Gerhard Bosinski Die Geschichte des Menschen - … · halten ist, lebten auch die Vorfahren des...

8
Dauer und Darstellung der menschlichen Geschichte hängen ab von der Defini- tion des Menschen. Es ist üblich, mit den ersten planmäßig hergestellten Steinwerkzeugen vor etwa 2,5 Millionen Jahren vom Menschen und Beginn der Geschichte zu sprechen. Im weitaus längsten Teil ihrer Geschichte – mehr als 95 % – lebten die Menschen als Jäger und Sammler. In einigen Teilen der Welt ist dies bis heute so. Fraglos wur- den Wesen und Verhalten des Menschen in dieser langen Zeitspanne geprägt. Die seit dem Beginn der Produktion (Ackerbau, Viehzucht, Industrie) vergangenen, kaum 10000 Jahre waren viel zu kurz, um etwas entscheidend zu ändern. V V or diesem Hintergrund kann man versuchen, einige Entwicklungs- linien menschlicher Geschichte herauszuarbeiten. Grundlegend sind dabei die am klarsten von Charles Darwin darge- stellten Mechanismen der Evolution. Die- ses Prinzip der Weiterentwicklung durch Auswahl und Anpassung ist auch in unse- rer Geschichte niemals außer Kraft gesetzt worden. Dem Wesen des Menschen ent- sprechend gilt es nicht nur und zunehmend weniger für die körperliche Entwicklung, sondern auch für die Fähigkeit, Hilfsmittel herzustellen und einzusetzen. Bevölkerungs- entwicklung Eine Leitlinie der menschlichen Geschich- te ist die Zunahme der Bevölkerung. Die Menge der Erfahrungen und deren Bewah- rung und Weiterentwicklung sind in einer kleinen Menschengruppe geringer als in einer großen. Insofern ist die Entwick- lungsgeschwindigkeit geradezu ein Spie- gelbild der Bevölkerungszunahme. Für die frühen Abschnitte sind wir auf grobe Schätzungen angewiesen. Nehmen wir an, daß es am Anfang der Geschichte vor etwa 2,5 Millionen Jahren etwa 1 Mil- lion gleichzeitig lebender Menschen gab. Zu Beginn der Zeit des Homo erectus vor 1,5 Millionen Jahren hatte sich diese Zahl vielleicht verdoppelt. Zur Zeit des Nean- dertalers vor 300 000 Jahren könnten es bereits 5 Millionen gewesen sein. Im Jungpaläolithikum, der Zeit unserer direk- ten Vorfahren (Homo sapiens sapiens), läßt die Vermehrung der Fundstellen dann auf eine deutliche Zunahme der Bevöl- kerung schließen. Am Ende des Jungpa- läolithikums vor l0 000 Jahren könnten Basisbeitrag 4 Gerhard Bosinski Die Geschichte des Menschen Alt- und Mittelsteinzeit Abb. 1: Vormensch Frühmensch Altmensch Jetztmensch Abb. 3: Ausgrabungen in der Oldovai- Schlucht in Tansania. Hier wurden

Transcript of Gerhard Bosinski Die Geschichte des Menschen - … · halten ist, lebten auch die Vorfahren des...

Dauer und Darstellung dermenschlichen Geschichtehängen ab von der Defini-tion des Menschen. Es ist üblich, mit den erstenplanmäßig hergestelltenSteinwerkzeugen vor etwa2,5 Millionen Jahren vomMenschen und Beginn derGeschichte zu sprechen.Im weitaus längsten Teilihrer Geschichte – mehrals 95 % – lebten die Menschen als Jäger undSammler. In einigen Teilen der Welt ist dies bis heute so. Fraglos wur-den Wesen und Verhaltendes Menschen in dieserlangen Zeitspanne geprägt.Die seit dem Beginn derProduktion (Ackerbau,Viehzucht, Industrie) vergangenen, kaum 10000Jahre waren viel zu kurz,um etwas entscheidend zu ändern.

VVV or diesem Hintergrund kann manversuchen, einige Entwicklungs-linien menschlicher Geschichte

herauszuarbeiten. Grundlegend sind dabeidie am klarsten von Charles Darwin darge-stellten Mechanismen der Evolution. Die-ses Prinzip der Weiterentwicklung durchAuswahl und Anpassung ist auch in unse-rer Geschichte niemals außer Kraft gesetztworden. Dem Wesen des Menschen ent-sprechend gilt es nicht nur und zunehmendweniger für die körperliche Entwicklung,sondern auch für die Fähigkeit, Hilfsmittelherzustellen und einzusetzen.

Bevölkerungs-entwicklungEine Leitlinie der menschlichen Geschich-te ist die Zunahme der Bevölkerung. DieMenge der Erfahrungen und deren Bewah-rung und Weiterentwicklung sind in einerkleinen Menschengruppe geringer als ineiner großen. Insofern ist die Entwick-lungsgeschwindigkeit geradezu ein Spie-gelbild der Bevölkerungszunahme.

Für die frühen Abschnitte sind wir aufgrobe Schätzungen angewiesen. Nehmenwir an, daß es am Anfang der Geschichtevor etwa 2,5 Millionen Jahren etwa 1 Mil-lion gleichzeitig lebender Menschen gab.Zu Beginn der Zeit des Homo erectus vor1,5 Millionen Jahren hatte sich diese Zahlvielleicht verdoppelt. Zur Zeit des Nean-

dertalers vor 300 000 Jahren könnten es bereits 5 Millionen gewesen sein. Im Jungpaläolithikum, der Zeit unserer direk-ten Vorfahren (Homo sapiens sapiens),läßt die Vermehrung der Fundstellen dannauf eine deutliche Zunahme der Bevöl-kerung schließen. Am Ende des Jungpa-läolithikums vor l0 000 Jahren könnten

Basisbeitrag4

Gerhard Bosinski

Die Geschichte des MenschenAlt- und Mittelsteinzeit

Abb. 1: Vormensch Frühmensch Altmensch Jetztmensch

Abb. 3: Ausgrabungen in der Oldovai-Schlucht in Tansania. Hier wurden

20 Millionen Menschen gleichzeitig ge-lebt haben. Alle diese Zahlen sind Schät-zungen, die die Bevölkerungszahl wahr-scheinlich viel zu hoch ansetzen.

