschen“, wiederholte er bei sich und meinte da-mit einmal die anrückende Wehrmacht und einmal die verschollenen Verwand-ten. In den letzten Wochen war diese Bezeichnung immer häufiger gefallen. Aber das hatte noch nie zu Verwechslungen geführt. Miriam und er wussten gleich, wen der andere damit meinte. Denn der jeweilige Ton, in dem dasselbe Wort ausgesprochen wurde, beschwor völlig unterschiedliche Bilder herauf. Im Radio wurde von Zügen gesprochen, in welchen zusammengepferchte Menschen deportiert wurden. „Ob welche von deinen Deutschen auch darunter sind?“, sprach Miriam. Mojsi blickte zu ihr auf, sagte nichts. Sie beharrte nicht auf einer Antwort. Im Gegenteil, sie bereute schon, die Frage in dieser Form gestellt zu haben. Nur, wie sollte sie es sonst ausdrücken? Die Briefe, die nach und nach kürzer gewor-den waren, kamen seit einigen Wochen gar nicht mehr an. Die Erklärungen, die er früher in diesen Briefen erhalten hatte, besorgte nun das Radio. Er wollte es nicht wahrhaben, aber ihre Besorgnis, „diese Stadt wird noch unser Grab“, hatte sich für sie bewahrheitet. Es gab keinen Zweifel. Er lag nachts wach in seinem Bett und überlegte, was er für sie noch hätte tun können. Für ihre Kinder hätte

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er wenigstens da sein müssen. Den Kleinen hätte er wenigstens diese sagenum-wobenen falschen Papiere aus der Druckerei in Kavaja besorgen müssen. Für jedes der Kinder ein solches Dokument mit einheimischem Namen. Das hätte er versucht, wenn sie nach Albanien gekommen wären. Aber sie waren nicht aufgetaucht … Er seufzte bei dem Gedanken, dass er als kleiner Junge immer gehofft hatte, dass diese Verwandten sie mit Geschenken beladen in Vlora besuchen würden. Und es handelte sich dabei um Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins, die er noch nie zu Gesicht bekommen hatte, die für ihn aber stets präsent gewesen waren. Umso mehr, als er, nachdem seine Eltern gestorben waren, die Korrespondenz mit diesem Familienzweig selbst erledigte. Trotzdem waren sie eine Masse von Namen und Gesichtern aus kleinen Fotografien geblieben. Man wollte sich in einer Zukunft gegenseitig besuchen. Am „Kühlen Brunnen“ in Vlora wollten sie baden und er unter der Siegessäule posieren. Diese Sieges-säule hatte es ihm angetan, obschon er davon bloß ein überbelichtetes Bild zu Gesicht bekommen hatte. Der lange Sockel war darauf kaum sichtbar, bloß der Engel, der als ein schwarzer Punkt im Himmel schwebte. Jetzt hielt er das für ein Zeichen aus einer Zeit, in der man nichts mehr in die Zukunft verschie-ben konnte. Wenn es dem wirklich so war, wie sollte er es über sich bringen, für sich die falschen Dokumente zu besorgen? War nicht jeder Versuch, dem zu entrinnen, was seine Verwandten ereilt hatte, nicht fast schon ein Verrat an ebendiesen Menschen, zu deren Rettung er nicht den geringsten Versuch unternommen hatte? Er hatte sie nicht einmal über diese Gerüchte um die fal-schen Ausweise, die überall in Albanien kursierten, in Kenntnis gesetzt. Er hatte das für belanglos gehalten. Ihre Befürchtungen hatte er als die Überempfind-lichkeit von Wohlstandsmenschen abgetan. Dann sah er sich, in einem lumpi-gen Sack mit einem gelben Stern am Kragen. Mojsi machte das nichts aus. Er sah dann Miriam in einem ähnlichen Aufzug. Und auch das machte Mojsi nicht so viel aus. Dann aber, hinter Miriams hohem Körper, etwa im Lendenbereich, erschien Hanas Gesicht und eine Handbreit darunter jenes von Rachel. Er klopfte sich auf die Stirn. Er klopfte sich mit dem Knöchel seines Zeige-fingers ein zweites Mal kräftig auf die Stirn, um sich durch den Schmerz des Schlages von seinen Gedanken abzulenken. Er lag neben Miriam. Sie schlief und er lag da regungslos und mit flachem Atem. Er hätte alle geweckt, wenn er jetzt auch nur einen Fuß auf den Boden, der so fürchterlich knackste, gesetzt hätte.

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Er zählte von hundert rückwärts. Er zählte nicht auf Albanisch. Er zählte auch nicht auf Jiddisch. Er zählte auf Deutsch. So hatte er sich das angewöhnt. Die erhöhte Konzentration machte ihn schneller müde. Die achtziger Zahlen gerie-ten meistens durcheinander, und bei der Mitte der sechziger war er eigentlich schon eingeschlafen. Selbst an diesem Tag, an dem er den Schlaf mehr denn je brauchte. Für einige Stunden vergaß er den Krieg, vergaß seine Verwandten, vergaß den Vormarsch der Wehrmacht, vergaß, dass er nicht umhinkam, am folgenden Tage dem Bürgermeister einen Besuch abzustatten, um endlich zu fragen, was es mit diesen falschen Ausweisen auf sich habe. Er hatte keine Angst mehr, sich mit einer solchen Bitte lächerlich zu machen, denn er war schon längst eingeschlafen.

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Alban MujaBorders without bordersFotografie2016–2017

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Alban MujaBorders without bordersFotografie2016–2017

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Im Zuge der Provenienzforschung der ÖNB tauchte auch der Name eines Wis-senschaftlers auf, dessen Schicksal bislang in der Öffentlichkeit wenig Beachtung fand. Die Historiker_innen, die sich bisher mit der Geschichte des Albanologen Norbert Jokl befasst hatten, waren betroffen von der Skrupellosigkeit und Kälte, mit der ihn der Dekan der philosophischen Fakultät in Wien, Viktor Christian, offenbar denunzierte, um durch die absehbare Deportation und Ermordung Jokls dessen Ausreise zu verhindern und sich seiner wissenschaftlichen Biblio-thek zu bemächtigen. Jokl war 65 Jahre alt, als er im Mai 1942 von den Nationalsozialisten in Maly Trostinec (bei Minsk) ermordet wurde. Allerdings lässt sich anhand der bisher bekannten Akten nicht zweifelsfrei der Schluss ziehen, dass Jokl das Opfer einer gezielten Denunziation durch Christian wurde. Dessen Rolle nach Jokls Verhaftung muss zumindest als mehrdeutig bezeichnet werden, insbesondere nach Auswertung neuer Quellen. Daraus geht hervor, dass sich Christian nicht nur 1939 für Jokl eingesetzt hatte, sondern es ihm in der Folge gemeinsam mit anderen Kollegen auch gelang, Jokl vor der Vertreibung aus seiner Wohnung und zunächst sogar vor einer ersten Deportation im Jahre 1941 zu bewahren. Norbert Jokl stammte aus Ungarisch Hradisch in Südmähren; er wurde dort am 25. Februar 1877 in Bisenz (heute Bzenec in der Tschechischen Republik) als einziger Sohn eines jüdischen Kaufmanns und Gasthauspächters geboren.1 Sein späteres sprachwissenschaftliches Interesse scheint durch das vielsprachige Milieu seiner Kindheit bestimmt. Nach der Volksschule in Bisenz besuchte Jokl das k. k. deutsche Staatsgymnasium in Ungarisch Hradisch und bestand dort 1895 die Reifeprüfung mit Auszeichnung. Anschließend studierte

65M e c h t h i l d Y v o n

Der jüdische Albanologe Norbert Jokl und seine Bibliothek: Spielball zwischen Begehrlichkeit und akademischer Solidarität?

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er in Wien Rechts- und Staatswissenschaften, ein Studium, das er im Juli 1901 mit Auszeichnung abschloss. Ein halbes Jahr als Rechtspraktikant genügte, um ihn zu seinem eigentlichen Interessensgebiet zurückkehren zu lassen, in dem er es zu wissenschaftlicher Anerkennung bringen sollte. Im Wintersemester 1901/02 inskribierte er Sprachwissenschaften unter anderem bei Kretschmer (indogermanische Sprachwissenschaft), Meyer-Lübke (romanische Philologie) und Jagi (slawische Philologie). Er promovierte im März 1908 ebenfalls summa cum laude. Ab Herbst 1903 verdiente sich Jokl seinen Lebensunterhalt als Bibliothe-kar in der k. u. k. Universitätsbibliothek, wo er bis zu seiner Zwangspensionierung 1938 blieb. Die Arbeit in der Bibliothek ließ ihm genügend Zeit für sein Studium, später für seine Forschungs- und Lehrtätigkeit als Privatdozent für Albanologie. Seine Kollegen erinnerten sich an ihn als einen gewissenhaften Bibliothekar, der seinen Beruf nie vernachlässigte oder hinter seine Tätigkeit als Forscher und Wis-senschaftler stellte. 1923 wurde er zum Oberbibliothekar befördert, im Februar 1937 erhielt er anlässlich seines 60. Geburtstags den Hofratstitel. Während des Ersten Weltkriegs war Jokl nicht an der Front, wurde aber offenbar von seinem Kollegen Dr. Leo Spitzer wegen seiner Sprachkenntnisse für die Zensurstelle im Kriegsministerium angeworben.2 Als Norbert Jokl mit seinem Philologiestudium begann, war Albanisch eine noch wenig erforschte Sprache, es gab allerdings gerade in Wien mit von Hahn, Miklosich und Meyer eine anerkannte albanologische Tradition. Meyers etymolo-

Abbildung links:Der Wiener Indogermanist Norbert Jokl, undat. um 1930

Abbildung rechts:Norbert Jokl als Fähnrich im Ersten Weltkrieg, undat.

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gisches Wörterbuch galt als eine Bibel der Albanologie, doch bereits 1911 stellte Jokl mit seinen „Studien zur albanesischen Etymologie und Wortbildung“ einige Grundthesen Meyers in Frage. Und er ersetzte dessen bis dahin als sakrosankt geltendes Schriftsystem durch die offizielle albanische Rechtschreibung. 1913 wurde Jokl Privatdozent für „Indogermanische Sprachwissenschaft mit besonderer Berücksichtigung des Albanesischen, Baltischen und Slawi-schen“. 1916 übernahm er die VII. Abteilung des „Indogermanischen Jahrbuches“ (Albanisch), die er bis 1940 (Band 24) betreute. Sein Hauptwerk, „Linguistisch-kultur-historische Untersuchungen aus dem Bereiche des Albanischen“, das ihm endgültig wissenschaftliche Anerkennung verschaffte, erschien 1923. In diesem Jahr erhielt er auch die Ernennung zum a. o. Professor. In rund 30 Jahren wissenschaftlicher Tätigkeit verfasste Jokl 67 Arbeiten und hielt 42 Vorlesungen; seinen allerdings nur wenigen Hörern trug er große Mengen Stoff aus der Albanologie, den baltischen und slawischen Sprachen ohne Manuskript vor. Der Wissenschaftler Jokl erhielt zahlreiche Auszeichnun-gen, unter anderem vom Staat Albanien, der ihn bei seinem ersten Besuch 1937 für seine Verdienste um die albanische Sprache ehrte. Das Bild des Privatmenschen Norbert Jokl lässt sich nur in Konturen erah-nen. Er hatte keine Familie, zu seiner Person selbst sind nur spärliche Aussagen überliefert, die einen Wissenschaftler mit Leib und Seele erkennen lassen, der seine Arbeit als Bibliothekar gewissenhaft erledigte und die ihm verbleibende Zeit ausschließlich mit seiner geliebten Albanologie zubrachte. Jokl wohnte in der Neustiftgasse 67 im 7. Bezirk, wo ihn sein Schüler, der Indogermanist und spätere Professor Georg Renatus Solta, auch nach 1938 noch regelmäßig be-suchte, um seine Studien fortzusetzen und Jokl mit wissenschaftlicher Literatur zu versorgen. Solta erinnert sich an seinen Lehrer als einen Junggesellen, der allein und ziemlich asketisch lebte, kaum gesellschaftliche Kontakte pflegte und keinerlei Interesse an Politik zeigte.3 „Kein Ellenbogenmensch, auch in der Polemik immer sachlich, nur um die Wahrheit bemüht“, ein äußerst fleißiger Mensch, der einfach alles zu wissen schien, ein „wandelndes Lexikon, liebenswürdig, scheu, sehr ge-nügsam.“ Alle seine Ehrungen und Anerkennungen, sein wissenschaftlicher Ruf, nicht einmal sein fortgeschrittenes Alter konnten Norbert Jokl jedoch vor dem Zugriff der Nationalsozialisten schützen, als diese nach dem „Anschluss“ 1938 auch an der Universität Wien die Herrschaft übernahmen. Wiewohl selbst kein

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Brief Kretschmer an Jokl, 1939

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praktizierender Jude, bekannte sich Jokl zu seinem Judentum. Sein handschriftli-cher Lebenslauf gibt seine Selbstzuordnung wieder: „Ich bin jüdischen Glaubens. Meine Muttersprache und Nationalität ist die deutsche.“ Als jüdischer Beamter wurde Jokl am 20. Mai 1938 gemäß der Zweiten Ver-ordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeam-tentums vom 4. Mai 1933 „auf Anruf des Personalreferenten im Unterrichtsminis-terium seines Dienstes enthoben, am 19. Juni 1938 in den dauernden Ruhestand versetzt“. Die Leitung der Universität lag damals in den Händen verlässlicher Nazis der ersten Stunde: des Rektors Fritz Knoll und des Dekans der philosophischen Fakultät sowie Vorstands des Instituts für Orientalistik, Viktor Christian. Auf Grund der Nürnberger Gesetze war es Jokl nur erschwert möglich, öffentliche Biblio-theken zu benutzen, und am 7. Dezember wurden Juden generell vom Besuch der Universitätsbibliothek ausgeschlossen. Seine ehemaligen Kollegen aus der Bibliothek ließen Jokl im Stich; einzige Ausnahme war der Oberstaatsbibliothe-kar Dr. Josef Prenner.4 Er war der Einzige, der Jokl wenigstens brieflich Trost und Ermutigung zusprach. Jokls Kollegen von der Indogermanistik waren offenbar anfangs nicht alle bereit, den antisemitischen Zwangsmaßnahmen nachzugeben, denn Jokl konnte sein Fachgebiet im „Indogermanischen Jahrbuch“ (IJ) noch bis 1940 (Band 24) betreuen; in diesem Band ist er mit fünf Beiträgen vertreten. Im Juni 1940 muss-te dann allerdings der neue Herausgeber des IJ, Hans Krahe, zu seinem Bedauern die Zusammenarbeit mit Jokl beenden. Dessen italienischer Kollege Carlo Tagli-avini sollte die Albanologie übernehmen. Überraschenderweise findet man aber noch 1943 in Band 26 (Jg. 1942) des IJ, also ein Jahr nach Jokls Ermordung, einen Beitrag von ihm unter dem Titel „Zur Erforschung der albanischen Mundarten von Borgo Erizzo in Dalmatien“. Krahe war selbst kein Nationalsozialist und hielt Jokl offenbar so lange es ging die Treue. Auch im weiteren Umfeld der Universität Wien versuchte man anschei-nend, Jokl weiterhin wissenschaftliches Arbeiten zu ermöglichen. So erinnert sich der spätere Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Bonn, Johann Knobloch, der bald nach Kriegsbeginn wegen einer Kriegsverletzung dem Institut für Orientalistik als „Kriegsersatzkraft“ für die Assistentenstelle zugeteilt worden war, dass Jokl dort das „altorientalische Zimmer“ der Biblio-thek benutzen konnte.5 Dies wurde durch die räumlichen Gegebenheiten – das Institut in der Berggasse bestand aus mehreren kleinen Räumen – und die

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geringe Zahl der Studierenden begünstigt und wäre ohne Wissen und Billigung durch den Institutsvorstand Christian sicher nicht möglich gewesen. Dekan Christian war es auch, der Jokl nahelegte, einen Antrag auf „gna-denweise Gleichstellung mit Mischlingen ersten Grades“ zu stellen, um „Jokl der wissenschaftlichen Tätigkeit zu erhalten“. Die Hintergründe für dieses Gesuch erhellt ein Schreiben Paul Kretschmers, das auch die Schikanen sichtbar werden lässt, denen Jokl zunehmend ausgesetzt war:

„Von Dr. Solta hörte ich, dass Sie mit Ihrer grossen Bibliothek umziehen sollen & darüber sehr unglücklich sind. Vielleicht kann Ihnen, wie mir unser Dekan sagte, dadurch geholfen werden, dass Sie ein Gesuch um Gleich-stellung mit Mischlingen ersten Grades an den Reichskommissar der Ost-mark Gauleiter Bürckel richten. […] Es scheint zur Zeit etwas mehr Aussicht auf Bewilligung als früher zu bestehen. Die Vorteile wären bedeutend: sie brauchten nicht umzuziehen, könnten die öffentlichen Bibliotheken benutzen & vielleicht auch wissenschaftlich publiziren.“ 6

Im Herbst 1939 bemühte sich Christian um weitere Befürworter für das Gesuch, unter anderem den Rektor der Universität München, Walther Wüst, Sprach-wissenschaftler wie Jokl und Kurator von Himmlers pseudowissenschaftlicher SS-Organisation „Ahnenerbe“, deren Abteilung Vorderer Orient Christian in Wien leitete. Doch Wüst zog seine Unterstützung zurück, und auch Arthur Marchet, als Dozentenbundführer in hochschulpolitischen Fragen eine wichtige Instanz, lehnte eine Befürwortung trotz seines Naheverhältnisses zu Kretschmer und Christian ab.7 Dennoch leitete Christian das Gesuch zusammen mit dem Gutach-ten Kretschmers und seinem Empfehlungsschreiben weiter. Der Antrag wurde abgelehnt, was aus einer kurzen Postkarte Paul Kretschmers an Jokl vom April 1940 hervorgeht. Gleich nach dem „Anschluss“ 1938 hatte Jokl – wiewohl von seinen Kolle-gen als „unpolitisch“ eingeschätzt – begonnen, sich um eine Arbeitsmöglichkeit im Ausland zu bemühen. Bereits am 12. Mai sandte er gleichlautende Bittbriefe an seine dänischen Kollegen Kristian Sandfeld und Holger Pedersen. Beide konnten Jokl keine konkrete Hilfe anbieten, Sandfelds bedauerndes Antwortschreiben ist von trostloser Hilflosigkeit. Auch der in die USA emigrierte Wiener Soziologe Ludwig Mises stand Jokl bei seinen Bewerbungen in den USA ab 1938 mit Rat und Tat zur Seite – erfolg-

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los. An ihn war wohl auch ein Schreiben vom Januar 1941 gerichtet, in dem Jokls zunehmende Verzweiflung spürbar wird: „Was meine Person betrifft, so vermochte ich bisher meine Pläne, mir

irgendwo eine neue Existenz zu gründen, nicht zu verwirklichen. Das Land, dessen sprachwissenschaftlicher Erforschung der grösste Teil meiner Arbeit gewidmet ist, kommt augenblicklich aus bekannten Gründen für mich kaum in Betracht, wiewohl – ich muss dies dankbar feststellen – zahl-reiche Persönlichkeiten sich für mich auch jetzt in selbstloser Weise ein-setzten. Mehr als je denke ich daher an Auswanderung nach den Vereinig-ten Staaten. […] Mein sehnlichster Wunsch ist es, jenes Werk zu dem alle meine bisherigen Veröffentlichungen eine Art von Prolegomena bilden und für das ich auch gegenwärtig, so weit Zeit, Kraft und Umstände es er-lauben, tätig bin, nämlich das Etymologische Wörterbuch der Albanischen Sprache noch zu finden.“

Doch auch aus den USA erhielt Jokl nur Absagen. Entweder kurz und bündig un-ter Hinweis auf Jokls Alter, wie von Alvin Johnson und Harold Bender, oder voller Anteilnahme und Bedauern wie von Leo Spitzer von der Johns Hopkins Universi-ty in Baltimore. Schließlich blieb als letzte Hoffnung nur noch die Emigration nach Alba-nien. Da Albanien aber im April 1939 von Italien annektiert worden war, mussten alle Ausreisebemühungen über Italien erfolgen. Und so wurde Jokls italienischer Kollege Tagliavini bei der italienischen Regierung vorstellig. Albanien schien sofort einverstanden, wie auch Kretschmer im April 1940 berichtete. Kurz darauf machte Tagliavini ebenfalls Hoffnung auf eine glückliche Lösung: Nach einem Gespräch mit dem Reichsverweser des Italienischen Königs in Albanien war er überzeugt, dass Jokl in Albanien leben und arbeiten können werde. Doch die Zeit drängte, die Verhältnisse in Wien wurden für Jokl immer bedrohlicher: Im Februar 1941 begannen die Deportationen der noch in Wien le-benden Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager. Eichmanns „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ machte Wien zum Exerzierfeld für die Vertreibung der Juden. Unter seinem Nachfolger Alois Brunner erstellte die „Zentralstelle“ dann die Deportationslisten, auf denen sich auch Jokl befand, wie Paul Kretsch-mer am 20. Februar 1941 in üblicher Kürze notierte: „Jokl: er sei zu einem Trans-port n. Polen eingeteilt (Sammelort: eine Schule in der Castellezgasse II) von der

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Norbert Jokl wurde vom Albanischen Unterrichtsminister Ernest Koliqi zum „Organisator der Bibliotheken Albaniens“ ernannt. Diese Maßnahme sollte ihm die Ausreise ermöglichen; 1942.

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Gestapo Prinz Eugenstr. (Brunner, Leiter)“. Und tags darauf: „[…] bei Knoll wegen Jokls Befreiung vom Polentransport“. 1941 muss es Jokls Kollegen gelungen sein, seine Deportation nach Polen abzuwenden, denn am 1. März besprach Kretschmer mit Jokl Änderungen eines Empfehlungsschreibens für seine Ausreise nach Albanien. Wie und auf welchem Wege Jokl vom „Polentransport“ befreit werden konnte, lässt sich nicht nachvoll-ziehen. Vermutlich sorgte eine weitere Intervention dafür, dass Jokl in seiner Wohnung in der Neustiftgasse bleiben konnte. Bereits 1939 waren die Wiener Juden und Jüdinnen aus ihren Wohnungen vertrieben und in bestimmten Be-zirken zusammengepfercht worden. Im Mai 1941 befahl Brunner die verschärfte Einhaltung dieser Bestimmung. Ein alleinlebender Junggeselle wie Jokl hatte nicht die geringste Chance, alleine in seiner Wohnung im 7. Bezirk bleiben zu können, was auch Kretschmers Hinweis auf die drohende Übersiedlung belegt. Kretschmers Empfehlungsschreiben war ein neuerlicher Vorstoß, Jokl die Ausreise nach Albanien zu ermöglichen. Die Chancen schienen gut, wie Tagliavini Jokl im März 1941 berichtete: Die Intervention albanischer Wissenschaftler aus den USA habe bewirkt, dass es im italienischen Außenministerium bereits einen „Akt Jokl“ gebe, der allerdings in Verzug geraten sei. Immer wieder betonte er auch, Jokl wolle seine gesamte Bibliothek der albanischen Regierung vermachen, wenn er in Albanien leben und dort seine Studien fortsetzen könne. Damit wurde Jokls Bibliothek mehr und mehr zum Unterpfand seines Überlebens, aber – da er sie ins Ausland mitnehmen wollte – gleichzeitig auch zum Verhängnis. Auf Veranlassung Tagliavinis sandte der albanische Unterrichts-minister, Ernest Koliqi, Jokl eine offizielle Einladung und ernannte ihn zum „Orga-nisator der Bibliotheken Albaniens“. Spätestens mit dieser offiziellen Einladung und der ebenfalls von Taglia-vini betriebenen Intervention, in deren Folge sich der italienische Außenminis-ter Ciano persönlich an das Auswärtige Amt (AA) in Berlin wandte und Jokl die italienische Staatsbürgerschaft verliehen werden sollte, wurde man auf höchster Ebene auf den „Fall Jokl“ aufmerksam. Anfang März 1942 war Jokls Schicksal besiegelt. Kretschmers Tagebuch gibt über den Ablauf der Ereignisse Auskunft. Seine Eintragung am Mittwoch, 4. März 1942 lautet: „Vm. _ 12 kam Fr. Dr. Wahrmann u. sagte mir, dass Jokl Mo _ 9 ‚abgeholt‘ worden sei: er sei vermutlich im Sperl-Gymnasium.“ Tags darauf heißt

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es: „Vm. bei Marchet wegen Jokl: er will sich bei Brunner erkundigen u. telefo-nierte mir um 3: J. werde n. Albanien geschickt (?) [sic], er sei noch in Wien in e. Lager.“ In den folgenden Tagen werden mehrfach Gespräche wegen Jokl mit Christian und Marchet und italienischen Kontaktpersonen erwähnt. Kretschmers Aufzeichnungen belegen jedoch, dass Jokl bereits am 2. März verhaftet wurde und nicht erst am 4. März, wie bislang angenommen. In den Unterlagen der NB wird sogar der 1. März 1942 als Datum der Verhaftung angeführt, allerdings ohne Angabe der Quelle. Ob eine direkte Denunziation zu Jokls Verhaftung führte, ist bislang nicht zu beweisen. Die Gestapo-Tagesberichte im DÖW geben keinerlei Hinweis auf eine Denunziation. Wer sich bis 1942 nicht ins Ausland retten konnte, geriet fast unausweichlich auf die Deportationslisten. Die darin Genannten hatten sich ursprünglich selbst in den Sammellagern Castellezgasse oder Kleine Sperlgasse einzufinden. Brunner führte im November 1941 zur Beschleunigung des Verfah-rens die so genannte „Aushebung“ ein, bei der von der Israelitischen Kultusge-meinde (IKG) bestimmte „Ausheber“ gemeinsam mit der SS die zur Deportation verurteilten Juden – vorzugsweise nachts und unangekündigt – aus ihren Woh-nungen holten, was möglicherweise als „Verhaftung“ interpretiert wurde. Am 7. März 1942, also fünf Tage später, sandte Dekan Christian das Schreiben an Brunner, das immer wieder als Beleg für die Denunziation oder Verhaftung Jokls angeführt wird:

