Gershom Scholem Politisches, Esoterisches Und Historiographisches Schreiben

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Gershom Scholem : politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben Autor / Hrsg.: Weidner, DanielVerlagsort: München | Erscheinungsjahr: 2003 | Verlag: Fink Signatur: PVA 2002.4969 [Suche im Band] [DFG-Viewer] [PDF-Download]http://www.perlentaucher.de/buch/daniel-weidner/gershom-scholem.htmlcf :Scholem, Historiker der Kabbala, früher Zionist, scharfer Kritiker der jüdischen Assimilation, Freund und Herausgeber Benjamins ist eine schillernde Gestalt und Autor faszinierender Texte. Die in den letzten Jahren veröffentlichten Jugendtagebücher und -briefe geben Einsicht in die Entwicklung des jungen Scholem und die Werkstatt seines Schreibens. Nach heftigen persönlichen Krisen und vehementen Auseinandersetzungen mit seinen Mitzionisten lernt Scholem, "im Namen" des Judentums zu sprechen. Er eignet sich die jüdische Überlieferung an und entwirft eine Philosophie und Theologie des "Kommentars". Als Historiker der Kabbala macht Scholem die verschlossene Welt mystischer Texte durch eine dynamische Lektüre zum Kraftfeld jüdischer Identität. Der Band führt einen jungen Intellektuellen auf der Suche nach sich und dem Judentum vor, er untersucht die Verflechtung von politischen, theologischen und wissenschaftlichen Schriften und leuchtet deren intellektualgeschichtliche Kontexte aus.

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Daniel Weidner

Gershom Scholem Politisches, esoterisches und historiographisches Schreiben

Wilhelm Fink Verlag

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PVA

2002. , r t™ Für Dorothea 4969

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Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

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ISBN 3-7705-3754-8 © 2003 Wilhelm Fink Verlag, München

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn

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Inhalt

DAN K 9

EINLEITUN G 11

Scholem-Lektüren (13) - Scholems >Schreiben< (21) - Niveaus, Kontexte, Schreibweisen (23)

1 DAS POLITISCHE SCHREIBEN: SCHOLEMS ZIONISTISCHE IDENTITÄ T 27

1.1 Einleitung: Scholems politische Erziehung 29

Die Quellen: Autobiographie und Tagebücher (30) - Der jüdi-sche Diskurs und die Frage der Legitimität (33) - Scholems po-litisches Schreiben (36)

1.2 Das Feld: Deutsche Juden und Zionisten 40

Deutschjudentum und >Selbstbetrug< (40) - Zionismus und historische Identität (46)

1.3 Revolte und Romantik: Die erste eigene Sprache 55

Generationskonflikt und Ethos der Revolte (55) - Die Jugend-bewegung und Buber (61) - Sprachversuche und Krisen - (65) >Ideologie< und >Zion< (69) - Distanzierung von Buber (73) -Exkurs: Scholem und Benjamin (79)

1.4 Das asketische Ethos 85

Krisenerfahrungen (85) - >Geschwätz<, >Arbeit< und >Schweigen< (88) - Religion, Politik und Sprache (91) - Esoterischer Zionis-mus: Scholem auf der Grenze (99)

1.5 Die Krise der Einwanderung 104

Die Gefahr der Politik: Zionismus und Revisionismus (105) -Der >verfrühte Sieg< und der >Esoteriker alter Mode< (110) -Nach der Krise: Stabilität oder Melancholie? (115) - Zurückhal-tung und Stärke (121)

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6 INHALT

1.6 Exkurs: Die Bedeutung der Sprache 124

Die Erneuerung der hebräischen Sprache (125) - Sprache und Religion: Scholems Sprachkrise (133) - Sprache im Übergang: Scholem und Agnon (140)

2 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN: SCHOLEMS PHILOSO-PHISCHE UND THEOLOGISCHE FRÜHSCHRIFTEN 145

2.1 Einleitung: Scholems esoterische Texte und die Probleme ihrer Interpretation 147

Probleme der Lektüre (148) - Das Problem der >Tradition< (152) - Exkurs: Die jüdische Tradition (154) - Rhetorik von Tradition und Schrift (158)

TEIL A: PHILOSOPHIE 163

2.2 Philosophischer Horizont: Kant und Cohen 165

2.3 Symbol, Sprache und >Tradition< 174

>Ordnungslehre<, >Mystik< und Mathematik (176) - >Tradition< und Kabbala: Scholem und Molitor (180) - Die Grenzen der Sprache und die Dichtung: Über Klage und Klagelied (191)

2.4 >Tradition<, >Mystik< und Krise: Die Rezeption der Frühromantik 197

Die Theorie des Reflexionsmediums (198) - >Mystik<, >System<

und >Fragment< (203) - Tradierbarkeit als Problem (206)

2.5 >Gerechtigkeit< und Ironie: Über Jona und den Begriff von Gerechtigkeit 211

>Gerechtigkeit<, Prophetie und >Aufschub< (211) - Sprache, Tra-dition und Offenbarung (219) -Jona und Hiob (223)

TEIL B: THEOLOGIE 230

2.6 Theologischer Horizont 233

Epochenbruch in der Theologie (233) - Paradox und >Dialektik<: Scholem und Kierkegaard (239) - Theologie und >Leben<: Scho-lem und S. R. Hirsch (243) - Die Offenbarung als Audition: Scholem und Steinheim (247)

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INHAL T 7

2.7 Offenbarung und Tradition 251

Die >Blendung der Offenbarung< (251) - Das >Nichts der Offen-barung< (257) - Das Problem des religiösen Anarchismus (262)

2.8 Theologie und Geschichte 270

2.9 Tradition und >Philologie< 277

>Philologie< als Geheimwissenschaft (277) - Scholems Selbstver-ständnis zwischen Philologie und Kabbala (280) - Strategien der Selbstkanonisierung (286)

3 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN: SCHOLEMS RELIGIONSGESCHICHTE DER KABBAL A . . .. 291

3.1 Einleitung: Geschichtsschreibung verstehen 293

Jüdische Geschichte und >Gegengeschichte< (294) - Geschichts-schreibung als Erzählung: Fabel und Historisierung (298) -Geschichtsschreibung als Lektüre: Das Paradigma und die For-schung (299) - Geschichtsschreibung als Arbeit: >Grenzen< der Geschichte (301)

3.2 Das Paradigma der Religionsgeschichte 304

3.3 Religionsgeschichte des Judentums und >Mythos< 314

Die kritische Methode (315) -Jüdische Wellhausen-Rezeption (319) - >Mythos und >Pantheismus< bei Scholem (321) - De-My-thifizierung im Judentum bei Scholem (325)

3.4 >Mystik< und allgemeine Religionsgeschichte 329

Mystik in der Diskussion (330) - Kabbala und Mystik bei Scho-lem (332) - Die Grenzen des Paradigmas (339)

3.5 Kabbala und >Gnosis< 342

Der Ursprung der Kabbala (343) - Gnosis in der Diskussion (346) - Die jüdische Gnosis (351) - Gnosis, Neuplatonismus und Kabbala (356) - Der Begriff des Symbols (360)

3.6 Die Krise des Sabbatianismus als Höhepunkt von Scholems >Fabel< 364

Die Erforschung des Sabbatianismus (365) - Apokalyptik in der Forschung (367) - Exkurs: Die messianische Idee (369) - Die >Explosion< der Theologie (373) - Die Synchronisierung von

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8 INHALT

Kabbala und Frömmigkeit (376) - Verschmelzung und histori-sche Probe (379) - Die Dynamik des >Glaubens< (382) - Scho-lems >Historische Dialektik< (385)

3.7 Der Historiker und die jüdische Moderne 389

Sektengeschichte der Aufklärung (390) - Dämonie des Nihilis-mus (398) - Späthistorismus (403)

SCHLUSS 411

Rückblick (412) Schweigen und Schreiben (414) Figuren der Säkularisierung (417)

LITERATURVERZEICHNIS 421

1. Nach Sigeln zitierte Werke Scholems 421

2. Sonstige Werke Scholems 422

3. Unveröffentlichte Texte Scholems 423

4. Literatur zu Scholem 423

5. Allgemeine Literatur 428

PERSONENREGISTER 443

SACHREGISTER 445

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Dank

Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation am Institut für allgemeine und ver-gleichende Literaturwissenschaften der Freien Universität Berlin entstanden. Ich danke Prof. Gert Mattenklott und Prof. Christoph Schulte für die freund-liche Betreuung, dauernde Unterstützung und für anregende Gespräche während dieser Jahre, ich danke auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Dissertantenkolloquiums von Gert Mattenklott für Kriti k und Zuspruch. Prof. Karlfried Gründer und Prof. Friedrich Niewöhner ließen mich in den in Veröffentlichung begriffenen zweiten Band der Tagebücher Scholems Einsicht nehmen und machten damit diese Arbeit erst möglich, ich danke besonders Dr. Herbert Kopp-Oberstebrink für die Unterstützung bei dieser Einsichtnahme. Ein Stipendium der Berliner NaFöG-Komission unterstützte mich finanziell und ermöglichte auch einen Aufenthalt in Jerusalem, hier half mir Margot Cohn von der Handschriftenabteilung der Jüdischen National- und Universitätsbi-bliothek bei der Orientierung in Scholems Nachlaß.

Seit Abschluß der Dissertation arbeite ich am Zentrum für Literaturfor-schung in Berlin, ich danke meinen dortigen Kolleginnen und Kollegen, insbe-sondere der Leiterin und den Mitarbeitern meiner Projektgruppe, Prof. Sigrid Weigel, Dr. Ernst Müller und Dr. Martin Treml; leider sind ihre Anregungen viel zu zahlreich, um in die Arbeit aufgenommen zu werden, an einigen Stellen wird der Leser aber bemerken, in welcher Richtung sich meine Überlegungen inzwischen bewegen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft machte durch einen Druckkostenzuschuß diese Veröffentlichung möglich, bei der Überar-beitung und Kürzung der Dissertation stand mir Susanne Hetzer geduldig und ausdauernd zur Seite.

Ich danke Carsten Allefeld, Stefan Beier, Anne Gröger, Iris Hölling und Andrea Suter für ihre jahrelange Freundschaft und Aufmunterung sowie für Kommentare zur ersten Fassung des Manuskripts. Ein ganz besonderer Dank gilt Dorothea Schildt, ohne die die letzten Jahre deutlich weniger freudvoll ge-wesen wären und deren ermutigende Ratschläge wesentlich zur zügigen Fer-tigstellung dieser Arbeit beigetragen haben. Ihr sei dieses Buch gewidmet.

Berlin, im April 2002

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Einleitung

Scholems Hauptwerk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen ist ein >ge-lehrtes< Buch, das einen fremden Gegenstand gründlich rekonstruiert, ohne sich dabei allzu viel Mühe zu geben, den Leser anzusprechen oder ihm den Gegen-stand nahezubringen. Zum Schluß des Werkes, als er den Verfall des späten Chassidismus beschreibt, zitiert Scholem eine inzwischen wohlbekannte chas-sidische Geschichte:

Wenn der Baal-Schem etwas Schwieriges zu erledigen hatte, irgendein geheimes Werk zum Nutzen der Geschöpfe, so ging er an eine bestimmte Stelle im Walde, zündete ein Feuer an und sprach, in mystische Meditationen versunken, Gebete -und alles geschah, wie er es sich vorgenommen hatte. Wenn eine Generation spä-ter der Maggid von Meseritz dasselbe zu tun hatte, ging er an jene Stelle im Walde und sagte: >Das Feuer können wir nicht mehr machen, aber die Gebete können wir sprechen< - und alles ging nach seinem Willen. Wieder eine Generation später sollte Rabbi Mosche Leib aus Sassow jene Tat vollbringen. Auch er ging in den Wald und sagte: >Wir können kein Feuer mehr machen, und wir kennen auch die geheimen Meditationen nicht mehr, die das Gebet beleben; aber wir kennen den Ort im Walde, wo all das hingehört, und das muß genügen.< - Und es genügte. Als aber wieder eine Generation später Rabbi Israel von Rischin jene Tat zu vollbrin-gen hatte, da setzte er sich in seinem Schloß auf seinen goldenen Stuhl und sagte: >Wir können kein Feuer machen, wir können keine Gebete sprechen, wir kennen auch den Ort nicht mehr, aber wir können die Geschichte davon erzählen.< Und -so fügt der Erzähler hinzu - seine Erzählung allein hatte dieselbe Wirkung wie die Taten der drei anderen. (JM, 384)

Läßt diese Geschichte nicht in ganz neuem Licht erscheinen, was Scholem auf den fast vierhundert Seiten vorher getan hat? Ihre Moral, daß nämlich »vom Mysterium schließlich nur noch die Geschichte übrig blieb«, würde auch den historischen Diskurs selbst betreffen, denn sie beschreibt, kommentiert Scho-lem, »die Situation, in der wir uns heute der jüdischen Mystik gegenüber be-finden« (ebd.). Was als Unternehmen der reinen Wissenschaft angetreten war, würde sich hier, ironischerweise ganz am Schluß, als etwas anderes erklären: als Fortspinnen einer Erzählung. Nun ist die Pointe der chassidischen Ge-schichte natürlich, daß das Wunder geschieht. Scholems Historiographie wäre also alles andere als eine rein wissenschaftliche, profane Geschichtsschreibung, denn »die Geschichten sind noch nicht tot, sie sind noch nicht zur Geschichte geworden, das geheime Leben in ihnen kann heute oder morgen bei dir oder mir wieder zum Vorschein kommen« (ebd.). So wäre im Sinne der Anekdote der Kabbala-Forscher jener Rabbi, der das Wunder vollbringt, ohne sein Schloß zu verlassen.

