Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich – Offene Fragen im Rahmen von § 18 GenDG

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ZVersWiss (2013) 102:519–536 DOI 10.1007/s12297-013-0255-1 ABHANDLUNG Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich – Offene Fragen im Rahmen von § 18 GenDG Erik Hahn Online publiziert: 30. Oktober 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 Zusammenfassung Der Beitrag behandelt offene Rechtsfragen, die sich im Zusam- menhang mit der Erhebung und Verwendung genetischer Daten im Rahmen der Pri- vatversicherung stellen. Dabei wird zunächst der Inhalt von § 18 GenDG erläutert und die Vorschrift sodann in den Kontext der Mitteilungspflichten des VVG einge- ordnet. Im Anschluss stellt der Beitrag exemplarisch rechtliche Probleme dar, die sich trotz der Kodifikation des GenDG weiterhin stellen und versucht, diese einer Lösung zuzuführen. Gegenstand der vorliegenden Abhandlung sind dabei insbesondere die Stellung genetischer Daten Dritter, die Familienanamnese, die Möglichkeit zur Mit- teilung genetischer Daten durch den Versicherten bei Vorliegen einer medizinischen Indikation, das Verhältnis von prädiktiven und diagnostischen Genuntersuchungen sowie die Reichweite der Summengrenzen von § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG. Abstract The paper refers to legal questions that arise in connection with the col- lection and use of genetic data in the context of private insurance. The content and meaning of § 18 GenDG is described. Then, § 18 GenDG is set in relation to notifi- cation requirements out of the VVG. The paper exemplarily emphasizes that, despite the codification of GenDG, spe- cific legal problems arise. Accordingly, the paper provides solutions to overcome these problems. Particular problems refer to the role of genetic data of third parties and according relations to the family history, possibilities to communicate genetic data by the insured in case of medical indication, the ratio of predictive and diagnos- tic genetic testing and the range of the total limits of § 18 I 2 GenDG. Erweiterte Fassung des Vortrags, den der Autor am 21.03.2013 im Rahmen des Nachmittagsforums „Versicherungsrecht“ auf der DVfVW-Jahrestagung in Berlin gehalten hat. Dr. E. Hahn (B ) Sozialgericht Dresden, Dresden, Deutschland e-mail: [email protected]

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ZVersWiss (2013) 102:519–536DOI 10.1007/s12297-013-0255-1

A B H A N D L U N G

Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich –Offene Fragen im Rahmen von § 18 GenDG

Erik Hahn

Online publiziert: 30. Oktober 2013© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Zusammenfassung Der Beitrag behandelt offene Rechtsfragen, die sich im Zusam-menhang mit der Erhebung und Verwendung genetischer Daten im Rahmen der Pri-vatversicherung stellen. Dabei wird zunächst der Inhalt von § 18 GenDG erläutertund die Vorschrift sodann in den Kontext der Mitteilungspflichten des VVG einge-ordnet. Im Anschluss stellt der Beitrag exemplarisch rechtliche Probleme dar, die sichtrotz der Kodifikation des GenDG weiterhin stellen und versucht, diese einer Lösungzuzuführen. Gegenstand der vorliegenden Abhandlung sind dabei insbesondere dieStellung genetischer Daten Dritter, die Familienanamnese, die Möglichkeit zur Mit-teilung genetischer Daten durch den Versicherten bei Vorliegen einer medizinischenIndikation, das Verhältnis von prädiktiven und diagnostischen Genuntersuchungensowie die Reichweite der Summengrenzen von § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG.

Abstract The paper refers to legal questions that arise in connection with the col-lection and use of genetic data in the context of private insurance. The content andmeaning of § 18 GenDG is described. Then, § 18 GenDG is set in relation to notifi-cation requirements out of the VVG.

The paper exemplarily emphasizes that, despite the codification of GenDG, spe-cific legal problems arise. Accordingly, the paper provides solutions to overcomethese problems. Particular problems refer to the role of genetic data of third partiesand according relations to the family history, possibilities to communicate geneticdata by the insured in case of medical indication, the ratio of predictive and diagnos-tic genetic testing and the range of the total limits of § 18 I 2 GenDG.

Erweiterte Fassung des Vortrags, den der Autor am 21.03.2013 im Rahmen des Nachmittagsforums„Versicherungsrecht“ auf der DVfVW-Jahrestagung in Berlin gehalten hat.

Dr. E. Hahn (B)Sozialgericht Dresden, Dresden, Deutschlande-mail: [email protected]

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1 Einleitung

Dem Fortschritt in der Humangenetik ist es zu verdanken, dass diese Technik für eineVielzahl von Lebensbereichen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Zu denken ist hieretwa an die Diagnostik von Krankheiten, die Beantwortung der Frage nach der ge-sundheitlichen Eignung einer Person für ein bestimmtes Arbeitsverhältnis, die Fest-stellung eines Risiko zukünftiger Erkrankungen, die Abstammungsuntersuchung, dieAufdeckung eines erhöhten Versicherungsrisikos, die Überprüfung auf Unverträg-lichkeiten bei bestimmten Medikamenten sowie – eine neue Lifestyle-Entwicklung– an den Test auf die genetische Eignung für bestimmte Diäten (Gendiät). So viel-fältig diese Anwendungsmöglichkeiten ausfallen, so mannigfaltig sind auch die mitihnen verbundenen Rechtsfragen. Mit dem am 1. Februar 2010 in Kraft getretenenGenDG hat der Gesetzgeber den Versuch unternommen, zumindest den überwiegen-den Teil dieser Rechtsfragen innerhalb eines aus nur 27 Paragraphen bestehendenGesetzes zu beantworten. Ein Anspruch auf vollständige Regelung der Humangene-tik bestand dabei jedoch nicht. Bereits im Gesetzgebungsverfahren wurde etwa dernoch im GenDG-E 2006 enthaltene1 Bereich der Forschung durch § 2 Abs. 2 Nr. 1GenDG ausdrücklich herausgenommen. Erst nachträglich wurde die in vitro erfol-gende genetische Untersuchung von embryonalen Zellen in § 3a ESchG geregelt.2

Einer der im GenDG konzentriert geregelten Lebensbereiche ist die Gewinnungund Berücksichtigung der Ergebnisse genetischer Untersuchungen in der Privatversi-cherung. Ausgeklammert aus dem VVG enthält der vierte Abschnitt des GenDG diewesentlichen, auf insgesamt drei Sätze beschränkten Grundlagen des Umgangs mitgenetischen Daten im Versicherungsrecht. Diese bilden den Gegenstand des vorlie-genden Beitrags. Sie werden nachfolgend zunächst dargestellt und sodann exempla-risch auf bisher offen gebliebene Rechtsfragen untersucht.

2 Verhältnis von § 18 GenDG und VVG

Durch den Abschluss eines Versicherungsvertrags verpflichtet sich der Versicherernach § 1 S. 1 VVG, ein bestimmtes Risiko des Versicherungsnehmers oder eines Drit-ten durch eine Leistung abzusichern. Diese hat er bei Eintritt des vereinbarten Versi-cherungsfalls zu erbringen. Als Gegenleistung hat der Versicherungsnehmer an denVersicherer die vereinbarte Zahlung (Prämie) zu leisten. Weder der Versicherungs-nehmer noch der Versicherer wissen, wann bzw. ob der Versicherungsfall tatsäch-lich eintreten wird. Der Versicherungsvertrag kann demnach als aleatorischer Vertragklassifiziert werden.3 Dabei sind der mögliche Schadensumfang und die individuelleWahrscheinlichkeit des Schadenseintritts maßgeblich für die konkrete Ausgestaltung

1BT-Drs. 16/16/3233, S. 14ff.2Vgl. dazu Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 1, Rn. 6.3Gruber, Geldwertschwankungen und handelsrechtliche Verträge in Deutschland und Frankreich, 2000,S. 631; Medicus/Lorenz, Schuldrecht BT, 15. Aufl. 2010, S. 227, 241ff.; Oetker/Maultzsch, VertraglicheSchuldverhältnisse, 3. Auflage 2007, S. 10.