„Wie ich erfahre, soll Dr. Norbert Jokl […] aus Wien in seiner Eigenschaft als Jude abtransportiert werden. Angeblich sollen Bemühungen der italie-nischen Regierung im Gange sein Dr. Jokl samt seiner wissenschaftlichen Bibliothek nach Albanien zu bringen. So schmerzlich für die Fakultät der Verlust dieser Bibliothek wäre, deren Wert nicht so sehr ein materieller als ein wissenschaftlicher ist, so sehe ich doch keine Möglichkeit, sie hier in Wien zu halten, wenn die italienischen Bemühungen, Dr. Jokl die Ausrei-seerlaubnis nach Albanien zu erwirken, von Erfolg begleitet sein sollten, da es mir klar ist, daß bei der gegenwärtigen Sachlage es schwer fallen würde, den Standpunkt der Fakultät gegenüber italienischen Wünschen durchzusetzen. Sollte jedoch Dr. Jokl nicht die Ausreiseerlaubnis nach Albanien erhalten, sondern nach Polen abtransportiert werden, so bitte ich dringend seine Bibliothek für die philosophische Fakultät sicherzu-stellen.“ 8

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Wollte Christian damit Jokls Deportation nahelegen, um der Universität „den empfindlichen Verlust“ von dessen Fachbibliothek zu ersparen? Und wäre es denn überhaupt ein zweites Mal möglich gewesen, Jokl vor der Deportation zu bewahren? Die IKG hatte wohl in sehr beschränktem Ausmaß die Möglichkeit, für die Gemeinde unentbehrliche Personen von einem Transport ausnehmen zu lassen. Hatte man davon bereits im Februar 1941 Gebrauch gemacht? Eine mögliche Verbindung führt zu dem nach wie vor umstrittenen Gemeinderabbi-ner Benjamin Murmelstein, der in der IKG mit den Deportationslisten befasst war und 1927 bei Viktor Christian dissertiert hatte, mit dem er nach wie vor in gutem Kontakt stand.9 Was sich hinter den Kulissen abspielte, lässt sich nicht in allen Einzelhei-ten nachvollziehen. Ein geheimes Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes (SD) von Ende April 1942 belegt, dass diese Stelle tatsächlich eine ausschlaggebende Rolle im Fall Jokl spielte:

„Als Ergebnis der von hier aus in der Angelegenheit Professor Dr. Jokl, Wien, eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen wird vertraulich mitgeteilt, dass Jokl sich bereits in einem Sammellager befindet und die Beschlag-nahme der wissenschaftlichen Fachbücherei in diesen Tagen erfolgt. Hinsichtlich der von italienischer Seite betriebenen Bemühungen, die italienische Staatsbürgerschaft an Jokl zu verleihen, ist eine entsprechen-de Mitteilung an das Auswärtige Amt gegeben worden. Ebenfalls wurde das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volks-bildung in dieser Angelegenheit unterrichtet.“ 10

Nicht abschließend zu klären, in jedem Fall aber zwiespältig ist die Rolle Viktor Christians, der Jokl noch bis 1941 geholfen hatte und nun nach dessen Ver-haftung alles tat, um Jokls Bibliothek um jeden Preis in Wien zu behalten. Der Sprachwissenschaftler Gerd Simon, der sich bereits vor 20 Jahren ausführlich mit Viktor Christian und seiner Rolle im Fall Jokl auseinandersetzte, sieht darin ei-nerseits die Manifestation pathologischen Bücherwahns, gesteht Christian aber durchaus zu, sich in der „Zwickmühle vom Typ ‚er oder ich‘“ befunden zu haben.11 Christian hatte sich im Spätherbst 1941 durch seinen Einsatz für die jüdische Schwiegermutter des Anthropologen Josef Weninger in einer schriftlichen Stel-lungnahme gegen die Evakuierung von Juden und Jüdinnen exponiert und war vom Gaudozentenbundführer der Universität Wien, Kurt Knoll, beim SD deshalb

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denunziert worden. Darauf musste die SS-Organisation „Ahnenerbe“ reagieren, da sie vom rivalisierenden SD aufgefordert wurde, zu den Vorwürfen, eines ihrer Mitglieder setze sich für Juden ein, Stellung zu nehmen.12 Das „Ahnenerbe“ stell-te sich hinter Christian, der als AE-Abteilungsleiter dem Persönlichen Stab des Reichsführers SS (Himmler) angehörte, und „bedaure den Vorfall, in den SS- H‘S-tuf. Prof. Dr. Christian hineingeschliddert ist“.13 Christians Handlungsspiel-raum war nach diesem Vorfall allerdings gleich null. Zwei Monate nach Jokls Verhaftung war nur mehr von seiner Bibliothek die Rede, als sich Christian am 30. April nun mit der Bitte um deren Zuweisung für die Philosophische Fakultät an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Bernhard Rust, in Berlin wandte.14 Aber auch der Direktor der NB, Paul Heigl, meldete Ansprüche beim REM auf Jokls Bibliothek an. Auch hier erstaunt, wie gut alle Beteiligten über die Ereig-nisse hinter den Kulissen informiert waren:

„Mir wurde mitgeteilt, dass der Dekan der philosophischen Fakultät […] sich auf Weisung des Reichssicherheitshauptamtes beim Herrn Reichs-minister um die Zuweisung der beschlagnahmten Privatbibliothek des Juden Dr. Norbert Jokl bewerben werde. […] Angesichts der großen Schwierigkeit, gerade albanische Literatur zu beschaffen, bitte ich um Zuweisung der ganzen Bibliothek an die Nationalbibliothek. […] Ich bitte daher um Ablehnung der Bitte des orientalischen Seminars und um Entscheidung im Sinne meines Antrages.“ 15

Das Schreiben trägt den Eingangsstempel 6. Mai 1942. An ebendiesem Tag, dem 6. Mai 1942, als das Interesse nur mehr dem Zuschlag seiner Bibliothek galt, wurde Jokl selbst nach Minsk deportiert. Das geht aus den Deportationslisten im DÖW hervor. Er kam entweder schon auf dem Transport ums Leben, wie Kretsch-mer meinte, oder wurde in Maly Trostinec umgebracht.16 Daher ist sein Todes-datum nicht mit Sicherheit anzugeben, es liegt wohl zwischen dem 6. und 11. Mai 1942. Kretschmer notierte am Montag, dem 18. Mai: „Ich erfuhr, dass Jokl tot ist, […] angeblich auf dem Transport. Marchet war, wie er mir sagte, noch vorvorige Woche erkl. worden, er komme nach Albanien.“ In den Wochen zuvor hatte Jokls Schüler Solta noch verzweifelt versucht, Jokl zu retten. Er wurde mehrmals bei Dekan Christian vorstellig, der bedauerte, gegen Brunner machtlos zu sein und nichts mehr für Jokl tun zu können. Schließ-

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lich wagte er es sogar, seinen ehemaligen Schulkollegen, SS-Gruppenführer Ernst Kaltenbrunner, um Hilfe für Jokl zu bitten, erhielt aber auch dort dieselbe Antwort. Unterdessen bemühten sich Universität und NB in Wien um Jokls Biblio-thek, beide hatten ihre Fürsprecher auf höherer Ebene: Der im Bundesarchiv Berlin nachvollziehbare Aktenverkehr zwischen REM, Auswärtigem Amt (AA) und RSHA zum Fall Jokl und die handschriftlichen Vermerke sowie Eingangsstem-pel machen die divergierenden Interessen rund um die Bibliothek deutlich. Im Hintergrund versuchte auch noch der Kurator des „Ahnenerbes“, Walther Wüst, seine Fäden zu ziehen. Was aus Norbert Jokl selbst wurde, ist allen Beteiligten allerdings keiner Erwähnung mehr wert. Am 26. Mai deponiert das AA, das wissen musste, dass Jokl nicht mehr leb-te, beim REM seine Vorstellungen bezüglich des weiteren Vorgehens. Man fühlte

Marie Amélie von Godin, Wörterbuch der albanischen und deutschen Sprache, Leipzig 1930. mit handschrift-lichen Anmerkungen und Korrekturen Norbert Jokls.

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sich dort durch die erneuten Interventionen der italienischen Regierung für die Ausreise Jokls unter Druck und wollte sich durch die Überlassung der Bibliothek Jokls an Italien Luft verschaffen:

„Im Hinblick auf die gegenwärtigen Vorschriften, die eine Ausreise vonJuden aus dem Reichsgebiet grundsätzlich ausschliessen, halte ich es trotz der erneuten italienischen Demarche nicht für angebracht, auf die Frage der Person des Professor Jokl weiter einzugehen. Dagegen bitte ich wohlwollend zu prüfen, ob man den italienischen Wünschen nicht wenigstens teilweise durch Überlassung der für die Verwaltung Albaniens sicherlich sehr wichtigen Bibliothek des Professor Jokl entgegenkommen kann.“ 17

Bei Sicherheitspolizei und SD hatte man andere Pläne und teilte am 3. 6. mit: „Als Erben für diese komplette Bibliothek, die für die deutsche Wissen-schaft von hohem Wert ist, hat Professor Jokl den albanischen Staat bestimmt. Aus Hochschulkreisen wurde angeregt, dieser Verfügung des jüdischen Philologen nicht stattzugeben und das gesamte wissenschaftli-che Material für die reichsdeutsche Forschung sicherzustellen. […] Es wird vorgeschlagen, sich mit dem Oberfinanzpräsidenten in Wien in Verbin-dung zu setzen, damit das Material für die Philosophische Fakultät der Universität Wien zur Verfügung gestellt wird.“ 18

Die handschriftlichen Vermerke auf dieser eindeutigen Parteinahme für die Interessen Christians zeigen, dass Heigl auf stärkere Unterstützung zählen konnte: Der Oberfinanzpräsident Wiens möge Jokls Bibliothek der NB überlassen und den SD davon in Kenntnis setzen. Der im REM zuständige Sachbearbeiter Dr. Herbert Scurla erteilte dann Heigl am 26. Juni 1942 grünes Licht, nicht ohne eine beschleunigte Abwicklung des Falls zu fordern, wohl um allfälligen weite-ren italienischen Ansprüchen zuvorzukommen. Das notwendige Einverständnis von Sicherheitspolizei und SD wurde ebenfalls signalisiert, die Überweisung der Bibliothek an die NB mit ihrem wissenschaftlichen Wert für die Orient-Süd- osteuropa-Abteilung begründet. Die NB selbst gibt als Datum für den Eingang der Bibliothek den 8. Juli 1942 an, als Datum der Beschlagnahme durch den SD scheint in allen Akten der 27. April 1942 auf.

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Die endgültige politische Entscheidung ließ aber auf sich warten, sodass Heigl im Jahr darauf ungeduldig wurde und seine Beziehungen als SS-Standartenfüh-rer ins Spiel brachte. Im April 1943 bat er den Leiter der Kulturpolitischen Abtei-lung im AA und SS-Oberführer Dr. Franz Six, seinen Einfluss geltend zu machen:

„Das Reichserziehungsministerium hat sich, soviel ich weiß, dafür ausge-sprochen, daß die gesamten Bestände der Bibliothek Jokl – Jokl selbst lebt nicht mehr! – der Nationalbibliothek verbleiben und nicht Italien ausgeliefert werden sollen. Ich bitte Sie nun, eine baldige Entscheidung im Sinne der Nationalbibliothek herbeiführen zu wollen, wenn Ihnen dies möglich ist.“ 19

Es war Six offenbar möglich, denn am 20. Mai 1943 hielt Heigl in einer Aktennotiz fest, dass die NB über die bislang nur „sichergestellte“ Bibliothek Jokls nunmehr verfügen könne, da die Italiener ihren Anspruch auf die Bibliothek nicht weiter-verfolgten. Mit der Einarbeitung der Bestände wurde Dr. Häusle beauftragt, der Briefnachlass Jokls noch im selben Jahr 1943 inventarisiert. Norbert Jokl musste wie alle Vertriebenen noch vor seiner Deportation bei der VVSt ein Vermögensverzeichnis unterzeichnen. Laut 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verlor jeder Jude, der das Gebiet des Deutschen Reiches verließ, also auch bei einer Deportation in die Ostgebie-te, automatisch seine Staatsangehörigkeit, sein Vermögen verfiel dem Staat. Deshalb war auch das Oberfinanzpräsidium in Wien die für Jokls Bibliothek büro-kratisch zuständige Stelle. Im Vermögensverzeichnis ist sein Besitz mit 153 RM in Bargeld, 225 RM Oberfinanzpr. sowie 1200 RM in Wertpapieren bei der Creditan-stalt angeführt. Da keine Erben Norbert Jokls ausfindig gemacht wurden, blieb sein ge-samter Nachlass in der NB. Von den ursprünglich 3.000 Büchern, darunter auch seine Privatbibliothek, ist heute nur mehr ein kleiner Teil identifizierbar. Im Zuge der Provenienzforschung wurden 170 Druckschriften, 10 Fotos und der gesamte wissenschaftliche Nachlass aufgefunden. 150 Stück davon waren noch während der NS-Zeit in das Haupteinlaufbuch einsigniert worden, der restliche wissen-schaftliche Nachlass wurde erst 1959/60 ins Inventar der Handschriftenabtei-lung aufgenommen. Von der Privatbibliothek fehlt jede Spur. Ende April 2003 wurde auch das von Jokl handschriftlich bearbeitete „Wörterbuch des Albanischen“ von Marie Amélie von Godin entdeckt. Es konnte

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über den allgemeinen Katalog entlehnt werden und war seit 50 Jahren unter derselben Signatur zugänglich. Wie alle Bücher aus Jokls Bibliothek kann es anhand der Neubindung eindeutig identifiziert werden, die der Buchbinder nach genauen Anweisungen Jokls vornahm. War dieses Buch das „Lebenswerk“, das er unbedingt noch vollenden wollte? Professor Solta ist nach wie vor der Ansicht, dass damit Meyers Wörterbuch gemeint war, das Jokl möglicherweise auf dem Transport in die Vernichtung begleitet habe. Der Fall Jokl macht deutlich, wie der Wert des Wissenschaftlers, aber auch des Menschen Norbert Jokl zunehmend mit dem Wert seiner Bibliothek gleich-gesetzt wurde. Auch er selbst dürfte sich in seinem Selbstverständnis als Gelehr-ter damit identifiziert haben. Ein Leben ohne seine wissenschaftlichen Bücher schien ihm offensichtlich unvorstellbar, sonst hätte er unter Umständen auf ihre Mitnahme verzichtet. Damit wurde das in seinen Büchern gesammelte Wissen für ihn mehr und mehr zum Unterpfand für sein Überleben im Ausland. Für die konkurrierenden Machtinteressen aber zum Auslöser für seine Deportation und Ermordung. Ob Jokl tatsächlich eine Chance hatte, sein Leben zu retten, wenn er sich rechtzeitig von seinen Büchern getrennt hätte, bleibt dahingestellt. Vom Menschen Norbert Jokl war schließlich nur mehr im Zusammenhang mit seiner Bibliothek die Rede. Der Weg, den seine Bibliothek nahm, lässt sich aus den Akten rekonstruieren, nicht jedoch der letzte Weg des Menschen Norbert Jokl, seine letzten Lebenswochen unter den grauenhaften Bedingungen in dem Sammellager und auf dem Transport nach Maly Trostinec bis hin zu seinem Tode. Durch die Rekonstruktion der Provenienz ihrer geraubten Bestände gibt die ÖNB den Büchern und damit auch deren ehemaligen Besitzer_innen zumin-dest ihre Geschichte zurück.

Im Zuge der aktuellen Provenienzforschung wurden die oben genannten Objek-te samt Nachlass Norbert Jokls aufgefunden. Der beim Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur eingerichtete Beirat für Provenienzforschung sprach in seiner Sitzung am 27. April 2004 eine Rückgabeempfehlung aus. Mangels Erbberechtigter werden die Objekte an den Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus übergeben.

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Text, Bilder, Anmerkungen sowie Quellenhinweise des vorliegenden Artikels wurden ohne inhaltliche Änderung folgender Publikation entnommen: Murray G. Hall et. al.: Geraubte Bücher. Die Österrei-chische Nationalbibliothek stellt sich ihrer Vergan-genheit. Katalog zur Ausstellung vom 10. Dezember 2004 bis 23. Jänner 2005, Wien 2004, S. 104–117.

1 Norbert Jokls Lebensdaten sind seinem Personalakt im UA Wien entnommen und den Nachrufen bzw. Würdigungen seines Lebens und Werks durch seine Kollegen aus der Albanologie, Carlo Tagliavini und Georg Stadtmüller, sowie durch Ronald Zwanziger. Stadtmüller, Georg: Norbert Jokl und sein Beitrag zur Albanienforschung. In: Beiträge zur Kenntnis Südosteuropas und des Nahen Orients 13, 1971, S. 46–61. (= Dissertationes Albanicae); Tagliavini, Carlo: Norbert Jokl. In: Indogermanisches Jahrbuch 28, 1949, S. 296– 301; Zwanziger, Ronald: Norbert Jokl – Albanologe und Bibliothekar. Zur 40.Wiederkehr seines Todes-tages. In: Biblos 30, 1981, S. 243–250.2 Die Schreiben Leo Spitzers befinden sich wie alle weiteren angeführten Briefwechsel mit Norbert Jokl in ÖNB HAN, Nachlass Norbert Jokl, Akt 466.3 Die Aussagen von Prof. Solta stammen aus Gesprächen mit der Autorin in den Jahren 2003 und 2004 sowie aus einem von Stadtmüller (s. o., S. 56) zitierten Schreiben.4 ÖNB HAN, Autogr. 279/74, 4–6, drei Schreiben von Josef Prenner an Norbert Jokl, zwischen Dezem-ber 1940 und Februar 1941.5 Gespräch der Autorin mit Johann Knobloch und Schreiben Johann Knoblochs vom 30.10.2003.6 Tagebuchaufzeichnungen Paul Kretschmers in der ÖNB, HAN, Nachlass Paul Kretschmer, Tagebücher, Taschenkalender, Agenda, 1940–1942 Seriennummern 38.638, 38.639, 38.640.7 Die entsprechenden Schreiben zwischen Viktor Christian, Fritz Knoll und Arthur Marchet befinden sich im UA Wien, Dekanatsakten der Philosophischen Fakultät, Personalakt Viktor Christian, Akt 1034.8 UA Wien, Dekanatsakten der Philosophischen Fakultät, Akt 946, Schreiben Viktor Christian an Alois Brunner, 7.3.1942.9 Rabinovici, Doron: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat. Frankfurt: Jüdischer Verlag, 2000. Hier S. 157 und 260.

10 BArch Berlin, NS/21, Signatur DS G123, fol. 684, Personalakt Norbert Jokl, Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an die Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“, 27.4.1942, gez. Turowski.11 Zum Fall Jokl schreibt ausführlich Gerd Simon in: Tödlicher Bücherwahn. Der letzte Wiener Universi-tätsrektor im 3. Reich und der Tod seines Kollegen Norbert JOKL. In: Buchfieber. Zur Hintergrundge-schichte des Buches im 3. Reich. Unveröffentlichte Vorarbeiten. S. 35 ff.12 BArch Berlin, NS/21, Signatur DS G115, fol. 60, Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an den Reichsgeschäftsführer der Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe“ Wilhelm Sievers, 17.2.1942, gez. Kielpinski.13 Vgl. dazu Briefwechsel und Aktenvermerke, Ahnenerbe, RSHA-SD, Reichsführer SS, BArch Berlin, NS/19, Signatur 239 und 962, NS/21, Signatur DS G115 (Personalakt Viktor Christian) und DS G123 (Personalakt Norbert Jokl), sowie Schreiben Viktor Christian an Walther Wüst, 24.1.1942, BArch Berlin, NS/21 Signatur G115, fol. 58.14 BArch Berlin, R/4901, Signatur 13676, fol. 224, Schreiben Viktor Christian an Reichsminister für Wis-senschaft, Erziehung und Volksbildung, 30.4.1942. Siehe auch BArch Berlin, NS/21, G115, Abschrift des Schreibens von Viktor Christian an Walther Wüst, 24.1.1942.15 NB 1439/1942. Entwurf des Schreibens von Paul Heigl an den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 4.5.1942.16 Maly Trostinec (heute Weißrussland) wurde 1942 auf Anordnung des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Reinhard Heydrich, als Exekutionsstätte für die insgesamt 15.000 Menschen eingerichtet, die zwischen Mai und Oktober 1942 aus Wien, Königs-berg, Theresienstadt und Köln nach Minsk deportiert wurden. Von den insgesamt 9.000 nach Maly Trostinec deportierten österreichischen Juden und Jüdinnen sind laut DÖW 17 Überlebende bekannt.17 Arch Berlin, R/4901, Signatur 13676, fol. 212, Schreiben des AA (gez. Roth, im Auftrag), 26.5.1942.18 Ebenda, Signatur 13674, fol. 225 und 226, Sch-reiben des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD an das REM, 3.6.1942, gez. Kielpinski.19 ÖNB, Schreiben Paul Heigl an Franz A. Six vom 27.4.1943.

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83L u l j e t a L l e s h a n a k u , G e d i c h t e

Sozusagen gestern

Ein paar Unbekanntebauen in unserer Gegend ein Haus.Geschrei, Flüche, Jubel.Hämmer und ein Bündel Arme.Gepfiffene Melodien, die weder anfangen noch aufhören,an beiden Enden beutelt sie ein Schluckauf.

Das große Fenster geht nach Osten.Ein Bub in Sandalen zieht unbeholfeneinen Kanister hinter sich her, halb so groß wie er,mit Wasser gefüllt; er wirkt beruhigend wie Löschpapierauf frischer Tinte, bevor ich umblättere.

Mit Zement beladene Lastwägenhinterlassen ein Unendlichkeitszeichenim Schlamm.

Der Mauer entlang kontrolliert ein Bleilot die Ausrichtungein Medaillon, das aus dem Nichts hängt,an jemandes Hals, demniemand ins Gesicht schaut.

Sie begannen mit der Scheune. So fängt ein neues Leben an,mit einem Axiom.

Plötzlich fällt mir mein Vater ein,gerade vom Feld gekommen,ganz verschwitzt in der Mittagspause,er und Mutter

Aus dem Albanischen von Andrea Grill

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kommen aus der Scheune,richten eilig ihre wirren Haare,errötet, schauen sie sich ängstlich um,wie zwei Diebe.

Ihr Schlafzimmer war kühl und sauberim zweiten Stock des Hauses.Ich frage mich noch immer: „Warum in der Scheune?“Aber ich erinnere mich auch, dass Vieh und Erntein dem Jahr schlecht warenund wir, aus Sparsamkeit, das Licht früh ausschalteten.

Ich war zwölf.Ich schlief tief und meine Neugierde war träge,ich warf sie achtlos zur Seitewie den Schnee in den Straßengraben.

Aber die Scheune habe ich deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen,sozusagen gestern.Was man mit einem zugekniffenen Auge sieht, vergisst man nicht:den Tod des Helden im Kinound die erste Sonnenfinsternis.

Aus: Lleshanaku, Luljeta: Potthuajse Dje (Sozusagen gestern). Tirana: OMBRA GVG, 2012.

84 Luljeta Lleshanaku: Gedichte

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Jutta BenzenbergAndrra, Albanien Fotografie 2017

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86 Luljeta Lleshanaku: Gedichte

Das Ende des Sommers

Auch dieser Sommer geht zu Ende.

Und damit meine ich nicht die leeren Swimmingpools,auch nicht den Wind, der nach Aas schnüffelt wie die jungen Kojotenam Strand ...

Ich rede von einem anderen Sommer,von anderen Zeichen.

Der Moment, wenn du spürst, wie dein Stern abkühlt;du nimmst ihn aus der Brust heraus und nähst ihn auf die Jackeoder an den Mantelkragen,die anderen sollen ihn endlich bemerken.

Und wenn du das Verhandeln lernst:fünf Nachspeisen für eine einzige Zigarettefünf Lebensjahre für eine enttäuschte Liebefünf Jahre als Schmetterling für fünf Tage als Raupe im Kokon,wenn du verstehst,Bitterkeit ist der Schlüssel des Daseins.

Und wenn du siehst, wie das Relief im Gesicht deiner Mutterund die Gesten deines Vaterssich haargenau in dir wiederholen,es gibt keine Alternative:wie in einer Stadt, die zur Routine zurückkehrt,sobald der euphorische Festschmuck abmontiert wurde.

Was ist passiert mit dem, das uns einmal einzigartig machte?

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87 Luljeta Lleshanaku: Gedichte

Unter der Tür schieben unbekannte HändeReklameblätter durchmit Angeboten von Kleidung für das Saisonende.Der Sommervorrat.

Und unter den Kopfpolsterschieben andere Hände heimlichHerausforderungen zum halben Preis,denen sich unser halber Stolznoch eine Weilewidersetzen wird ...

Aus: Lleshanaku, Luljeta: Potthuajse Dje (Sozusagen gestern). Tirana: OMBRA GVG, 2012.

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Jutta BenzenbergPhoenix , Liri, Mutter des Schriftstellers Fatos LubonjaFotografie aufgenommen 1996/verbrannt 2007

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89 Luljeta Lleshanaku: Gedichte

Der Inhalt des Koffers

Als ich das erste Mal mit dem Bus reiste,war es Juni, Bäche von Regen und Erbrochenem hinter Glas,wie Papierklammernwürden sie diese Landschaft in meine Erinnerung heften.Zwischen meinen Knien ein Koffer aus Holz,die wenigen Dinge darin schepperten jedes Mal, wenn sie von einem Eck ins andere rutschten.Wie ich mich schämte;die ganze Welt wusste, was im Koffer war.

Noch viele Male habe ich diese Fahrt gemacht,sogar viel weiter bin ich gereist.Meine eigene Haut wurde zum Koffer,prall gefüllt mit allerhand: Notwendiges und Überflüssiges,aus Baumwolle und Synthetik, Wahrheiten und Alibis, Gegenstände und Schatten ... – ohne Angst vor einem Scheppern.

Wenn ich, um Übergepäck zu vermeiden, versuche etwas herauszunehmen,wird die Haut dünn, lose, faltig, welk,wie nach einer drastischen Diät.

Und nach jeder Rückkehrfüllen die unbenützten Gegenstände andere Lückenin Regalen, Schubladen und meiner Fantasie.

Nur wenige von ihnenbleiben das ganze Jahr über unter der Haut.

Aber wo kriege ich jetzt die Knie der Neunjährigen her,die mutigen Sphinxe, die einstden fast leeren Koffer bewachten,dieses kleine Königreich aus Holz?!richten eilig ihre wirren Haare,errötet, schauen sie sich ängstlich um,wie zwei Diebe.

Aus: Lleshanaku, Luljeta: Homo Antarcticus. Tirana: OMBRA GVG, 2015.

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Die Eisenbahnjungs

Garantiert sind sie blond, alle blond,damit sie einander gut sehen könnenin dem Fett, Rauch und Kohlenstaub.Locker, als ritten sie auf Büffeln, reiten sie auf ihren Pfiffen.Sie kennen die Tonhöhe. Von Weitem schon wissen sie, welcher Zugin den kalten Norden fährtund welcher nach Süden;welcher der Waggons die Post transportiert, mit hand- geschriebenen Adressen,und für welche Passagiere es keine Rückfahrkarte gibt.