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12 EINLEITUNG

Doch eine solche Deutung der Anekdote geht zu weit: Das geheime Leben kann heute hervorbrechen, selbst die Tatsache, daß die verlustlose Verwandlung des Mysteriums in die Geschichte einmal, bei jenem Rabbi, gelungen ist, wird nur durch einen »Erzähler« »hinzugefügt«, der in der Anekdote vorher nicht aufgetaucht war (ist es Agnon, von dem Scholem diese Geschichte gehört hat? Ist es ein chassidischer Erzähler?). Schließlich und vor allem endet das Kapitel mit einer anderen Geste, in der Scholem sich zurücknimmt:

Ich habe mir die Aufgabe gestellt, über die Hauptströmungen der jüdischen Mystik zu berichten, soweit wir sie kennen. Über das Schicksal und den mystischen Wan-del zu sprechen, der in der großen Katastrophe, die über das jüdische Volk in die-ser Generation tiefer als je bisher in seiner langen Geschichte hereingebrochen ist, uns noch beschieden sein mag - und ich glaube, daß uns solcher Wandel noch be-vorsteht -, ist Sache der Propheten und nicht der Professoren. (Ebd., 385)

Der >Bericht<, den Scholem gibt, ist also auch wieder verschieden vom >Spre-chen< jener Propheten - und die Zukunft des Mysteriums liegt in letzterem -, andererseits >erzählt< Scholem doch die Geschichte: Es gibt hier anscheinend zumindest drei Positionen, die nicht einfach aufeinander zu beziehen sind, Po-sitionen, von denen der Leser noch dazu den Eindruck hat, sie seien durch nicht ganz durchsichtige Tricks erzeugt worden.

Gerade diese Mehrdeutigkeit macht die Anziehungskraft von Scholems Tex-ten aus: Sie erzeugt Neugier und lockt auch solche Leser und Leserinnen in Scholems Texte, die kein historisches Interesse an der Kabbala haben. Sie werden von ihrer Neugier durch den Scholemschen Text geführt, einen außer-ordentlich reichen Text, der gesättigt ist mit Informationen, Quellen, Interpre-tationen und allgemeinen Reflexionen, der ihre ursprüngliche Neugier nicht befriedigt, sondern eine Vielzahl von anderen Fragen weckt. Wenn sie dann, nach der Lektüre, bei der zitierten Anekdote anlangen, werden sie bereits wis-sen, daß die Frage, ob Scholem ein Kabbaiist sei oder nicht, nur die Außenseite eines viel komplexeren und vielseitigeren Werkes darstellt.

Es macht daher auch wenig Sinn, jene Frage zu entscheiden und Scholem einen festen Ort zuzuweisen. Man muß sie die Frage, die der Text hier nahelegt, als Frage lesen, also verstehen, wie sie konstituiert ist und welche Effekte sie hat. Die vorliegende Arbeit wil l keine Monographie über Scholem sein, sondern seine spezifische >Schreibweise< untersuchen, sie fragt also weniger danach, was Scholem sagt als wie er es tut. Das drängt sich besonders deshalb auf, weil die in den letzten Jahren schrittweise veröffentlichten Jugendaufzeichnungen eine Relektüre ermöglichen, die nicht nur Scholems intellektuelle Entwicklung prä-ziser darstellen kann als das bisher geschah, sondern auch die Kräfte sichtbar macht, die Scholems Werk insgesamt konstituieren.1

1 Nach dem Briefwechsel mit Walter Benjamin (1980), Werner Kraft (1986) und

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EINLEITUNG 13

Scholem-Lektüren

Scholem ist außerordentl ich erfolgreich. Zumindest in Amerika und Europa ist

er nicht nur die Autor i tät für Kabbala, sondern auch seine Äußerungen über

Messianismus, über Tradition und Kommentar, über Zionismus und deutsches

Judentum gelten als klassisch, ja nicht selten ist Scholem der Sprecher des Jüdi-

schen schlechthin. Diese Autori tät schlägt sich auch in der steigenden Zahl von

Interpretat ionen seines Werkes nieder, denen ich viel verdanke und auf die ich

immer wieder zurückgreifen werde.2 In einer krit ischen Sichtung der wichtig-

sten Arbeiten lassen sich auch eine Reihe von Hindernissen ausmachen, die sich

der Lektüre Scholems immer wieder in den Weg stellen.3

David Biale hat mit Gershom Scholem: Kabbalah and Counter-History die

erste und thematisch umfassendste Monograph ie zu Scholem vorgelegt, die

immer noch die beste Einführung darstellt.4 Allerdings folgt Biale erstens weit-

gehend Scholems Selbstdeutung, insbesondere, was dessen Biographie angeht.

So trägt etwa das einleitende biographische Kapitel den Titel >From Berlin to

Jerusalems es beschreibt Scholems Entwick lung als stetigen und zielgerichte-

ten Gewinn an jüdischer Identität; wie sich gerade anhand des neueren Materi-

als zeigen wird, ist Scholems Entwicklung aber wesentlich krisenhafter als seine

Scholems Mutter Betty (1989) sind in den letzten Jahren eine Briefauswahl in drei Bän-den (1994, 1995, 1999) und die Jugendtagebücher in zwei Bänden (1995, 2000) er-schienen, näheres zu den Quellen s.u. Kap. 1.1. und 2.1.

2 Ein Forschungsüberblick bis 1996 findet sich bei Hamacher, G. Scholem und die Re-ligtonsgeschichte, 11-48 und bei Goetschel, »Scholem's Diaries ...«. Der jüngst er-schienene Sammelband Weigel/Moses, G. Scholem. Literatur und Rhetorik und Schmidt, Der häretische Imperativ sind erst nach Vollendung des Manuskripts er-schienen und konnten nur gelegentlich verwendet werden. - Die genauere Auseinan-dersetzung mit der Literatur findet sich jeweils an gegebenem Ort.

3 Zum Begriff des >Erkenntnishindernisses< vgl. Bachelard, Die Bildung des wissen-schaftlichen Geistes, 46ff; Erkenntnishindernisse sind nicht nur schlechte Fragen, son-dern viel häufiger Antworten, die zu selbstverständlich sind und daher nicht in (lösbare) Probleme verwandelt werden können; es sind Stellen, die bei näherem Hin-hören >hohl klingen« (vgl. Althusser, Das Kapital lesen, 34f). Althusser weist darauf hin, daß Erkenntnishindernisse in der Regel paarweise auftreten, es tauchen also in un-serem Fall zugleich die Interpretation des geheimen Theologen Scholem und ihr Kom-plement des reinen Wissenschaftlers auf, vgl. ebd., Das Kapital lesen, 55f.

4 Wenn nicht anders gekennzeichnet, zitiere ich die zweite, leichter zugängliche Auf-lage. - Scholem selbst hat die Interpretation Biales im Prinzip gebilligt (vgl. Br II , 199, 203, 214f), allerdings die Konzentration auf die Unhistorischen Sätze kritisiert: »To quote remarks which I myself called unhistorical«, schreibt er an Biale, »is no way to judge my historical researches. They were written consciously in contrast to these [...]. You are consistently confusing my unhistoric reflections with my historic research and its results.«(Zitiert nach Schäfer, »>Die Philologie der Kabbala ...<«, 24, Anm.)

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14 EINLEITUNG

Autobiographie suggeriert. Zweitens interpretiert Biale Scholem >von oben< her: Er liest Scholems Geschichtsschreibung als Verwirklichung einer philoso-phisch-theologischen Impulses.5 Dadurch wird auch Biales äußerst fruchtbares Konzept der counter-history, d. h. einer Geschichte, die ihre Quellen >gegen den Strich< liest, in den Bereich philosophisch-theologischer >Überzeugungen< gerückt und von den konkreten Problemen der Geschichtsschreibung entfernt. Es wird notwendig sein, diesen Begriff wie auch andere Einsichten Biales, etwa die Bedeutung des theologischen Anarchismus, zu reformulieren.

Elizer Schweid hat die Distanzlosigkeit von Biales Monographie kritisiert, er selbst schlägt in Judaism and Mysticism according to Gershom Scholem den entgegengesetzten Weg ein und untersucht Scholems Bild vom Judentum in de-zidiert kritischer Absicht von einer selbständigen Position aus, die den histo-rischen Mythos< der Bibel als Mittelpunkt der jüdischen Identität behauptet.6

Weil Scholem diesen Mittelpunkt zu wenig berücksichtigt habe, habe er die Rolle der Mystik überschätzt. Allerdings führt Schweids Rekonstruktionswille oft dazu, daß Scholems abgewogene und oft auch bewußt offene Äußerungen zu eindeutigen Urteilen werden; Schweid übersieht dabei, daß Scholems Zurückhaltung etwa gegenüber der Bibel oder dem rabbinischen Judentum kei-neswegs Desinteresse bedeutet, sondern eher Zweifel, hierüber etwas Sinnvol-les sagen zu können.7

Joseph Dan hat die Tendenz der Interpreten, Scholem in Hinblick auf des-sen >Weltanschauung< zu interpretieren, scharf als »allegorization« und »guru-zation« kritisiert.8 Bei aller Berechtigung dieser Kriti k bleibt Dans eigene Darstellung Gershom Scholem and the Mystical Dimension ofjewish History ebenfalls wenig befriedigend; und zwar nicht nur, weil sie sich auf den Histo-

5 Vgl. dazu insbes. den Anfang des Kapitels >Theology, language, and history« (Biale, G. Scholem, 112ff): Für Biale ist Scholems Geschichtsphilosophie in einer Theologie jen-seits von Rationalismus und Existentialismus, die er (Scholem folgend) beide rein negativ charakterisiert. Er benutzt dabei auch Scholems erklärungsbedürftige Termi-nologie von >Tradition«, >Kommentar< etc. affirmativ, ohne sie zu analysieren.

6 Schweid will nicht Scholems Resultate in Frage stellen, sondern dessen »worldview« (Schweid, Judaism and Mysticism, 10) bzw. »Aura« (ebd., 169) untersuchen. Seine ei-genen (sehr diskutierbaren) Ansichten entwirft Schweid v. a. im Kapitel >The histori-cal Myth of the Jewish Religion«, vgl. ebd., 69ff.

7 Schweids Simplifizierung von Scholems Argumentation liegt bereits im Aufbau sei-ner Studie begründet, die mit einer »>dogmatic< exposition« (Schweid, Judaism and Mysticism, 16) von Scholems Position beginnt. Insbesondere die keineswegs negative Beurteilung des rabbinischen Judentums übersieht Schweid, vgl. ebd., 40ff.

8 Dan, »Jewish Studies after Gershom Scholem«, 143. Die Weigerung, Scholem als Hi-storiker zu betrachten, sei weniger für diesen als für die Interpreten aufschlußreich, die immer noch nicht an die objektive Bedeutung der Kabbala und ihrer historischen Erforschung glauben würden, vgl. ebd., 143ff.

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EINLEITUNG 15

r iker Scholem beschränkt, sondern weil sie dessen Histor iographie auch rein

positivistisch nur von ihren Ergebnissen her auffaßt.9 Im Zuge dessen verwirft

Dan nicht nur die >Geschichtsphilosophie< als Interpretament, sondern igno-

riert auch die wissenschaftliche Methode Scholems, die sich für dessen Bil d der

Kabbala als entscheidend erweisen wird.

Dieses Bil d ist neuerdings durch die Krit i k von Moshe Idel in Frage gestellt

worden. Dieser betont in Kabbalah: New Perspectives, daß es neben der inzwi-

schen gut erforschten gnostisch-theosophischen Kabbala auch eine stärker ek-

statische Richtung gegeben habe, in der die unio mystica, die myst ische

Erfahrung und die Praxis eine größere Rolle als in jener anderen Richtung ge-

spielt habe. Scholem habe diese ekstatische Richtung vernachlässigt, weil er kein

positives Verhältnis zur ihm immer verwehrten mystischen Erfahrung gefun-

den hat.10 Jüngere Diskussionen scheinen zu bestätigen, daß Scholems Bil d der

Kabbala einer Erweiterung bedarf; Idels Kri t i k hat daher für meine Untersu-

chung den großen Nu tzen, das Spezifische (und Unselbstverständl iche) an

Scholems Zugang genauer in den Blick nehmen zu können. Allerdings muß

man die Begrenztheit Scholems weniger in seiner persönlichen Befangenheit su-

chen, als im methodischen Rahmen bzw. im Erkenntnis interesse seiner For-

schungen. Idels Interpretat ion ad personam Scholem ist aber noch ganz vom

Wunsch geprägt, diesen zu ersetzen und bleibt daher ungenau.11

9 Dan räumt allerdings ein, daß sein Buch über den Historiker Scholem nur eines (al-lerdings das zentrale) von drei notwendigen Büchern sei, ein zweites müsse Scholems Biographie darstellen, ein drittes schließlich seine Phänomenologie«, d. h. seine Theo-rie der Religion, Dan selber wil l nur den Historiker Scholem darstellen (Dan, G.lem, lff) .

10 Vgl. »Extraordinarily successful as Scholem was as a historian of mystical texts and ideas, he was, in his own eyes, rather a failure qua mystic, yet one who longed for my-stical experience.« (Idel, Kabbalah, 12) Vgl. dazu: »Daß die Mystik hier von Idel als ein persönlicher« Akt gefeiert wird, wäre jedoch aus Scholems Perspektive selber eine bedenkliche Verfallserscheinung.« (Wohlfahrt, »>Haarscharf auf der Grenze ...'«, 216) Wohlfahrt kritisiert vor allem die scharfe Trennung von persönlichem mystischen Er-lebnis und historischer Analyse bei Idel: »Scholem war Metaphysiker genug, den me-tahistorischen Anspruch der Kabbala ernst zu nehmen, aber auch Historiker genug, ihn nicht nur beim Wort zu nehmen.« (Ebd., 247) Idel hat allerdings in verschiedenen jüngeren Aufsätzen ein differenzierteres Bild von Scholem gezeichnet, vgl. etwa »Sub-versive Katalysatoren«; »Zur Funktion von Symbolen«.

1' Man kann hier auch einen Fall von >Einflußangst< vermuten, vgl. dazu Alter, »Jewish Mysticism in Dispute«, bes., 54ff. Besonders deutlich wird Idels revisionäre Tendenz am Schluß von Kabbalah, wo er den Schluß von Scholems Hauptströmungen auf-nimmt und überbietet, vgl. dazu Wohlfahrt, »>Haarscharf auf der Grenze ...'«, 217ff. Zu Idels Kriti k s.u. Kap. 3.4.3.

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16 EINLEITUNG

Meine eigene Darstel lung wird sich nicht auf ein eigenständiges Urteil über

die Kabbala, die jüdische Geschichte oder die Assimilation stützen, sehr wohl

aber auf das Bewußtsein, daß über diese ganz andere Deutungen als die Scho-

lems existieren und ihre Berechtigung haben. Es ist dieser Arbeit nicht möglich,

Sach- und Wahrheitsfragen zu entscheiden, allerdings werde ich zeigen, wo

diese Deutungen in sich problematisch oder zumindest f ragwürdig sind. Das

macht es oft nöt ig, Unterscheidungen zu treffen, die vom rein sachlichen

Gesichtspunkt her sophistizierend erscheinen mögen, aber bei methodisch not-

wendiger epoche die einzige Möglichkeit einer kontrol l ier ten Argumentat ion

bilden.