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des Versicherungsvertrags, d.h. insbesondere die vom Versicherer bereitzuhaltendeVersicherungssumme und die vom Versicherungsnehmer zu zahlende Prämie.

Um dem Versicherer eine Einschätzung des Versicherungsrisikos zu ermögliche,muss der Versicherungsnehmer nach § 19 Abs. 1 S. 1 VVG bis zur Abgabe sei-ner Erklärung die ihm bekannten Gefahrenumstände,4 die für den Entschluss desVersicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, erheblich sindund nach denen der Versicherer in Textform gefragt hat, dem Versicherer anzeigen.Weitere Fragen des Versicherers nach der Erklärung des Versicherungsnehmers, abernoch vor dessen eigener Annahmeerklärung, sind vom Versicherungsnehmer gem.§ 19 Abs. 1 S. 2 VVG ebenfalls zu beantworten. Verletzt er diese Pflicht, bestehtfür den Versicherer unter den in §§ 19ff. VVG genannten Voraussetzungen grund-sätzlich das Recht zur Kündigung, zum Rücktritt, zur Anfechtung sowie zur Anpas-sung des Vertrags. Für die private Krankenversicherung sind diese Gestaltungsrechtedurch die §§ 194 Abs. 1 S. 3 und 206 Abs. 1 S. 1 VVG jedoch erheblich einge-schränkt.5

Nach dem Eintritt des Versicherungsfalls steht dem Versicherer zudem ein umfas-sendes Auskunftsrecht nach § 31 VVG zu, das sich unter anderem auch auf die Ein-sicht in die Behandlungsunterlagen erstreckt.6 Die innerhalb7 des Versicherungsver-hältnisses erfolgende Erhebung von personenbezogenen Gesundheitsdaten bei Drit-ten durch den Versicherer ist in § 213 VVG geregelt. Diese darf nur bei Ärzten,Krankenhäusern und sonstigen Krankenanstalten, Pflegeheimen und Pflegepersonen,anderen Personenversicherern und gesetzlichen Krankenkassen sowie Berufsgenos-senschaften und Behörden erfolgen. Sie setzt voraus, dass die Kenntnis der Daten fürdie Beurteilung des zu versichernden Risikos oder der Leistungspflicht erforderlichist und die betroffene Person eine Einwilligung erteilt hat.

Das System der Informationsermittlung nach dem VVG wird durch das GenDGteilweise eingeschränkt, soweit die Daten durch die Methode der humangenetischenUntersuchung erhoben werden. Dabei ist zwischen Erhebungs- und Verwertungver-boten zu differenzieren.

3 § 18 GenDG – Kurzdarstellung des Inhalts

3.1 Anwendungsbereich

Der Anwendungsbereich von § 18 GenDG umfasst die Erhebung, Entgegennahmeund Verwendung von Daten beziehungsweise Ergebnissen aus einer Untersuchung

4Vgl. dazu Prölss, in: Prölss/Martin (Hrsg.), VVG, 28. Aufl. 2010, § 19, Rn. 5ff.5Zur Diskussion um die Reichweite des Kündigungsverbots und die Frage der Erstreckung auf die außer-ordentliche Kündigung vgl. Langheid, in: Römer/Langheid, VVG, 3. Aufl. 2012, § 206, Rn. 3; ders., NJW2007, 3745 (3749); BGH, NJW 2012, 376 (377).6Vgl. dazu Bähr/Reuter, VersR 2011, 953ff.7Rixecker, in: Römer/Langheid (Hrsg.), VVG, 3. Auflage 2012, § 213, Rn. 3.

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genetischer Eigenschaften i.S.v. § 3 Nr. 4 GenDG. Dabei handelt es sich um ererbteoder während der Befruchtung oder bis zur Geburt erworbene, vom Menschen stam-mende Erbinformationen.8 Postnatal hinzuerworbene Eigenschaften werden nicht er-fasst.9

Eine zeitliche Einschränkung enthält § 18 GenDG nicht.10 Die Regelung gilt so-wohl vor als auch nach dem Abschluss eines neuen Versicherungsvertrags sowie beider Änderung oder Reaktivierung von Altverträgen.11 Das Vorliegen einer Versiche-rungspflicht im betroffenen Lebenssachverhalt ist ebenfalls unbeachtlich.12

Sowohl nach ihrem Wortlaut als auch nach ihrem Sinn und Zweck ist die Vor-schrift auf den Bereich der Privatversicherung zugeschnitten.13 Es erscheint aber zu-mindest nicht ausgeschlossen, auf den Rechtsgedanken von § 18 GenDG zurück-zugreifen, wenn der Gesetzgeber de lege ferenda genetische Differenzierungen imRahmen der Sozialversicherung zulassen würde.14 In jedem Fall würde hier das all-gemeine genetische Diskriminierungsverbot des § 4 GenDG als Auffangtatbestandgreifen.15

3.2 Verbote des § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG

Einwilligungsunabhängig16 untersagt § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG dem Versicherer, vomVersicherten vor oder nach Abschluss des Versicherungsvertrags die Vornahme ge-netischer Untersuchungen oder Analysen zu verlangen oder die Mitteilung von Er-gebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen oderAnalysen zu verlangen bzw. solche Ergebnisse oder Daten entgegenzunehmen oderzu verwenden.

3.2.1 Erhebungsverbot nach § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG

In § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 enthält das GenDG ein Erhebungsverbot. Dieses soll verhin-dern, dass der Versicherte durch eine Aufforderung des Versicherers zur Vornahmeeiner genetischen Untersuchung gezwungen werden kann.17 Ziel des Verbots ist derSchutz des in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Rechts auf Nichtwis-sen des Versicherten.18

8Zum Begriff vgl. Fenger, in: Spickhoff (Hrsg.), Medizinrecht, 2011, § 3 GenDG, Rn. 4; Hahn/Schwarz,in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 3, Rn. 21ff.; BT-Drs. 16/10532, S. 21.9Stockter, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010, § 18 GenDG, Rn. 10; BT-Drs.16/10532, S. 21.10Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 10.11Neuhaus, r + s 2009, 309 (315).12Kröger, MedR 2010, 751 (752); Lensing, VuR 2009, 411 (412).13Lorenz, VersR 1999, 1309f.; Mushoff, Forum Recht 01/2005, 4.14Präve, VersR 2009, 857f.; a.A. Fenger, GesR 2010, 57 (59).15Zu den denkbaren Konstellationen vgl. Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 14.16Stockter, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010, § 18 GenDG, Rn. 13.17Eberbach, MedR 2010, 158; Neuhaus, r + s 2009, 309 (315).18Genenger, NJW 2010, 113.

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Wörtlich setzt die Vorschrift ein „Verlangen“ und damit ein aktives Einfordern19

durch den Versicherer voraus. Freiwilliges Anbieten durch den Versicherten genügtdemnach nicht.20 Die erfassten „Verlangenshandlungen“ werden durch den Tatbe-stand nicht näher konkretisiert. Es ist demnach von einem extensiven Verständnisauszugehen.21 Konkret folgt daraus beispielsweise, dass bereits das werbende Ver-sprechen einer geringeren Versicherungsprämie bei Vornahme einer genetischen Un-tersuchung ein Verlangen im Sinne von § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG darstellenkann. Neben der unmittelbar aus § 26 Abs. 1 Nr. 8 u. 9 GenDG folgenden Buß-geldandrohung käme in diesem Fall auch ein wettbewerbsrechtlicher Verstoß gegeneine Marktverhaltensregel nach §§ 3 und 4 Nr. 11 UWG in Betracht.