Demgegenüber lebten 1950 mehr als2,5 Milliarden Menschen. 1993 hatte sich

diese Zahl bereits verdoppelt, und gegen-wärtig wächst die Weltbevölkerung jähr-lich um 90 Millionen.

Die Bevölkerungsentwicklung verläuftwie die Kurve ex. Dabei sind Zäsuren wiedas Auftreten neuer Menschenformen oderdie Ausbreitung neuer Wirtschaftsweisenim Verlauf der Kurve nicht mehr erkenn-

bar oder darstellbar. Es zeigt sich auch, daßdie Bevölkerungsentwicklung gegenwärtigjedes Maß verloren hat und zu einer un-heimlichen Bedrohung für alle Kontinentegeworden ist. Dies steht nun in unbewältig-tem Widerspruch zum erworbenen Ver-

halten auf ethischem und medizinischem Gebiet.

MenschenformenIm Laufe der Zeit wechselten verschiedeneMenschenformen einander ab (Abb. 1). Diegrößten Unterschiede und Veränderungengab es in Form und Volumen des Schädels.Während die ältesten Menschenformen(Homo habilis, Homo erectus) einevorspringende Mund-Nasenregion, kräfti-ge Überaugenbögen, eine flache Stirn undein Schädelvolumen von durchschnittlich800 ccm (Homo habilis) und 1000 ccm(Homo erectus) hatten, beträgt das Schä-delvolumen beim archaischen Homosapiens einschließlich des Neandertalersund auch bei uns ca. 1500 ccm.

Der Homo habilis („Vormensch“) leb-te vor ca. 2,5–1,5 Millionen Jahren, der –ungenügend definierte – Homo erectus(„Frühmensch“) vor 1,8 Millionen bis300 000 Jahren, der archaische Homo sapi-ens einschließlich des Neandertalers(„Altmensch“) vor 300 000–40 000 Jahren. Die heutige Menschenform (Homo sapienssapiens / „Jetztmensch“) kennen wir seitetwa 100 000 Jahren.

Die einzelnen Menschenformen warenkeine Konstanten, sondern einer Entwick-lung unterworfen. Dies führte zu einer er-heblichen Variationsbreite in Raum undZeit. Es ist auch sicher, daß die genannten

Menschenformen auseinander hervor- undineinander übergingen. Insofern verstellendie vergebenen Namen und deren Ver-wechselung mit festen Größen mitunterdas Verständnis. Sicher war die Herausbil-dung einer neuen Form in einem Gebiet

zentriert. Von hier breitete sie sich dannaus und verdrängte das Ältere. Diese Ent-stehungsräume müssen nicht immer im sel-ben Gebiet gelegen haben. So zeigt dieneuere Geschichte die Ausbreitung der Eu-ropäer und die Vernichtung der zuvor inAmerika und Australien lebenden Men-schen. Dieses Beispiel dokumentiert auch,daß die neue und die alte Form eine Zeit-lang gleichzeitig lebten, wie es ebenfallsfür die frühen Menschenformen belegt ist.

Lebensraum und UmweltbeherrschungDie Heimat des Menschen sind die Savan-nen der warmen Klimazonen. In dieserwildreichen Graslandschaft, wie sie heute– in allerdings zivilisierterem Zustand – inder Serengeti-Steppe in Ostafrika noch er-halten ist, lebten auch die Vorfahren desMenschen (Australopithecus afarensis),die in Ostafrika seit etwa 6 Millionen Jah-ren nachweisbar sind.

Die Entwicklung von Neuem hat stetseinen Grund, sie ist oft sogar eine Notwen-digkeit. So herrscht Übereinstimmung dar-über, daß die Herausbildung des Menschendurch eine ausgeprägte Trockenperiodevor 2,5 Millionen Jahren, durch die sich dieLebensmöglichkeiten in der Savanne Ost-afrikas spürbar verschlechterten, verur-sacht wurde. Dies ist auch der Beginn desdurch Klimaschwankungen gekennzeich-

PRAXIS GESCHICHTE, Heft 6/1994 5

Knochenreste des „Vormenschen“ (Homo habilis) gefunden

Fot

o: A

rchi

v W

este

rman

n

Abb. 2: Übersicht der wichtigsten Fundorte Quellen: ANNO, Bd. 1, Braunschweig 1994, S. 16 (Karte) und S. 18

neten Eiszeitalters (Pleistozän), das inhöheren Breiten in den Kaltzeiten auch zuInlandvereisung führte, wie wir es z.B. ausEuropa nördlich der Alpen kennen. In Afri-ka reagieren die Vorfahren des Menschen(Australopithecinen) unterschiedlich aufdie neue, schwierigere Situation. Die Ent-wicklung mächtiger Kauwerkzeuge (Kie-fer, Zähne) einschließlich der zugehörigenkräftigen Kaumuskulatur war eine Mög-lichkeit. Dies führte zum Australopithecusrobustus, einem Vegetarier, der bis in dieZeit vor etwa 1 Million Jahre lebte.

Eine andere, auf die Dauer erfolgrei-chere Entwicklung basiert auf der Verwen-dung von Hilfsmitteln. Diese ältestenSteinwerkzeuge veranlassen uns, ihre Her-steller als die ersten Menschen – Homo ha-bilis – zu bezeichnen. Zu den grundlegen-den Prinzipien gehört es auch, daß zu-nächst die natürlichen oder technischenVoraussetzungen bestehen müssen, bevor

die Veränderung erfolgt. Diese Unterschei-dung von Ursache und Wirkung bedeutet,daß es zuerst die Werkzeuge, erst danachund deshalb den Menschen gab.

