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66 Aufklärung und Kritik 2/2004 Dr. Stephan Günzel (Berlin) Geographie der Aufklärung Klimapolitik von Montesquieu zu Kant* Mit Montesquieu rückt innerhalb der Neu- zeit das Begreifen der geographischen Be- dingungen der Geschichte in den Vorder- grund. 1 Der zentrale Untersuchungsge- genstand ist bei ihm das ‚Klima’ – also diejenige Komponente der Geographie, welche wie keine andere die subjektive Befindlichkeit der jeweilig ansässigen Menschen mittels ‚objektiver’ Daten ab- bilden kann. 2 ‚Klima’ wird mit Montesquieu zum zen- tralen Thema der politischen Philosophie des 18. Jahrhunderts, 3 das bei Hegel zur Vollendung kommt, wo Klima und Ge- schichtsverlauf ihre beidseitige Aufhebung im ‚Geist’ finden. 4 Von Hegel ausgehend wird diese Figur sodann überführt in eine philosophische Länderkunde, 5 die eine der Wurzeln der Anthropogeographie Ratzels bildet, mit welcher ein Anfang der Geo- politik des 20. Jahrhunderts gesetzt ist. 6 Hegel voraus liegt eine Auseinanderset- zung, die in ihrer gesamten Tragweite hin- sichtlich dieses spezifischen Themas bis- lang nicht in allen Facetten betrachtet wur- de: die Auseinandersetzung Johann Gott- fried Herders mit seinem Geographielehrer Immanuel Kant. Daß Herder in seinen The- sen über die Philosophie der Geschichte dem Klima eine gewichtige Rolle beimisst, ist bekannt. Doch auch Kants naturge- schichtliche Arbeiten werden – in Ab- setzung von Herder – durch ein analoges Klimatheorem strukturiert, welches seinen Anfang im Diskurs der Aufklärung bei Montesquieu nimmt. Wie bei Herder kommt es im Falle Kants dabei zu signifikanten Überträgen zwi- schen geographischen Beschreibungen und philosophischen Aussagen: 7 Die Klimaregion der ‚gemäßigten Zone’ hat eine konstitutive Rolle in Montesquieus Geistpolitik (1.), Herders Kultur- philosophie (2.) sowie in Kants Raum- konzeption (3.) und den Anfängen der Geschichtsphilosophie in der Aufklärung inne. 1. Montesquieu – Geist und Klima Ich sagte: ‚Ich spreche von den verschiede- nen Völkern Europas wie von den verschie- denen Völkern von Madagaskar.’ 8 MONTESQUIEU Im Vorwort seines in Holland gedruckten, anonym veröffentlichten und sofort nach dem Erscheinen in Frankreich verbotenen, zweibändigen Hauptwerkes, 9 Vom Geist der Gesetze, 10 aus dem Jahre 1748, legt Montesquieu sein methodisches Credo nieder: „Meine Grundsätze habe ich nicht meinen Vorurteilen, sondern der Natur der Dinge entnommen.“ 11 Er reagiert damit implizit auf die Tradition der theologi- schen Geschichtsschreibung, innerhalb derer die Natur- wie die Menschheits- oder auch die Staatsgeschichte heilsgeschicht- lich interpretiert wurden. 12 Montesquieu will dagegen nicht eine bloße Naturge- schichte, sondern vielmehr eine Naturge- schichte der Staaten und Staatsformen schreiben, d. h. eine Kulturgeschichte auf natürlicher Grundlage. 13 Nach Montesquieu offenbart die Natur bei genauer Betrachtung ihre ‚Gesetze’, eben die Naturgesetze. 14 Diese unterscheiden

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Dr. Stephan Günzel (Berlin)

Geographie der AufklärungKlimapolitik von Montesquieu zu Kant*

Mit Montesquieu rückt innerhalb der Neu-zeit das Begreifen der geographischen Be-dingungen der Geschichte in den Vorder-grund.1 Der zentrale Untersuchungsge-genstand ist bei ihm das ‚Klima’ – alsodiejenige Komponente der Geographie,welche wie keine andere die subjektiveBefindlichkeit der jeweilig ansässigenMenschen mittels ‚objektiver’ Daten ab-bilden kann.2

‚Klima’ wird mit Montesquieu zum zen-tralen Thema der politischen Philosophiedes 18. Jahrhunderts,3 das bei Hegel zurVollendung kommt, wo Klima und Ge-schichtsverlauf ihre beidseitige Aufhebungim ‚Geist’ finden.4 Von Hegel ausgehendwird diese Figur sodann überführt in einephilosophische Länderkunde,5 die eine derWurzeln der Anthropogeographie Ratzelsbildet, mit welcher ein Anfang der Geo-politik des 20. Jahrhunderts gesetzt ist.6

Hegel voraus liegt eine Auseinanderset-zung, die in ihrer gesamten Tragweite hin-sichtlich dieses spezifischen Themas bis-lang nicht in allen Facetten betrachtet wur-de: die Auseinandersetzung Johann Gott-fried Herders mit seinem GeographielehrerImmanuel Kant. Daß Herder in seinen The-sen über die Philosophie der Geschichtedem Klima eine gewichtige Rolle beimisst,ist bekannt. Doch auch Kants naturge-schichtliche Arbeiten werden – in Ab-setzung von Herder – durch ein analogesKlimatheorem strukturiert, welches seinenAnfang im Diskurs der Aufklärung beiMontesquieu nimmt.Wie bei Herder kommt es im Falle Kants

dabei zu signifikanten Überträgen zwi-schen geographischen Beschreibungenund philosophischen Aussagen:7 DieKlimaregion der ‚gemäßigten Zone’ hateine konstitutive Rolle in MontesquieusGeistpolitik (1.), Herders Kultur-philosophie (2.) sowie in Kants Raum-konzeption (3.) und den Anfängen derGeschichtsphilosophie in der Aufklärunginne.

1. Montesquieu – Geist und KlimaIch sagte: ‚Ich spreche von den verschiede-nen Völkern Europas wie von den verschie-denen Völkern von Madagaskar.’8

MONTESQUIEU

Im Vorwort seines in Holland gedruckten,anonym veröffentlichten und sofort nachdem Erscheinen in Frankreich verbotenen,zweibändigen Hauptwerkes,9 Vom Geistder Gesetze,10 aus dem Jahre 1748, legtMontesquieu sein methodisches Credonieder: „Meine Grundsätze habe ich nichtmeinen Vorurteilen, sondern der Natur derDinge entnommen.“11 Er reagiert damitimplizit auf die Tradition der theologi-schen Geschichtsschreibung, innerhalbderer die Natur- wie die Menschheits- oderauch die Staatsgeschichte heilsgeschicht-lich interpretiert wurden.12 Montesquieuwill dagegen nicht eine bloße Naturge-schichte, sondern vielmehr eine Naturge-schichte der Staaten und Staatsformenschreiben, d. h. eine Kulturgeschichte aufnatürlicher Grundlage.13

Nach Montesquieu offenbart die Natur beigenauer Betrachtung ihre ‚Gesetze’, ebendie Naturgesetze.14 Diese unterscheiden

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sich nicht von den positiven Gesetzen,sondern geben vielmehr das Muster fürjene ab.15 ‚Gesetz’ versteht Montesquieukeineswegs im Sinne von nomos als ‚Set-zung’ durch den Menschen, sondern ineinem relationalen Sinne: des geordneten,internen ‚Bezugs’ [rapport] der ‚Dinge’und Sachverhalte zueinander sowie wie-derum des Bezugs zwischen diesen Ge-setzen selbst.16 Den „Gesetzen“, die „ge-schaffen wurden“, gehen „Rechtsbezie-hungen“17 voraus, welche aus den jewei-ligen Sitten und Gewohnheiten der Men-schen ‚vor Ort’ hervorgegangen sind.18

Entsprechend versteht Montesquieu die‚Gesetze’ als „einzelne[] Anwendungs-fälle“ eines einzigen „Gesetz[es]“, näm-lich dem der „menschliche[n] Vernunft“19

als dem Allgemeinen der unterschiedli-chen „Rechtsbeziehungen“.20

1.1 Klimatische GesetzeZunächst beginnt Montesquieu seine Ab-handlung mit der Darstellung der verschie-denen, ihm bekannten Verfassungen derErde ohne Berücksichtigung der hierbeivariierenden geoklimatischen Bedingun-gen. Erst mit dem vierzehnten Buch kehrter zu seinem eigentlichen Vorhaben zu-rück:21 Die zentralen ‚Bezüge’ der Geset-ze zeigen sich in der Entsprechung derpositiven Gesetze zur „Natur des Landes[…], seinem kalten, heißen oder gemäßig-ten Klima, der Beschaffenheit des Bo-dens“22. Nur von hier aus kann nachMontesquieu deutlich werden, ob und wiesich der „Geist der Gesetze“ in der Bezie-hung des Bodens und des Klimas zu der„Lebensweise der Völker“, ihrer „Verfas-sung“ und „Religion“, der „Neigungen“und des „Reichtums“ der „Bewohner“,„ihrer Zahl, ihrem Handel, ihrer Sitten undGebräuche“23 verhält.

‚Bezug’ bedeutet für Montesquieu im Fallder Klimate, daß ein direkter Zusammen-hang zwischen der Art des Klimas undder ‚Beschaffenheit’ der darin lebendenMenschen, ihrer körperlichen Konstituti-on, der Art ihres Nahrungserwerbs, ihrerSitten und Bräuche, zuletzt ihrer jeweili-gen Form der Vergemeinschaftung bzw.ihrer Staatsform existiert.24 – Die Regel-mäßigkeit dieser ‚Bezüge’ bedeuteten dieGesetze, d. h. deren Gesamt bzw. dasGesetz, den ‚Geist’.25

Dabei zeige sich,26 daß Menschen, wel-che in „[k]alte[r] Luft“ leben, in ihremLebensraum grundsätzlich günstigere Ei-genschaften vorfinden als Menschen in„[w]arme[r] Luft“27 . In dieser „erschlafftdie Außenseite der Gewebe“, in jener„zieht [sc. die kalte Luft] die Oberflächeder äußeren Gewebe unseres Körpers zu-sammen“28 . „Das vermehrt deren Spann-kraft“, wodurch man „[i]n den kalten Kli-maten […] mehr Kraft [besitzt]“29 als inden warmen. Darüber hinaus mangelt esden Menschen in warmen Regionen anausreichender „Sinneswahrnehmung“30 .Aufgrund der Wärme „dringt“ die Wahr-nehmung bzw. ihre Gehalte „kaum zumGehirn“31 . – „Kurz: dadurch müssen sehrverschiedene Charaktere entstehen.“32

Mit welchen Ländern bzw. ‚Völkern’identifiziert Montesquieu nun diese bei-den Regionen? – Die warme Region wirdzunächst einzig mit dem Lebensraum der„Inder“33 gleichgesetzt:34 Diese seien „vonNatur aus feige“35 . Dieser Tatbestand gehtfür Montesquieu mit zeitgenössischen Be-richten in Eins, wonach sich dort viele„grausame[] Taten“36 ereigneten. Montes-quieus führt die Entsprechung von (war-mem) Klima und (feigem) Verhalten dar-auf zurück, daß die Schwächung der Per-zeptionsfähigkeit zusammen mit einer ein-

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hergehenden Steigerung der (ebenfalls kli-matisch bedingten) Einbildungskraft dieInder „tausend Dinge mehr noch als denTod fürchten [läßt]“37 . – Das heißt: DieBereitschaft zur Grausamkeit gegen ihreMitmenschen wachse in dem Maße, inwelchem sie die Erlösung aus dem Lebenwünschen. Die dortigen Regierungenmüssen deshalb der so gearteten Natur derMenschen durch positive Gesetze gezieltentgegenwirken.38

Von hier aus wird zweierlei deutlich: Zumeinen zeigt sich, wer die Menschen in denkalten Klimaten (vorerst) sind; zum an-deren wird ein Paradox sichtbar, welchesfür die Aufklärung hinsichtlich ihrer phi-losophisch-politischen Geographie be-zeichnend ist: Die Menschen in den war-men Klimaten können Montesquieu zufol-ge gerade nicht ihrer ‚Natur’ entsprechendleben,39 da die natürlichen Umstände dortdem Wesen der menschlichen Vernunftentgegenstehen, so daß rigide Erziehungs-maßnahmen und konsequente Gesetzge-bung maßregelnd eingreifen müssen. ‚Na-türlich’ – d. h. mit geringer oder idealer-weise ohne Korrektur der natürlichendurch positive Gesetze – können nur Men-schen im kühleren Klima leben, wo Sitt-lichkeit und körperliche Willenskraft nichtdurch Wärme beeinträchtigt werden: DieMenschen jenes Klimas sind ‚wir’, die Le-serschaft Montesquieus: Es ist „unser[]Körper[]“40 , der nach seiner Vorstellungin „unsere[m] Klima[]“41 dem ‚natürli-chen’ Verhältnis zwischen einem ‚gesetz-mäßigen’ Menschsein und den ‚bei uns’vorherrschenden klimatischen Bedingun-gen entspricht.42

Montesquieus Schlußfolgerungen werdenim fünfzehnten Buch, „Über den Zusam-menhang der Gesetze der bürgerlichenSklaverei mit der Art des Klimas“, prä-

sentiert. – Im Gestus der Aufklärung ur-teilt er dort eingangs zwar, daß die Skla-verei „ihrem Wesen nach nicht gut [ist]“43 ,womit er eine zeitgenössische Begrün-dungsfigur „parodiert“44 ; betrachte manjedoch die natürlichen, d. h. klimatischen,Bedingungen der „Neger“, dann entbergesich, „[gegründet] auf die Natur der Din-ge“, nach Montesquieu, der „wahre Ur-sprung des Rechtes der Sklaverei“45 :

Es gibt Länder, wo die Hitze den Körper soentnervt und den Willen so schwächt, daß dieMenschen nur durch die Furcht vor Strafe zurErfüllung einer lästigen Pflicht getriebenwerden können: hier verstößt die Sklavereialso nicht so sehr gegen die Vernunft […].46

Er schließt: „Die natürliche Sklaverei mußalso auf einzelne bestimmte Länder derErde beschränkt werden.“47 – Paralleldazu begründen sich Vielehe und Verhei-ratung minderjähriger Frauen: Aufgrunddes warmen Klimas in der Entwicklungder Frauen „fallen hier Kindheit und Ehefast immer zusammen“48 . „Sie sind alt mitzwanzig: Verstand und Schönheit sind alsoniemals bei ihnen vereint.“49 Ein Manndürfe eine Frau im Bereich der warmenIsotherme deshalb nicht nur in jungen Jah-ren heiraten, sondern sich auch mehrmalswiederverheiraten, wobei es „nur natürlich[ist], daß der Mann wenn die Religion esnicht verbietet, seine Frau verläßt“50 . Da-gegen „müssen [die Frauen] in Abhängig-keit bleiben, denn der Verstand kann ih-nen im Alter nicht die Herrschaft gewäh-ren, die ihnen die Schönheit der Jugendnicht schon gab“51 . – Kurz: Durch klima-tische Bezüge „[entsteht] die Vielweibe-rei“52 .