3.2.2 Verlangens-, Entgegennahme- und Verwertungsverbot für bereitsvorgenommene genetische Untersuchungen und Analysen

Neben dem Erhebungsverbot, dass die Entscheidungsfreiheit des Versicherten überdie Vornahme einer genetischen Untersuchung schützt, enthält § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2GenDG ein Verlangens-, Entgegennahme- und Verwertungsverbot für die Ergebnisseund Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen und Analysen.Dabei handelt es sich um einen unmittelbaren Ausdruck des Rechts auf informatio-nelle Selbstbestimmung des Versicherten.22 Vor dem Hintergrund dieser verfassungs-rechtlichen Anknüpfung – die zumindest dem Grunde nach eine Informationsfreiga-be durch den Betroffenen ermöglichen müsste – erscheint es zunächst bedenklich,dass das Verbot unabhängig davon zur Anwendung kommen soll, ob die Ergebnisseaus Sicht des Versicherten günstig sind, oder für ihn mit Nachteilen verbunden seinkönnen.23 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers soll der möglichst weite Anwen-dungsbereich aber einer Umgehung der Verbote des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDGentgegenwirken. Anderenfalls könnte – etwa durch Prämiensenkungsangebote beigeringen genetischen Risiken – mittelbar der Druck entstehen, sich doch testen zulassen.24 Nachvollziehbar erschiene dieses Szenario jedenfalls dann, wenn die Mög-lichkeit zur Informationsfreigabe mit der ökonomisch naheliegenden Entscheidungvon Versicherern zum Angebot „teurerer Einstiegstarife“ kombiniert würde.25 Kämedanach letztlich nur der „mitwirkungsbereite“ Versicherte in den Genuss „risikoad-äquater Normaltarife“ bliebe vom Ziel des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG nicht mehrals ein wohlgemeinter Programmsatz.

• Verlangen der Mitteilung von Ergebnissen oder Daten

§ 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Alt. 1 GenDG verbietet das Verlangen der Mitteilung vonErgebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Untersuchungen

19Kröger, MedR 2010, 751 (752).20Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 19.21Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 20.22Stockter, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010, § 18 GenDG, Rn. 3.23So etwa Looschelders, VersR 2011, 697 (700), a.A. Heyers, MedR 209, 507 (512).24BT-Drs. 16/10532, S. 36.25Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 20.

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oder Analysen. Die Vorschrift steht damit im unmittelbaren Zusammenhang mit § 19Abs. 1 VVG und modifiziert bzw. beschränkt die Anzeigepflicht des Versicherten.Neben dieser, dem Gesetzeswortlaut unmittelbar zu entnehmenden, Wirkung ver-bietet die Regelung nach dem Willen des Gesetzgebers zudem sogar die Frage desVersicherers danach, ob überhaupt ein Gentest vorgenommen wurde.26 Diesem sehrextensiven Verständnis liegt die Befürchtung zugrunde,27 dass bereits die Kenntnisvon der Vornahme einer Untersuchung durch den Versicherten in die individuelle Ri-sikobewertung einfließen könnte:28 Nur ein Versicherter, der die (ggf. begründete)Sorge hat, dass bei ihm ein erhöhtes genetisches Risiko für eine Erkrankung vorliegt,werde schließlich einen solchen Test vornehmen lassen. Eine auf diese Weise ermög-lichte indirekte Berücksichtigung genetischer Risiken würde die Regelung jedochaushebeln und sei daher auszuschließen.29

Gegen diese Überlegung spricht aber, dass mit der verstärkten Ausbreitung gene-tischer Untersuchungen in vielfältigen Lebensbereichen und der Zunahme von sog.Lifestyletests die Akzeptanz von humangenetischen Untersuchungen in der Bevöl-kerung allgemein anwachsen dürfte. Nimmt aber somit auch der Anteil der bereitsgenetisch untersuchten Personen zu, wird diese Entwicklung den oben genanntenaussagekräftigen Rückschluss auf ein individuelles Krankheitsrisiko ohnehin erheb-lich erschweren bzw. sogar ausschließen. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass § 18GenDG seinen Anwendungsbereich ausdrücklich auf „Ergebnisse oder Daten aus be-reits vorgenommenen genetischen Untersuchungen oder Analysen“ beschränkt. Eingenerelles Verbot der Verwendung prädiktiver Aussagen – wie etwa der Familienana-mnese – enthält er dagegen gerade nicht.30 Aus dem Umstand, dass überhaupt einegenetische Untersuchung vorgenommen wurde, kann aber regelmäßig nur darauf ge-schlossen werden, dass beim Versicherten entweder ein bisher nicht hinreichend dia-gnostiziertes Leiden besteht, oder der Versicherte – etwa aufgrund von Erkrankun-gen in der Familie – das Vorhandensein eines eigenen, erhöhten genetischen Risikosbefürchtet. Das der Gesetzesbegründung31 zu entnehmende Frageverbot verhindertdemnach überhaupt nicht die Offenbarung von Ergebnissen einer genetischen Unter-suchung oder Analyse sondern allenfalls eines nicht auf den Inhalt eines Gentestsgestützten genetischen Risikos. In der Konsequenz hätte dann aber auch die sog.Familienanamnese infolge von § 18 GenDG ausgeschlossen sein müssen. Eine soweitgehende Interpretation stößt in der Literatur jedoch überwiegend auf eine mitgewichtigen Argumenten versehene Ablehnung.32

26Kröger, MedR 2010, 751 (753); Ziegler/Ziegler, F&L 2010, 659. Das gilt auch für die Frage nach derVornahme eines Gentest durch eine genetisch verwandte Person: Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012,§ 18, Rn. 32.27BT-Drs. 16/10532, S. 36.28Lensing, VuR 2009, 411 (412).29BT-Drs. 16/10532, S. 36.30Vgl. Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 62.31BT-Drs. 16/10532, S. 36.32Vgl. dazu unten: Abschn. 4.1.2.

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• Entgegennehmen von Ergebnissen oder Daten

Nach § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 GenDG ist dem Versicherer auch die bloße Ent-gegennahme von Ergebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischenUntersuchungen oder Analysen untersagt. Dabei wird weithin verlangt, den Tatbe-stand des Entgegennehmens durch die Notwendigkeit einer „versicherungsspezifi-schen“ Verwendungsabsicht33 einzuschränken. Dem ist vor dem Hintergrund des er-läuterten Schutzzwecks von § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG zuzustimmen. Das Verbotverhindert daher weder die privatversicherungsrechtliche Erstattungsfähigkeit ärztli-cher Leistungen,34 die auch eine genetische Untersuchung beinhalten, noch erfülltdie bloße körperliche Entgegennahme, etwa durch den Eingang in der Poststelle desVersicherers oder durch automatisches Einlesen der Post, den Verbotstatbestand.35

• Verwendung von Ergebnissen oder Daten

Als letzte Alternative enthält § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG das Verbot der Ver-wendung von Ergebnissen oder Daten aus bereits vorgenommenen genetischen Un-tersuchungen oder Analysen. Der Begriff „Verwendung“ ist dabei nach Sinn undZweck der Vorschrift ebenfalls als versicherungsspezifische Verwendung zu verste-hen.36 Diese liegt spätestens vor, sobald eine Auswirkung auf die Risikokalkulationgegeben ist.37 Ein Verstoß gegen das Verwendungsverbot ist nach § 26 Abs. 1 Nr. 5GenDG mit Geld oder Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr bedroht.