Der Lebensraum des Homo habilis warweiterhin die Savanne Ost- und Südafrikas.Die Zahl der Menschen hat jedoch relativschnell zugenommen. Anders ist es kaumzu erklären, daß bereits vor 2 MillionenJahren eine Ausweitung des Lebensraumesnach Südasien erfolgte. Eine derartigeAusbreitung basiert auf einem Bevölke-rungsdruck. Der Selektionsvorteil, der zuder raschen Zunahme der Menschen führ-te, bestand vermutlich im Besitz vonWerkzeugen. Vor 1,8 Millionen Jahren fin-den wir Menschen bereits im südlichenKaukasusgebiet, in Südchina und auf Java.Vermutlich handelt es sich um ein zusam-menhängendes Siedlungsgebiet: das bishe-rige Fehlen von Funden auf den indischenSubkontinenten beruht auf einer For-

schungslücke. Die Menschenfunde – Dma-nisi in Georgien, Wushan in Südchina,Sangiran 31 und Sangiran 5 auf Java –gehören zu einer Übergangsform zwischenHomo habilis und Homo erectus.

Im Kaukasusgebiet und in Südchinalebten die Menschen weiterhin in einer Sa-vannenlandschaft. Südelefant und Step-pennashorn, Pferd, Gazelle und Strauß inder Tierwelt von Dmanisi unterstreichendies. Auch auf Java war in dieser Zeit eineoffene Landschaft verbreitet. Die Besied-lung Javas erfolgte, als die Insel währendeiner Kaltzeit bei abgesenktem Meeres-spiegel mit Hinterindien verbunden war.Der Anstieg des Weltmeeres machte Javazur Insel und die dort zurückgebliebenenMenschen und Tiere zu einem Isolat. Es istauch sicher, daß die Menschen von Hinter-indien aus nach Java gelangten, d.h. daßauch dort vor 1,8 Millionen Jahren Men-schen lebten.

Die weitere Ausbreitung der Mensch-heit nach Asien und Europa nördlich vonHimalaya und Kaukasus führt in Gebiete,in denen sich die Klimaschwankungen desEiszeitalters stärker auswirkten. In den ver-hältnismäßig kurzen, nur 10 000–15 000Jahre dauernden Warmzeiten breiteten sichhier Waldsteppen aus. In den wesentlichlängeren Kaltzeiten waren Steppen miteinem starken Temperaturunterschied zwi-schen warmen Sommern und bitterkaltenWintern ein weit verbreitetes Biotop. DieBesiedlung dieses Gebietes erfolgte seitetwa 1 Million Jahren und war erst möglichdurch den Besitz des Feuers.

Die Nutzung des Feuers war die größteund wichtigste aller Erfindungen. DasFeuer war ein wirksamer Schutz vor dengroßen Raubkatzen, den lange Zeit größtenFeinden des frühen Menschen. Ihr Schick-sal endete häufig in den Horsten von Leo-parden und Löwen. Mit dem Besitz desFeuers war dies weniger der Fall. Es er-möglichte eine weitere Zunahme der Be-völkerung und das Heraustreten aus demnatürlichen Gleichgewicht. Das wärmende

Basisbeitrag6

Quelle: Zeichnung von F. Wendler, Weyarn. In : E. Probst, Deutschland in der Steinzeit. Jäger, Fischer und Bauernzwischen Nordseeküste und Alpenraum. C. Bertelsmann Verlag München 1991, S. 52

Abb. 5-6: Oberschädel (Original im Staatlichen Museum für Naturkunde in Stuttgart) und Rekonstruktionszeichnung einer frühen Neandertalerin, die aufgrund des Fundortes – Steinheim an der Murr (Baden-Württemberg) – auch als „Steinheim-Mensch“ bezeichnet wird Quelle: Zeichnung von F. Wendler. In: E. Probst, a.a.O., S. 57 und S. 65 (Foto)

Abb. 4: Lagerleben von „Frühmenschen“in Bilzingsleben (Thüringen) an einerFeuerstelle vor über 300 000 Jahren

Feuer war die Voraussetzungfür die Besiedlung kühler Kli-mazonen. Es hatte darüber hin-aus eine große soziale Bedeu-tung: die Feuerstelle wurde zumMittelpunkt der Gruppe. Durchden Besitz des Feuers unter-schied sich der Mensch endgül-tig von allen anderen Lebewe-sen, und spätestens jetzt war ersich seiner Sonderstellung auchbewußt (Abb. 4). Die ältestenFeuerspuren an Siedlungsplät-zen kennen wir von Chesowan-ja (Äthiopien) und Swartkrans(Südafrika) aus der Zeit vor ca.1,3-1,4 Millionen Jahren.

Bei der Erweiterung desSiedlungsraumes über die war-men Klimazonen hinaus nachEurasien nördlich der Hochge-birge vor etwa 1 Million Jahrenmüssen wir davon ausgehen,daß der Mensch im Besitz desFeuers war. Zunächst ist dieseVergrößerung des Gebietes nurdurch wenige Fundplätze inOstasien (Lantian), Mittelasien(Kul’dara) und Europa (Grottedu Vallonnet) belegt. Erst abetwa 600 000 Jahren scheintdieses Gebiet besiedelt gewe-sen zu sein. Diese Erweiterungdes Siedlungsgebietes erfolgtedurch den Homo erectus.

Die neuen Umweltverhält-nisse – Waldsteppe, Steppe mitkalten Wintern – stellten neueAnforderungen und erforderteneine bessere Umweltbeherr-schung (Kleidung, Behausung).Es scheint, als habe sich vordiesem Hintergrund und in die-sem Gebiet aus dem Homo er-ectus eine neue Menschenform,der archaische Homo sapiens,entwickelt. Es ist durchaussinnvoll, die Entstehung dieserneuen Menschenform in einemGebiet mit erhöhten Anforde-rungen und nicht im Süden(Südasien, Afrika) mit den dortgleichbleibend günstigen Umweltverhält-nissen zu suchen.