Elisabeth Hamacher geht es in Gershom Scholem und die allgemeine

onsgeschichte nicht um die Ergebnisse Scholems und nicht um sein >Weltbild<,

sondern um seine wissenschaftliche Methode, deren Spezifik durch die Alter-

native von Kryptotheologie oder positivistischer Geschichtsschreibung verstellt

sei. Allerdings ist der von Hamacher gewählte Vergleichspunkt der allgemeinen

Religionswissenschaft bzw. der Rel igionsphänomenologie für Scholem nur be-

dingt aufschlußreich und die von Hamacher in den Mi t te lpunkt gestellte Frage

nach der >mystischen Erfahrung< ist in dem von Scholem geteilten Paradigma

der Religionsgeschichte gerade keine zentrale; angesichts dieser systematischen

Depotenz ierung der Erfahrungsfrage scheint es bedingt interessant, ob Scho-

lem an die Existenz einer unmittelbaren Erfahrung >glaubt< oder nicht; das Prin-

zip seines wissenschaftlichen Diskurses ist jedenfalls woanders zu finden.12

Der Großteil der Interpreten beschäftigt sich weniger mit Scholems wissen-

schaftlichem Werk als mit seinen allgemeinen Äußerungen oder seiner Posit ion

in der Geistesgeschichte. Robert Alter betont die Moderni tät Scholems, Avra-

ham Shapira spricht vom »zionist-existential-approach« Scholems als Reaktion

auf die Krise der jüdischen Überlieferung, Stephane Moses liest Scholems Äuße-

rungen über Kafka selbst als eine Theologie der Krise.13 Chr is toph Schmidt in-

2 Hamacher erklärt Scholems Desinteresse an der mystischen Erfahrung apologetisch bzw. weltanschaulich« mit Scholems Sorge um das rechte Gotteskonzept (Hamacher, G. Scholem und die Religionsgeschichte, 267) oder gar mit seiner »>Keuschheit«, über die Erfahrung selbst zu sprechen« (ebd., 270). Das impliziert m. E. ein unzureichen-des Bild der Wissenschaft, die sich nicht in dieser Weise auf weltanschauliche Grund-lagen zurückführen läßt, sondern gerade in der Ausklammerung weltanschaulicher Glaubensfragen besteht. Wie zu zeigen sein wird, ist für Scholems wissenschaftliches Vorgehen die Ausklammerung der Erfahrung gerade wesentlich, dazu s. u. Kap. 3.4., vgl. auch meine Rezension zu Hamacher.

3 Alter untersucht die zentralen Metaphern Scholems (>Abgrund<, >Krise< usw.) und sieht hier Parallelen mit der modernen Literatur (Alter, »G. Scholem und die Moderne«). Shapira betont den Zusammenhang zwischen »personal crisis and the splintering of the historical tradition« (Shapira, »The Symbolic Plane and its

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EINLEITUNG 17

terpretiert in Der häretische Imperativ Scholem im Rahmen der Krise des Kul-turbegriff am Ende des 19. Jahrhunderts, als die sich zunehmend ambivalent werdende Moderne auf die religiöse Überlieferung zurückgreift.14 Scholem er-scheint nicht nur als politischer Theologe« neben und gegen Carl Schmitt, son-dern betreibt auch eine »Transformation der mystischen Theologie in eine Ästhetik«.15 Ähnlich hat Andreas Kilcher Scholem als Grenzfall einer ästheti-schen Kabbala« gedeutet, in der sich die kabbalistische Spekulation säkularisie-rend in einen poetischen und ästhetischen Umgang mit der Sprache auflöst.16

In allen diesen Interpretationen spielt das Verhältnis von religiösen und profa-nen Elementen bei Scholem eine entscheidende Rolle: Handelt es sich bei Scho-lems Werk um eine Übersetzung mystisch-theologischer Figuren ins Profane (Alter, Shapira) oder gerade um den Widerstand gegen eine solche Übertragung, um eine Theologie trotz und nach der Entzauberung (Moses)? Dabei zeigt sich, daß die Alternative zwischen dem Theologen bzw. Metaphysiker Scholem und dem Historiker beiden Seiten nicht gerecht wird. Auch die Rede, seine Ge-schichtsschreibung betreibe eine >Säkularisierung< der Theologie, ist so lange wenig aussagekräftig, als man nicht angibt, was man mit diesem mehrdeutigen und problematischen Begriff meint. Aus ähnlichen Gründen ist es m. E. wenig sinnvoll, von bestimmten >Themen< bei Scholem auszugehen wie etwa seinem >Messianismus< oder seiner >mystischen Sprachtheorie<, auch diese Begriffe sind eher Hindernisse, solange man noch nicht weiß, auf welche Fragen sie eine Ant-wort geben sollen. Damit soll nicht die Bedeutung dieser Themen für Scholem bestritten werden, wohl aber, daß es sich bei ihnen um einen geeigneten Ein-

Secularization«, 331) und betont die Isolierung Scholems (Shapira, »The Dialectics of Continuity and Revolt«, Xllff) . Moses sieht in der Kafka-Lektüre Benjamins und Scholems eine Reaktion auf die Krise der jüdischen Autorität, der Scholem mit einer »negativen Theologie« und dem »Glauben an eine unbegrenzte Plastizität der Tradi-tion« antworte (Moses, Der Engel der Geschichte, 220).

14 Schmidts Buch ist erst nach Abschluß der Dissertation erschienen und konnte bei der Überarbeitung nicht ausreichend berücksichtigt werden. - Das Konstruktionsprinzip des ganzen Buches ist eine (kulturwissenschaftliche) Dialektik von >Leben< und >Form< (vgl. Schmidt, Der häretische Imperativ, 136ff), obwohl Scholem von dieser unter den Zeitgenossen universellen Dialektik auffallend frei ist.

15 Schmidt, Der häretische Imperativ, 172. - In typisch analogisierender Weise interpre-tiert Schmidt das wiederum theologisch: »Die ästhetische Unentscheidbarkeit bewährt sich auf beiden Ebenen: so wie der eine wahre Sinn eines Symbols sich nicht feststellen läßt, so ist die Frage nach der Realität des Absoluten nicht zu beantworten.« (Ebd., 173)

16 Kilcher sieht hinter Scholems historischem Interesse einen ästhetischen Impuls, vgl. ders., Die Sprachtheorie der Kabbala, 331 ff; zur Kriti k dieser Interpretation s. u. Kap. 2.3. - Wie für Idel gilt auch für Kilcher, daß seine allgemeinen Darlegungen für mich nützlicher sind als die Scholem-Interpretation, weil gerade jene die Besonderheit Scho-lems (und die Differenz gegenüber der revisionären Interpretation) deutlich machen.

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18 EINLEITUNG

stieg in Scholems Werk handelt. Es sei an Benjamins Formul ierung erinnert, er

halte Kafkas ständiges Reden über das >Gesetz< für den »toten Punkt« von des-

sen Werk: »Womit ich nur sagen will , daß es gerade von ihm aus interpretativ

mir nicht zu bewegen scheint.« (Brw, 167f)

I n seinen No t i zbüchern wird Benjamin deutl icher und nennt den »toten

Punkt« auch »die Schublade des Geheimniskrämers«.17 In der Tat werden auch

>die Mystik« oder >der Messianismus« in der Lektüre leicht hypostasiert zu M e i -

nungen« oder >Glaubensartikeln< Scholems, die zeigen sollen, daß er >letztend-

lich« doch Theologe sei. Man muß sich fragen, ob es sich bei solcher Lektüre

nicht um eine >Ausbeutung< von Scholems Texten handelt, die z um einen un-

terschlägt, daß Scholem über weite Strecken in deutlicher und bewußter Distanz

zur Theologie schreibt.18 Zum anderen ersetzen solche Interpretat ionen leicht

aus dem komplexen und präzisen Diskurs der Theologie - die für Scholem ein

Problem und eine Aufgabe ist, deren Schwierigkeiten er sich wohl bewußt ist -

etwas zugleich Erhabenes und Simples: eine Ar t exotischer Metaphysik, ein her-

renloses Gut, mit dem man sich nicht ohne wohliges Schauern schmückt.

Irving Wohlfahrt hat in einer subti len Lektüre dargestellt, wie Scholem Fi-

guren aus der religiösen Tradit ion in seinen Texten benutzt und mit deren Be-

deutung spielt; so ziehe Scholem etwa das lur ianische Konzept des Zimzum

heran, um eine rudimentäre Theologie der Moderne zu entwickeln.19 Wohlfahrt

liest diese Theologie nicht als verborgenen theologischen Grund, sondern als

Resultat einer bestimmten Rhetorik, als prekären Grenzgang zwischen Religion

und Nihi l ismus, der auch auf die eigene historische Krisenerfahrung reagiere.20

17 Benjamin, Ges. Schriften II/3,1245. 18 Zur >Ausbeutung< vgl. Althusser, Philosophie und spontane Philosophie, 87ff. Der

>Trick< der Ausbeutung besteht darin, »der Wissenschaft eine Rechtsfrage zu stellen, die ihr äußerlich ist, um ihr dann anschließend - immer noch von außen - ihre Rechts-titel zu bescheinigen» (ebd., 96). Das geschieht bei Scholem i. d. R. so, daß man ihm konzediert, er sei eben nur Historiker, einen Schritt weiter gedacht müsse man aber theologische/metaphysische Schlußfolgerungen aus seinen Aussagen ziehen, und zwar folgende ... Vgl. dazu auch unten Kap. 3.6.3.

15 Vgl. dazu Wohlfahrt, »>Haarscharf auf der Grenze ...<«, bes. 184ff. In ähnlicher Weise liest auch Schmidt (Der häretische Imperativ) Scholems Äußerungen als alternative (politische) Theologie der Moderne, vgl. auch Schulte »Scholem und Molitor«, dazu auch unten Kap. 2.7.

20 Anders als die unmittelbar theologische Deutung etwa von Moses betont Wohlfahrt die Gemachtheit von Scholems Glauben: »Aus Zweifel und Verzweiflung zaubert sich ein neuer Glaube hervor, der aus dem Nichts heraus geschaffen wird. Creatio ex m-hilo ist nicht nur ein zentraler Glaubenssatz, er bezeichnet den performativen Akt des Glaubens selbst.« (Wohlfahrt, »>Haarscharf auf der Grenze ...<«, 202) Das ermöglicht ihm, die Ambivalenz dieses Glaubens hervorzuheben: »Ein Glaube, der der Ver-zweiflung entstammt, ist nicht davor gefeit, in ein Nichts zurückzufallen, das weniger einer Selbstkontraktion als einem In-Sich-Zusammensacken gleicht.« (Ebd., 203)

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EINLEITUNG 19

Nicht unproblemat isch erweist sich allerdings die Engführung Scholems mit

Walter Benjamin, die Wohlfahrts Untersuchung mit vielen anderen verbindet:

So schwierig es zu sein scheint, bei der Interpretat ion von Scholems Äußerun-

gen ganz von Benjamin abzusehen, so groß ist die Gefahr, Unverständliches mit

Unverständl ichem zu erklären.21 Meine Arbeit wird daher im deutl ichen Be-

wußtsein der Problematik - auch die neuen Quel len demonstr ieren die Bedeu-

tung Benjamins für Scholem - , Scholem dezidiert unabhängig von Benjamin

lesen, in dessen Schatten er zu lange gestanden hat und auf den hin er bisher zu

einseitig gelesen wurde.22

Nicht unprob lemat isch erscheint auch eine andere, ebenfalls symp toma-

tische Tendenz von Wohlfahrts close reading: Scholems Texte werden in eine

Fül le von unverbundenen und dekontextua l is ier ten Zi taten aufgelöst; von

seinem Werk bleiben nur Aphor ismen, deren Prob lemhor izon te tendenziell

verschwinden.23 Es zeichnet fast alle In te rpre ten Scholems aus, daß sie

Texte ganz unterschiedl icher Ar t vermischen: Einzelne theologische Thesen,

Zw ischenbemerkungen aus Scholems histor ischen Studien, Briefstellen

u nd pol i t ische Aussagen aus In terv iews werden unterschiedslos und nicht

selten in Halbsätzen nebeneinander zi t iert. Ich muß e inräumen, dieser Ge-

So ist Wohlfahrts Interpretation von Scholems Geschichtsschreibung als Exempel der Benjaminschen Forderung nach >materialistischer Historiographie« (Wohlfahrt, »>Haarscharf auf der Grenze ...<«, 209ff) nur für den Benjamin-Kenner aufschlußreich, auch zeigt sich eine Neigung, Scholems Projekt mit Benjaminschen Maßstäben zu be-urteilen, von hier aus scheint dann Scholem den letzten Schritt« nicht gemacht zu haben (vgl. ebd., 227ff; schon der ältere Aufsatz »>Die eigene, bis zum Verschwinden reife Einsamkeit«« schließt mit dieser Pointe). Sehr viel deutlicher zeigt sich diese Ge-fahr in Handelmans vergleichender Untersuchung von Benjamin und Scholem (Han-delman, Fragments of Redemption), die fast vollständig der Faszination der Benjaminschen Formulierungen erliegt und deshalb über weite Strecken nicht über eine Paraphrase hinauskommt.

Hier hat sich mein Verständnis gewandelt, die Arbeit sollte ursprünglich gerade das Verhältnis zwischen Benjamin und Scholem behandeln. Ich kam aber zunehmend zur Überzeugung, daß es weniger sinnvoll sei, noch einen Beitrag zur immensen Litera-tur über Benjamin zu leisten, als Scholems Werk aus einer ganz anderen Perspektive zu lesen; auch wurde ich der Zwickmühle müde, die den Interpreten stets dazu zwingt, die großen Begriffe (>die Theologie«, >die Geschichte«) und die ephemere jüdische Qua-lität von Benjamin zu Scholem und zurück zu tragen, ohne je eine Antwort auf seine Fragen zu bekommen. Das macht sich um so deutlicher bemerkbar, als die Textbasis, auf der Wohlfahrt ope-riert, notgedrungen klein ist. Da ihm Tagebücher und Briefe noch nicht zur Verfügung standen, konzentriert sich Wohlfahrt vor allem auf die >unhistorischen< Äußerungen und die rhetorischen Schlußpointen von Scholems historischen Aufsätzen. Wie sich unten bei der Interpretation von Scholems Sprachbrief zeigen wird (s. u. Kap. 1.6.2) führt die Vernachlässigung des Kontextes gelegentlich zu einer m. E. gesuchten Interpretation.