• Ausnahmen für „Luxusversicherungen“

Das Verlangens-, Entgegennahme- und Verwertungsverbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2GenDG wird durch Abs. 1 S. 2 für sogenannte Luxusversicherungen eingeschränkt.Für Berufsunfähigkeits-, Erwerbsunfähigkeits-, Pflegerenten- und Lebensversiche-rungen gilt es dann nicht, wenn eine Versicherungsleistung von einmalig mehr als300.000 € oder mehr als 30.000 € Jahresrente vereinbart wird. Ziel der Regelung istder Schutz vor einer Antiselektion. Diese ist zu befürchten, wenn der Versicherte inKenntnis seiner genetischen Merkmale diesen Wissensvorsprung ausnutzt und zielge-richtet einen Versicherungsvertrag mit hoher Versicherungssumme beziehungsweiseniedriger Versicherungsprämie oder kurzer Laufzeit abschließt.38 Eine Antiselektionbirgt die Gefahr, dass schlechte Risiken in einem Versicherungsprodukt kumuliertwerden und dadurch zu dessen Unwirtschaftlichkeit führen.39 Im Umkehrschlussbringt der Gesetzestext durch die Festlegung von Summengrenzen aber auch zum

33Armbrüster, VW 2010, 1309f.; Neuhaus, r + s 2009, 309 (316).34So aber Ziegler/Ziegler, F&L 2010, 658 (659).35Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 26. Für den letztgenannten Fall vgl. BT-Drs. 16/10532,S. 36.36Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 30.37Kröger, MedR 2010, 751 (753). Noch strenger: Präve, VersR 2009, 857 (860) und Ziegler/Ziegler,ZVersWiss 2011, 29 (37).38Lorenz, in: Müller/Osterloh/Stein (Hrsg.), FS-Hirsch, 2008, S. 397 (403); Fenger/Schöffski, NVersZ2000, 449 (452f.).39Präve, VersR 2009, 857 (861).

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Ausdruck, dass zumindest unterhalb dieser Werte eine Ausnutzung des Wissensvor-sprungs durch den Versicherten zu akzeptieren ist.

Die in § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG enthaltene Aufzählung von Versicherungstypenist abschließend.40 Eine Verwendung der im Rahmen der Bereichsausnahme gewon-nenen Informationen für andere Zwecken, etwa für andere Versicherungstypen oderPersonen, ist unzulässig.41

3.3 Pflicht zur Mitteilung von Erkrankungen und Vorerkrankungen nach § 18Abs. 2 GenDG

Mit § 18 Abs. 2 GenDG stellt der Gesetzgeber klar, dass der Versicherte Erkrankun-gen und Vorerkrankungen ungeachtet des 18 Abs. 1 GenDG mitzuteilen hat. Insoweitbleibt es demnach bei der Rechtslage nach dem VVG. Die Mitteilungspflicht bestehtunabhängig davon, ob die mitzuteilende Erkrankung durch eine genetische Untersu-chung festgestellt wurde oder ausschließlich genetisch bedingt ist.42

Die Regelung erfasst nur die manifestierte Erkrankung bzw. Vorerkrankungselbst.43 Nur diese ist mitzuteilen. Eine darüber hinausgehende Offenbarung der ge-samten Ergebnisse und Daten der genetischen Untersuchung oder Analyse, mit derdie Erkrankung nachgewiesen wurde, wird durch § 18 Abs. 2 GenDG nicht angeord-net.44 Für diese gelten die Verbote des § 18 Abs. 1 GenDG uneingeschränkt.

Bei der Bezugnahme von § 18 Abs. 2 GenDG auf die §§ 19–22 und 47 des VVGhandelt es sich um eine Rechtsgrundverweisung.45 Für den Umfang der Pflichten gel-ten demnach die Grundsätze des VVG. Es sind daher nur gefahrerhebliche Umständeanzuzeigen, die für den Entschluss des Versicherers bedeutsam sind.46

4 Offene Fragen im Rahmen von § 18 GenDG

4.1 Verlangen, Entgegennahme und Verwendung genetischer Informationen Dritterund Verhältnis zur Familienanamnese

Die strikten Verbote des § 18 Abs. 1 GenDG werfen Frage nach dem Verhältnis derVorschrift zu anderen Möglichkeit des Erkenntnisgewinns bzgl. genetischer Eigen-schaften einer Person auf. Zu diesen zählen insbesondere der Rückgriff auf die ge-netischen Daten von Verwandten des Versicherungsnehmers sowie die Nutzung einerFamilienanamnese.

40Kröger, MedR 2010, 751 (754); Präve, VersR 2009, 857 (860).41Lensing, VuR 2009, 411 (412); Stockter, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht,2010, § 18 GenDG, Rn. 21; BT-Drs. 16/10532, S. 36.42Genenger, NJW 2010, 113 (116); Looschelders, VersR 2011, 697 (700).43Neuhaus, r + s 2009, 309 (316).44Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 45; Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29 (40); a.A.wohl OLG Saarbrücken VersR 2012, 557.45Vgl. dazu Fenger, GesR 2010, 57 (59); Heyers, MedR 2009, 507, Fn. 5.46Stockter, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010, § 18 GenDG, Rn. 3; Vgl.BT-Drs. 16/10532, S. 36.

Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich 527

4.1.1 Genetische Untersuchung von Verwandten des Versicherungsnehmers

Nach der Vorstellung des Gesetzgebers werden von den Verboten des § 18 Abs. 1GenDG „auch entsprechende Untersuchungen, Analysen oder Untersuchungsergeb-nisse von Verwandten des Versicherungsnehmers umfasst“ 47. Damit sollte verhindertwerden, „dass die Versicherung über genetische Kenntnisse [zu den] [. . . ] biologi-schen Eltern oder Geschwister[n] des Versicherungsnehmers Rückschlüsse auf diegenetische Beschaffenheit des Versicherungsnehmers“48 zieht.

Diese Lesart ist durch den Wortlaut der Vorschrift zwar nicht ausgeschlossen, einedeutlichere Anknüpfung wäre angesichts ihrer Bedeutung aber jedenfalls zu begrüßengewesen. Immerhin erweitert diese Interpretation den dem GenDG ohnehin zugrun-deliegenden genetischen Exzeptionalismus49 auf zusätzliche Anwendungsbereiche,indem auch der Rückgriff auf die Gesundheitsdaten von Verwandten erheblich ein-schränkt wird.

Nach dem Wortlaut von § 18 Abs. 1 GenDG ist ein „Verlangen und Entgegenneh-men vom Versicherten“ erforderlich. Dieses kann zumindest semantisch auch durchein gegenüber dem Versicherten geäußertes Verlangen der Vornahme eines Gentestsdurch einen Verwandten erfüllt werden. Konsequenterweise müsste dann aber auchdie dem Wortlaut der Vorschrift ebenfalls nicht zu entnehmende Beschränkung aufVerwandte aufgegeben und damit jeder Dritte – also etwa auch der Ehepartner desVersicherten – erfasst werden. Diese Auslegung wäre nicht nur konsequent, sondernauch zweckmäßig. Für den Versicherer wird sich zwar regelmäßig nur ein Rückgriffzumindest vereinzelt auf genetische Verwandte des Versicherten als sinnvoll erwei-sen. Zumindest möglich erscheinen aber auch Konstellationen, bei denen genetischeRisiken des Lebenspartners z.B. ein erhöhtes Bonitätsrisiko des Versicherten zur Fol-ge haben. Hier ist etwa an Unterhaltspflichten bei Krankheit nach § 1572 BGB bzw.allgemein an die Belastung mit Krankheitskosten zu denken.

• Genetische Daten Dritter mit sichere Aussagekraft für den Versicherten

Inhaltlich überzeugen kann der erweiterte Anwendungsbereich von § 18 Abs. 1 S. 1Nr. 2 GenDG jedenfalls in Fällen, in denen die genetischen Merkmale eines Ver-wandten sichere Rückschlüsse auf die genetischen Eigenschaften des Versichertenzulassen. Im Gegensatz zu den §§ 4 und 21 statuiert § 18 GenDG für den Versi-cherungsbereich kein allgemeines genetisches Differenzierungs- bzw. Diskriminie-rungsverbot.50 Dem Versicherer sind vielmehr konkrete Verhaltensweisen untersagt,die alle Daten und Ergebnisse aus genetischen Untersuchungen oder Analysen vor-aussetzen. Beide Begriffe sind wiederum in § 3 GenDG definiert. Danach ist einegenetische Untersuchung gemäß § 3 Nr. 1 GenDG eine auf den Untersuchungszweckgerichtete genetische Analyse zur Feststellung genetischer Eigenschaften oder eine

47BT-Drs. 16/16/3233, S. 44.48BT-Drs. 16/16/3233, S. 44.49Vgl. dazu Damm/König, MedR 2008, 62ff.; Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 1, Rn. 10; Kiehn-topf/Pagel, MedR 2008, 344ff.50Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 62.

