Gerhard Göhler (Auth.), Gerhard Göhler, Kurt Lenk, Herfried Münkler, Manfred Walther...

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Gohler· l.enk· Miinkler· Walther (Hrsg.) Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch

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Gerhard Göhler (Auth.), Gerhard Göhler, Kurt Lenk, Herfried Münkler, Manfred Walther (Eds.)-Politische Institutionen Im Gesellschaftlichen Umbruch_ Ideengeschichtliche Beiträge Zur Theorie PolitischerGerhard Göhler (Auth.), Gerhard Göhler, Kurt Lenk, Herfried Münkler, Manfred Walther (Eds.)-Politische Institutionen Im Gesellschaftlichen Umbruch_ Ideengeschichtliche Beiträge Zur Theorie PolitischerGerhard Göhler (Auth.), Gerhard Göhler, Kurt Lenk, Herfried Münkler, Manfred Walther (Eds.)-Politische Institutionen Im Gesellschaftlichen Umbruch_ Ideengeschichtliche Beiträge Zur Theorie Politischer

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  • Gohler l.enk Miinkler Walther (Hrsg.) Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch

  • Gerhard Gohler . Kurt I..enk . Herfried Mtinkler . Manfred Walther (Hrsg.)

    Politische Institutionen im gesellschafdichen Umbruch ldeengeschichtliche Beitrage zur Theorie politischer Institutionen

    Westdeutscher Verlag

  • CIP-Titelaufilahmc der Deutschen Bibliothek

    Politische Institutionen im gese1Ischaftlichen Umbruch: ideengeschichtliche Beitrigc zur Theorie politischer Institutionen I Gerhard GObler ... (Hrsg.). - Opladen: Westdt. VerI., 1990

    NE: GObler, Gerhard IHrsg.]

    Der Westdeutsche Verlag ist ein Untemehmen der Verlagsgruppe Berte1smann International.

    ARe Rechte vorbehalten @ 1990 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen

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    Umschlaggest:lltung: Horst Dieter Bl1rlde, Darmstadt

    ISBN-13: 978-3-531-12034-8 001: 10.1007/978-3-322-86101-6

    e-ISBN-13: 978-3-322-86101-6

  • Inhalt

    Gerhard Gohler Einleitung: Politische Ideengeschichte - institutionentheoretisch gelesen . 7

    1. Krise der griechischen Polis

    Einfiihrung (Manfred Walther) .. Peter Spahn Kritik und Legitimation politischer Institutionen in der Sophistik . Herfried Mankler

    21

    26

    Thukydides: Machtkampf als Institutionenkritik. . . . . . . . . . . . 41 Ganther Bien Zur Theorie der Institutionen in der praktisch-politischen Philosophie bei Platon und Aristoteles. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ., 54 Peter Steinbach Zur Theorie der Institutionen in der praktisch-politischen Philosophie bei Platon und Aristoteles. Ein Diskussionsbeitrag. . . . . . . . . .

    2. Ubergang vom Mittelalter zur Neuzeit

    Einfiihmng (Herfried Mankler) . ..... . largen Miethke

    72

    . . . . .. 79

    Wilhelm von Ockham und die Iostitutionen des spl1ten Mittelalters. . . . . . 89 Helmut G. Walther Die Gegner Ockhams: Zur Korporationslehre der mittelalterlichen Legisten . 113 Klaus-M. Kodalle Institutionen - Recht - Politik im Denken Martin Luthers. . . . . . . . . 140 Peter Blickle Politische Weiterungen der reformatorischen Theologie. Die Antwort des Gemeinen Mannes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Udo Bermbach Zum Iostitutionenverstandnis in der Zeit der Reformation. . 170 Herfried Mankler Staatsraison. Die Verstaatlichung der Politik im Europa der Fliihen Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

  • 6 Inhalt

    Thomas O. Hueglin Johannes Althusius: Eine "alternative" Institutionentheorie der Fri1hen Neuzeit? . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Richard Saage Kmporatistische und kontraktualistische Institutionenbegri1ndung. Zu Thomas O. Hueglin ,,Johannes Althusius" . " ....... 231

    3. Die Herausblldung der modernen biirgerlichen Gesellschaft Einfiihrung (Gerhard Gohler). . . . . . . . . . . . . . . 237 Manfred Walther Institution, Imagination und Freiheit bei Spinoza. Eine kritische Theorie politischer Institutionen. . . . . . . . . . . . . . . . 246 Peter Bro/r;meier-Lohfing Institutionen als ideologische Apparate bei Spinoza. . . . . . . 276 Gerhard Huber Adam Smith: Der Zusammenhang von Moralphilosophie, Okonomie und Institutionentheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Jiugen Gebhardt Selbstregulierung und republikanische Ordnung in der politischen Wissenschaft der Federalist Papers. . . . . . . . . . . . . . 310 Reinhard Brandt Die politische Institution bei Kant. . . . . . . . . . . . . . . .. 335 Ingeborg Maus Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant. . .'. . . . . 358

    ,

    4. Institutionen und Utopien Einfiihrung (Kurt Lenk). . . . . . . . . . . . . . 387 Michael Th. Greven Utopie und Institution. Proplldeutische Oberlegungen zu ihrem VerhaItnis. 389 Arno Waschkuhn Utopien, Utopiekritik und Systemtheorie. . . . . . . . . . . 420

    Namenregister. . . . . '. . . . . . . . . . . . . . ., 433 Die Autoren des Bandes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

  • Einleitung

    Politische Ideengeschichte - institutionentheoretisch gelesen

    Gerhard Gohier

    1.

    Politikwissensehaft hat es zentral mit politisehen Institutionen zu tun. Regierung, Par-lament, Geriehte, Verwaltung, Parteien, Verbnnde, jene Gebilde also, in denen und durch die sieh Politik vollzieht, sind der gewissermaBen handgreifliehe Gegenstand ih-rer wissenschaftlichen Analyse. Die Politikwissenschaft untersucht ihren Aufbau, ihre Funktionsweise und ihre Entstehungsbedingungen, diskutiert ihren Legitimationsan-spruch, ubt Kritik an ihrer Effizienz oder aueh an ihrer Existenz, unterbreitet Reform-vorschUige und entwirft auch mehr oder minder radikale Alternativen. Es ist zwar Uingst deutlich geworden, daB Politikwissensehaft sich nieht allein als Institutionenleh-re, und schon gar nieht in legalistiseh-normativistischer Verengung als bloBe "Institu-tionenkunde" verstehen kann, wenn sie politische Prozesse und Saehverhalte ange-messen begreifen will- eine GeringscMtzung institutioneller Fragestellungen, wie sie vor allem fUr die 70er Jahre als Gegenreaktion gegen die vermeintliehe Institutionenfi-xiertheit der Politikwissenschaft kennzeichnend war, ist jedoch allmahlieh der Einsieht gewichen, daB den institutionellen Faktoren in der Politik, institutionellen Rahmenbe-dingungen oder gar Eigengesetzliehkeiten eine fUr das Zustandekommen, die Art und die Qualitllt von politisehen Entscheidungen oder aueh ,,Nicht-Entscheidungen" kaum zu ubersehlttzende Bedeutung zukommt. Aufarbeitung und EinscMtzung der institu-tionellen VerfaBtheit von Politik sind unentbehrlich fUr das Verstllndnis politiseher Prozesse und Problemlagen. Das gilt in besonderem MaBe fUr Theorieprobleme.

    Wenn Politikwissenschaft uber das Aufsuehen und Registrieren von Fakten hinaus naeh theoretischen Zusammenhltngen sueht, urn empirische Tatbestllnde zu erklltren, wenn sie die Legitimationsmuster politischer Ordnungen naeh Herkunft, Ansprueh und Folgewirkung kritisch durehleuehtet, urn normative Begrundungszusammenhltnge zu diskutieren, so geht es stets auch urn institutionentheoretische Zusammenhltnge. Theorieprobleme der Politik durften in dem MaBe auf Institutionen bezogen sein und damit ein institutionentheoretisehes "Standbein" haben, wie sie angesichts der Kontin-genz der Handlungen verschiedener politischer Akteure zu verschiedenen Zeiten auf die Rahmenbedingungen von Politik, auf Elemente von Stabilitllt und aueh von Stabi-

  • 8 Gerhard Gohler

    litllt im Wandel aIs Orientierungspunkte abstellen, mOglicherweise sogar abstellen mussen (und sei es auch nur, urn die Perspektive kritisch zu wenden).

    Urn so erstaunlicher ist es, daB die Politikwissenschaft seit ihrer Wiederbegriin-dung im westlichen Nacbkriegsdeutscbland, aber auch in der internationaIen Diskus-~ion, uber die Befassung mit einzelnen, handgreiflichen Institutionen hinaus nur wenig zu institutionentheoretischen Fragestellungen, zur Theorie politischer Institutionen beigetragen hat. Selten und kaum systematisch wurden Konzepte el'Ortert oder gar selbst entwickelt, urn institutionelle Konfigurationen der Politik ali Aosbildung sozi-aIer ZusammenMnge in ihren EntstehungszusammenhAngen und Funktionsbedingun-gen, ihren Sinnbezfigen und Legitimationsmustern, ihren Verfestigungen und VeraD-derungspotentialen zu erkUlren und zu bewerten. Das sind die Fragestellungen, welche die Theorie politischer Institutionen zu elaborieren hat, und erst auf dieser Grundlage lie/3e sich schlieBlich uber AquivaIente zu bestehenden politischen Institutionen oder sogar fiber Alternativen zur institutionellen VerfaBtheit von Politik wissenschaftlich diskutieren. Mit all diesen Fragen befaBt sich, in einem IAngerfristig konzipierten und interdisziplin1lr angelegten Arbeitsprogramm, die Sektion Politische Philosophie und Theoriengeschichte in der Deutschen Vereinigung fUr Politische Wissenschaft In dem vorliegenden Band wird der Versuch unternommen, zur Theorie politischer Institutio-nen durch eine institutionentheoretische Lektiire der Geschichte der politischen Ideen, Theorien und Ideologien beizutragen1. Als Arbeitsgebiet steht politische Ideenge-schichte in der deutschen Politikwissenschaft bislang nicht an hervorgehobener Stelle, aIlerdings gelten ihr neuerdings wieder in erheblich hOherem MaI3e Interesse und For-schungsabsichten2. Mit der fUr die politische Ideengeschichte durchaus neuartigen in-stitutionentheoretischen Perspektive lassen sich einige der Desiderate hier vielleicht einlOsen und weitere, auch aktuell hilfreiche Forschungen in Gang setzen.

    DaB die BescMftigung mit politischer Ideengeschichte einen erheblichen Beitrag zur Theorie politischer Institutionen zu leisten hat und auch zu leisten vermag, bedarf keiner weit hergeholten Begriindung. Politische Institutionen sind nur als historisch gewordene, aus Interessenlagen in je historischen Konstellationen verdichtete und re-aIisierte Ordnungskonzepte zu begreifen; sie stehen in TraditionszusammenhAngen,die aus historischen Prozessen der Legitimierung und Delegitimierung und EntwUrfen al-ternativer Vorstellungen resultieren. Die politische Ideengeschichte ist zugleich Reflex und theoretischer Produzent dieser Entwicklungen; ihre Konzepte enthaIten sowohl die Erklwng bestehender Institutionen, ihre Rechtfertigung oder Infragestellung aIs auch den Entwurf von Institutionen in mehr oder minder radikaler Alternative nach dem MaBstab propagierter historischer Vernunft. Die reale historische Institutionen-entwicklung und ihre theoretische Verarbeitung, Diskussion wie Antizipation stehen in einem komplizierten WechselverhAltnis, welches Traditionsbestllnde schafft, in die das gegenwllrtige Institutionengefuge eingebettet ist. Sein Verstlndnis, aber auch jede Kritik an ibm ist ohne die historische Dimension, die sich in der Ideengeschichte kon-zeptuell artikuliert, Dicht zu entfalten und grundlegende Einsichten in institutionelle ZusammenhAnge, mOgen sie noch so sehr von konkretistischen BezGgen absehen wol-len, finden dort ihre Vorfonnulierung. Urn so erstaunlicher ist es, daB die deutsche Po-litikwissenschaft selbst da, wo sie ideengeschichtlich oder auf Institutionen hin orien-

  • Einleitung 9

    tiert war, diese Zusammenhllnge bisher kaum explizit zum Thema ihrer Forschungsar-beiten gemacht hat. So werden in der Literatur fiber die politischen ,,Klassiker", fiber politische Ideen einer Epoche oder fiber Topoi und Theoreme der Politik die Institutio-nen in der Regel mitbehandelt, dariiber hinaus aber sind explizit durchgefUhrte institu-tionentheoretische Fragestellungen bisher kaum zu finden. DaB ideengeschichtlieh orientierte Forschungen zur Theorie politischer Institutionen so wenig auf Vorarbeiten zuriickgreifen kOnnen, hat in diesem AusmaB die Autoren des Bandes selbst fiber-rascht.