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20 EINLEITUNG

fahr selbst keineswegs völlig entgangen zu sein; es scheint, als liege in Scholems Texten selbst eine Tendenz, in solche Zitate zu zerfallen. Mi t anderen Worten: Kaum ein Leser Scholems verzichtet auf den interpretatorischen Gewinn, mit die-sen Zitaten zu spielen und Scholems nur angedeutete Thesen fortzuschreiben.

Nirgendwo wird das wohl deutlicher als bei Harold Bloom, der unter betont eklektischem Rekurs auf Scholems Beschreibung der Kabbala eine Theorie des Revisionismus« entwickelt, also eine Theorie des Bestrebens späterer Dichter, ihre Vorgänger kreativ umzudeuten. Für Bloom sind nicht nur die Kabbalisten solche Revisionisten, sondern auch Scholems Geschichtsschreibung der Kab-bala sei als kreative Umdeutung der Kabbala zugleich kabbalistisch und poe-tisch.24 Allerdings nivelliert er dabei Differenzen, die für Scholems Schreiben über die Kabbala wesentlich sind: Weder betrachtet Scholem die >Kreativität< der Kabbalisten als heroisch-romantische Auflehnung gegen die Tradition (son-dern selbst als traditionell), noch ist Scholems wissenschaftlicher Zugang zur Kabbala einfach eine poetische Umdeutung (sondern eine durchaus kontrol-lierte Lektüretechnik).25

Scholem hat, nicht nur mit der zitierten chassidischen Geschichte, eine Reihe von Fährten in seine Texte gelegt; folgt der Leser diesen allerdings allzu unvor-bereitet, wird er sich verlieren. Zwar wird er im Innern von Scholems Werk immer wieder Korrespondenzen finden, immer wieder auf Geheimnisse stoßen, die er mit andern Geheimnissen enthüllen kann, aber all das bleibt nur eine kurze Entdeckerfreude, solange man nicht weiß, worüber man eigentlich spricht. Um dieser Gefahr nicht vollends ausgeliefert zu sein, ist es m. E. auch von zentraler Bedeutung, nur zurückhaltend von Scholems Sprache Gebrauch zu machen und Konzepte wie >Paradox«, >Dialektik< jedenfalls nicht in argu-mentativer Funktion zu verwenden; ähnliches gilt für die >wahlverwandte< Sprache Benjamins.

24 Vgl. etwa: »Scholem ist notwendig, was er notwendigerweise nicht eingestehen kann: ein großer Revisionist der Kabbala. [...] Der Historiker und Gelehrte ist auch ein epischer Poet der Kabbala« (Bloom, Kafka - Freud - Scholem, 64). - Zum Revisio-nismus« der Kabbala bzw. der in ihr entwickelten Psychologie der Nachträglichkeit vgl. ders., Kabbala, insbes. 20ff; Eine Topographie des Fehllesens, lOff. Die Kom-plexität und wohl gewollte Undeutlichkeit der Bloomschen Kategorien macht sie schwer handhabbar, ich verwende sie v. a. für Scholems Verhältnis zu Buber, vgl. unten Kap. 1.1.5.

25 Bloom integriert die ganze religiöse Tradition in seinen poetischen Ansatz: »Aus un-serer Perspektive ist die Religion verschüttete Dichtung. Und unter den religiösen In-terpretationssystemen scheint mir die Kabbala einzigartig zu sein, insofern sie einfach schon Dichtung ist und kaum der Übersetzung ins Reich der Ästhetik bedarf.« (Bloom, Kabbala, 48) Es ist ein zentrale Annahme meiner Arbeit, daß bei dieser Gleichsetzung etwas verlorengeht, vgl. dazu auch die Kriti k von Wohlfahrt, »>Haar-scharf auf der Grenze ...<«, 245f, und Handelman, The Slayers of Moses, 208ff.

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EINLEITUNG 21

Scholems >Schreiben<

Scholem ist ein manischer Schreiber, früh schon führt er Notiz- und Tage-bücher, verfertigt Exzerpte und Arbeitskladden, schreibt eine Vielzahl von Brie-fen, Gedichte, kleine esoterische Texte, politische Aufsätze, Manifeste, Übersetzungen, später dann historische und biographische Essays über Zeitge-nossen, Erinnerungen an Benjamin und seine eigene Autobiographie. Zugleich wächst ein umfangreiches Werk über die Kabbala heran, das im ständigen Pro-zeß der Überarbeitung bleibt: Von seinen eigenen Büchern läßt sich Scholem gerne ein Exemplar mit leeren Zwischenblättern binden, in das weitere Beob-achtungen eingetragen werden können. Überhaupt gibt es wohl nur eine Tätig-keit, die ähnlich charakteristisch ist für Scholem wie das Schreiben: das Lesen.

Scholems Dasein kreist um Schrift und er assoziiert sich gerne mit dem Bild eines modernen Schriftgelehrten. >Schrift< meint dabei je verschiedenes: die >Schrift< des Schriftstellers, die es ihm ermöglicht, sich schreibend auszu-drücken, die >Schrift< des Theologen, die Quelle des begehrten Judentums; die Schrift des Geschichtsschreibers, das Monument der Vergangenheit. >Schrift< ist Gegenstand, Thema, Material von Scholems Texten; dabei ist >Schrift< >- aber auch >Tradition«, >Zionismus«, >Messianismus< und andere zentrale Begriffe Scholems - in doppeltem Sinne rhetorisch: Einerseits ist sie überdeterminierte Figur, eine Art absolute Metapher von Scholems gesamtem Werk, andererseits wird sie in Scholems Texten auch immer wieder behauptet und in Vollzug ge-setzt. Denn an ihren Schlüsselstellen gehen diese Texte geradezu zu einer Be-schwörung von Schrift über. Man liest diese Texte daher nicht komplex genug, wenn man sie nur deskriptiv versteht; Schreiben ist hier Handlung, Praxis und auch Entwurf, d. h. es stellt einen Versuch dar, sich zu verwirklichen und einen Ort zu finden. Scholems Texte sind weniger eine Beschreibung als eine Einschreibung: Über Tradition« schreiben, heißt immer auch, sich in die Tradi-tion stellen; über >Zionismus< zu schreiben, heißt immer auch, als Zionist zu schreiben.

Ich wil l nicht vom >Werk< Scholems sprechen und nicht von seinem >Den-ken«, weil diese Begriffe m. E. eine Einheitlichkeit und Autonomie suggerieren, die von ihm nicht beansprucht und auch nicht erreicht werden. Ich nenne den Gegenstand meiner Arbeit das >Schreiben< Scholems, nicht im Sinne eines freien Entwurfs einer Subjektivität, sondern im Sinne einer Arbeit, einer theoreti-schen Praxis«, die sich in einem schon strukturierten Raum entfaltet.26 In die-

Der Begriff Schreiben lehnt sich natürlich an das Konzept der ecriture an, die für Bar-thes weder der (kollektiven) Sprache, noch dem (individuellen) Stil zugehört, sondern das positionale Moment des Schreibens ist, vgl. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, 15ff. Da es sich bei Scholem dezidiert um eine theoretische Schreibweise handelt, muß

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22 EINLEITUNG

sem Sinne sollen Scholems Schriften nicht als (kanonisierter) Bestand gelesen werden, sondern als Lösungsversuche für historisch-konkrete Aufgaben und als dynamische, sinnproduzierende und -setzende Schreibhandlungen. Ich meine dabei mit >Schreiben< nicht ein spezifisch oder gar exklusiv ästhetisches Phänomen und werde auch weniger den >Stil< Scholems untersuchen als die im weitesten Sinne literarischen Verfahren, die Scholems Texte konstituieren: etwa das Zitat, bestimmte Lektüretechniken, die Anspielung, der Eigenkommentar oder die Metapher. Konzentriert man sich auf diese Techniken, erscheint die Mehrdeutigkeit von Scholems Texten in einem anderen Licht: Sie ist nicht mehr Indikator einer >Tiefe<, sondern Resultat einer bewußten Arbeit am Ausdruck. Diese Verfahren sind auch entscheidend für den Zusammenhang zwischen den metaphysischen und theologischen Spekulationen des jungen Scholem und sei-ner Historiographie. Wenn Scholem später, etwa in den Unhistorischen Sätzen auf Formulierungen seiner Jugendaufzeichnungen zurückgreift, wird nicht einfach eine fertige Theorie >angewandt< oder die geheime philosophische Grundlage der Geschichtswissenschaft offengelegt. Es handelt sich eher um ein Zitieren einzelner Sätze, deren Kontext und Status sich dabei verschiebt: Was in seiner Jugend offen philosophische Terminologie war, verwandelt sich in die Hintergrundmetaphorik des historischen Schreibens und wird zu einer mehr oder minder bewußt gebrauchten Rhetorik. Wenn Scholem sich jetzt als >Erzähler< oder >Kommentator< präsentiert, so darf die Lektüre die dabei mit-schwingende Ironie nicht vernachlässigen. Das >esoterische< Moment von Scho-lems Schreiben besteht nicht in verborgenen theologisch-metaphysischen Geheimnissen, sondern in einem bestimmten Ausdrucksstil - wie ja auch Eso-terik« ursprünglich nicht die Kommunikation des Verborgenen, sondern ver-borgene Kommunikation bedeutet. Man muß daher diese Texte nicht einfach auf ihrer Inhalte hin entschlüsseln, sondern als Texte lesen.

Das Schreiben zu betonen, heißt nicht, zu behaupten, Scholems Texte seien letztlich« Literatur. Scholems Schreiben vollzieht sich in Diskursen außerhalb der >Literatur<: in der Politik, in der Philosophie, in der Theologie und schließ-

sie auch epistemologisch reflektiert werden, dazu dient der Rekurs auf Bourdieus Theorie der Felder (s. u. Kap. 1.1), auf die nichteartesische Epistemologie Bachelards und Althussers (Kap. 2.1) und auf Kuhns Konzept des wissenschaftlichen Paradigmas (Kap. 3.1) - Weigel interpretiert Benjamin als »Theroetiker, dessen Denken sich in einer spezifischen Schreibweise vollzieht und von dieser nicht abzulösen ist« (Weigel, Entstellte Ähnlichkeit, 14). Ihre Untersuchung von Benjamins Bilddenken als »Drit-tes zwischen Philosophie und Literatur« (ebd.), das keine rationale Rekonstruktion fordere, sondern eine Lektüre besonders der begrifflichen Arbeit fordere, hat für diese Arbeit Vorbildcharakter. Weigel fordert jetzt zu Recht die bisher noch kaum geleistete Untersuchung von Scholems Schreibweisen, vgl. Weigel/Moses, G. Scholem.tur und Rhetorik, Vllff .

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EINLEITUNG 23

lieh in der Religionsgeschichte. In allen drei Dimensionen handelt es sich nicht um ein Schreiben um seiner selbst willen, sondern um Arbeit an einer Intention und an Gegenständen. An diesen Gegenständen wird die Performanz von Scho-lems Schreiben gebrochen, denn wir werden immer wieder sehen, daß es Scho-lem nicht bruchlos gelingt, >in< der Tradition oder >im Namen« des Zionismus zu schreiben. Es ist diese Gebrochenheit, dieses Zugleich von Anspruch und Krise, die Scholems Schreiben nicht nur interessant, sondern auch beweglich macht: Erst der Widerstand, erst das innere Paradox konstituiert hier starke Texte. >Schreiben< ist also zunächst nur ein formaler Oberbegriff, der in ver-schiedene Schreibweisen differenziert werden muß. Das Schreiben gibt es (bei Scholem) nicht, Scholem schreibt immer in bestimmten Gebieten und nicht (nur) um des Schreibens willen. Er schreibt ja auch nie den einen Text, der zu-gleich zionistisch, jüdisch, wahr, individuell wäre, statt dessen verteilen sich seine Texte auf verschiedene Genres, Themen und Formen.

Niveaus, Kontexte, Schreibweisen

Nur wenn man wenigstens versucht, die verschiedenen Formen von Scholems Schreiben zu differenzieren, kann man der Gefahr begegnen, kontextlose Ein-zelzitate aneinanderzureihen und damit rein innerhalb der eigenen Interpreta-tionsmethode zu bleiben bzw. Scholems Rhetorik vollständig ausgeliefert zu sein. Es gilt also, zur Veröffentlichung bestimmte und unveröffentlichte Texte nicht einfach zu vermengen und Scholems Darstellung der Kabbala nicht un-befragt als Selbstaussage anzusehen. Ich werde Form, Genre, Ort und Intention von Scholems Texten reflektieren, indem ich verschiedene >Niveaus< von Scho-lems Schreiben unterscheide, denen man auch jeweils bestimmte Quellensorten oder Lektüreweisen zuordnen kann.

Scholems Ausgangsposition als deutscher Jude und jugendlicher Intellektu-eller kann man als typischen >Habitus< bezeichnen, hier wären Scholems Ju-gendaufzeichnungen als biographische Quellen zu lesen, also in bezug auf die in ihnen sich niederschlagende Realgeschichte. Da ein solches historisches In-teresse in einer Einzelstudie nur sehr bedingt befriedigt werden kann, werden wir den Habitus hier weitgehend als Voraussetzung behandeln.27 Im Unter-schied dazu nenne ich >Ethos< jene diffus organisierte Selbstwahrnehmung, die sich vor allem in der Selbststilisierung ausdrückt: Das Ethos markiert bereits eine Intention, mit der eigenen Position umzugehen, eine vage gestellte Aufgabe

Weil >Habitus< ein Typusbegriff ist, läßt er sich kaum in kontrollierter Weise an einer einzelnen Person entwickeln, ich verweise hier auf die allgemeine Literatur zu deutsch-jüdischen Beziehungen, dazu s. u. Kap. 1.2.

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24 EINLEITUNG

und eine Weise, die eigene Situation zur Sprache zu bringen.28 Anders als der Habitus ist der Ethos nicht mehr die stumme Voraussetzung dessen, was man ist, sondern schon ein sprachlicher Entwurf, der sich vor allem in den privaten Aufzeichnungen und Selbstreflexionen der Tagebücher äußert.

