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Gerhard Dammann Spitaldirektor / Chefarzt, Psychiatrische Dienste Thurgau GDK-Tagung zur Psychiatrie-Planung «Gemeinsames Lernen mit Hilfe von Projekten» Bern, 24. Mai 2007 Veränderung im Kleinen und Umsetzungsprobleme

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Gerhard Dammann

Spitaldirektor / Chefarzt, Psychiatrische Dienste Thurgau

GDK-Tagung zur Psychiatrie-Planung «Gemeinsames Lernen mit Hilfe von Projekten»

Bern, 24. Mai 2007

Veränderung im Kleinen und Umsetzungsprobleme

• Psychiatrie im Thurgau: Vergangenheit und Gegenwart

• Frühere Modellprojekte

• Drei aktuelle Modellprojekte

• Messbarkeit

• Probleme in der Umsetzung

• Ergänzende Bemerkungen zu den GDK-Leitlinien aus psychiatrischer Sicht

• Ausblick

Geschichte der Münsterlinger Psychiatrie

1417 Poggio Bracciolini entdeckt im Kloster antike Texte (Konstanzer Konzil)

1839 Älteste öffentliche psychiatrische Klinik der Schweiz (8 Frauen / 8 Männer) im Gästehaus des ehemaligen Klosters

1852 Ludwig Binswanger d.Ä. erster Spitalarzt (später Privatklinik «Bellevue» in Kreuzlingen bis 1980)

1909–1913 Hermann Rorschach, Arzt in der Klinik1939–1980 Prof. Roland Kuhn (Mitentdecker der

Antidepressiva, Oberarzt und ab 1970 Chefarzt der Klinik)

1980–2006 Karl Studer, Chefarzt der Klinik (Bauliche Erneuerung, Qualitätsmanagement, Kultur in der Psychiatrie)

Die Spital Thurgau AG (STG AG)

• Betriebs-Aktiengesellschaft seit 1. Januar 2000• 100% im Besitz des Kantons Thurgau• 4 Standorte / Betriebe:

- Kantonsspital Münsterlingen (KSM)- Kantonsspital Frauenfeld (KSF)- Psychiatrische Dienste Thurgau (PDT)

Psychiatrische Klinik Münsterlingen (PKM)Externe Psychiatrische Dienste (EPD)Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst Thurgau (KJPD)

- Thurgauer Klinik St. Katharinental (TKK)

Tochtergesellschaften:- RIWAG AG Weinfelden- Wäscherei Bodensee AG (WB)

Struktur der PDT

• Psychiatrische Klinik Münsterlingen (PKM)mit vier Bereichen (Akut, Sucht / Forensik, Gerontopsychiatrie, Psychotherapie): 17 Stationen in Münsterlingen und eine Akut-Tagesklinik in Kreuzlingen

• Externe Psychiatrische Dienste (EPD) an drei Standorten (Münsterlingen, Frauenfeld, Romanshorn)

• Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst (KJPD)mit Tagesklinik, Kleinkindambulanz und Konsiliar- / Liaison-dienst in Münsterlingen sowie Ambulatorium und Hometreatment in Weinfelden

PDT

Pflegetage 84 373Stationäre Betten ca. 230Austritte 1 317Ambulante Fälle 3 874

Leistungen, inkl. ILV (Mio Fr.) 64,3

Beschäftigte in Vollstellen 354,2Lehrlinge / Praktikanten 52,5

Kennzahlen (2006)

Pilot- und Modellprojekte der letzten Jahre

• Etablierung von EFQM

• Tagesklinik zur Demenz-Abklärung (Memory Klinik)

• Frühpsychosen-Station (FP)

• Job Coaching Projekt

• Station J2 für Somatisierungsstörungen mit zahlreichen Migranten (ab 2007 Mitglied der Sektion «Migrant Friendly Hospital» des Netzwerks ‘Health Promoting Hospital‘ WHO / H+)

• Psychiatrie-Konzept Thurgau (6 / 2004) fordert u.a.:

- Ambulantisierung - wohnortnahe Angebote

- Prävention - Tageskliniken

- Familienorientierung - Psychosomatik

Gegenwärtige Pilot- und Modellprojekte

• Akut-Tagesklinik in Kreuzlingen (GDK-Leitlinien) (Kooperation mit der Klinik Littenheid) (März 2007)