Wenn der Güterzug ankommt,klettern sie eilig hinauf auf die Waggons, genießen ein Stück Himmel,am Rücken auf Holzbrettern liegend.Das ist der halbe Weg; jetztsind sie den Sternen näher als ihrem Zuhause.

Das ist die erste Männlichkeitsprüfung.Die anderen kommen später, hinter dem kaputten Waggon –ein Mädchen mit rostrotem Haar.Wer war sie? Die erste Liebe hat keinen Namen,aber einen schönen Eckzahn, und lässt sich rufen.Und auch die zweite ... die dritte ...Wer daran gewöhnt ist, die Kleidung seines Vaters zu tragen,braucht keine eigene*,für den Sohn Arons ist sie überflüssig,Aron, den seine Blasphemievom Schlaraffenland fernhielt.

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91 Luljeta Lleshanaku: Gedichte

Garantiert sind sie blond, alle blonddie jungen Eisenbahner. Für sieist alles drin.Siehst du, wie der erste Waggon der letzte wird,der letzte der erste,wenn die Lokomotive die Richtung ändert?„Hey, wie ist es im Norden?“„Die Leute tragen Pelze und haben blaue Adern.“„Und im Süden? Was erzählt man da?“„Dort denken die Leute mit den Herzen und fuchteln beim Sprechen.“Über den heißen Schienen,verzerrt die Luft, wie ein konkaver Spiegel,ihre schlanken Silhouetten und die Worte „Pelz“ und „Herz“löscht sie, verwischt sie.

Und gegen ihren Willen wird jeder von ihnendas falsche Mädchen heiraten,diejenige mit dem langen Winter in den Augen;unter kahlen Bäumen,ist es schwierig sich am Nachhauseweg zu verlaufen.

Mit der Zeit verstummen die Pfiffe;die Büffel verwandeln sich in weiße kuschelige Welpen.Und, wie immer unerreichbar, sickern der Norden und der Südenaus den Ärmeln der noch nie getragenen Mäntel der Väter.

* Gott befiehlt Mose: „Ziehe Aaron seine Kleider aus und ziehe sie seinem Sohn Elias an, und Aaron wird mit seinem Volk vereinigt werden und sterben.“ (Bibel, Altes Testament) [Anmerkung von Luljeta Lleshanaku; wörtlich übersetzt von Andrea Grill]

Aus: Lleshanaku, Luljeta: Homo Antarcticus. Tirana: OMBRA GVG, 2015.

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Es nähert sich ...

Es nähert sich. Man spürt es, ohne es zu sehen,wie man das Meer spürt, das hier irgendwo sein muss.Das Meer, in das alle Flüsse der Welt münden, auch der deine,von süß wird erinnerhalb von Sekunden salzig,und bitter, tiefer unten.

Der Spiegel beginnt jeden Tag mit schlechter Laune.Vor dem Fensterein endloses Feld, weiß von Kohl und Geißen.

Eine späte Ernte, nichts weiter.Plötzlich sorgst du dich:Habe ich genug Nahrung für den Winter?Habe ich etwas zum Beißen? Woran kann ich mich erinnern?Manches verlangt nämlicheinen ziemlich starken Magen.

Du fragst deine Mutter, was sie über das Älterwerden weiß. Du fragst Frauen ihrer Generation,so schön aufgereiht,wie ein silbernes Löffelset in der Schachtel,in Erwartung des Abendessens, das vielleicht nie stattfindet ...

Fragst, wie sie es gemacht haben. Haben sie vielleicht einen Rat?Und wieder streckt sich dir diese warme feuchte Hand entgegen, verräterischwie sie dich früher, als du klein warst, zum Ohrringestechen geführt hat:„Es tut gar nicht weh! Ist nur ein Stich.“

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Sie können dir nichts beibringen. Das Altern ist persönlich,wie das Taschentuch, das Rasiermesser, dritte Zähne.Und ob sie es wissen oder nicht,die Älteren hatten einst ihren eigenen Gott, Saturn,der sich um sie kümmerte, in der ihnen verbleibenden Zeit,für späte Ernten, Gedanken über Zeit und Gäste.

Es nähert sich ... Es wird lange und langsam voranschreiten,wie eine Symphonie, die zu später Stunde die Radiosender füllt,nur selten unterbrochen für eine schnelle Nachricht,die, ohne sich zu entschuldigen,dort fortsetzt, wo sie unterbrochen wurde, Toccata e fuga,Solo mit Flöte.

Aus: Lleshanaku, Luljeta: Homo Antarcticus. Tirana: OMBRA GVG, 2015.

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Jutta BenzenbergDame russischer Herkunft, Shkodra, Albanien Fotografie 2009

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Jutta Benzenberg Schulmädchen, TiranaFotografie 2014

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Jutta BenzenbergBoxerjunge, TiranaFotografie2010

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Jutta BenzenbergDer Admiral, PartisaneFotografie2014

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Der Beginn des Wirkens österreichischer Archäologen in Albanien bedeutete zugleich auch den Anfang echter archäologischer Forschung in diesem Land. Bis dahin wurde Interesse an der Archäologie hauptsächlich von ausländischen Reisenden oder den Konsuln der Großmächte geäußert, die in administrati-ven Hauptzentren des Reiches in albanisch bewohnten Gebieten akkreditiert waren. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts beherbergte die Stadt Janina, welche das Zentrum des berühmten osmanischen Herrschers mit albanischer Abstammung, Ali Pasha Tepelena, war, europäische Konsuln, die sich nebenher den Studien der Geschichte und der Archäologie der mehrheitlich von Alba-ner_innen bewohnten Gebiete widmeten.1 In dieser Tradition schrieb der öster-reichische Konsul Johann Georg von Hahn (1811–1869), der sich in den Jahren 1847–1853 in Janina aufhielt, sein Monumentalwerk „Albanesische Studien“ 2, in dem er die Sprache, Geschichte, aber auch Aspekte der Archäologie der von Albaner_innen bewohnten Territorien behandelte. Aufgrund der Kompe-tenz und Gründlichkeit dieser Studien kann er als Begründer der Albanologie betrachtet werden, eines Komplexes von Geisteswissenschaften, welche die Archäologie, Geschichte, Sprache und Kultur des albanischen Volkes umfassen. Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts verlagerte sich das Zentrum des Interesses der europäischen Konsuln nach Shkodra, das zur Hauptstadt eines weiteren autonomen Fürstentums wurde, welches die albanische Familie der Bushatlli führte. Auch hier entstand eine Atmosphäre für albanologische Studi-en, die einem Wettstreit zwischen den französischen3 und den österreichisch-ungarischen Konsuln glich. Unter diesen ragt der österreichisch-ungarische Konsul in Shkodra, Theodor Ippen (1861–1935), heraus. Er war der Erste, der während seiner zwei Konsulatsdienste in Shkodra in den Jahren 1884–1889 und 1897–1904 archäologisches Interesse an den mittelalterlichen Monumenten Nordalbaniens äußerte und seine Aufzeichnungen in zwei Büchern veröffentlich-te, die bis heute von dokumentarischem und wissenschaftlichem Wert sind. 4

99N e r i t a n C e k a

Ein Jahrhundert österreichische Archäologie in Albanien

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CARL PATSCH UND DIE ANFÄNGE DER ALBANISCHEN ARCHÄOLOGIE

Das wissenschaftliche Interesse Österreich-Ungarns an Albanien war nicht frei von politischen Einfärbungen, vor allem nach der Zunahme von Spannungen zwischen dem Habsburger Reich und dem Königreich Serbien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Schwelle des Ersten Weltkriegs. Eine Generation glänzender Wissenschaftler erhielt in dieser Periode die Unterstützung der Kai-serlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, um Reisen in das Albanien des Osmanischen Reiches zu unternehmen. Der Erste war Carl Patsch (1865–1945), ein professioneller Archäologe mit klassischer Ausbildung, der sich im Frühjahr 1900 zwei Monate in Albanien aufhielt. Seine archäologischen Beobachtun-gen, verflochten mit Eindrücken aus einem Land, das noch vom Schleier des byzantinischen und osmanischen Mittelalters verhüllt war, veröffentlichte er in „erzählender Form“, denn er hatte es sich, wie er es in seinem Buch formulierte, zur Aufgabe gemacht, das „... für wissenschaftliche Arbeiten mannigfacher Art anziehende und ergiebige Land nicht bloß als Antiquar, sondern auf jede mir zugängige Weise kennen zu lernen und in allgemeinerem Sinne zu schildern“ 5 . Das Interesse von Carl Patsch an Albanien war nicht zufällig, da er seit 1893 in Bosnien stationiert war und mit dem Bosnisch-Herzegowinischen Landesmu-seum zusammenarbeitete, das gerade die für die illyrischen Studien wichtige Zeitschrift „Wissenschaftliche Mitteilungen aus Bosnia und Herzegowina“ herauszugeben begann. Er arbeitete als Kustos des Museums, nachdem er die wichtigen archäologischen Entdeckungen von illyrischen Tempeln der römi-schen Periode in Bihać und Konjica gemacht hatte. Am Nachmittag des 24. April 1900 landete Carl Patsch in der albani-schen Stadt Vlora und wurde im Haus des österreichischen Vizekonsuls der Stadt untergebracht.6 Nach ersten Eindrücken von einer peripheren Stadt des osmanischen Reiches mit nur 4000 Einwohner_innen in bunten Volks-trachten, die noch im Frieden mit der Umwelt lebten und auf deren Häusern Schwalben ihre Nester bauten, erfuhr er im Haus der Adelsfamilie Vlora eine Überraschung: „… eine ausgesuchte Bibliothek, der auch deutsche Werke nicht fehlen, eine hübsche Waffensammlung und eine kleine Antikenkollektion“ 7. Seine größte Überraschung erlebte er jedoch, als er beim Fortgang der Reise rund 40 km östlich von Vlora im Dorf Ploçë die Ruinen einer unbekannten an-

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tiken Stadt entdeckte. Die Umfassungsmauern und andere Monumente waren über der Erdoberfläche deutlich zu erkennen, und in den Häusern des Dorfes fand er eingemauerte Architekturteile, Inschriften sowie ein beschädigtes Porträt aus Marmor, das stark denen von Alexander dem Großen ähnelte. Ein weiterer Kopf aus Kalkstein aus lokaler Herstellung, der den Zeus von Dodona darstellte, sowie eine große Zahl von architektonischen Teilen, die er in einem Katalog beschrieb, ließen ihn fragen: „… welchen Namen wir der Ruinenstätte, die schon bei diesem ersten Anlaufe hier den Bestand einer größeren … Stadt sichert, beilegen könnten“ 8. Aufgrund archäologischer Beobachtung und nach meisterlicher Analyse der historischen Quellen identifizierte Carl Patsch in den Ruinen von Ploçë die Stadt Amantia, was später durch archäologische Grabun-gen im 20. Jahrhundert bestätigt wurde.9 Die zweite Reise von Vlora Richtung Westen bereitete Carl Patsch zwei weitere Überraschungen. Nur 10 km von der Stadt entfernt, entdeckte er am

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Kel Marubi, Myrto Dani mit einem Freund, Gelatine-Trockenplatte mit Silbersalzen, 1860

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Kap, das die Bucht von Vlora vom Norden abschloss, eine weitere antike Stadt, deren Mauern teilweise vom Meer bedeckt waren. Die Untersuchung der Quellen antiker Autoren regten ihn an, dort die alte Stadt Aulona zu identifizie-ren, von der sich auch der moderne Name von Vlora ableitet, und diese These wurde auch von Archäologen aufrechterhalten, die rund 70 Jahre nach dem Besuch Carl Patschs dort gruben.10 Die freudige Rückkehr von dieser Entde-ckung fand in einer Beschreibung Platz, die die literarische Begabung des Autors offenbart: „Prächtig sah der Olivenwald aus, als wir spät am Abend von der Scala nach Valona gingen; bald in Plänklerfeuer, bald zu Salven verdichtend glühten tausende von Leuchtkäfern durch Gras und Kronen.“ 11 Die archäolo-gischen Beschreibungen dieser Reise sind überall verwoben mit Eindrücken von einem exotischen Land mit orientalischem Aussehen: „Die Frauen und Mädchen, unter denen es an anziehenden nicht fehlt, gehen unverhüllt, lassen sich mit Fremden ins Gespräch ein und gestatten auch Einblicke in die Haus-wirtschaft“ 12, im Gegensatz zu „der grenzenlosen Trägheit der Männer, die, den größten Teil des Tages faulenzend, die Arbeit den Frauen überlassen: ‚Durch die Weiber leben wir; sie erhalten uns am Leben‘“. 13 Ein paar Tage später fuhr Carl Patsch in den Süden der Bucht von Vlora, wo vor ihm Georg von Hahn die Ruinen der hellenischen Kolonie Orico identi-fizierte hatte. Während der wenigen Stunden, die er die Ruinen betrachtete, entdeckte er Spuren von Häusern und Straßen einer in den Felsen gehauenen Stadt, und er imaginierte an diesem Ort die Ereignisse der Belagerung der Stadt durch Pompeius Junior im Jahr 48 v. Chr. gemäß der Beschreibung von Cäsar. Ein unerwartetes „Grüß Gott!“ von einem deutschen Unternehmer, der sich bei Orico niedergelassen hatte, und ein Foto von Kaiser Franz Joseph im Zimmer der Herberge in Dukat, wo er übernachtete, waren angenehme Überraschungen dieses Reiseabschnittes.14 Mit „dem Cäsar in der Tasche“ 15 setzte Carl Patsch die Untersuchung der Halbinsel Akrokeraunia fort, wo der Feldzug von Cäsar gegen Pompeius am 6. Januar des Jahres 48 v. Chr. begann. Einen ganzen Tag mussten er und seine Begleiter „ohne Weg und Steg, den sehr steilen, steinigen, mit Gestrüpp bewachsenen Abhang“ erklimmen, sie wurden „von einem der Hirtenhunde, die vor Wölfen nicht zurückschrecken … (man tötet hier leichter einen Menschen als einen solchen Köter!“) attackiert, sie löschten den Durst mit „etwas Regenwasser in hohlen Bäumen und Steinen“, um den Kamm des Akrokeraun in einer Höhe

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von 1335 m zu überqueren, von wo „das Meer bis Korfu und den vorliegenden kleinen Eilanden“ zu sehen war, um am Abend „vom Regen durchnäßt, bagnati e sudati, die Hirtenhütten“ zu erreichen, wo unter „einem überhängenden Felsen … das Nachtlager aufgeschlagen (wurde)“. 16 Der nächste Tag belohnte ihn mit einer Entdeckung, die sich jeder Archäologe einmal im Leben wünscht. In der Bucht unter dem Nachtlager befanden sich auf den vertikalen Oberflächen der Felsen „die zahllosen Inschriften, die, Visitenkarten gleich“, in Altgriechisch und Latein von Seeleuten hinterlassen worden waren, welche während der Stürme in der einzigen geschützten Bucht am Westufer vom Akrokeraun Unterschlupf gefunden hatten. Carl Patsch dechiffrierte einen Teil von denjenigen, die haupt-sächlich den Dioskuren als Beschützern der Seeleute gewidmet waren. Er las die „Visitenkarten“ bedeutender Menschen: der römischen Konsuln im Jahr 11 n. Chr. , Titus Statilius Taurus und Marcus Aemilius Lepidus, aber auch des byzantinischen Kaisers Johannes V. Palaiologos, der hier 1369 vorbeikam, als er zu dem sich da-mals in Avignon in Frankreich aufhaltenden Papst Urban V. reiste, um diesen um Hilfe gegen die Osmanen zu bitten. 17 Darunter befand sich eine Inschrift vom Sohn des Pompeius Magnus Gnaeus Pompeius Iunior, der nach der Beschrei-bung von Cäsar die Flotte kommandierte, die mit der Kontrolle des Kanals von Otranto in den Jahren 49–48 v. Chr. beauftragt war. Ohne sich von den Strapazen des Akrokeraun zu erholen, fuhr Carl Patsch in einem unsicheren Boot auf dem Fluss Vjosa, um die Ruinen der Stadt Byllis im Hinterland der hellenischen Kolonie Apollonia zu besuchen. Nach der archäo-logischen Untersuchung der Ruinen der Stadt stellte er zwei Bauperioden der Umfassungsmauern fest, doch die größte Aufmerksamkeit widmete er dem korrekten Lesen einer in den Felsen gehauenen lateinischen Inschrift, in der auch der Name Byllis vorkam. Anhand der von den Einheimischen gesammelten antiken Münzen verfasste Carl Patsch den ersten Katalog von Bronzeprägungen in Byllis vom 3. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr., der sich bis heute seinen wissen-schaftlichen Wert bewahrt hat. Von dort brach die von Carl Patsch geführte Gruppe nach Berat auf, dem Hauptzentrum des Vilayets, das ihm wiederum eine Überraschung bot: „Ein Stadtbild, vollendet in Zeichnung und Farbe, machte das Auge trunken ... In der Mitte glänzte der brückenüberspannte Fluß, links klomm burggekrönt die Hauptstadt selbst die Höhen hinan, rechts hob sich die fenster-reiche Vorstadt Gorica; der gewaltige Tomor schloß mit seiner Schneehülle den Hintergrund. Alles umzauberten die Tinten der sinkenden Sonne und verschönte

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die Neuheit des Ortes.“ 18 „Sonntäglich gekleidete Bürger“ standen in Kontrast zu dem Klima, das Carl Patsch in Berat vorfand und das dem glich, was ausländischen Besucher_innen während des kommunistischen Regimes begegnete. Polizeiagen-ten begleiteten jede seiner Bewegungen mittels Aufpasser, damit er das Kastell nicht fotografiere!19 Infolgedessen beschränkte er sich auf die Dokumentation einiger Skulpturen, die aus Apollonia dorthin gebracht worden waren, und überließ die archäologischen Entdeckungen einem anderen österreichischen Archäologen, Camillo Praschniker, der Berat während des Ersten Weltkriegs besuchen würde. Der letzte und attraktivste Besuch von Carl Patsch galt Apollonia, wo er sich an einem gerade erst von Regenströmen freigelegten Mosaik begeisterte: „Eine Grabung würde hier sicherlich lohnen, und den Einsatz von Altertums-freunden rufen hier Monumente an, die sofort ein Lokalmuseum füllen und größeren Museen zur Zierde gereichen würden: eine Kalkgrube arbeitet auch hier unbeirrt und ohne Wahl.“ 20 Selbst das Kloster St. Maria, das inmitten der antiken Ruinen erbaut war, kam ihm wie ein Museum vor, in dem an „den Mauern und in den Ecken ... Statuen, Reliefs, Altäre, Hermen, Arme, Beine, korinthische Kapitäle, Vasen“ 21 liegen. Carl Patsch schaffte es, einen Katalog mit Fotos und Skizzen der wichtigsten Teile anzufertigen, der heute Zeugnis von den Skulpturen ablegt, die in den nach seinem Besuch folgenden Jahrzehnten verloren gingen.

CAMILLO PRASCHNIKER UND DIE ARCHÄOLOGIE DER KRIEGSZEIT IN ALBANIEN 1916–1918

Das Buch von Carl Patsch liest sich auch heute mit Genuss, aber es ist gleicher-maßen unverzichtbar für jede/-n Wissenschaftler_in, der/die sich mit den von ihm beschriebenen archäologischen Stätten erneut auseinandersetzt. Zugleich vermittelt es die Atmosphäre von Frieden und Harmonie im Habsburger Reich nur ein Jahrzehnt vor Ausbruch des Krieges im Gegensatz zu den Büchern der Archäologen, die ihm nachfolgten und Albanien während der österreichisch-un-garischen Besatzung in den Jahren 1916–1918 besuchten. Als erste Missionare der Archäologie im Krieg kamen mit einer vom Kultur- und Bildungsministerium und der Akademie der Wissenschaften entsandten Expedition Camillo Praschniker und Arnold Schober, gemeinsam mit dem Sprachwissenschaftler M. Lambertz,

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dem Ethnologen A. Haberlandt, dem Kunstwissenschaftler E. Buschbeck und dem Slawisten F. Kidrić. Das Buch der beiden Archäologen über die Expedition, die im Mai 1916 begann, ähnelt dem von Carl Patsch in der Art eines Reisetagebuchs, angefüllt mit archäologischen Beschreibungen, aber es ist weniger pittoresk in der Darstellung der Orte, durch die sie kamen. Die erste wichtige antike Stadt, die sie besuchten, war Shkodra, wo sie zum ersten Mal die ältesten Bollwerke doku-mentierten, die mit „mächtigen Befestigungen versehen“ waren, „nicht von der primitiven Art, wie wir sie sonst bei alten illyrischen Burgen … gefunden haben“. 22 Eine andere Entdeckung stellte das römische Militärlager im Dorf Vig, im Südosten von Shkodra, dar, aber ein weitreichendes Forschungsthema sollte die antike Stadt Lissos bilden, die zum ersten Mal von Georg von Hahn und Th. Ippen besucht worden war. C. Praschniker und A. Schober fertigten zum ersten Mal die Planimetrie der Stadtmauern an, die von der Akropolis hinunter zum Fluss Drin führten, wo sich in der Antike der Stadthafen befand. Sie hinterließen uns eine detaillierte Beschreibung der Mauern und Türme der antiken Befestigung, begleitet von einer Analyse der historischen Ereignisse, die um die Stadt herum stattfanden, als sie von Philipp V. von Makedonien im Jahr 213 v. Chr. und von Marc Antonius im Jahr 48 n. Chr. erobert wurde. 23 Ein Fehler in den historischen Quellen, wo Lissos mit der hellenischen Kolonie Issa verwechselt wurde, brachte die Autoren dazu, Lissos für eine Kolonie des Dionys von Syrakus zu halten und es um das Jahr 385 v. Chr. zu datieren. Ein anderer österreichischer Archäolo-ge 24 korrigierte einige Jahre später den Fehler, während die archäologischen Forschungen rund ein halbes Jahrhundert später bestätigten, dass die Stadt um die Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. erbaut worden war 25. Auf der Grundlage der von Georg von Hahn veröffentlichten Daten besuchten die beiden Archäologen die antike Stadt im Dorf Zgërdhesh bei Kruja, wo sie die schönen Umfassungs-mauern aus quadratischen Kalksteinblöcken beschrieben und ihre Planimetrie skizzierten. Sie widmeten sechs Tage einer detaillierten archäologischen Unter-suchung im antiken Durrës-Dyrrhachion, deren Ergebnis eine topographische Karte der Umfassungsmauern bildete, ergänzt von der Analyse der alten Quel-len.26 Durchgeführt zu einer Zeit, als Durrës noch eine kleine Stadt war, stellt diese Studie auch heute eine unverzichtbare Grundlage für dortige archäologi-sche Forschungen dar. Genauso aktuell ist nach wie vor der Katalog der archäolo-gischen Funde, die von Praschniker und Schober dokumentiert wurden, nämlich Skulpturen, Reliefs, architektonische Teile und Inschriften, die zum größten Teil

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in den Wirren der Jahre während und nach dem Ersten Weltkrieg verloren gingen. Camillo Praschniker setzte die Reise allein in den Süden fort, um den Spuren der Via Egnatia gerade in der Stadt Elbasan zu begegnen, welche auf ihn den Eindruck „einer altertümlichen Stadt“ machte: „Die schmutzstarren-den Straßen sind eng und winkelig, die Moscheen merkwürdig armselig und verfallen. Nicht wenig tragen zu diesem Eindruck die mitten zwischen den Häusern der Stadt aufragenden, verfallenen Mauern und Türme eines alten Kastells bei.“ 27 Er durchquerte unter Schwierigkeiten die Gärten der Häuser, die die Mauern der Burg stützten, erarbeitete ihre Planimetrie, datierte sie ans Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. und identifizierte sie als die Station Scampa der Via Egnatia. Die archäologischen Ausgrabungen, die ein halbes Jahrhundert nach dem Besuch von Praschniker durchgeführt wurden, bestä-tigten seine Datierung.28 In Elbasan teilte sich die Expedition, und während die übrigen Teilneh-mer nach Shkodra zurückkehrten, fuhr Camillo Praschniker weiter in den Sü-den, wo sich die Front mit der italienischen Armee befand. Gleich zu Beginn der Straße, in Topçias bei Elbasan, entdeckte er die Spuren einer der ältesten Brücken der Via Egnatia zusammen mit einer weiteren Brücke im Dorf Kuçi bei Berat sowie die noch erhalten gebliebenen Teile der Trasse, die zu dem Zweig gehörten, der in Apollonia begann. Berat hinterließ bei Camillo Praschniker den Eindruck „eines der präch-tigsten Landschaftsbilder ganz Albaniens“, aber anders „als Patsch im Jahre 1900, der hier Schritt für Schritt überwacht wurde, konnten wir uns in Stadt und Umgebung frei bewegen“ 29. In der Folge untersuchte er detailliert die Befestigungen der Burg, wo er eine antike Periode mit großen quadratischen Blöcken, denen in Lissos ähnlich, erkannte. In einer weiteren Anzahl von Skulpturen, eingemauert in den Kirchen von Berat und Fier, ahnte er Hinweise auf Apollonia zu erkennen, woher sie stammten. Die reiche korinthische Kolonie war in der damaligen wissenschaft-lichen Welt wenig bekannt, und Praschniker konzentrierte sich hauptsächlich auf ihre Topographie. Er erarbeitete eine exakte Planimetrie der Umfassungs-mauern der Stadt, mit der inneren Aufteilung der Akropolis, und er bestimm-te den Ort des Theaters, das später bei archäologischen Grabungen entdeckt wurde.30 Zudem fügte er eine Anzahl von Skulpturen, Reliefs und Inschriften zum Antikenkatalog Apollonias von C. Patsch hinzu, aber den Hauptteil seiner

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Grabstele des Parmeniskos. Griechisch, Hellenistisch, um 200 v. Chr. Fundort: Apollonia Kloster Pojani (Albanien). © Kunsthistorisches Museum Wien, Antikensammlung (Provenienz: Radanovic, Ljubica, Agram; 1917 Kauf durch Vermittlung von Oberlieutn. Zvonomir Mühllstein)

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Arbeit hob er für eine gesonderte Veröffentlichung auf, die einige Jahre später erschien. Eine weitere Abhandlung hieß „Muzakhia und Malakastra“ und behandelte zwei archäologische Hauptzentren der albanischen Landschaften, Apollonia und Byllis 31. Camillo Praschniker erzählt darin, wie er am 23. April 1918 in Apollonia mit der Grabung begann, „mit kurzen durch schlechte Witterung oder militäri-sche Ereignisse verursachten Unterbrechungen“, ohne der Tatsache große Be-achtung zu schenken, dass dieses Datum den Beginn wirklicher archäologischer Grabungen in Albanien darstellte. In seiner Abhandlung veröffentlichte er die Ergebnisse der Grabungen in der Stadtmauer und der übriggebliebenen Mauer eines Tempels, der „… gänzlich zerstört worden [sei], als von ihm Ibrahim Pascha 70 Fuhren Steine zum Bau eines neuen Serails nach Berat führte“ 32. Er untersuchte die Nekropole und den Flusshafen der Stadt, und er be-mühte sich, den Ort zu identifizieren, an dem sich in der Antike das Nymphäum von Apollonia befand, die ewige Flamme, die von erdölhaltigen Schichten der Stadt genährt wurde. Der Katalog von Skulpturen, den er vervollständigte, ist auch heute noch der reichste und kompetenteste, abgesehen davon, dass ein Großteil der Skulpturen verstreut wurde, verschwand oder später zerstört wurde. Eine von ihnen, das Relief von Parmeniskos, nimmt noch heute einen Ehrenplatz in einem der Säle des Kunsthistorischen Museums in Wien ein. Während der archäologischen Forschung im Gebiet von Mallakastra ent-deckte Camillo Praschniker eine große Zahl von bis dahin unbekannten Stätten, konzentrierte sich aber auf das bedeutendste Zentrum, Byllis, das Carl Patsch zuvor auch besucht hatte. Er skizzierte eine genaue Planimetrie dieser antiken Stadt, wo er den Ort des Theaters bestimmte, und er führte die ersten archäo-logischen Grabungen durch, mit denen die Entdeckung einer großen zweistö-ckigen Stoa einsetzte. Auf diese Weise prägte er den Ablauf der systematischen Forschungen, die in Byllis seit 1978 mit der vollständigen Entdeckung des Theaters, der Stoa und anderer Monumente beginnen sollten.33 Aufgrund der Intensität und des Umfangs seiner Tätigkeit in Albanien bleibt Camillo Praschni-ker der bedeutendste Archäologe, ein Vorbild in der Verbindung aus der Kenntnis der klassischen Philologie und der Kompetenz in zahlreichen weiteren Gebieten archäologischer Studien: Architektur, Bildhauerei, Epigraphie u. a.