    2.

    Was kann die Ideengeschiehte zur Theorie politischer Institutionen beitragen? Fernziel sind systematisch entfaltete Ansatze ffir eine historische Theorie politischer Institutio-nen, vermittels derer gegenwllrtige Konfigurationen in ihren Entstehungszusammen-hllngen erkllirt und bewertet, alternative Konzeptionen diskutiert und schlieBlich aus historischer Erfahrung notwendige und wUnschbare institutionelle Formen von Politik in ein reflektiertes VerhlUtnis gesetzt werden kOnnen. Da solchermaBen historisch ge-sattigte Institutionenkonzepte nicht einfach aus dem Ideenhimmel herunterzuholen sind, bedarf es schon genauerer UberIegungen, wie eine institutionentheoretische Lek-tiire der politischen Ideengeschichte angesetzt werden sollte und welche Fragen zu stellen sind, die in ideengeschiehtlichen Arbeiten sonst nieht explizit behandelt wer-den.

    Die institutionentheoretische Befassung mit politischer Ideengeschiehte kann in genetischer oder systematischer Absicht erfolgen; tatsl1chlich treten sie beide selten getrennt auf, sind von der Sache her auch schwer zu trennen, stellen aber doch unter-schiedliche Dimensionen mit spezifischer Ausrichtung und eigenen Voraussetzungen dar. Genetisch werden politische Ideen in ihrem Entstehungs- und Wirkungszusam-menhang untersucht. Dabei besteht stets ein Zusammenhang mit konkreten histori-schen Entwicklungen. Die Beschliftigung mit politischer Ideengeschichte in ihrer ge-netischen Dimension geht - stillschweigend oder ausdriicklich - von einer Zuordnung realer Entwicklungen und geistiger Vorg11nge der Formulierung und Propagierung von "Ideen" aus. So korrespondieren den realhistorischen Prozessen der Herausbildung, Stabilisierung und Umbildung politischer Institutionen die ideengeschiehtlichen Pro-zesse ihrer Legitimierung und Delegitimierung. Normative Vorstellungen werden zu Begriindungszusammenh11ngen ausformuliert, die entweder bestehende Institution in der Auseinandersetzung mit anderen Ordnungskonzepten bis hin zur Idealisierung ver-teidigen oder in der Kritik an herrschenden institutionellen Konfigurationen aus ge-genl11ufigen Interessen, aber ebenfalls mit stark idealisierender Tendenz, Alternativ-konzepte ins Spiel bringen, sei es in der Reaktivierung fiberkommener Begriindungs-muster, sei es in der theoretischen Antizipation historisch sich erst herausbildender Konfigurationen. So kOnnen politische Ideen ffir die Herausbildung und Umbildung politischer Institutionen selbst verursachend wicken, wenn Delegitimierungs- und Le-gitimierungskampagnen erfolgreich verlaufen. In der politischen Ideengeschichte rezi-

  • 10 Gerhard Gohier

    pieren wir in erster Linie die geistigen Vorg!1nge; wir wissen aber, daB sie mit realen Entwicklungen verbunden sind, und wir kOnnen nur nicht - oder Mchstens sehr selten - bestimmen, was das eigentlich Treibende ist: ob Ideen die historische Entwicklung, hier also per Delegitimierung alter und Legitimierung neuer Institutionen den Institu-tionenwandel bewirken, oder ob Institutionen in ihrer Hemusbildung und Fortentwick-lung sieh ihre Legitimationsmuster schaffen; beide Vorg!1nge sind in der Regel inein-ander verschrl1nkt, bisweilen als wechselseitig sich versCirkender Riickkoppelungspro-zeB. Wenn Legitimierungsleistungen bis in die Gegenwart hineinwirken, so daB gegen-wartige Institutionen historisch verortbare Ideen in Anspruch nehmen, erhalten wir aus der Ideengeschiehte eine Standortbestimmung politi scher Institutionen unter normati-vern Aspekt und damit einen Beitrag zu ihrer historisch-genetischen Erklfuung.

    Die Beschllftigung mit politischer Ideengeschiehte entMlt dariiber hinaus eine sy-stematische Dimension, die auch institutionentheoretisch von Belang ist Wir befassen uns nicht nur mit soIehen Autoren aus der Vergangenheit, von denen wir vermuten, daB sie fiir das Institutionengefiige wirkungsgeschiehtlich relevant sind; und wenn sie es sind, so diskutieren wir sie nieht nur iiber die Vermittlung ihrer Wirkungsgeschich-te, sondem durchaus auch unmittelbar. Argumentationszusammenh!1nge zur Begriin-dung oder Kritik von Institutionen mOgen historisch iiberholt und theoretisch in aktu-ellen Ordnungskonzepten Dicht mehr ortbar sein; friihere Entwiirfe von Institutionen bmuchen nie realisiert worden zu sein - und doch finden sie durchaus noch Interesse. Warum reizen uns etwa die Sophisten, Platon und Aristoteles zu unmittelbarer Ausein-andersetzung (und nieht nur zu archivarischer Bestandsaufnahme)? Offensichtlich ge-hen wir davon aus, daB sie, obwohl im Erfahrungs- und Diskussionsstand ihrer von uns so weit entfemten Zeit formuliert, Einsichten zur Erklnrung, Begriindung und Kri-tik politischer Institutionen geliefert haben, die auch heute noch diskussionswiirdig oder gar unhintergehbar sind. In dieser Hinsieht interessiert uns in der politischen Ideengeschichte weniger die histOrische Wirkungsmacht soIeher Konzepte als ihre an-gemessene Obersetzbarkeit in die Problemlagen unserer Zeit. Das gilt insbesondere fiir politische Utopien mit ihrer eher ,,kontrafaktischen" Wirkungsgeschichte; indem sie ihre radikale Kritik an bestehenden Ordnungssystemen in die Form von Gegenentwiir-fen bringen, kOnnen sie wiehtige, auch fiir unser gegenwartiges Institutionengefiige bedenkenswerte Problempunkte erschlieBen und Altemativen abscMtzbar machen. Man kann, unter Beachtung der unumg!1nglichen Kautelen einer stets nur partiell mOg-lichen Umsetzung, von zeitlich entfemten Autoren politischer Ideengeschichte fiir die Gegenwart lemen, ohne sie unter eine primltre genetische Fragestellung zu bringen; so bietet die BescMftigung mit politi scher Ideengeschiehte einen Beitrag zur ErOrterung normativer Begriindungsmuster und zur eigenen Positionsbestimmung in der Theorie politischer Institutionen.

    Wenn wir uns darauf verst!1ndigen, daB das systematische und das genetische Ver-fahren gleichermaBen sinnvoll und legitim ist, so gilt das zunilchst nur sehr grundsatz-lich. Institutionentheoretische Einsichten lassen sich - die Probe aufs Exempel zeigt es sehr schnell - ideengeschichtlich nicht einfach einsammeln. Wie jede Lektiire der po-litischen Ideengeschichte, die von einer aktuellen Problemstellung geleitet ist, steht auch die institutionentheoretische Lektiire gewissermaBen zwischen Skylla und Cha-

  • Einleitung 11

    rybdis. Um der AuthentiziUit gerecht zu werden, muB sie sich auf die historischen und theoretischen Kontexte der Autoren und Argumentationslinien einlassen, und je mehr die Erfordernisse immanenter Interpretationen in den Vordergrund treten, verwischt sich die institutionenspezifIsche Problemstellung. Das ist von Nutzen fUr das Studium der Ideengeschichte, aber von Nachteil fUr die institutionentheoretische Diskussion. Auf der anderen Seite droht, vom Probleminteresse OberwlUtigt, ein allzu prllsentisti-sches Herangehen an die politische Ideengeschichte. Wenn modeme Institutionen und ihre Problemlagen unvermittelt auf historische Konzepte projiziert werden, um geneti-sche ZusammenlUlnge aufzuweisen oder gar systematische Antworten zu Obemehmen, kann die Unterschlltzung historisch bedingter Differenzen und DiskontinuiUiten zu un-angemessenen Linienfiihrungen und ungedeckten SchluBfolgerungen verleiten. Be-kannt ist das Problem, ob im Vergleich von politischen Ordnungskonzepten die neu-zeitliche Staatsvorstellung auf die antike Polis iibertragen werden kann. Unmittelbare Antworten auf gegenwllrtige Probleme sollten von der politischen Ideengeschichte 80ch institutionentheoretisch nicht erwartet werden.

    3.

    Angesichts dieser Schwierigkeiten steht die institutionentheoretische LektOre der.poli-tischen Ideengeschichte sowohl unter genetischem als auch unter systematischem Aspekt zuallererst vor einem Obersetzungsproblem ihrer Analyse-Kategorien. Wo ist von "politischen Institutionen" bei ideengeSchichtlichen Autoren und Argumentations-zusammenh1lngen die Rede, welche Konzepte sind iiberhaupt einschUtgig, wo doch der Terminus "politische Institutionen" mit allen Problemkontexten, die wir mit ihm ver-bunderi Seben~ unserem eigenen Diskussionszusammenhang entstammt? Ein kurzer Durchgang durch die politische Ideengeschichte zeigt recht eindiiicklich, daB termino-logisch von politischen Institutionen kaum die Rede ist. Welche Sachverhalte aber kOnnten angesprochen sein, wenn wir annehmen, es sei in der politischen Ideenge-schichte viel von Problemen die Rede, welche wir heute a1s Fragen zur Theorie politi-scher Institutionen bezeichnen? Der IU1chstliegende Weg besteht darin, jene Gebilde, die wir konkret als politische Institutionen verstehen, in der politischen Ideengeschich-te aufzusuchen: Staat und Staatsapparat, Regierung, Parlament, Gerichte usw., also eben die Einric;:htungen, in denen und mit denen Politik gemacht wird. Da hierbei vom Alltagsverstlindnis politischer Institutionen ausgegangen wird, gibt es wenig Verst1ln-digungsprobleme, solange davon ausgegangen werden kann, daB auch die ideenge-schichtlichen Konzepte sich auf solche Gebilde beziehen. Dieser Weg filhrt relativ weit, und er wird auch, a1s der naheliegende und am wenigsten problematische, in die-sem Band hIlufig eingeschlagen. Aber schon fQr das heutige Verst1lndnis ist der ph1lno-menologische Institutionenbegriff kaum hinreichend, wenn neben den genannten Insti-riitionen fin engeren Sinn auch Parteien, Verb1lnde, Verfassung und Gesetze oder be-stimmte Verhaltensmuster wie Rituale a1s institutionelle Faktoren von Politik unter-sucht werden sollen. Sie lassen sich hilfsweise a1s politische Institutionen "im weite-ren Sinn" bezeichnen, aber damit Offnet sich ein weites Feld, in dem begriffliche Pra-

  • 12 Gerhard Gohler

    zisierungen nieht mehr phanomenologisch vorgenommen werden kOnnen. Was schon fUr den Gegenstandsbereieh gegenw~ger Institutionentheorie Probleme aufwirft. wird fUr die politische Ideengeschiehte erst recht preldtr. Bei politischen Institutionen im engeren Sinn ist keineswegs ausgemaeht. daB Konzepte der Ideengeschiehte yom gleiehen Alltagsverstandnis ausgehen (je weiter zurUckliegend. desto weniger). und die meisten der genannten Institutionen im weiteren Sinn wird man nicht weiter als bis ins 19. oder 18. lahrhundert zurUckverfolgen kOnnen.