1.2 Das ‚dritte Klima’Anfänglich unterscheidet Montesquieualso nur zwei Typen von Klimaten: ‚war-

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me’ und ‚kalte’. Entlang dieser semioti-schen Leitdifferenz ordnet er alle weite-ren Aspekte der natürlichen Verhältnis-mäßigkeiten. – Im Verlauf der Abhand-lung wird jedoch ein dritter Typus zusätz-lich in seine Analyse eingeführt: das ‚ge-mäßigte Klima’, welches das „Axiom derdrei Klimate“53 für die Aufklärung neubegründet:

In den gemäßigten Ländern [pays tempérés],wo die Reize der Frau sich besser halten, wosie später heiratsfähig sind und erst in reife-rem Alter ihre Kinder bekommen, hält dasAlter des Mannes mit dem ihrigen Schritt; undda sie hier mehr Verstand und größere Kennt-nisse besitzen, wenn sie heiraten […], somußte sich hier natürlicherweise eine gewis-se Gleichheit unter den Geschlechtern unddamit das Recht der Einehe entwickeln. […]Daher entspricht das Gesetz das nur die Ein-ehe gestattet, mehr dem Klima Europas alsdem Asiens.54

Dagegen entstehe in den „kalten Ländern[pays froids]“ das andere Extrem zu denwarmen: Hier „bewirkt der fast notwen-dige Gebrauch starker Getränke Unmäßig-keit bei den Männern. Die Frauen […]haben daher den Vorzug der größeren Ver-nunft auf ihrer Seite.“55 Montesquieu be-ruft sich auf empirische Belege und insi-stiert darauf, damit keinesfalls einen nor-mativen Anspruch zu verbergen: „Bei alle-dem rechtfertige ich diese Gebräuchenicht, sondern weise nur ihre Gründeauf.“56

Aber das Gegenteil ist der Fall: Wenn diedurch ein Klima ausgebildete ‚Verfassung’(die physische wie die politische) derMenschen in der ‚gemäßigten’ Region dasMuster für die Bewertung der im Vergleichminderwertigen Verfassungen im ‚unmä-ßigen’, heißen Klima abgibt, liegt eine er-kennbare Wertung vor.57 Die Betrachtungder Klimate müßte Montesquieu im Ge-

genteil dazu bringen, beispielsweise andereEinstellungen zur ‚Arbeit’ als passend,d. h. diesem Klima gemäß, zu bewerten.58

Aus der Gegenüberstellung zweier unter-schiedlicher Klimate ergibt sich keine Le-gitimation für die Setzung des Vergleichs-maßstabes nach Vorgaben der eigenenKlimaregion. – So auch im Falle seinerEinschätzung des ‚natürlichen Schamge-fühls’:

Wenn nun die durch das Klima mancherGegenden erzeugte starke Sinnlichkeit gegendie natürlichen Gesetze der Geschlechter undvernünftiger Wesen verstößt, so muß der Ge-setzgeber solche Zivilgesetze erlassen, die dieNatur des Klimas bezwingen und die ein-fachen Naturgesetze wieder herstellen.59

Die „einfachen Naturgesetze“ bemessensich nach den Bedingungen der gemäßig-ten Region. Dort besteht nach diesem Bei-spiel die ursprüngliche Übereinstimmungzwischen ‚Verfassung’ und Klima: DieMenschen sind ‚von Natur aus’ scham-haft und entsprechend gesittet: „[D]ieNatur hat also die Scham in uns gelegt[…].“60 In anderen Regionen muß nachMontesquieu der Zustand der ‚Schamlo-sigkeit’ durch die Macht des positiven Ge-setzes überwunden werden. Bei „uns“ seidieses Gesetz der Natur entsprechend, beianderen der Natur widersprechend.Alles in allem ist es bedeutsam, daß Mon-tesquieu diese Region erst an dieser spä-ten Stelle in seine Untersuchung einführtund damit dem ‚Axiom der drei Klimata’folgt. Die nördliche Region zeige – wiedie südliche – die ihr eigentümlichen Sit-ten, welche aus dem unterstellten, natürli-chen Zusammenhang resultierten. In dergemäßigten Region herrschen gegenüberdiesen beiden Gesetze, welche von klima-tischen Einflüssen nahezu unabhängigsind, vielmehr mit ihnen schon je überein-

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stimmen.61 Montesquieu inauguriert da-mit die Vorstellung eines idealen Gesetz-raumes, welcher in äußerster Konsequenzder Überlegung die künstliche ‚Klimatisie-rung’ der übrigen Klimate nötigen undnach seinen Vorgaben bestimmen wür-de.62 Die klimatische Indifferenzsphärekann aufgrund ihrer Abgezogenheit ausdem naturhaft vorgegebenen Bedingungs-rahmen – paradoxerweise qua Entspre-chung mit diesem –, und ihrer daraus re-sultierenden ‚größeren Objektivität’ derGesetze, die anderen Weltgegenden ge-setzgeberisch kolonialisieren.

1.3 Die Tradition des ‚gemäßigten Kli-mas’Daß Montesquieus entgegen der anfangserfolgten, binären Beschreibung jene ‚drit-te Zone’ idealen Klimas einbringt, erklärtsich aus einer Annahme, welche traditio-nell weitgehend unhinterfragt geteilt wur-de und auch Montesquieus Untersuchungmaßgeblich strukturiert: Seit Hippokrates’Schrift De aere aquis locis und spätestensmit Aristoteles’ Politik kennt die abend-ländische Philosophie die Gegenüberstel-lung zwischen dem ‚kalten Norden’, d. h.dem Klima Europas, und dem ‚warmenSüden’ als demjenigen Bereich, welcherPersien sowie ‚Libyen’ – das damit in derAntike bezeichnete nördliche Afrika –umfaßt.63 Beide Autoren veranschlagendarüber hinaus jeweils eine dritte Klima-zone, die ihrem eigenen, griechischenKulturkreis entspricht.

1.3.1 Aristoteles – die klimatische Mit-teEbenfalls traditionsbestimmend ist die beibeiden Autoren vorgenommene jeweiligeZuordnung der Geistestypiken zu denVölkern der zwei fremden Regionen:

Nach Aristoteles sind die europäischenVölker zwar mutig, haben aber aufgrundihrer geographischen Lage ein gar nichtoder nur gering ausgebildetes Wahrneh-mungsvermögen (aisthesis). Deshalb, sofolgert Aristoteles, fehlt ihnen auch dieFähigkeit zur Komposition schöner, „statt-licher“64 Organisationen, allen voran einesStaates. Entsprechend dazu seien die asia-tischen Völker durch die in ihrer Gegendherrschenden klimatischen Bedingungenim Gegenteil zwar „kunstbegabt[]“, dabeiaber „furchtsam[]“65 . Wie später Montes-quieu schafft sich Aristoteles damit dasBegründungspotential, mit dem er diegrundsätzliche Eignung dieser Völker zurSklaverei rechtfertigt.Zu Beginn der Politik hatte Aristoteles dieVersklavung von Menschen bereits aus ei-ner ‚natürlichen’ Gegebenheit abgeleitet:Menschen, deren Leib nicht durch dieSeele beherrscht werde – in Analogie zumStaat: deren (Volks-)Körper nicht durch denallgemeinen Verstand ‚regiert’ werde – 66,sind „Sklave[n] von Natur“67 . Wie spä-ter wiederum für Montesquieu folgt fürAristoteles daraus die Legitimation, Men-schen, welche unmäßig, schamlos unddementsprechend ‚unnatürlich’ leben, mit-tels künstlicher Eingriffe in den ihnen zu-gedachten ‚Naturzustand’ zu führen.Montesquieu fordert die eingreifendeKraft der positiven Gesetze zur Regulie-rung der Verfassung der Menschen in densüdlichen Klimaregionen. Solange diesjedoch nicht erfolgt sei, ist Sklaverei ‚vonNatur’ aus berechtigt. Aristoteles räumtseinerseits die Möglichkeit der ‚Korrek-tur’ mittels Gesetze erst gar nicht ein, son-dern nimmt an, daß die erfolgte Verskla-vung der asiatischen Völker durch die ‘na-türlichen’ Voraussetzungen gerechtfertigtist.68

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Der dritte Klimabereich, welcher von Mon-tesquieu auf Mitteleuropa bezogen wird,verweist bei Aristoteles noch auf einenanderen Raum: Für Aristoteles hat „dasGeschlecht der Griechen“ „an den Vor-zügen beider [Asiens und Europas;St. G.] teil und ist mutig und intelligentzugleich“69 . Diese ‚empirische’ Beobach-tung begründet Aristoteles durch die geo-graphische Lage Griechenlands: „[E]s[sc. das Geschlecht der Griechen] [hält]örtlich die Mitte […].“70 – Der mesotes-Gedanke erhält dabei seine entscheiden-de politische Wendung: Die „Mitte“ istnicht mehr nur die geometrische Mitte,welche idealerweise die maximale Entfer-nung von den sie kreisförmig umgeben-den moralischen Extremen oder den bei-den Enden einer Linie verspricht,71 son-dern die geographische Mitte zwischengelebten Extremen des praktischen Ver-haltens zur Welt: dem mutigen, aber zurKunst unfähigen ‚Norden’ und dem fei-gen, aber kunstfertigen ‚Süden’. Griechen-land bzw. die polis ist für Aristoteles da-bei die Verkörperung der natürlicherwei-se gelebten, moralischen Mitte.72

Wie gezeigt, wohnt Montesquieus Aus-führungen über den Zusammenhang vonKultur und Klima das Ideal einer geogra-phischen ‚Mitte’ bzw. Mittellage inne.Dies teilt er mit Aristoteles. Er fällt ge-genüber diesem jedoch hinsichtlich einerRechtfertigung der Grundthese zurück. Sobleibt Montesquieu die fehlende Begrün-dung der Annahme, die gemäßigten Re-gionen sind das moralisch-klimatischeMaß der Menschheit bzw. ihrer Gesetze,letztlich schuldig, bzw. kaschiert er diesedurch permanentes Wiederholen dieserBehauptung. Aristoteles’ Ethik begründetdie Bestimmung der geographischen Mittein Griechenland durch den Verweis auf die

unhintergehbare Rückbezogenheit desStandpunktes auf den Betrachter: DieMitte ist eben „nicht die Mitte der Sachenach, sondern die Mitte für uns“73 . – DieVorzüge des scheinbar moralisch wie kli-matisch gemäßigten Griechenlands gegen-über Europa und Asien sind graeco-zentrisch gedacht.

1.3.2 Hippokrates – das Klima zwi-schen Asien und EuropaVor Aristoteles hatte Hippokrates der kli-matischen Differenz maßgeblich Beach-tung geschenkt.74 In seiner Schrift De aereaquis locis,75 worin er eine Anleitung fürdie „ärztliche[] Kunst“76 gibt, legt er dieunterschiedlichen Wirkungen klimatischerTypiken dar: Das komplexe Gefüge derWirkungen der „Jahreszeiten“, der „Win-de“, der „Gewässer“ und der Lage ge-genüber dem „Aufgang der Sonne“ so-wie der „Beschaffenheit des Bodens“77

bedingt nach Hippokrates die Gesundheitund Gemütsverfassung der Bewohner. –Seine Thesen haben die Auffassung überklimatische Determinationsverhältnisse inder Antike langfristig bestimmt.78

Im ersten Teil der Schrift behandelt Hip-pokrates die Aspekte der Luft, des Was-sers und der Lage zur Sonne unter medi-zinischen Gesichtspunkten. Zusammen-fassend kommt er zu dem Urteil, daß„[a]lle Städte, die nach Sonnenaufgangliegen, […] natürlich gesünder [sind]“.79

Die „Städte aber, die nach <Sonnen>un-tergang liegen“, so Hippokrates, „habennotwendig eine ungesunde Lage“80 . DieBewertung kommt jeweils durch die Prü-fung aller Faktoren zustande, die idealer-weise an einem Ort vorherrschen. Insge-samt würden sie aber letztlich alle durchdie Sonne beeinflußt.81 – So unterschei-den sich nach Hippokrates die beiden kli-

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matischen Lagen – die ‚gesunde’ und die‚ungesunde’ – nicht zufällig, sondern sindursächlich auf den Sonnenstand zurückzu-führen.In einem thematisch davon abgesetztenzweiten Themenbereich widmet sich Hip-pokrates nun dem entscheidenden Aspektder teils physiologisch, teils kulturell ge-dachten Differenz zwischen „Asien undEuropa“82 mittels der klimatischen Un-terscheidung, welche zuvor als grundle-gend konstatiert wurde:

Asien, sage ich, ist ganz und gar verschieden vonEuropa in der Natur von allem, sowohl dessen,was aus der Erde wächst, wie seiner Bewohner.Denn alles ist viel schöner und größer in Asien,das Land ist kultivierter, und die Sitten derMenschen sind sanfter und besser geartet. DieUrsache hiervon ist die richtige Mischung desKlimas, weil <Asien> nach Osten in der Mitteder Sonnenaufgänge, aber weiter entfernt von derkalten Region liegt.83

Wie später Aristoteles und dann Herdernimmt Hippokrates an,84 die Menschen inAsien seien durch ihr ausgeprägtes ‚äs-thetisches’ Vermögen von den Europäernverschieden. Auf der anderen Seite zeig-ten sie durch ihre klimagewirkte Sanftmutdeutliche Züge der „Schlaffheit und Feig-heit“85 . „[D][ie] Asiaten […] [sind] un-kriegerischer als die Europäer […], dar-an ist vor allem das Klima schuld […].“86

– „[D]ie einen [stehen] unter der Gewaltder Hitze […], die anderen unter dem Ein-fluß der Kälte.“87 Mit der BevölkerungEuropas identifiziert Hippokrates vor al-lem die „Skythen“, die „[m]an […] No-maden [nennt], weil sie keine Häuser ha-ben, sondern auf Wagen leben“88 . Auchdiese Lebensform sei klimatisch begrün-det: Das extrem kalte Klima im Verbundmit starken Schwankungen der Tempera-tur zwischen Tag und Nacht sowie zwi-

schen den Jahreszeiten seien „häufige Er-schütterungen“, die „dem Geist Wildheitein[flößen] und […] Zahmheit und Mildezum Verschwinden [bringen]“89 . – Kurz:„Aus der Ruhe und Schlaffheit wächst dieFeigheit, aus der Bereitschaft zu Mühsalund Arbeit aber die Tapferkeit.“90

Bezeichnend ist, daß Hippokrates deneuropäischen Nomaden abspricht, trotzdieser von ihm festgestellten Ursächlich-keit wirklich ‚natürlich’, dem Klima ent-sprechend, zu leben.91 Sie hätten ihre Kör-per künstlich der Umwelt anzupassen, umdie besagte Tapferkeit zu erreichen. Demwürden die Skythen dadurch nachhelfen,daß sie am ganzen Körper „<tätowiert>“seien, „und zwar aus keinem anderenGrund als wegen der Feuchtigkeit undSchlaffheit ihrer Natur“92 . Diese „Schlaff-heit“ war bereits den ‚Asiaten’ zugespro-chen worden – allerdings, weil diese nachHippokrates in einem gleichmäßig „gu-te[n]“93 Klima leben.Wie bei Montesquieu führt schon hier dieAblehnung anderer Kulturformen – hier:der nicht-seßhaften, europäischen Noma-den – zur Aufgabe einer wichtigen Argu-mentationsfigur: Dieses bestand darin,jede klimatisch verursachte Besonderheiteiner Volksgruppe als jeweils ‚natürlich’und gültig in bezug auf das sie bestim-mende Klima zu respektieren. Den pro-grammatisch rückhaltlosen Relativismussetzt keiner von ihnen in der Analyse um.Dagegen fallen sie in selbstbezügliche,kulturzentrierte Annahmen zurück. Ledig-lich Aristoteles, weder aber Hippokrates94

noch Montesquieu gaben ihre Wertschät-zung innerhalb des klimatisch relativ Ge-setzten zu.