Al s >Projekt< bezeichne ich dagegen die bewußte theoretische Linie, mit der jenes >Ethos< in einem bestimmten Feld intellektueller Praxis umgesetzt wird. Scholem hat zwei Projekte, die wiederum voneinander unterschieden werden müssen: Zunächst entwirft Scholem eine philosophisch-theologische Meta-physik des Judentums, sie spiegelt sich in halbprivaten Texten der Jugendzeit wieder: Notizen, Briefen, Manuskripten, die - obwohl nicht zur Veröffentli-chung bestimmt - selbständige Texte mit strenger Form und oft esoterischem Gestus sind. Das zweite Projekt ist die religionshistorische Erforschung der Kabbala; sie vollzieht sich im vollen Licht der wissenschaftlichen Öffentlich-keit. Es ist dabei von zentraler Bedeutung, die Brechung, die der Ethos dabei erfährt, nicht als selbstverständlich anzusehen bzw. als wissenschaftliche Di-stanz« eher zu benennen als zu verstehen. Nur wenn man auch Scholems kon-krete wissenschaftliche Praxis bzw. die Logik des von ihm verwendeten wissenschaftlichen Paradigmas versteht, wird man sein Schreiben als Ganzes in den Blick bekommen.

Al s >Revision< könnte man schließlich den Teil von Scholems Werk bezeich-nen, in dem er seine eigene Vergangenheit retrospektiv interpretiert und gege-benenfalls auch die Verhältnisse in ihr >zurechtrückt«, wie man besonders in seinen Äußerungen zur eigenen Herkunft aus dem deutschen Judentum und aus dem Zionismus sehen kann.29 >Revisionär< ist aber auch die Schlußpointe der Hauptströmungen, insofern sie gerade den (Scholem sehr wohl bewußten) Bruch unterschlägt, der zwischen Erzählung und Wissenschaft liegt, >revisionär< sind auch andere paratextuelle Gesten, die Scholem zu Beginn, zum Schluß oder zwischen den Zeilen seiner wissenschaftlichen Werke plaziert.

Rabinbach nennt den modernen jüdischen Messianismus »an ethos in the Greek sense of a characteristic spirit or attitude (Haltung)« (Rabinbach, »Between Enlightenment and Apokalypse«, 85). Bourdieu spricht in ähnlichem Sinne von einer »theoretischen Linie«: »Diese, im tiefsten Inneren des Habitus verwurzelt und damit Grundlage sämtlicher Optionen, läßt sich nicht auf die Logik des philosophischen Feldes allein zurückführen.« (Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, 75) Dazu s. u.Kap. 1.1. Diese revisionäre Selbstinterpretation kann sowohl als strategische« Verbesserung der eigenen Situation (vgl. etwa Bourdieu, Die politische Ontologie Martin Heideggers, 126ff) als auch als (traumabedingt) notwendige Verteidigung der eigenen Identität ver-standen werden (vgl. etwa Bloom, Einflußangst, 26ff). Zur Notwendigkeit, Bourdieus >kalte< Logik der Felder durch eine »warme« des (Bloomschen) »Einflusses« zu ergän-zen, s. u. Kap. 1.3.5 und 1.3.6.

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EINLEITUNG 25

Scholem steht in einem jener Brennpunkte der Geistesgeschichte, in denen die verschiedensten Personen und Ideen zusammentreffen, meine Arbeit soll wenigstens einige Momente dieses Zusammentreffens beleuchten. Es wäre dabei unbefriedigend, lediglich nach »Einflüssen« dieser verschiedenen Strömungen auf Scholem suchen zu wollen. Die Vorstellung des »Einflusses« ist schließlich höchst unklar, sie ist substantialistisch, wenn damit gemeint ist, daß Ideen ein-fach »weitergegeben« werden, sie ist m. E. zu weit, wenn sie eine undifferenzierte »Intertextualität« bezeichnet. Besondere Vorsicht ist gegenüber den allgemeinen polemischen Etikettierungen wie »Rationalismus«, »Historismus«, »Existentialis-mus« angebracht: Statt auf solche ideologischen Positionierungen ist es eher sinnvoll, auf die impliziten Voraussetzungen zu achten, die Scholem mit seinen Zeitgenossen teilt. Das kann einen gewissen Verfremdungseffekt haben, gerade wenn man die eher unwahrscheinlichen Kontexte berücksichtigt: Zwar ist Scho-lem fraglos durch Lebensphilosophie, durch Nietzsche, vielleicht auch durch Hegel »beeinflußt« worden - nicht anders als alle Zeitgenossen und oft in einem ganz unspezifischen Sinne -, interessanter sind aber die Gemeinsamkeiten Scho-lems mit scheinbar ganz entgegengesetzten Positionen wie der akademischen Philosophie und der christlichen Theologie und Exegese.

Von den zahlreichen Kontexten, in die man Scholems Schreiben stellen könnte, wähle ich vor allem fünf aus: den deutschen (Kultur-) Zionismus, den Neukantianismus vor allem Hermann Cohens, die durch Benjamin vermittelte Rezeption der Frühromantik, die antiliberale Theologie, die zeitgenössische Religionsgeschichte. All e diese Kontexte beziehen sich vor allem auf die deut-sche Herkunft Scholems, was mir insofern angemessen erscheint, als der Schwerpunkt meiner Arbeit in der Zeit vor der Auswanderung Scholems nach Palästina liegt. Für die Einbettung Scholems in die Geschichte des Jishuw bzw. Israels und seine Beziehung zur Forschungsgeschichte der Kabbala verweise ich auf die existierenden Monographien, hier stößt meine Arbeit an ihre Grenze.

Die oben entwickelte Unterscheidung der Niveaus von Scholems Schreiben soll auch eine differenzierte Historisierung ermöglichen, die Scholem weder auf seine historische Position »zurückführt«, noch umgekehrt in einem »Reduktio-nismus von oben« sein ganzes Handeln als in sich kohärentes Gefüge von Über-zeugungen betrachtet. Die Unterscheidung der verschiedenen Niveaus läßt sich nämlich in eine Korrelation mit der Unterscheidung verschiedener Kon-texte bringen: Das Ethos bildet sich in Auseinandersetzung mit dem politischen Diskurs des Zionismus, Scholems erstes Projekt setzt sich mit neukantianischer und romantischer Philosophie sowie der zeitgenössischen Theologie auseinan-der, Scholems zweites Projekt entwickelt sich als Religionsgeschichte. Dabei un-terscheiden sich auch die Kontexte strukturell entsprechend den Niveaus: Das

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26 EINLEITUNG

(meta-)politische Feld des ideologischen Diskurses unterscheidet sich von der durch bestimmte Axiome geregelten philosophischen bzw. theologischen >Problematik< und diese wiederum von der Historiographie, die als empirische Forschung ein wissenschaftliches Paradigma braucht (vgl. dazu das in den jeweiligen Einleitungen Gesagte). Nur wenn man diese Unterscheidungen beachtet, kann man die jeweilige Eigenlogik der verschiedenen Kontexte berücksichtigen und es vermeiden, etwa aus der Wissenschaft eine verschobene Theologie zu machen.

Dieses Struktur habe ich zu bewußt gegeneinander abgegrenzten Lektüren ausgearbeitet, die jeweils ein thematisches und ein methodisches Problem be-handeln. Die drei Teile sind dabei auch als für sich stehende intellektualge-schichtliche Fallstudien zu verstehen, Wiederholungen sind dabei nicht gänzlich zu vermeiden. Um die jeweiligen Kontexte einigermaßen substantiell zu ver-stehen, wird es oft nötig sein, weit auszuholen; es liegt in der Natur der Sache, daß einige der Ausführungen zu einzelnen Fragen für manche Leser allzu selbstverständlich oder gar vereinfachend sind, für andere wiederum umfäng-licher als sie es sich wünschen würden.

Scholem nimmt in der Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt eine Über-gangsstellung ein: In seiner politischen Identität gehört er zu den romantischen Kritikern der profanen Politik, bleibt aber doch an das konkrete Projekt des zionistischen Jishuw gebunden und wird daher niemals zum reinen Utopisten. Mi t seinen radikalen Zeitgenossen teilt er die Kriti k am Neukantianismus und an der liberalen Theologie, zugleich lehnt er aber die radikalen »Überwindun-gen« der Problemlage durch den Existentialismus oder das »neue Denken« Bu-bers und Rosenzweigs ab. Als Historiker schließlich hat er nicht mehr den Optimismus, das Judentum in die Geschichte »aufheben« zu wollen, um so hef-tiger hält er an der historischen Methode als solcher fest und bleibt etwa ge-genüber der Religionsphänomenologie und ihrem antihistoristischen Impuls stets distanziert. Diese Position trägt wohl nicht unwesentlich zur Faszinati-onskraft Scholems bei: In Scholems Schreiben sind die Probleme schon sicht-bar, die dem historistisch-liberalen Grundkonsens des 19. Jahrhunderts fremd waren, zugleich sind andere Probleme noch präsent, die für die »radikaleren« Zeitgenossen Scholems bereits unsichtbar geworden sind. Es ist nicht Ziel die-ser Arbeit, diese Mehrdeutigkeiten aufzulösen oder Konsequenzen zu ziehen, die Scholem nicht gezogen hat. Ich beabsichtige nicht, eine starke und pronon-cierte Lesart von Scholem zu entwickeln, sondern wil l zum einen die Brüche und Leerstellen von Scholems Äußerungen herausstellen, zum anderen deren oft verdeckte Horizonte nachzeichnen.

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1. DAS POLITISCHE SCHREIBEN: SCHOLEMS ZIONISTISCHE IDENTITÄT

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1.1 Einleitung: Scholems politische Erziehung

Was man damals die »Judenfrage« nannte [...] ist heute von der Katastrophe des europäischen Ju-dentums gleichsam überspült und berechtigter-weise in Vergessenheit geraten. [...] So belanglos diese Problematik angesichts dessen, was sich dann wirklich ereignete, anmuten mag, weder Benjamin noch Kafka noch Karl Kraus sind ohne sie ver-ständlich. HANNA H ARENDT30

Seine Erinnerungen hat Scholem Von Berlin nach Jerusalem genannt und damit

den markantesten Zug seiner Biographie herausgestellt: Aus einem vollständig

assimilierten Elternhaus kommend, wendet er sich nicht nur dem Judentum zu,

sondern wird einer der bedeutendsten Interpreten des Judentums, für viele ge-

radezu dessen Verkörperung. Von dieser Posi t ion aus unterz ieht er dann das

deutsche Judentum seiner Herkunft einer äußerst scharfen Krit ik . Das stellt

zunächst vor nicht unbeträchtl iche methodische Probleme: Die Interpretat ion

von Scholems Entwicklung kann weder einfach seine Selbst interpretat ion

reproduzieren, derzufolge die Assimilation ein tragisches Mißverständnis ge-

wesen ist, noch aber sich darin erschöpfen, nachzuweisen, daß Scholem letzt-

endlich nun doch deutsch-jüdisch »geprägt« worden sei. Jenseits aller einzelnen

und spezifischen »Einflüsse« durch seine Herkunft gibt es das zentrale Problem

der »jüdischen Identität«, dessen Lösung eben diese Einflüsse determiniert und

erst die gesamte Bewegung verständlich macht.31

Es wäre nun irrig, mit einer Definition der jüdischen Identität zu beginnen, um

dann Scholems stetige Annäherung an diese samt ihres schließlichen »Erreichens«

darzustellen. A m Anfang seines Weges steht ja gerade die Frage, was denn über-

haupt »jüdisch« bedeuten kann, wenn man am Ende von einer »Antwort« reden

kann - wi r werden sehen, daß auch das nur in einem problematischen Sinn der

Fall ist - , so kann diese doch nicht Voraussetzung, sondern nur Explanandum

einer Untersuchung von Scholems Entwicklung sein. Seine Entwicklung muß als

0 Arendt, »Walter Benjamin«, 220. 1 Die Kriti k am substantialistischen »Einfluß«-Gedanken stützt sich auf Bourdieus Theorie der intellektuellen Felder s. u. Anm. 44, Ziel der Konstruktion von Feldern ist dabei u. a., dem »Zeitgeist«, d. h. dem impliziten Konsens aller Beteiligten, auf die Spur zu kommen. Die so erzeugte methodische Distanz scheint mir besonders not-wendig gegenüber dem »romantischen« politischen Diskurs, in dem Scholem sich bewegt.

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30 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

eine wirkliche Geschichte begriffen werden, der gegenüber die »Identität« nicht

einfach äußerlich ist, weder als treibende Kraft noch als sinnstiftendes telos.

1.1.1 Die Quellen: Autobiographie und Tagebücher. Scholems Distanzierung

von der eigenen Herkunft verschärft die jeder Biographie inhärente Spannung

von erlebter und retrospektiv erzählter Lebensgeschichte. Von Berlin nach

rusalem suggeriert schon durch den Titel eine gerade, deutliche und bedeutsame

Ortsveränderung, einiges in diesem Buch verstärkt diesen klaren, klassischen

Eindruck.32 Scholems Autob iographie ist nicht die Darste l lung einer krisen-

haften Identitätsentwicklung, sie hat kaum den Charakter einer Rechtfertigung,

gibt selten die für die Gat tung so typische psychologische Analyse und be-

schäftigt sich kaum mit dem Problem der Erinnerung.33 Von Berlin nach

salem trägt eher den Charakter von Memoiren, mit ruhigem Stil zeigt sich

Scholem in der Fülle seiner Erfahrungen, die spezifische Spannung entsteht we-

niger durch die Darstel lung einer undarstel lbaren Ident i tät und auch nicht

durch das gattungstypische Problem der Authentizität als durch die im Titel an-

gedeutete Bewegung. Damit ist seine Autobiographie vor allem die Inszenie-

rung von Klarheit: »Mir erschien der Weg als sonderbar direkt und von klaren

Auf formale Besonderheiten von VBJ kann ich hier nur hinweisen, auffällig ist erstens die relative Abwesenheit von Reflexion und Erklärung, zweitens die geringe Präsenz des erzählenden Ichs; äußerst selten, dann freilich an entscheidenden Stellen, unter-scheidet Scholem explizit erinnerndes und erinnertes Ich: Über den Charakter der »Lehre« (VBJ, 53ff), über den Anarchismus (ebd., 61) und über den Zionismus (ebd., 61f, 187f, 225f). Zur Form der Autobiographie jetzt auch Moses, »G. Scholems Au-tobiographie«; er betont eher den klassisch autobiographischen Charakter (nach dem Vorbild Goethes) und besonders die Funktion von literarischen Porträts und Anek-doten und die Rolle der Gedankenassoziation, vgl. ebd., 12ff. - Auch WB trägt eher den Charakter von Memoiren, allerdings ist die Spannung zwischen Erinnerung und Erinnertem hier gerade durch das verarbeitete Material präsent: Während Scholem in VBJ kaum aus seinen alten Aufzeichnungen zitiert (weder als offenes Zitat von Brie-fen noch verdeckt aus den Tagebüchern; an den wenigen Stellen, wo dies geschieht, eröffnet sich dann auch ein Blick in Tiefen jenseits des klaren Weges, vgl. etwa VBJ, 224f), geschieht das in WB außerordentlich oft und erzeugt auch - gerade weil Scho-lem die Differenzen und Härten nicht auszugleichen versucht - eine außerordentliche Spannung, vgl. bes. WB, 88ff, 94f. An anderen Stellen vermittelt Scholem zwischen er-innertem und erinnerndem Ich, vgl. etwa ebd., 69ff, 93f.