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vorgeburtliche Risikoabklärung einschließlich der Beurteilung der jeweiligen Ergeb-nisse. Um eine genetische Analyse handelt es sich nach § 3 Nr. 2 GenDG bei einerauf die Feststellung genetischer Eigenschaften gerichteten Analyse der Zahl und derStruktur der Chromosomen (zytogenetische Analyse), der molekularen Struktur derDesoxyribonukleinsäure oder der Ribonukleinsäure (molekulargenetische Analyse)oder der Produkte der Nukleinsäuren (Genproduktanalyse). Wurden die genetischenInformationen durch eine der genannten Methoden ermittelt, und lassen diese sichereRückschlüsse auf genetische Eigenschaften eines Verwandten der analysierten Personzu,51 so ist der von § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG beabsichtigte Schutz der informationel-len Selbstbestimmung52 nur durch flankierende Umgehungsverbote zu gewährleis-ten. Anderenfalls könnte die Regelung durch einen Rückgriff auf die Untersuchungeiner genetisch verwandten Person letztlich leerlaufen.53

Ein Beispiel für diese Fallgruppe sind Anlagen einer x-chromosomal-dominantvererbbaren Krankheit die beim Vater einer Versicherten festgestellt wurden. Dieselassen den sicheren Schluss zu, dass die Versicherte ebenfalls Anlagenträger ist.54

Durch den Rückgriff auf Verwandte wird hier folglich nur die getestete Person aus-getauscht, ohne dass dieses Einfluss auf die Wertungen des § 18 GenDG entfaltete.

• Genetische Daten Dritter ohne sichere Aussagekraft für den Versicherten im Rah-men von § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 GenDG

Geringerer Schutzbedarf besteht dagegen bei der Heranziehung genetischer Unter-suchungen oder Analysen eines genetischen Verwandten des Versicherungsnehmers,wenn diese allenfalls eine Berechnung der Risikowahrscheinlichkeit, aber keine si-cheren Rückschlüsse zulassen. Eine solche Konstellation ist etwa bei der Mutationnur eines der für die Krankheit Chorea Huntington verantwortlichen Allele bei dergetesteten Person gegeben. Bei dieser besteht die Vererbungswahrscheinlichkeit fürdirekte Nachkommen „nur“ zu 50 %.55 Eine sichere Aussage über die Anlagenträ-gerschaft des Versicherten selbst lässt sich in diesem Fall nicht allein aufgrund dergenetischen Untersuchung des Verwandten treffen.

Die Ausdehnung von § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG auf genetisch verwandte Personenerscheint hier daher nur insoweit erforderlich, als das Erhebungsverbot des Abs. 1S. 1 Nr. 1 betroffen ist. Könnte der Versicherer vom Versicherten die Vornahme ei-ner genetischen Untersuchung eines seiner Verwandten verlangen, wäre insbesonderein dem dadurch häufig betroffenen familiären Kontext zu erwarten, dass psychischvermittelter Druck entsteht, sich testen zu lassen. Das gilt vor allem dann, wennsich der Versicherte gegenüber der zu untersuchenden Person in der Rolle des wirt-schaftlichen Versorgers befindet und der Abschluss einer gerade diese Versorgungsichernden Summenversicherung beabsichtigt ist. Ohne die Erstreckung des Verbots

51Zu dem Problem vgl. Kubiak, Gendiagnostik bei Abschluss von Privatversicherungen, 2008, S. 178.52Kröger MedR 2010, 752f.; Stockter, in: Prütting (Hrsg.), Fachanwaltskommentar Medizinrecht, 2010,§ 18 GenDG, Rn. 3.53Dieses folgt aus dem Umstand, dass § 18 Abs. 1 GenDG die informationelle Selbstbestimmung desVersicherten und nicht die köperliche Unversehrtheit der untersuchten Person schüzen soll.54DRZE, http://tinyurl.com/o9fomsu (abgerufen am 15.09.2013).55Hauberberger/Auff, in: Zeiler/Auff (Hrsg.), Klinische Neurologie II, 2. Aufl. 2007, S. 185.

Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich 529

auf genetisch verwandte Personen wäre hier das Recht auf Nichtwissen der mittelbarbetroffenen Dritten nicht hinreichend gewährleistet.

• Genetische Daten Dritter ohne sichere Aussagekraft für den Versicherten im Rah-men von § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG

Ein zusätzlicher Begründungsbedarf für die Ausdehnung der Verbote auf Dritte be-steht wenn die genetischen Untersuchungen oder Analysen eines genetischen Ver-wandten keine sicheren Rückschlüsse auf genetische Eigenschaften des Versichertenzulassen und zugleich „lediglich“ das Verbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG betrof-fen ist. In diesen Fällen ist das Recht des bereits untersuchten Dritten auf Nichtwis-sen seiner genetischen Eigenschaften überhaupt nicht gefährdet. Vom Versichertenwird demnach nur die Mitteilung von Gesundheitsinformationen verlangt, die einemit ihm genetisch verwandte Person betreffen. Dieses Vorgehen ist für herkömm-liche Gesundheitsdaten ständige und weithin anerkannte Praxis.56 Bezogen auf dieMitteilung genetischer Informationen sprechen zwar Praktikabilitätserwägungen fürdie vom Gesetzgeber vorgeschlagene Reichweite: Im Gegensatz zu anderen Gesund-heitsfragen bzgl. naher Verwandter – wie z.B. nach Adipositas oder frühzeitigemVersterben – wird eine sachgerechte Auskunft über genetische Informationen schließ-lich nur nach Einsicht in fremde Behandlungsunterlagen möglich sein. Dieses ist abersowohl tatsächlich als auch rechtlich nur schwer bzw. überhaupt nicht zu erzwingen-den. Eine daraus folgende Notwendigkeit der Privilegierung gegenüber anderen –etwa im Rahmen einer Familienanamnese erhobenen – Gesundheitsdaten lässt sichaber letztlich nur durch das streitbare57 Konzept des genetischen Exzeptionalismusrechtfertigen. Dieses liegt dem gesamten GenDG zugrunde58 und geht von einer Ein-zigartigkeit genetischer Daten aus, 59 da diese dem Menschen unabänderlich „in dieWiege gelegt“ worden seien.60

4.1.2 Familienanamnese

Bereits bevor die Einbeziehung genetischer Daten in die Risikokalkulation technischmöglich wurde, nutzten Versicherer Gesundheitsfragen zur Berechnung des indivi-duellen Versicherungsrisikos.61 Die Fragen erstrecken sich dabei auch noch gegen-wärtig nicht nur auf Erkrankungen und Vorerkrankungen der Versicherten selbst. Sie

56Brinkmann, Die Zulässigkeit der Verwertung von genetischen Informationen im deutschen und ame-rikanischen Versicherungsrecht, 2006, S. 200; Goerdeler/Lauterbach, ZRP 2002, 115 (119); Damm, in:Colombi Ciacchi/Godt/Rott/Smith (Hrsg.), FS-Brüggemeier, 2009, S. 303 (326); Nationaler Ethikrat, Stel-lungnahmen Prädiktive Gesundheitsinformationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 63.57Nachweise bei Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344 (346f.).58BT-Drs. 16/10532, S. 16; 16/3233, S. 27; dazu Eberbach, MedR 2010, 155 (156); Heyers, MedR 2009,507 (508); Rosenau, in: Duttge/Engel/Zoll (Hrsg.), Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Hu-mangenetik und Recht, 2011, S. 69 (83).59Vgl. dazu Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 1, Rn. 10; Heyers, MedR 2009, 507 (508).60Vgl. BT-Drs. 16/3233, S. 27.61Vgl. Berberich, Zur Zulässigkeit genetischer Tests in der Lebens- und privaten Krankenversicherung,1998, S. 136.