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2. Herder – das Klima der KugelGeschichte ist in Bewegung gesetzte Geogra-phie.95

HERDER

2.1 Montesquieus Schüler„O daß ein andrer Montesquieu uns denGeist der Gesetze und Regierungen aufunsrer runden Erde […] zu kosten gä-be!“96 – So ruft Herder 1785 im zweitenTeil seines vierbändigen und unvollendetgebliebenen Großprojektes, Ideen zurPhilosophie der Geschichte der Mensch-heit, aus. Er möchte dabei selbst der legi-time Nachfolger Montesquieus werden.97

Wie sich zeigt, kam Herder ihm sehr na-he:98 Worin sich beide gleichen, ist nichtdie Bedeutsamkeit ihrer Entdeckung. Hier-in blieb Herder, der „zweite[] Montes-quieu“99 als den er sich selbst sah, hinterder revolutionären Einsicht seines Vorbildsschon dadurch zurück, daß er nicht ‚ge-gen seine Zeit’ denken mußte,100 wie esbei diesem der Fall war. Beide teilen aberdas Schicksal, aufgrund der ungeheurenStofffülle, welche sie nicht nur in ihrerLektüre, sondern auch durch eigene Rei-sen über viele Jahre hinweg gesammelthatten, an der Systematisierung ihres Ma-terials zu scheitern bzw. ihr Projekt ab-brechen zu müssen. Herder verteidigteMontesquieu gerade gegen solche Angrif-fe, denen er sich nach der Veröffentlichungseiner Thesen, vor allem seitens Kant, aus-gesetzt sah,101 auch wenn er die Kritik inbezug auf Montesquieu bisweilen teilte.102

Ein Jahr zuvor, im Erscheinungsjahr desersten Bandes – also 1784 –, hielt Herdereine seiner bedeutsamsten Reden, bedenktman deren Nachwirkung innerhalb derAnthropogeographie wie der Geopolitik.Die programmatische Volksnähe kommt

in der Ansprache (später überschriebenmit Von der Annehmlichkeit, Nützlichkeitund Nothwendigkeit der Geographie) aneine Versammlung von Gymnasiastengleich im Auftakt zum Ausdruck: So ver-weigert er sich der Gepflogenheit, die Redein Latein zu halten, damit er sicher seinkann, alle seine Hörer zu erreichen.103

Herders Anliegen ist damit auch nicht pri-mär, seine eigene These zur Philosophieder Geographie zu annoncieren, sondernvor allem die Jugend von den Vorteilendes Geographieunterrichts zu überzeugen,denn das „Studium [der Geographie] […]ist“ Herder zufolge „eben so trocken, alswenn“ er „das große Weltmeer trockennennte“104 . Der Unterricht wäre derart nurzu nennen, „wenn man unter Geographienicht anders versteht, als ein trocknesNamensverzeichnis von Ländern FlüssenGrenzen und Städten“105 . (Dies treffegleichfalls auch auf den Geschichtsunter-richt zu.106 )Die Begeisterung für ein anderes Denkender Geographie will er über die Rückbe-sinnung auf ihre eigentliche Definitionwecken: „Es heißt Erdbeschreibung: so-nach ist die Känntniß der Erde überhaupt,die physische Geographie vor allem noth-wendig – eine Känntniß, die so wichtigals leicht und angenehm unterhaltendist.“107 Herder greift hier bereits auf einModell seiner eigenen Geophilosophiezurück, die er damals entwickelte: Alleindie Vorstellung der Erde „als eine Kugel“würde bei entsprechender Vermittlung be-reits „den Geist erheben und erweitern“108 .Auch der dort dominierende Grundsatz derKlimate, die trotz ihrer Unterschiede allevon derselben Sonne bewirkt werden, wirdals zentrale Vorstellung eingeführt, die den„Jüngling“ bei einer Gedankenreise durchdie Erdregionen im anschaulichen Geo-

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graphieunterricht von seinem Gegenstandaffizieren lassen soll:

Indem er mancherlei Producte der Erde, diemancherlei Gattungen der Schöpfung in die-sem oder jenem Clima, die mancherlei Denk-arten Gebräuche Lebensweisen seiner Mit-brüder der Menschen kennen lernt, die allemit ihm das Licht Einer Sonne geniessen undEinerlei Gesetzen des Schicksals gehorchen:wahrlich so muß ihm die Geographie dasreizendste Gemählde voll Kunst, Anlage, Ab-wechslung, ja voll Lehren der KlugheitMenschlichkeit und Religion werden.109

Stärker als in seinem Hauptwerk betontHerder hier den Aspekt der Empirie, derErfahrung, der Erde, der gerade denjeni-gen nicht vorenthalten bleibt, die ihre Hei-mat nicht verlassen können (oder wollen).Das pädagogische Anliegen der Geogra-phie wie der Geschichte (die gemäß demdamaligen Curriculum ein Doppelfachwaren) geht damit weit über die geläufigeKonzeption hinaus: Beide „dienen […] dernützlichsten Philosophie auf der Erde,nehmlich der Philosophie der Sitten, Wis-senschaften und Künste: sie schärfen densensum humanitatis […].“110 Dadurchwerden sie in Herders Augen zur notwen-digen Bedingung von Philosophie, inso-fern diese die Ausbildung des moralischenGemeinsinns zum Ziel hat. Das ‚Gute‘,welches Kant zufolge die unbegründbare,aber notwendige Grundlage jeder willent-lichen Handlung (in Form des unbeding-ten, ‚guten Willens‘) ist, kann nach Her-der durchaus ‚erlernt‘ werden – eben überden Weg der Erfahrung.111 So würde manin die Lage versetzt, „unsre Vortheile se-hen und schätzen“ zu können, „ohne daßwir dabei irgend eine Nation der Erde ver-achten oder verfluchen wollten“112 . Da-mit kommt dem Gegenwartsbezug, demdiachronen Vergleich die bedeutsamste

Rolle zu, weshalb „die Geschichte ohneGeographie […] ein wahres Luftgebäu-de“113 wäre.Noch am Beginn der Geschichtsphiloso-phie in Deutschland emanzipiert Herderdie spätere ‚Magd‘ der Geschichte: Zwarsei die Geschichte das rollengebende„Buch“ und die Geographie der „Schau-platz“114 historischer Stücke, aber insofernsie deren Basis ist, ist „Geschichte“ be-reits „nichts als eine in Bewegung gesetz-te Geographie der Zeiten und Völker“115 .Vielmehr ist umgekehrt die Geschichte(nur) eine „illuminierte[] Charte“116 . –Kein anderer Satz der deutschen Klassikhat in der Geopolitik der 20er Jahre einederartige Karriere erlebt wie dieser SatzHerders von der Umkehrung der Bedin-gungsverhältnisse. So zitiert erstmalsFriedrich Ratzel vor der eigentlichen Taufedes Faches Herders Diktum im ideenge-schichtlichen Teil seiner Anthropogeo-graphie.117

2.2 Universeller klimatischer Pluralis-musEntsprechend ist das Ziel von Herdersgeophilosophischem Hauptwerk „eineKlimatologie aller menschlichen Denk-und Empfindungskräfte“118 , welche er ge-mäß wissenschaftlicher Forschungs- undDarstellungsprinzipien aufzeigen will.119 Sospricht er auch von einer „Geogonie“ (d.h.Erdentstehungslehre bzw. später: ‚Geolo-gie’), die ebenso „einfach zu erklären“ seinsoll, „als Kepler und Newton das Sonnen-gebäude darstellten“120 . Herders Univer-saltheorie121 soll von den „ersten wesent-lichen Revolutionen unsrer Erde“122 han-deln und die besondere Eigenschaft„unser[es] Wohnplatz[es]“123 – so HerdersSynonym für die Erde – „durch einen neu-en Mittelbegriff“124 vollständig erklären.125

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Der „neue[] Mittelbegrif [sic!]“ ist jenerdes ‚Klimas’ selbst.126 Dieser bei Montes-quieu erörterte Faktor zur Beschreibungphysisch-politischer Verfassungen wirdfür Herder zum Schlüssel der Erklärungaller Facetten des Lebens auf der Erde er-hoben: „[E]s ist der Winkel unsrer Erdaxezum Sonnenäquator.“127 – Herder greiftdamit auf die griechische Bedeutung vonklima zurück, das dem Griechischen nach‚Neigung’ (also die jeweilige Stellung derErde zur Sonne), und erst sekundär die‚Himmelsgegend’, geographische ‚Lage’bzw. ‚Zone’, das Äquivalent der geogra-phischen ‚Breite’, meint.128

Dies läßt ihn auch an Hippokrates anknüp-fen,129 der die Lage eines Ortes zur Son-ne als letztlich entscheidend für physiolo-gische Unterschiede und Krankheiten un-ter den Menschen ansah. Das Neue anHerders ‚Klimatologie’ gegenüber Hippo-krates’ und besonders Aristoteles’ ‚graeco-zentrischer’ Sicht ist eine angestrebteRelativierung der verschiedenen Klima-regionen zueinander:

Lasset uns also, wenn wir über die Geschichteunsres Geschlechts philosophiren wollen, soviel möglich alle enge [sic!] Gedankenfor-men, die aus der Bildung Eines Erdstrichs,wohl gar nur Einer Schule genommen sind,verläugnen [sic!]. […] Wir wollen keine Lieb-lingsgestalt, keine Lieblingsgegend für ihn[sc. den Menschen] suchen und finden[…].130

Die Gestalt der revoltierenden Kugelformder Erde ist für Herder das imperativischeModell der emanzipatorischen Relativie-rung selbst:

Alles ist auf der Erde Veränderung: hier giltkein Einschnitt, keine nothdürftige Abthei-lung eines Globus oder einer Charte. Wie sichdie Kugel dreht, drehen sich auch auf ihr dieKöpfe, wie die Climaten; Sitten und Religionen,wie die Herzen und Kleider.131

Bei genauerer Betrachtung erweist sichHerders Relativismus allerdings als einebloße Vervielfältigung einzelner Zentrie-rungen.132 – Sein Denken ist letztlich zwarweder nur graecozentrisch noch bloß ger-manozentrisch, wohl aber klimatozen-trisch ausgerichtet:133

Jeder liebet sein Land, seine Sitten, seineSprache, sein Weib, seine Kinder, nicht weilsie die besten auf der Welt, sondern weil siedie bewährten Seinigen sind […]. So gewöh-net sich jeder auch an die schlechteste Speise,an die härteste Lebensart, an die roheste Sittedes rauhesten Klima […]. […] Fragen wiralso: wo ist das Vaterland der Menschen? woist der Mittelpunkt der Erde? so wird überalldie Antwort seyn können: hier wo du stehest![…] [D]ie ganze Erde ist für ihn [sc. den Men-schen] gemacht, Er für die ganze Erde.134

Herder ist allen anderen Ansätzen in Fra-gen der Gleichberechtigung fremder Völ-ker und ‚Zonen’ voraus: So leugnet ernicht, daß es dominante Klimate bzw.‚Völker’ gibt. Dieser Umstand ist für ihnjedoch eine historische Zufälligkeit, dienicht den Charakter der Vorbestimmtheitträgt. Auf die „Revolutionen des mensch-lichen Verstandes“ hat „das Verhältniß[sic!] der Zonen“ zwar „viel Einfluß ge-habt“ – allen voran eben „die Wirkungenaufs Ganze […], die die gemäßigte Zonehervorbrachte“, und welche „weder ausdem kältesten und heissesten [sic!] Erd-gürtel“ zu registrieren seien –, aber „[n]ureine kleine andre Richtung der Erde zurSonne“ hätte gereicht und „alles […] wäreanders“135 . – Kurz: Das Klima ist prägendfür jede menschliche Kultur. Wo, wannund warum indes, läßt sich nicht vorabbestimmen.

2.3 Magnetismus, Methode und MitteDem Anspruch seiner Darstellung folgendüberträgt Herder die grundsätzlichen

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Überlegungen in ein naturwissenschaftlichangereichertes, klimatisch-magnetischesErklärungsmodell: „Die beiden vestesten[sic!] Punkte unsrer Kugel sind die Pole;ohne sie war kein Umschwung, ja wahr-scheinlich keine Kugel selbst möglich.“136

Herder erhofft sich ausgehend von die-sem Grundaxiom durch „die Gesetze undWirkungen des Magnetismus“ ein Instru-ment, einen ‚Kompaß’ (dies wird aucheine geophilosophische ZentralmetaphernKants sein) zu haben, mit dem „alle[]Klimate nach der Weltgegend des Polshin“ bestimmt werden können und deren„Basis“ jetzt „noch im Dunkeln“137

liegt.138 Klimatische Einflüsse beschränk-ten sich somit nicht auf Temperaturunter-schiede allein: Auch hierin vollzieht Her-der eine Pluralisierung der Perspekti-ven,139 die jedoch sogleich wieder von dervereinheitlichenden Tendenz seines Den-kens kassiert werden wird.Seine vorgeschlagene Methode zur Ein-beziehung verschiedener Einflußgrößenauf die Kulturbildung sei „nach Hippo-krates Weise“ derart konzipiert, daß manmit „scharfsehender Einfalt“, so Herder,„einzelne Gegenden klimatisch bemer-ke[n] und sodann langsam, langsam all-gemeine Schlüsse folger[n]“140 könne. Ergebe nur „einige[] allgemeine[] Anmer-kungen“141 über mögliche Klassifizierun-gen, aber ausdrücklich keine vollständi-gen Kategorisierungen.142

Erstens, so behauptet Herder, existiere einegrundsätzlich „Gesundheitsbringende[sic!] Vermählung der Elemente“, nämlichdie „Atmosphäre“143 selbst, welche garan-tiere, daß die unterschiedlichsten Klimateder Erde je für sich angemessen seien. Die-se Harmonie sei der Kugelgestalt der Erdezu verdanken, auf welcher „alles […] ingemeinsamer Verbindung [steht]“144 .