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DAS ÖSTERREICHISCHE ERBE IN DER ALBANISCHEN ARCHÄOLOGIE

Zwei interessante Persönlichkeiten haben die Archäologie in der Kriegszeit wesentlich bereichert: Der erste, Georg Veith (1875–1925), Oberst der Artillerie, diente während des Ersten Weltkriegs im Stab der österreichisch-ungarischen Armee in Albanien. Er schloss sich der Mission von Camillo Praschniker in Mallakastra an, wo er auch archäologische Sondierungen in der antiken Stoa von Byllis leitete. Zwischenzeitlich widmete er sich dem Studium des Feldzu-ges in Illyrien von Cäsar im Jahr 48 v. Chr., über den er uns ein monumentales Werk hinterließ, was die Genauigkeit der schriftlichen antiken Quellen, aber auch die Verortung jener Ereignisse in einem Terrain betrifft, das sich von der Antike her bis zu der Zeit nicht tiefgreifend verändert hatte.34 Der zweite, der interessanteste und vielseitigste Vertreter jener Generation, Franz Ba-ron Nopcsa (1877–1933), diente als Freiwilliger in der österreich-ungarischen Armee in Albanien. Von Haus aus Paläontologe europäischen Ranges, aber auch Ethnograph, Historiker und Archäologe aus Leidenschaft, verbrachte er Jahre auf Forschungsreisen in Albanien, die er auch mit politischem Interesse verband, bis hin zu dem Versuch, im November 1912 König des gerade ausge-rufenen unabhängigen Staats Albanien zu werden. Nach einer Studienreise im Jahr 1903 kehrte er zu Aufenthalten von 1907 bis 1913 und während der österreichisch-ungarischen Besatzung von 1916 bis 1918 nach Albanien zurück. Sein Buch „Beiträge zur Vorgeschichte und Ethnologie Nordalbaniens“ 35, ist eine erste systematische Studie über die Archäologie Nordalbaniens, in der er mit der Seriosität und Tiefe eines wahren Spezialisten archäologische Objekte mit den von ihm als „gräko-illyrisch“, „römisch“ „Völkerwanderungsperiode“ und „Mittelalter“ klassifizierten Perioden behandelt. Von aktueller Bedeutung bleibt seine Analyse von bei geheimen Grabungen in der Nekropole unweit des Dor-fes Koman bei Puka gefundenen Objekten, die er exakt in das 8. Jahrhundert n. Chr. datierte und mit „romanisierten Illyrierstämmen“ in Verbindung setzte. Sie ist zugleich eine multidisziplinäre Studie der antiken und mittelalterlichen Kultur des von Albaner_innen bewohnten Territoriums, in die auch die Ethno-logie, die Sprachwissenschaft sowie die Siedlungsgeschichte, eine relativ neue Forschungs-disziplin in der Erforschung von Südosteuropa, Eingang fanden.

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Die Jahrzehnte vor und nach dem Ersten Weltkrieg verzeichneten eine gewich-tige Dominanz österreichisch-ungarischer Wissenschaftler auf dem Gebiet der Albanologie. Einer der grundlegenden Beiträge dieser Periode war die Veröf-fentlichung der zwei Bände von „Acta et diplomata res Albaniae mediae aetatis illustrantia“ von L. Thallóczy (1857–1916), K. Jireček (1854–1918) und Milan Šufflay (1879–1931)36, die auch heute die wichtigsten Quellen für diejenigen darstellen, die die Geschichte von Albanien im Mittelalter studieren wollen. Auch nach dem Ersten Weltkrieg blieben Österreich und vor allem Wien die Hauptzentren albanologischer Studien. Carl Patsch führte sein Interesse an Albanien mit Veröffentlichungen fort, wirkte aber auch als Berater der albani-schen Regierung für Archäologie und nahm beim Bau des ersten Nationalmu-seums in Tirana teil.37 Milan Šufflay und Franz Baron Nopcsa veröffentlichten einen Teil ihres in Albanien während des Ersten Weltkrieges gesammelten archäologischen und ethnologischen Schatzes38, während N. Jokl (1877–1942) führend in der albanologischen Sprachforschung in Europa war. Um sie herum versammelte sich eine Gruppe begeisterter albanischer Studenten, die zu Begründern der albanologischen Forschung im Nachkriegsalbanien wurden. A. Buda (1911–1993) wurde zum Begründer der modernen albanischen Histori-ographie und der Albanischen Akademie der Wissenschaften nach dem Vorbild der Akademie in Wien; der Schüler von N. Jokl, Prof. Eqrem Çabej (1908–1980), begründete die moderne Sprachwissenschaft; Prof. Hasan Ceka (1900–1998), Schüler von Carl Patsch, schuf die moderne Archäologie im Albanien de Nachkriegszeit; Prof. Skënder Luarasi (1900–1982), Gründer des Lehrstuhls für angelsächsische Sprachen an der Universität Tirana, sowie weitere Studenten anderer Wissenschaften, die ihre Abschlüsse an österreichischen Universitäten gemacht hatten, verliehen dieser Universität einen europäischen Geist. Eine ganze Generation junger Wissenschaftler, die ihr Studium an dieser Universität abschlossen, rühmte sich, an einer Zweigstelle der Wiener Universität in Tirana studiert zu haben. Albanien wird auf ewig der Arbeit und dem Werk der öster-reichischen Wissenschaftler dankbar sein, die die Grundlagen der modernen albanologischen Wissenschaften gelegt haben, auch wenn ihre Motive retro-spektiv differenziert betrachtet werden müssen, da sie nicht immer nur rein wissenschaftliche gewesen sind. Aus dem Albanischen von Zuzana Finger

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1 Pouqeville, S. F. C. H. L.: Voyage dans la Grèce. Paris, 1820; und W. M. Leake: Travels in Northern Greece. I. London, 1835.2 Albanesische Studien. Wien, 1853. Siehe auch: Reise durch die Gebiete von Drin und Wardar. Wien, 1867.3 Der französiche Konsul Alexandre Degrand (1844–1911) diente in Shkodra von 1893 bis 1899 und veröffentlichte seine Untersuchungen in dem Buch: Souvenirs de la Haute Albanie, Paris 1901 – eine vielseitige Studie über die mittelalterliche Geschichte und die Denkmäler in Nordalabanien. 4 Stare crkvene ruševine u Albaniji (in Bosnian: Old church ruins in Albania). Sarajevo, 1899; Stari spomenici u Albaniji (in Bosnian: Old monuments in Albania). Sarajevo, 1900; Skutari und die nordalba-nische Küstenebene. Sarajevo, 1907.5 Patsch, C.: Das Sandschak Berat in Albanien. Bd. 3 der Schriften der Balkankommission/Antiqua-rische Abteilung. Wien: Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, 1904 [einleitende Danksagung].6 Ebd., Sp. 10.7 Ebd., Sp. 18.8 Ebd., Sp. 49.9 Anamali, S.: Amantie. Iliria II (éd. fr.), 1972, S. 67–148.10 Bereti, V.: Grabungen in Triport. (Rés. fr. Les fouilles à Triport.) Iliri VII–VIII, 1977–1978, S. 285–292.11 Patsch, C., a. a. O., Sp. 64.12 Ebd., Sp. 53.13 Ebd., Sp. 69.14 Ebd., Sp. 69–83.15 Ebd., Sp. 79.16 Ebd., Sp. 87–88.17 Ebd., Sp. 90–94.18 Ebd., Sp. 125–126.19 Ebd., Sp. 126–127.20 Ebd., Sp. 150.21 Ebd., Sp. 151.22 Praschniker, C.; Schober, A.: Archäologische Forschungen in Albanien und Montenegro. Heft VIII der Schriften der Balkankommission/Antiquarische Abteilung. Wien: Akademie der Wissenschaften, 1919, S. 8f.23 Ebd., S. 14–26.24 Wilhelm, A.: Diodor über Lissos. In: Jahreshefte des Österreichischen Archäologischen Institutes in

Wien, Band XXI–XXII, 1922–1924, Beiblatt, S. 509f.25 Prendi, F., Zheku, K.: La ville illyrienne de Lissus. Iliria II (éd. fr.), 1972, S. 239–268.26 Praschniker, C.; Schober, A., a .a. O., S. 33–40.27 Ebd., S. 48.28 Karaiskaj, Gj.: Të dhëna të reja për datimin e ka-lasë së Elbasanit. (Neue Angaben für die Datierung der Burg von Elbasan; New data for the dating of the castle at Elbasan). „Monumentet“, 3, 1972, S. 147–157. (Summ. engl.)29 Praschniker; Schober, a. a. O., S. 61.30 Fiedler, Manuel et alii: Neue Forschungen zum hellenistisch-römischen Theater von Apollonia (Albania). Römische Mitteilungen, 114, 2011, S. 55–200.31 Praschniker, C.: Muzakia und Malakstra. Achä-ologische Untersuchungen in Mittelalbanien. In: Jahreshefte des Österreichischen Archäologi-schen Institutes in Wien, Band XXI-XXII, Beiblatt. Wien, 1922–1924, Sp. 5–224. [Camillo Praschniker verwendet im Titel seiner Abhandlung eine zeit-genössische Schreibweise des Namens Mallakstra, während Neritan Ceka die heutige normierte Form des Namens benutzt. Anmerkung von Zuzana Finger.]32 Ebd., Sp. 23–42.33 Ceka, N.: Städtebau in der vorömischen Periode in Südillyrien. In: Akten des XIII. internatio-nalen Kongresses für klassische Archäologie. Berlin: 1988, Mainz: Verlag Philipp von Zabern, 1990, S. 215–229.34 Veith, G.: Der Feldzug von Dyrrhachium zwi-schen Caesar und Pompejus. Wien, 1920.35 Nopcsa, F. B.: Beiträge zur Vorgeschichte und Ethnologie Nordalbaniens. Sarajevo, 1912.36 Acta et diplomata res Albaniae mediae aetatis illustrantia, Wien, I. 1913; II. 1918.37 Patsch, C.: Historische Wanderungen im Karst und an der Adria. I. Teil: Die Herzegowina einst und jetzt. 1922. Patsch, Carl: Ilirët (alb.). Tirana, 1923.38 Šufflay, Milan: Städte und Burgen Albani-ens, hauptsächlich während des Mittelalters. Philosophisch-Historische Klasse. Wien: Akademie der Wissenschaften, 1924. Franz Baron Nopcsa: Albanien. Bauten, Trachten und Geräte Nordalba-niens. Berlin, 1925.

111 Neritan Ceka: Ein Jahrhundert österreichische Archäologie in Albanien

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Kel Marubi, Prenk Cali Gruppen-Fotografie, Gelatine-Trockenplatte mit Silbersalzen, 19.10.1927

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Kel Marubi, Gjushe Gjon Llambushi-Gruppe, Gelatine-Trockenplatte mit Silbersalzen

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Kel Marubi, Kapodicis Tochter, Gelatine-Trockenplatte mit Silbersalzen

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Pietro Marubbi, Oso Falltorja mit Emiljo Simini und Kel Marubi, Gelatine-Trockenplatte mit Silbersalzen, 1887

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Das primäre Ziel des von 2014 bis 2017 am Fachbereich für Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie des Instituts für Geschichte an der Universität Graz durchgeführten FWF-Forschungsprojekts1 hat darin bestanden, eine klare Antwort auf die Frage zu geben, ob sich die Albanologen der österreichisch-ungarischen Monarchie von Politik und Militär instrumentalisieren ließen oder ob es sich um einen wechselseitigen Einfluss zwischen dem akademischen, politischen und militärischen Feld mit einer Vielzahl an Akteuren handelte. Daneben waren einige Detailfragen zu beantworten wie etwa die Entstehung und Entwicklung der erwähnten Felder, die Problematik der Zugehörigkeit einiger namhafter Albanologen zu mehreren Feldern und das Verhältnis der Wissenschaft zum „Feld der Macht“2. Zur Beantwortung der erwähnten Forschungsfragen wurden Johan Galtungs kulturimperialistischer Ansatz3 und Pierre Bourdieus Praxeologie4, insbesondere seine auf die Individuen und Institutionen als soziale Akteure bezogene Feldtheorie, kombiniert. Während Galtungs Konzept ein funktionie-rendes Instrument für die Analyse der asymmetrischen Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und dem entstehenden Albanien darstellt, bietet sich Bour-dieus Feldtheorie für die Analyse der Beziehungen zwischen dem außenpoliti-schen und militärischen Feld auf der einen und dem akademischen Feld auf der anderen Seite an. Die Recherche über die sozialen Akteure erfolgte im Österreichischen Staatsarchiv (Haus-, Hof- und Staatsarchiv; Kriegsarchiv) in Wien sowie in den Staatsarchiven in Sarajewo und Tirana. Die Auswertung des relevanten Materials orientierte sich wie die Analyse der Geschichte und der internen Struktur des Feldes der Österreichisch-Ungarischen Albanologie sowie des Politischen und Militärischen Feldes, die Bestimmung der Schnittflächen zwischen diesen Fel-dern und die Untersuchung der exponierten Lage des Wissenschaftlichen Feldes gegenüber dem Feld der Macht an der erwähnten Feldtheorie von Bourdieu.

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Die österreichisch-ungarische Albanologie: Wissenschaft im Bann des Machtfelds

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Der Anteil der österreichisch-ungarischen Wissenschaft an der Erforschung Albaniens ist ein wesentlicher. Der größte Teil der Forschungsarbeit wurde in den Fachbereichen der Sprachwissenschaft, Geschichte, Volkskunde, Geogra-phie, Geologie und Archäologie geleistet. Es handelte sich um einen elitären Kreis von Albanologen, die sich fast alle untereinander kannten, teilweise miteinander rivalisierten und teilweise miteinander kooperierten und befreun-det waren. Die treibende Kraft in Sachen Forschungsreisen am Balkan vor und während des Ersten Weltkriegs waren die Akademie der Wissenschaften in Wien mit ihrer Balkan- sowie Albanien-Kommission und die Akademie der Wissenschaften in Budapest mit ihrer Balkan- sowie Orient-Kommission. Die führenden Forschungsstätten zur sprachwissenschaftlichen, historischen, ethnographischen und archäologischen Erschließung des südosteuropäischen Raumes waren die jeweiligen Institute der k. u. k. Universitäten, insbesondere in Wien, Prag, Budapest und Graz. Einen Sonderstatus genoss das erst 1904 von Carl Patsch gegründete außeruniversitäre Balkaninstitut in Sarajewo, das sich mit den Jahren zum Zentrum der k. u. k. Balkanforschung entwickelte.5 Die spezifische Illusio6 des allgemeinen Albanologischen Feldes, d. h. die gemeinsamen Interessen und Glaubenssätze der Albanologen, bestand darin, unbekannte Aspekte der albanischen Geschichte, Kultur und Sprache zu erhellen. Die spezifische, vom Politischen Feld – sowohl in Österreich als auch in Ungarn – vorgegebene Doxa 7 des Unterfeldes der Österreichisch-Ungarischen Albanologie, d. h. die gemeinsamen unbewussten Glaubenssätze der k. u. k. Albanologen, die Doppelmonarchie habe dabei eine Vorreiterrolle zu spielen, beeinflusste die Auswahl von Forschungsthemen. In der Sprachwissenschaft, nachdem die Frage nach der Stellung des Albanischen im Kreise der indoger-manischen Sprachen geklärt worden war, wandte man sich in der allgemeinen Albanologie der spannenden Frage nach dem illyrischen, thrakischen oder illy-risch-thrakischen Charakter des Albanischen vor dessen durch den vulgärlatei-nischen Einfluss erfolgten Transformation zu.8 Weiters versuchte man nun das Verhältnis des Albanischen zum Dalmatischen und Rumänischen, die Tiefe des lateinischen Einflusses auf das Voralbanische und die Trennung des Erbwort-schatzes von den Lehn- und Fremdwörtern zu erforschen. Die wissenschaftli-che Stärkung der illyrischen These der Autochthonie bedeutete gleichzeitig die politische Stärkung der Position der mit der Monarchie verbündeten Albaner_innen am Balkan gegenüber ihren antihabsburgisch eingestellten slawischen

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Nachbar_innen. So war es auch von politischer Bedeutung, wenn der Einfluss des Lateinischen auf das Voralbanische und jener des Rumänischen auf das Albanische nicht zu tief gingen sowie der Anteil des Erbwortschatzes gegen-über den Lehn- und Fremdwörtern umso größer war. Daher war es wohl kein Zufall, dass sich die österreichisch-ungarischen Albanologen wie Johann Georg von Hahn, Franz Miklosich, Gustav Meyer, Wilhelm Meyer-Lübke, Josef Konstantin Jireček, Milan Šufflay und – mit Modifikationen – Carl Patsch und Franz Nopcsa ausnahmslos für die illyrische Herkunft der Albaner_innen und des Albanischen aussprachen. Norbert Jokl nahm in der Frage der Ethnogenese der Albaner_in-nen und der Herkunft des Albanischen eine allerdings erst nach dem Ende der Monarchie publizierte vermittelnde Position ein. In der Geschichtswissenschaft lag der Schwerpunkt der Tätigkeit der österreichisch-ungarischen Historiker ebenso wenig zufällig geographisch auf Nordalbanien und periodisch auf der mittelalterlichen Geschichte des albanischen Volkes. Das Kultusprotektorat der Monarchie war auf die katholischen Bezirke im nordalbanischen Raum konzent-riert, und die Nationsbildung der Albaner_innen suchte ihre Legitimation in der glorreichen Skanderbeg-Zeit des Spätmittelalters. Als Beispiele seien hier nur die von Šufflay getroffene geographische und ethnische Definition des mittel-alterlichen Albaniens, die Quellensammlung zur albanischen Geschichte, „Acta et diplomata res Albaniae mediae aetatis illustrantia“, und die kollektiv verfass-ten „Illyrisch-albanischen Forschungen“ genannt. Die volkskundliche Forschung war ebenfalls fast ausschließlich auf Nordalbanien konzentriert. Dass sich die erst sehr spät einsetzende archäologische Erforschung Albaniens in erster Linie der antiken Kultur widmete und die vorillyrische, illyrische und frühmittel-alterliche Periode stark vernachlässigte, war wohl dem Umstand geschuldet, dass einerseits das allgemeine Interesse der damaligen Archäologie der Zeit der „alten Griechen und Römer“ galt und andererseits die den Albaner_innen wohlgesinnten k. u. k. Albanologen der guten Hoffnung waren, die illyrisch- albanische Kontinuität allein mit sprachwissenschaftlichen Argumenten beweisen zu können.9 Wesentlich für die Analyse ist die grundlegende Tatsa-che, dass wir es im Feld der Österreichisch-Ungarischen Albanologie mit drei verschiedenen Akteurstypen zu tun haben: dem rein wissenschaftlichen Typ, vertreten durch Jireček, Šufflay, Patsch, Meyer, Arnold Schober, Miklosich, Hugo Schuchardt, Meyer-Lübke, Jokl und Maximilian Lambertz, dem politisch-wis-senschaftlichen Mischtyp mit einer Nähe zum oder gar Teilhabe am Politischen

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Feld, vertreten durch Hahn, Ludwig von Thallóczy, Theodor Ippen und Nopcsa, und dem militärisch-wissenschaftlichen Mischtyp mit einer Nähe zum oder gar Teilhabe am Militärischen Feld, vertreten durch Georg Veith, Camillo Praschniker, Franz Seiner, Arthur Haberlandt, Nopcsa, Jokl und Lambertz. Die Doppelnen-nungen Nopcsa, Jokl und Lambertz haben damit zu tun, dass sie in bestimmten Perioden auch dem Politischen oder Militärischen Feld nahestanden.10 Die spezifische Illusio hinsichtlich der Anerkennung der Interessen des Politischen Felds bestand im gemeinsamen Bemühen, das zukünftige, unab-hängige Albanien einerseits politisch als treuen Bündnispartner der Monarchie zu gewinnen, um es in einer Art Bollwerk-Funktion gegen den Panslawismus und italienischen Imperialismus zu instrumentalisieren, sowie andererseits wirtschaftlich als prosperierenden Handelspartner zu forcieren, um die öko-nomische Hegemonie der Monarchie auf der westlichen Balkanhalbinsel zu verteidigen. Die spezifische Doxa, die gemeinsamen Glaubenssätze der dama-ligen Politiker und Diplomaten, manifestierte sich in der selbstverständlichen Überzeugung, dass Österreich-Ungarn dazu berufen sei, nicht nur in Bosnien-Herzegowina, sondern auch in Albanien eine zivilisierende Mission zu erfüllen. Der Unterschied lag nur in der Art und Weise der Durchführung, denn während diese Mission in Bosnien im direkt imperialistischen Kontext von Okkupation und Annexion vornehmlich von k. u. k. Beamten vorangetrieben wurde, so sollte sie in Albanien im Kontext von indirekter struktureller und kultureller Gewalt von einheimischen austrophilen Akteuren verwirklicht werden, welche – stets im Hintergrund von den diplomatischen Vertretern und Agenten des Ballhaus-platzes beraten – zunächst die Autonomie und in weiterer Folge die Unabhän-gigkeit der albanischen Siedlungsgebiete vom Osmanischen Reich anstrebten und danach die Führungsfunktionen im formell unabhängigen Fürstentum übernahmen. Es gab eine inoffizielle bedeutungsmäßige Hierarchie der poli-tischen und diplomatischen Akteure des Politischen Felds. Der „Kopf“ waren zweifellos die Minister des Äußeren wie Agenor Goluchowski, Alois Lexa von Aehrenthal, Leopold Berchtold und Stephan Burián. Die meisten ihrer Entschei-dungen bezüglich Albaniens trafen sie allerdings auf der Basis der Informatio-nen und Ratschläge von ihrem „Hals“, den Konsuln vor Ort und den Beratern am Ballhausplatz wie Ippen, Thallóczy, August Kral und Alfred Rappaport, welche im Hintergrund die eigentlichen Macher der Albanienpolitik waren, weil sie als „Hals“ den „Kopf“ in die gewünschte Richtung zu drehen vermochten. 11

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Die spezifische Illusio hinsichtlich der Anerkennung der Interessen des Mili-tärischen Felds von Seiten der beteiligten Akteure bestand in der Einigkeit in der Frage, dass die militärische Aufrüstung des zukünftigen Bündnispartners Albanien und dessen Integration in die taktischen und strategischen Pläne der österreichisch-ungarischen Militärführung bezüglich eines möglichen Kriegs am Balkan für den Fortbestand der Doppelmonarchie von entscheidender Bedeutung seien. Die spezifische Doxa, d. h. die gemeinsamen Glaubenssät-ze der Militärs, konzentrierte sich in der Überzeugung, dass man sich auf die Kampfbereitschaft der verbündeten Albaner gegen ihre slawischen Nachbarn verlassen könne. Im Ersten Weltkrieg strebte die k. u. k. Militärverwaltung in den besetzten albanischen Territorien aufgrund des Dauerkonflikts zwischen dem Ballhausplatz und dem Armeeoberkommando (AOK) einen problemati-schen Mittelweg zwischen Annexion des okkupierten Gebiets und Protektorat über ein Freundesland an, sodass Österreich-Ungarn seinen soeben mühsam gewonnenen Bündnispartner wieder zu verlieren drohte. Der Kopf waren selbstverständlich die Generalstabschefs wie Franz Conrad von Hötzendorf, die Kriegsminister und der Thronfolger Franz Ferdinand, die nach außen hin die militärischen Entscheidungen trafen. Die meisten ihrer Entscheidungen bezüg-lich Albanien trafen sie allerdings auf der Basis der Informationen und Ratschlä-ge von ihrem „Hals“, ihren Ratgebern im Amt wie Alexander von Brosch-Aarenau und Carl von Bardolff, Kundschaftern vor Ort wie Heinrich Clanner, Alexander von Spaits und Hubert Hässler und Kommandanten im Ersten Weltkrieg wie Ignaz Freiherr Trollmann von Lovcenberg.12 Jetzt sind wir so weit, um die Frage nach dem Feld der Macht, welches sich horizontal durch alle anderen Felder erstreckte und die Austauschrate des ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen Kapitals zwischen den Feldern kontrollierte, zu stellen und in zufriedenstellender Weise zu beantwor-ten. Wenn auch die diplomatischen und wissenschaftlichen Verdienste der Habsburgermonarchie für Albanien im Allgemeinen von großer Bedeutung waren – schließlich gab es auch gewisse albanische Kreise, die aus eigennüt-zigen Motiven an einer diesbezüglichen Kooperation mit der Doppelmonar-chie interessiert waren –, verfolgte das Ministerium des Äußeren doch stets eigene politische, militärische und kommerzielle Ziele, für deren Realisierung die Albanologie als eines von vielen Mitteln des informellen bzw. kulturellen Imperialismus betrachtet wurde. Das Feld der Macht, welches im vorliegenden