530 E. Hahn

betreffen darüber hinaus auch das Auftreten bestimmter Krankheiten bei dessen nä-heren Verwandten. Diese als Familienanamnese bekannte Erhebungsmethode stieß inder Vergangenheit auf keine grundsätzlichen Vorbehalte.62 Mit der in der Gesetzesbe-gründung zu § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG geäußerten63 und nunmehr auch in § 1 GenDGausdrücklich verankerten Zielstellung hat der Gesetzgeber jedoch zum Ausdruck ge-bracht, dass das GenDG genetische Diskriminierungen beschränken bzw. unterbin-den soll. Die Gefahr einer solchen genetischen Diskriminierung ist aber auch bei einerwissenschaftlich fundierten Familienanamnese nicht von der Hand zu weisen.64 ImSchrifttum wurde diese daher zutreffend als „laienhafte [. . .] Methode zur Ermittlunggenetischer Veranlagung“65 bzw. „genetische Untersuchung im weitesten Sinne“66

bezeichnet. Zu Recht wurde zudem gefordert, dass diese Möglichkeit der Informati-onsgewinnung dem Versicherer vor dem Hintergrund des § 18 Abs. 1 S. 1 GenDGnicht grenzenlos möglich sein darf.67 Auch die Familienanamnese dient schließlichnicht der Aufdeckung manifestierter Erkrankungen oder Vorerkrankungen, sondernausschließlich der Offenlegung genetischer Risiken für eine spätere Erkrankung.68

Abzulehnen ist zumindest die Begründung, eine Privilegierung der Familienana-mnese gegenüber der genetischen Untersuchung sei aufgrund der im erstgenanntenFall vermeintlich geringeren Manifestationswahrscheinlichkeit sachgerecht.69 Zumeinen wäre es nach dieser Argumentation nicht vollständig nachvollziehbar, weshalbdann eine Differenzierung aufgrund relativ aussagekräftiger genetischer Tests unter-sagt wird, während die deutlich unpräzisere Familienanamnese uneingeschränkt be-rücksichtigt werden dürfte.70 Zum anderen erweist sich bereits die Annahme einergeringeren Aussagekraft der Familienanamnese nur in Einzelfällen als zutreffend.Am Beispiel x-chromosomal-dominant vererbbarer Krankheiten zeigt sich, dass al-lein aus einer erfolgten Manifestation der Krankheit beim Vater auf die Anlagenträ-gerschaft der Tochter geschlossen werden kann.71

Ungeachtet dieser Überlegungen ist aber die eingangs erwähnte Anknüpfung desGesetzes an die Technik der genetischen Untersuchung zu beachten. Diese beschränktsich nach der abschließenden Definition von § 3 Nr. 1 und 2 GenDG auf die vor-geburtliche Risikoabklärung, die zytogenetische Analyse, die molekulargenetische

62Damm, in: Colombi Ciacchi/Godt/Rott/Smith (Hrsg.), FS-Brüggemeier, 2009, S. 303 (326).63BT-Drs. 16/10532, S. 36.64Vgl. Kiehntopf/Pagel, MedR 2008, 344 (347); Lorenz, in: Müller/Osterloh/Stein (Hrsg.), FS-Hirsch,2008, S. 397 (408).65Lorenz, VersR 1999, 1309 (1311).66Damm/König, MedR 2008, 62 (66).67Armbrüster, VW 2010, 1309f.68Armbrüster, VW 2010, 1309f.; vgl. Kröger, MedR 2010, 751 (754); Lorenz, in: Müller/Osterloh/Stein(Hrsg.), FS-Hirsch, 2008, S. 397 (409).69A.A. Heyers, MedR 2009, 507 (508); Nationaler Ethikrat, Stellungnahmen Prädiktive Gesundheitsin-formationen beim Abschluss von Versicherungen, 2007, S. 22ff.; wie hier Präve, VersR 2009, 857 (862).70Armbrüster, VW 2010, 1309; vgl. Lorenz, in: Müller/Osterloh/Stein (Hrsg.), FS-Hirsch, 2008, S. 397(409).71DRZE, http://tinyurl.com/o9fomsu (abgerufen am 15.09.2013).

Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich 531

Analyse und die Genproduktanalyse. Die Familienanamnese ist eine Phänotypanaly-se und fällt daher unter keinen der genannten Begriffe.72 Die geforderte73 Einschrän-kung der Familienanamnese kann daher nicht auf § 18 GenDG gestützt werden.74

Aus der fehlenden Anwendbarkeit von § 18 GenDG folgt allerdings nicht, dass dasGenDG als Begrenzungsinstrument für Familienanamnesen vollkommen ungeeignetwäre.75 Die Einschränkung vollzieht sich aber im Rahmen des allgemeinen geneti-schen Diskriminierungsverbots nach § 4 Abs. 1 GenDG.76 Danach können Versiche-rer Familienanamnesen zwar grundsätzlich verwenden. Soweit jedoch nach geneti-schen Risiken differenziert werden soll, setzt dieses etwa eine Rechtfertigung durchwissenschaftliche Nachweise für Umfang und Wahrscheinlichkeit einer Manifestati-on voraus.77

4.2 Gleichstellung prädiktiver und diagnostischer Tests im Rahmen von § 18GenDG

Die Verbote des § 18 Abs. 1 GenDG gelten für prädiktive und diagnostische Un-tersuchungen gleichermaßen.78 Eine diagnostische genetische Untersuchung dientnach § 3 Nr. 7 GenDG der Abklärung bereits bestehender Erkrankungen oder ge-sundheitlicher Störungen, der Abklärung, ob genetische Eigenschaften vorliegen, diezusammen mit der Einwirkung bestimmter äußerer Faktoren oder Fremdstoffe eineErkrankung oder gesundheitliche Störung auslösen können, der Abklärung, ob ge-netische Eigenschaften vorliegen, die die Wirkung eines Arzneimittels beeinflussenkönnen, oder der Abklärung, ob genetische Eigenschaften vorliegen, die den Ein-tritt einer möglichen Erkrankung oder gesundheitlichen Störung ganz oder teilweiseverhindern können. Im Gegensatz dazu verfolgt eine prädiktive genetische Untersu-chung nach § 3 Nr. 8 GenDG das Ziel, eine erst zukünftig auftretende Erkrankungoder gesundheitliche Störung bzw. eine Anlagenträgerschaft für Erkrankungen odergesundheitliche Störungen bei Nachkommen abzuklären.

Die unterschiedslose Behandlung beider Untersuchungsformen folgt in erster Li-nie aus dem Wortlaut der Vorschrift, der insoweit nicht differenziert.79 Darüber hin-aus entspricht die Gleichstellung von prädiktiven und diagnostischen Untersuchun-gen im Rahmen von § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG auch dem Willen des Gesetzgebers.

72Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29 (35).73Vgl. Armbrüster, VW 2010, 1309f.74Rosenau, in: Duttge/Engel/Zoll (Hrsg.), Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetikund Recht, 2011, S. 69 (83); a.A:. Kröger, MedR 2010, 751 (754).75So aber Ziegler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29 (38).76Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 62; Reuter, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 4, Rn.137.77Zu den Anforderungen an die Rechtfertigung vgl. Reuter, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 4, Rn. 138und 146.78Kröger, MedR 2010, 751 (752); Lensing, VuR 2009, 411 (412); Präve, VersR 2009, 857 (860); Zieg-ler/Ziegler, ZVersWiss 2011, 29 (39); a.A. OLG Saarbrücken, VersR 2012, 557, dazu Anm. Hahn, ZMGR2012, 445f.79Kröger, MedR 2012, 751 (752).