Denn: „[w]äre die Erde platt […]; freilichso könnte sie in ihren Ecken die klimati-schen Ungestalten nähren, von denen jetztihr regelmäßiger Bau und seine mittheilen-de Bewegung nichts weiß“145 . – Zweitenssei es auffallend, daß „[d]as bewohnbareLand […] in Gegenden zusammenge-drängt [ist], wo die meisten lebendigenWesen in der ihnen genügsamsten Formwirken“146 . So entstehe eine kulturelleKlimazone, deren Wärme nicht mehr di-rekt auf den Sonnenstand zurückzuführensei, sondern einen gleichsam ‚metaphysi-schen’ bzw. ‚metaklimatischen’ Ursprunghabe:

Jetzt wärmen sich drei zusammenhangende[sic!] Welttheile [Europa, Afrika, Asien;St. G.] aneinander; das vierte [Amerika;St. G.], das ihnen entfernt liegt, ist auch ausdieser Ursache kälter, und im Südmeer fängt,bald jenseits der Linie [Äquator; St. G], mitdem Mangel des Landes auch Mißgestalt undVerartung an. Wenigere Geschlechter voll-kommenerer Landthiere sollten also daselbstleben; das Südhemisphär war zum großenWasserbehältniß [sic!] unsrer Kugel be-stimmt, damit das Nordhemisphär ein besse-res Klima genösse. Auch geographisch undklimatisch sollte das Menschengeschlecht einzusammenwohnendes, nachbarliches Volkseyn, das, so wie Pest, Krankheit und klimati-sche Laster, auch klimatische Wärme undandre Wohltathen einander schenkte.147

Drittens hätten Berge „die Ausartung desMenschengeschlechts verhütet“, da sie„wie Ableiter des Himmels da[stehn] und[…] ihr Füllhorn […] in befruchtendenStrömen [ausgießen]“148 . – Herder folgert:

Die mittlere größeste Breite der Erde, dasLand der schönsten Klimate zwischen Meerund Gebürgen war das Erziehungshaus unsresGeschlechts und ist noch jetzt der bewohn-teste Theil der Erde.149

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Die letzte Annahme schließlich geht vonder Art des Verbundes der durch die viel-fältigen klimatischen Einflüsse betroffe-nen Menschen aus: Klimafaktoren habenfür Herder immer ‚Massenwirkung’, d. h.nicht nur „Individuen“ sind betroffen, son-dern ganze ‚Völker’; nicht nur Menschenoder die Materie, sondern ganze „Zeiträu-me[]“150 – die Geschichte selbst.Zusammenfassend ergibt sich daraus fol-gendes Bild: Herder geht empirisch voneiner harmonischen Weltgestaltung aus,deren zugrundeliegender Plan nicht auf-gedeckt werden kann. Dennoch sieht ereinen Schwerpunkt im Prozeß derMenschheitsentwicklung, welcher auf dernördlichen Halbkugel liegt. Herder gibtdabei zu verstehen, daß die zivilisatori-schen Ballungsräume künstliche Klimateerzeugen, die quasi ein mit ‚menschlicherWärme’ funktionierendes ‚Treibhaus’151

der Humanität darstellen. Dafür kommenbei Herder nur die drei „zusammenhang-enden“ Kontinente, die ‚Alte Welt’, in Be-tracht, und innerhalb dieser wiederum nurdie Gegenden zwischen den Gebirgen, vonwo aus – eingedenk des schenkenden Got-tes – die Fruchtbarkeit des Himmels durchden gespendeten Regen in den Flüssennach unten getragen wird.152 Letztlich ma-nifestiert sich die Wirkung des Klimas nachHerder in Geschichte bzw. ermöglicht eserst deren interne Divergenzen.Herders Vorgehen kann nicht die von ihmangestrebte Zurückhaltung gegenüber sei-nem Untersuchungsgegenstand beschei-nigt werden. Vielmehr reiht sich sein Be-streben in den europäischen Gestus der,meist normativ geprägten, Kartographieder Weltgegenden ein.153 Es gilt von derPhänomenerfassung ‚Klima-Kultur-Ge-schichte’ bei Herder dasselbe, was er sichvon der Erforschung der genetischen Pro-

zesse erhofft: „Sollten sich nicht dieseFormen, diese Harmonien zusammen-treffender Theile bemerken und als Buch-staben gleichsam in ein Alphabet brin-gen lassen?“154

Seine Schrift versucht sich gemäß dieserVorstellung in ihrem gesamten dritten undvierten Teil an einer derartigen Geogra-phie,155 mittels welcher er einen vollstän-digen Überblick über die Erde und ihreNatur wie ‚Völker’ zu geben versucht. –Zuletzt betont Herder – oszillierend zwi-schen einem zentrierenden und einemdezentrierenden Denkmodell – abermalsdie emanzipatorische Seite seiner Unter-suchung und läßt gar kritische Töne an-klingen:

Alle Ankömmlinge fremder Länder […]fanden am Ende auch, daß die klimatischeLebensart derselben so gar nicht unrecht sei;aber wie wenige gab es solcher! wie seltenverdiente ein Europäer den Lobspruch derEingebohrnen [sic!]: ‚Er ist ein vernünftigerMensch, wie wir sind!’156

Seine Hoffnung richtet sich so auf einen„eigne[n] Reisende[n], der ohne Vorur-theile und Uebertreibungen für den Geistdes Klima reiset“157 . Neben Herder ver-suchte sich der vielleicht seßhafteste allerPhilosophen, Immanuel Kant, wiederholtan einer Reise durch die Klimazonen derErde.

Anmerkungen:* Der Umfang des Textes machte eine Zweitei-lung desselben nötig; Teil 2 über I. Kant wird inA&K 1/2005 abgedruckt.

1 Benedetto Croce zufolge habe Montesquieuauch Vicos Neue Wissenschaft besessen, „jedochnicht benutzt“ (Octavian Vuia, Montesquieu unddie Philosophie der Geschichte, hg. v. RichardReschika, Frankfurt a. M./Berlin/Bern/NewYork/Paris/Wien: Lang 1998, 12).

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2 Wie Starobinski es ausdrückt, „träumt“ Mon-tesquieu „von Geologie und Geographie“ (JeanStarobinski, „Montesquieu. Ein Essay“, in: ders.,Montesquieu, a. d. Franz.von Ulrich Raulff, mitausgewählten Lesestücken, Frankfurt a. M.: Fischer1995 [1953], 7–119, 13).3 Zur vorausliegenden Konjunktur des Klima-denkens im angelsächsischen Raum vgl. Wal-demar Zacharasiewicz, Die Klimatheorie in derenglischen Literatur und Literaturkritik. Von derMitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhundert,Wiener Beiträge zur englischen Philologie, hg. v.S. Korninger, LXXVII. Band, hg. v. Franz K.Stanzel, Stuttgart: Braumüller 1977.4 Vgl. dazu Stephan Günzel, „PhilosophischeGeographien. Nietzsche und Hegel (1999)“, in:Hegel-Jahrbuch 2002, hg. v. Andreas Arndt,Karol Bal und Henning Ottmann in Verbindungmit Davor Rodin, Phänomenologie des Geistes,Zweiter Teil, Berlin: Akademie 2002, 294–302,sowie bereits ders., „Nietzsches Schreiben alskritische Geographie (1998)“, in: Nietzsche-forschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft,Bd. 5/6, hg. v. Volker Gerhardt und RenateReschke in Zusammenarbeit mit Jørgen Kjaer,Jacques Le Rider, Annemarie Pieper, Robert B.Pippin und Vivetta Vivarelli, Berlin: Akademie2000, 227–244, hier 228–231.5 Allen voran war es Ernst Kapp, der HegelsSystem der philosophischen Geschichtsschrei-bung hinsichtlich ihrer geographischen Grund-lagen zuspitzte. (Vgl. Ernst Kapp, Philosophi-sche oder Vergleichende allgemeine Erdkundeals wissenschaftliche Darstellung der Erdver-hältnisse und des Menschenlebens nach ihreminnern Zusammenhang, 2 Bde., Braunschweig:Westermann 1845; sowie dazu Hans-MartinSass, „Die philosophische Erdkunde des Hege-lianers Ernst Kapp“, in: Hegel-Studien 8, hg. v.Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler, Bonn:Bouvier 1973, 163–181.)6 Vgl. dazu Stephan Günzel, Geophilosophie.Nietzsches philosophische Geographie, Berlin:Akademie 2001, 27–32 und 42–45. – NebenMontesquieu ist dort Jean Bodin mit seinen Schrif-ten Methodus ad faciliem historiarum cognitionenund Les six livres de la République von 1576 wich-tige Referenz für den signifikanten ZusammenhangKlimas und Geschichte bzw. Entwicklung der Staa-ten. (Vgl. Peter Heinrich Schmidt, Philosophische

Erdkunde. Die Gedankenwelt der Geographieund ihre nationalen Aufgaben, Stuttgart: Enke1937, 69; sowie Otto Maull, Politische Geogra-phie, Berlin: Borntraeger 1925, 8f.)7 Zum Anliegen und zur Methode, ‚Philosophien’kritisch auf ihre reale wie ideologische Geographiehin zu untersuchen vgl. Stephan Günzel, „Nietzschesphilosophische Geographie. Eine geophilosophischePropädeutik“, in: Zeitenwende – Wertewende. In-ternationaler Kongreß der Nietzsche-Gesell-schaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzschesvom 24.–27. August 2000 in Naumburg, hg. v.Renate Reschke im Auftrag der Nietzsche-Gesell-schaft, Nietzscheforschung, Sonderband 1, Ber-lin: Akademie 2001, 279–285.8 Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brèdeet de Montesquieu, „Meine Gedanken“, in: Fran-zösische Moralisten. La Rochefoucauld. Vauve-nargues. Montesquieu. Chamfort, a. d. Franz.und hg. v. Fritz Schalk, Zürich: Diogenes 1995[1979], 271–242 [1899–1901], 284.9 „Als der Geist der Gesetze abgeschlossen ist,blickt Montesquieu zurück und entdeckt, daßsein ganzes Leben darauf gerichtet war, diesesBuch zu schreiben.“ (Starobinski, „Montes-quieu“, a. a. O., 17.)10 Im Folgenden wird die Übersetzung von Forst-hoff aus dem Jahre 1951 verwandt. In der jüngerenÜbersetzung ausgewählter Kapitel fehlen gerade dierelevanten Passagen über das Klima, da der Über-setzer der Auffassung ist, die Stellen hätten „an In-teresse verloren“ (Kurt Weigand, „Einleitung“, in:Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède etde Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, Auswahl,a. d. Franz. und mit einer Einl. von Kurt Weigand,durchgesehene und bibliographisch ergänzte Aufla-ge, Stuttgart: Reclam 1994 [1748], 5–84, hier 84).11 Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brèdeet de Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, hg.und übersetzt von Ernst Forsthoff, photomecha-nischer Nachdruck der Erstauflage 1951, 2 Bde.,Tübingen: Mohr 21992 [1748], Bd. 1, „Vorwort“,5–8, hier 6. – Montesquieu bestimmt „Vorurteile“im Geist der Aufklärung nicht als das, „was in Un-kenntnis über bestimmte Dinge hält“, also die not-wendige Grenze der Wissensmenge, „sondern wasbewirkt, daß man sich selbst nicht kennt“ (ebd., 7).12 Gegen die Kritik der katholischen Kirche schreibtMontesquieu 1750 eine Verteidigung seiner Thesen,Défense de l’esprit des lois, die in Genf erschien.

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– In Frankreich wird daraufhin eine Wiederauflageder ‚Gesetze’ gestattet. Dennoch wird das Buch1752 endgültig auf den Index gesetzt.13 Das Ziel Montesquieus klingt dabei weniger ra-dikal-aufklärerisch als Credo seiner Forschung:„Könnte ich erreichen, dass die Inhaber der Be-fehlsgewalt ihre Kenntnisse über das, was sieanzuordnen haben, vermehrten und daß die Ge-horchenden an ihrem Gehorsam neuen Gefallenfänden – ich würde mich für den glücklichstender Sterblichen halten.“ (Ebd.)14 Montesquieu begab sich zeit seines Lebensauf lange Forschungsreisen. Sie sind es, die ihmdie ‚Empirie’ für seine wissenschaftliche Tätig-keit lieferten.15 Montesquieu bemüht hierzu das physikali-sche Beispiel zweier Körper: „Bei zwei beweg-ten Körpern bestimmt Masse und Geschwindig-keit den Beginn, die Zu- und Abnahme und dasEnde aller Bewegung. Jede Verschiedenheit istGleichförmigkeit, jeder Wechsel Beständigkeit.“(Ebd., Erstes Buch, „Von den Gesetzen im all-gemeinen“, Kap. 1, „Von den Gesetzen in ihrerBeziehung zu den verschiedenen Wesen“, 9–12,hier 10.)16 Für Montesquieu „[sind] ‚Gesetze’ […] Verhält-nisse, die diese Gesetze zueinander und den ver-schiedenen ‚Seienden’ in der Welt einnehmen so-wie die Verhältnisse dieser verschiedenen ‚Seienden’untereinander“ (Vuia, Montesquieu, a. a. O., 125).17 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O., I.,Kap. 1, 10.18 Ein Unterschied zu den Naturgesetzen be-steht vielmehr darin, daß der Mensch die Sit-tengesetze „ohne Unterlaß [verletzt]“ (ebd., 12).19 Ebd., Kap. 3, „Von den positiven Gesetzen“,14–17, hier 16; kursiv, St. G.20 Die jeweiligen lokalen ‚Gesetze’ wurden vonMontesquieu in seiner Schrift gesammelt und kon-zeptuell verbunden. Der synthetisierende Schritt desProjektes ist bei ihm in letzter Instanz allerdings ge-scheitert, da die Datenfülle und die sich verschie-benden Schwerpunkte während der zwanzigjähri-gen Entstehungszeit der Schrift – beginnend mit sei-nen Reisen durch Europa – eine solche Zusammen-führung nicht mehr erlaubten: „Obwohl Montesquieusich die Reihenfolge seiner Kapitel gründlich über-legte und sie immer wieder änderte, konnte er dasProblem der Synthese seiner Erkenntnisse zu einemSystem nicht vollständig lösen. […] Zuweilen wi-

derspricht er in einem späteren Kapitel seinen vor-hergehenden Erkenntnissen.“ (Frank Herdmann,Montesquieurezeption in Deutschland im 18. undbeginnenden 19. Jahrhundert, PhilosophischeTexte und Studien, Bd. 25, Hildesheim/Zürich/New York: Olms 1990, 55.) – Hereth hält dieserAuffassung entgegen, daß es Montesquieu gar nichtauf eine solche Synthese angekommen sei. (Vgl. Mi-chael Hereth, Montesquieu zur Einführung, Ham-burg: Junius 1995, 59.) – Ähnlich äußert sichStarobinski: „Wir erst sehen in Montesquieu denMann der Vielfalt, weil wir das Wissen unter-teilt haben. Er hingegen widmet sich nur einereinzigen Frage: nach der Beziehung der Dingeuntereinander gemäß ihrer natürlichen Ord-nung.“ (Starobinski, Montesquieu, a. a. O., 15.)21 Es beginnt entsprechend mit einem „Allge-meinen Gedanken“, der Hypothese des Buches:„Wenn es wahr ist, daß der Charakter des Gei-stes und die Leidenschaften des Herzens in denverschiedenen Klimaten außerordentlich verschie-den sind, dann müssen die Gesetze auf die Unter-schiedlichkeit dieser Charaktere Bezug haben.“(Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O., Vier-zehntes Buch, „Von den Gesetzen in ihrer Bezie-hung zur Natur des Klimas“, Kap. 1, „AllgemeinerGedanke“, 310.) – Montesquieu arbeitete zwischen1736 und 1743 (dem Zeitraum, in welchem er dieKapitel über das Klima für Vom Geist der Gesetzeverfasst) an einem Versuch über die Gründe, diedie Geister und die Charaktere beeinflussen kön-nen, worin die Thesen klimatisch-physiologischerBestimmungsverhältnisse vorbereitet wird. (Vgl.Vuia, Montesquieu, a. a. O., 151f.)22 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O, I.,Kap. 3, 16.23 Ebd.24 In dem von Destutte de Tracy eigenhändig1806 an Thomas Jefferson übergebenen Kom-mentar zu Vom Geist der Gesetze ist der Klima-begriff Montesquieus erstmals kritisch reflek-tiert: Entgegen der gängigen Definition, nach derdie „bildenden Umstände“ der „physische[n] Be-schaffenheit eines Landes“ verstanden werden,„scheint“ Montesquieu „lediglich an den Grad derBreite, und an den Grad der Wärme, zu denken;während doch die Verschiedenheit der Klimate nim-mermehr davon allein abhängt“ (Destutte de Tracy,Charakterzeichnung der Politik aller Staaten derErde. Kritischer Commentar über Montesquieu’s