• Eltern-Kind-Setting (Mai 2007)

• Multisystem Therapie (MST) für Problemfamilien (Oktober 2007)

Modellprojekt I: Akuttagesklinik 1

• Regierungsrat TG genehmigt 2005 ein Modellprojekt für den Aufbau von Tageskliniken für 2 Jahre

• Nachschalt-Tagesklinik der Klinik Littenheid (seit 2006) (soll längerdauernde Behandlungen verhindern), Akut-Tagesklinik der Psychiatrischen Dienste Thurgau (seit 1.3.2007) (soll stationäre Aufnahmen verhindern)

• Vertrag zwischen santésuisse Ostschweiz und der Spital Thurgau AG (Tagespauschale: Fr. 155.- 2007, 158.- 2008)

Modellprojekt I: Akuttagesklinik 2

• Kein zusätzliches Angebot, sondern eine Alternative zur stationären Behandlung.

• Controlling und Reporting der beiden Modell-Tageskliniken mit dem Ziel bei a) guter Qualität b) einen Rückgang der vollstationären Akut-Klinikeintritte um 20-40% zu erreichen.

• Klare Differenzierung von «Tagespatienten» und «Tagesklinikpatienten».

• Neben ökonomischen Gesichtspunkten erscheinen auch inhaltliche Aspekte der Implementierung wertvoll (Welche Störungsbilder lassen sich in diesem Setting am besten behandeln? Welche Patienten profitieren weniger davon? Reduktion von Stigmatisierung?)

Modellprojekt I: Akuttagesklinik 3

1. Einführung der beiden Tageskliniken führt zu einem Rückgang der stationären Belegung, insbesondere messbar durch den Rückgang an Überbelegung.

2. In Anspruch genommen werden die Tageskliniken auch von Patienten, für die bisher kein effizientes und zielgerichtetes stationäres Behandlungsangebot vorlag, obschon sie dringend stationär behandlungsbedürftig erscheinen.

3. Patienten, die in die Tageskliniken aufgenommen werden, gehören zu einem Personenkreis, der bereits früher zahlreiche stationäre Hospitalisationen in Anspruch nehmen musste.

4. Ergebnisqualität (Symptomatologie und Lebensqualität) ist gleich oder besser als bei der stationären Behandlung von vergleichbaren Patientengruppen

5. Höhere Zufriedenheit von Patienten, Angehörigen und Zuweisern.6. Vermehrte Möglichkeit der Versorgung von vorhandenen minderjährigen

Kindern.7. Es wird sichergestellt, dass die tagesklinischen Behandlungen nicht

unverhältnismässig lange dauern, wodurch der Vorteil des tagesklinischen Behandlung wieder verloren gehen würde.

Modellprojekt II: Eltern-Kind-Station 1

• Aufgenommen werden sollen (zunächst bis 4) psychisch erkrankte Eltern (in der Regel Mütter) gemeinsam mit ihrem Kind (bis max. 5 Jahre).

• Im Unterschied zu anderen Mutter-Kind-Stationen ist eine interdisziplinäre Behandlung von Mutter und Kind vorgesehen.

• Insbesondere auf Interaktionsprobleme soll grosser Wert gelegt werden (Maternal Sensitivity).

• Auch für das Kind muss eine Kostengutsprache durch die Krankenkassen vorliegen (pädiatrisch, kinder- und jugendpsychiatrisch oder präventiv)

Modellprojekt II: Eltern-Kind-Station 2

• Start Mai 2007

• Modellprojekt von drei Disziplinen: Pädiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Erwachsenenpsychiatrie.

• Vorfinanzierung von zwei Teilzeit-Stellen (Heilpädagogin, Oberärztin) durch Psychiatrische Dienste.

• Schwierigkeit der Diagnosestellung bei Kindern bis 5 Jahre.

• Schwierigkeit, den präventiven Wert von Interventionen zu beziffern.

Modellprojekt III: Multisystemische Therapie (MST) 1

• Fokus auf verhaltensauffällige, dissoziale oder zu Substanzabusus neigende Jugendliche (Heavy user von Institutionen).

• Entwickelt von S.W. Henggeler (University of South Carolina, Charleston).