532 E. Hahn

Dieser hatte im 2006er Entwurf zum GenDG noch eine ausdrückliche Beschrän-kung des versicherungsrechtlichen Tatbestands auf prädiktive genetische Untersu-chungen oder Analysen vorgesehen. § 22 GenDG-E 2006 enthielt die Formulierung:„Der Versicherer darf von Versicherungsnehmern weder vor noch nach Abschluss desVersicherungsvertrages [. . . ] die Offenbarung von Ergebnissen bereits vorgenomme-ner prädiktiver genetischer Untersuchungen oder Analysen verlangen, solche Ergeb-nisse entgegennehmen oder verwenden“80. Dieser Vorschlag entspricht weithin derfreiwilligen Selbstverpflichtungserklärung des Gesamtverbands der Deutschen Ver-sicherungswirtschaft e.V. aus den Jahren 1998 und 2001. Die Selbstverpflichtungser-klärung differenziert ebenfalls zwischen prädiktiven und diagnostischen Tests: „DieVersicherungsunternehmen erklären sich bereit, die Durchführung von prädiktivenGentests nicht zur Voraussetzung eines Vertragsabschluss zu machen. Sie erklärenweiter, [. . .] auch nicht von ihren Kunden zu verlangen, aus anderen Gründen frei-willig durchgeführte prädiktive Gentests dem Versicherungsunternehmen vor demVertragsschluss vorzulegen.“81 In der letztlich verabschiedeten Fassung von § 18Abs. 1 S. 1 GenDG hat Gesetzgeber auf diese Differenzierung jedoch verzichtet,82

obwohl sie dem Gesetz – wie die Begriffsbestimmungen in § 3 Nr. 7 und 8 GenDGzeigen – grundsätzlich bekannt ist. In den §§ 7 Abs. 1, 10 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2S. 1 sowie 20 Abs. 2 S. 1 und Abs. 3 GenDG wurde zudem auch inhaltlich auf dieUnterscheidung von diagnostischen und prädiktiven Untersuchungen zurückgegrif-fen. Von einem gesetzgeberischen Versehen ist daher ebenso wenig auszugehen wievon einem Differenzierungsverzicht aufgrund von Redundanz. Letztgenanntes wirdzum einen durch einen Vergleich mit § 20 GenDG deutlich. Dieser regelt als Teildes fünften Abschnitts des GenDG den Umgang mit genetischen Untersuchungen imArbeitsleben. In Abweichung zu den übrigen Regelungen dieses Abschnitts, die wie§ 18 GenDG die Formulierung „genetische Untersuchung“ nutzen, enthält er eineSonderregelung für den Umgang mit „diagnostischen genetischen Untersuchungen“zum Arbeitsschutz. Zum anderen zeigt auch die innere Systematik von § 18 GenDG,dass dieser inhaltlich nicht nach dem Ziel der genetischen Untersuchung unterschei-det. Ausschlaggebend ist vielmehr die bereits erfolgte Manifestation einer Erkran-kung.83 Nach § 18 Abs. 2 GenDG sind schließlich bereits bestehende Erkrankungenoder Vorerkrankungen anzuzeigen. Für den Umfang der Anzeigepflicht kommt essomit darauf an, ob und inwieweit diagnostische Tests ein für eine Vorerkrankungoder Erkrankung bedeutsames Ergebnis enthalten. Nur insoweit besteht das Verwer-tungsverbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG nicht. Weitere, über die Erkrankungoder Vorerkrankung hinausgehende, genetische Informationen braucht der Versiche-rungsnehmer aber auch dann nicht mitzuteilen, wenn sie durch einen diagnostischenTest gewonnen wurden.84 Auch diese würden schließlich nur den nach der Geset-

80BT-Drs. 16/3233, S. 12.81Abgedruckt bei Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 75.82Vgl. dazu die unterschiedlichen Fassungen von BT-Drs. 16/3233, S. 12 und BT-Drs. 16/10532, S. 18.83Lensing, VuR 2009, 411 (412).84Kröger, MedR 2010, 751 (752).

Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich 533

zesbegründung für die Verbotsreichweite entscheidenden „Blick in die Zukunft“85

ermöglichen.

4.3 Einschränkung von § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG bei „absoluter(medizinischer) Indikation“

Eingangs wurde bereits erläutert, dass § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG (im Regelfall)unabhängig von den Ergebnissen einer genetischen Untersuchung gelten muss. Indiesem Zusammenhang wurde im Schrifttum jedoch zutreffend auf eine bedenklicheKonsequenz dieser Auslegung hingewiesen: Eine uneingeschränkte Geltung des o.g.Grundsatzes hätte zur Folge, dass der Versicherte keine Möglichkeit hat, durch einediagnostische genetische Untersuchung darzulegen, dass eine bestimmte Therapie beiihm aufgrund seiner genetischen Anlagen indiziert und daher etwa gegenüber einerökonomisch günstigeren, für ihn aber ungeeigneten Alternative vorzuziehen ist.86

Die verfassungsrechtliche Tragfähigkeit eines solchen absoluten Ausschlusses er-schiene insbesondere in Konstellationen zweifelhaft, in denen der Versicherte an ei-ner lebensbedrohlichen bzw. regelmäßig tödlichen oder zumindest vergleichbaren Er-krankung leidet und die Kostenübernahme durch die Krankenversicherung von einemgenetischen Nachweis der Indikation abhängt.87 In Anlehnung an den eigentlich dasSystem der GKV betreffenden Nikolausbeschluss des BVerfG88 ist das Verbot des§ 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG in diesen Fällen teleologisch zu reduzieren. Die Vor-schrift soll den Versicherten schließlich vor Zugangsbeschränkungen und Beitragser-höhungen schützen. Sie soll (und darf) ihm aber nicht die Möglichkeit der Finanzie-rung einer nach den o.g. Kriterien notwendigen Therapie nehmen.89

Das BVerfG hat in der genannten Entscheidung hervorgehoben, dass das Grund-recht der allgemeinen Handlungsfreiheit betroffen ist, wenn der Gesetzgeber Perso-nen einem System der sozialen Sicherheit in Form einer Pflichtversicherung unter-wirft. Dieser Eingriff muss dann durch eine entsprechende Ausgestaltung der aus-reichenden solidarischen Versorgung gerechtfertigt werden.90 Zwar sei daraus „keinverfassungsrechtlicher Anspruch auf bestimmte Leistungen der Krankenbehandlungab[zu]leiten. Jedoch sind gesetzliche oder auf Gesetz beruhende Leistungsausschlüs-se und Leistungsbegrenzungen daraufhin zu prüfen, ob sie im Rahmen des Art. 2Abs. 1 GG gerechtfertigt sind.“91 Dies gelte „insbesondere in Fällen der Behandlungeiner lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. [. . . ] Behördlicheund gerichtliche Verfahren müssen [. . . ] der im Grundrecht auf Leben enthaltenengrundlegenden objektiven Wertentscheidung gerecht werden und sie bei der Ausle-gung und Anwendung der maßgeblichen Vorschriften [. . . ] berücksichtigen. . . “92 Es

85BT-Drs. 16/10532, S. 36.86Armbrüster, BT-Drs. 16 (14) 0469 (41), S. 7.87Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 23.88BVerfG, NJW 2006, 891ff.89Hahn, in: Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 18, Rn. 22.90BVerfG, NJW 2006, 891 (892).91BVerfG, NJW 2006, 891 (892).92BVerfG, NJW 2006, 891 (893).