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Geist der Gesetze nebst zweien Anhangschriftenvom selben Verfasser und von Condorcet, nachder einzigen europäisch-authentischen Ausgabe desAnno 1811 in Philadelphia erschienenen Originalsübersetzt und glossiert von Carl Eduard Morstadt,2 Bde., Zweiter Band, Heidelberg: Groos 1821[1811], Kap. XV, 74–79, hier 74f.). – Montesquieureduziere demnach das „geographische Klima“ aufden „Wärmegrad“ (ebd., 75, Anm. 2): „Hiernächstbemerke ich [sc. de Tracy], […] dass es [sc. dasKlima] auf den Menschen weniger Einfluss habe,denn auf jedes andere Thier.“ (Ebd., 75.)25 Auf die „philosophische Ansicht, den Teil nur inseiner Beziehung auf das Ganze zu betrachten“ be-zieht sich schließlich Hegel in seiner Rechts-philosophie, darnach „vornehmlich Montesquieu“dies „in seinem berühmten Werke Der Geist derGesetze ins Auge gefasst und euch ins einzelne aus-zuführen versucht hat“ (Georg Wilhelm FriedrichHegel, Grundlinien der Philosophie des Rechtsoder Naturrecht und Staatswissenschaft imGrundrisse, Werke in 20 Bänden, auf der Grund-lage der Werke von 1832–1845 neu edierte Aus-gabe, Redaktion Eva Moldenhauer und Karl Mar-kus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 41993[1986], Bd. 7, § 260, 408).26 Montesquieu hat hierfür selbst physiologischeExperimente angestellt. (Vgl. Herdmann, Montes-quieurezeption, a. a. O., 65.)27 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,XIV., Kap. 2, „Wie sehr die Menschen in denunterschiedlichen Klimaten verschieden sind“,310–314, hier 310.28 Ebd.29 Ebd., 310f.30 Ebd., 312. – Umgekehrt mangele es den Men-schen in den kalten Regionen an „sinnlicher Em-pfindung für Vergnügen“ (ebd., 313).31 Ebd., 312.32 Ebd., 311. – Montesquieu bedient sich bereitsdes Vergleichs der geographischen Zonen mit denverschiedenen Stufen im Alter eines Menschen bzw.eines Mannes: „Die Bewohner warmer Länder sindfurchtsam, wie es die Greise sind; die der kaltenLänder sind mutig wie die jungen Leute.“ (Ebd.)33 Ebd., Kap. 3, „Widerspruch in den Charakterengewisser südlicher Völker“, 315f., hier 315.34 Aus seinen physiologischen Grundlagen lei-tet Montesquieu auch die grundsätzliche Prägungdes indischen Denkens ab: „Die Inder glauben,

daß die Ruhe und das Nichts Urgrund und Endealler Dinge sind. […] Sie geben dem höchsten We-sen den Beinamen des Unbeweglichen.“ (Ebd.,Kap. 5, „Darüber, daß die schlechten Gesetzgeberdie durch das Klima bedingten Laster befördert, dieguten sich ihnen widersetzt haben“, 316f.) Auchnimmt Montesquieu an, daß „die Zahl der Derwischeoder Mönche mit der Hitze des Klimas zu wachse[n][scheint]. Indien, wo sie besonders groß ist, ist volldavon.“ (Ebd., Kap. 7, „Vom Mönchtum“, 318.) –Erst später treten bei Montesquieu China und Ägyp-ten hinzu, die allerdings jeweils als Ausnahmen in-nerhalb der warmen Klimate angeführt werden. (Vgl.bspw. ebd., Kap. 8, „Guter Brauch in China“, 318f.,und Kap. 11., „Von den Gesetzen, die auf die kli-matisch bedingten Krankheiten Bezug haben“, 321–323.) Einzig in Japan, welches nur kurz behandeltwird, seien die Gegensätze zwischen natürlichen undpositiven Gesetzen noch stärker. (Vgl. ebd., Kap.15, „Von dem unterschiedlichen Vertrauen der Ge-setze in das Volk nach Maßgaben des Klimas“,327f.)35 Ebd., Kap. 3, 315; kursiv, St. G.36 Ebd.37 Ebd.38 Wieder verwendet Montesquieu die Alters-analogie: „Wie eine gute Erziehung für Kindernotwendiger ist als für diejenigen, deren Geistgereift ist, so bedürfen die Völker dieses Kli-mas eines weisen Gesetzgebers in höherem Gra-de als die Völker unseres Klimas.“ (Ebd.) – Al-lerdings hätten die „Gesetzgeber ein großes Ver-trauen zu ihm [sc. dem Volk der Inder]“ (ebd.,Kap. 15, 328).39 So muß auch Rousseau, der den Naturzustandder Menschen als idealen beschreibt, zugeste-hen: „Die Freiheit ist nicht allen Völkern erreich-bar, da sie nicht unter jedem Himmel gedeiht. Jemehr man über diesen von Montesquieu aufgestell-ten Grundsatz nachdenkt, desto mehr spürt man seineWahrheit.“ (Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesell-schaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts,in Zusammenarbeit mit Eva Pietzcker neu übersetztund hg. v. Hans Brockard, durchgesehene und bi-bliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart: Reclam1986 [1762], 8. Kap., „Daß nicht jede Regierungs-form für jedes Land geeignet ist“, 85–90, hier 85.)– Derrida hat eine spezielle Struktur in RousseausÜbertragung von Montesquieus ambivalentem Geo-determinismus in die Sprachphilosophie wie in den

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Vernunftdiskurs mit verkehrten Vorzeichen (die Idea-lisierung tropischer Verhältnisse) ausfindig gemacht:„Die Dynamik Rousseaus stellt ein eigenartiges Sy-stem dar, in dem die Kritik am Ethnozentrismus or-ganisch mit dem Europazentrismus verbunden ist.“(Jacques Derrida, Grammatologie, a. d. Franz. vonHans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frank-furt a. M.: Suhrkamp 51994 [1967], 381.) Hierinverbindet Rousseau die Lebhaftigkeit des gespro-chenen Wortes in warmen Regionen mit ihrem Nie-dergang im Falle ihrer Verschriftlichung in kaltenKlimazonen. Daraus resultierend erscheint fürRousseau nach Derrida die Sprache des Nordensnur als ‚wahr’ insofern sie Schrift ist: „Die orienta-lische Leiche liegt im Buch, unsere jedoch bereitsim gesprochenen Wort.“ (Ebd., 389.) Jedoch wirddiese ‚Schrift’ von Rousseau aus dem deutlichenSprechen ohne ‚Arabesken’ abgeleitet, nicht aus ih-rer Schriftlichkeit selbst. – Zur Entstehung vonRousseaus sprachlich-klimatischer Differenzauf-fassung im Lichte der Thesen Condillacs und mitBlick auf Herder vgl. ferner Tanehisa Otabe, „Ent-stehung der modernen Kunstauffassung aus demnordischen Geist 1“, in: Journal of the Faculty ofLetters. The University of Tokyo. Aesthetics,Vol. 22, Tokyo: University of Tokyo 1997, 95–109,hier 96–103.40 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,XIV., Kap. 1, 310; kursiv, St. G.41 Ebd., Kap. 3, 315; kursiv, St. G.42 So folgert Montesquieu beispielsweise, daßder Selbstmord, anders als bei den „Römer[n]“,in England „die Folge einer Krankheit“ (ebd.,Kap. 12, „Von den Gesetzen gegen die Selbst-mörder“, 323f.), also ‚natürlich’ sei. Deshalb kön-ne man ihn dort „ebensowenig bestrafen wie dieFolgen des Wahnsinns“ (ebd., 324).43 Ebd., XV., Kap. 1, „Von der bürgerlichenSklaverei“, 329f., hier 329.44 Hereth, Montesquieu, a. a. O., 28. – „Wennich unser Recht zur Versklavung der Neger zu be-gründen hätte, dann würde ich folgendes sagen: […]Man kann sich nicht vorstellen, daß Gott, der dochein allweises Wesen ist, eine Seele, und gar nocheine gute Seele, in einen ganz schwarzen Körpergelegt habe. […] Ein Beweis dafür, daß die Negerkeine gesunde Vernunft haben, liegt darin, daß sieeine Halskette aus Glasperlen höher schätzen als eineaus Gold […]. Es ist unmöglich sich vorzustellen,daß diese Leute Menschen seien, denn wenn wir

sie für Menschen hielten, müßte man anfangen zuglauben, daß wir selbst keine Christenmenschen sei-en.“ (Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,XIV., Kap. 5, „Von der Versklavung der Neger“,334f., hier 334; kursiv, St. G.)45 Ebd., XV., Kap. 6, „Der wahre Ursprung desRechts der Sklaverei“, 335f., hier 335. – Geradebei Aristoteles spielte diese Suche nach der Be-gründung der ‚natürlichen Sklaverei’ eine wich-tige Rolle. (Vgl. unten 1.3.1.) Nach Montesquieukönnen die „Ausführungen“ von Aristoteles je-doch „[kaum] beweisen, daß es Sklaven von Naturgebe“ (Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,XV., Kap. 6, 335).46 Ebd., Kap. 7, „Anderer Ursprung des Rechtsder Sklaverei“, 336f., hier 336.47 Ebd., Kap. 8, „Nutzlosigkeit der Sklavereibei uns“, 337f., hier 337. – Auch hierin folgt ihmund überbietet ihn zugleich Rousseau: „Auchwenn der ganze Süden von Republiken bedecktwäre und der ganze Norden von despotischenStaaten, wäre es deshalb nicht weniger wahr, daßsich der Despotismus wegen der Wirkung desKlimas für heiße Länder besser eignet, die Bar-barei für kalte Länder und eine gute Staatsord-nung für die dazwischenliegenden Gebiete.“ (Rous-seau, Gesellschaftsvertrag, a. a. O., 8. Kap., 87.)48 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O., Sieb-zehntes Buch, „Über die Beziehung zwischen denGesetzen der Haussklaverei und der Natur des Kli-mas“, Kap. 2, „Von der natürlichen Ungleichheit derGeschlechter in den südlichen Ländern“, 352–354,hier 352.49 Ebd., 352f.50 Ebd., 353.51 Ebd.52 Ebd.53 Gonthier-Louis Fink, „Von Winckelmann bisHerder. Die deutsche Klimatheorie in europäi-scher Perspektive“, in: Johann Gottfried Her-der. 1744–1803, hg. v. Gerhard Sauder, Studienzum achtzehnten Jahrhundert, hg. v. der Deut-schen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehn-ten Jahrhunderts, Bd. 9, Hamburg: Meiner 1987,156–176, hier 158. – Auch Fink betont den‚semiotischen‘ Charakter der „triadische[n] Zonen-theorie“ (ebd., 161), der nicht nur in der Semantikder Aufklärungsschriften, sondern auch in ihrer Syn-tax zum Ausdruck kommt.

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54 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,XVII., Kap. 2; kursiv, St. G. – Im weiteren Verlaufvergleicht Montesquieu auch die Geburtenquote inAsien mit der in Europa und führt den höheren An-teil geborener Mädchen (wodurch bei der Ausübungder Vielehe kein ‚Defizit’ entstehe) ebenfalls auf das„Klima“ (ebd., Kap. 4, „Von der Vielehe; ihre ver-schiedenen Voraussetzungen“, 355f., hier 355) zu-rück.55 Ebd.56 Ebd., 356.57 Diese Inkonsequenz bei Montesquieu hobschon de Tracy hervor. (Vgl. De Tracy, Charak-terzeichnung, a. a. O., XV., 77.)58 Bei Montesquieu liegt eine Unfähigkeit zurAbstraktion von der europäischen Arbeitsauf-fassung vor. – Die ideologiekritische Rückfüh-rung des Konzepts der ‚Arbeit’ auf sozioökono-mische Grundstrukturen und im besonderen aufdie Weise des Verhaltens zu einer jeweiligenForm von Raum bzw. Raumaneignung gelangim Anschluß an Marx erstmals Deleuze und Guat-tari: „Es ist richtig, daß man von den Schwarzenimmer behauptet hat: ‚Die arbeiten nicht, die wissennicht, was Arbeit ist.’ […] Diese [sc. primitiven]Gesellschaften sind nicht faul […]. Diese Gesell-schaften sind nicht gesetzlos […]. Sie haben viel-mehr das Gesetz des Nomos, das […] eine konti-nuierliche Variation der Tätigkeit regelt.“ (GillesDeleuze/Félix Guattari, „1440 – Das Glatte und dasGekerbte“, in: dies., Tausend Plateaus. Kapita-lismus und Schizophrenie 2, a. d. Franz. von Ga-briele Ricke und Roland Voullié, Berlin: Merve 1992[1980], 657–693, hier 680; kursiv, St. G.) –Montesquieu dagegen denkt ‚Arbeit’ vom abend-ländischen logos her, wodurch sich erst die mono-perspektivische Verbindung von ‚Klima’ und ‚Ar-beit’ in seinem Schreiben einstellt: Nach jenem mußeine repräsentative Entsprechung zwischen dem ei-nen und dem anderen vorliegen, deren Tauglichkeitsich wiederum am ökonomischen Urbild der Pro-duktivität bemißt. Wohingegen vom Nomos aus ge-dacht jede ‚Arbeitsweise’ ihren eigenen Rhythmus– mit Montesquieu: ihren eigenen ‚Bezug’ – hat, dersich dem Klima bzw. dem Raum einschreibt, wo-durch ihre Bemessungsgrundlage variiert.59 Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,XVII., Kap. 12, „Von dem natürlichen Scham-gefühl“, 363f.60 Ebd., 363; kursiv, St. G.

61 Die ‚offizielle’, korrigierende Lesart dieser ‚Un-regelmäßigkeit’ sieht deshalb bei Montesquieu einesystematische Unterscheidung zwischen klimatischbeeinflußten und klimatisch nicht beeinflußten Län-dern. (Vgl. Panajotis Kondylis, Die Aufklärung imRahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Mün-chen/Stuttgart: dtv/Klett-Cotta 1986 [1981], „Mon-tesquieu zwischen Naturrecht und Determinismus“,451–458.) – Aufschlußreich in dieser Hinsicht istdie Tatsache, daß Montesquieu in seinen erstmalsbereits 1721 in den ebenfalls in Holland gedrucktenund anonym veröffentlichten Lettres persanes diePerser, das eigentlich paradigmatische Volk der‚warmen Zone’ in der Antike, die Betrachtung dereuropäischen Kultur durchführen läßt. In Vom Geistder Gesetze wird die klimatische Differenz späterzum Grund einer religiösen (nämlich der zwischenChristentum und Islam), welche die politische Welt-karte konstituieren soll: „Vom Menschen aus gese-hen, scheint das Klima die Grenze der christlichenund der mohammedanischen Religion gezogen zuhaben. (Montesquieu, Geist der Gesetze, a. a. O.,(Übersetzung Weigand), Vierundzwanzigstes Buch,„Über die Gesetze in ihrem Bezug zu der in den ein-zelnen Ländern eingeführten Religion hinsichtlich ih-res Wirkens und ihres Wesens“, Kap. 26, „Weite-res zum gleichen Thema“, 383f., hier 383.) – Diegeophilosophisch vertikal angesetzte Klimagrenzewird in eine geopolitisch horizontal gezogeneReligionsgrenze umgemünzt. Auf die Struktur die-ser mentalen Landkarte des Abendlandes kann danndie Geopolitik zurückgreifen, vertreten durch unter-schiedliche Figuren wie Wütschke im Zwischen-kriegsdeutschland und Huntington heute. (Vgl. dazueinschlägig die miteinander verwandten Karten beiJohannes Wütschke, Der Kampf um den Erdball.Politisch-geographische und geopolitische Be-trachtungen zu den Machtfragen der Gegenwartund der Zukunft, München/Berlin: Oldenbourg1935, 77; und bei Samuel Phillips Huntington, „TheClash of Civilizations?“, Foreign Affairs 72/3,New York: Council 1993, 22–49, hier 30.)62 Hier ist folglich der Behauptung der jüngstendeutschsprachigen Untersuchung zu Montes-quieu von Böhlke zu widersprechen: Vor allemgegen die Kritik Bourdieus gerichtet, behauptetsie, jener habe die Klimaeinflüsse nur deshalbthematisiert, um die Vielgestaltigkeit des Zustande-kommens verschiedener Staatsformen zu demon-strieren. (Vgl. Effi Böhlke, ‚Esprit de nation’.