• Basis: Verhaltensorientierte Veränderung des sozialen Kontextes durch intensives Hometreatment für 6 Monate.

• Behandlungsrationale, Wirksamkeitsstudien (auch zur Nachhaltigkeit), Training, Supervision, MST.

• In Dänemark, Niederlande etabliert.

Modellprojekt III: Multisystemische Therapie (MST) 2

• Kanton Thurgau erste deutschsprachige Region• Bildung von Behandlungsteams• Start am 1. Oktober 2007• Zielgruppe sind Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren und

ihre Familien.• Der Tendenz zur (auch teuren) Abschiebung in Institutionen soll

so entgegengewirkt werden.• Die drei Departemente für Erziehung, Finanzen und Soziales,

Justiz beteiligen sich an 50% der geschätzten Kosten (max. 600 000.– ).

• Die restlichen 50% trägt die Spital Thurgau AG.

Modellprojekt III: Multisystemische Therapie (MST) 3

• Kompensation aufwendiger Plazierungen (Massnahmenvollzug etc.).

• Regelmässiger Projektbericht.

• Es wird (indirekt) anerkannt, dass die Psychiatrie zu einem erheblichen Mass auch sozialpolitische Aufgaben übernimmt.

• Die Grenzen von Erwachsenen- und Kinder- / Jugendpsychiatrie erscheinen weniger starr.

• Keine reguläre Beteiligung an dem Modellprojekt durch die Krankenkassen trotz Antrag.

qtools

Tool zur Qualitätssicherung in der Psychiatrie

•Umfrage•LeitfadenPsychiatrie-planung

GDK1

•Ergebnis-indikatoren

•PilotprojektF2, F3

EQP2

•Ergebnisse

•EFQM•QTools

Tages-

klinik

2 1

Benchmarking• Symptombelastung

(BSI / SCL90)• Lebensqualität

(OQ45 WHO-QoL)• Funktionalität

(FaeBe)• Zufriedenheit

(MüPf)• Zwangsmassnahmen

Deskriptive Statistik(nicht Inferenzstatistik)

1GDK Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und –direktoren2EQP Expertengruppe „Ergebnisqualität in der Psychiatrie“3KIQ Nationale Koordinations- und Informationsstelle für Qualitätsförderung H+/santésuisse

1

2

KIQ3

Leistungen qtools

• Digitale Erfassung von Befragungsdaten

• Vereinfachter Umgang mit den Daten

• Schnelle grafische Auswertung

• Kreieren eigener Fragebogen

• Benutzerfreundliches System

• Einfacher und sicherer Betrieb

• Anbindung an Drittsysteme

Finanzierungsprobleme I: Ambulante Behandlungen

• Stark divergierende Beteiligung der Kantone an den Externen Psychiatrischen Diensten (Ambulatorien) zwischen etwa 80% und 0% (geschätzter Mittelwert etwa 50%).

• Unterschiedliche Tarmed-Abgeltung für Ärzte und Pflege (zum Beispiel bei aufsuchender Pflege).

Betriebswirtschaftliche Situation 2007:

Vollstationäre Pflegetage sind entscheidend

Finanzierungsprobleme II:

Tagesklinische Demenzabklärung und Behandlung

• Studien zur möglicherweise doch weniger deutlich vorhandenen Wirksamkeit der Antidementiva (AD2000 Collaborative Group, Lancet, 2004) wurden von einzelnen Kassen verwendet, um die tagesklinische Demenzabklärung und Behandlung (teilweise polemisch) zu hinterfragen.

• Ausser kognitiven Fähigkeiten sollten berücksichtigt werden: Senkung des Pflegeaufwands, Erhöhung der Lebensqualität der Patienten, Entlastung und Empowerment der Angehörigen, Möglichkeit, den Zeitpunkt einer Heimaufnahme hinauszögern.

Veränderung braucht Zeit: EFQM

1995 Einführung von Qualitätsmanagement1997 EFQM

1. Bewertung: 306 Punkte (Sommer 1999)2. Bewertung: 382 Punkte (Herbst 2000)3. Bewertung: 403 Punkte (Winter 2002)4. Bewertung: 449 Punkte (Frühling 2005)

Mit diesen Ergebnissen setzten sich die Psychiatrischen Dienste Thurgau an die Spitze eines Feldes von 23 Einrichtungen des Gesundheitswesens in der Schweiz und in Deutschland.