Hierfür sprechen auch die Funde. Derarchaische Homo sapiens tritt in Eurasienseit etwa 300 000 Jahren auf und die Men-schenfunde von Dali und Hexian in Chinasowie Steinheim (Abb. 5-6), Swanscombe,Ehringsdorf und Biache in Mittel- undWesteuropa sind älter als der archaischeHomo sapiens in Afrika (Broken Hill).Auch die Kultur des archaischen Homo sa-piens, das Mittelpaläolithikum, beginnt inEurasien früher und ist wesentlich besserbelegt als in Afrika. Übertrieben scheint esallerdings, wenn einige Anthropologen alleFunde aus Europa, also auch die bis zu900 000 Jahre alten Fundstellen und diezwischen 600 000 und 400 000 datierten

Menschenfunde von Mauer, Verteszöllösund Bilzingsleben, bereits dem archa-ischen Homo sapiens zuweisen möchten.

Eine nochmalige deutliche Erweite-rung des Lebensraumes erfolgte dann voretwa 30 000 Jahren. Die Voraussetzunghierfür scheint eine wichtige Verbesserungder Bewaffnung, die Erfindung der Speer-schleuder (siehe S. 9), gewesen zu sein.Die neue Waffe führte zu größerem Jag-derfolg und dies zu einer Zunahme der Be-völkerung. Als Folge des Bevölkerungs-druckes wurde nun ganz Sibirien, von dortaus über die Landbrücke im Gebiet der Be-ringstraße Amerika, im Süden außerdemAustralien besiedelt. Durch das Abschmel-zen des Inlandeises am Ende der letztenKaltzeit seit etwa 20 000 Jahren wurden in

Nordeuropa und Nordamerikaneue Gebiete zugänglich undbesiedelt. Vor etwa 10 000 Jah-ren waren dann fast alle be-wohnbaren Gebiete der Erdeentdeckt und bewohnt.

TechnikDie Technik hat für diemenschliche Geschichte eineentscheidende Bedeutung. Sieist eine Besonderheit des Men-schen, die ihm den entscheiden-den Selektionsvorteil zunächstgegenüber den Tieren, spätergegenüber anderen Menschen-gruppen verschuf. Den Erhal-tungsmöglichkeiten entspre-chend beschränkt sich unsereKenntnis der Technik weitge-hend auf die Gegenstände ausStein und Knochen (einschließ-lich Geweih und Elfenbein).

AbschlägeAm Anfang steht die Herstel-lung scharfkantiger Abschlägeaus hartem, sprödem Gestein.Diese Abschläge wurden vonden Rohstücken, meist Geröl-len, durch Schlagen mit einemSchlagstein abgetrennt. Sehrbald wurde am Rohstück eineSchlagfläche angelegt, von deraus die Abschläge gewonnenwurden. Auch die Erfahrung,daß ein Schlagwinkel von etwa60° am besten geeignet ist,wurde schon früh gemacht. DieKanten der Abschläge sindscharfe Schneiden und wurdenals Messer benutzt. Für andereArbeiten waren sie zu scharfoder hatten nicht die gewünsch-te Form; sie wurden deshalbüberarbeitet (retuschiert). Ab-schläge und Geröllgeräte sinddie ältesten Steinwerkzeuge. Inder Zeit des Homo habilis gabes nur diese, in einfacher Tech-nik hergestellten Steinartefakte.

Das verwendete Gestein stammte stets ausder nahen Umgebung des Fundplatzes.

Faustkeile und CleaverIn der sich anschließenden Zeit des Homoerectus entstanden neue Werkzeugformen.Aus den Geröllgeräten entwickelte sich derFaustkeil (Abb. 7). Faustkeile sind aufOber- und Unterseite behauene, meist zu-gespitzte Werkzeuge. Die Herstellung er-folgte mit einem Schlagstein; für die ab-schließende Zuformung wurden häufigSchlaginstrumente aus Geweih oder Hart-holz benutzt. Die Verwendung der Faust-keile ist unklar. Es ist nicht einmal sicher,ob alle Faustkeile wirklich in der Hand ge-führt wurden oder nicht auch geschäftetwaren.

PRAXIS GESCHICHTE, Heft 6/1994 7

Abb. 7: Herstellung eines Faustkeils Zeichnung: B. Pfeifroth, Reutlingen

Zusammen mit den Faustkeilen tretendie Cleaver auf. Es sind meist aus größerenAbschlägen gearbeitete Werkzeuge miteiner breiten Schneide, die stets aus zähe-ren, nicht zu spröden Gesteinen, meist ausQuarzit oder Basalt hergestellt wurden.Hieraus und aus Beschädigungen an derArbeitskante läßt sich schließen, daß dieCleaver zu groben Arbeiten dienten undmöglicherweise beilartig geschäftet waren.

Faustkeile und Cleaver sind kennzeich-nende Geräte des mit dem Homo erectusverbundenen Acheuléen. Entstehungs- undhauptsächliches Verbreitungsgebiet desAcheuléen ist Afrika. Von hier aus greiftdie Verbreitung von Faustkeilen und Clea-vern nach Klein- und Südasien, in einerSpätphase über die Straße von Gibraltarhinweg auch nach Südwest und Westeuro-pa über. Neben den Faustkeilen und Clea-vern gibt es im Acheuléen weiterhinGeröllgeräte und Abschläge.