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Montesquieus politische Philosophie, Schriften-reihe des Frankreich-Zentrums der TechnischenUniversität Berlin, hg. v. Günter Abel und Tho-mas Gil, Bd. 5, Berlin: Berlin Verlag 1999, 78–85.)An anderer Stelle hebt sie dagegen selbst die Her-kunft von Montesquieus klimatischen Axiomen ausdem Werk Bodins hervor, worin dem Natur-determinismus und Eurozentrismus das Wort gere-det wird. (Vgl. ebd., 194f.)63 An der Erzeugung der Unterscheidung Griechen-lands von ‚Europa’ und ‚Asien’ setzt Vicos histori-scher Rückgang zu den Anfängen ‚poetischer Geo-graphie’ an. – Diese seien selber Projektionen vonjeweiligen Binnengebieten in Griechenland in dieGegenden seiner Exosphäre gewesen: „[D]ie poe-tische Geographie […] [entstand] in ihren Teilen undin ihrem Ganzen nach eng begrenzten Ideen inner-halb Griechenlands selbst […] und [erweiterte] [sich]dann, als die Griechen später in die Welt heraus-traten, […] zu der umfassenden Form […], in dersie uns nun dargestellt vorliegt.“ (Giovanni BattistaVico, Prinzipien einer neuen Wissenschaft überdie gemeinsame Natur der Völker, a. d. Ital. vonVittorio Hösle und Christoph Jamme, mit Text-verweisen von Christoph Jamme, mit einer Einl.(im Teilbd. 1) von Vittorio Hösle, 2 Teilbde., Ham-burg: Meiner 1990 [1725], Nr. 741., 425f.,hier 425.) – Zur antiken Klimakonzeption vgl.bereits Stephan Günzel, „Nietzsches Geophilo-sophie und die ‚gemäßigte Zone’ im Denken desAbendlandes“, in: Dialektik. Zeitschrift für Kul-turphilosophie, Heft 2000/1, Meiner: Hamburg,17–34, hier 26, sowie ders., „Nietzsches philoso-phische Geographie“, in: Nietzsches Labyrinthe.Perspektiven zur Ästhetik, Ethik und Kultur-philosophie, Philosophische Diskurse 4, hg. v.Gerhard Schweppenhäuser und Jörg H. Gleiter ,Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität 2001, 102–126, hier 111f.64 „Die Völker in den kalten Strichen und in Euro-pa sind zwar mutvoll, haben aber wenig geistige undkünstlerische Anlagen und behaupten deshalb zwarleichter ihre Freiheit, sind aber zur Bildung stattli-cher Verbände untüchtig und ihre Nachbarn zu be-herrschen unfähig.“ (Aristoteles, Politik, 1327b.)65 „Die asiatischen Völker haben einen hellen undkunstbegabten, dabei aber furchtsamen Geist, unddeshalb befinden sie sich in beständiger Dienstbar-keit und Sklaverei.“ (Ebd.)66 Vgl. ebd., 1254b.

67 Ebd., 1254a.68 Aristoteles geht sogar so weit zu behaupten,daß „der Gegensatz von Herrschendem und Die-nendem“ auch in anderen Bereichen, besondersaber zwischen „Männliche[m] und Weibli-che[m]“ (ebd., 1254ab) auftrete. – Auch hierzeichne sich das „Männliche[]“ durch die stär-kere Beherrschung des ‚Körpers’ durch den ‚Ver-stand’ aus.69 Ebd., 1327b.70 Ebd., kursiv, St. G. – Anders als bei Montes-quieu kommt nur bei denen, welche ‚in der Mit-te’ die ‚Vorzüge’ aus beiden Regionen genießen,ein sinnvoller Eingriff durch den Erlaß von Ge-setzen seitens der Regierung in Betracht: „[D]ie-jenigen, die der Gesetzgeber leicht zur Tugendsoll leiten können, [müssen] von Natur intelli-gent und mutig sein […].“ (Ebd.)71 Zwar relativiert Aristoteles in bezug auf dieLinienvorstellung den Vergleich von ethischerund arithmetischer bzw. geometrischer Mittedurch Berücksichtigung der Tatsache, daß sichdie Skalierung ebenso wie die Bemessungs-grundlage verändert, sein Modell bleibt jedochauf diese Analogie gestützt. (Vgl. Aristoteles,Nikomachische Ethik, 1106ab.) – Uneingeschränktläßt Aristoteles dabei das Kreis-Mittelpunkt-Mo-dell gelten. (Vgl. ebd., 1109a.)72 Zur expliziten Klimatheorie des Aristotelesvgl. ferner Manfred Büttner, „Mercator und dieauf einen Ausgleich zwischen Aristoteles undder Bibel zurückgehende ‚Klimamorphologie’vom Mittelalter bis ins frühe 17. Jahrhundert“,in: Wandlungen im geographischen Denken vonAristoteles bis Kant. Dargestellt an ausgewähl-ten Beispielen, Abhandlungen und Quellen zurGeschichte der Geographie und Kosmologie,hg. v. dems., Bd. 1, Paderborn/München/Wien/Zü-rich: Schöningh 1979, 139–150, hier 140–144. –Bereits Platon stellt innerhalb seiner politischen Phi-losophie Überlegungen an, welche darauf zielen, dasKlima eines Ortes bei der Staatsgründung maßgeb-lich zu berücksichtigen. (Vgl. Platon, Politeia, III.,400cd; sowie Nomoi, V., 747de.)73 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1106b; kur-siv, St. G.74 Die Wirkung von Hippokrates’ Thesen aufdie politische Philosophie der Antike hebt auchder Geopolitologe Maull hervor: Nur Strabons Ana-lyse des Zusammenhangs zwischen dem Klima und

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der Entstehung des Römischen Reiches überträfeHippokrates’ Arbeit. (Vgl. Maull, Politische Geo-graphie, a. a. O., 3–7.) – Vor Hippokrates warenentsprechende Überlegungen bereits bei Herodotund Thukydides vorhanden, jedoch nie in dieserBreite ausgeführt worden.75 Die im Folgenden verwandte Übersetzungvon Hans Diller ist die vierte deutschsprachige.Sie erschien erstmals 1962 innerhalb einer Aus-wahl Hippokratischer Schriften. – Zur Geschich-te des Textes und seiner Übersetzungen vgl. auchHans Diller, „Nochmals: Überlieferung und Textder Schrift von der Umwelt“, in: FestschriftErnst Kapp. Zum 70. Geburtstag von Freundenund Schülern überreicht, Hamburg: Schröder1958, 31–49.76 Hippokrates, De aere aquis locis, hg. und a. d.Griech. von Hans Diller, zweisprachige Ausga-be, Corpus medicorum graecorum, edideruntAcademiae Berolinensis Havniensis Lipsiensis,I 1,

2, Berlin: Akademie 1970, 25 [1,

1].

77 Ebd., [1,2-7

].78 Beispielsweise berücksichtigt Lukrez in sei-ner Schrift De rerum natura ebenfalls noch in hip-pokratischer Manier den Einfluß des Klimas auf dieKrankheitsentwicklung bzw. das unterschiedlicheAuftreten von Seuchen. (Vgl. Lukrez, Von der Na-tur, übersetzt von Hermann Diels, mit einer Einfüh-rung und Erläuterung von Ernst Günther Schmidt,hg. v. Manfred Fuhrmann, München: dtv/Artemis1991, Sechstes Buch, „Entstehung der Seuchen“,338–340 [1090–1135].) – Als neuzeitlicher Nach-folger von Hippokrates kann der Engländer RobertBurton gelten, der in seiner Schrift The Anatomyof Melancholy von 1621 die ‚englische Krank-heit’, die Melancholie, nicht zuletzt im Hinblick aufdas Klima untersuchte. (Vgl. Robert Burton, DieAnatomie der Melancholie. Ihr Wesen und Wir-ken, ihre Herkunft und Heilung philosophisch,medizinisch, historisch offengelegt und seziert,ausgewählt und übertragen von Werner v.Koppenfels, Teil III „Schwermut der Liebe“ in derÜbersetzung von Peter Gan, Mainz: Dieterich’sche21995 [1621/1651], bes. 118–122 und 285–288.)– In der Moderne kehren diese Gedanken schließ-lich mit Willy Hellpachs Geopsychologie wieder.(Vgl. Willy Hellpach, Die geopsychischen Erschei-nungen. Wetter, Klima und Landschaft in ihremEinfluß auf das Seelenleben, zweite, vermehrte unddurchgesehene Auflage, mit zwei Tafeln, Leipzig:

Engelmann 21917 [1911].)79 Hippokrates, De aere, a. a. O., 33 [5,

2]; kursiv,

St. G.80 Ebd., 33f. [6,

1]; kursiv, St. G.

81 Die Qualität des Wassers werde durch dieSonneneinstrahlung sowie durch die Gesteine amQuellort entschieden. Letztere Einflußgröße istnach Hippokrates ebenfalls temperaturabhängig,d. h. über die Erdwärme indirekt sonnenabhän-gig. Die Luft bzw. die Winde sowie der Bodenseien dagegen direkt sonnenabhängig. (Vgl. ebd.,37/39 [7,

7ff.].)

82 Ebd., 55 [12,1].

83 Ebd., [12,3f.

].84 Zur Wirkung von Hippokrates auf Aristote-les, wie auch auf Polybios und Strabon, in Fra-gen der philosophischen Klimatologie vgl. Wat-suji Tetsuro, „Eine geschichtliche Betrachtungder Klimatologie“, in: ders., Fudo – Wind undErde. Der Zusammenhang von Klima und Kul-tur, a. d. Jap. und eingeleitet von Dora Fischer-Barnicol und Okochi Ryogi, Darmstadt: Wissen-schaftliche Buchgesellschaft 21997 [1935], 181–212, hier 182f.85 Hippokrates, De aere, a. a. O., 63 [16,

1].

86 Ebd.; kursiv, St. G. – „Dieses Land [sc. Asien]kommt begreiflicherweise dem Frühling sehrnahe in seiner Natur und der Mäßigung seinesKlimas. Tapferkeit aber, Abhärtung, Arbeitsam-keit und Mut kann in solcher Natur nicht entste-hen.“ (Ebd., 57 [12,

9].)

87 Ebd., 65 [18,1].

88 Ebd., 67 [18,3f.

]. – Als besonderen Fall hebtHippokrates die „Sauromaten“ hervor, ein Volk von‚Amazonen’, welche, „solange sie Jungfrauen sind“(ebd., 65 [17,

1f.]), dem Kriegsgeschäft nachgingen.

– Herodot, der diese Androphagen nördlich desSchwarzen Meeres in der heutigen Ukraine am FlussDnjepr – dem antiken Borysthenes – ansiedelt, be-schreibt sie schlicht wie folgt: „Sie treiben keinenAckerbau, sondern sind Nomaden.“ (Herodot, Hi-storien, übersetzt von August Horneffer, neu her-ausgegeben und erläutert von H. W. Haussig, miteiner Einl. von Walter F. Otto, mit zwei Karten, Stutt-gart: Kröner 41971, Viertes Buch, 2., 253.) – DieKenntnisse von Europa im antiken Griechenlandwaren nach Herodot und Hippokrates vor allem auchdurch die Reise Pytheas aus Massilia in den euro-päischen Norden und seiner danach verfaßten SchriftÜber das Weltmeer vermittelt worden. (Vgl. Hanno

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Beck, „Pytheas – der Entdecker des Nordens“, in:Große Reisende. Entdecker und Erforscher un-serer Welt, München: Callwey 1971, 13–19.)89 Hippokrates, De aere, a. a. O., 77 [23,

4].

90 Ebd., 77/79 [23,5].

91 Positiv gewendet kann man Hippokrates auchals Beginn einer Gegenkultur zum religiösen Verständ-nis der Örtlichkeit ansehen, da er – mit Einschrän-kungen – auch die Möglichkeit der Emanzipationvon vorgefundenen geoklimatischen Bedingungendenkt. (Vgl. Jonathan M. Smith/Andrew Light/Da-vid Roberts, „Philosophies and Geographies ofPlace“, in: Philosophy and Geography III.Philosophies of Place, ed. by Andrew Light andJonathan M. Smith, Lanham: Rowman & Littlefield1998, 1–19, hier 3.)92 Hippokrates, De aere, a. a. O., 71 [20,

1]; kur-

siv, St. G. – „Wenn sie aber tätowiert sind, wirddie Fülle der Feuchtigkeit aus den Gelenken aus-geschieden, und ihr Körper wird straffer, kräftigerund besser gegliedert.“ (Ebd., [20,

2].)

93 „Wo nämlich die Erdoberfläche fett, weichund gut bewässert ist, wo die Gewässer sehr ander Oberfläche liegen, so daß sie im Sommerwarm und im Winter kalt sind, und wo das Landeine gute klimatische Lage hat, da sind auch dieMenschen fleischig, schlecht gegliedert, feucht,nicht widerstandsfähig und in ihrer Seele mei-stens feige.“ (Ebd., 83 [24,

9]; kursiv, St. G.) – Das

‚Gute’ der „klimatische[n] Lage“ bezieht Hippokra-tes auf das Ideal geringer Temperaturschwankun-gen, jedoch nicht auf die direkten physiologischenFolgen eines Klimas.94 Eine eigene Charakterisierung des griechischenKlimas fehlt bei Hippokrates, einzig negativ kannsie erschlossen werden: An der „Grenze“, so Hip-pokrates, „zwischen Europa und Asien“ befindetsich die „Maiotische See“ (ebd., 57 [13,1]), dasAsowsche Meer (ein Ausläufer des SchwarzenMeeres im Norden an der Mündung des Don). –„Die Völker in dieser Gegend [sc. zur Rechten desSonnenaufgangs; im nördlichen Asien, St. G.] derErde sind mehr voneinander unterschieden als dievorerwähnten [sc. Ägypter und Libyer] wegen derSchwankung des Klimas und entsprechend derNatur des Landes. Es verhält sich nämlich mit derBodenbeschaffenheit ähnlich wie mit den Menschen.Wo das Klima starken Schwankungen in dichterFolge unterworfen ist, da ist auch die Landschaftbesonders wild und ungleichmäßig […].“ (Ebd.,