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Fall auch das Wissenschaftliche Feld berührte, können wir als Motor dieses Kulturimperialismus bezeichnen. Das Albanologische Feld war dem Feld der Macht, d. h. dem Kulturimperialismus, quasi ausgesetzt. Diese Tatsache wird durch seine Situierung als Subfeld des größeren Balkanologischen Felds und seiner Beziehungen zu den benachbarten Feldern Politik und Militär bestätigt. Durch die beiden Akteurmischtypen des Albanologischen Felds haben wir es von vornherein mit einer automatischen Verflechtung der involvierten Felder zu tun. Diese in bestimmten Themenbereichen herrschende Verquickung wird auch durch die kontinuierliche Korrespondenz zwischen den kollektiven Akteu-ren Ministerium des Äußeren, Ministerium für Cultus und Unterricht, Akademie der Wissenschaften in Wien, Kriegsministerium, Generalstab, Militärkanzlei Franz Ferdinands und Armeeoberkommando belegt. Die vom ungarischen Historiker Krisztián Csaplár-Degovics im Kontext der kolonialen Außenpolitik der Doppelmonarchie13 und der in ihrem Sin-ne agierenden kolonialen Interessensgruppen, der sogenannten „pressure groups“14, angenommene Existenz einer sogenannten „Albanien-Lobby“15 in Wien könnte sich mit unserem Feld der Macht decken. Seine ersten Annahmen dazu gehen von „auswärtigen ethnischen Unternehmern“16 wie Thallóczy, Ippen und Kwiatkowski aus, welche die Akteure der zweiten Phase der albanischen Nationswerdung17 – z. B. die Beys Abdi, Fuad und Refik Toptani – mit deren Billigung in ihrem nationalen Bewusstwerdungsprozess unterstützt haben, ohne dabei selbst Mitglied der zu schaffenden albanischen Nation werden zu wollen.18 Csaplár-Degovics zählt einige interessante Merkmale dieser vermute-ten Albanien-Lobby auf.19 Es habe sich bei ihr um eine sehr heterogene Gruppe, ein Bündnis verschiedener, miteinander nur lose verbundener Teilgruppen ge-handelt, die aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und Ethnien gestammt und unterschiedliche Motivationen und Interessen gehabt hätten: „Die Beson-derheit der Geschichte dieser Lobby ist, dass sie zu jenem Zeitpunkt zu einer erfolgreichen, supranationalen, über wirkliche zentripetale Kräfte verfügenden Interessengemeinschaft werden konnte, als Österreich-Ungarn gerade selbst auseinanderfiel. Die einzelnen Teilgruppen wurden von Diplomaten, Offizieren, Aristokraten, Wissenschaftlern, Journalisten und einem Beamten-Historiker gebildet. Für die Mehrzahl unter ihnen war Albanien für sich genommen unin-teressant, sie sahen in diesem Land nur ein Mittel, um Österreich-Ungarn nach innen wie nach außen als starkes und einheitliches Reich zu präsentieren.“20

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Ihre Gemeinsamkeit habe in einem starken katholischen, aristokratischen Charakterzug und im Interesse an den Gebieten des Ostens, die unmittelbar an der Grenze der Doppelmonarchie lagen, bestanden. Ihre Mitglieder hätten sich teilweise aus jenen Beamten rekrutiert, die bereits an der bosnischen Nations- und Staatsbildung teilgenommen hatten. Ihre erste Teilgruppe sei 1896 entstanden und ihre erste öffentliche Organisation das 1913 gegründete Albanien-Komitee gewesen. Die Gestalter der neuen Albanienpolitik Wiens um die Jahrhundertwende, Ippen, Thallóczy und Julius Zwiedinek, seien zugleich die ersten Mitglieder der Lobbygruppe gewesen. Von den später dazugekom-menen Mitgliedern seien hinsichtlich der entscheidenden Tätigkeit für die albanische Nationswerdung besonders Kral und Rappaport zu nennen. Einzelne Mitglieder dieser Lobby, welche sich im Umkreis des Ministeriums des Äußeren gebildet habe, seien Ministerialbeamte oder Diplomaten gewesen, welche in den Augen der politischen Entscheidungsträger zu Experten für die „Albani-sche Frage“ geworden seien. Sie habe sich im Laufe der Jahre zu einer suprana-tionalen Lobby entwickelt, welche die Albanienpolitik des Ballhausplatzes nach und nach unter ihren Einfluss gebracht habe. Der konstitutionelle Aufbau Al-baniens 1912/1913 sei zu einem bedeutenden Teil der historische Erfolg dieser Lobby, dieser tatsächlichen auswärtigen ethnischen Unternehmer gewesen, die darin praktisch freie Hand gehabt hätten. In diesem letzten Punkt müssen wir Csaplár-Degovics allerdings widersprechen, der offensichtlich vergessen hat, dass die Internationale Kontrollkommission als Repräsentantin der Herr-schaft aller Großmächte über Albanien die erste Geige gespielt hatte und die informelle Dominanz der Doppelmonarchie durch ihre ständige diplomatische Rücksichtnahme auf die Interessen des Dreibundpartners Italien an der Ost-küste der Adria aufgehoben worden war. Das Feld der Macht entwickelte sich kontinuierlich von etwa 1890 bis 1918 und war zeitlich unterschiedlich besetzt. Es war erstmals um 1896, also zur Zeit der Albanien-Aktion des Ballhausplatzes, voll manifestiert. Es gab zu jeder Zeit einen Kern oder engeren Kreis dieses Machtfeldes. Zu diesem Kern zählten die kollektiven Akteure Ministerium des Äußeren, Generalstab, Militärkanzlei des Thronfolgers, ab 1904 Balkaninstitut in Sarajewo und ab 1913 Albanien– Komitee in Wien. Die zum Kern des Machtfeldes zählenden individuellen Akteure, die aus den vier Feldern Politik (P21), Militär (M), Wissenschaft (W) und Austrophile22 (A) stammten, wechselten im Laufe der Zeit: Um 1900 waren es

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Goluchowski (P), Zwiedinek (P), Ippen (P+W) und Thallóczy (P+W); um 1910 waren es Aehrenthal (P), Conrad (M), Thallóczy (P+W), Kral (P), Rappaport (P), Nopcsa (W+P), Ippen (P+W), Patsch (W) und Clanner (M); um 1914 waren es Berchtold (P), Conrad (M), Franz Ferdinand (M), Nopcsa (W+P), Thallóczy (P+W), Kral (P), Rappaport (P), Ippen (P+W), Clanner (M), Leo Ghilardi (M), Patsch (W) und Gjergj Pekmezi (A+W+P). Nur Ippen und Thallóczy waren von Anfang an dabei. Abgesehen von diesen beiden Protagonisten sind bedeu-tungsmäßig Zwiedinek (um die Jahrhundertwende), Nopcsa, Clanner, Rappa-port und Kral besonders hervorzuheben. Patsch, der als einziger Vertreter des Machtfeldes aus dem Wissenschaftlichen Feld stammte und dem rein wissen-schaftlichen Typ zugehörte, ist bezüglich der zumindest indirekten Einfluss-nahme auf politische Entscheidungen auch nicht zu unterschätzen, schließlich war er der Initiator und jahrelange Leiter der für die Albanien- und Balkan-For-schung immer wichtiger werdenden wissenschaftlichen Institution des Balkan-instituts. Im Umkreis des Machtfeldkerns befanden sich zu jeder Zeit weitere, nicht so bedeutende Akteure aus allen drei Feldern wie Diplomaten, Konsuln, Vizekonsuln, Politiker, Militärs, Agenten, Forscher, Publizisten usw. Stellvertretend können wir hier den Diplomaten Rémi von Kwiatkowski (P) und den Albanologen Karl Steinmetz (W) für das Machtfeld um 1900, Generalkonsul Konstantin Bilinski (P) für das Machtfeld um 1910 sowie die Publizisten Leo Freundlich (P) und Leopold Chlumecky (P) für das Machtfeld um 1914 anführen. Wir wollen uns drei Beispiele der Wirkung des Felds der Macht näher betrachten: das Balkaninstitut und das Landesmuseum in Sarajewo, das Projekt zur Schaffung einer albanischen Nation und die Literarische Kommission in Shkodra 1916–1918. Das Balkaninstitut unter der Leitung von Patsch und das Landesmuseum in Sarajewo waren nicht nur wissenschaftliche Anstalten, sondern auch Instrumente der Politik.23 Politische Maßgaben beeinflussten die Arbeit des Instituts und Museums entscheidend. Nach der Jahrhundertwende wurde der Schwerpunkt der Arbeit verlagert, der Tätigkeitsradius ausgeweitet, besonders auf Albanien. Die zunehmende Politisierung der Wissenschaft in Bosnien-Herzegowina entsprach den vielfältigen Interessen der Monarchie auf dem Balkan. Dabei spielte neben dem Landesmuseum das Balkaninstitut eine herausragende Rolle. Zu Jahresbeginn 1913 trat Landeschef Oskar Potiorek mit der Idee zur Gründung einer Universität in Sarajewo an k. u. k. Finanzminister Leon von Biliński heran.24 Es sollte sich um spezifische Balkan-Wissenschaften

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handeln. Das Landesmuseum als das bedeutendste Museum der Balkanhalbin-sel sollte weiter auf seiner führenden Höhe erhalten und das an ihm angeglie-derte Balkaninstitut derart ausgestaltet werden, damit Sarajewo für alle Welt zum unbestrittenen Zentrum der ganzen Balkanforschung würde, was auch für die Beziehungen zum künftigen Albanien von großer Bedeutung wäre. Die Idee der Kulturmission der Monarchie im Balkanraum war ein weiteres Motiv für das Museumsprojekt. Dieses war quasi eine wissenschaftliche Schöpfung der Kolonialmacht.25 Die Pflege von Kunst und Wissenschaft galt damals als eine der charakteristischen, siegreichen Eigenschaften abendländischer Zivilisation, als deren Repräsentantin die Monarchie sich betrachtete.26 Die k. u. k. Kultur-politik richtete ihre hervorragenden Forschungsresultate bewusst nach außen, sowohl in Richtung Westeuropa als auch in die weiter südöstlich liegenden Balkangebiete.27 Im Zusammenhang mit dem Projekt zur Schaffung einer albanischen Na-tion ist die Frage zu klären, ob Akteure konkurrierender Felder in die Eigenlogik wissenschaftlicher Diskurse eingegriffen und dadurch die strenge Logik wissen-schaftlicher Debatten umgangen haben. Im Falle Bosnien-Herzegowinas war es so, dass Reichsfinanzminister Benjámin von Kállay 1884 Thallóczy beauftragte, eine auf urkundliche Quellen gestützte Geschichte Bosniens zu schreiben.28 Thallóczy sagte zehn Jahre später über die Ziele einer solchen Publikation: „Serben und Croaten betreffendes Material übergehe ich, da wir ja Bosnien behandeln und die Kriterien seiner Sonderstellung zur Geltung bringen wollen. Diese Sonderentwicklung kommt von den frühesten Zeiten bis zur Gegenwart klar zum Augenschein.“29 Die politische Motivation dieser Prämisse liegt auf der Hand. Es wurde die historische Widerlegung des Anspruchs Serbiens und Kro-atiens auf Bosnien angestrebt, welche im politischen Alltag zur Bekämpfung dieser beiden Nationalideologien verwendet werden sollte. Den Bosnier_innen sollte damit ihre sich durch die ganze Geschichte ziehende Eigenständigkeit gegenüber den Nachbarvölkern suggeriert werden, um die Basis für eine eigenständige bosnische Identität zu legen. Der Festigung der Zugehörigkeit Bosnien-Herzegowinas und der geistigen Bande der Bevölkerung zur Mon-archie sollten auch das Balkaninstitut und das Landesmuseum dienen.30 Der Schweizer Historiker Oliver Jens Schmitt weist auf die dominierende Rolle von ungarischen Elitevertretern in der Entwicklung von eigenen Modellen für die bosnische, aber auch albanische Nationsbildung hin.31 Er meint Kállay, den

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Initiator des gescheiterten Projekts der überkonfessionellen bosnischen Lan-desidentität, und Thallóczy, den Begründer der mittelalterlichen bosnischen und albanischen Geschichte. In einer politisierten Forschung sei Thallóczy die treibende Kraft beim Projekt der Nationsbildung in Bosnien-Herzegowina und Albanien gewesen.32 Das Ziel dieses Zusammenwirkens von kleinen Zirkeln von Wissenschaftler-Politikern, die in ihre Unternehmungen auch Wissenschaftler eingebunden hätten, die der Politik fernstanden, habe in der Eindämmung der serbischen Expansion bestanden. Als Beispiele führt Schmitt die Kollektivarbei-ten „Acta et diplomata res Albaniae mediae aetatis illustrantia“ 33 und „Illyrisch-albanische Forschungen“ 34 an. Die Bedeutung der Balkanmediävistik habe sich z. B. darin gezeigt, dass mittelalterliche Dokumente von Seiten österreichisch-ungarischer und serbischer Diplomaten für die Argumentation der Grenzzie-hung 1912–1914 verwendet worden seien. Die „Illyrisch-albanischen Forschun-gen“ sollten den serbischen Ansprüchen auf Shkodra und Lezha in Nord- und Mittelalbanien mit historischen Argumenten entgegentreten. Vertreter der Wiener albanologischen Linguistik wirkten entscheidend an der Literarischen Kommission in Shkodra mit. Diese Zusammenarbeit von österreichischen und albanischen Wissenschaftlern sei laut Schmitt ein Bei-spiel dafür, dass kein einseitiger Wissenstransfer, vielmehr eine wechselseitige Befruchtung von Theorieangebot und empirischer Evidenz stattgefunden habe.35 Man darf aber, meiner Meinung nach, nicht darauf vergessen, dass die Vorgaben für diese wissenschaftliche Kooperation trotzdem immer aus Wien kamen, wie die maßgebliche Rolle des Zivillandeskommissärs Kral in Shkodra und Rappaports am Ballhausplatz beweisen. Rappaports Einfluss auf Pekmezi, den Leiter der Literarischen Kommission, war in einer sehr kritischen Phase entscheidend für die erfolgversprechende Fortsetzung der Arbeit im Interesse der Monarchie.36 Zusammenfassend lässt sich sagen: Bei den im Zeichen des mittels struktureller und kultureller Gewalt erfolgten Kulturimperialismus stehen-den Zentrum-Peripherie-Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und den Albaner_innen handelte es sich um eine komplexe Interaktion der kollektiven und individuellen Akteure der beteiligten Felder Albanologie, Politik, Militär und albanisches Austrophilen-Lager, deren herausragende Machtfeld-Protago-nisten – man könnte sagen „mit Herz und Seele bei der Sache seiend“ – Ippen, Thallóczy, Clanner, Ghilardi, Rappaport, Kral und Nopcsa waren. Letzterer ist als

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der zu seiner Zeit wohl größte und daher auch umstrittenste Albanien-Experte anzuerkennen, der allen vier Feldern – sogar jenem der albanischen Austrophi-len, wenn man bedenkt, dass er an albanischen Stammesversammlungen mit Stimmrecht teilnehmen durfte – zugerechnet werden kann, wie Krals Empfeh-lungsschreiben 1917 für Nopcsas Auszeichnung mit dem Orden der Eisernen Krone III. Klasse in eindrucksvollen Worten bestätigt:

„Dr. Franz Freiherr von Nopcsa, Oberleutnant in der Reserve eines Honved-Husaren Regimentes, bekannter langjähriger Albanien-Forscher, hat seit vielen Jahren eine rastlose Propagandatätigkeit zu Gunsten der Monarchie in Albanien entwickelt. Er hat beson-ders die Gebirge Nordalbaniens eingehend durchforscht, enge Beziehungen mit der Bevölkerung angeknüpft und sehr viel zur Festigung unseres Ansehens und unserer politischen Stellung in Nordalbanien beigetragen. Er geriet bei dieser Tätigkeit wie-derholt in Lebensgefahr. Besondere Verdienste hat er sich im Winter 1908/09 während der Annexionskrise erworben, als er einen Angriff der Malissoren gegen Montenegro vorbereitete. In gleicher Weise war er im Herbste und Winter 1914 an der mon-tenegrinischen Grenze tätig. Als es sich im Winter des vergange-nen Jahres beim Einmarsch unserer Truppen in Ostalbanien um Aufstellung von Freiwilligen-Formationen handelte, stand er in rastloser Tätigkeit wiederum in erster Linie. Ihm gelang es, in Fol-ge seiner Kenntnis von Land und Leuten, mit besonderem Erfolge alle anfänglichen Schwierigkeiten zu überwinden, insbesondere die vielen Eifersüchteleien und Feindseligkeiten der einzelnen Albanerstämme beizulegen. Besonders rührig und geschickt, keine Gefahr scheuend und alle Strapazen als selbstverständlich hinnehmend, hat Oblt. Nopcsa in Aufbringung, Organisierung und Führung von Albanergruppen Vorzügliches geleistet und hervorragend zum Gelingen der ganzen Aktion beigetragen. Aus all diesen Gründen, nicht zuletzt auch wegen seiner fruchtba-ren literarischen und insbesondere kartographischen Arbeiten, die unseren Truppen in Nordalbanien jetzt im höchsten Grade zugutekommen, ist Genannter einer besonderen Auszeichnung würdig: Orden der Eisernen Krone III. Klasse.“

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1 Austrian Science Fund (FWF), projectnr. P26437-G15. Zu den Ergebnissen siehe Gostentschnigg, Kurt (2018): Wissenschaft im Spannungsfeld von Politik und Militär. Die österreichisch-ungarische Albanolo-gie 1867–1918. Wiesbaden: Springer VS.2 Bourdieu, Pierre (1992/1999): Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 342.3 Galtung, Johan (1969): Violence, Peace and Peace Research. In: Journal of Peace Research 6, 3, S. 167–191; Galtung, Johan (1971): A Structural Theory of Imperialism. In: Journal of Peace Research 8, 2, S. 81–117; Galtung, Johan (1990): Cultural Violence. In: Journal of Peace Research 27, 3, S. 291–305.4 Bourdieu, Pierre (1975): The specificity of the scientific field and the social conditions of the progress of reason. In: Social Science Information. 14, S. 19–47; Bourdieu, P. (1980): Questions de socio-logie. Paris: Minuit; Bourdieu, P. (1984/1992): Homo academicus. Frankfurt/Main: Suhrkamp; Bourdieu, P. (1992): Les règles de l‘art. Paris: Seuil; Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA.5 Gostentschnigg (2018), Kap. 1., „Das Wissen-schaftliche Feld“.6 Bourdieu (1984/1992), S. 11, 110 u. 125.7 Ebd. S. 235–239.8 Siehe dazu ausführlich Gostentschnigg, Kurt (2016): Die Diskussion der Frage der albanischen Ethnogenese. Ein historischer Abriss. In: Pistrick, Eckehard (Hg.): Deutsch-Albanische Wissenschafts-beziehungen hinter dem Eisernen Vorhang. Wiesba-den: Harrassowitz (= Albanische Forschungen 39), S. 51–74.9 Gostentschnigg (2018), Kap. 1.10., „Zusammen-fassung und Analyse“.10 Gostentschnigg, Kurt (2017): The different researcher types. Austro-Hungarian albanology bet-ween politics and military. In: Ramadani, Fehari; Kosu-mi, Bajram (ed.): International scientific conference “Relations between Albanians and Austria-Hungary (Austria) by mid XIX. century to our days“. Skopje, Prishtina: Logo-A, S. 73–86.11 Gostentschnigg (2018), Kap. 2.13., „Zusammen-fassung und Analyse“.12 Ebd. Kap. 3.10., „Zusammenfassung und Analyse“.13 Siehe dazu Kolm, Evelyn (2001): Die Ambitionen Österreich-Ungarns im Zeitalter des Hochimperia-lismus. Frankfurt am Main: Lang; und: Leuer, Eric A.

(2009): Die k. u. k. Kriegsmarine als Ausdruck kolonia-ler Großmachtpolitik Österreich-Ungarns. München: Grin.14 Csaplár-Degovics verweist diesbezüglich auf Walter Sauer (Hg.) (2007): K. u. K. kolonial: Habsbur-germonarchie und europäische Herrschaft in Afrika. 2. Aufl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.15 Dieser Begriff sei laut Csaplár–Degovics‘ Aus- kunft von Oliver Schmitt in einem Gespräch mit Csaplár-Degovics geprägt worden.16 Csaplár-Degovics beruft sich diesbezüglich auf Brubaker, Rogers (2004): Ethnicity without Groups. Cambridge: Harvard University Press.17 Zum Drei-Phasen-Modell des Nationsbildungs-prozesses der kleinen Völker Europas siehe Hroch, Miroslav (1968): Die Vorkämpfer der nationalen Bewegung bei den kleinen Völkern Europas. Eine vergleichende Analyse zur gesellschaftlichen Schich-tung der patriotischen Gruppen. Prag: Univerzita Karlova.18 Csaplár-Degovics, Krisztián (2012): Österrei-chisch-ungarische Interessendurchsetzung im Kaza von Tirana. In: Südost-Forschungen 71, S. 179 f.19 Ebd. S. 181 f.20 Ebd. S. 181.21 Wir zählen auch die Vertreter der politischen Publizistik zum Politischen Feld.22 Gostentschnigg (2018), Kap. 4., „Das Austro-philen-Feld“; Gostentschnigg, Kurt (2016b): Die albanischen Parteigänger Österreich-Ungarns. Ein Versuch der Rekonstruktion des Brückenkopf-Feldes an der Peripherie des habsburgischen Zentrums. In: Shejzat 1, Nr. 1–2, S. 119–170.23 Bagarić, Oliver (2008): Museum und nationale Identitäten: Eine Geschichte des Landesmuseums Sarajewo. In: Südost-Forschungen 67, S. 161.24 Arhiv Bosne i Hercegovine, Priv. Reg. Nr. 20/1913. Privatbrief des Landeschefs Oskar Potiorek an den Gemeinsamen Finanzminister Leon von Biliński bezüglich der Idee zur Gründung einer Universität in Sarajewo, 4. 1. 1913.25 Bagarić (2008), S. 163.26 Konstantin Hörmann in seinem Vorwort der ersten Ausgabe der „Wissenschaftlichen Mittheilun-gen aus Bosnien und der Hercegovina“, S. III–V.27 Bagarić (2008), S. 164.28 Ebd. S. 165.29 Arhiv Bosne i Hercegovine, Zajedničko minis-tarstvo financija, Prez., Convolut 102, 1390/1894.

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30 Bagarić (2008), S. 166.31 Schmitt, Oliver Jens (2015): Balkanforschung an der Universität Wien. In: Grandner, Margarete Maria; König, Thomas (Hg.): Reichweiten und Außensichten. Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaft-licher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrü-che. Göttingen: V&R unipress, S. 76.32 Ebd. S. 77.33 Acta et diplomata res Albaniae mediae aetatis illustrantia. Collegerunt et disgesserunt Ludovicus de Thallóczy, Constantinus Jireček et Emilianus de Šufflay. 1–2. Wien: Holzhausen 1913 u. 1918.34 Illyrisch-albanische Forschungen. Bd. 1–2. Hg. von Ludwig von Thallóczy. München, Leipzig: Duncker und Humblot, 1916.

35 Schmitt (2015), S. 79.36 Siehe dazu ausführlich Gostentschnigg, Kurt (2016c): Krali kundër Pekmezit – Lufta në Komisinë Letrare Shqipe në Shkodër 1916–1918. In: Shejzat 1, Nr. 3–4, S. 85–99.37 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Ministerium des Äußeren, Sonderbestände, Nachlass Kral, K 1: Krals Empfehlungsschreiben 1917 (ohne genaues Datum) für Nopcsas Auszeichnung mit dem Orden der Eisernen Krone III. Klasse.

Literatur:

Gostentschnigg, Kurt (2018): Wissenschaft im Spannungsfeld von Politik und Militär. Die österreichisch-ungarische Albanologie 1867–1918. Wiesbaden: Springer VS, 2018.

Gostentschnigg, Kurt (2017): The different researcher types. Austro-Hungarian albanology between politics and military. In: Fehari Ramadani; Bajram Kosumi (ed.): International scientific conference “Relations between Albanians and Austria-Hungary (Austria) by mid XIX. century to our days“. Skopje, Prishtina: Logos-A, S. 73–86.

Gostentschnigg, Kurt (2016d): August Ritter von Kral. Aktori kryesor i Austro-Hungarisë në trojet shqiptare. In: Studime Historike 53, 3–4, S. 49–71.

Gostentschnigg, Kurt (2016c): Krali kundër Pekmezit – Lufta në Komisinë Letrare Shqipe në Shkodër 1916–1918. In: Shejzat 1, Nr. 3–4, S. 85–99.

Gostentschnigg, Kurt (2016b): Die albanischen Parteigänger Österreich-Ungarns. Ein Versuch der Rekon-struktion des Brückenkopf-Feldes an der Peripherie des habsburgischen Zentrums. In: Shejzat 1, Nr. 1–2, S. 119–170.

Gostentschnigg, Kurt (2016a): Die Diskussion der Frage der albanischen Ethnogenese. Ein historischer Abriss. In: Pistrick, Eckehard (Hg.): Deutsch-Albanische Wissenschaftsbeziehungen hinter dem Eisernen Vorhang. Wiesbaden: Harrassowitz (=Albanische Forschungen 39), S. 51–74.

Gostentschnigg, Kurt; Kaser, Karl (2014): Albanologjia austro-hungareze 1867–1918 – një rast i imperializmit kulturor? In: Hylli i Dritës, 34, Nr. 1–2 (S. 279–280), S. 3–26.

Gostentschnigg, Kurt (2013): Qëndrimet e Austro–Hungarisë ndaj Lëvizjes Kombëtare Shqiptare në kontekstin e marrëdhënieve të përgjithshme austro-shqiptare. In: Marashi, Ardian; Rakipi, Albert (Hg.): Shqipëri-Austri. Reflektim historiografik. Aktet e konferencave shkencore Shkodër Maj 2012, Tiranë Tetor 2012. Tirana: Botimet Albanologjike, S. 39–47.