Methodologische Probleme I: Nutzen und Wirkung von

Interventionen

1) Wirksamkeit (Efficacy) («wirkt es als Test in der klinischen Praxis»; Sensitivität, Spezifität etc.)

2) Wirkungsgrad (Effectiveness) («wirkt es im wirklichen Leben»; z.B. messbarer Einfluss auf die Entscheidung des Arztes)

3) Nutzwert (Efficiency) («führt es zu einem effizienteren Umgang mit vorhandenen Ressourcen»; im eigentlichen Sinn mit Kostenersparnis verbunden)

Methodologische Probleme II: Kritik an der

Randomised-Controlled-Trial-Methodologie 1

• Die meisten RCT-Studien sind extrem Kurzzeittherapie-orientiert.

• Patienten schneiden bei freier Therapeutenwahl und selbstbestimmtem Ende besser ab als in einer zufallszugewiesenen Verum-Gruppe (Seligman, 1995 «Consumer reports»-Studie)

• Probleme der Randomisierung (besonders in der Psychiatrie) (Wie eng werden Ausschlusskriterien gefasst?)

• Das RCT-Design folgt einem bestimmten wissenschaftstheoretischen Modell («Drug metaphor», Shapiroet al. 1994) und Wertorientierung (Dehue, J Hist Behav Sci, 2004)

Methodologische Probleme II: Kritik an der

Randomised-Controlled-Trial-Methodologie 2

• Die Probleme der RCT-Methodik sind die einer (einseitig) Evidenz-basierten Medizin.

• Gerade die Psychiatrie braucht auch Kohortenstudien, Einzelfallforschung und qualitative Forschung.

• Relevanz statt Evidenz? (Pflege in Hospizen, Kritik an Kane et al. 1984, Lancet, 890); weit höhere Qualität der Pflege, die sich nicht in der summarischen Messung von Patientenzufriedenheit allein abbilden liess)

Zentrales Problem der GDK-Leitlinien: Spezialisierung

in der Psychiatrie

• Bestimmte Störungsbilder (welche?) benötigen vermutlich mehr als andere störungsspezifische Interventionen (Anorexien etc.), das bedeutet u.U. Zentrumsbildung (Herzog et al., 1996, PPmP).

• Bei einzelnen Störungsbildern (welche?) verbessert eine spezialisierte stationäre Vorbehandlung entscheidend das Outcome in der ambulanten Behandlung (Bohus et al., 2004, Behav Res Ther).

• Bei der stationären Psychotherapie ist die Dosis-Wirkungsbeziehung nicht linear (Bergin & Garfield, Handbook of Psychotherapy and Behavior Change)

Aufgaben vor denen wir stehen

• Finanzierung ambulanter, integrierter und präventiver Projekte

• Reporting und Controlling von Modellprojekten.

• Stärkere Beteiligung der Krankenkassen an Modellprojekten.

• Fallgruppierungen (DRGs) in der Psychiatrie (ZH) (Problem Symptomschwere («Tendency of regression to the mean», Hsu, 1995) .

• Zusammenarbeit mit niedergelassenen Fachärzten

• Stärkere Integration einer psychosomatischen Perspektive in den somatischen Fächern.

• Stärkung der Schweizerischen psychotherapeutischen Tradition in der Psychiatrie unter Beachtung gesundheitsökonomischer Rahmenbedingungen.

Aufgaben vor denen wir stehen

• Besonderheiten des Fachs Psychiatrie (Personalintensiver, Weiterbildungsbedarf)

• Psychiatrie als Disziplin ist «in der Nahrungskette» relativ weit unten

• Höherer Turnover der Patienten (Gefahr der «Drehtürpsychiatrie», Mehrbelastung für Mitarbeitende) durch Reduktion der Liegedauer

Weiterentwicklung der Psychiatrie-Planung:

GDKBAG

Psychiatrie und PsychotherapiePublic Mental HealthGesundheitsökonomische Experten

KrankenkassenIV

Zukünftige

Partner im

Dienste

psychisch

kranker

Menschen