    In der institutionentheoretischen Arbeit der Sektion Politische Philosopme und Theoriengeschichte wurde deshalb schon bald. zum Zwecke der Vorverstandigung. von einer Defmition ausgegangen. die politische Institutionen in den Rahmen der all-gemeinen Diskussion sozialer Institutionen stellt und innerhalb einer umfassenden De-fmition sozialer Institutionen das SpezifIkum politischer Institutionen benennt. Soziale Institutionen werden verstanden als relativ aUf Dauer gestellte. durch Internalisierung verfestigte Verhaltensmuster und Sinnorientierungen mit regulierender sozialer Funk-tion. Institutionen sind relativ stabil und damit auch von einer gewissen zeitliehen Dauer; ihre StabiliUU beruht auf der temporllI'en Verfestigung von Verhaltensmustem. Sie sind soweit verinnerlicht. daB die Adressaten ihre Erwartungshaltung. bewuBt oder unbewuBt. auf den ihnen innewohnenden Sinn ausrichten. Institutionen sind prinzipiell tiberpersOnlich und strukturieren menschliches Verhalten; sie tiben insoweit eine Ord-nungsfunktion aus. In diesem Rahmen werden politische Institutionen verstanden als Regelsysteme der Herstellung und Durchjuhrung allgemeinverbindlicher Entscheidun-gen. Die regulative soziale Funktion von Institutionen meint politisch die Umsetzung von Interessen in Entscheidungen und deren Ausftillung. bezogen auf ein soziales Ganzes und versehen mit Verbindlichkeit; relative Dauer und Intemalisierung bedeu-ten in politischen Institutionen ein MindestmaB an ta~chlicher Macht. rechtlicher Normierung und Akzeptanz durch die Betroffenen. Dies verlangt zugleich ein Min-destmaB an gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und wohl auch. betrachtet man die Entwieklung der Neuzeit. von PartizipationsmOglichkeiten. Politische Institutionen sind in ihrer Funktion zwar tiberpersOnlieh. die politischen Entscheidungen werden aber von - zumeist angebbaren - Personen getroffen und durchgefiihrt; politische In-stitutionen sind der Rahmen. innerhalb des sen diese Personen agieren.

    Beide Definitionen kOnnen sicherlich theoretisch noch nicht vOllig befriedigen. Die Definition politischer. Institutionen setzt einen spezifischen Politikbegriff voraus. fiber den zu diskutieren ware. Die Definition sozialer Institutionen ist bewuBt eklek-tisch; sie faBt solche Elernente aus Theorieansatzen sozialer Institutionen zusammen. tiber die ein breiter Konsensus erzielbar scheint. muB sich dann aber auch die Proble-matik einer Zusammenftigung ganz unterschiedlicher theoretischer Kontexte - na-mentlich der System- und der Handlungstheorie - vorhalten lassen. Der definierte Zu-sammenhang von sozialeri urid politischen Institutionen ist auch nicht so zu verstehen. als seien politische Instituuonen einfach als .. Sonderfall" aus sozialen Institutionen ab-leitbar; fUr manche SpezifIka politi scher Institutionen. etwa ihre demokratietheoreti-sche Dimension. ist eine sozialwissenschaftliche Rahmentheorie nieht ersichtIich (vgl. GOhler 1988). Die Grundintention jedoch. politische Institutionen auf die Folie der all-gemeinen Theorie sozialer Institutionen zu erfassen. scheint gerade der institutionen-

  • Einleitung 13

    theoretischen Lektiire der politischen Ideengeschiehte besonders dienlieh. Sie kann da-zu verhelfen, institutionentheoretische Fragestellungen aueh dort anzusetzen, wo in der Ideengeschiehte politische Institutionen naeh modemem VersCindnis nieht mehr-oder besser: noch nieht - unmittelbar phltnomenologisch auszumaehen sind. Es ist ja nieht auszuschlieBen, aber in unserem Zusammenhang ziemlieh prekar, daB politisehe Institutionen bei historischer Betrachtungsweise entweder gar nieht benennbar sind oder zumindest das nieht leisten und aueh nieht zu leisten beanspruchen, was wir von politischen Institutionen erwarten. In diesen HUlen HtBt sich die Institutionenproblema-tik erst in acUlquater Obersetzung zum Thema machen, wenn es gelingt, in den ideen-geschiehtlichen Konzepten und Argumentationslinien die funktionalen Aquivalente ffir politische Institutionen naeh modemem VersCindnis zu bestimmen. Institutionelle Konfigurationen in ihrer historischen Auspragung kOnnen als politische Institutionen naeh modemem VersCindnis verortet und in ihrer genetischen oder systematischen Be-deutung erOrtert werden, soweit sie Funktionen erfOllen, die, wie hier defmitorisch vorgeschlagen, sozialen und politischen Institutionen zuzumessen sind.

    Zwei Beispiele mOgen dies verdeutliehen (und zugleieh der Vermutung Ausdruek geben, daB Ideengeschiehte letztlieh gar nieht anders verfahren kann, well sie stets von modemen Kategorien ausgehen muS, und sei es nur, urn historische Sachverhalte in immanenter Darstellung ffir uns durch Abgrenzung verSCindlieh zu machen): Der mo-deme bfirokratisehe FUlehenstaat und die griechische Polis sind nieht im selben Sinne .. Staat", und es ist eine philosophisehe Frage, ob sie es wenigstens yom Wesen her sind. Als politisehen Institutionen kommt ihnen beiden die Funktion eines Regelsy-stems ffir allgemeinverbindliehe Entseheidungen in einem sozialen Ganzen zu, und in dieser funktionalen Aquivalenz sind sie aufeinander beziehbar: So lassen sieh theoreti-sche und historische Entwicklungslinien aufweisen, die Konfigurationen sind ver-gleichbar, aber aueh voneinander abgrenzbar in ihrer Struktur und Organisation, den mit ihnen verbundenen Sinnvorstellungen usw., und es laBt sieh vielleieht sogar - un-ter Beaehtung der historischen Differenz - aus alten Einsiehten .. lernen". - Es kann ffir die Ideengesehiehte aueh erforderlieh werden, bei der Bestimmung von funktionalen Aquivalenten ffir politische Institutionen auf die allgemeine Theorie sozialer Institu-tionen auszugreifen. Der Politik kommt im modemen VersCindnis mit der Entsehei-dungskompetenz ffir ein soziales Ganzes, die bis in das Alltagsleben hinein realiter er-fahrbar ist, eine gesamtgesellsehaftliehe Integrationsleistung in Form der BOndelung und Ordnung gesellsehaftlieher Erwartungen materieller wie ideeller Art zu - zumin-dest a1s Ansprueh, an dem sie sich messen lassen muB. Der modeme Verfassungsstaat scheint geradezu dadureh eharakterisiert, daB er diese Integration naeh ausgewiesenen und autonom gesetzten MaBsUiben ermOglieht und ihr damit zugleieh klare Grenzen setzt. Die Integrationsleistung ist historiseh keineswegs von vomherein mit politischen Institutionen naeh unserem modemen VersCindnis verbunden; sie scheint zun:lehst je-der sozialen Institution angesichts ihrer fiber Intemalisierung abgesieherten Regulie-rungsfunktion zukommen zu konnen, soweit sie ffir ein soziales Ganzes, also ,,gesamt-gesellschaftlich" relevant wird. Damit hat eine ffir modeme Vorstellungen zentrale Funktion politischer Institutionen historiseh ihr Aquivalent in nicht-politischen Institu-tionen, und gerade diese .. Funktionswanderung" Ober unterschiedliehe soziale Institu-

  • 14 Gerhard Giih/er

    tionen gibt wichtige Aufschltisse tiber Genese und Legitimation gegenwartiger politi-scher Institutionen. Die bistorische Entwieklung politischer Institutionen laBt sich nicht zuletzt daran festmachen, welchen sozialen, in modemem Verstltndnis nicht-po-litischen institutioneUen Konfigurationen die Integrationsleistung fUr ein soziaies Gan-zes jeweils zukam: Das war in Mittelalter und Friiher Neuzeit die zur Kirche institutio-nalisierte Religion, im Mittelalter mit universalem Anspruch im Widerstreit zur Reichsidee, im Zeitalter der Reformation konfessionell ausdifferenziert im Verbund mit den politisch sich entfaltenden Nationalstaaten. Das war im Zuge der kapitalisti-schen Entwicklung die zum Markt institutionalisierte Okonomie - zumindest a1s Theorem der nationalOkonomischen Klassiker (Adam Smith), die gegentiber staatli-chen politischen Institutionen den Markt als primat"e gesellschaftliehe Steuerungs- und Integrationsinstanz propagierten.

    Mit einer funktionalen Sichtweise laBt sieh auch einem anderen Problem begeg-nen, das zu einem sehr grundsatzlichen Einwand gegen das bier vorgelegte Untemeh-men fUhren kOnnte3. Sind politische Institutionen nieht ktinstliche, bewuBt geschaffene Gebllde und insofern ein Speziflkum der Neuzeit, well sie einen Reflexionsstand Uber die "Machbarkeit" politischer Institutionen voraussetzeri? In der Tat .sind Institutionen als ,,Einrichtungen" von Menschen geschaffen, zumindest aus ihrem Handeln resultie-rende Verfestigungen von Verhaltensmusteni, und insofem sind sie endlich, vedlnder-bar und sogar planbar. Aber es wiirde doch nicht hinreichen, politische Institutionen nur dort zu sehen, wo sie als solche bewuBt geschaffen wurden. Als ~wu6te Kon-struktion mit gesamtgesellschaftlieher Ordnungsleistung und Entscheidungsregelung sind etwa neuzeitliche Verfassungen anzusehen, beginnend mit der amerikanischen Verfassung von 1787, letztlich basierend auf revolutionat"en Akten. Aber die Funktion der Ordnungsleistung, die sie erftillen, ist nicht neu - neu sind nur Form unci Gehalt der Ordnungsleistung und ihre Integrationsgrundlage. Und selbst fiir sie scheint zu gelten, daB ihre KUnstlichkeit, ihr bewu6ter Einsatz erst in dem Ma6e an Stabilitllt ge-winnt, wie sie, einma! in Geltung, Alltllglichkeit erhalten und nieht stltndig in Frage gestellt, sondem gesamtgesellschaftlieh gelebt werden. Politische Institutionen, ver-standen als regulierende Verhaltensmuster, bezogen auf Entscheidungen fiir ein sozi-ales Ganzes, sind Ausdruck gesellschaftlieher Ordnungsleistungen, und dafiir ist es zu-nachst unerheblich, ob sie durch menschliches Handeln unbewu6t, unbeabsichtigt, ,,oaturwilchsig" entstanden oder bewuBt, in politischen Auseinandersetzungen mit ex-plizierten Zielvorstellungen geschaffen und durchgesetzt worden sind. Insofem sind politische Institutionen keineswegs auf die Neuzeit beschdlnkte Phanomene, sondem sie sind immer dann historisch zu orten, wenn es urn Ordnungsleistungen fUr ein sozi-ales Ganzes geht - es mUssen eben nur nieht jene Gebilde sein, die wir heute a1s "poli-tische Institutionen" gemeinbin vor Augen baben.

  • Einleitung 15

    4.

    Diese Uberlegungen sol1ten deutlich machen, daB eine BeschMtigung mit politischen Institutionen in der Ideengeschichte, soli sie theoretisch ertragreich sein, Dicht mit ei-nem einfachen, phllnomenologisch verengten Verstllndnis politischer Institutionen operieren kann. Gerade zur historisch angemessenen Formulierung institutiooentheo-retischer Fragen ist ein Ausgriff auf allgemeine Theoreme sozialer Institutionen erfor-derlich. Er dient im iibrigen nicht nur dem angemessenen Verstllndnis politischer Insti-tutionen als Gegenstand ideengeschichtlicher LekUire. Auf der Folie der allgemeinen Theorie sozialer Institutionen, so kann unterstellt werden, sind Problemste11ungen der Theorie politischer Institutionen auch mit Blick auf die Ideengeschichte iiberbaupt erst angemessen zu entfalten. Das ist schon die Voraussetzung, urn eine Bestandsaufnahme des einschUlgigen institutionentheoretischen Materials in der politischen Ideenge-schichte vorzunehmen, und erst recht ist sie es, wenn es gilt, darauf fundierte Ansatze fUr eine historisch gesattigte Theorie politischer Institutionen zu entwickeln - in gene-tischer wie in systematischer Perspektive. So w!lre gene tisch zu fragen, welche Prinzi-pien, Entwicklungsmuster und Funktionsbedingungen institutioneller Konfigurationen in ideengeschichtlichen Konzepten und Argumentationslinien maBgebend formuliert, welche Institutionen gesellschaftlicher Integration und politischer Steuerung im Reflex aufrealhistorische Vorgllnge propagiert wurden und welche Zusammenhllnge sich ffir uns daraus ergeben - anknupfend etwa an Theoreme von Max Weber und neuerdings vpn Schluchter, Habermas und Eder zur Ausbildung neuzeitlicher abendUlndischer Ra-tionaliW .. Systematisch waren allgemeine Theoreme uber soziale Institutionen in . ihrem Erkenntniswert ffir politische Institutionentheorie an der Ideengeschichte aufzu-arbeiten: In welchem Ma8e kOnnen und sollen im Sinne Gehlens politische Institutio-nen fUr ihre Adressaten entlastend wirken? Rier stehen Repr!sentativkonzepte, die ausdriicklich das Entlastungstheorem zugrunde legen, und basisdemokratische Kon-zepte, die genau dieses als undemokratisch ablehnen, einander gegeniiber. Oder: Gibt es im Sinne von Schelsky und Malinowski einen historischen und ideengeschichtlich reflektierten prozessualen Zusammenhang (feedback) von Institutionalisierung und Bediirfnisbefriedigung, welcher die Entwicklung politischer Institutionen erkl!lren kOnnte? VerkOrpem politische Institutionen, als Bedingung ihrer Lebensflhigkeit und WiIkungsmacht, im Sinne von Hauriou eine auf das soziale Ganze gerichtete Sinn-orientierung? Wird das Individuum durch starke und stabile politische Institutionen ubermllchtigt, oder sind Institutionen, wie es verstehend-interaktionistische Ansatze nahelegen, vor allem als Momente der Ausbildung von IndividualitAt zu begreifen?