EinsatztechnikEine wichtige technische Neuerung wardie Entwicklung der Einsatztechnik voretwa 30 000 Jahren. Zwar war es bereitszuvor üblich, Holzlanzen mit Steinspitzenzu versehen oder kleine Abschläge (Ab-splisse) als Widerhaken aufzukleben. Nunentstand jedoch eine Technik, kleine Stein-artefakte als Messerschneiden, Spitzenoder Widerhaken mit Schäften aus Holz,Geweih oder Knochen zu verbinden. Diehäufigste Form der Steineinsätze sind

dabei die „Rückenmesser“, schmale, lang-gestreckt-rechteckige Klingen (Lamellen)mit dickem Rücken und scharfer Schneide.Rückenmesser wurden aus schmalen Klin-gen hergestellt, deren eine Längskantezunächst durchgehend einen retuschiertenRücken erhielt. Dann wurden das verdick-te untere Ende und die unregelmäßige Spit-zenpartie als unbrauchbare Teile abgebro-chen und das verbleibende Mittelstück inzwei bis drei Stücke, die „Rückenmesser“,zerbrochen. Dieses Zerlegen war notwen-dig, um die Biegung der ursprünglichenKlinge auszugleichen und gerade Einsätzezu erhalten.

Die Einsatztechnik war eine deutlicheVerbesserung der Waffen- und Werkzeug-technik und hat sich deshalb sehr schnellüber ein großes Gebiet ausgebreitet. Ähn-lich dürfte es auch mit anderen technischenNeuerungen gewesen sein, ohne daß mandeshalb mit einer Wanderung von Men-schen rechnen müßte.

SpantechnikIn der gleichen Zeit wie die Einsatztechnikerscheint vor etwa 30 000 Jahren erstmalseine spezielle Bearbeitungstechnik für Ge-weih. Zwar wurden Knochen, Geweih undElfenbein bereits in der Zeit des Homoerectus zur Werkzeugherstellung benutzt,doch entsprach ihre Zuformung eher einereinfachen Steinbearbeitungstechnik.

Bei der nun auftretenden Spantechnikhandelt es sich jedoch um ein speziell auf

den Rohstoff Geweih bezogenes Verfahren(Abb. 8): In die Geweihstange wurden miteinem Steinwerkzeug (Stichel) zwei paral-lele Rinnen durch die harte Kompakta bisin die schwammige Spongiosa eingetieft.und anschließend der zwischen diesen Rin-nen stehende Span mit Hilfe von kleinenKeilen herausgetrennt. Dieser Span wardann die Ausgangsform für die Herstellungvon Geschoßspitzen (Abb. 9), für die sichdas harte und doch elastische Geweih be-sonders gut eignete. Dabei mußte der ausder gebogenen Geweihstange gewonneneSpan zunächst begradigt werden. Dies er-folgte vermutlich durch Einweichen und„Strecken“ mit einem „Lochstab“, einemstabilen durchlochten Gerät mit langemGriff, der eine erhebliche Hebelwirkungerlaubt. Diese Technik blieb nicht nur aufdie Geweihbearbeitung, für die sie beson-ders geeignet ist, beschränkt. Man benutztesie auch zur Herstellung von Nadeln ausKnochen und zur Gewinnung von Elfen-beinstäben aus Mammutstoßzähnen.

Neben grundlegend wichtigen Techni-ken – Einsatztechnik und Spantechnik –sind für das Jungpaläolithikum (die Zeitzwischen 40 000–12 000 v. Chr.) auch be-sonders eindrucksvolle technische Fähig-keiten bei der Geweih- und Steinbearbei-tung herauszustellen. Als Beispiel für dieGeweihbearbeitung mögen die skulptiertenWiderhakenenden von Speerschleuderndienen (Abb 11). Bei der Steinbearbeitungsind die Blatt- und Kerbspitzen des Solu-

Basisbeitrag8

Abb. 8: Geweihbearbeitung mit Hilfe der Spantechnik Abb. 9: Geschoßspitzen (r. u. 3.v.r.) und zweireihige Harpunen

Fot

o: S

chlo

ß M

onre

po,R

GZM

Que

lle:

E. P

robs

t, a.

a.O

. S. 1

53/R

osga

rten

mus

eum

Kon

stan

z

tréen besonders hervorzuheben. Bei diesenoft sehr regelmäßigen, flachen Stückendrängt sich der Gedanke an spezialisierteSteinschläger, die nicht nur für sich selbstarbeiteten, auf.

Geschäftete BeileIn den nacheiszeitlichen Jägerkulturen be-gegnet uns eine wichtige technische Neue-rung, das geschäftete Beil. Die ziemlichgrob behauene Beilklinge („Kernbeil“)sitzt dabei in einer Fassung aus Hartholz(u.a. Wurzelholz), die ihrerseits einenHolzschaft hatte. Es stellt sich die Frage,ob solche (zur Holzbearbeitung unabding-baren) Beile nicht bereits früher bekanntwaren, und ob die Cleaver und einigeFaustkeilformen nicht auch in ähnlicherWeise geschäftete Beilklingen waren,deren hölzerne Schäfte sich nicht erhaltenkonnten.

Das weitgehende Fehlen von Holzge-genständen ist eine wesentliche Einschrän-kung unseres Wissens. Die Gebrauchsspu-ren an den Steinwerkzeugen weisen häufigauf die Holzbearbeitung hin, und man ver-mutet, daß Holz in der gesamten Altstein-zeit ein sehr wichtiges Material für dieHerstellung von Waffen, Geräten und an-deren Gegenständen war.

Geschliffene orale Unterlagen zur Kan-tenbearbeitung von Steinwerkzeugen (Re-tuscheure) von Willendorf in Niederöster-reich und aus der Kartsteinhöhle in derNordeifel sowie die sorgfältig geschliffeneOberfläche von Steinstatuetten zeigen, daßdie Technik des Steinschliffes seit etwa30 000 Jahren bekannt war, jedoch nur sel-ten angewendet wurde. Ähnlich ist es mitder Keramik: In Unterwisternitz (Mähren)besteht ein Teil der Tier- und Menschen-figuren aus gebranntem Lehm (in einerHütte befand sich ein Ofen zum Brennender Figuren) und in Japan gibt es seit etwa9000 v. Chr. auch Gefäße aus Keramik. Esscheint jedoch, daß Gefäße aus Leder etc.

im Leben der Jäger und Sammler zweck-mäßiger waren.