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I.Die musikalischen Praktiken einer Stadt entwickeln sich in enger Beziehung zu ihrem kulturellen und sozialen Leben. In manchen Fällen ermöglichen diese Beziehungen die Schöpfung spezifischer Musikgenres, welche Selbstständig-keit erlangen. Die vorliegenden Ausführungen konzentrieren sich vornehmlich auf ein solches Phänomen, auf das Korçaer Lied, welches sich in der Stadt Korça im Südosten von Albanien seit dem Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte. Die Entstehung dieses Genres bietet auch die Möglichkeit, den besonderen Status des Liedes in den urbanen Musikkulturen im 20. Jahrhundert zu verstehen. Als „Mikro-Geschichte“ kann es mit unterschiedlichen Liedformen, wie dem Fado oder dem Wienerlied, die jeweils auf ihre Weise von den vielschichtigen Interaktionen zwischen einer Stadt, ihren Menschen und ihrer Musik erzählen, in Verbindung gebracht werden. Zu jener Zeit erlebte Korça eine Transformation, nämlich die von einer peripheren osmanischen Stadt zu einem der wichtigsten Zentren der kulturel-len nationalen Identität Albaniens, wobei Letztere 1912 durch die Unabhängig-keit legitimiert wurde. Gleichzeitig wuchs Korça zu einem wichtigen urbanen Zentrum der Region heran, dank Handel und Emigration, die die Bewegung der Menschen steigerten und die Kommunikation mit den anderen Zentren inten-sivierten, von geographisch näheren wie Thessaloniki, Athen, Triest, Manastir, Bukarest und Sofia, bis hin zu entfernteren wie Paris, Neapel, Wien und Boston. Die Stadt gewann auf diese Art eine eigene urbane Identität, erkennbar an der Restrukturierung der sozialen Schichten, an Lebensstilen, am Bildungsniveau und insgesamt an der Herausbildung einer spürbar an der westeuropäischen Kultur orientierten Weltanschauung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Korça somit ein Zentrum, wo viele kulturelle Strömungen und Einflüssen brodelten, mal im Gegensatz zueinander, mal im Zusammenwirken. Merkmale westeuropäischer Musik

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Die Stadt, die Musik, der Mensch

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machten sich in der Einführung von Instrumenten wie Klarinette, Violine, Gitarre und Mandoline, in Praktiken wie Blaskapellen oder Chören und insge-samt in der Annäherung an die Notation und die „Sprache“ der westlichen Musik bemerkbar. In dieser Stadt fanden aber auch lokale Praktiken ihren Nie-derschlag, wie die gesungene Vielstimmigkeit mit Bordoun (als Iso-Polyphonie bekannt) oder von der osmanischen Musikkultur beeinflusste Praktiken wie die Saze-Musik1. Das Korçaer Lied entwickelte sich in einem derartigen Kontext unter-schiedlicher Strömungen, aber auch in einer Zeit, als in der Stadt Melodien und Lieder kosmopolitischer Natur „ankamen“. Diese gehörten verschiedenen Genres an, die trotz ihrer formalen Unterschiede eine gemeinsame urbane Orientierung hatten: Kantadha2, zeitgenössische Chansons, Neapolitanische Lieder, klassische Lieder und selbst Tin-Pan-Alley-Songs. Derartige Materialien zirkulierten nach einer Logik, die nur schwer fassbar ist, vielleicht auch, weil wir die erwähnte Zeitperiode eher als eine Geschichte von Kriegsschicksalen ken-nen, die, wie Fatos Baxhaku anmerkt, „von außen gesehen wirklich schön, aber von innen schwer zu leben war“3. In einer derartigen, für viele Einflüsse offenen Kultursituation geschah es, dass man einige Melodien, unabhängig von ihrer Herkunft, mit albanischen Texten versah; andere wiederum wurden modifiziert oder neu geschaffen, und zwar durch das Hineinnehmen von lokalen Musikelementen, wie zum Beispiel der Aksak-Rhythmen4. Ein Sonderfall, der diese Art der Adaptionen zeigt, ist das Lied „Die schöne Korçarin“.5 1930 nahm Tefta Tashko Koço6, damals Ge-sangsstudentin in Montpellier in Frankreich, für das Label Pathé dieses Lied auf, als Duo mit einer weiteren Sängerin, Kleo Georga. Es war sentimental und im Stil der populären urbanen französischen Chansons jener Zeit, mit einem albanischen Text von Neço Muko.7 Im Habana-Tanzrhythmus gehalten, wurde es von einem Piano und zwei Violinen begleitet. Zum Inhalt hatte es die Schönheit eines Mädchens aus Korça (das zufällig mit der Herkunft von Tefta Tashko Koço identifiziert wurde). Dank der Zirkulation dieser Aufnahme wurde das Lied in-nerhalb der Korçarer Musikumgebung angepasst und zu einem der typischsten und populärsten im Repertoire. Charakteristisch für diese Lieder war ihre melodische Kantilene, welche oft euphonisch von anderen Stimmen doubliert wurde. Die Texte sind subjekti-ver Natur, geprägt von Liebesthemen, intimen, idyllischen Empfindungen und

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nostalgischen Elementen. Was die verwendeten Instrumente betrifft, domi-nierten Gitarre und Mandoline, als anpassungsfähigste und alsbald populärs-te Gesangsform des Korçaer Liedes kristallisierte sich die Serenade heraus. Es gehört zur Entstehung des Korçaer Liedes, dass es unterschiedlichen musi-kalischen Ausdrucksweisen gelang, sich dank der Existenz eines urbanen mu-sikalischen Kunsthandwerks aneinander anzugleichen und dieses spezifische Genre miteinander zu prägen. Dazu beigetragen haben nicht nur ausgebil-dete Musiker_innen, sondern auch Menschen, die nicht unbedingt über eine systematische musikalische Bildung verfügten und intuitiv eine derartige Mu-siklogik verinnerlicht hatten. Unter den Bedingungen einer Gesellschaft, wie der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der ein institutionalisiertes Musiknetzwerk fehlte, funktionierte dieses urbane musikalische Kunsthand-werk durch spontane Methoden der Organisation. Am Sichtbarsten waren Gruppen von Burschen, die sich nachts auf den Straßen zum Singen zusam-menfanden. In der Zwischenkriegszeit waren auch einige Künstlergesellschaf-ten von Bedeutung, die bescheidene Musik- und Theateraufführungen, aber auch Kunstkurse organisierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als der kommunistische Staat errichtet worden war, wurde Lira gegründet, ein formalisiertes Männerensemble, das das Korçaer Lied in der Öffentlichkeit und im Radio aufführte. Unabhängig von der Formalisierung innerhalb der zeitgenössischen sozialistischen Kultur, behielten die spontanen Merkmale des Singens dieses Liedes auf der Straße oder in informellen Unterhaltungssituationen eine Art besonderen Status, aus dem, wie wir im Folgenden sehen werden, viel Bedeutendes für die Geschichte des Korçaer Liedes in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts resultierte.

II. Die Entwicklung eines Musikgenres wie des Korçaer Liedes zeichnet auf seine Weise eine Geographie der albanischen Musik mit, vor allem im Vergleich mit den einheimischen traditionellen und folkloristischen Praktiken, aber auch mit anderen urbanen Praktiken, wie dem Aheng von Shkodra8. Neben Musik-elementen affirmiert das Korçaer Lied auch als eine neue Form der musikali-schen Sozialisation, auf der Linie mit solchen Genres, die, wie es Peter Manuel ausdrückt, nicht im Rahmen der Lebenszyklen oder Rituale konsumiert und

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produziert werden, sondern von einer Jahrhundert- und Unterhaltungsnatur sind.9 So gesehen hat dieses Genre auch die Entwicklung der „leichten Musik“ in Albanien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeleitet. Wir würden uns aber einengen, wenn wir beim Sprechen über dieses urbane Phänomen nur die albanische Geographie berücksichtigen würden. Genauso würden wir uns einengen, wenn wir eine solche Erscheinung als Folge von Einflüssen westeuropäischer Musik betrachten würden, indem wir schlicht eine Genealogie ihrer Herkunft erstellen würden. Die Art, wie es diese Musik geschafft hat, sich zu einem besonderen Genre zu verselbständigen, lässt an die Ergebnisse kultureller Verbindungen denken, wie sie auf der Grundlage unterschiedlichster „Mikro-Geschichten“ im amerikanischen Blues, im portugi-sischen Fado, im griechischen Rembetiko, im Son Cubano und unter anderem auch im Wienerlied zu finden sind. Das 19. und vor allem das 20. Jahrhundert brachten die Rolle der urba-nen Kultur in den modernen Musikentwicklungen zur Entfaltung.10 In Städten wie Wien stießen „seriöse“/„klassische“/„elitäre“ Traditionen – oft mit herbei-geführten Schismen – mit den Traditionen der „leichten“/„unterhaltenden“/„kommerziellen“ Musik aufeinander. Derek B. Scott erzählt, dass ein derartiger Zusammenstoß in einigen Fällen sogar eine musikalische Revolution11 auslöste. Ob es die Realität einer Stadt mit spezifischem Namen, eine Metropole oder ein bescheidenes Zentrum ist, der Status der jeweils dort entstehenden und praktizierten Lieder zeigt, dass diese bescheidenen Schöpfungen, die oft als etwas „Leichtes“ wahrgenommen werden, eine Reihe von Bedeutungsschich-ten tragen können, die sich mit der Zeit zu Bestandteilen von Kunst ablagern: Dialekte und lokale Sprachgepflogenheiten einerseits und Formate der instru-mentalen Liedbegleitung andererseits. Derartige Bedeutungsschichten wirken wie eine Art musikalische Re-flexion von soziokulturellen Realitäten. Es gibt hierbei solche, die schwierig zu ergründen sind, weil wir es mit einer Musikform zu tun haben, die zum einen von Clichés bzw. Kitsch-Elementen zu komplexen und anspruchsvollen Schöp-fungen auf künstlerischer Ebene reicht und zum anderen sowohl vereinfachte, touristische Formate als auch subversive und den Status quo herausfordernde Äußerungen umfasst. Wenn diese Genres nicht nur im Rahmen lokaler oder nationaler Traditionen oder ihrer musikalischen Ähnlichkeiten gesehen werden, können folglich Narrative entdeckt werden, deren Kraft vielfältige Formen der

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Verhandlung zwischen dem Menschen und der Stadt zutage fördert – Letztere entweder als eine Entität oder als eine Vielzahl von soziokulturellen Realitäten begriffen, die der Mensch in seinem Alltag lebt. Gerade auf dieser Beziehung gründet auch der folgende Fall, der uns wieder direkt zum Korçaer Lied und zur Geschichte einer seiner besonderen Protagonistinnen, Spanja Pipa, führt.

III.Im Jahr 1993 strahlte der lokale Hörfunk Radio Korça eine Sendung unter dem Titel „Korçaer Serenade“ aus. Der Sturz des didaktorischen Systems hatte ein besonderes Interesse an Phänomenen der Kunst, die verboten gewesen waren, ausgelöst, wozu auch die Serenade von Korça zählte oder, genauer, die einst äußerst populäre Praktik von Gruppen junger Männer, mit Gitarre und Mando-line auf den nächtlichen Straßen der Stadt zu singen. Mitte der 1960er-Jahre war sie durch den kommunistischen Staat verboten worden, weshalb sie zu verschwinden drohte. Von diesem Augenblick an wurde die Serenade zu einem Mythos, der die Phantasie der Stadtbürger_innen stets reizte.

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Spanja Pipa mit dem Komponisten Josif Minga während eines Konzerts in Gjakova, 2017 (Foto © Shkelzen Rexha)

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Ihr Verbot war kein vorübergehender Einzelfall gewesen, sondern vollzog sich im Rahmen der Propaganda der Kulturrevolution und der Steigerung der Kontrolle des Staates über jegliches künstlerisches Schöpfertum und alle nicht-staatlich organisierten künstlerischen Aktivitäten.12 Zum einzigen politisch „korrekten“ Ensemble wurde Lira, das innerhalb der institutionel-len sozialistischen Struktur formalisiert war und am städtischen Kulturhaus wirkte.13 Sein Repertoire wurde kontrolliert und vornehmlich aus alten patrio-tischen Liedern vom Anfang des 20. Jahrhunderts gebildet. Das Verbot der urban geprägten Serenade basierte auf ihrer problema-tischen Beziehung zur Kultur des Regimes.14 Die kosmopolitische Natur dieses Liedes passte nicht zu der vom Regime propagierten national-sozialistischen Ideologie. Der Grund dafür lag in der deutlich hybriden Natur dieses Liedes von „zweifelhafter“ Herkunft, die, obwohl sie einer Periode der Bewusstwerdung des Nationalen angehörte, dennoch nicht die Idee des Authentischen und Archai-schen erfüllen konnte, zumindest nicht so, wie sie durch die Direktiven des Regi-mes wahrgenommen wurde. Diese Art der Rhetorik bezog sich auf traditionelle Praktiken der Folklore, die fast vollständig der erwähnten Ideologie sowohl auf der Ebene der Musikproduktion als auch auf akademischer Ebene unterworfen wurden. Es geht um die Formen der Spektakularisierung sowie der Inszenierung durch Folklorefestivals, als auch um das Schaffen von neuem Material, das auf traditionellen Modellen basiert (die so genannte Volksmusik). Darüber hinaus stand ein Lied, das sich durch intime und subjektive Töne auszeichnete und das in den meisten Fällen solche Themen wie Enttäuschung, Verlust und Melancholie behandelte, im Widerspruch zu dem optimistischen und energischen Charakter, den die Lieder des neuen sozialistischen Lebens zu vermitteln hatten. Ziel der Rundfunksendung im Jahr 1993 war ausdrücklich, Interpret_in-nen zu finden, deren Lieder nicht für die Öffentlichkeit gesungen wurden, aber dennoch durch die Stadt zirkulierten und bei den Korçar_innen sehr beliebt waren; diese Lieder sollten aufgezeichnet werden. Die Sangestradition war in jener Zeit diskret aus dem öffentlichen Raum in den privaten verlegt worden, der mit intimen Festen und Zerstreuungen in Verbindung stand. Die Sendung wurde in sechs Folgen ausgestrahlt und rief großes Interesse hervor. Zudem zeigte sie, dass es neben den Liedern, die sich an das Format der Serenade hiel-ten, auch andere, komplexere Werke gab. Unter den Protagonist_innen dieser Ausprägung war auch Spanja Pipa.

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Spanja Pipa war Sängerin und Schauspielerin am Theater von Korça. Sie wurde 1938 geboren und begann im frühen Kindesalter zu singen, inspiriert von ihrem Vater, der in verschiedenen Gruppen des Korçaer Liedes aktiv war. Ihre Karriere erreichte ihren Höhepunkt in den 1960er-Jahren, als sie außer im Theater in vielen Konzerten und Rundfunkprogrammen auftrat und vor allem in der Est-rade 15 herausragendes Können zeigte. Danach zog sie sich allmählich zurück, Anfang der 1980er-Jahre ging sie in Rente. Das Rundfunkprogramm brachte sie nach einer rund 15-jährigen Unterbrechung wieder in die Öffentlichkeit. Bei dieser Gelegenheit nahm sie nun drei Lieder auf. Knapp 20 Jahre nach der Rundfunksendung war das betreffende Reper-toire erneut sehr populär geworden. Die Lieder waren jetzt als Studioaufnah-men im Umlauf und wurden vorwiegend von Sänger_innen interpretiert, die sich um deren Wiederauffinden bemühten. Den historischen Protagonist_innen wurde hingegen wenig Aufmerksamkeit geschenkt, aber noch problematischer war die Tatsache, dass die Geschichte dieses Liedes in der Zeit des Kommunis-mus wenig dokumentiert und stark mythisiert im Dunklen belassen wurde. Vor diesem Hintergrund wandte ich mich noch einmal dem damaligen Programm zu, um das Material wieder zu hören und den Kontakt zu den Prota-gonist_innen neu zu knüpfen. In besonderer Weise zog mich der Fall von Spanja Pipa an. Sie hatte eine spezifische Verbindung mit dem Korçaer Lied, obwohl sie sich in der kommerziellen Szene nach den 1990er-Jahren sehr selten zeigte. Sie betrachtete diese Szene sogar wegen der kommerziellen Natur und der ihrer Meinung nach falschen Art, in der viele von diesen Liedern durch das Arrange-ment verändert wurden, skeptisch. In der Zwischenzeit war sie aber weiterhin aktiv, Lieder in informellen Situationen, bei gesellschaftlichen und familiären Festen aufzuführen. Ihre Professionalität und ihre trotz anderer Auftrittbedingungen noch immer bestehende Bühnenpräsenz gaben den Anfangsimpuls, ein Aufnahme-projekt des Korçaer Liedes anzugehen, das dieses Genre aus der Perspektive einer besonderen Protagonistin dokumentieren sollte.16 Zusammen mit Spanja wählten wir zwölf Lieder aus, die aus den 1930er-Jahren (der Zeit des Beginns der Karriere von Spanja Pipa) bis zu den 1960er-Jahren datierten. Einige davon wurden zum ersten Mal aufgenommen. Das Projekt umfasste auch andere Korçaer Künstler, darunter den prominenten Josif Minga17, der am Arrangement und an der Wahl der Begleitformation arbeitete, die aus den charakteristischen

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Instrumenten Gitarre, Mandoline, Akkordeon und Llauta18 bestand. Die Idee war, in einem Konzert dieses ganze Material vorzustellen, aber mit Rücksicht auf seinen Klangkontext und fern der elektronischen Experimente der kommerziel-len Musik. Über die musikalische Seite hinaus dokumentierte dieses Projekt auch einen Gedankenaustausch mit Spanja Pipa und ihren Zeitgenoss_innen und Kolleg_innen und leistete einen dokumentarischen, historischen Zugang. Das Ziel war zu verstehen, wie dieses Material geschaffen und interpretiert worden war. Dennoch handelte es sich nicht um eine kalte Datensammlung, sondern um eine Lebenserfahrung, im Besonderen um die von Spanja. Die Gespräche mit ihr eröffneten wesentliche Aspekte des historischen Kontextes und der Realität des Musizierens in Korça in den 1960er- bis 1980er-Jahren. Im Zuge der Zusammenarbeit merkte ich, dass Spanja Pipa eine sehr persönliche, emotionale und einfühlsame Beziehung zu den Liedern aufgebaut hatte. Die Expressivität stand bei ihr an erster Stelle. Daran war auch zu erken-nen, wie sie das Repertoire verinnerlicht hatte. Die Lieder, die sie sang, waren ein Teil sowohl ihrer künstlerischen als auch ihrer Lebenserfahrung. Ein Teil davon wurde von ihren Kolleg_innen, von Komponist_innen und Dichter_innen in den Jahren geschaffen, als sie in der Estrade gearbeitet hatte. Sie beschreibt dieses Material als „zu unserem eigenen Vergnügen gemacht“, weil seine sen-timentale, oft traurige und nostalgische Natur nicht dem entsprach, was im Sinne des Regimes auf die Bühne gebracht werden musste. Die Künstler_innen waren sich dessen bewusst und übten automatisch eine Form der Selbstzensur aus. Einen anderen Teil des Repertoires erlernte sie von den Burschen-Grup-pen, die nachts sangen und die Lieder gleichsam zu einem Subjekt des roman-tischen „Rituals“ machten.

Nach diesen Details möchte ich die drei Grundaspekte des Korçaer Liedes gesondert vorstellen, die sich in der Art des Zusammenwirkens zeigten: erstens, der Ort. Die Lieder drücken bestimmte Bilder der Stadt aus und beziehen sich klar darauf. Straßen mit Kopfsteinpflaster sind ein typischer Topos, Außenräu-me im Besonderen nachts, aber auch konkrete Lokationen wie die Steinbank. Ein Stein an der Schwelle der Haustür, der als ein „Verbindungsknoten“ zwi-schen der öffentlichen und der privaten Welt betrachtet wird, gewinnt eine geistige Valenz im Text.19 Wir können sagen, dass die Idee des Ortes im Allge-

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meinen alle Korçaer Lieder durchdringt, im Sinne ihrer starken Verbindung mit der Geographie dieser Stadt und den gelebten Wirklichkeiten darin. Zweitens, die Nostalgie. Die Lieder werden in einer „nostalgischen Sprache“ wiedergegeben, die an Wörtern wie Liebe, Herzschmerz, Verliebtsein, Liebeskummer und vor allem an der Sehnsucht zu erkennen ist – Letztere ein Zustand der Melancholie, des Schmerzes, der Abwesenheit und der Nostal-gie. Die Charakteristik dieser „Sprache der Nostalgie“ ist, dass sie im Falle des Korçaer Liedes in der Zeit schwebt, in einer Gegenwart, die keinen Trost findet, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Vielleicht ist es genau dieses nostalgische „Erstarrtsein“, welches die hohe Dosis der Empathie der Korça-rer_innen gegenüber ihrem Lied nährt. Und, drittens, ist es der musikalische Kosmopolitismus, der darin ent-deckt werden kann, wie entfernte Genres und spezifische Rhythmen zuein-anderkommen und sich vereinen, indem sie „eine eigene Musikwelt“ bilden, die sich nicht leicht innerhalb bestimmter Bahnen kanalisieren lässt. Es ist ein Kosmopolitismus, der die Existenz dieses Liedes von Anfang an durchdrungen hat, der aber unter den Bedingungen der fast extremen Isolierung der Stadt von der Außenwelt eine vielfach größere Hoffnungskraft gewinnt. Wenn man gerade die Umstände von Isolation und Totalitarismus in Betracht zieht, können die erwähnen Lieder als eine Form der Ablehnung gegenüber dem Musik- und Kunstestablishment des Regimes gelesen werden, wo alles durch seine amtlichen Organe vermittelt wurde und der Raum des subjektiven Ausdrucks nahezu inexistent war. Eine stille Ablehnung, eine Art des Versteckens innerhalb des subjektiven Ichs, um sich nicht völlig von den Standardthemen „des Liedes über …“ (über die Partei, die Jugend, den natio-nalen Befreiungskampf usw.) und von der totalitären Wirklichkeit abzuheben. Und es ist eben genau diese stille Ablehnung, die die Kraft zum Widerstand hervorbrachte; diejenige Kraft, aufgrund derer diese Lieder so lange in einer Art erinnert werden konnten, von der wir hoffen, wie Ignazio Macchiarella im Vorwort zu „Spanja Pipa e la canzone urbana di Korça“20 sagt, dass sie nicht nur als Kennenlernen der Vergangenheit, sondern vor allem als eine Möglichkeit verstanden wird, der Gegenwart einen Sinn zu geben. Aus dem Albanischen von Zuzana Finger

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1 Vokal-instrumentale Musik, die Elemente os-manischer Herkunft mit lokalen Gewohnheiten von Lied-, Tanz- und Instrumentalstücken vermischt.2 Ein urbanes Genre, das, inspiriert von Vokaltra-ditionen in Süditalien, anfänglich auf den griechi-schen Inseln im Ionischen Meer und später in Athen entwickelt wurde.3 Fatos Baxhaku: Der rote Schirm. Geschichten österreichisch-albanischer Schicksale vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Tiranë: Dituria, 2013, S. 37. 4 Aksak sind asymmetrische Rhythmen, die aus der Verbindung verschiedener Einheiten gebildet werden. Sie kommen in einem Teil Osteuropas und im Mittleren Osten vor.5 Koço, Tefta Tashko; Georga, Kleo: Die schöne Korçarin, Disc 44022, Pathé, Paris, 1930.6 Tefta Tashko Koço (1910–1947): lyrischer Sopran. Sie studierte Gesang in Montpellier, Paris und Rom und war eine der hervorragendsten albanischen Künstler_innen in den 1930er- und 1940er-Jahren. Mit ihrem reichen solistischen Wirken leistete sie einen wertvollen Beitrag zur Pflege des kultivierten albanischen Liedes, das sie in Konzerten aufführte und auf Schallplatten aufnahm.7 Neço Muko (1899–1934) wurde in Himara gebo-ren, einem der wichtigsten Zentren des südwestli-chen Albaniens. Ende der 1920er-Jahre emigrierte er nach Frankreich, wo er Musikaufnahmen bei Pathé organisierte. Neben Liedern urbanen Charakters nahm er auch polyphone Lieder mit Iso-Polyphonie aus der Region von Himara auf. Diese Aufnahmen machten ihn in den albanischen Kulturkreisen be-rühmt. In den meisten Fällen war er auch der Autor der Texte. Nach der Rückkehr nach Albanien betä-tigte sich Muko vor allem in den Genres der leichten Musik wie Operette und Vaudeville.8 Shkodra, eine Stadt im Nordwesten von Alba-nien. Sie war das zweitwichtigste urbane Zentrum, deren Kultur eine genauso wesentliche Rolle in der Geschichte Albaniens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spielte.Aheng war ein urbanes Genre, dessen Herkunft in der osmanischen Musikkultur liegt und das in Shko-dra am Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Ein Teil davon war auch die Gattung der sogenannten Jare, Lieder mit melismatischer Melodie, die Liebesthe-men behandelten. Das Wort Jare kommt aus dem Persischen und wird wörtlich als Liebesschmerz übersetzt.9 Manuel, Peter: Popular Musics of the Non-Western World. An introductory survey. New York, Oxford: Oxford University Press, 1988, S. 3.

10 Nettl, Bruno: Musica Urbana, in: Enciclopedia della Musica. Musica e Culture. Vol.III, Hrsg. von Jean-Jacques Nattiez in Zusammenarbeit mit Margaret Bent, Rosanna Dalmonte und Mario Baroni, Torino: Einaudi 2003, S. 539–559.11 Scott, Derek B.: Sounds of the Metropolis. The nineteenth-century popular music revolution in Lon-don, New York, Paris and Vienna. New York, Oxford: Oxford University Press, 2012.12 Die Kulturrevolution hatte einen starken Einfluss auf die albanische Gesellschaft und Kultur und erreichte ihren Höhepunkt in den 1970er-Jahren mit einer fast vollständigen Isolierung des Landes von der Außenwelt. 13 Es handelte sich um ein Netz, das auf institu-tionellen sowjetischen Modellen gegründet war und das aus Häusern, Heimen oder Kulturzentren bestand. Diese Strukturen umfassten Künstler_in-nengruppen, die für das lokale Leben im Dorf oder in der Stadt verantwortlich waren. Jedenfalls war das Netz zentralisiert, weil es stets von oben kontrolliert wurde. 14 Ein solches Schicksal hatten auch andere urbane Praktiken in Albanien, zum Beispiel das Stadtlied in Shkodra.15 Der Begriff „Estrade“ bedeutet eine Darbietung des Typs Varieté, ähnlich dem Vaudeville, Musical oder der Operette. Mit dem genannten Terminus wurde auch die Künstlertruppe bezeichnet, die solche Darbietungen aufführte. Die Herkunft dieses Modells ist sowjetisch und war ein Bestandteil der sozialistischen Infrastruktur. Die betreffenden Truppen waren staatlich und vor allem an Stadtthea-tern oder in eigenen Institutionen tätig, wie es beim Estradentheater in Tirana der Fall war.16 Siehe auch: Minga, Mikaela; Scaldaferri, Nicola (Hrsg.): Spanja Pipa e la canzone urbana di Korça. Roma: Squilibri Editore, 2015. 17 Josif Minga (1953): Komponist aus Korça. Neben seinem künstlerischen Schaffen, zu dem Orchester-, Instumental- und Kammerwerke, Unterhaltungs- und Filmmusik zählen, wurde er auch für seine reiche und lange Tätigkeit als künstlerischer Leiter lokaler folklo-ristischer und urbaner Musikgruppen ausgezeichnet. 18 Llauta ist ein Saiteninstrument aus der Familie der Lauten. 19 Das Konzept des „Knotens“ wurde von Kevin Lynch übernommen: The image of the city. Cam-bridge/Mass.: MIT Press, 1960. 20 Minga, Mikaela; Scaldaferri, Nicola (Hrsg.): Spanja Pipa e la canzone urbana di Korça. Roma: Squilibri Editore, 2015.