    Die Reihe solcher Fragen, die dem allgemeinen Diskussionszusammenhang iiber Institutionen entstammen und ffir die Theorie politischer Institutionen besonderes Ge-wicht besitzen, lieBe sich verlllngem; soweit sie auch historisch diskutiert werden kOn-nen, sind sie auch an die politische Ideengeschichte zu richten. Vermutlich kann man sogar scharfer formulieren: Was als Beitrag zur Theorie politischer Institutionen Ge-wicht baben soli, miiBte sich nicht zuletzt auch ideengeschichtlich aufweisen lassen. Allerdings kann die Warnung vor dem bloGen ,,Einsammeln" ideengeschichtlicher Er-kenntnisse zur Theorie politischer Institutionen hier nur wiederholt werden. Es ist kei-

  • 16 Gerhard Gohler

    neswegs ausgemacht, daB ein Durchforsten ideengesehiehtlieher Konzepte (aueh wenn die erforderliehen Obersetzungen gelingen), alle jene Einsichten bereitstellt, deren sieh die aktuelle institutionentheoretische Diskussion geme versichem wiirde; welche ihrer Fragen berechtigt und angemessen an die politische Ideengeschiehte zu stellen sind, kann im Zusammenhang, tiber punktuelle Naehforschungen hinaus, erst im Ent-wurf einer historisehen Theorie politischer Institutionen expliziert werden. Ideenge-schichtliehe EinzellektOren mit institutionentheoretiseher Orientierung sind die erfor-derliehe Vorarbeit.

    5.

    Auf dieser Problemstufe stehen die Beitrltge dieses Bandes. Sie handeln von Institutio-nen und Institutionentheorie in der politischen Ideengeschichte, erheben aber nieht den Ansprueh, bereits systematische und aufeinander abgestimmte Antworten zur Theorie politischer Institutionen innerhalb der allgemeinen Theorie sozialer Institutionen zu geben. Soweit ist der DiskussionsprozeS generell noch nieht fortgeschritten.lm vorlie-genden Band steht zudem die genetische deutlieh vor der systematischen Fragestel-lung. Die Entwieklung politischer Institutionen wird in ihrem ideengeschiehtliehen Reflex von Legitimierungs- undDelegitimierungszusammenhlingen naehverfolgt, nur einige der Beitrllge sind von vomherein systematisch konzipiert Alle Beitrltge versu-chen allerdings, in unterscbiedlieher Akzentsetzung seitens der Autoren und abhllngig von der behandelten Epoche, das Institutionenproblem in dem bier skizzierten Rahmen zur Geltung zur bringen und m~gliehe institutionentheoretische Zusammenhllnge an-zudeuten. Gerade weil sich das Institutionenproblem historisch sehr unterschiedlieh stellt, ist der zeitliehe Rahmen breit gesteckt Damit stellt sieh die Frage naeh der Aus-wahl. Einerseits verbietet sieh, angesiehts der neuartigen Fragestellung, ein flllehen-deckender .. DurehsehuS" durch die politisehe Ideengesehichte - er miiSte allzu ober-flllehlieh ausfallen. Andererseits reicht es nieht hin, vielfiUtigen Forsehungsbeitrltgen einfaeh die Wiirde des ,,Exemplarisehen" zu verleihen - schlieSlieh soll eine bisher vemaehUissigte Sichtweise der politischen Ideengesehichte naehvollziehbar eingefuhrt werden. Die Auswahl entspringt einer systematisehen und einer pragmatischen Ober-legung. Systematisch gesehen versprieht das Studium der politischen Ideengesehichte institutionentheoretiseh besonderen Ertrag, wenn es sich auf Konstellationen und Epo-chen des gesellsehaftliehen Umbruehs riehtet. Ausgehend von der These, daS Institu-tionentheorie vor allem dann einsetzt, wenn bestehende Institutionen fragwOrdig wer-den (so daB sie besonderer Legitimation bedilrfen oder fOr Delegitimierungsprozesse und Altemativen Raum geben), konzentriert sich der Band auf wichtige gesellsehaftli-ehe Umbruehperioden des Abendlandes, die aueh durch Institutionenwandel gekenn-zeichnet sind: die Krise der griechischen Polis in der Antike, den Obergang vom Mit-telalter zur Neuzeit sowie die Herausbildung der modemen biirgerlichen Gesellschaft Der Band endet, wo (vom 18. zum 19. Jahrhundert) ihre noeh heute maSgebenden In-stitutionen in Konturen sichtbar werden; er befaSt sieh abschlieBend mit der Institutio-nentheorie politiseher Utopien. Das zweite Auswahlkriterium ist pragmatischer Art

  • Einleitung 17

    1m Bliekpunkt stehen vor allem Konzepte, die im "mainstream" der politisehen Ideen-geschiehte, im Kanon der Klassiker bisher eher unterbeliehtet waren. So gilt hier fiir die Neuzeit anstelle von Hobbes und Locke, Montesquieu und Rousseau, deren Be-deutung fiir die Ausbildung der biirgerliehen Gesellschaft vergleichsweise gut er-schlossen ist, die Aufmerksamkeit Spinoza, Adam Smith und Kant, die institutionen-theoretisch besondere Aufschlusse versprechen.

    Die Beitrt1ge des Bandes, konzentriert auf drei Umbruehperioden und auf politi-sche Utopien, bilden vier Komplexe, die von den Herausgebern jeweils gesondert ein-geleitet werden. Zugleieh werden damit besondere Akzente gesetzt. So geht die insti-tutionentheoretisehe Beschiiftigung mit der griechisehen Polis (Herausgeber: Manfred Walther) nieht von Platpn und Aristoteles, sondern als Ausdruek der Krise im Institu-tionenverstlindnis von den Sophisten und Thukydides aus, urn die Konzepte von Pla-ton und Aristoteles als Reaktion darauf darzustellen. Der groBe Umbrueh im Ubergang yom Mittelalter zur Neuzeit (Herausgeber: Herfried Munkler) wird als ein Komplex gefaBt - nieht nur, urn Periodisierungsproblemen zu entgehen, sondem vor allem, urn innere Zusammenhiinge, gewissermaBen die "KontinuitlU" des Institutionenwandels im Ubergang yom spliten Mittelalter zur When Neuzeit zu verdeutliehen. Dadurch er-hlilt dieser Komplex besonderes Gewieht. Er reicht von der splitmittelalterliehen Insti-tutionenlehre, die in der Absetzung gottgegebener Herrschaft yom Papsttum bereits autonome, freiheitsverbiirgende Institutionen andeutet, uber die Reformatoren bis hin zu dem unmittelbar aktuell anmutenden fMeralistisehen Institutionenkonzept bei Al-thusius. Zur Ausbildung der modernen biirgerlichen Gesellschaft (Herausgeber: Kurt Lenk und Gerhard GOhler) werden Korizepte vorgestellt, die in unterschiedlieher Ak-zentuierung Inst,itutionen der Selbstorganisation der Gesel1schaft begrunden: Spinoza entfaltet demokratische Institutionen analytiseh aus menschlieher Triebnatur und ge-sellschaftliehen Stabilitlitsbedingungen, die Federalist Papers begriinden die Prinzipien und Institutionen der Reprlisentativ-Verfassung aus der Idee des repubijkanisehen Menschen, Adam Smith steHt als entscheidende gesellsehaftsintegrierende Institution den Markt heraus, Kant begriindet mit einem formalen, aus Vernunftprinzipien ent-wiekelten Institutionenverstlindnis den modernen Rechtsstaat. Politische Utopien stel-len sieh dazu quer; ihr institutionentheoretischer Ertrag wird darum nieht an einzelnen Epochen und Autoren untersueht, sondern ubergreifend und grundslitzlieher zur De-batte gestellt (Herausgeber: Kurt Lenk).

    6.

    Neben der Auswahl unterscheiden sich aueh Zuordnung und Gewiehtung der hier be-handelten Konzepte und Autoren in manehem yom gewohnten Kanon der ideenge-schiehtliehen Klassiker4. Die Sophisten werden zumeist in die Vorgeschiehte der mit Platon beginnenden "groBen Theorie" verwiesen, Thukydides wird - trotz Leo Strauss - den Historikern uberlassen, Ockham geMrt in die Geschiehte der Erkenntnistheorie, die Reformatoren werden in Theologie und Kirehengesehichte behandelt, Spinoza ge-bOrt in die Metaphysik, Adam Smith in die Gesehiehte der Okonomie und Althusius,

  • 18 Gerhard GtJhler

    der in Emden wirkte, nach Ostfriesland. DaB hier der Klassikerkanon der politischen ldeengeschichte derart ausgeweitet wild, resultiert nicht nur aus dem Versuch, weni-ger Bekanntes zu prllsentieren. Vielmehr scheint die institutionentheoretische Frage-stellung besonders geeignet, geUlufige Gewichtungen und Linienfiihrungen in der poli-tischen ldeengeschichte zu relativieren. Wenn der Blick vornehmlich auf Umbruch-phasen gerichtet wird, treten in der griechischen Antike neben den Klassikem Platon und Aristoteles die Theoretiker des Umbruchs selbst in den Vordergrund, und es inter-essiert der Obergang vom Mittelalter zur Neuzeit insgesamt, oboe eine kiinstliche und umstrittene Z1lsur und vornehmlich in seinem historisch wirkungsmAchtigen theoreti-schen Aspekt, dem theologischen Argument.

    Mit dem Blick auf die institutionentheoretisch bedeutsamen Umbruchphasen ist auch die geUlufige Unterscheidung von antikem und neuzeitlichem Naturrechtsdenken zu eng, zumindest als Einteilungs- und Auswahlkriterium. Wenn im antiken Natur-recht - so hier bei Platon und Aristoteles - gesellschaftliche Ordnungskonzepte daran bemessen sind, inwieweit sie die gesellschaftsflihige und auf Gesellschaft angewiesene Natur des Menschen realisieren, so sind sie teleologisch auf diese Natur bin expliziert und letztlich, auch wenn bewuBt geschaffen, selbst ,,natilrlich". Aber schon in der An-tike steht die sophistische Gegentiberstellung von Gesetz und Natur, von "nomos" und "physis", steht die Unterordnung von Institutionen unter das menschliche Machtstre-ben bei Thukydides einem harmonisierenden Bild der Realisierung der menschlichen Wesensk:rAfte durch politische Institutionen entgegen. 1m neuzeitlichen Naturrechts-denken verhAlt es sich umgekebrt. Wenn hier politische Institutionen gebraucht wer-den, um - am deutlichsten bei Hobbes - die ungesellige, gese11schaftsgefi1brdende oder gar -zersWrende Natur des Menschen zu kanalisieren und zu restringieren, so sind sie Mechanismen gegen die oatilrlichen KrAfte und Triebe des Menschen, ihnen ge-gentiber ,,k(lnstlich", normativ gesetzt und bestenfalls geeignet, sie durch Bildung und Erziehung zu veredeln und eine ,,zweite Natur" herzustellen. Aber neuzeitliches Insti-tutionendenken setzt sich nicht nur negativ vom Naturzustand abo Locke, Spinoza oder Adam Smith entwickeln im Ausgang vom Naturzustand, aber nicht gegen ibn, institu-tionelle Konfigurationen, die nicht der Restriktion, sondem gerade der Freisetzung und Realisierung der menschlichen KrAfte und FAhigkeiten dienen.