BewaffnungIm Zusammenhang mit Jagd und Kampfwar die Bewaffnung in der menschlichenGeschichte stets wichtig. Unklar ist die Artder Bewaffnung in den Anfangsphasen.Die Steinwerkzeuge des Homo habilis –Abschläge und Geröllgeräte – eignetensich nicht als Waffen. Vielleicht dientenrundum behauene, sorgfältig zugerichteteSteinkugeln als Wurf- oder Schleuder-kugeln. Hinzu kamen sicherlich Stöcke,vielleicht auch schon Lanzen.

Mit solchen Waffen hatten die Men-schen aber nur eine geringe Chance,schnelle Herdentiere (Zebra, Gazelle) zuerlegen. Leichter war es, sich den großenPflanzenfressern (Elefant, Nashorn, Fluß-pferd) zu nähern: diese „Megaherbivoren“hatten kaum natürliche Feinde und keinegroße Fluchtdistanz. Die Frage, ob derMensch bereits in der Lage war, dieseGroßtiere zu töten, drängt sich auf. Injedem Fall gibt es am Rudolfsee (LakeTurkana) und in der Olduvai-Schlucht inden Schichten dieser Zeit Skelette vonFlußpferd und Elefant, darum herum Ab-schläge und Geröllgeräte. Dies beweist je-doch noch nicht, daß der Mensch dieseTiere tötete: sie könnten auch verendet unddann vom Menschen zerlegt worden sein.

Spätestens seit der Zeit des Homo erec-tus dürfen wir annehmen, daß die Holz-lanze die wichtigste Waffe war. Tatsäch-lich gefunden wurden solche Lanzen inClacton-on-Sea (England) aus der Spätzeitdes Homo erectus und in Lehringen (Lüne-burger Heide) aus der Zeit des archaischenHomo sapiens. Für anderthalb MillionenJahre galt die Holzlanze als die Waffe.Vermutlich war sie ein unverzichtbares At-tribut des Mannes und nicht nur als Waffe,sondern auch als Grabstock und Stütze

nützlich. Die 2,50 m lange Eibenholzlanzevon Lehringen wurde unter dem Skeletteines Waldelefanten (E. antiquus) gefun-den und belegt, daß auch Elefanten mit die-sen Lanzen erlegt werden konnten.

Am Anfang des Jungpaläolithikumswaren die Holzlanzen mit großen Kno-chenspitzen bewehrt. Die Funde solcherKnochenspitzen in Höhlenbärenhorstenzeigen, daß mit einer darartigen Waffeauch Höhlenbären gejagt wurden.

Speerschleudern und HarpunenEine einschneidende Änderung der Be-waffnung erfolgte vor etwa 30 000 Jahrendurch die Erfindung der Speerschleuder(Abb. 10). Sie ist ein Wurfbrett oder -stabmit einem Widerhaken, auf das der Speer-schaft gelegt wurde. Die Hebelwirkungdieser Schleuder verleiht dem Speer einewesentlich größere Durchschlagskraft alsvergleichsweise bei einer mit der Hand ge-worfenen Lanze. Diese Speere hatten eineSpitze aus Geweih. Diese Geschoßspitzenwurden aus Geweihspänen, die mit derSpantechnik aus dem Geweihschaft her-ausgetrennt worden waren, hergestellt.

In einem Abschnitt der Magdalénien,einer Jägerkultur der späten Altsteinzeit inWest- und Mitteleuropa, wurden die Wi-derhakenenden von Speerschleudern auchaus Geweih geschnitzt. Mitunter sind dieseWiderhakenenden mit Skulpturen verziertworden. Der Platz für diese Skulpturen wardurch die Morphologie des Geweihs vor-gegeben. Der Erfindungsreichtum, mit derdie Schnitzereien in den begrenzten Platzhineinkombiniert wurden, ist beeindruk-kend. Wenn beispielsweise der Platz fürden Kopf eines Tieres nicht ausreichte, ließder Künstler das Tier zurückblicken, oderer setzte den Tieren – wie bei den beidenkämpfenden Steinböcken am Widerhaken-ende einer Speerschleuder von Les TroisFrères – Köpfe aus anderem Material auf(Abb. 11 unten).

PRAXIS GESCHICHTE, Heft 6/1994 9

Abb. 10: Landschaftsrekonstruktion und Jagdszene mit einer Speerschleuder

Zeic

hnun

g: D

. Ew

ers,

RG

ZM

Abb. 11: Widerhakenenden mit Skulpturen

Fot

o: S

chlo

ß M

onre

pos,

RG

ZM

Die Speerschleuder hat die Bewaff-nung entscheidend verbessert. Ein größererJagderfolg und eine Zunahme der Bevölke-rung waren die Folge. Eine weitere Ver-besserung war die Erfindung der Harpune(Abb. 9), einer Widerhakenspitze, die sichnach dem Treffer vom Schaft löst, mit demsie jedoch durch eine Leine verbundenblieb. Dieses Prinzip der sich ablösendenHarpunen wurde im Magdalénien Mittel-und Westeuropas vor etwa 15 000 Jahrenerfunden. Neben der Speerschleuder gab essicher weiterhin Wurflanzen. Möglicher-weise gehörten auch Wurfhölzer nach Artdes Bumerangs zur Bewaffnung.