Diese Zurückhaltung hinsichtlich der eigenen Motive scheint mir konstitutiv für Scho-lems Identität und wird immer beibehalten: In einem späten Interview nach den psy-chologischen Hintergründen seiner Entscheidung für Judentum und Zionismus gefragt, antwortet er, es habe sich hier um »moral decisions« gehandelt, »not psycho-logical ones«: »Moral considerations are essentially nonpsychological.« (JJC, 30f) So bleibt die eigene Entwicklung in der Aura der unbefragbaren moralischen Entschei-dung stehen.

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EINLEITUNG: SCHOLEMS POLITISCHE ERZIEHUNG 31

Wegzeichen erhellt.« (VBJ, 9) Diese Klarheit wird im Kontrast zu seiner Um-gebung inszeniert, vor allem zum »Selbstbetrug, dessen Entdeckung eines der entscheidendsten Erlebnisse meiner Jugend war« (ebd., 30). Seine eigene Le-bensgeschichte zieht nur die Konsequenz, wenn sie der Unklarheit dieses Selbstbetruges ausweicht, so entwickelt sie sich ganz selbstverständlich - es ist »kein Wunder«, daß er Zionist wird (ebd., 44f). Wenn er - es ist eine der selte-nen Stellen, an denen sich das erinnernde Ich vom erinnerten unterscheidet -schreibt, die dem Zionismus innewohnende »Dialektik von Kontinuität und Re-volte« habe er erst später entdeckt (ebd., 61f, 225f, dazu s. u. Kap. 1.2.2), so ver-deckt diese Dialektik viel radikalere Konflikte, von denen Scholem in seinen Erinnerungen nicht mehr spricht.

Wesentlich krisenhafter als in seiner Autobiographie stellt sich Scholems Ent-wicklung in den jüngst veröffentlichten Tagebüchern, Briefen und Aufsätzen des jungen Scholem dar.34 Diese zeigen, daß die Richtung, die Scholem ein-schlägt, Resultante verschiedener, von ihm als sehr heftig erlebter Konflikte ist, die keineswegs alle »gelöst« werden, und erlauben eine tiefere Untersuchung von Scholems Entwicklung und intellektueller Identität als bisher möglich war.

Die Tagebuchaufzeichnungen beginnen 1913, im fünfzehnten Lebensjahr Scholems, bisher zugänglich sind die Aufzeichnungen bis 1923, also bis zur Übersiedlung Scholems nach Palästina, die auch eine natürliche Zäsur bildet.35

In Scholems Tagebüchern überwiegt dabei generell die Reflexion die Beobach-tung, zahlreich sind moralische Reflexionen über sich und andere, Selbstankla-gen und -rechtfertigungen, das in der Autobiographie so wenig sichtbare schreibende Ich kommt hier zumindest in den Jahren von 1916 bis 1919 gera-dezu exzessiv vor. Die Reflexion und Disziplin, zu der das Tagebuch zwingt, ersetzt ihm die Diskussion mit anderen; immer wieder entwirft er dabei auch Visionen der eigenen Rolle und fragt sich im- oder explizit, was denn seine Auf-gabe in der im Tagebuch porträtierten Welt sein könne.36

Vgl. zur Charakteristik auch die Einleitung des nächsten Teiles Kap. 2.1. Eine Bestands-aufnahme gibt Goetschel, »Scholem's Diaries«, der besonders auf die Bedeutung der Sprachphilosophie, der jüdischen Identität und der Polemiken für Scholem hinweist. Twardella liest Scholems Tagebücher als Geschichte eines Identitätserwerbes, er liest den »Prozeß der Selbstcharismatisierung« aber leider sehr wörtlich als Vereinigung von Wissenschaft und Prophetie (Twardella, »G. Scholem: Prophet und Wissen-schaftler«, 515, 522f). Die abstrakte Frage nach der Religiosität Scholems nimmt dabei dessen Rhetorik wörtlicher als sie gemeint ist. Nach Aussage Herbert Koppe-Oberstebrinks gibt es aus der Zeit nach 1923 nur noch spärliche und sporadische Aufzeichnungen, die nicht mehr eigentlich den Charakter eines Tagebuches haben, einige von ihnen werden wir unten untersuchen, s. u. Kap. 1.5. Scholem spricht von »der Fähigkeit, mit sich selbst als seinem Gegner zu diskutieren, die ich mir mit gutem Recht zu eigen weiß, von frühester Jugend auf« (T I, 273; vgl.

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32 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Schematisch kann man Scholems Tagebücher in drei Phasen einteilen. Zu-nächst, in der Zeit von 1913 bis etwa Sommer 1916 gibt es relativ spärliche Auf-zeichnungen, die eher einfach schildern, was Scholem Tag für Tag tut. Die meisten Aufzeichnungen fallen in die Zeit von Sommer 1916 bis zum Sommer 1919, in dieser Zeit wandelt sich auch die Natur der Aufzeichnungen: Neben die tägliche Chronik und die zunehmende Selbstanalyse treten prinzipielle Refle-xionen; immer wieder versucht Scholem jetzt, seine Überlegungen in kurzen Texten selbständiger Natur bzw. in Fragmenten zum Ausdruck zu bringen. Seine Äußerungen sind jetzt stärker stilisiert und werden immer stärker mit sachlichen Elementen durchsetzt: Scholem entwickelt eine »Theorie des Judentums«, die wir im nächsten Teil untersuchen werden. In der dritten Phase, in der Zeit von 1919 bis 1932, nehmen die regelmäßigen Aufzeichnungen sehr stark ab, dafür nimmt die Stilisierung zu, das Tagebuch besteht jetzt zum großen Teil aus selbständigen Texten, die oft hochgradig esoterisch sind, sich dem unmittelbaren Verständnis also verschließen. Die gattungstypische Offenheit der Form und der Fragment-charakter der Aufzeichnungen löst sich also immer mehr auf zugunsten einer immer noch privaten und esoterischen Schreibweise der geschlossenen Form.

Für die Entwicklung der Briefe gilt im Prinzip dasselbe, auch hier nimmt die Stilisierung des Ausdrucks und die Zurückhaltung im Persönlichen mit der Zeit zu. Insgesamt sind die Briefe einer Epoche jeweils eher einheitlich und wenig adressatenbezogen: Zwar ist der Gestus der Adressierung und der jeweils kon-kreten Positionierung außerordentlich stark - Briefe sind für Scholem ein Mit -tel, seine eigene Position durch Abgrenzung zu bestimmen -, aber seine Briefe beziehen sich kaum auf den Adressaten; es sticht an ihnen geradezu ins Auge, daß sie für ihre Empfänger einigermaßen unverständlich gewesen sein müssen, was auch gelegentlich thematisiert wird (vgl. etwa Br I, 196ff).

Weder Briefe noch Tagebücher sind von Scholem zur Veröffentlichung be-stimmt oder gar geschrieben worden, aber er hat sie sorgsam aufgehoben und, wie wir sehen werden, sie auch immer wieder verwendet. Trotz ihrer offenen Form können und sollen weder Tagebücher noch Briefe einfach als biographi-sche Quellen aufgefaßt werden. Es wäre möglich, anhand von Scholems Brief-wechsel eine Topographie von Beziehungen zu rekonstruieren, in denen Scholem sich befindet, auch die Tagebücher geben reiches Material über Scho-lems Lektüren, Diskussionen und Kontakte. Mein Interesse ist aber ein ande-res. Für den jungen Scholem dienen die Tagebücher nicht zur Dokumentation,

auch ebd., 180). Abgesehen von solchen Selbstentwürfen (s. u. Kap. 1.3.3) und den (nicht sämtlich aufgenommenen) Gedichten finden sich in Scholems Tagebüchern kaum fiktionale Texte. Von den gattungstypischen Motiven (vgl. dazu Börner, Tagebuch, 16ff) spielt die Erinnerung eine geringe Rolle, Hauptfunktionen sind Selbstanalyse und Werkstatt des (politischen und theoretischen) Schreibens.

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EINLEITUNG: SCHOLEMS POLITISCHE ERZIEHUNG 33

sondern zur Herausbildung der intellektuellen Identität. Zugleich dient das Ta-gebuch auch der Konstitution eines schreibenden Ichs und dem Erwerb einer eigenen Sprache.37 Scholem experimentiert mit Formulierungen und mit Aus-drucksweisen, dabei tritt das sich selbst bespiegelnde Ich immer mehr in den Hintergrund und verschwindet hinter den sachlichen Texten und dem esoteri-schen Ausdruck. Mi t diesem »asketischen« Stil der Reflexion tritt Scholem der Eitelkeit und der Verzweiflung entgegen, die fast notwendig mit dem Tage-buchschreiben einhergehen und bei ihm vor allem in der mittleren Phase sehr ausgeprägt sind.38

1.1.2 Der jüdische Diskurs und die Frage der Legitimität. Die Identität und Schreibstrategie, die sich hier manifestiert, ist keine rein private, sondern auch eine Identität als Jude, denn Jude zu werden ist der absolute Imperativ. Ohne daß sie dasselbe wären, konstituieren sich also intellektuelle und jüdische Iden-tität parallel zueinander. Scholem schreibt im Kontext der »Judenfrage« bzw. der »kulturellen Revolution«, die das Judentum im 19. und 20. Jahrhundert voll-kommen verändert. Nahezu alle jüdischen Diskurse sind an einer Reinterpre-tation der jüdischen Identität beteiligt, die Volkov als »das umfassendste, vielleicht sogar hervorragendste kollektive jüdische »Projekt der Moderne«« be-zeichnet hat: eine »jüdische Erfindung einer Tradition«, die das »immer präsente aber schwer faßbare, ja mysteriöse Etwas - das Judentum - umgestalten und modernisieren« sollte.39 Bei der sich verschärfenden Lage sind Ende des Jahr-hunderts die verschiedenen jüdischen Identitäten auf drei »deiktischen« Nega-

Gerade das moderne Tagebuch zeichnet sich durch den engen Zusammenhang von »Lebensstil« und »Aussagestil« aus (Vogelsang, »Das Tagebuch«, 191). Dabei ist das Tagebuch auch ein erstes Schreiben: »In jedem Fall bleibt das Tagebuch durch sein schubweises Wachsen ständig zur nächstfolgenden Eintragung hin geöffnet.« (Börner, Tagebuch, 11) Vgl. auch: »Jeden Tag schreiben, indem der Tag für das Geschriebene bürgt [...] ist eine bequeme Art, dem Schweigen zu entkommen, aber zugleich auch dem übermäßigen Anspruch des Wortes zu entrinnen. [...] Man lebt auf diese Weise ein doppeltes Leben. Man schützt sich vor dem Vergessen und vor der Verzweiflung, daß man nichts zu sagen hat.« (Blanchot, Der Gesang der Sirenen, 254) Die Ironie des Tagebuchs liegt für Blanchot darin, daß man schließlich weder lebt noch schreibt. Vgl. etwa: »Ich ärgere mich über dies Tagebuch und sage mir, daß die doppelte Erleb-nissucht dekadente Erscheinung ist.« (T I, 212) Über die charakteristische Ambiva-lenz zwischen Unsterblichkeitsanspruch und Melancholie vgl. Hocke, Europäische Tagebücher, 76ff, auch 376ff. Volkov, Das Jüdische Projekt der Moderne, 120. Volkov hat in ihren verschiedenen Ar-beiten die Entwicklung des modernen Judentums unter der Kategorie der »Moderni-sierung« (statt den üblichen, ihrer Meinung nach zu äußerlichen Begriffen »Assimilation«, »Emanzipation« und »Antisemitismus«) zu fassen versucht, vgl. bes. die zusammenfas-senden Ausführungen in Volkov, »Zur Einführung«.

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34 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

tionen aufgebaut: »Nicht hier, nicht wie jetzt, nicht so wie wir sind«.40 Das führt zu einer Proliferation von Identitätsdikursen, deren unglaubliche Produktivität die »Judenfrage« für uns heute so faszinierend macht. Das diskursive Element spielt dabei eine besondere Rolle: In Ermangelung politischer Institutionen wird die jüdische Identität in der jüdischen »Literatur« (im weitesten Sinne) aus-verhandelt, das bedeutet umgekehrt auch, daß diese Literatur in besonderer Weise auf die Frage der Identität bezogen ist. Nirgendwo wird das wohl deut-licher als in der Tatsache, daß sich noch der radikale Einzelgänger Kafka in fast existentieller Weise mit der Frage nach der jüdischen Identität und einer mög-lichen jüdischen Gemeinschaft konfrontiert sieht.41

Der jüdische Diskurs ist also durch und durch politisch, genauer: »metapoli-tisch<: Er versucht weniger, seine Macht unter Ausnutzung der in der Gesell-schaft vorhandenen Machtverhältnisse zu vermehren, als die Gesellschaft selbst zu imaginieren.42 Im Diskurs über die (jüdische) »Nation« wird das politische Subjekt erzeugt und damit die Voraussetzung einer »nationalen« Politik ge-schaffen. Metapolitik ist vor allem Politik der Intellektuellen, also derjenigen, die weder einen festen Platz in den Institutionen der Gesellschaft haben, noch

40 Vgl. Harshav, Hebräisch, 36ff. Harshav behandelt die jüdische Moderne unter dem Titel der »kulturellen Revolution« und betont, daß es sich hier um ein Übergangs-phänomen handelt (ebd., 95ff).