    Die Autoren, die hier jeweils in Gegenpositionen zom ,,mainstream" stehen, arbei-ten mit einem anderen Argumentationsmuster, und m6glicherweise besteht hier ein en-gerer Zusammenhang. Abgesetzt gegen eine dezidiert normative, aus Prinzipien ent-faltete Explikation politischer Institutionen fragen sie in eher naturalistischer Manier oach der Genese und den Funktionsbedingungen politischer Institutionen im menschli-chen Zusammenleben. Oboe die normative Frage nach der richtigen, das menschliche Zusammenleben erm6glichenden und sichemden Ordnung aufzugeben, tritt damit das analytische, an den historischen Bedingungen und M6glichkeiten orientierte Argument gegentiber der Vernunftskonstruktion in den Vordergrund - in der Antike die Frage nach den realen Geltungsgrtindungen politischer Institutionen gegeniiber dem Postulat der natilrlichen Einbettung des Menschen in eine kosmische Ordnung, in der Neuzeit die Frage nach den Entfaltungsm6glichkeiten menschlicher AktivitAten und ihrer insti-tutionellen Stiltzung gegeniiber dem Vorrang einer Stillstellung des destruktiven Po-

  • Einleitung 19

    tentials der menschlichen Triebe und Leidenschaften. So lliBt sich aus institutionen-theoretischer Perspektive mOglicherweise die eine Linie von Platon und Aristoteles bis zu Hobbes und Kant ziehen, und dazu komplementar eine zweite Linie von den Sophi-sten und Thukydides bis zu Spinoza und Adam Smith. Wenn bislang die starker natu-ralistisch orientierten BegrOndungsmuster in der politischen Ideengeschichte eher un-terbelichtet erscheinen, so fUhrt die institutionentheoretische Lektiire zu einer deutli-chen Erweiterung des Blickfeldes; dies soUte dazu anregen, von der Institutionentheo-rie ausgehend aber die Repdlsentativitllt unseres Klassikerkanons neu nachzudenken.

    Anmerkungen

    1 Die Beitrllge sind aus drei Tagungen der Sektion Politische Philosophie und Theorienge-schichte in der DVPW in den Jahren 1985 und 1986 hervorgegangen. Sie wurden in der vorliegenden Form eigens fiIr diesen Band ausgearbeitet und nehmen die intensiv geftlhrte Diskussion mit auf. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat zwei der Tagungen in gro6-zUgiger Weise gef6rdert, ihr gilt unser besonderer Dank. Wir danken der Werner-Reimers-Gesellschaft fiIr ihre Gastfreundschaft und - last but not least - dem W estdeutschen Verlag fiIr seine Kooperationsbereitschaft

    2 Bermbach, Udo, 1984: Ober die Vernachlilssigung der Theoriengeschichte a1s Teil der Poli-tischen Wissenschaften. In ders. (Hg.): Politische Theoriengeschichte. Probleme einer Teil-disziplin der Politischen Wissenschaft PVS-Sonderheft 15, Opladen. 9-31. B6hret, Carl, 1985: Zum Stand und zur Orientierung der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. In: Hartwich (Hg.): Policy-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland. Opladen. 216-230. 1m tlbrigen wird wegen des programmatischen Charakters dieser Einlei-tung auf einzelne Literaturnachweise verzichtet. Die Darlegungen kntlpfen an einschlllgige Arbeiten des Verfassers an, auf die hier summarisch hingewiesen sei: G6hler, Gerhard (Hg.), 1987: Grundfragen der Theorie politischer Institutionen. Forschungsstand - Proble-me - Perspektiven. Opladen (Einleitung). - ders., 1987a: Institutionenlehre und Institutio-nentheorie in der deutschen Politikwissenschaft nach 1945. In: Gohler 1987, S. 15-47. -ders., 1988: Soziale Institutionen - politische Institutionen. Das Problem der Institutionen-theorie in der neueren deutschen Politikwissenschaft. In: Luthard/Waschkuhn (Hg.): Politik und Reprilsentation. Marburg. 12-28. - G6hler, Gerhard/Schmalz-Bruns, Rainer, 1988: Per-spektiven der Theorie politischer Institutionen. PVS 29. 309-349.

    3/ Diese Obedegungen gehen auf Anregungen von Manfred Walther zurtlck. Die dargelegte 4 Position hat selbstverstilndlich der Verfasser allein zu verantworten.

  • 1. Krise der griechischen Polis

    Einfiihrung

    Manfred Walther

    "This ... theory of politics was born from the crisis of Hellenic society. In an hour of crisis, when the order of a society flounders and desintegrates, the funda-mental problems of political existence in history are more apt to come into view than in periods of rela-tive stability." Eric Voeglin, The New Science of Politics, 1952: If.

    Politische Theorie ist - in allen ihren Formen vom tagespolitisch gepragten Pamphlet bis zu den systematischen wissenschaftlichen Gesamtentwiirfen - in ganz besonderer Weise von dem politischen und sozialen Kontext gepfagt und bewegt, in dem sie sich entwickelt: Sie lOst sich in sehr viel geringerem MaI3e von solchen Kontextbedingun-gen im Sinne endogen - oder zumindest: auch endogen - bestimmter Entwicklungen, als es in anderen Wissenschaften zu beobachten ist. Das gilt in besonderem MaI3e, ge-radezu exemplarisch, fUr jene Spielart politischer Theorien, die sich als Theorie des in-stitutionellen Charakters des Poiitischen: kurz als Theorie politischer Institutionen be-zeichnen lliBt. Denn daB sich Oberhaupt der Charakter des Institutionellen, d.h. des von den Menschen seiber Produzierten, an den Normen, Werten und Verfahren des politi-schen Lebens enthOllt, daB diese nicht als wie auch immer, kosmisch oder transzen-

    - ," ~~-

    dent, vorgegeben erscheinen, sondern als Resultate gemeinsamen Tuns des Menschen sichtbar werden: diese Einsicht konnte nur entstehen, wo sie in dem Verlauf der politi-schen Geschichte seiber ihre Entsprechung, ja wohl auch: die Bedingung ihrer Erkenn-barkeit fand.

    Dafiir ist die Entstehung eines institutionentheoretisch gepragten Ansatzes im Athen des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts eines der pragnantesten Beispiele: Evolutionsgeschichtlich1 vollzieht sich in Griechenland eine Sonderentwicklung: Auf-grund der doppelten Bedingung der geographischen Lage (von Bergen umschlossene, d.h. sehr kleine, Territorien und KOstenlage) vollzieht sich hier naIDlich nicht der 'Obergang vom Stammeshauptlingstum zu zentra1istisch und bUrokratisch, insbeson-dere durch ein Berufs-Beamtentum, regierten und verwalteten GroBreichen wie im Obrigen Orient, in denen es gelingt, die Ressourcen der Gesellschaft zentral zu organi-sieren (und deren Enrage partiell umzuverteilen). Vielmehr vollzieht sich in diesen

  • 22 Manfred Walther

    "urbanen Territorialstaaten" (Breuer 1982a: 200-219) eine langsame Despotenzierung des Stammesoberhauptes, verbunden mit einer erheblichen Ausweitung der politischen Partizipation der in Stlldten konzentrierten BevOlkerung, und zwar in zwei Stufen: Zum einen werden die Adelsgeschlechter, wohl vor allem wegen der durch die Ku-stenlage bedingten Chancen zur ErhOhung des Reichtums (Handel, Kolonisierung) stadts1issig. Zum anderen gelingt es anderen Gruppen der BevOlkerung, vor allem den Handwerkern und Kaufleuten, sich Beteiligungsrechte an der politischen Herrschaft zu erwerben. Dieser Proze8 vollzieht sich am konsequentesten in Athen: Die Abschaf-fung des Konigtums und seine Ersetzung durch das Archontat im Jahre 683 bezeichnet eine Z1isur. Der durch Gesetzgebungswellen (Drakon, Solon, Kleisthenes) gekenn-zeichnete Aufstieg der stadts1issigen Bevolkerung zur Beteiligung an der politischen Macht gipfelt schlie8lich in der Entmachtung des Areopags (als einer faktisch mnchti-gen Institution ehemaliger herausgehobener Funktionsttnger) im Jahre 462/61; dieses Ereignis bildet die andere znsur: Der Durchbruch der radikalen Demokratie ist erfolgt (Meier 1987).

    Diese okonomische, vor allem aber die soziale Dynamik, die sich hinter diesen Daten der nu8eren Geschichte verbirgt und in ihnen zum Ausdruck kommt, mit Ruck-schlngen (Bildung der Tyrannis des Peisistratos 560 und ihr Storz 520) und mit der nicht zuletzt durch die bestnodige Kriegsfiihrung mitbedingten politischen Aufwertung der "okonomisch waffenfiihige(n) Bauern- und Kleinbiirgerschicht" (Breuer 1982b: 179), die sich dann auch politisch umsetzt, - diese Dynamik impliziert, daB es inner-halb einer Generation zu einem mehrmaligen Wechsel der Regierungsform und damit des politischen Institutionensystems allgemein kommt; das bedeutet, daB sich inner-halb von nicht viel mehr als zwei Jahrhunderten die traditionalen Grundlagen eines hierarchisch gefiihrten Geschlechterverbandes sozusagen vor den Augen der Beteilig-ten auflosen. Vnd der mehrmalige Wechsel der Regierungsform innerhalb kurzer Zeit setzt sich, teilweise verbunden mit dem Kriegsverlauf, auch in den folgenden Jahr-zehnten fort.

    Hinzu kommt, vor allem durch Koloniegriindung und Au8enhandel, eine Fiille von Kenntnissen und Erfahrungen mit der Vnterschiedlichkeit von Sitten und Gebrnu-chen nicht nur, sondern auch von politischer Organisation und Weltdeutungen, welche das ihre dazu beitragen, traditional-religios und ahnengenea10gisch geprllgte Legiti-mationsmuster politischer Herrschaft zu zersetzen.

    Die Antwort im Bereich der Sinnorientierung ist wohl generell als Rationalisie-rungsstreben zu fassen: In der ionischen Naturphilosophie entsteht der Gedanke einer von wenigen, der Welt immanenten Prinzipien (arche) beherrschten Verfassung der Wirklichkeit im ganzen, und spntestens im 5. Jahrhundert wendet sich die Reflexion dieses sozialen Wandels, nachdem sie sich zunnchst auf Natur und Religion gerichtet hat, auf die politische und soziale Wirklichkeit als ihren Nnhrboden zuriick und bringt die Anfl\nge wissenschaftlicher Reflexion des politischen Lebens seIber hervor, und zwar nicht lnnger in der Form von Geheimnislehren bestimmter Gruppen und Schulen, sondern in der durch die "Entdeckung des Politischen" (Meier 1980), durch die breite politische Partizipation an Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit vorbereiteten Form 6f-fentlicher Lehre und Auseinandersetzung urn Grundlagen und Richtung der eigenen

  • Einjuhrung 23

    politischen Existenz (Tenbruek 1976): Dies ist die Stunde der Sophisten. So entsteht, zunllchst noch in mythische Form gekleidet, die Einsieht in das Hervorgebrachtsein, die ,,Kflnstliehkeit" der kulturellen und damit aueh der politfsdien Institutionen und

    Qjganiia.i!QD~foi1rien (Protagoras), freilieh nieht ohne daB. diese Entdeckung der Kfinstliehkeit sogleieh zur ideologischen Waffe im politischen Kampf geschArft wird, iD&m Q6Ch wieder dasN'atiIrliche (die physis) a1s das Eigentliehe und Wahre gegen das KiiristIiCffe (den hOmos: Heinim8nn 1945/1980) ausgespielt wird: in aristokrati-scher Version als PUtdoyer fUr das Recht des Starkeren (Kallikles), in demokratischer Version a1s ""P1IaOyer fik-dle CUeichheit alIer Polisbfirger, die fsonomi8 (Antiphon), und schlleSllc:hindes Thrasymachos Einsieht, daB die Starkeren eigentliehja die Men-

    ~ seien. Den vorUlufigen AbschluB und damit eine Art Synthese der antagonistischen Positionen bildet die nun der mythisehen Form entldeidete Einsieht des Anonymus Iambliehi, daB es gerade die physis des Mensehen sei, seine Welt thesei hervorzubrin-gen.

    Eine SehHrfung des Bliekes ffir die Konstituentien und Gesetzm118igkeiten sozialer und politischer Konstellationen brachte aueh - auf demselben alIgemeinen Hinter-grund - die Erfahrung der Kriege: Ankniipfend an diejenige Variante der Antithese von Physis und Nomos, derzufolge das Starke das physei Bestehende und letztlieh aueh gegen die Begrenzungs- und Unterdriiekungstendenz des Nomos sieh Durchset-zende sei, entwiekelt Thukydides aus der Erfahrung und auf dem Hintergrund des Pe-loponnesischen Krieges (431-404) eine "Analytik der Macht" als Theorie der Gesetz-mliBigkeiten der mensehliehen Physis, und er zeigt, die institutionenkritische Kompo-nente der sophistischen Antithese aufnehmend und verschllrfend, daB gegeniiber den Leidensehaften und Interessen, welehe das Handeln der Menschen in der Gesellschaft anleiten, Institutionen immer nur ein Sekundlkes, Abgeleitetes, ein im Kampf der Mllchte Eritstehendes, sieh Wandelndes und Vergehendes sind, gegeniiber der kon-stanten Affektnatur der Menschen also immer den ldirzeren ziehen. Stabilitllt ist dann aber nieht von den sekund1lren BegreoZungen und Hegungen der Macht, ist nieht von Institutionen zu erwarten, sondern alIein von der selbstdisziplinierten Kraft im Inneren der Menschen selbst, vom ethos. Damit bereitet Thukydides einer aufEthik als Grund-lage und Voraussetzung politiseher stabilitllt setzenden normativistischen politischen Theorie den Boden, wie sie in der FOIgezeit ausgearbeitet werden sonte. Wenn spater, in der When Neuzeit und ihren Machtldimpfen, politische Theorie gerade an Thukydi-des ankniipfl, so niehl, ohne gerade in diesem Punkte zu anderen, teilweise kontlilren Ergebnissen zu kommen.