Unklar ist bisher das erste Auftretenvon Pfeil und Bogen. Diese enger als dieSpeerschleuder mit dem Körper verbunde-ne, zielgenauere Fernwaffe kann seit demEnde der letzten Kaltzeit nachgewiesenwerden. Offen ist allerdings, ob Pfeil undBogen nicht bereits früher und zusammenmit der Speerschleuder bekannt waren. Beiden nacheiszeitlichen Jägern werden Pfeilund Bogen eindeutig wichtiger als dieSpeerschleuder. Die in Holzschäften ein-gesetzten geometrischen Mikrolithen wur-den mit Pfeil und Bogen verschossen. Daßdies nicht nur bei der Jagd auf Tiere derFall war, zeigen solche Mikrolithen in denKnochen menschlicher Skelette.

BehausungAnders als Technik und Bewaffnung ist dieArt der Behausung zunächst nicht das Er-gebnis einer Entwicklung, sondern in ersterLinie eine Antwort auf die Umweltverhält-nisse. So war in warmen Klimazonen eineinfacher Windschirm bis an die Schwelleder Gegenwart ausreichend. Dagegen wäreder Neandertaler in der kalten Lößsteppe ineiner so einfachen, wenig schützenden Be-hausung erfroren. Höhlen und Felsdächer(Abris) sind ein natürliches Obdach undwurden von den Anfängen bis in die Ge-genwart bewohnt. Im kalten Klima gab esvermutlich Einbauten in die von Natur ausmeist feuchten, zugigen Höhlen (Abb. 12).

Im Freiland gebaute Hütten kennen wirseit der Spätzeit des Homo erectus voretwa 400 000 Jahren. In Bilzingsleben(Thüringen) untersuchte D. Mania dreiovale und runde Hüttengrundrisse, in derenEingangsbereich im Südosten eine Feuer-stelle lag. Ähnliche Hütten gab es in derZeit des archaischen Homo sapiens. Dasbekannteste Beispiel ist ein runder Bau miteinem Innendurchmesser von 6 m undeinem Wandsockel aus großen Knochen,der von A. P. Cernys in Molodova am Dnestr (Ukraine) freigelegt wurden.

Rundbauten mit 6 bis 7 m Durchmesserund zentraler Feuerstelle waren die häufig-ste Bauform des Jungpaläolithikums. DieBauten wurden stets auf einer leichtgeneigten Fläche angelegt, damit das Ober-flächenwasser besser ablaufen konnte.Dabei wurde der bergwärtige Teil oft miteiner kleinen Stufe in den Hang gegraben.

Diese Bauten hatten senkrecht aufgehendeWände und ein konisches, von einem Mit-telpfosten getragenes Dach.

Neben diesen dauerhaften, kaum trans-portablen Wohnbauten gab es Stangenzeltenach Art des sibirischen Cum oder nord-amerikanischen Tipi. Diese zeltartigenBauten, deren Karkasse aus schräg anein-andergelehnten Stangen bestand, konntenleicht abgebaut und transportiert werden.

Alle bisher genannten Bauten botenkleinen Menschengruppen, wahrscheinlicheinzelnen Familien Obdach. In der Zeitzwischen 30 000–20 000 Jahren gab esaußer solchen Rundbauten auch Langhäu-ser, in denen eine wesentlich größere Men-schengruppe wohnen konnte. Diese bis zu6 m breiten und 30 m langen Bauten warenetwa 60 cm eingetieft. Auf der Mittelachsewaren Feuerstellen angeordnet.

Die bekanntesten Beispiele stammenaus dem Gebiet von Kostenki am Don(Rußland) und von Puškari an der Desna(Ukraine). Noch größere und dauerhaftereSiedlungsobjekte kennen wir aus der Ko-stenki I, 1-Avdeevo-Kultur vor etwa25 000 Jahren. Hier ist eine breitovale,mehr als 30 m lange und etwa 15 m breiteSiedlungsfläche von einer Anzahl vertief-ter Erdhütten begrenzt. Diese Erdhüttenwaren wohl die eigentlichen Wohnungen(d. h. Schlafplätze). Auf dem vermutlichmit einem festen Zaun begrenzten Sied-lungsareal sind auf der Mittelachse Feuer-stellen aufgereiht. Außerdem gibt es dortArbeitsplätze, Wirtschaftsgruben unter-schiedlicher Größe und ein außerordentlichumfangreiches Fundmaterial. Diesegroßen Siedlungsobjekte unterscheidensich deutlich von den sonst üblichen Rund-bauten und lassen auf eine besondere Sozi-alstruktur schließen.

ReligionDie schriftlosen Quellen der frühen Ge-schichte informieren über die Ausrüstung

und Lebensweise der Menschen, soweit essich um haltbare Dinge handelt. Sie sagenaber nichts über die Gedanken unsererVorfahren aus. Die Vorstellungswelt, dieErklärung der Natur, von Geburt, Lebenund Tod kann deshalb nur sehr indirekt er-schlossen werden. Die Aussage, daß es sol-che Erklärungen, eine Religion, gab, weilsie zum Überleben gehörte, ist banal.

Aus der weitaus längsten Zeit zwischen2,5 Millionen und 100 000 Jahren besitzenwir praktisch keine Informationen. Mehr-fach wurden an den Fundplätzen Schädel-reste von Menschen entdeckt, währendTeile des übrigen Skelettes fehlen. Beson-ders auffallend ist dies bei den zahlreichenSchädeln und Unterkiefern des Sinanthro-pus in der großen Höhle 1 von Choukou-tien bei Peking sowie in der Cauned’Arago bei Tautavel (Südfrankreich).Aber auch an vielen anderen Fundplätzenwurden nur Schädel oder Unterkiefer desMenschen entdeckt. Aus diesen Beobach-tungen darf man schließen, daß Kopf undSchädel anders behandelt wurden als Kör-per und Skelett. Manchmal tragen dieSchädelteile Schnittspuren; es ist aber un-klar, ob diese Schädel von Toten der eige-nen Gruppe oder von erschlagenen Fein-den stammen. Jedenfalls weist diese Son-derbehandlung auf Vorstellungen hin, indenen der Kopf und der Schädel des Men-schen eine besondere Rolle spielten.