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EINLEITUNG

Als ich 1992 mit meinen Forschungen zu den gesellschaftlichen Transforma-tionen in den Bergen Nordalbaniens während der kommunistischen Diktatur begann, war meine Kamera eine ständige Begleiterin auf meinen Reisen in die-se entlegene Region. Wie ein Tagebuch diente mir die Fotografie dazu, meine Erfahrungen festzuhalten, Menschen, Rituale, den Alltag, die Umwelt und die materielle Kultur abzulichten. Zurück in Österreich, bereitete ich eine Diashow vor mit den Bildern, die ich in Nordalbanien aufgenommen hatte. Ein Kollege hatte mich eingeladen, im Rahmen von Lehrerfortbildungsseminaren einige Vorträge über Interkul-turalität zu halten. Hinzu kamen noch andere Anfragen. Bereits in Tirana hatte ich meiner Gastfamilie Bilder sowie Sequenzen eines Films gezeigt, den ich im nordalbanischen Hochland gedreht hatte. Die Bilder lösten bei den Betrach-ter_innen sehr unterschiedliche Reaktionen aus. Besonders deutlich waren die Unterschiede zwischen meinen albanischen Gastgeber_innen und dem Publi-kum in Österreich. Aber auch innerhalb Österreichs divergierten die Reaktio-nen, je nachdem, ob ich ein ländliches oder städtisches, ein akademisches, ein junges oder älteres Publikum hatte. Zwischen Männern und Frauen ließen sich ebenfalls Differenzen der Perzeption ausmachen. Die Unterschiede konnte man an den Fragen ablesen, die gestellt wurden (oder am Schweigen, das mitunter herrschte), am Grad der Neugier, aber vor allem an den Urteilen, die bestimm-te Phänomene auslösten und die oft erst in den informellen Gesprächen im Anschluss an die Vorträge zum Ausdruck gebracht wurden.

143R o b e r t P i c h l e r

Projektionsfläche Nordalbanien: Bildmächtigkeit und Deutung der Kultur der Berge in Albanien und in Österreich in den 1990er- Jahren (und heute)

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Mein Interesse an der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem nordal-banischen Hochland speiste sich aus der Beschäftigung mit Reiseliteratur, Be-richten von Diplomat_innen und Studien von Ethnographen, die sich im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Region aufgehalten hatten. Die nordalbanische Bergwelt firmiert in diesen Beschreibungen zumeist als eine exotische Reliktregion, in der sich archaische Lebensformen, Rituale, soziale Be-ziehungen und Rechtsvorstellungen erhalten haben. Vor diesem Hintergrund stellte ich mir die Frage, ob und auf welche Weise die kommunistische Politik die Gesellschaftsformen in der Bergregion zu transformieren vermochte und inwiefern das Ende der kommunistischen Diktatur eine Revitalisierung „tra-ditioneller“ Institutionen nach sich zog. In meinen Präsentationen versuchte ich einerseits die traditionellen Institutionen aus ihrem historischen Kontext zu erklären, andererseits fokussierte ich mich auf die Veränderungsprozesse während und nach dem Ende des Kommunismus. Dabei wurde mir rasch auch die Schwierigkeit der Aufbereitung und der Vermittlung vor Augen geführt. Häufig hatte ich im Anschluss an Vorträge das unangenehme Gefühl, dass es mir nur ansatzweise gelungen war, die historische Bedingtheit und die Rationa-lität kultureller Phänomene zu erklären. Eine der Ursachen für die Schwierigkeit einer adäquaten Übersetzung lag an der Verwendung des Bildmaterials. Die in den Bergen fabrizierten Bilder verfügten über eine enorme Ausdrucksstärke, sie beeindruckten die Betrachter_innen, verleiteten sie aber auch, die abgelich-teten Phänomene auf Kontexte zu übertragen, die ich nicht intendiert hatte. Die Bilder führten quasi ein Eigenleben, das auf andere, darüber hinausreichen-de kulturelle Vorstellungen und Interpretationen verwies. Von diesem Dilemma und den divergierenden Deutungen der kulturellen Verhältnisse in Nordalbani-en handelt dieser Beitrag.

GEWOHNHEITSRECHT UND RITUALKULTUR

Hauptaugenmerk meiner Studie war der sogenannte Kanun i Lek Dukagjinit (das Gewohnheitsrecht des Lek Dukagjin, in der Folge Kanun), der in den Ber-gen Nordalbaniens sowie in Kosovo und in Westmakedonien zur Anwendung kam. Der Kanun diente in den gebirgigen Gebieten als rechtliches Instrumen-tarium zur Regelung sozialer, ökonomischer und politischer Angelegenheiten.

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Das Gewohnheitsrecht war kein albanisches Spezifikum, sondern in zahlreichen Gebieten des Balkans verbreitet. Dass der Kanun eine so große Bekanntheit erlangte (und quasi zum Inbegriff von Gewohnheitsrecht auf dem Balkan wurde), lag an seiner vergleichsweise langen Wirksamkeit bis in die jüngste Vergangenheit. Wissenschaftler_innen, Reisenden und Diplomat_innen war es dadurch möglich, die Anwendung des Gewohnheitsrechts zu beobachten und Aufzeichnungen über die Rechtspraxis zu hinterlassen. Literarisch wurde der Einfluss des Kanun von Ismael Kadare in seinem Roman „Der zerbrochene April“ thematisiert. Das zentrale Thema, das bei Kadare und anderen Autor_innen in Be-zugnahme auf den Kanun Erwähnung findet, ist die Blutrache. Die Blutrache wurde in der Außenwahrnehmung zum Sinnbild einer archaischen und folglich nur oberflächlich zivilisierten Gesellschaft. Im Kommunismus galt sie als Relikt der Vormoderne, die im fortschrittlichen Albanien keinen Platz mehr haben sollte. Selbstjustiz wurde durch staatliches Recht ersetzt, ihre Ausübung streng sanktioniert und die Autoritäten des Kanun, die Ältestenräte, die Anführer der Verwandtschaftsgruppen, die Bajraktare und Kapitäne, entmachtet und von staatlichen Gerichten ersetzt. Mit ähnlicher Rigorosität setzte man 1967 das Religionsverbot durch. Gleichzeitig wurden Maßnahmen ergriffen, um die pa-triarchalen sozialen Strukturen abzuschwächen, etwa durch die Unterbindung des Brautpreises, die Einschränkung arrangierter Ehen v. a. von Minderjährigen und die Entmachtung von Vorständen umfangreicher Haushalte, die zur Auf-teilung gezwungen wurden. Die offizielle Sicht auf den Kanun war ambivalent; einerseits dienten der Kanun und die Gesellschaft im Hochland als Belege für die lange Geschichte der albanischen Kultur und für den unbändigen Wider-standsgeist gegen (osmanische) Fremdherrschaft, andererseits war man darauf bedacht, die Ankunft der kommunistischen Herrschaft als Wendepunkt darzustellen, von dem aus der Kanun als Ausdruck einer archaischen und rück-ständigen Gesellschaft eingeschränkt, zurückgedrängt und letztlich eliminiert wurde. Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems erreichte die Menschen in den Bergen im Zustand eines bereits länger andauernden Verfalls. Das kommunistische System hatte bereits schwer an Glaubwürdigkeit verloren, von versprochenem Aufschwung war schon lange nichts mehr zu merken und die Versorgungslage war ausgesprochen prekär. Der politische Systemwechsel

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erfolgte für viele trotzdem überraschend und vollzog sich gewissermaßen über Nacht. Das diktatorische Regulierungs- und Überwachungssystem wich einem rapiden Verfall der Ordnung im Zuge der Dysfunktionalität staatlicher Institutionen. Die Phase des Systemwechsels war von Plünderungen, von Massenabwanderung und politischer Instabilität gekennzeichnet. Angesichts der vielfach chaotischen Zustände kam es zu einem Wiederaufleben über-kommener Regulierungsmechanismen, die sich auf den Kanun beriefen. So wurde etwa dort, wo es um Fragen der Reprivatisierung sowie um die Ver-teilung gemeinnütziger Ressourcen wie Wasser, Weide und Wald ging, auf gewohnheitsrechtliche Vereinbarungen zurückgegriffen. Auch Ehrkonflikte wurden wieder auf der Basis des Kanun geregelt, was wesentlich komplizier-tere Folgen zeitigte. In manchen Fällen wurde der Kanun selbst zur Ursache von Konflikten, etwa wenn alte, ungelöste und während des Sozialismus unter-drückte Rivalitäten wieder an die Oberfläche kamen. Der Rückgriff auf den Kanun in der Phase des Umbruchs wurde von vielen Menschen in der Region als Empowerment empfunden. War man über die Jahrzehnte davor von den Direktiven der Partei und den Gesetzen und Reglementierungen, die in Tirana gemacht wurden, abhängig gewesen, konnte man nun selbst wieder an der Gestaltung des sozialen Lebens mitwirken. Ein Grundprinzip des Gewohnheitsrechtes war die Aushandlung von Angelegen-heiten durch die männlichen Repräsentanten von Haushalten, die im Idealfall dem Konsensprinzip folgte. Dieses Aushandlungsprinzip konnte aber nur dann erfolgreich zur Anwendung kommen, wenn die Teilnehmer auf einen einiger-maßen gesicherten Wissens- und Erfahrungshorizont zurückgreifen konnten und wenn sie dieses Wissen als verbindlich betrachteten. Das Problem der gewohnheitsrechtlichen Praxis bestand nun aber darin, dass die alten Auto-ritäten ihre Macht eingebüßt hatten und das Wissen um den Kanun nur mehr sehr rudimentär vorhanden war. Außerdem ließen sich zahlreiche Normen nach 50 Jahren Kommunismus nicht mehr mit der vorherrschenden sozialen Realität in Einklang bringen. Hinzu kam, dass das staatliche Recht selbst in der Phase der Transition nicht vollkommen verschwand, was zu Legitimationskon-flikten führte. Aber nicht nur das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Rechts-vorstellungen und mangelhafte Kenntnisse des Gewohnheitsrechts prägten diese Zeit, sondern insgesamt ein generelles Rechtsvakuum durch den Verlust an staatlicher Ordnung und Autorität.

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Wiederbelebt wurden in jener Zeit aber auch Rituale und Praktiken des gesellschaftlichen und kultischen Lebens. So begann die Religion wieder verstärkt eine Rolle zu spielen, die katholische Kirche suchte ihre Institu-tionen und ihren Einfluss im Norden Albaniens wiederzuerlangen, ebenso die Islamische Glaubensgemeinschaft, die Orthodoxe Kirche und zahl-reiche in Albanien bisher unbekannte Religionsgemeinschaften, die nach Jahrzehnten atheistischer Politik ihre Chancen am fluktuierenden Markt verunsicherter Menschen witterten. Ähnlich, aber weniger augenfällig verhielt es sich im Bereich der Ritualkultur. Auch dort knüpften viele an Praktiken an, die im Kommunismus verboten oder nur geheim ausge-führt worden waren. Das betraf sowohl bestimmte Hochzeits- als auch Begräbnisrituale, die verbreitet wieder zur Anwendung kamen, als auch das Gewohnheitsrecht. Der Rückgriff auf den Kanun und auf alte Rituale wurde keinesfalls einhellig gutgeheißen, er stellte aber für jene, die sich darauf bezogen, auch eine Art der Wiederaneignung traditioneller Werte dar, die dem Repertoire der eigenen Kultur zugeschrieben wurden.

NORDALBANIEN 1992/93: AUSSCHNITTE EINER PRÄSENTATION ÜBER DAS LEBEN IN DEN BERGEN

Die Vorträge, die ich in Österreich nach meiner Rückkehr aus Albanien 1994 und 1995 gehalten habe, waren zumeist ähnlich strukturiert. Die Präsenta-tionen bestanden aus zwei Blöcken. Der erste Abschnitt thematisierte die Geschichte des Landes von der osmanischen Zeit bis zur Gegenwart. Dabei ging ich auf Staats- und Nationsbildungsprozesse ein, auf die kommunis-tische Machtübernahme, die kommunistische Reformpolitik, die gesell-schaftlichen Transformationen, demographische Entwicklungen und die Herrschaft der Diktatur. Der zweite Block befasste sich mit Nordalbanien. Ich begann meine Ausführungen dazu mit einer Schilderung der Reise in den Norden, der schwierigen Verkehrs- und Versorgungsbedingungen, der durchgehend freundlichen Aufnahme bei den Gastfamilien und der ökonomischen und sozialen Transformationen in den Bergen. Mein Haupt-augenmerk richtete ich auf die Themen meiner Forschung – die Herkunft, Bedeutung und Veränderung des Gewohnheitsrechts, die Rolle von Familie

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und Verwandtschaft, den Wandel von Haushaltsstrukturen, Formen des Zusam-menlebens, Eigentumsverhältnisse, Geschlechterbeziehungen und Beziehungen zwischen den Generationen sowie auf Fragen rund um Erbschaft und Eigentum. Den Abschluss des Vortrages bildeten die Schilderungen von Eheschließung und Hochzeit sowie Erörterungen über Jenseitsvorstellungen, die ich mit Bildern eines Begräbnisrituals veranschaulichte. Wenn ausreichend Zeit zur Verfügung stand, widmete ich mich noch dem Phänomen der Blutrache. 1993 hatte ich die Gele-genheit gehabt, an einer Blutrachebefriedung in der Nähe von Shkodra teilzuneh-men. Diese Erfahrung und Recherchen über andere Blutrachefälle bildeten die Grundlage meiner Ausführungen.

1. Die Reise

Die Bilder von der Reise in den Norden sollten einerseits die schwierigen Verkehrs-verhältnisse veranschaulichen, die unmittelbar nach der Wende vorherrschten, andererseits sollten sie einen Eindruck von der geographischen Abgeschlossen-heit der nordalbanischen Bergwelt vermitteln. Da es in Albanien keinen privaten Autobesitz gab, waren auch die Straßen dementsprechend schlecht ausgebaut. Durch den plötzlich einsetzenden Import von Fahrzeugen kam es rasch zu einer Überforderung der Infrastruktur. Unmittelbar nach der Wende setzte eine starke

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Der Koman-Stausee dient der abgelegenen Berg-region als Verkehrsweg (Koman-Stausee, 1992) © Robert Pichler

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Abwanderung aus den ländlichen und aus den überbevölkerten gebirgigen Gebieten Richtung Städte und an die Küste ein. Viele Menschen flüchteten vor der bitteren Armut ins benachbarte Italien und nach Griechenland. Autobusse, Lastautos, Fährschiffe und Boote blieben noch über längere Zeit die bedeu-tendsten Transportmittel. Viele Menschen waren aber auch noch mit Fuhrwer-ken und Fahrrädern unterwegs. Unter diesen Gegebenheiten zählte der Besitz von PKWs zu den größten Errungenschaften, sie waren der erste sichtbare Ausdruck der neuen Zeit und repräsentierten wie kein anderes Objekt den Übergang von der kommunistischen zur kapitalistischen Lebensweise.

Der Weg in den Norden Albaniens war angesichts des gebirgigen Terrains und der schlechten Verkehrsanbindung besonders schwierig. Busse waren nur bedingt geeignet, weshalb Lastautos zu begehrten Transportmitteln wurden. Viele Menschen reisten auf der offenen Ladefläche von LKWs, und selbst wenn diese befüllt waren, wurden noch Passagiere mitgenommen. Ich erinnere mich an eine Fahrt auf dem Rücken eines mit Schotter gefüllten Lastautos von der Fährstation Koman nach Shkodra. Nachdem wir eine einigermaßen erträgliche Sitzposition eingenommen hatten, kam ein Mann über den Schotterhaufen geklettert, um das Fahrgeld einzusammeln. Um der neuen marktwirtschaft-lichen Ordnung gerecht zu werden, stellte er jedem Passagier ein Ticket aus.

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Fähre ins nord- albanische Hochland (Koman-Stausee, 1992) © Robert Pichler

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Auch die Fähren, die die Menschen über den aufgestauten Drin in ihre Bergdör-fer brachten, waren oft vollkommen überfüllt. Genaue Abfahrtszeiten gab es nicht, weshalb die Menschen oft viele Stunden auf das Boot, den Bus oder ein anderes maschinenbetriebenes Verkehrsmittel warteten. In meinen Präsentationen zeigte ich Bilder von der Bootsfahrt und schilderte den langen, beschwerlichen Weg ins Bergdorf Mserr, wo wir bereits von unserer Gastgeberfamilie erwartet wurden.

2. Gastfreundschaft, Haushalt und Verwandtschaft

Ich setzte meine Präsentation mit Bildern über die Ankunft im Haus unserer Gastgeber_innen fort. Ich schilderte die Kontaktnahme mit den Familien-mitgliedern, die respektvolle Aufnahme im Haus und das erste gemeinsame Abendessen. In diesem Kontext kam ich auf die Institution der Gastfreund-schaft zu sprechen, die einen zentralen Stellenwert in der nordalbanischen Gesellschaft einnimmt. Traditionell war das Gastrecht derart stark ausgeprägt, dass es selbst Mitgliedern verfeindeter Familien nicht verwehrt werden konnte. Ich erzählte von sehr berührenden Begebenheiten bei den zahlreichen Einla-dungen und der oft beschämenden Unmöglichkeit, sich dafür erkenntlich zu

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Abfahrt von der Fährstation (Koman, 1992)© Robert Pichler

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zeigen. Bei Einladungen bei sehr armen Familien, die mir trotz ihrer oft ver-zweifelten Lage größtmögliche Großzügigkeit entgegenbrachten, war dieses Gefühl der unerwiderten Gabe besonders ausgeprägt. Ich erkannte aber auch, dass unsere – zumeist war ich mit Kolleg_innen unterwegs, darunter mehrmals mit Stephanie Schwandner-Sievers – bloße Anwesenheit und das Interesse, das wir der albanischen Geschichte, Kultur und Sprache entgegenbrachten, für viele Albaner und Albanerinnen eine Art „Gegengabe“ waren. Wir waren Gäste der besonderen Art, auch weil wir aus dem (westlichen) Ausland kamen. Als Österreicher hatte ich eine privilegierte Position, weil Österreich im Norden Albaniens einen sehr guten Ruf genießt. Nach Jahrzehnten der Abgeschlos-senheit waren wir an vielen Orten die ersten Fremden, mit denen die Einheimi-schen Kontakt hatten. Das Interesse an uns zeigte sich auch an den zahlreichen Besuchen und Einladungen von Nachbar_innen und Bekannten aus der Umge-bung. Unsere Anwesenheit wurde auch dazu genutzt, sich ein Bild über „das Leben im Westen“ zu machen und Informationen darüber einzuholen, wie man am besten dorthin gelangte. Österreich zählte aber nicht zu den bevorzugten Destinationsländern, es lag zu weit weg, war schwierig zu erreichen, und es fehlten die für die Migration oft so wichtigen Anknüpfungspunkte. Ich setzte meine Betrachtungen über die Bedeutung von Familie und Haushalt in staatsfernen Gebieten fort. Nordalbanien bot dazu sehr gutes An-schauungsmaterial, da dieses Gebiet bis weit ins 20. Jahrhundert nur schwach oder nur indirekt von zentralen Verwaltungsstellen durchdrungen wurde. Bis zur Ankunft des Kommunismus blieb der Haushalt die wichtigste Institution, die maßgeblichen Angelegenheiten des sozialen Lebens. Die Ökonomie, die sozialen und rechtlichen Beziehungen bis hin zu kultischen Belangen wurden von Haushalten gestaltet, die im Inneren eine starke Hierarchie aufwiesen, nach außen hin aber gleichrangig miteinander in Beziehung traten. Ich verwies auf strukturbildende Merkmale sogenannter komplexer Haushalte, wie das män-nerzentrierte Abstammungsdenken (Patrilinearität), das sich daraus ableitende gleichberechtigte Männererbe, das Senioratsprinzip, das die Macht innerhalb von Haushalten und in der Gesellschaft an das Alter knüpfte, das Prinzip der Patrilokalität, dem zufolge die Frauen zum Zeitpunkt der Hochzeit in den Haus-halt ihres Mannes wechselten, sowie auf die Universalität von Eheschließung zur Sicherung der (männlichen) Nachkommenschaft. Ich wies darauf hin, dass diese grundlegenden Elemente komplexer Haushalte keinesfalls ein albani-

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sches Spezifikum darstellten, sondern in zahlreichen Gebieten des südöstli-chen Europas anzutreffen waren, unabhängig von ethnischer und konfessio-neller Zugehörigkeit. Die kommunistischen Machthaber suchten mit punitiven und gesetzlichen Maßnahmen die Macht von Haushalten zu brechen. Dazu zählten etwa besitzrechtliche Einschränkungen, die umfangreiche Haushalte zur Teilung bewegen sollten. Das war einer der Gründe, warum sich 1992 nur noch selten komplexe Haushalte, die eine horizontale und eine vertikale Erwei-terung aufwiesen, ausfindig machen ließen. In meinem Vortrag verwendete ich das Portrait einer dieser Familien, um die Prinzipien der Zusammengehörigkeit und Co-Residenz zu erörtern.

Die Aufnahme zeigt einen 18-köpfigen Haushalt mit dem Haushaltsvorstand (der Mann mit der für Nordalbanien typischen Filzkappe, dem Plis), seine drei Söhne mit ihren Ehefrauen sowie die Enkelkinder. Alle zusammen bilden sie eine Hausgemeinschaft. An diesem Bildbeispiel erörterte ich auch den Unter-schied zu Haushaltsstrukturen, wie sie in Westeuropa verbreitet waren: Etwa die – im interkulturellen Vergleich einzigartige – Zurückdrängung des Seniorats (durch das Ausgedinge), das Anerbenrecht, das es nur einem der Söhne oder Töchter ermöglichte, den Hof zu übernehmen (die übrigen Geschwister waren

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Familie in Mserr (Nikaj, 1992) © Robert Pichler

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gezwungen wegzugehen oder sich dem Bruder unterzuordnen) sowie die Institution des Gesindes, die es in weiten Teilen Südosteuropas nicht gab. In Südosteuropa bildete die männliche Verwandtschaftsgruppe mit den ein-geheirateten Frauen die zentrale wirtschaftliche Einheit, ein Tatbestand, der entscheidend zum verwandtschaftszentrierten Denken beiträgt.

3. Rituale: Kontinuitäten und Transformationen

Die größte Aufmerksamkeit wurde in der Regel den Ritualen zuteil, an denen viele der zuvor besprochenen Aspekte lebensnah veranschaulicht werden konnten. Ich zeigte Bilder von zwei Hochzeiten, von einem Begräbnis und, wenn die Zeit es zuließ, von einer Blutrachebefriedung (pajtimi i gjakut). Die Eheschließung präsentierte ich anhand von zwei unterschiedlichen Beispielen: Das erste Beispiel repräsentierte eine „traditionelle“, das zweite eine „moderne“ Eheschließung. Unter traditionell subsummierte ich Ehe-schließungen, die von den Eltern arrangiert wurden, und als modern stufte ich jene Hochzeiten ein, die auf Basis autonomer Entscheidungen der Ehepartner zustande kamen. In der Präsentation machte ich diesen Unterschied an der Kleidung fest: Erstere wurde am Beispiel einer Braut in landesüblicher Tracht veranschaulicht, Zweitere zeigte eine Braut im weißen Kleid. Die Farbe Weiß

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Braut auf dem Weg ins Haus des Bräutigams (Dukagjin, 1993) © Robert Pichler

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stand klar für westlich und repräsentierte die symbolische Anbindung an die westliche Kultur. Ich erklärte den traurigen Gesichtsausdruck der Bräute mit deren schmerzhaftem Wechsel in das Haus des Bräutigams. Die Heirat bedeutete die Trennung von der Herkunftsfamilie, die in jedem Fall als ein tiefer Einschnitt empfunden wurde. Den nach unten gerichteten Blick erläuterte ich als rituelle Geste, die ich bei zahlreichen Hochzeiten beobachtet hatte und die von der Braut zumindest für eine gewisse Zeit respektiert wurde, egal, in welchem Gemütszustand sie sich befand. Diese Geste konnte als Ausdruck der Unter-ordnung interpretiert werden, die mit dem Eintritt der Braut ins neue Haus einherging. In diesem Kontext kam ich auf unterschiedliche Elemente des Patriarchats zu sprechen, die in Nordalbanien besonders drastisch ausgeprägt waren. Das Begräbnisritual, zu dem ich zusätzlich auch eine Tonaufnahme abspielte, beeindruckte meine Zuhörer_innen am stärksten. Die Aufnahmen vom gjama e burrave, einem männlichen Klageritual, ließ vielen Teilnehmer_in-nen Schauer über den Rücken laufen. Es war die Intensität des Ausdrucks – die Heftigkeit der Gebärden, das Mit-den-Fäusten-gegen-die-Brust-Schlagen, das angedeutete Zerkratzen des Gesichts (früher hat man sich blutig gekratzt), das Sich-an-der-Nase-Halten und vor allem das laute Schreien, das in ein abeb-bendes Wehklagen überging, die die Zuseher_innen so sehr berührte. Großes Interesse weckten auch die Grabbeigaben – die Zigaretten, der Apfel und die Pfeife – sowie die Tatsache, dass dem Leichnam die Schuhe ausgezogen und neben die Füße gelegt wurden. Ich erklärte diese Phänomene mit vorchrist-lichen Ahnenkultvorstellungen, die eine starke Verbundenheit zwischen den verstorbenen Vorfahr_innen und den Nachkommen signalisieren. Auch das ausgeprägte Abstammungsbewusstsein, das bis zu 15 Genera-tionen umfasst, weist auf diesen Zusammenhang hin ebenso wie das Fest des Hauspatrons, das zahlreiche Elemente enthält, die auf einen vorchristlichen Ursprung verweisen.