[13,2-3].) – Es ist also gerade die Absenz starkerSchwankungen, so kann gefolgert werden, welcheim Gegenzug Griechenland auszeichnet. Eben die-sen Vorzug der klimatischen und in der Folge an-thropologischen Gleichmäßigkeit wird Herder spä-ter an Europa festmachen.95 Johann Gottfried Herder, Sämtliche Werke[= SWS], hg. v. Bernhard Suphan, 3., unveränder-ter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1891, Hildes-heim/Zürich/New York: Olms-Weidmann 1994, Bd.XXX, 102.96 SWS XIII, 386. – Herder hatte hier bereitsseine Einstellung gegenüber Montesquieu geän-dert: In dem Vorläufer der ‚Ideen-Schrift’ ausdem Jahr 1774, Auch eine Philosophie der Ge-schichte zur Bildung der Menschheit, kritisierteHerder Montesquieus Anliegen öffentlich nochals ‚zu groß’ für einen einzelnen Menschen. (Vgl.SWS IV, 565f.)97 Am 4. November 1769 schreibt Herder: „Ebenwerfe ich mich in den Reisewagen nach Parisund lese nichts anderes als Montesquieu unter-wegens.“ (Brief aus Nantes an Begrow zit. nachJohann Gottfried Herder, Journal meiner Reise imJahr 1769, hist.-krit. Ausgabe, hg. v. KatharinaMommsen unter Mitarbeit von Momme Mommsenund Georg Wackerl, Stuttgart: Reclam 1976 [1846],295f.) – Zum Folgenden siehe bereits die Vorstudievon Stephan Günzel, „Geographie bei Herder undNietzsche. Eine geophilosophische Detailstudie“, in:Texte zur Theorie der Sozialgeographie 1, hg. v.Benno Werlen und Roland Lippuner, Jenaer Geo-graphische Manuskripte, hg. v. Wolfgang-AlbertFlügel, Roland Mäusebacher, Tilman Rhode-Jüchtern, Christian Schmullius, Peter Sedlacekund Benno Werlen, Bd. 23, Jena: Friedrich-Schil-ler-Universität Jena/Institut für Geographie, 24–44, hier 23–32.98 Zu Herders Klimatheorie vgl. auch Watsuji,„Eine geschichtliche Betrachtung“, a. a. O., 185–197. – An einem derartigen Projekt arbeiteten inDeutschland auch andere Gelehrte zeitgleich mitHerder: Ludwig August Schlözer, dessen SchriftenVorstellung der Universal-Historie von 1772 mit-unter Herders Quelle für geographische und ethno-graphische Daten bildete, befand als Grundsatz der– von ihm zugegeben: bloß subjektiv ‚vorgestellten’– ‚Ordnung der Völker’: „Klima, Diät, Kunst undZufall, bestimmen die heutigen physischen Verschie-denheiten der Völker.“ (Ludwig August Schlözer,

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Vorstellung der Universal-Historie, zwote, ver-änderte Auflage, Göttingen: Dieterich 21775 [1772],9; kursiv, St. G.) Im zweiten Teil seiner Schrift rea-giert Schlözer 1773 ausführlich auf die harsche Kri-tik Herders. Die Nähe zu dessen objektivierten ‚Ide-en’ der Weltgeschichte ist gleichwohl offenkundig.(Vgl. Horst Walter Blanke, „Einleitung“, in: LudwigAugust Schlözer, Vorstellung seiner Universal-Historie (1772/73), mit Beilagen, hg., eingeleitet undkommentiert von Horst Walter Blanke, Beiträge zurGeschichtskultur, Bd. 4, hg. v. Jörn Rüsen, Ha-gen: Rottmann 1990, 9–26, hier 11 und 22f.) 1785und ein weiteres Mal 1792 erscheint der erste Bandsowie 1789 und 1801 der zweite in jeweils überar-beiteten Ausgaben, beide unter dem nun veränder-ten Titel Weltgeschichte nach ihren HauptTheilenim Auszug und Zusammenhang.99 SWS IV, 421.100 Die Rezeption und Bewertung von Montes-quieus Klimathesen in Deutschland erfolgte zu-nächst vor allem in der Vorrede des ersten Über-setzers der ‚Gesetze’, Abraham Gotthelf Kästner,im Jahre 1753 und durch Christian Ludwig Paalzow,der 1780 den Kommentar Voltaires zu Montes-quieus Schrift übertrug, sowie im darauffolgendenJahr eine eigene Replik auf Montesquieu, Versuchüber die Gesetze, verfaßte. Beide stehen der um-fassenden Theoretisierung des Klimas durch Mon-tesquieu skeptisch bis ablehnend gegenüber. NurKästner räumt deren Berechtigung aufgrund vonMontesquieus ‚Welterfahrenheit’ ein. (Vgl. dazuHerdmann, Montesquieurezeption, a. a. O., 85f.)– Eine erste grundsätzliche Kritik der Verbindungvon Regierungsform und Klima veröffentlichte 1771Friedrich Ehrenreich Behmers im ersten Band sei-nes Werkes Otia in otio minime otiosi: Behmerführt gegen Montesquieu das historische Argumentan, wonach gleiche Klimate durch die Geschichtehindurch von verschiedenen Kulturen und Religio-nen bewohnt wurden, welche ihrem Ursprung nachmeist ganz anderen Zonen angehört hätten. (Vgl.ebd., 96f.) Die Ursache für die breite Ablehnungder deterministischen Klimathesen sieht Vierhaus inder „bunten Vielfalt“ der „staatlichen ZuständeDeutschlands“ (Rudolf Vierhaus, „Montesquieu inDeutschland. Zur Geschichte seiner Wirkung alspolitischer Schriftsteller im 18. Jahrhundert“, in:Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Rit-ter zum 60. Geburtstag, von Ernst-WolfgangBöckenförde u. a., Basel/Stuttgart: Schwabe 1965,

403–437, hier 416). – Anderen Themen betreffendwurde Montesquieu in Deutschland am Ende desachtzehnten Jahrhunderts hauptsächlich von natio-nalistisch gesonnenen Denkern aufgenommen. Einebesondere Rolle spielte hier die erst bei Hegel zurvollen Entfaltung kommende Kategorie des (objek-tiven) ‚Geistes’ bzw. des ‚Volksgeistes’. (Vgl. dazuebd., 418; und Herdmann, Montesquieurezeption,a. a. O., 14–16.) Gerade auch Herder bedient sichvor allem des letzten Terminus im BewußtseinMontesquieus. (Vgl. Weigand, „Einleitung“, a. a. O.,7f. und 29f.)101 „Selbst dem großen Montesquieu hat manden Vorwurf gemacht, daß er seinen klimati-schen Geist der Gesetze auf das trügliche Expe-riment einer Schöps-Zunge gebauet habe.“ (SWSXIII, 268.) – ‚Schöpszunge’ ist so eigentlich dieBezeichnung für die Zunge eines ‚Hammels’. EineVariante der Stelle lautet: „auf das Experiment miteiner gefrornen und aufgethaueten Kalbszunge ge-gründet“ (ebd., Anm.). Bezeichnet wird also derunsinnige Versuch, etwas Todes wieder zum Lebenzu erwecken und hernach für lebendig auszugeben.102 So notiert Herder nach der Lektüre: „So vielRegierungsarten es also gibt, so viele Sachen,oder Daten zu abstrahiren, und wenn keine zweiRegierungsarten, Länder und Völker sich in derWelt gleich sind, so gehört ein Universalismusdazu, sie alle zu übersehen: zu kennen zu ord-nen. Montesquieu hat nur wenige gekannt, undunter den wenigen noch wenigere recht zum Ge-genstande gemacht: daher ist sein Buch so unvoll-kommen und seine Grundsätze so unapplicabel.“(SWS IV, 465.)103 „Es wäre unnütz, durch eine lange Rede anjetztdem bessern Geschäft des heutigen Tages, jungeLeute im Wettkampf ihres Fleißes und Ruhmes zuzeigen, seine ärmliche Zeit zu nehmen; und nochunnützer wärs, diese Zeit mit einer lateinischen Redezu verlieren, die gerade dem Theil unsrer Versamm-lung halb oder ganz unverständlich wäre, dem icham meisten verständlich zu werden wünschte.“(SWS XXX, 96.)104 Ebd., 97.105 Ebd.106 Vgl. ebd., 98. – Ferner sei auch der Unter-richt von Latein und Griechisch von diesem Pro-blem affiziert.107 Ebd. – „Wer wird das Haus nicht kennen lernenwollen, in dem wir wohnen, den abwechselnden

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Schauplatz, auf den uns die schaffende Güte undWeisheit zu setzen für gut gefunden?“ (Ebd.)108 Ebd.109 Ebd., 99f.110 Ebd., 100.111 So illustriert Herder eine mögliche mentale Rei-se wie folgt: „Wenn der Jüngling in Gedanken […][einen; St. G.] hohen Erdrücken besteigt und ihresonderbaren Phänomene kennen lernt, wenn er sodenn mit den Flüssen hinab in die Thäler wandert,endlich an die Ufer des Meers kommt und überallandre Geschöpfe, an Mineralien Pflanzen Thierenund Menschen gewahr wird, wenn er einsehen lernt,daß was ihm die Gestalten der Erde sonst Chaoswar, auch seine Gesetze und Ordnung hat, wie hier-nach und nach den Gesetzen des Clima Gestalten,Farben, Lebensarten, Sitten und Religionen wech-seln und sich verändern, und ohngeachtet aller Ver-schiedenheit das Menschengeschlecht doch allent-halben ein Brudergeschlecht von einem Schöpfererschaffen, von einem Vater entsprossen, nach Ei-nem Ziel der Glückseligkeit auf so verschiedenenWegen ringend und strebend – o wie wird sich seinBlick erheben, wie wird sich seine Seele erweitern.“(Ebd., 99.)112 Ebd., 100.113 Ebd., 102.114 Ebd., 103.115 Ebd., 102. – Dieser Satz findet sein Korrelatin der einleitenden Formulierung der ‚Ideen‘-Schrift: „Sind also die Zeiten nicht geordnet, wiedie Räume geordnet sind?“ (SWS XIII, 8.)116 SWS XXX, 102.117 Vgl. Friedrich Ratzel, Anthropo-Geographieoder Grundzüge der Anwendung der Erdkundeauf die Geschichte, Stuttgart: Engelhorn 1882, 27.–1935 kehrt der Satz auch als Motto in Wütschkesgeopolitischem Hauptwerk wieder. (Vgl. JohannesWütschke, Der Kampf um den Erdball. Politisch-geographische und geopolitische Betrachtungenzu den Machtfragen der Gegenwart und derZukunft. München/Berlin: Oldenbourg 1935, 10.)118 SWS XIII, 269, kursiv, St. G.119 Zuvor war die klimatische Beeinflussung inner-halb der Abhandlung über den Ursprung derSprache bereits als Faktor der Sprachentwicklungin Betracht gezogen worden. (Vgl. SWS V, 125–128 und 137.) – Zum Aufschwung der Klimatologiezur Zeit Herders und deren Schlüsselstellung zwi-schen Theologie und Naturwissenschaft vgl. Man-

fred Büttner, „Protestantische Theologie und Klima-tologie im 18. Jahrhundert“, in: Zur Entwicklungder Geographie vom Mittelalter bis zu Carl Rit-ter, Abhandlungen und Quellen zur Geschichteder Geographie und Kosmologie, hg. v. dems.,Bd. 3, Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh1982, 183–217.120 SWS XIII, 22.121 Herder spricht bescheiden davon, daß er einesolche „Theorie erleb[en]“ (ebd.) möchte, nichtjedoch unmittelbar davon, daß er es ist, der sichan einer solchen versucht.122 Ebd.123 Ebd., 13. – Im Sinne von terminus medius.124 Ebd., 22.125 In den Briefe[n] zur Beförderung der Hu-manität hält Herder als Grundsatz fest: „Die größ-ten Revolutionen des Menschengeschlechts hingenbisher von Erfindungen, oder von Revolutionen derErde ab; wer kennet diese in der unabsehlichenFolge der Zeiten? Climate können sich ändern;[…].“ (SWS XVIII, 290.) – Der Begriff der‚Erdrevolution’ war in der philosophischen Ge-schichtsgeographie des achtzehnten Jahrhundertseine verbreitete Chiffre für die ‚Veränderung’ desErdkörpers überhaupt. So werden beispielsweisevon Schlözer in einer säkularisierten Deutung derbiblischen Schöpfungsgeschichte die sechs aktivenSchöpfungstage als sechs ‚Revolutionen’ betrach-tet. (Vgl. Schlözer, Vorstellung, a. a. O., 9.) DasBild der Erdumdrehung innerhalb eines Tages, dieRevolution, bezieht sich so nur auf ‚Tage’ der grund-sätzlichen Erdveränderung, also wirkliche ‚Tage’ ausder planetarischen Sicht eines Gottes. Schlözer nenntes ferner auch einen „Zirkel von Veränderungen“(ebd., 224). – „[S]olche Revolutionen […] machendie Materie der Weltgeschichte aus.“ (Ebd., 229.)126 Es zu fassen, bedeutet nach Herder, „diesesChaos von Ursachen und Folgen zu einer Weltzu ordnen“ (SWS XIII, 269).127 Ebd., 27.128 Dilthey kritisierte später diese Theorievermen-gung von Erdachsenstellung und Temperaturzonenvon Anaxagoras bis Alexander von Humboldt. (Vgl.Wilhelm Dilthey, Einleitung in die Geisteswissen-schaften. Versuch einer Grundlegung für dasStudium der Gesellschaft und der Geschichte,hg. v. Bernhard Groethuysen, Gesammelte Schrif-ten, Bd. I, Stuttgart/Göttingen: Teubner/Vanden-hoeck & Ruprecht 41959 [1883], 167.)

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129 So Herder über Hippokrates: „Für mich derHauptschriftsteller über das Klima.“ (SWS XIII,269, Anm.)130 Ebd., 27. – Nur einen Absatz vorher findet sichbei Herder die widersprechende Aussage, daß es„ein Zeichen der tiefen nordischen Barbarei“ sei,„in der wir die Unsrigen […] von Jugend auf [erzie-hen]“ (ebd., 25; kursiv, St. G.), solche Vielfalt zuignorieren.131 Ebd., 26. – „Es ist eine unsägliche Weisheitdarinn [sic!], nicht, daß alles so vielfach, sonderndaß auf der runden Erde alles noch so ziemlichunison geschaffen und gestimmt ist.“ (Ebd.; kursiv,St. G.)132 Bereits Lévi-Strauss bemerkte, daß der Ur-sprung des Kulturrelativismus bei Herder von derBestrebung nach Abgrenzung begleitet war. (Vgl.Claude Lévi-Strauss, „Das Wesen des Men-schen“, in: ders., Der Blick aus der Ferne, a. d.Franz. von Hans-Horst Henschen und JosephVogl, mit einem Bildteil von Anita Albus, Sup-plemente, hg. v. Hans-Horst Henschen, Bd. 3,München: Fink 1985 [1983], 53–69 [1979],hier 54f.) – Zur Anwendung des Kugelmodellsauf den Kulturbegriff bei Herder vgl. WolfgangWelsch, „Transkulturalität – die veränderten Ver-fassung heutiger Kulturen“, in: Sichtweisen. DieVielheit in der Einheit, hg. v. der Stiftung Weima-rer Klassik, Weimar: Stiftung Weimarer Klassik1994, 83–122, hier 88. – Teilweise äußert Herderauch den Wunsch nach einem einzigen Zentrum,welches er zumeist im ‚gemäßigten Klima’ lokali-siert: „So irren wir auf der Erde in einem Labyrinthmenschlicher Phantasieen [sic!] umher: wo aber derMittelpunkt des Labyrinths sei auf den alle Irrgängewie gebrochne Strahlen zur Sonne zurückführen, dasist die Frage.“ (SWS XIII, 309.)133 Diese Ausrichtung in Herders Philosophie ver-dankt sich zudem seiner Faszination für die physisch-metaphysische Entität der ‚Sonne’ als Ursache derKlimadifferenzen: So verweist Herder auf den TextGedanken über die Natur der Sonne und Ent-stehung ihrer Flecken von Bode (vgl. ebd., 20,Anm.): Bode versuchte (in Bezugnahme auf die 1612entdeckten ‚Sonnenflecken’) zu belegen, daß auchauf der Sonne Wesen leben können: die „Sonnen-bewohner“ (Johann Elert Bode, „Gedanken überdie Natur der Sonne und Entstehung ihrer Flecken“,in: Beschäftigung der Berlinischen GesellschaftNaturforschender Freunde, Zweeter Band, mit