41 Für Kafka hat m. E. Baioni überzeugend gezeigt, daß man »das Jüdische« bei Kafka nicht in irgendwelchen (kabbalistischen) Geheimnissen suchen müsse, sondern in der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Literatur und Gemeinschaft. Kafka sei sich bewußt gewesen »immer der Schriftsteller der westjüdischen Zeit geblieben zu sein, der - ohne Mandat - sich berufen fühlte, die Krise der europäischen Litera-tur zu repräsentieren. Dieses Bewußtsein, ein Schriftsteller ohne Legitimation oder doch mit einer nur unzureichenden Legitimation zu sein [...], dürfte der Haupt-schlüssel zur Interpretation des Schriftstellers Kafka sein.« (Baioni, Kafka: Literatur und Judentum, 201)

42 Obwohl dieser Ausdruck gelegentlich benutzt wird, scheint es keine ausgearbeitete Theorie der »Metapolitik« zu geben. Riedel (Metaphysik und Metapolitik) nennt Me-tapolitik in einem abweichenden Sinne den (ungerechtfertigten) Gebrauch metaphy-sischer Kategorien in der politischen Sphäre. - Nach Voigts ist die moderne Esoterik nicht metaphysisch, sondern »metapolitisch« , weil sie das Geheimnis der Vergesell-schaftung nicht begreifen könne (Voigts, Das geheimnisvolle Verschwinden ..., 159). Meine wichtigste Anregung neben Bourdieu (vgl. nächste Anm.) ist Bollenbecks Ana-lyse von »Bildung« und »Kultur« als spezifisch deutsche Deutungsmuster (der Begriff der Metapolitik ist sporadisch gebraucht, vgl. Bollenbeck, Bildung und Kultur, 174, 187, passim). Diese hat die metapolitische Funktion, die deutsche Nation zu imagi-nieren, zugleich schöpft das deutsche Bildungsbürgertum aus ihm sozialdistinktives Prestige. Am Ende des 19. Jahrhunderts versuchen alle politischen Richtungen »im Namen der Kultur« zu sprechen und bestreiten ihren Gegnern, daß diese »Kultur« hät-ten - was zugleich ein Symptom ist, daß seine politische Kraft sich verbraucht hat.

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EINLEITUNG: SCHOLEMS POLITISCHE ERZIEHUNG 35

sich durch ihre unbefragbare »künstlerische« Subjektit ivät legitimieren.43 Sie

sprechen nicht in wissenschaftlichen oder ästhetischen Spezialdiskursen, son-

dern in der Alltagssprache, die immer O rt (meta-) polit ischer Auseinanderset-

zungen ist. Der Intellektuelle vertritt eine »Meinung«, aber es ist keine private,

denn er beansprucht, mit seiner Meinung legitimer Sprecher einer Gruppe zu

sein. Sein Sprechen verwandelt diese Gruppe in einer »Alchemie der

tation« aus einem bloßen Aggregat in eine instituierte Gruppe: »Als Mensch ge-

wordene Gruppe personifiziert er ein fiktives Subjekt, das er aus dem Zustand

des einfachen Aggregats einzelner Individuen heraushebt und dem er ermög-

licht, durch ihn »wie ein Mann« zu handeln und zu sprechen.«44 Der metapoli-

tische Diskurs besteht aus einer labilen Vorwegnahme dieser Performanz, denn

Repräsentat ion realisiert sich nicht nur im Angesicht existierender Gemein-

schaften, sondern vollzieht sich wesentlich als Imagination von Gemeinschaf-

ten, als deren Sprecher man sich betrachtet. Intel lektuelle Pol i t ik spricht >im

Namen« von irgendwem - anders als das private trägt sich das politische Wort

nicht selbst - , aber man kann im Namen der Klassiker, im Namen der Weltre-

volut ion oder im Namen auch der Juden sprechen, die nicht anwesend sind.45

Der Begriff des Intellektuellen ist, weil selber politisch, tief problematisch, vgl. die Überlegungen zur Verbindung zwischen axionormativem Interesse und schwacher (aber doch notwendiger) Institutionalisierung bei Mendes-Flohr, Divided Passions, 25-53. Besonders bei den jüdischen Intellektuellen komme es zwischen den Rollen des »cognitive insider« und »social Outsider« zu einer »Status inconsistency« (Ebd., 42ff) -Bei jüdischen Intellektuellen stellt sich das Legitimitätsproblem natürlich in besonders zugespitzter Weise. Löwy hebt hervor, daß die jüdischen Intellektuellen »freischwe-bende Intelligenz« in Mannheins Sinne sind: allgemein deklassiert und institutionell ortlos. »Da sie ideologisch verfügbar sind, erliegen sie rasch der Faszination und fühlen sich von zwei entgegengesetzten Geisteshaltungen gleichzeitig angezogen«, nämlich dem liberalen Optimismus und dem romantischen Antikapitalismus (Löwy, Erlösung und Utopie, 46).

Bourdieu, Was heißt Sprechen?, 72. Die Konzeption »intellektueller Politik«, die ich in meiner Arbeit verwende, stützt sich stark auf Bourdieus Konzeption des Kampfes um die Sprache und der symbolischen Herrschaft, das wiederum zurückgebunden an seine Feld-Theorie; vgl. dazu insbes. Bourdieu, »Intellectual field and creative project«; Rin-ger »The intellectual field, intellectual history and the sociology of knowledge« und die anschließende Diskussion. Bourdieu betont dabei, daß die spezifische Logik von Fel-dern positional und bestimmt ist durch »competition for cultural legitimacy« (a.a.O., 90). - Zu Problemen des Feldbegriffes in dieser Arbeit vgl. die nächste Anm. Bourdieu hat den extremen Fall der vollständigen und wechselseitigen Anerkennung von Gruppe und Repräsentanten vor Augen; nur hier kann der Anspruch des Diskur-ses völlig auf die gegebene Situation und die objektiv vorhandenen Machtverhältnisse zurückgeführt werden; in unserem Fall gilt es aber gerade, den Legiümh'itsanspruch zu denken. Der Begriff der »Legitimität« wird hier also von Bourdieus soziologistischer Konzeptualisierung zurückgebucht in eine Kategorie des Selbstverständnisses; tatsäch-

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36 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Gerade im jüdischen Diskurs gibt es dabei eine Spannung zwischen »Politik«

und »Metapolitik«, die auch für Scholem von zentraler Bedeutung ist: Einerseits

hat der gesamte jüdische Diskurs die metapolit ische Funkt ion einer symbol i-

schen Vergemeinschaftung, andererseits bewegt sich der jüdische Diskurs auch

nicht vol lkommen im leeren Raum, zumindest nicht seit dem Aufkommen des

Zionismus: Erstens ist der Zionismus zumindest der Möglichkeit nach auf die

Err ichtung einer jüdischen Gesellschaft in Palästina und die dabei zu entschei-

denden konkreten politischen Fragen bezogen, zweitens unterscheidet er sich

als demokrat ische Massenbewegung von den einsamen Beschwörungen un-

sichtbarer Gemeinschaften, die für die deutschen Intellektuellen dieser Zeit so

typisch sind. Der Zionismus ist beides: Zionistische Kongresse sind politische

Veranstaltungen, insofern hier über die polit ischen Ziele und Mittel der zioni-

stischen Bewegung verhandelt wird, aber vielleicht in noch höherem Maße sind

sie metapol i t ische Veranstaltungen, insofern hier die jüdische Gemeinschaft

symbolisch realisiert wird.

1.1.3 Scholems politisches Schreiben. Scholem schreibt als Jude, der (meta-) po-

litische Gehalt seiner Äußerungen besteht nicht in i rgendwelchen polit ischen

»Ansichten«, die - wenig überraschend für einen jungen Juden - zahlreich, »ra-

dikal« und synkretistisch sind, sondern betrifft das Verhältnis des Diskurses zu

jener Gemeinschaft, die er vertritt. Hier sucht er eine Posit ion für sich, ringt um

jüdische und intellektuelle Legit imität« und unterscheidet immer wieder vehe-

ment zwischen »legitimen« und »illegitimen« Repräsentanten des Judentums.46

lieh ist es eine 7?wc&übertragung von Bourdieus Transformation von Webers Charisma (vgl. Bourdieu, Sozialer Sinn, 257). Weber hatte noch betont, daß Legitimität wesent-lich ein Anspruch sei (etwa: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 123), und zwar gilt das insbesondere für das Charisma, das Anerkennung/onfere, vgl. etwa ebd., 140). - Das zeigt eine Grenze von Bourdieus Feld-Theorie: Diese setzt immer institutionelle Struk-turen voraus und ist daher im institutionalisierten Bereich (etwa der Universität) auch besonders zutreffend, während die Konstruktion des künstlerischen Feldes weniger überzeugt. Gerade die schwache Institutionalisierung ist aber das Kennzeichen des jü-dischen Diskurses. Gibt es aber keine Institutionen bzw. keinen »intellektuellen Markt«, kann man auch Bourdieus Kategorien nicht unverändert verwenden. Scholem selbst spricht häufig von »Legitimität« (s. u. Kap. 1.3, 1.4), ohne einen festen Begriff davon zu haben; in der Regel orientiert er sich am juristischen Begriff der Recht-mäßigkeit einer Institution bzw. der Berechtigung eines Anspruchs. - Bei Cohen spielt die Idee des Legitimen in Gestalt der Grundlegung eine Rolle: Erkenntnisse dürfen nicht einfach übernommen werden, sondern bedürfen einer philosophischen Grund-legung (d. h. »Legitimierung«), dazu s. u. Kap. 2.2. - Die systematische Natur der Co-henschen Philosophie drückt sich gerade darin aus, die Phänomene ihren »legitimen Sphären« zuzuweisen, am deutlichsten ist das wohl in: Cohen, Der Begriff der Religion im System der Philosophie, welches eigentlich nur um die Frage kreist, in welchen Kon-

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EINLEITUNG: SCHOLEMS POLITISCHE ERZIEHUNG 37

Dabei bleibt Legitimität immer ein Anspruch und ein Problem zugleich: Wie wir sehen werden, stabilisiert sich Scholems Position im Laufe der Entwicklung keineswegs, obwohl er innerhalb des deutschen Zionismus eine gewisse Auto-rität erlangt. Er bleibt immer von Selbstzweifeln begleitet, sein Verhältnis zu »den Juden« wird schon in Deutschland immer komplexer. In Palästina findet er sich schließlich in einer fremden Welt und in einer Randposition wieder, mit der er sich nur mit komplexen Mechanismen arrangieren kann.

Man kann - und das verleiht dieser Frage ihre Bedeutung - Scholems ganzes Werk in bezug auf die in ihm implizierte Identität und Legitimität lesen, denn auch in seinem historiographischen Werk spielt die politische Dimension eine zentrale Rolle.47 Aber man darf diese Dimensionen auch nicht einfach miteinan-der identifizieren und Scholems Schreiben zu einer übermächtigen Totalität ver-schließen. Wie wir immer wieder sehen werden, bleibt eine Differenz zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem, die in Scholems Schreiben immer prä-sent bleibt als etwas Unaussprechliches, ein Widerstand, ein Legitimitätsentzug. Es ist dieser Mangel, der Scholem dann auch der Möglichkeit beraubt, direkt zu sprechen, denn es scheint mir doch das Spezifische und Faszinierende an Scho-lems Schreiben nicht nur zu sein, daß er zugleich als Wissenschaftler und als Jude spricht, sondern daß er mit seiner Autorität auch äußerst vorsichtig umgeht und sich der Rolle des »Kathederpropheten« (Weber) stets verweigert.48

texten Religion legitim zu erörtern sei. - In der rabbinischen Literatur spielt die Klas-sifizierung der Phänomene (Was ist »rein«, was ist »unrein«?) und die Subordination der Handlungen unter Handlungsklassen (In welche »Sphäre« fällt ein Handeln?) natürlich ebenfalls eine entscheidende Rolle; nicht weniger zentral ist die Orientierung an der »le-gitimen Tradition«, die uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird. Vgl. die Ausführungen von Bollack/Bourdieu über Scholem: »Juif, il s'efforce d'eta-blir une histoire de la culture juive: le sujet est dans l'objet, l'objet est dans le sujet. L'adequation est si parfaite qu'il est vain de demander si l'identite est le determinant ou la fin de Pentreprise de connaissance du judaisme, s'il faut etre juif pour faire Phi-stoire du judaisme ou s'il faut faire Phistoire du judaisme pour etre juif, pour se con-naitre et se reconnaitre comme tel. Ainsi Pentreprise de Gershom Scholem pose avec une intensite exceptionelle le probleme de la »vocation« scientifique en sciences socia-les [...]: les determinants de la »vocation« sont inseparablement scientifiques et poli-tiques, tant il es clair que la maniere de vivre l'identite juive et la maniere de faire Phistoire du judaisme sont pratiquement indissociables.« (Bollack/Bourdieu, »L'i-dentite juive«, 4).

Für die Untersuchung intellektueller Politik scheint eine Typologie von Legitimitäts-anspüchen ein Desiderat: Offensichtlich macht es einen entscheidenden Unterschied, an wen sich ein Text wendet (an die Machthaber, an die Gebildeten, an die Jugend etc.) und welche Rolle er ihm gegenüber in Anspruch nimmt (skeptischer Berater, Sprach-rohr, charismatischer Führer ...). Eine solche Typologie ist bisher nur verstreut ent-wickelt, etwa in Webers soziologischer (und daher nur partiell brauchbaren) Typologie von formaler, traditioneller und charismatischer Herrschaft, in Gramscis politisch-

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38 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Ein bestimmter Legitimitätsanspruch fordert hier eine bestimmte Aus-drucksform. Die Konzentration auf den Zusammenhang von Identität und Le-gitimitätsanspruch ermöglicht eine sinnvolle Analyse der Sprache, also der verschiedenen probeweisen Anlehnungen an andere Sprachen, der rhetorischen Mechanismen der Selbstlegitimierung und Abgrenzung, der verschiedenen For-men der indirekten Mitteilung, sowie der Reflexion über politische Sprachphä-nomene. »Identität« ist daher nicht stumme Voraussetzung, sondern wird im Schreiben erkennbar: Scholem entwickelt aus den Elementen verschiedner Ideo-logien eine Sprache, die beansprucht - ganz anders als die anderen Positionen -, die unverwechselbare, eigene Sprache zu sein und gleichzeitig die »legitime« Stimme des Judentums. Der »Zionismus« Scholems ist nicht nur eine politische »Überzeugung«, die Scholem vertritt, sondern eine »Lebenshaltung« (Br 1,166), die aufs engste mit der eigenen Position verknüpft ist: Scholem schreibt nicht über den Zionismus, sondern nur als Zionist kann er schreiben.