    Platons Theorie von der Transzendenz und Unverfiigbarkeit des - aueh die riehti-ge Polisordnung bestimmenden - Guten ist - und stellt sieh seIber aueh dar als - die Antwort auf die sophistische Herausforderung. Die institutionentheoretischen Implika-tionen dieser - wie wohl jeder - Unmittelbarkeitstheorie sind durchaus ambivalent: Wie sieh zeigt, kann n1lmlieh das Insistieren auf der Unverfiigbarkeit des Guten sieh angesiehts der Gemtrdungen politischen Zusammenhalts durchaus mit der Ansieht und Forderung verbinden, daB das Gute denen, die seiner nieht ansiehtig zu werden verm~gen, durch ein diehtes Gefleeht politischer, sozialer und ~konomischer Institu-

  • 24 Manfred Walther

    tionen aufgeherrscht werden miisse oder aber durch derart legitimierte Gesetze zu si-chern seL

    Des Aristoteles politische Philosophie schlieBlich kann man auf dieser Folie als den Versuch ansehen, die Einsicht in den natiirlich-genetischen Charakter der Bildung von Institutionen, wie die Sophisten ibn betont hatten, mit dem Insistieren auf der Jen-seitigkeit der tragenden Prinzipien zu verbinden: der Begriff des Telos ist bestimmt, eben dies zu leisten. Und auf dieser Grundlage kann sich dann eine differenzierte insti-tutionentheoretisehe Reflexion des Politisehen entfalten.

    So ist die Entdeckung des institutionellen Charakters politischer Ordnung im Athen des 5. vorehristliehen Jahrhunderts zum einen so etwas wie das Entrollen einer Landkarte, auf der alle jene Positionen abgesteckt werden k()nnen, welche in der Ge-schichte des Begreifens des Politischen aus institutionentheoretischem Blickwinkel bezogen worden. Und es wird verstlindlich, daB an die in gewisser Weise radikalste Phase, namlich die Griindungsphase, erst wieder angekniipft wurde, als sich vergleich-bare Umbruchsituationen in dem, was gesellschaftlich-politischen Zusammenhang konstituiert, ergaben. Andererseits ist die Geschiehte institutionentheoretischer Ein-siehten in der politischen Theorie aber fiir J ahrhunderte, ja fUr fast eineinhalb J ahrtau-sende, zunitchst einmal, kaum daB sie begonnen hatte, aueh schon an ihr Ende gekom-men. Die griechische Entwicklung, gipfelnd in der Demokratie Athens, endete in einer Sackgasse der Evolution. Jene fiir kulturelle Innovationen so tritchtigen Peripherien worden seit dem Hellenismus in Bestandteile von GroBimperien verwandelt (das gilt auch z.B. fiir Israel-Pallistina), und erst als sieh im Okzident herausstellte, daB die Be-dingungen fiir die Bildung stabiler GroBreiehe nieht vorlagen, als neue labile Maehtla-gen sich bildeten, hatte der institutionentheoretische Ansatz politiseher Theorie wieder seine Zeit Das gilt fiir Oberitalien seit dem 14. Jahrhundert nieht weniger als fiir die Zeit der konfessionellen Spaltung und der Biirgerkriege. Dabei ist es sieher in einem struktorellen Sinne nieht zufallig, daB eine der Traditionen, an die man anschloB, jene Variante des ,,radikalen" Beginns war, die durch Thukydides markiert ist Welche Umstrukturierungen, Ausdifferenzierungen und Weiterentwieklungen die Theorie po-litischer Institutionen dabei erfuhr, wird in den spitteren Teilen zor Sprache kommen.

    Anmerkung

    1 Die folgende Skizze lehnt sich in vielem an die heiden Obersichtsartikel Breuer 1982a, 1982b an; Breuer 1982b wiederwn folgt teilweise den Analysen Max Webers.

    Literatur

    Breuer, Stefan, 1982a: Zur Soziogenese des Patrimonialstaates. In: Breuer, Stefan!Treiber, Hu-bert (Hg.): Entstehung und Strukturwandel des Staates. Opladen. 163-227.

    Breuer, Stefan, 1982b: Max Weber und die evolutionlire Bedeutung der Antike. Saeculum 33, 174-192.

    Heinimann, Felix, 1945/1980: Nomos und Physis: Herkunft und Bedeutung einer Antithese im griechischen Denken des 5. Iahrhunderts. Darmstadt (zuerst Basel 1945).

  • Einfuhrung 25 Meier, Christian, 1980: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Frankfurt/M. Meier, Christian, 1987: Der Umbruch zur Demokratie in Athen (462/61). In: Herzog, Reinhart!

    Koselleck, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und EpochenbewuBtsein. (Poetik und Herme-neutik; 12.) Mtlnchen. 353-380.

    Tenbruck, Friedrich, 1976: Zur Soziologie der Sophistik. Neue Hefte fUr Philo sophie 10. 51-77.

  • Kritik und Legitimation politischer Institutionen in der Sophistik

    Peter Spahn

    1. Reflexionen Uber politische Ideen yor Platon und Aristoteles

    Seit wann fUr die Griechen politische Institutionen zu einem theoretischen Problem wurden, ist schwer festzustellen. Zum Gegenstand politischen Handelns wurden sie bereits in der archaischen Epoche. S~testens im 6. lahrhundert v.Chr. hat man be-stimmte Institutionen der Polis verltndert. andere auch neu geschaffen. Die Vielgestal-tigkeit der griechischen Poliswelt und der unterschiedlichen Verfassungen hat das Nachdenken Uber Institutionen wohl schon frilh angeregt. Es kOnnte an der spllrlichen Oberlieferung liegen, daB wir dariiber kaum etwas wissen. Die ergiebigsten Quellen fUr eine ausgeprl1gte theoretische Beschllftigung mit der Institutionenthematik stam-men aus dem 4. lahrhundert v.Chr. Es sind die Texte der klassischen politischen Phi-losophie, etwa Platons Nomoi und vor aHem die aristotelische PoUlik. Unter den anti-ken Autoren bietet Aristoteles die umfassendste und differenzierteste Darstellung der Polis-Institutionen und die grUndlichste Analyse ihrer Bedingungen und Wirkungswei-sen. Die uberragende Bedeutung der platonischeo und aristotelischen Theorie und ihre uber die Antike hinausreichende ideengeschichtliche Wirkung haben eine vorausge-hende Phase der Reflexion uber politische Institutionen weitgehend verdeckt, nl1mlich die der Sophistik.

    Ob man von einer ausgebildeten Institutionen-Theorie der Sophistik sprechen kann, mag dahingestellt bleiben. Auf jeden Fall lassen die Uberlieferten Zeugnisse er-kennen, daB in der 2. HlUfte des 5. lahrhunderts mehrere Sophisten in einer neuen Weise uber dieses Problem nachdachten. Das filhrte einerseits zu einer kritischen Be-ttachtung der vorgegebenen Institutionen, andererseits aber auch zu verschiedenen Versuchen, deren Legitimation auf eine yom HerkOmmlichen abweichende Basis zu stellen. Das geschllrfte BewuBtsein der Sophistik fUr die Problematik politischer Insti-bJtionen ist im Zusammenhang der Geschichte der Polis und zumal der Entwicklung der Demokratie im 5. Jahrhundert zu sehen. Vor diesem historischen Hintergrund ist auch jener Text zu verstehen, der die politische Theorie des wohl berilhmtesten Sophi-sten am bestem zum Ausdruck bringt. nl1mlich der "Mythos des Protagoras".

  • Politisehe Institutionen in der Sophistik 27

    2. Der "Mythos des Protagoras"

    Es geht Protagoras im gleichnamigen Dialog Platons, der den Mythos entlUUt, urn den Nachweis, daB die Biirgertugend lehrbar sei. Die mythische Begriindung dieser These setzt ein mit der Erschaffung der Lebewesen dUICh die GOtter. Zun!chst werden die einzelnen Tierarten von Epimetheus mit je spezifischen Eigenschaften ausgestattet, die ein O'berleben der versehiedenen Gattungen gewllhrleisten. Als dann der Mensch an die Reihe kommt, sind alle natiirliehen Hilfsmittel bereits aufgeteilL Die biologischen Defizite versueht nun Prometheus dUICh die Vermittlung von technischem Wissen (ten enteehnon sophian. Plat. Prot. 321d) in Verbindung mit dem Geschenk des Feuers aus-zugleiehen. Damit erhlUt der Mensch Kenntnisse fiir den Lebensunterhalt (peri ton bion sophian), aber noch kein politisches Wissen (politiken sophian). Dank seiner Teilhabe am gOttliehen Wesen entwiekelt der Mensch dann als einziges Lebewesen den Glauben an GOtter, femer sprachliehe Artikulationsfahigkeit sowie handwerkliehe und landwirtsehaftliehe Fertigkeiten. "So ausgestattet siedelten die Menschen anfangs zerstteut, poleis gab es noch nieht" (322a). Sie fallen daher in der Folge b!ufig den wilden Tieren zorn Opfer, da sie noch keine Kriegstechnik (polemike teehne) besitzen, die ein Teil der politisehen ist (322b). Erste Versuehe von Polisgrilndungen zorn Zweck des O'berlebens scheitem, da man sieh oboe politike teehne in gegenseitigem Unrechttun zerstteitet, sieh wiederum zerstteut und aufgerieben wird

    Aus Sorge orn den Fortbestand des Menschengeschlechtes schiekt sehlie81ieh Zeus den Hermes, damit er den Menschen aidos und dike bringe, also: den gegenseiti-gen Respekt und das Recht, "damit es Polis-Ordnungen und -Bindungen (poleon 1os-moi te kai desmoi) gIbe sowie Vermittler von Freundsehaft" (philias synagogoi. 322c). Aidos und dike sollten aber Dieht wie handwerkliehe Fahigkeiten nur an be-stimmte Spezialisten verteilt werden, sondem an alle. Denn es kOnnten keine Poleis bestehen, wenn nur wenige (oligoi) am gegenseitigen Respekt und am Recht tellhllt-ten. Wer keinen Antell an beidem habe, miisse vielmehr nach gOttliehem Gesetz geW-tet werden, .. wie eine Krankheit der Polis" (322d).

    Sieht man zun!chst einmal von der mythischen Einkleidung ab, so deutet dieser Text auf eine Theorie sozialer und politiseher Institutionen. Ihr Ausgangspunkt ist der Vergleieh zwischen Tier und Mensch mit dem Ergebnis, daB letzterer hinsiehtlieh sei-ner natfJrliehen, biologischen Ausstattung ein M1lngelwesen darstellt, das zu seinem Oberleben a1s Gattung zuslltzliehe Gaben bzw. Begabungen braueht. Diese beziehen sieh auf drei Bereiehe des kulturellen Lebens, denen die sophistische Lehre besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat: die Religion, die Sprache und das technische Wissen auf der Ebene der materiellen Kultur, symbolisiert dUICh das gOttliehe Feuer der Ver-nunft.

    Diese Grundausstattung des Menschen, die ibn vom vemunftlosen (alogos) Tier unterscheidet, siehere aber noch Dieht seinen gattungsm1l8igen Bestand. Dazu sei viel-mehr jener .. bflrgerliehe Sachverstand" (politike techne) nOtig, der den Sophisten in erster Linie interessiert. Die jedem Mensehen zukommende teehne bzw. sophia orn-faSt nach Protagoras aidos und dike: die gegenseitige Riieksiehtnahme und das Recht. Es sind dies die Grundlagen des sozialen und politischen Lebens, die prim1lren Institu-

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    tionen der Polisgesellschaft Aidos und dike entsprechen auch einer weitgefaBten, epo-cheniibergreifenden Definition von "Institution", denn es handelt sich urn: ,,relativ auf Dauer gestellte, durch Intemalisierung verfestigte Verhaltensmuster mit regulierender sozialer Funktion" (G. GObler).