Kupfern, Berlin: Pauli 1776, 225–252, hier 247).Für Bode ist es ausgeschlossen, daß „die Gewaltdes Feuers, das immer traurige Ideen von Zerstö-rung mit sich führet“ und Gedanken an das „Chaos“(ebd., 230) evoziert, dem göttlichen Schöpfungs-plan entsprechen kann: „Auf dieser wohltätigenQuelle des Lichts und der Wärme kann ich mir kei-nen so allgemein Grausenvollen [sic!] Zustand ge-denken […].“ (Ebd.) – „Diese Erklärung scheint mir[Bode; St. G.] die einfachste und glaubwürdigste zusein.“ (Ebd., 247.)134 SWS XIII, 26f. – Dasselbe galt schon aufder Makroebene für die Erde innerhalb des Son-nensystems: „Wir sind nicht im Mittelpunkt son-dern im Gedränge; wir schiffen, wie andre Er-den, im Strom umher und haben kein Maaß [sic!]der Vergleichung.“ (Ebd., 18.) – „Unser Verstandist nur ein Verstand der Erde […].“ (Ebd., 20;kursiv, St. G.) – Zur Bedeutung der kosmologi-schen Situierung des Erdplanetens für die philoso-phische Geographie Herders und ihre Einbettung indie von Herder rezipierte, naturwissenschaftlicheKosmologie sowie Geologie des achtzehnten Jahr-hunderts vgl. Rainer Baasner: „GeographischeGrundlagen von Herders Geschichtsphilosophie –am Beispiel der Begriffe ‚Kultur’ und ‚Nation’“, in:Nationen und Kulturen. Zum 250. GeburtstagJohann Gottfried Herders, hg. v. Regine Otto,Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, 111–120, hier 113–116.135 SWS XIII, 28.136 Ebd., 265f.137 Ebd., 266.138 „[D]er kleine Magnet wird uns auf dem Meerder verschiedensten Wißenschaften [sic!] seyn,was er auf dem großen Weltmeere geworden ist,der Entdecker neuer Welten.“ (Ebd.).139 „Nicht Hitze und Kälte ists allein, was ausder Luft auf uns wirket; vielmehr ist sie nachden neuern Bemerkungen ein großes Vorraths-haus andrer Kräfte, die schädlich und günstigsich mit uns verbinden.“ (Ebd., 268.)140 Ebd., 186.141 Ebd.142 Die folgenden vier Punkte fasst auch Kant inseiner Rezension vom November 1785 zum zwei-ten Teil von Herders Schrift (mit anderer Gewich-tung) als „Hauptsätze[]“ (Kant’s gesammelteSchriften [= AA], hg. v. der Königlich PreußischenAkademie der Wissenschaften u.a., Berlin: Reimer/

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de Gruyter 1901ff., Bd. VIII, 59) zusammen. – ZurWirkung von Kants Kritik auf Herders Fortsetzungder ‚Ideen-Schrift’, die vermehrt empirische Bele-ge über die ‚Wilden’ enthält, vgl. Eugene E. Reed,„‚Savages’ in the Ideen? The Herder-Kant Quar-rel“, in: Revue des langues vivantes 44, Brüssel:Didier 1978, 498–507.143 SWS XIII, 270.144 Ebd.145 Ebd. – In den Briefe[n] zur Beförderung derHumanität wiederholt Herder sein Kugelgestalt-Argument: Die Leistung von Montesquieu undanderen „Reisenden“ hätte darin bestanden, „unsreErde, wie eine Kugel zu betrachten, auf der mitallen Klimaten und Erzeugnissen der Klimate, auchmancherlei Völker, in jedem Zustande, seyn müs-sen, und seyn werden“ (SWS XVIII, 237f.; kursiv,St. G.).146 SWS XIII, 270.147 Ebd., 271. – In einem seiner letzten Vorträ-ge, den er am 1. April 1850 an der Akademieder Wissenschaften in Berlin gehalten hat, veran-schlagt Carl Ritter diese von Herder ein halbes Jahr-hundert zuvor aufgegriffene Thesen über das Ver-hältnis von Geographie (Landmassen, Land-Meer-Verhältnis etc.) und Menschheitsentwicklung als nun„allgemein bekannt voraus[zu]setzen“ (Carl Ritter,„Über räumliche Anordnungen auf der Außenseitedes Erdballs und ihre Functionen im Entwicklungs-gang der Geschichte“, in: ders., Einleitung zur all-gemeinen vergleichenden Geographie und Ab-handlungen zur Begründung einer mehr wissen-schaftlichen Behandlung der Erdkunde, Berlin:Reimer 1852, 206–246 [1850], hier 211): „DieLandwelt [die Nordhemisphäre; St. G.] mußte sichim Gedränge der Populationen und der übergrei-fenden Reibungen wie des dadurch bedingten Aus-tausches zuerst kultiviren, die Wasserwelt [dieSüdhemisphäre; St. G.] mußte einen Haufen roherbleibender Völkergruppen beherbergen […].“(Ebd., 213.) „In der einen Erdhälfte liegen alleLändermassen vorherrschend vereint, in der ande-ren zerstreut […].“ (Ebd., 212.) Die naturgewirkte,vereinzelnde Zerstreuung der Südhalbkugel und inder Folge die analoge Trennung einzelner ‚Volks-gruppen’ hielt nach Ritter nur solange vor, „bis dieSchiffahrt entdeckt und zur Weltschiffahrt vervoll-kommnet war, wodurch auch für sie [die Völker derSüdhemisphäre; St. G.] aus einem stationären Zu-stande der Tag einer progressiven Entwicklung her-

annahen sollte“ (ebd., 213). Auch für Ritter liegt dasGlück der Menschheit in der vom nördlichen Bal-lungsraum der Erde ausgehenden, dem humangeo-graphischen Charakter dieser Weltgegend entspre-chenden Globalisierung. (Zur weiteren und an He-gel angelehnten historischen Charakterisierung derErdteile nach Ritter vgl. ebd., 225ff.; sowie Man-fred Büttner, „Amerika, Höhepunkt und Abschlußder Kulturentwicklung? Zu Carl Ritters ‚eschatolo-gischer’ Vorstellung vom Gang der Kultur über dieErde“, in: Materialien zur Didaktik der Geogra-phie, hg. v. Hans-Martin Cloß, Peter Gaffga, Gui-do Groß und Walter Sperling, Heft 16, Geogra-phie und ihre Didaktik. Festschrift für WalterSperling, hg. v. Heinz Peter Brogiato und Hans-Martin Cloß, Teil 2, Beiträge zur Geschichte, Me-thodik und Didaktik von Geographie und Kar-tographie, Trier: Geographische Gesellschaft 1992,35–63, hier 38–43.) – Zum Verhältnis von Ritter zuHerder vgl. Andreas Schach, Carl Ritter (1779–1859): Naturphilosoph und Geograph. Erkennt-nistheoretische Überlegungen Reform der Geo-graphie und mögliche heutige Implikationen,Abhandlungen zur Geschichte der Geowissen-schaften und Religion. Umweltforschung: NeueFolge, hg. v. Manfred Büttner, Bd. 2, Münster: LIT1996, 52–60.148 SWS XIII, 271. – „Wir können also das Men-schengeschlecht als eine Schaar [sic!] kühner, ob-wohl kleiner Riesen betrachten, die allmählich vonden Bergen herabstiegen, die Erde zu unterjochenund das Klima mit ihrer schwachen Faust zu verän-dern.“ (Ebd., 272) – Herder beantwortet die Fragenach dem kulturellen „Gipfel“ der „lebendige[n]Pyramide“ mit einer geographischen Lokalisierung:„In Asien nämlich hatte unsre Kugel jene große undweite Höhe, die nie vom Wasser bedeckt [sc. war][…]. Um diese Gebürge entstand der größte Welt-theil […]: auf und an diesen Gebürgen lebt diegrößeste [sic!] Menge aller Arten lebendiger Thier-schöpfung […].“ (Ebd., 402.) – Die Suche nachdem Berg Ararat (dem Landeort der Arche des letz-ten und zugleich ersten Menschen Noahs, die einezweite Schöpfung symbolisiert) mündet bei Herderin die Bestimmung eines idealen Berges, den zuvorLinné in der Darstellung eines vertikal aufgerichte-ten Schöpfungstableaus in Oratio de terra habita-bili den Philosophen als mythologische Folie hin-terließ. Das Bild übernimmt nicht nur Herder, son-dern auch Kant in seinen Anthropologievorlesungen

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und bereits in einer frühen geologischen Abhand-lung von 1754. (Vgl. AA VII, 323, Anm. und AAI, 200.)149 SWS XIII, 272; kursiv, St. G. – Das Vokabu-lar der ‚wohlgebildeten’, ‚schönen’ oder ‚milden’‚Mitte’ durchzieht die Bücher der Ideen zur Philo-sophie der Geschichte der Menschheit, wobeiimmer neue Konnotationen und Analogien eine Zen-trierung des gemäßigten Klimas fortschreiben: Soüber „[d]ie Lappen“ (ebd., 155): Sie „bewohnen[…] einen mildern Erdstrich [sc. als die Eskimos],wie sie auch ein milderes Volk sind. […] [W]ie dieKnospe, die sich dem Stral [sic!] der mildern Son-ne entfaltet [tuth sich auch die innere Organisationdes Menschen von einander].“ (Ebd.; kursiv, St. G.)Sodann über „[d]ie Perser“ (ebd., 222): „[H]ier [hatsich] eine Bildung zusammengesetzt, die bei edlerenPersern Würde und Schönheit verbindet. Hier liegtTschirkaßien, die Mutter der Schönheit; zur andernSeite des Kaspischen Meers wohnen TatarischeStämme, die sich in ihrem schönen Klima auchschon zur Wohlgestalt gebildet […] haben. […]Schöne Wohlgestalt! […] warum konntest du dichnicht dem ganzen Erdball mittheilen?“ (Ebd. 223;kursiv, St. G.) Schließlich Griechenland, „d[ie] Kü-sten des mittelländischen Meers“ (ebd., 225): „Hierwurden Gestalten gedacht und geschaffen, wie siekein Liebhaber Tschirkaßischer Schönen, keinKünstler aus Indien oder Kaschmire entwerfen kön-nen. Die menschliche Gestalt ging in den Olympusund bekleidete sich mit göttlicher Schönheit. […]Zuerst fällt jedermann ins Auge, daß der Strich derwohlgebildetsten Völker ein Mittelstrich der Erdesei, der wie die Schönheit selbst, zwischen zweienAeußersten lieget.“ (Ebd., 226; kursiv, St. G.) –„[N]ach Europa“ will Herder sich dagegen nicht„verirren“ (ebd.). Er bestimmt es nur annähernd:„Wenn die Gottheit nicht unsre ganze Erde zum Sitzder Schönheit machen konnte: so ließ sie wenig-stens durch die Pforte der Schönheit das Menschen-geschlecht hinauftreten und mit lang’ eingeprägtenZügen derselben die Völker nur erst allmählich andreGegenden suchen. […] Der Neger hat für die Eu-ropäer nichts erfunden; er hat sich nie in den Sinnkommen lassen, Europa weder zu beglücken, nochzu bekriegen. Aus den Gegenden schöngebildeterVölker haben wir unsre Religion, Kunst, Wissen-schaft, die ganze Gestalt unsrer Kultur und Huma-nität […]. In diesem Erdstrich ist alles erfunden, […]was die Menschheit verschönern und bilden konn-

te.“ (Ebd., 227f.; kursiv, St. G.) – In seinem frühenText zur Geschichtsphilosophie von 1774, in wel-chem Herder, „in eurozentrischer Perspektive dieEntwicklung der Menschheit von ihrem Ursprungan nachzeichnete“ (Fink, „Von Winckelmann bisHerder“, a. a. O., 171), schreibt er bereits, daß die„Aufklärung und Bildung der Welt […] [nur] ei-nen schmalen Streif des Erdballs berührt und ge-halten [hat]“ (SWS V, 564).150 SWS XIII, 272.151 Das Bild des ‚Treibhauses’ als klimatische Chif-fre der ‚Künstlichkeit’ wird von Herder selbst in ei-nem anderen Zusammenhang eingeführt: „Der Ge-schmack endlich ist eine Nationalpflanze; wo sienicht gepflegt wird oder des Bodens und Klimawegen nicht anders als in schlechten Treibhäusernaufkommen kann.“ (SWS XVII, 198.)152 Herder behält so das hippokratisch-aristoteli-sche Bild der Struktur nach bei, wie in seiner poli-tisch-geographischen Besprechung Amerikas:„Oben und unten sind Zwerge und nahe bei denZwergen Riesen: in der Mitte wohnen mittelmäßi-ge, wohl- und minder wohlgebildete Völker, sanftund kriegerisch, träge und munter, von allerlei Le-bensarten und von allen Charakteren.“ (SWSXIII, 249; kursiv, St. G.)153 Zur kritischen Betrachtung der nationalistischenTendenzen in Herders Denken vgl. Jost Müller,Mythen der Rechten. Nation, Ethnie, Kultur,Berlin/Amsterdam: Edition ID-Archiv 1995, 37–39.154 SWS XIII, 280. – Insgesamt veranschlagt Her-der eine direktere und größere Wirkung durch gene-tische Vorgänge als durch das Klima, dies aber nurin bezug auf einzelne Menschen. Die Menschheitbzw. ihre Geschichte sei nach wie vor ein ‚Kind’des Klimas.155 Herders weiterreichende Vorstellung betrifftdie Anfertigung von „einigen Charten“, um „einephysisch-geographische Geschichte der Abstam-mung und Verartung unsres Geschlechts nachKlimaten und Zeiten [zur Anschauung zu bekom-men]“ (ebd., 285). – Eines seiner Vorbilder ist Ge-org Forster: Herder wünscht sich „ähnliche Beiträ-ge zur philosophisch-physischen Geographie auchüber andre Striche der Erde als Grundstein zur Ge-schichte der Menschheit“ (ebd., 239). An andererStelle spricht Herder von einer „anthropologische[n]Karte der Erde“ nach dem Muster einer „zoolo-gische[n]“ (ebd., 251; kursiv, St. G.) Karte und auchvon einer „völlige[n] Geographie“ in bezug auf

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„Klimate und Nationen“ (ebd., 303).156 Ebd., 289. – An späterer Stelle: „Legen wirden Begriff der Europäischen Kultur zum Grunde:so findet sich diese allerdings nur in Europa; […].“(Ebd., 348.)157 Ebd., 273.

Zum Autor Dr. Stephan Günzel:1992-1997 Magisterstudium der Philo-sophie, Soziologie und Psychologie inBamberg, Manchester und Magdeburg1997-2000 Wissenschaftlicher Mitarbei-ter im Fachbereich Philosophie an denUniversitäten Magdeburg und Jena, Pro-motion2000-2002 Redaktionsassistent bei derProSiebenSat.1 Media AGseit 2002 Postdoktorandenstipendiat derVolkswagen-Stiftung im Rahmen destransdisziplinären Forschungsprojektes„Archive der Vergangenheit. Wissens-transfers zwischen Archäologie, Philoso-phie und Künsten“ an der Humboldt-Universität zu Berlin.Lehraufträge an den Universitäten Ber-lin, Jena, Lüneburg, Magdeburg undWeimar für Geographie, Kulturwissen-schaft und Philosophie.

Monographien:Immanenz. Zum Philosophiebegriff vonGilles Deleuze. Essen: Blaue Eule 1998.Geophilosophie. Nietzsches philosophi-sche Geographie, Berlin: Akademie 2001.Anteile. Analytik, Hermeneutik, Politik,Weimar: VDG 2002.Maurice Merleau-Ponty, Bern/Stuttgart/Wien: Haupt (UTB) 2005.