Aus der Zeit vor etwa l00 000 Jahrenkennen wir dann die ältesten Gräber. Diesist eine sehr wichtige, neue Erscheinung.Im materiellen Sinn ist die Anlage einesGrabes völlig nutzlos und findet ihre Er-klärung und Begründung nur in der Vor-stellung von einem Weiterleben nach demTode. Hierzu paßt das Mitgeben vonWerkzeugen und Waffen, Speisen undSchmuck. Die uns bekannten Gräber lie-gen auf den Siedlungsplätzen, die ältestenGräber sämtlich in Höhlen. Hierin kommteine Verbindung der Toten mit den Leben-den zum Ausdruck.

Basisbeitrag10

Abb. 12: Dieses natürliche Felsdach einer prähistorischen Höhle in Les Eyzies(Frankreich) wurde auch in der Gegenwart durch den (Unter-) Bau von Häusern genutzt

Fot

o: P

. Kat

zmar

ski

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daßder Platz eines Grabes über Jahrzehnte hin-weg bekannt war, stammt aus der Keba-rahöhle im Karmelgebirge bei Haifa (Isra-el). Das hier angelegte Grab eines Nean-dertalers ist später, als Fleisch und Sehnenvergangen und nur noch die Knochen vor-handen waren, erneut geöffnet worden, umden Schädel zu entnehmen. Dies erfolgtesehr sorgfältig, ohne den Skelettverband zuzerstören. Nur der Unterkiefer, das Zun-genbein und ein ausgefallener Oberkiefer-zahn, die im Grab zurückblieben, belegen,daß der Kopf ursprünglich vorhanden war.Ein ähnlicher, schlechter beobachteter Be-fund stammt aus der Höhle Regourdou inSüdwest-Frankreich.

Derartige Beobachtungen zeigen, daßdie Schädel Verstorbener eine besondereBedeutung hatten. Aus der Zeit vor 15 000Jahren kennen wir aus der großen Höhlevon Mas d’Azil im französischen Py-renäenvorland einen Frauenschädel, derauf einem Felssims aufgestellt war. In dieAugenhöhlen waren Knochenplättchen ge-setzt. Die besondere Bedeutung von Kopfund Schädel in der Vorstellung der Men-schen ist auch für die Zeit der nacheiszeit-lichen Jäger durch Kopfbestattungen ausden Ofnet-Höhlen im Nördlinger Ries undaus dem Hohlenstein im Lonetal belegt.

Eine sehr wichtige Quelle für die Reli-gion der Altsteinzeit ist die Kunst. Die seitetwa 40 000 Jahren auftretenden Darstel-

lungen entspringen der Vorstellungsweltund beinhalten das damalige Weltbild. Einwichtiges Kennzeichen dieser Mythologieist die enge Beziehung von Mensch undTier. Diese Verbindung äußert sich auch inder Wiedergabe von Wesen mit mensch-lichen und tierischen Attributen, die einenzentralen Platz in der Vorstellungswelt hat-ten. Ein wiederkehrendes Merkmal solcherWesen sind Hirschgeweihe. Dieses, von si-birischen Schamanen der nahen Vergan-genheit gut bekannte Attribut läßt sich inGrabfunden bis in die Zeit vor 100 000Jahren zurückverfolgen.

Außer einer engen Beziehung und Aus-tauschbarkeit von Mensch und Tier lassendie Quellen manchmal Vorstellungen voneiner Teilung der Welt in unterschiedlicheSphären erschließen. So zeigen die Bildfel-der des Lochstabes von Gourdan im Py-renäenvorland eine obere Welt (mit einemstierköpfigen Wesen), eine mittlere Welt(mit springenden Tieren) und eine untereWelt (mit Fischen und einer Katzenfährte).

In solchen Darstellungen lassen sichdie Grundvorstellungen des Schamanis-mus erkennen. Dies kann nicht überra-schen, denn diese Vorstellungswelt war bisan die Schwelle der Gegenwart das Welt-bild aller Jägerkulturen.

Besonders aus der Zeit vor 30 000–20 000 Jahren stammen zahlreiche Frauen-statuetten mit einer deutlichen Betonungder weiblichen Fruchtbarkeit. Oft sind

schwangere Frauen dargestellt. DieseWiedergabe des weiblichen Prinzips läßtdie Vorstellung einer Muttergottheit er-schließen.

Ohne jeden Zweifel ist das in vielen100 000 Jahren entstandene Weltbild derJäger und Sammler auch die Basis allerspäteren Religionen. Hingewiesen sei nurauf die Vorstellung einer Trennung vonKörper und Seele und auf die Unterschei-dung von Himmel, Erde und Hölle. In denmonotheistischen Religionen mit ihrerQualifizierung von Oben und Unten,Himmel, Erde und „Hölle“ erbte die tier-menschlichen Attribute eines Schamanenallerdings der Teufel. ●

LiteraturBosinski, G.: Der Neandertaler und seine frühe Zeit.Kunst und Altertum am Rhein. Köln 1988Ders.: Homo sapiens. L’histoire des chasseurs du Paliolithique supérieurs en Europe (40 000-10 000avanc J.-C.). Paris 1990Mania, D.: Auf den Spuren des Urmenschen. DieFunde von Bilzingsleben. Stuttgart 1990Probst, E.: Deutschland in der Steinzeit. Jäger, Fi-scher und Bauern zwischen Nordseeküste undAlpenraum. München 1991Keefer, E.: Steinzeit. Sammlungen des Württember-gischen Landesmuseums Stuttgart, Bd. 1. Stuttgart1993Kuckenburg, M.: Siedlungen der Vorgeschichte inDeutschland. Köln 1993

PRAXIS GESCHICHTE, Heft 6/1994 11