    Auf diesen prim1lren Institutionen beruhen dann - nach der Vorstellung des Prota-goras - sekund1lre, n1lmlich die Polis-Ordnungen und Freundschafts-Bande. Man hat darunter die historischen Konkretisierungen der prim1lren Institutionen zu verstehen, also die jeweiligen Polis-Verfassungen mit ihren verschiedenen politischen Institu-tionen im engeren, technischen Sinn (z.B. die Arnter, Ratsgremien, Gerichte etc.). Die ebenfalls auf aiOOs und dike zuriickgefiihrten Freundschaftsbeziehungen erstrecken sich auf die einzelnen Bereiche des sozialen Lebens einer PolisbOrgerschaft Die Re-geln der Freundschaft (philia) gelten fUr Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft (also fUr die sozialen Beziehungen im oikos und zwischen den oikoi), femer fOr die verscbiedenen Vereine (Hetairien, Kultgenossenschaften u.a.) in der Polis und schlieB-lich auch fOr das VerhIDtnis der BOrger untereinander. Diese Vorstellung von einer BUrgerfreundschaft (philia politike, wie Aristoteles sie sparer nennt) taucht bereits im Athen des 5. Jahrhunderts auf, zuerst in den Eumeniden des Aischylos (Y. 984ff.). DaB Protagoras die Bedeutung der philia fOr die BOrgerschaft in 1lhnlicher Weise hervor-hebt, wie es gerade im demokratischen Athen zu seiner Zeit geschah, spricht im iibri-gen auch dafOr, daB Platon hier die Ansichten des Sophisten weitgehend authentisch wiedergibt.

    Der Mythos des Protagoras, de~ eine allgemeine Kulturentstehungslehre darstellt, zeugt also auch von einem besonderen Interesse fOr die Problematik politischer und sozialer Institutionen. Manche seiner Argumente - wie etwa das der biologischen De-fizite des Menschen - muten dabei erstaunlich modem an. Dieser scheinbaren Moder-niUlt, deretwegen man die Sophistik haufig mit der neuzeitlichen Aufkll1rung vergli-chen hat, solI bier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. Vielmehr ist eine histori-sche Verfremdung und Distanzierung beabsichtigt Es geht darum, den historischen Ort sophistischer Institutionentheorie n1lher zu bestimmen. Von Interesse ist diese nl1mlich nicht nur unter dem Kontinuitlltsaspekt, also wegen ihrer Auswirkungen auf Platon und Aristoteles und somit auf die weitere politische Ideengeschichte. Sie ist vor allem ein Zeugnis friihen und originellen politischen Denkens - hinsichtIich der politi-schen Institutionen vielleicht sogar das friiheste in der abendll1ndischen Tradition.

    3. Der historische Hintergrund

    Unter dem bier gewlihlten historischen Aspekt ergeben sich zunachst zwei Vorfragen: Zorn einen ist die gescbichtIiche Entwicklung der politischen Institutionen Griechen-lands von der archaischen Zeit bis ins 5. Jahrhundert in den Blick zu nehmen, urn die Besonderheit der VerhIDtnisse zu erkennen, auf die sich die Sophisten beziehen. Zum anderen ist zu fragen, wie man vor der Sophistik die politischen Institutionen wahrge-nommen und beurteilt hat.

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    3.1. Die Polis und ihre Institutionen

    Die Entstehung der Polis und ihrer Institutionen ist fUr die Geschichtswissenschaft noch immer ein weithin ungellistes Problem. Das historisch Einzigartige an diesem Vorgang liegt darin, daB bei den Griechen nach dem Zerfall der mykenischen Kultor neue staatliehe Strukturen nieht zentralistisch von starken Monarchien aufgebaut wor-den, sondern auf einer breiten gesellschaftliehen Basis entstanden: zurutchst vom Adel ausgehend, dann auch - was man als "das griechische Wunder" bezeichnet hat - von Bauern. Die Ausgangslage ist also durch das Fehlen bzw. die schwache Ausprllgung primarer Institutionen gekennzeiehnet, wie sie in anderen Hochkulturen des Altertums und der Neuzeit durch monarchische Instanzen oder dorch hierarchische Strukturen von Priesterschaften reprasentiert worden.

    Dieser historischen Besonderheit der griechischen Staatsbildung entspricht auch das Bild der Polis in unseren friihesten literarischen Quellen, den homerischen Epen. 1m homerischen Klinigtum tinden sich nor noch einige Reminiszensen an die mykeni-sche Epoche mit ihrer ganz anders gearteten S taatlichkeit. 1m wesentlichen stellen die ,,Klinige" (basilees) Homers eine Adelsgesellschaft dar. Andererseits geMrten bereits bei Homer - also spatestens seit dem 8. Jahrhundert - zu einer Polis bestimmte sekun-dare Institutionen, die sich in veranderter Form auch in klassischer Zeit noch rmden: insbesondere die agora, der Versammlungsplatz fUr das Heer bzw. das Yolk, und die boule, der Rat der fiihrenden Adligen. Dazu kamen militarische und politische Fiih-rungspositionen, wie die der basi/ees, die sich spater zu regularen Polisamtern entwik-kelten.

    Seit dem 6. Jahrhundert laBt sich dann die Bildung neuer politischer Gremien be-obachten. Charakteristisch ist vor allem die Entstehung einer zweiten RatskOrper-schaft. eines Volksrates (boule demosie) neben dem bisherigen Adelsrat: in Athen an-geblich seit Solon, spatestens aber seit Kleisthenes; in Chios inschriftlich ebenfalls fUr das 6. Jahrhundert bezeugt AuBerdem worden die Magistratoren und das Gerichtswe-sen ausgebaut und auf eine breitere gesellschaftliche Basis gestellt. Kompetenzen und Verfahrensregeln worden schrlftlich festgelegt. Umfassende Rechtskodiflkationen, ' wie etwa diejenige Solons, bedeuteten zumindest auf langere Sicht einen epochalen Institutionalisierungsschub. Die kleisthenische Phylenreform am Ende des 6. Jahrhun-derts, fUr die sich auch in anderen Poleis gewisse Entsprechungen tinden, bewirkte schlieBlich eine grundlegend~ Umgestaltung der politischen Institutionen Athens. Die Neuorganisation der BUrgerschaft ermliglichte eine Ausweitung der politischen Parti-zipation, die dann seit der Mitte des 5. Jahrhunderts zur vollen Auspragung der Demo-kratie fuhrte.

    1m 7. und 6. Jahrhundert,in der sog. archaischen Zeit, war die Umgestaltung und Neubildung von politischen Institutionen und Gremien vor allem das Werk einzelner Gesetzgeber. 1m 5. Jahrhundert wurde dies dann mehr und mehr zor Sache der gesam-ten Bfu"gerschaft, also von Rat und Volksversammlung. In Athen laBt sieh das genauer verfolgen. Nach der Entmachtung des Areopag im Jahre 461 verftigte die Volksver-sammlung zusammen mit ihrem geschaftsftihrenden AusschuB, dem Rat der 500, auch tiber die weitere institutionelle Ausgestaltung der Demokratie. Gegen Ende des 5.

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    Jahrhunderts - spatestens seit 415 - schrtlnkte man diese Allmaeht der Volksversamm-lung dadurch ein, daB nun VolksbeschUisse als unvereinbar mit bestehenden Gesetzen - gewissennaBen als verfassungswidrig - erkUirt werden konnten (graphe parano-mon). Damit velSuchte man einer mlSgliehen demokratischen Willkiir einen institutio-nellen Riegel vorzuschieben.

    Aufs Ganze gesehen ergibt die Geschiehte der politischen Institutionen seit der ar-ehaischen Zeit bis ins spate 5. Jahrhundert einerseits eine zunehmende Differenzierung der einzelnen Institutionen und Gremien, anderelSeits eine wachsende Verff1gbarkeit (lber dieselben, VOl' allem in der Demokratie. Hier hat man die traditionellen Verfas-sungsinstitutionen Dieht nur in vielen Punkten verllndert, vermehrt und zu einem rela-tiv komplizierten Regelwerk ausgebildet, sondern aueh ein vlSllig neues Verst1lndnis der Polis-Institutionen bewirkt.

    3.2. Die Wahrnebmung der politischen Institutionen vor der Sophistik

    Dieser Wandel wird deudieh, wenn man das politisehe Denken im archaischen Grie-ehenland zorn Vergleieh heranzieht. Wie hat man damals die Institutionen der Polis wahrgenommen? Zunachst worden sie anscheinend Dieht a1s ein Element der politi-schen oder sozialen Ordnung angesehen, das einer besonderen Kritik unterzogen wer-den konnte oder einer Legitimation bedurft batte. Man registrierte lediglieh Abwei-ehungen von der jeweiligen Norm. So, wenn es bei Homer heiSt: Die Herrschaft vieler sei Dieht gut, einer solie Hemcher, einer KlSnig sein (II. 2, 204f.); oder wenn Hesiod die Verletzung der Dike durch ungerechte Richter beklagt. Dike ist ffir Hesiod (wie aueh noch fUr Solon) eine GlSttin, ihre Verletzung ein Frevel. Seine Kritik an den Riehtern zielt auf deren pers()nliehes Verhalten; sie betrifft noch Dieht das Gerieht als politische Institution und stellt diese nieht in Frage.

    Eine ausdriiekliehe Reflexion (lber die Institutionen der Polis erfolgte offenbar erst mit einer gewissen Verz;lSgerung: Obwohl man in der archaischen Zeit sowohl im Zu-ge der Kolonisation a1s aueh anlll8lieh umfassender Gesetzgebungswerke faktisch vie-lerorts solehe Einriehtungen schuf oder modiflZierte, zeugen unsere Quellen Dieht da-von, daB man sieh der Kontingenz politischer Institutionen bewuBt geworden ware und eben darin ein Problem gesehen hltte. Kritische Fragen in dieser Riehtung setzten im 6. Jahrhundert allerdings in anderen Bereiehen ein: Etwa wenn der Philosoph Xeno-phanes (in der 2. lWfte des 6. Jahrhunderts) feststellte, daB die Athiopen sieh ihre OOtter schwarz; und stornpfnasig vOlStellen, die Thraker dagegen blau1lugig und rot-haarig (D-K 21, B 16). DaB die Gesetze und Einriehtungen selbst benachbarter Poleis sieh oft ahnlieh krass unterschieden, diirfte den Griechen schon friih nieht entgangen sein. Wir erfahren aber vor dem 5. Jahrhundert nirgends, daB man deren Giiltigkeit deswegen in vergleiehbarer Radikalitllt in Zweifel gezogen batte. Die fUr die archai-sche Epoche typischen GesetzeskodifIkationen und die grundlegenden politisehen Re-formen jener Zeit - wie die des Kleisthenes in Athen oder die des Demonax in Kyrene (Hdt. IV 161) - waren offensiehdieh Menschenwerk. Sie worden allerdings in der Re-gel durch den delphisehen Apoll bestlltigt und hatten somit durchaus aueh eine reli-

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    giOse Legitimation. Die Geltungsgrundlage der Institutionen blieb gewissermaBen in der Schwebe zwischen ihrem menschlichen und ihrem gOttlichen Ursprung.

    Diese Ambivalenz hestand zunlichst auch im 5. Jahrhundert fort, a1s statt der pro-minenten Gesetzgeber nun mehr und mehr die Biirgerschaft - in Athen letztlich die Volksversammlung - Ober die Anderung einzelner Institutionen entschied. DaB sich solche BeschlOsse gerade in der Demokratie des 5. Jahrhunderts Muften, ist uns durch die aristotelische Athenaion Politeia bekannt. Kein Wunder, daB auch den Zeitgenos-sen die politische Brisanz derartiger Entscheidungen und Oberhaupt: die Bedeutung politischer Institutionen immer mehr bewuBt wurde.

    Ein wichtiges Zeugnis dieses neuen BewuBtseins, das noch nichts mit der Sophi-stik zu tun hat, sind die Eumeniden des Aischylos. Mit diesem Stilck erfmdet der Dichter wenige Jahre nach der revolutionaten Entmachtung des Areopag durch die Volksversammlung eine mythische Begriindung ffir die dem Adelsrat verbliebene Stellung als Gerichtshof. Auch hier zeigt sich also noch das Nebeneinander von politi-scher, rein menschlicher Dezision und nachtraglicher, religiOs-mythologischer Legiti-mation. Das Neue gegenuber dem 6. Jahrhundert - etwa gegenuber Solon - ist aber nun die Betonung der Erkenntnis, daB die Gerechtigkeit und der innere Friede im Ge-meinwesen durch politische Institutionen zu sichem seien (vgl. Meier 1980: 229; Meier 1987: passim).