534 E. Hahn

sei mit „Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht ver-einbar, den Einzelnen [. . . ] einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Kranken-versicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeitausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen,ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßigtödlichen Erkrankung leidet [. . . ], von der Leistung einer bestimmten Behandlungs-methode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung derBehandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen.“93

Diesen Anforderungen muss grundsätzlich auch § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG ge-nügen. Seit dem 01.01.2009 gilt nach § 193 Abs. 3 S. 1 VVG eine allgemeine Versi-cherungspflicht. Danach werden nunmehr auch andere Personen als GKV-Versicherteeinem geschlossenen System sozialer Sicherung unterworfen. Zwar sollen mit derhier vertretenen These nicht die auch weiterhin bestehenden Differenzen zwischenGKV und PKV verkannt werden. Die allgemeine Versicherungspflicht hat jedoch zu-mindest zur Konsequenz, dass die Entscheidung des Einzelnen für eine individuelleAbsicherung bzw. den Verzicht auf eine (ergänzende) Krankenversicherung nun auchüber das GKV-System hinaus weithin ausgeschlossen wird. Legt der Gesetzgeberaber abschließend fest, in welcher Form Krankheitskostenvorsorge zu betreiben ist,so muss er ebenso wie im Rahmen des SGB V gewährleisten, dass das von ihm ver-pflichtend ausgestaltete System den Versicherten bei einer lebensbedrohlichen odersogar regelmäßig tödlichen Erkrankung nicht auf eine Finanzierung der Behandlungaußerhalb dieses System verweist.

Weiterhin spricht für die Übertragbarkeit der o.g. Grundsätze auf die vorliegendeKonstellation, dass das BVerfG seine Ansicht bereits im Nikolausbeschluss nicht al-lein auf Art 2. Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip stützt. Ergänzend wird zudemauch die Schutzpflicht des Staates für das Leben aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und diedanach bestehende Pflicht zur Gewährleistung einer Mindestversorgung herangezo-gen.94 Das hat das BVerfG unlängst erneut klargestellt: „Geklärt ist darüber hinaus,dass Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit [. . . ] auch die Grund-rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sind.“95

Diese binden den Gesetzgeber aber auch bei der gesetzlichen Regulierung von Pri-vatversicherungsverhältnissen.

4.4 Umgehung der Summengrenze des § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG

Ungeklärt ist, ob Policen gleichartiger Versicherungen im Rahmen der Bereichsaus-nahme des § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG zusammenzurechen sind.96 Dagegen sprichtjedenfalls, dass § 18 GenDG Teil des Privatversicherungsrechts ist und damit eigent-lich nur die schuldrechtliche Sonderbeziehung zwischen dem Versicherer und dem

93BVerfG, NJW 2006, 891 (894).94Vgl. BVerfG, NJW 2006, 891 (893), dazu Anm. Kingreen, NJW 2006, 877 (878f.).95BVerfG, NJW 2013, 1664.96Vgl. dazu Bölinger/Andres/Trompetter, Das GenDG und seine Auswirkung auf die Risiko- und Leis-tungsprüfung, 2010, S. 5; Kröger, MedR 2010, 751 (753), Neuhaus, r + s 2009, 309 (316), Präve, VersR2009, 857 (861).

Genetische Untersuchungen im Versicherungsbereich 535

Versicherten regelt. 97 Andererseits verfolgt der Gesetzgeber mit § 18 Abs. 1 S. 2GenDG ausdrücklich auch ordnungspolitische Ziele: „Die Bestimmung soll die Aus-nutzung eines Wissensvorsprungs im eigenen wirtschaftlichen Interesse zu Lastender Solidargemeinschaft verhindern.“ Schutzgut von § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG ist so-mit auch die solidarische Versichertengemeinschaft. Eine erhebliche wirtschaftlicheBelastung dieser Gemeinschaft ist aber ebenso zu befürchten, wenn mehrere Ver-träge eines Versicherten für sich allein zwar jeweils unter den Grenzwerten bleiben,in ihrer Gesamtheit jedoch Leistungsansprüche gegen (unterschiedliche) Versichererbegründen, die die Grenze von § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG erreichen.98 Aus diesemGrund müssen die Grenzwerte auf die jeweilige Gesamtsumme für ein versicher-tes Risiko eines Versicherungsnehmers bezogen werden.99 Eine Umgehung durchAufteilung auf mehrere Policen wird dadurch ausgeschlossen.100 In diesem Zusam-menhang wurde im Schrifttum darauf hingewiesen, dass eine Addition in praktischerHinsicht nur sinnvoll ist, wenn der Versicherer überhaupt die Möglichkeit hat, vomBestehen weiterer Policen zu erfahren. Aus diesem Grund wird ihm konsequenter-weise ein entsprechendes Fragerecht zugebilligt.101

5 Zusammenfassung

5.1 Das GenDG konzentriert in § 18 GenDG die grundsätzlichen Regeln für den Um-gang mit genetischen Untersuchungen und Analysen im Privatversicherungsrecht.Eine Vielzahl von praktischen Fragen ist aber weiterhin offen geblieben.5.2 Im Rahmen der Verbote des § 18 Abs. 1 S. 1 GenDG werden genetische Un-tersuchungen verwandter Personen der unmittelbaren Untersuchung des Versichertengleichgestellt. Dieses erscheint im Vergleich mit herkömmlichen Familienanamnesenaber nur hinsichtlich des Schutzes des Rechts auf Nichtwissen nach § 18 Abs. 1 S. 1Nr. 1 GenDG und bei genetischen Daten mit sicherer Aussagekraft für die Anlagendes Versicherten gerechtfertigt.5.3 Die Familienanamnese wird durch § 18 GenDG nicht ausgeschlossen. Sie unter-liegt aber den Schranken des allgemeinen genetischen Diskriminierungsverbots nach§ 4 Abs. 1 GenDG.5.4 Der § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG unterscheidet nicht zwischen prädiktiven unddiagnostischen Untersuchungen.

97Zum Grundsatzes der Relativität der Schuldverhältnisse bei Privatversicherungsverträgen vgl. exempla-risch OLG Nürnberg, NVersZ 2002, 136 (137).98Neuhaus, r + s 2009, 309 (316); vgl. Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, 2000, S.45; a.A. Präve, VersR 2009, 857 (861).99A.A. Präve, VersR 2009, 857 (861) und Warstat, Das Gendiagnostikgesetz in der Praxis der Lebensver-sicherung, 2010, S. 3. Begrenzt auf den Abschluss mehrerer Verträge im engen zeitlichen Zusammenhang:Armbrüster, VW 2010, 1309f.100Kröger, MedR 2010, 751 (753); Lensing, VuR 2009, 411 (412f.); Neuhaus, r + s 2009, 309 (316); a.A.Mihm, FAZ v. 25.04.2009, S. 13.101Armbrüster, VW 2010, 1309f.; Neuhaus, r + s 2009, 309 (316).

536 E. Hahn

5.5 Das Verbot des § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 GenDG ist bei einer lebensbedrohlichenbzw. regelmäßig tödlichen oder zumindest vergleichbaren Erkrankung des Versicher-ten zu reduzieren. Der Versicherte muss in diesen Fällen die Möglichkeit haben,durch eine diagnostische genetische Untersuchung darzulegen, dass eine bestimm-te Therapie bei ihm aufgrund seiner genetischen Anlagen indiziert und daher etwagegenüber einer ökonomisch günstigeren, für ihn aber ungeeigneten Alternative vor-zuziehen ist.5.6 Im Rahmen von § 18 Abs. 1 S. 2 GenDG ist die jeweilige Gesamtsumme allerPolicen für ein versichertes Risiko eines Versicherungsnehmers entscheidend. DieseAuslegung ist erforderlich, um eine Umgehung durch Aufteilung auf mehrere Poli-cen zu verhindern und die solidarische Versichertengemeinschaft vor wirtschaftlichenLasten einer Antiselektion zu schützen.