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DIVERGIERENDE WAHRNEHMUNGEN UND DAS DILEMMA DER REPRÄSENTATION DES BALKANS IN DER ZEIT DES KRIEGES

Als ich nach einem längeren Aufenthalt im Norden wieder nach Tirana zurück-kehrte, zeigte ich meiner Gastfamilie einen Ausschnitt einer Videoaufnahme, die ich von einem Begräbnisritual im Dukagjin Hochland gemacht hatte. Ich war neugierig auf deren Reaktion, wollte wissen, ob sie von diesen Ritualen in den Bergen wussten, und wenn ja, wie sie diese deuteten. Bei meinen beiden Gastgeber_innen handelte es sich um ein Ehepaar im Alter zwischen 35 und 40 Jahren, beide waren in Tirana aufgewachsen und gehörten zum typischen städtischen Arbeitermilieu. Sie verfolgten die Entwicklungen in ihrem Land mit großem Interesse und waren sehr neugierig auf meine Erzählungen über meine Erlebnisse im Hochland. Selbst hatten sie diese Region noch nie besucht, was keinesfalls außergewöhnlich war für die städtischen Bewohner_innen Albani-ens. Ich zeigte ihnen die Aufnahmen im Anschluss an ein Abendessen, das sie extra für meine Rückkehr zubereitet hatten. Ihre Reaktionen waren für mich äußerst überraschend, da sie im ersten Moment sogar an der Authentizität der Aufnahmen zweifelten. Das Ritual erschien ihnen so fremd, so archaisch und wild, dass sie Schwierigkeiten hatten, es mit ihrem Land und ihrer Kultur in Beziehung zu bringen. Weder wussten sie, dass es ein derartiges Begräbnis-

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Szene aus dem Begräbnisritual gjama e burrave (Nikaj, 1992) © Robert Pichler

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ritual in Albanien je gab, und noch weniger konnten sie sich vorstellen, dass dieses den Kommunismus scheinbar unbeschadet überlebt hatte. Die Fotos erschütterten somit ihr Selbstbild sowie die weithin gehegte Wahrnehmung kommunistischer Politik, der es offensichtlich nicht gelungen ist, diese „Über-bleibsel einer vergangenen Epoche“ auszumerzen. Sie erkannten in den Bildern die Wiederkehr einer längst überwunden geglaubten Vergangenheit, die sich mit dem Anspruch einer modernisierten Gesellschaft nicht in Einklang bringen ließ. Albanien mochte zwar arm und ökonomisch am Boden sein, sozial und kulturell wähnte man sich jedoch als weitaus entwickelter, als es diese Bilder aus dem Norden suggerierten. Im Dukagjin hatte man mir erzählt, dass das gjama e burrave unter Enver Hoxha verboten worden war. In der im Sozialismus propagierten öffentlichen Meinung dominierte die Vorstellung von der Überwindung vermeintlich rück-ständiger Lebensweisen. Der Sozialismus hielt sich nicht die Bewahrung, son-dern den Bruch mit der Vergangenheit zugute. Die „Relikte der Vergangenheit“ wurden, wo sie sich verwerten ließen‚ zu „Volkskultur“ (kultura popullore) und zu Folklore transformiert und in den Dienst der ethnonationalen Meistererzählung gestellt. Dem Kanun etwa, seinem Regelwerk und den damit verbundenen Ritualen, wurde das Verdienst eingeschrieben, die Albaner_innen gegen frem-de Einflüsse und Machtansprüche verteidigt zu haben. Er wurde zum histori-schen Erbe, das seine „gelebte und organische Funktion“ verwirkt hat und als Vorstellung einer vergangenen Epoche den tiefgreifenden Emanzipations-prozessen kontrastierend gegenübergestellt wurde. Daher rührte die Überra-schung meiner Gastgeber_innen; sie hatten mit so etwas nicht gerechnet und taten sich sehr schwer, derartige Phänomene in ihre Vorstellung von „albani-scher Kultur“ zu integrieren. Ihre Reaktion verdeutlichte mir auch das Ausmaß kultureller Einhegung, die von kommunistischer Seite betrieben worden war. Abweichungen, die mit dem Kanun und der damit zusammenhängenden Ritu-alkultur zusammenhingen, wurden aus dem kulturellen Gedächtnis eliminiert, was übrigblieb, war in vielen Fällen ein eindimensionales und schematisches Bild der eigenen nationalen Kultur. Interessanterweise war man auf österreichischer Seite vom Fortbestehen alter Rituale im albanischen Hochland wenig überrascht. Mit Albanien assozi-ierten viele eine sehr alte Kultur, die durch den Kommunismus verschlossen und partiell transformiert, aber keinesfalls ausgelöscht worden war. Das „Alte“

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wurde in den Bergen angesiedelt, die, in Analogie zu Österreich, als kulturelle Rückzugsgebiete betrachtet wurden, in denen sich Traditionen, Gewohnheiten, Bräuche und „archaische Verhaltensweisen“ konservierten. Die im albanischen Hochland vorgefundenen Verhältnisse wurden von vielen Teilnehmer_innen auf einer Zeitachse verortet, entsprechend einem linearen Schema zivilisatorischer Entwicklungen. Dadurch wurde eine Bezie-hung zu den eigenen kulturellen Entwicklungen hergestellt, die einerseits die Analogie, andererseits aber auch die Differenz betonte. Auch bei uns gab es früher vergleichbare Verhältnisse, nur wurden wir rascher von den zivilisatori-schen Transformationen erfasst, so der Tenor. Die kulturellen Transformationen wurden ambivalent gedeutet. So wurde das Begräbnisritual als authentischer Ausdruck von Trauer und Schmerz wahrgenommen und unserer eigenen, oft verhaltenen Trauerkultur positiv gegenübergestellt. Gleichzeitig waren viele von der Heftigkeit des Ausdrucks irritiert und eingeschüchtert. Hier vermischten sich Vorstellungen von der Unverdorbenheit mit Ängsten vor der Wildheit männlicher Impulsivität. Die Tatsache, dass dieses Ritual nur für Männer durchgeführt wurde, verweist auf die asymmetrischen Geschlechterbeziehungen, die sich auch in den Hoch-zeitsritualen und den Informationen über die nach wie vor ungleichen Erb-schafts- und Eigentumsverhältnisse wiederfinden. Dieses Thema beschäftigte viele Teilnehmer_innen, weil es Assoziationen zu Erfahrungen im Schulalltag mit Jugendlichen aus dem Balkan und aus der Türkei herstellte. Die Ausführun-gen über die Ursachen männlicher Dominanz in den staatsfernen gebirgigen Gebieten ermöglichten zwar ein besseres Verständnis für die strukturellen Hintergründe des Patriarchats, der Fokus auf die Ritualkomponenten und die Bilder von den Hochzeiten verstellten jedoch den Blick auf die in sozialistischer Zeit erfolgten Veränderungsprozesse. Außerdem war es mir nur unzureichend gelungen, die nordalbanischen Verhältnisse von Entwicklungen in anderen Regionen abzuheben, wodurch das Bild eines weitgehend einheitlichen, patri-archal geprägten Kulturraumes vermittelt wurde, das sich auf die Interpreta-tion der Erfahrungen im Schulalltag in stereotyper Weise niederschlug. Die Problematik der Übertragung nordalbanischer Verhältnisse auf grö-ßere, „balkanische“ Zusammenhänge wurde auch in einem anderen, politisch sehr heiklen Bereich virulent. Die Zeit, in der ich die Vorträge hielt, fiel mit der Entfesselung des Jugoslawienkrieges zusammen. Der Jugoslawienkrieg trug

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sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu, auch in Gegenden, die vor kurzem noch beliebte touristische Destinationen vieler Österreicher_innen waren. Nicht nur, dass der Krieg für viele unerwartet ausgebrochen war, er ließ sich in seiner Entstehungsgeschichte auch sehr schwer begreifen. Die plötzliche Auflösung eines Landes, das man als Einheit betrachtet hatte, die Frontverläufe und wechselnden Allianzen und v. a. die Brutalität der Kriegsführung verwirrten und verstörten viele Menschen. Historisch-politische Erklärungsansätze erforder-ten eine tiefe Kenntnis des Landes, der Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg und in sozialistischer Zeit, ein Wissen, das kaum jemand besaß. Erklärungen, die auf die „Kultur der Menschen“ abzielten, waren dagegen einfacher zu vermitteln. Die Bilder aus dem entlegenen nordalbanischen Hochland ließen sich vermeintlich einfach mit den Verhältnissen in Jugoslawien verknüpfen, sie vermochten mitunter plausiblere Antworten auf das „komplexe Wirrwarr der ju-goslawischen Verhältnisse“ zu liefern, und sie fügten sich vermeintlich nahtlos in ein Gesamtbild des Balkans, der „schon immer“ eine von Krieg, Konflikt und Gewalt gekennzeichnete Region war. Das Altertümliche und Archaische der al-banischen Bergwelt ließ sich einfach mit der Barbarei des Krieges in Beziehung setzen. Nicht zufällig wurde der Jugoslawienkrieg häufig auch als „Balkankrieg“ bezeichnet, in den Medien, von Diplomat_innen und selbst in Fachbüchern. Die Querverbindungen zu den patriarchalen Strukturen in den Bergen Albaniens, die Wehrhaftigkeit der Gebirgsbewohner, die Verbreitung männlich konno-tierter Ehrvorstellungen, der hohe Stellenwert von Tapferkeit, Mut und Ent-schlossenheit, das Verlangen nach Waffenbesitz sowie die verbreitete Selbst-justiz lieferten für die Ereignisse in Jugoslawien eine vergleichsweise simple Erklärungsschablone. Diese Zusammenhänge kamen nicht immer explizit zur Sprache, sie tauchten aber auf und stützten eine Vorstellung von substantieller kultureller Differenz zwischen uns, den „zivilisierten Westeuropäern“, und den gewaltaffinen Menschen des Balkans. Die Drastik der visuellen Repräsentation spielte bei dieser Vermittlung eine nicht unbeträchtliche Rolle. Denn die Bilder sind stärker als die Sprache, sie führen quasi ein Eigenleben, das weit über das Gesprochene hinausreicht. Diese Einsicht hatte dazu geführt, dass ich meine Vortragstätigkeit einstellte und meine Bilddaten ins Archiv verfrachtete.

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Erst 20 Jahre später holte ich die Fotografien wieder hervor. Ausschlag-gebend dafür waren Debatten mit albanischen Freund_innen und Kol-leg_innen über die turbulenten Transformationen der 1990er-Jahre. Die ungeheure Dynamik dieser Zeit hat eine ganze Generation aus ihren ver-trauten Zeit- und Raumkoordinaten hinausgeworfen, in Richtungen, die nicht abschätzbar waren, in Wege, die voller Erwartung, voller Wünsche, aber auch von Angst und Unsicherheit geprägt waren. Zwar sind sich die Menschen bewusst, wie tiefgreifend die Einschnitte in den Alltag waren und welche Routinen von heute auf morgen verlorengingen, das Tempo der Veränderungen führte aber dazu, dass viele Menschen kaum die Mög-lichkeit hatten, die Ereignisse im Sinne einer konstruktiven Auseinander-setzung mit der eigenen Geschichte aufzuarbeiten. Die Fotografien aus dieser Zeit erhielten vor diesem Hintergrund eine ganz neue Bedeutung. Das Begräbnisritual, das ich damals abgelichtet habe, ist mittlerweile beinahe ausgestorben, und Hochzeiten finden kaum noch in den Bergen statt, weil so viele Menschen in die Ebenen, die Städte oder ins Ausland abgewandert sind und sich ihr Zusammenleben stark gewandelt hat. Diese und viele andere Fotografien, die ich Anfang der 1990er-Jahre in Albanien gemacht habe, sind heute ein Stück Erinnerungsgeschichte. Sie sind in der Lage, Assoziationen und Gefühle zu evozieren, die im Taumel der rapiden Veränderung verloren gegangen sind.

Für den vorliegenden Beitrag überarbeitete Robert Pichler folgenden Artikel: Pichler, Robert: Travel-ling pictures: Remnants of Albanian mountain culture and their changing perception by different audiences. In: Science and Video. Des écriture multimedia en science humaines. N° 6

(La photographie de famille en Méditerranée, de l‘intime au politique). Université d‘Aix-Marseille,  Maison méditerranéenne des sciences de l‘homme, 2017. http://scienceandvideo.mmsh.univ-aix.fr/numeros/6/Pages/06.aspx

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161A n d r e a G r i l l , G e d i c h t e

Teller mit Erdbeeren

vor die blühendenLaubbäume gereihtdu kaufst einenreservierst für späterdas produzieren wirjetzt alles selberdu sprichst sanftwie immer, rauchstwie immer, wir prostenmit Erdbeeren, klingFruchtwangenim AschenbecherStummel vonSamenfleisch &Tabakpapier, wir

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Olson LamajAus der Serie: Detail viewFotografie2010

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163 Andrea Grill: Gedichte

Lebensart

Würden Sie kurz meine Birnehalten, sagte sie, ich habezu tun die Händevoll, es gebe Leutesagte sie, diedekorierten ihre Räumemit getrockneten BananenSchalen und alten Teebeutelnhängten sich das andie Wand & wohntenin konsumierten Konsumgüterngemütlich & still

Liebeskummer

Dass jetzt dieRibisel sauberin der Schaleder Strauchkahl

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Olson LamajAus der Serie: Detail viewFotografie2010

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165 Andrea Grill: Gedichte

Abendnachrichten

In den Cafés gibt es längst nichts mehraußer einem Platz zum Sitzen

man vermehrt Stühle wie Taubenglaubt ihnenHerr zu werden,wenn man kein Futter streut

am Platz wo nur Platz istvor der Baumschulewo erstaunlich viele Rosen blühen undKinder sich vor Eltern verstecken

errichtest du eine HeckeZuckerdose Aschenbecher Glasin den Winkeln haust sowas wie Spatzen(Saftreste Brösel Tabak)

der Rest sei ausverkauft,sagt die asiatische Kellnerinmein kleiner Finger jagt Kaffee

würde ich dich nicht kennenhätte ich mich längst verabschiedet

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166 Andrea Grill: Gedichte

Mal del Paese

Oft habe ich mich nach dem Wintergesehntmitten im Sommeroft im Frühling

nach Tagen wie enorme Stückefeucht gewordener Wattedie ich miteinem einzigenschwitzenden Fingerschon versenge

Waldsagt sienicht Bäume oder das Grüneoder aufs Land,hast du gewusstdass eine erschlagene Mückenach Erde riechtauf der Hand

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167 Andrea Grill: Gedichte

Windschutzscheibenputzer

Wieder beginnen wir wie damalsin einer alten Nacht;

er springt, greift zuhat Wasser bei der Hand, alle Bächeaus diesem trockenen Landeinen Moment langauf den Scheiben

er ist ein Gott, der entscheidetwas wir zu sehen kriegen,trägt die Münze im Ohr

er springt, greift zuzwei Striche am Glasin beiden Ohren glänzt Metall,die dritte legt er sichunter die Zunge

Aus: Grill, Andrea: Happy Bastards. Salzburg: Otto Müller Verlag, 2011.

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Autorinnen & Autoren

FATOS BAXHAKU

Geb. 1964 in Tirana. Studium der Geschichte (Diplom 1986), 1986–1992 Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Wissenschaftlichen Akade-mie in Tirana. 1993–1998 Journalist und Chefredakteur der Tageszeitung „Gazeta Shqiptare“, 1998/99 Chefredakteur der Berichterstattung der privaten Fernsehanstalt TV Klan. Es folgten leitende Redaktionsstellen, Drehbucharbeiten und Mitgestaltungen für TV-Reportagen u. a. bei Top Channel, DigitAlb und Radio Televizioni Shqiptar; mehrere Jahre Lehr-beauftragter an der Abteilung für Journalismus der Universitäten Tirana und Elbasan. Mit diversen nationalen und internationalen Journalismuspreisen ausge-zeichnet, ist er Autor und Co-Autor etlicher Bücher. Zuletzt erschien bei Dituria „Gra të përgjithshme“ (dt. „Prostitution zur Zeit des Königs Zog“ [Titelübersetzung von F. B.])Zurzeit freier Journalist und Autor.

STEFAN ÇAPALIKU

Geb. 1965 in Shkodra. Sprach- und Literaturstudium in Albanien, Italien, Tschechien und Großbritannien, 1996 Promotion an der Universität Tirana. 1998 bis 2005 Leiter der Literaturabteilung des Albanischen Kulturministeriums. Seit 2005 ist er Professor am Zentrum für Albanologie in Tirana.Sein literarisches Werk umfasst Essays, Prosa, Gedichte und mehr als 20 Theaterstücke, die bei internationalen Theaterfestivals aufgeführt wurden. Einige seiner Werke wurden übersetzt, darunter ins Englische, Deutsche, Französische, Italienische, Rumänische und Türkische.

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NERITAN CEKA

Geb. 1941 in Tirana als Sohn des ersten albanischen Archäologen Hasan Ceka. Promotion in Frühgeschichte und Archäologie an der Universität Tirana. Zu seinen ersten Grabungen zählte die „Illyrische Nekropole von Selca e Posthme“ mit ihren berühmten in Felsen geschlagenen Königs-gräbern. In der illyrischen Stadt Byllis brachten seine Arbeiten wesentli-che Bauwerke der antiken Agora zum Vorschein. Prof. Ceka war Direktor des Albanischen Archäologischen Instituts (1990–1992) und Leiter der archäologischen Ausgrabungen in Apollonia und Butrint (2004–2005). Aktuell ist er wissenschaftlicher Berater für das Albanische Archäologi-sche Institut.Mit Beginn der albanischen Demokratisierungsprozesse fungierte er 1991, 1997, 2001 und 2005 als gewähltes Mitglied des Parlaments, als Innenminister (1997/98), Vizepräsident des Parlaments (2007–2009) und Albanischer Botschafter in Rom (2013–2016).

ILIR FERRA

Geb. 1974 in Durrës, im Alter von 16 Jahren mit seiner Familie nach Österreich ausgewandert. Studium der Übersetzung für die Sprachen Italienisch und Englisch an der Universität Wien, Abschluss 2004. Für seine erste Erzählung, „Halber Atem“, erhielt er den Preis „Schreiben zwischen den Kulturen 2008“ der Edition Exil. Sein Roman „Rauch-schatten“ (Hollitzer Verlag, Wien) wurde 2012 mit dem „Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis“ der Robert-Bosch-Stiftung ausgezeichnet. Das „Österreichische Staatsstipendium für Literatur“ und das „Grenzgänger-Stipendium“ des Literarischen Colloquium Berlin folgten. Neben Lyrik und Essays liegt mittlerweile sein zweiter Roman, „Minus“ (Hollitzer Verlag, 2015), auf. Ilir Ferra lebt in Wien als Autor und freier Übersetzer.

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KURT GOSTENTSCHNIGG

Geb. 1965 in Eibiswald/Stmk. Promovierter Historiker, Albanologe, Über-setzer und Dolmetscher für Albanisch. Seine Forschungen umfassen sämtliche Aspekte der Geschichte der österreichisch-albanischen Bezie-hungen, Fragen der albanischen Ethnogenese sowie der Übersetzung philosophischer Terminologie. Ab 1993 wirkte er als Lektor an den Universitäten in Tirana, Wien, Graz und Shkodra. 2014–2017 Anstellung im Rahmen des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) für das Projekt „Die österreichisch-ungarische Albanologie 1867–1918 – ein Fall von Kulturimperialismus?“ an der Abteilung für Südosteuropäische Geschichte, Universität Graz. Die Forschungsergebnisse dieses Projekts veröffentlichte er 2018 bei Springer VS unter dem Titel: „Wissenschaft im Spannungsfeld von Politik und Militär. Die österreichisch-ungarische Albanologie 1867–1918“.

ANDREA GRILL

Geb. 1975 in Bad Ischl/OÖ. Sie studierte Biologie in Salzburg und Thessaloniki und promovierte 2003 an der Universität Amsterdam mit einer Arbeit über die Schmetterlinge Sardiniens. 2005 erschien ihr literarisches Debüt „Der gelbe Onkel“. 2011 erhielt sie den „Förderpreis zum Bremer Literaturpreis“, 2013 den „Förderpreis der Stadt Wien“ im Bereich Literatur. 2017 wurde ihr die Buchprämie des Bundeskanzleramts für ihre Übertragung des Lyrikbands „Der Schlaf des Oktopus“ von Ervina Halili (Edition Korrespondenzen) aus dem Albani-schen zuerkannt. Bei Zsolnay erschien zuletzt der Roman „Das Paradies des Doktor Caspari“ (2015), ihre Lyrik veröffentlichte sie im Otto Müller Verlag, u. a. „Happy Bastards“ (2011) und „Safari, innere Wildnis“ (2014). Andrea Grill lebt in Wien als Schriftstellerin und Übersetzerin.

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ISMAIL KADARE

Geb. 1936 in Gjirokastra, gilt Ismail Kadare seit Jahrzehnten als der re-nommierteste Autor Albaniens. Der literarische Durchbruch gelang ihm 1964 mit dem Roman „Der General der toten Armee“, der ihn zudem, ausgehend von einer französischen Übersetzung, in den 1970er-Jahren international berühmt machte. 1990 beantragte er aus Protest gegen die Gefahr der Verschleppung der albanischen Demokratisierung politisches Asyl in Frankreich.Der Autor hat für seine Werke mittlerweile zahlreiche Preise erhalten, darunter als Erster den „Man Booker International Prize“ (2005); er ist Mitglied zahlreicher Akademien und Offizier der französischen Ehren- legion. Seit Jahren gilt er als Kandidat für den Literaturnobelpreis. Seine zahlreichen Romane liegen mittlerweile in mehr als 40 Über- setzungen auf.Ismail Kadare lebt und schreibt heute in Paris und Tirana.

LULJETA LLESHANAKU

Dichterin, Übersetzerin und Drehbuchautorin. Seit 1994 veröffentlichte sie acht Gedichtbände auf Albanisch, von denen bislang zwölf Überset-zungen u. a. in den USA, in Großbritannien, Österreich, Polen, Frankreich, etc. erschienen sind. 2000 erhielt sie die Auszeichnung „Pena e Arg-jendtë“ [dt. „Die versilberte Schreibfeder“] des Albanischen Kulturminis-teriums, 2009 den slowenischen internationalen Preis „Kristal Vilenica“. Preisträgerin der Buchmessen in Priština und Tirana 2013, des „KULT 2013“ und des „PEN Albania 2016“.Die Shortlisten diverser internationaler Auszeichnungen nominierten ihre Werke für: „Best Translated Book Award 2011“, „European Poet of Freedom 2012“, „2013 Popescu Prize“ und den „Balkanika 2016“. Die Autorin ist derzeit zudem am Institut zur Erforschung der kommu-nistischen Verbrechen und deren Folgen in Albanien (ISKK) tätig.

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MIKAELA MINGA

Promovierte Ethnomusikologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Kulturanthropologie und Kunstgeschichte am Zentrum für Albanologische Studien in Tirana. Gastdozentin an der Universität der Künste, Tirana. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf den Musikphä-nomenen des 20. Jahrhunderts (von der Popular- und Kunstmusik bis zur traditionellen Musik) mit einem speziellen Fokus auf Genres, die sich aus der urbanen Musikpraxis in Albanien und dem mediterranen Raum entwickelten, auf den Dynamiken des musikalischen Schaffens unter den Bedingungen diktatorischer Regime und auf Filmmusik. Sie veröffentlichte bislang die Monografien „Luciano Berio dhe Folk Songs“ (2006) und „Spanja Pipa e la canzone urbana di Korça“ (2015) sowie Essays und journalistische Artikel.

ROBERT PICHLER

Der promovierte Historiker arbeitet im Bereich Balkanforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und als Lektor an den Universitäten Wien und Graz. Er ist Mitherausgeber der interdiszipli-nären Zeitschrift „Contemporary Southeastern Europe“ und Vorsit-zender des Center for Balkan Societies and Cultures (CSBSC). Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration und translokale Beziehungen, Familie und Verwandtschaft, Nationsbildungsprozesse sowie Visual Studies. 2004 erhielt er gemeinsam mit Wolfgang Petritsch den „Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch“.Als Fotograf arbeitet er an der Schnittstelle zwischen Dokumentar- und Kunstphotographie. 2011 erhielt er den „Holding Graz Photo Award“ für „Nightmares and Nightingales“. Aktuell tourt seine Ausstellung „Flashback. Albania in the 1990s“ durch mehrere Städte Albaniens.

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MECHTHILD YVON

Seit 40 Jahren freiberufliche Konferenzdolmetscherin und Übersetze-rin für internationale Organisationen. Seit 15 Jahren ist sie nach einem Studium der Geschichte mit dem Schwerpunkt österreichische Zeit- und Wissenschaftsgeschichte auch als Historikerin tätig.Im Zuge ihrer Forschungsarbeiten zum Thema Wiener Universität unter dem Nationalsozialismus und über den Dekan der philosophischen Fa-kultät, Viktor Christian, stieß sie auf Norbert Jokl. Ihre Forschungen über dessen Schicksal erschienen 2004 in „Geraubte Bücher. Die Österreichi-sche Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit“.

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Impressum

Herausgeber: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres – Sektion für Kulturelle Auslandsbeziehungen, Wien© 2018

Leitung: Teresa Indjein (BMEIA)Redaktion: Renate Seib (BMEIA), Anna GadzinskiRecherche: Egin CekaÜbersetzung: Zuzana Finger, Andrea Grill, Joachim Röhm

Texte:Wir danken folgenden Autoren und Autorinnen sowie Verlagen für die Freigabe zum redigierten Abdruck bzw. zur Übersetzung: Fatos Baxhaku/Dituria, Andrea Grill/Otto Müller Verlag, Luljeta Lleshanaku/OMBRA GVG, Ismail Kadare/Naim Frashëri, Robert Pichler/MMSH (vom Autor überarbeitete Fassung) und Mechthild Yvon/Österreichische Nationalbibliothek.

Bei den Artikeln/Essays von Stefan Çapaliku, Neritan Ceka, Ilir Ferra, Kurt Gostentschnigg und Mikaela Minga handelt es sich um Originalbeiträge.

Bilder:© Jutta Benzenberg: S. 19, 34, 46, 47, 85, 88, 94–97 © Kunsthistorisches Museum Wien: S. 107 © Olson Lamaj: S. 162, 164© Marubi National Museum of Photography: S. 101, 112–115© Alban Muja: S. 10, 11, 20, 21, 62, 63© Österreichische Nationalbibliothek: S. 66, 68, 72, 77© Robert Pichler: S. 148–150, 152, 153, 155 © Shkelzen Rexha: S. 135

Gestaltung/Bildredaktion: Carola Wilkens, Grafik-DesignUmschlaggestaltung unter Verwendung der Arbeit: Jutta Benzenberg, Katharina, Tochter des albanischen Schriftstellers Ardian Klosi , Fotografie, 2002

Koordination: Julia NiehausDruck und Bindung: Grasl Druck & Neue Medien GmbH, Bad VöslauISBN 978-3-9504271-5-8

Rückfragen: Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres – Sektion für Kulturelle Auslandsbeziehungen, Minoritenplatz 8, 1010 Wien, [email protected] | www.bmeia.gv.at/europa-aussenpolitik/auslandskultur/

Page 178: GEMEINSAMES NEUENTDECKEN...Idylle begegnet man im Beitrag von Stefan Çapaliku gleich in vier Anekdoten. Die Österreicher_innen hätten „die linden Düfte der Zivilisation“ gebracht,

AUSTRIA - ALBANIA CULTURAL YEAR 2018

T Ë R I Z B U L O J M ËT Ë P Ë R B A S H K Ë T A T