    Die Schuld des Orest, die die ganze Polis in Mitleidenschaft zu ziehen droht, wird durch ein Biirger-Gericht aufgehoben - auch wenn die GOttin Athene daran beteiligt ist und mit ihrer Stimme den Ausschlag ffir den Freispruch gibL AHein woHte die GOt-tin den Fall, der zunachst ihr angetragen wurde, nicht entscheiden. Eine Wsung kann nach Athenes Meinung nur ein politisches Gremium finden, und zwar durch Abstim-mung und MehrheitsbeschluB. Die Pointe liegt am Ende darin, daB die Barger mit einer Stimme Mehrheit den Erinyen Recht geben, und erst Athenes Votum die Stim-mengleichheit und damit den Freispruch fUr Orest bewirkt. Aischylos zeigt ein beson-deres Interesse fiir die Verfahrensregeln des Prozesses, zumal ffir das rationale Be-weisverfahren, wie es in Athen damals aufgekommen ist.

    Demokratische Institutionen und Abstimmungsverfahren hebt Aischylos auch noch an anderen Stellen hervor: am deutlichsten in den 463 v.Chr. aufgefuhrten Hike-tiden. In dieser TragOdie will der KOnig von Argos ebenfalls nicht allein uber das Asylgesuch der Danaiden entscheiden; er mOchte zuerst den demos fragen, da dieser auch die Folgen der Aufnahme mitzutragen habe. Ausdrilcklich ist in diesem StOck von der "herrschenden Hand des Volkes" (demou kratousa cheir, Hik. 604) die Rede. Das verweist auf die Abstimmung in der Volksversammlung und deutet - es ist der friiheste Beleg - den Begriff 'Demokratie' an.

    Das neuartige Interesse an politischen Institutionen zeigt sich auch in der sog. Verfassungsdebatte bei Herodot, einem Text, der sehr wahrscheinlich hereits im Um-kreis der Sophistik entstanden ist. Hierbei flillt auf, daB der Befiirworter der Demokra-tie die Besonderheit und die Vorzuge dieser Verfassung im Institutionellen sieht: "Wenn das Yolk herrscht, bestellt es die Amter durch das Los, halt es die Regierung rechenschaftspflichtig, bringt es alles zu BeschlieBende vor die Gesamtheit" (Hdt. III 80,6). Chr. Meier hebt zu Recht hervor, diese Stelle sei der friiheste Beleg fUr die Er-

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    kenntnis, "daB die Verfassung eine Frage von Institutionen ist" (1980: 287). Und be-zeichnenderweise wurde diese Einsicht zuruichst nur aus der Eigenart der Demokratie abgeleitet. 1m Hinblick auf die Monarchie und die Oligarchie hingegen argumentieren in der Debatte sowohl die Befiirworter als auch die Gegner in erster Linie mit den per-s6n1ichen Qualitliten (bzw. Fehlem) der jeweils Herrschenden sowie mit ihren Freund-Feind-Beziehungen. Und ebenso reden die Gegner der Demokratie nicht von ihren 10-stitutionen, sondem nur von der Blindheit, Dummheit und Disziplinlosigkeit der Vo1ksmasse.

    Zusammenfassend lllBt sich feststellen: Sowohl die gescbichtliche Entwicklung der politischen Institutionen a1s auch die Geschichte ihres Begreifens deuten auf einen Einschnitt bin, der mit der Demokratie zusammenhAngt und zeitlich etwa urn die Mitte des 5. Jahrhunderts anzusetzen ist. In der Demokratie batten zumindest die sekund1l-ren, also die durch Satzung begriindeten politischen Institutionen, neuartige Dimensio-nen und Funktionen angenommen. Dies wurde nun auch zunehmend wahrgenommen und reflektiert, wobei unsere fiiiheste Quelle, die von Herodot fiberlieferte Verfas-sungsdebatte, schon der Sophistik zuzurechnen ist Vor diesem historischen Hinter-grund ist nun die Institutionentheorie einzelner Sophisten naher zu betrachten.

    4. Anslltze zu einer Theorie der politischen Institutionen in der Sophistik

    Vorweg eine Bemerkung zur Verwendung des Begriffs "Sophistik": Was man unter einem Sophisten zu verstehen hat, ist bekanntlich seit der Antike umstritten. Ein zeit-gentsssischer Autor, ruimlich der KomMiendichter Aristophanes, brachte in den Wol-ken gerade Sokrates a1s typischen Sophisten auf die Bfihne. Die Sokratiker bingegen und vor allem Platon stellten diesen a1s Hauptgegner der Sophisten dar und pragten nachhaltig ein negatives Bild von der Sophistik. Deren Beurteilung ist ffir uns beson-ders dadurch erschwert, daB von den Schriften der Sophisten nur gerioge Fragmente fiberliefert sind. Festzuhalten ist, daB die Sophisten professionelle Lehrer waren, die in der griechischen Welt umherzogen und sich ihren Unterricht mit Geld bezahlen lieBen. Athen wurde in der 2. mufte des 5. Jahrhunderts zurn Zentrum der sophistischen Be-wegung; alle bekannten Sophisten, die meist aus anderen Poleis stammten, bielten sich eine Zeit lang bier auf. Auch wenn sie nicht alle Befiirworter der Demokratie waren, baben die Erfahrungen mit dieser Staatsform ihre politischen Ansichten beeinfluBt. Die Gegenstlinde der sophistischen Lehre waren vielfiUtig. Die Vermittlung rhetori-scher Fertigkeiten spielte dabei eine groBe Rolle. Der Untenicht zielte letztlich auf die politische Praxis. Er sollte - wie es Platon Protagoras sagen lllBt - den Schiller betlhi-gen, das eigene Hauswesen gut zu verwalten und in den Angelegenheiten der Polis richtig zu handeln und zu reden (Prot. 318e). Da die sophistische Lehre relativ viel Geld lrostete, richtete sie sich an die wohlbabenden Schichten. Aus Platons Dialogen gewinnt man den Eindruck, daB vor allem junge Adlige ihre Schiller waren (vgl. Mar-tin 1976: 145).

    DaB die einzelnen Sophisten in ihren politischen Auffassungen keineswegs fiber-einstimmten und daB man folglich auch nicht mit einer einheitlichen Institutionentheo-

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    rie der Sophistik rechnen kann, wird im folgenden deutlich werden. Es lassen sich ver-schiedene Ans1ltze ausmachen, die mOglicherweise auch mit unterschied1ichen histori-schen Situationen zusammenhtingen, in denen sie entstanden sind. In unsere Betrach-tung sollen auch zeitgenOssische Autoren einbezogen werden, die von sophistischen Ideen beeinfluBt sind, natnlich Pseudo-Xenophon und besonders Thukydides. Deren Schriften erlauben eine gewisse Kontrolle unserer Vorstellung vom politischen Den-ken der Sophistik, die ansonsten weitgehend durch die Sichtweise Platons und die Zeugnisse splUerer Autoren bestimmt ist.

    4.1. Altere Sophistik - Protagoras

    Protagoras war nach Platons Darstellung (Prot. 349a) der erste, der sich Offentlich als Sophist bezeichnete und fUr seine Lehre Geld verlangte. Unter allen Sophisten entfal-tete er die grOBte Wirkung, haupts1lchlich in Athen, zeitweise auch in anderen Poleis bis hin nach Unteritalien und Sizilien. Nach Athen war er mOglicherweise schon urn 460 v.Chr. gekommen (Kerferd 1981: 43). Er stand in enger Verbindung mit Perikles und erhielt wohl von diesem urn 444 v.Chr. den Auf trag, fUr die neuzugriindende pan-hellenische Kolonie Thurioi die Gesetze zu entwerfen. Er hatte also die MOglichkeit, seine theoretischen Kenntnisse uber politische Institutionen auch seIber praktisch an-zuwenden. Die Tatigkeit als politischer Berater und die Ubemahme verschiedener po-litischer Missionen ist im ubrigen auch fUr andere Sophisten bezeugt. Darin manife-stiert sich die sophistische techne als ein Anspruch auf universale KOnnerschaft (Bucbheim 1986: 110).

    Der eingangs dargestellte Mythos aus Platons Protagoras gibt - darin ist sich die Forschung weitgehend einig - im wesentlichen die Auffassungen der Sophisten wie-der. Auch die literarische Form, also die mytbische Ausdrucksweise, geht sehr wahr-scheinlich auf den historischen Protagoras zuriick (Nestle 1942: 282; Kerferd 1981: 125). Damit hat es auf den ersten Blick den Anschein, als ob er die priml1ren Institutio-nen der Polis - dike und aidos - ganz wie in archaischer Zeit auf die GOtter zuriickfuh-ren wollte. In dieser Art hatte es Hesiod dargestellt: Dike als Tochter des Zeus; noch bei Solon erscheint sie als GOttin. 1m Mythos des Protagoras ist das Recht zwar nicht mehr personifiziert, aber immer noch ein Geschenk von Zeus.

    Eine solche Anschauungsweise diirfte jedoch kaum zu einem Denker passen, auf den der Satz zuriickgeht: "Der Mensch ist der MaBstab aller Dinge" (D-K 80, B 1). Und hinsichtlich der GOtter vertrat Protagoras in seiner einschUtgigen Schrift einen to-talen Agnostizismus:

    "Ober die Gtltter allerdings habe ieh keine Mtlgliehkeit zu wissen (festzustellen?) weder daB sie sind, noch daB sie nieht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen (FeststeUen?) hindert: die Niehtwahmehmbarkeit und daB das Leben des Mensehenkurz ist" (D-K 80, B 4).

    Es bleibt somit nur der SchluB ubrig, daB die Rede vom Recht als einem GOtterge-schenk metaphorisch zu verstehen ist. Sie geMrt zur Form des mythos, den Protagoras

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    bier dem logos vorzieht, well der lIanmutiger" sei (32Oc). Au8erdem spielen die GOtter in der folgenden Ausdeutung des Mythos keine Rolle mehr. Wenn somit die religiOse Begriindung des Rechts und Uberhaupt der politischen Insti-tutionen fUr Protagoras obsolet geworden ist, bleibt zu fragen, welche andere Legiti-mation er vorgebracht hat Dazu UlBt sich aufgrund seiner weiteren Aul3erungen bei Platon - vor allem im Thelitet - folgendes feststellen: Die Verbindlichkeit des Rechts ergab sich ibm aus der Gemeinsamkeit der Entscheidungen innerhalb einer Polis. Die koine doxa einer BUrgerschaft, nicht die Meinung von Individuen war im Politischen fOr Protagoras der MaBstab (Heinimann 1945: 117; DOring 1981: 115). Dementspre-chend besteht auch die Kernaussage seines Mythos darin, daB gegenseitige Achtung und Recht - und damit die Befilhigung zum BUrger - allen verliehen worden seL Dies ist durchaus auch als eine Legitimation der Demokratie zu verstehen; wobei nicht das Mehrheitsprinzip betont wird, aber eine breite politische Partizipation und der kollek-tive Charakter politischer Entscheidungen. Zwischen dem Recht und den jeweils von den BUrgern gemachten Gesetzen sah Protagoras offenbar keinen Gegensatz: nomimon und diko.ion werden wie selbstverstllndlich gleichgesetzt (327a).

    Bei Protagoras ist von einer Relativierung des nomos, wie sie fUr andere Sophisten charakteristisch ist, nicht die Rede. Seine Auffassung von der Verbindlichkeit der je-weils herrschenden nomoi beruhrt sich eng mit der Gescbichte Herodots fiber den Wahnsinn des Kambyses, der sich in seiner Verachtung gegenfiber den nomoi seiner Untertanen gezeigt habe (Hdt. III 38): Jedes Yolk wUrde selbst in Kenntnis der Sitten aller anderen VOlker, wenn es die Wahl Mtte, die eigenen sich auswllhlen, well es die-se fUr die besten bielte. Die groBe Verschiedenheit der nomoi (erwlihnt wird ein indi-scher Brauch, die Leichen der Eltem aufzuessen) wird hier zum Argument fUr ihre Verbindlichkeit, nicht etwa fUr ihre Relativitllt. Wie bereits zuvor in einem anderen Zusammenhang festgesteUt, ffihrte allein die Erkenntnis der Vielfalt und Unterscbied-lichkeit menschlicher Sitten und Institutionen - Herodot bietet daftir das beste An-schauungsmaterial - bei den friihen Sophisten noch nicht zwangsUlufig zu einer ab-wertenden Kritik und Relativierung des nomos. Es muSten offenbar noch andere Er-fahrungen hinzukommen, urn solche Anschauungen hervorzubringen, die spilter als ty-pisch sophistisch gelten soUten.

    4.2. JUngere Sophistik - Die Antithese von no