Dieses Schreiben ist nicht ungebrochen performativ, sondern wird immer umwegiger und immer komplexer; gerade damit kann es eine problematische Identität artikulieren. Der direkt appellative Gestus von Scholems frühesten Schriften verschwindet mehr und mehr, die Texte werden - oft auf fast gewalt-same Weise - immer »objektiver«, immer wieder wird das Schweigen beschwo-ren, die Formulierungen gewollt unverständlich: Scholem beginnt, die Sprache seiner Jugend durchzustreichen, um sich ganz von seiner Herkunft abzulösen; der Wechsel vom Deutschen zum Hebräischen soll diesen Bruch vollständig machen.49 Aber ganz gelingt dieser Bruch nie, Scholem schreibt weiter auf deutsch, und seine Ausdrucksweise gewinnt nie die intendierte revolutionäre Klarheit und Eindeutigkeit, sondern wird vielfach relativiert, ironisch gebro-chen und selber durchgestrichen: Sie wird zur Sprache des Esoterikers, der immer zugleich etwas sagt und nicht sagt.

Indem sich das Schreiben nicht mehr direkt ausspricht, sondern auf vcr schiedene Schauplätze und Genres verteilt - Scholem schreibt jetzt als Histo-riker, als politischer Essayist, als Zeitgenosse, als Autobiograph -, gewinnt Scholem die ausgesprochene Autorität, mit der er schließlich seine eigene Le-bensgeschichte deutet.

programmatischer Idee des organischen Intellektuellen, in Ringers Kategorie der »Mandarine«, in Pauens Kategorie der »Selbstermächtigung« (Pauen, Dithyrambiker des Untergangs), in Brokoffs Untersuchung eines apokalyptischen Schreibens (Brokoff, Die Weimarer Apokalypse). Zu Scholems Ambivalenz gegenüber seinem Tagebuch trägt wesentlich bei, daß er lange Zeit noch auf deutsch statt auf hebräisch schreibt, das sei »äußerlich und inner-lich immer ungerechtfertigter«, schreibt er Anfang 1917: »Oder ist hier noch ein Win-kel, wo noch Europa wohnt?« (T I, 464)

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EINLEITUNG: SCHOLEMS POLITISCHE ERZIEHUNG 39

Die folgenden Kapitel sollen den verschiedenen Phasen der Verschiebung von Scholems politischem Ethos, also der jeweils korrelierenden imaginierten Posi-tion und Schreibweise folgen. Dabei werden die philosophischen Reflexionen und das für Scholem zentrale Verhältnis zur jüdischen Überlieferung zunächst ausge-spart; sie sollen im nächsten Teil thematisiert werden. Zunächst gilt es, Scholems retrospektive Interpretation seiner Geschichte zu untersuchen, d. h. seine Äuße-rungen zum deutschem Judentum und Zionismus nicht zu kritisieren - dazu fehlt die Materialbasis - aber auf ihr Ungesagtes hin kritisch zu befragen (1.2). Das ist vor allem die Voraussetzung, um die Entwicklung von Scholems »Ethos« darzu-stellen: Zunächst werden wir untersuchen, wie Scholem seine Sprache aus der Ju-gendbewegung übernimmt, sich dort aber gleichzeitig bemüht, eine eigene, radikale Position und Sprache zu finden (1.3). Dieser Versuch, den man als »re-volutionär-romantisches« bzw. »messianisches« Ethos bezeichnen kann, gerät durch seinen Bruch mit der Jugendbewegung und mit Buber in die Krise, in sei-ner Folge entwickelt er ein »asketisches« Ethos, das wesentlich auf einer Zurück-nahme des direkten Ausdrucks beruht (1.4). Die Enttäuschung angesichts des realen Zionismus, die Scholem 1923 bei seiner Einwanderung nach Palästina er-lebt, verstärkt diese Tendenzen und führt schließlich zu dem Ethos, das auch sein wissenschaftliches Schreiben und seine Erinnerungen an Zeitgenossen prägt (1.5). Schließlich wird in einem Exkurs kurz die politisch-kulturelle Bedeutung der Er-neuerung der hebräischen Sprache für Scholems Schreiben erörtert (1.6).

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40 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

1.2 Das Feld: Deutsche Juden und Zionisten

Scholem hat sich einmal als »post-assimilatory Jew« (JJC, 1) bezeichnet, seine eigene Entwicklung läßt sich ohne den Kontext des deutschen Judentums und der »jüdischen kulturellen Revolution« nicht verstehen. Hier soll allerdings nicht ein weiteres Mal dieser Kontext in aller Breite dargestellt werden, Sinn dieses Kapitels ist vielmehr, Scholems eigenen Deutung dieses Kontextes zu analysie-ren. Natürlich darf man Scholems rückblickende Interpretation nicht einfach als historisch-faktische Darstellung nehmen, genauso wenig kann hier eine er-schöpfende historische Analyse vom deutschem Judentum bzw. Zionismus ge-geben werden, von der aus man dann die »Wahrheitsfrage« stellen könnte, ob Scholems Bewertungen nun richtig oder falsch seien. Mi t der gebotenen Vor-sicht kann man aber die spezifischen Probleme von Scholems Texten heraus-arbeiten und das Ungesagte in ihnen sichtbar machen. Damit kann man zum einen die zentrale Kategorie des »Selbstbetruges« untersuchen, den Scholem dem assimilierten deutschen Judentum vorwirft (1.2.1), zum anderen kann man Scholems Konzept einer historischen Identität darstellen, das seine Auseinan-dersetzung mit dem Zionismus prägt (1.2.2.).

1.2.1 Deutschjudentum und >Selbstbetrug<. Die Auseinandersetzung mit Scholems Bild vom deutschen Judentum muß mit seinem späteren polemischen Verdikt gegen die Rede von einem »deutsch-jüdischen Gespräch« beginnen: In einer scharfen Polemik bestreitet Scholem 1962, daß es das »deutsch-jüdische Gespräch« »in irgendeinem echten Sinne als historisches Phänomen je gegeben hat: Zu einem Gespräch gehören zwei, die aufeinander hören, die bereit sind, den anderen in dem, was er ist und darstellt, wahrzunehmen und ihm zu erwi-dern.« (J II , 7f) Aus drei Gründen hält Scholem die Rede vom Gespräch für vollkommen verfehlt: Erstens habe es eine fundamentale Asymmetrie gegeben, denn die Deutschen hätten sich an diesem Gespräch gar nicht beteiligt, nur die Juden »sprachen zu sich selber, um nicht zu sagen: sie überschrien sich selber« (ebd., 9). Zweitens, und das bezeichnet Scholem als den »springenden Punkt« der Argumentation, hätten »die Deutschen, wo sie sich überhaupt auf ein Ge-spräch [...] mit den Juden eingelassen haben, dies unter der Voraussetzung [getan], daß die Juden bereit seien, sich in immer fortschreitendem Maße als Juden aufzugeben. Es gehört zu den wichtigsten Phänomenen [...], daß die Juden selbst zu einem erheblichen Teil dazu bereit waren« (ebd., 14). Das »Gespräch« habe auf der »ausgesprochenen und unausgesprochenen Vorausset-zung der Selbstaufgabe der Juden« beruht, »auf der fortschreitenden Atomisie-

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DAS FELD: DEUTSCHE JUDEN UND ZIONISTEN 41

rung der Juden als einer in Auflösung befindlichen Gemeinschaft« (ebd., 9).

Dr i t tens sei die nachträgliche Rede von dem Gespräch eine vo l lkommen

verkehrte Interpretat ionskategorie, sie ignoriere die »Tatsache, daß mit den

Toten kein Gespräch mehr möglich ist, und von einer »Unzerstörbarkeit dieses

Gespräches« zu sprechen, scheint mir Blasphemie« (ebd., 11).

Scholems Polemik scheint mir volle Berecht igung zu haben in ihrem Ein-

spruch gegen die »Einführung erhabener und feierlich kl ingender Termini wie

»Gespräch«« (ebd., 13), gegen ein Pathos, daß die Juden nachträglich in die deut-

sche Geschichte - und, so muß man betonen, vor allem in die Geistesge-

schichte - auflöst.50 Aber seine Kriti k versteht sich ja nicht nur als polemischer

Eingriff in eine gegenwärt ige Debatte. Scholem hat immer betont, daß seine

Kriti k sich nicht nur nachträglich auf das katastrophale Scheitern des jüdischen

Lebens in Deutschland im Nationalsozial ismus beziehe, sondern daß die Un-

wirklichkeit des »Gespräches« schon damals erkennbar gewesen sei, und zwar

nicht nur am Ant isemit ismus, sondern auch am »Selbstbetrug«, er ist die ent-

scheidende Interpretationskategorie Scholems für das deutsche Judentum, weit

wichtiger als der Antisemitismus:

Unsere Eltern glaubten zu wissen, was sie wollten, aber sie täuschten sich dabei weniger über ihre Umgebung, über die viele von ihnen sich kaum Illusionen mach-ten, als über sich selbst. [...] Diese Selbstwidersprüche und Abgründe in ihnen waren die Ursache dafür, daß sie Unklarheit und Verschwommenheit der Klarheit vorgezogen haben und wenig für jene übrig hatten, die in diese Situation hinein-leuchten wollten. (J IV, 260f)

»Selbstbetrug« bedeutet für Scholem also mehr, als sich selbst über seine U m-

welt zu täuschen; er bezeichnet ein Verhältnis zu sich, das von »Unklarheit« ge-

prägt ist. Das macht deutl ich, daß die Polemik eine Debat te über jüdische

Identi tät impliziert. Die »Unklarheit« der assimilierten Juden und die eigene

»Klarheit« sind die beiden entscheidenden Pole, in deren Spannungsfeld Scho-

lem auch seine eigene Biographie beschreibt. Die Rede vom »Selbstbetrug« setzt

offensichtlich eine »doppelte« oder »gespaltene« Identität voraus, in der ein »Teil«

(sich) über das andere etwas vormacht: Weder sind die assimilierten Juden ein-

fach Juden, noch sind sie aber Nicht-Juden, sondern als Juden tun sie nur so, als

Hinter Scholems Polemik steht vor allem das Entsetzen über die Form, in der die deutsch-jüdische Vergangenheit am Anfang der Bundesrepublik »bewältigt« wird: »Zu den schrecklichsten Dingen, die einem im jetzigen Deutschland begegnen, gehört die grausliche Art, in der, nachdem man die Juden ungebracht hat, es nun mit frommem Augenaufschlag und heuchlerischer Liberalität vermieden wird, die Juden als Juden zu bezeichnen, weil man, wie der Schwindel geht, sich damit ja auf die Stufe der Rassentheoretiker stellen würde.« (Br II , 123) Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: »Das »Dämonische««, 233ff.

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ob sie Nicht-Juden wären. Es sind, in Scholems Formulierung, einerseits »gar keine Juden mehr, im vollen Sinne eines ungebrochenen historischen Bewußt-seins, die da sprechen, sondern Juden auf der Flucht vor sich selbst« (JII, 17). Auf der anderen Seite sind auch diese Juden immer noch Juden, sie sind auch »am reinen Nullpunkt völliger Entfremdung« (ebd., 10) noch irgendwie jüdisch, eben >Juden auf der Flucht vor sich selbst«: Auch bei den schon vollkommen as-similierten Juden gebe es noch eine »jüdische Gefühlskomponente« (J IV, 244), eine »Pietät«, die sie an die Vergangenheit binde. Scholem macht nicht beson-ders deutlich, was dieses undefinierbare Etwas sei, und es ist m.E. auch verfehlt, bei ihm nach besonderen Eigenschaften des Jüdischen zu suchen, denn zunächst soll die behauptete Restidentität dafür stehen, daß das Judentum auch in der As-similation nicht völlig verschwunden sei.51

Das impliziert, daß auch die entfremdeten Juden immanent jüdisch ver-ständlich sind: Die Juden fliehen weniger vor den Antisemiten als vor sich selbst; sie werden zu Juden nicht nur durch den fremden Blick, sondern auch durch ihre, wenn auch selbstentfremdete, jüdische Identität. Das Scheitern der Assimilation ist in Scholems Argumentation daher kein äußerliches Schicksal, sondern eine innere Krise jüdischer Identität, wie ja schon die Wahl des Leit-begriffes »Selbstbetrug« zeigt; nach Scholem ist »für das NichtZustandekommen dieses Gesprächs als eines historischen Phänomens, meiner Überzeugung nach, zu einem wichtigen Teil die Liquidation der jüdischen Substanz durch die Juden selbst verantwortlich« (J II , 16). Wie wir noch sehen werden, spielt der Gedanke einer Se/forzerstörung des Judentums in der Neuzeit in Scholems Historio-graphie eine wichtige Rolle.

Die Rede vom Selbstbetrug suggeriert ebenfalls, daß es eine authentische Gegenposition gibt, die das Jüdisch-Sein akzeptiert. Der Unklarheit der Assi-milation stellt Scholem jene Juden gegenüber, die »im vollen Sinne eines unge-brochenen historischen Bewußtseins« (ebd., 17) leben; weil das »historische Bewußtsein« als konstitutiv für die jüdische Identität betrachtet wird - wir wer-den auf den nächsten Seiten sehen, daß das alles andere als selbstverständlich und

Wenn man wollte, könnte man »jüdische« Merkmale aus gelegentlichen Äußerungen Scholems zusammentragen. So erscheinen ihm an Benjamin zwei »Kategorien« als be-sonders jüdisch: »einmal die Offenbarung, die Idee der Tora, die Vorstellung von der Lehre und von heiligen Texten überhaupt und zum anderen der Messianismus und die Erlösung« (J II , 219f). Man muß aber bedenken, daß solche Äußerungen immer in einem besonderen Kontext stehen und daher kaum zur Definition der jüdischen Iden-tität taugen. Insgesamt fällt eher auf, daß Scholem eine solche Bestimmung von Merk-malen meidet: Sein Artikel »Judaism« enttäuscht insofern, als dem Judentum inhaltlich kein einziges Merkmal zugesprochen wird, sondern gerade die Offenheit des Juden-tums betont wird, dazu s. auch Kap. 1.5.3.

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unproblematisch ist - , kann die »Unklarheit« der Assimilation auch beschrieben

werden als »Widerspruch zwischen dem Wunsch, die eigene Geschichte nach

Möglichkeit zu vergessen, und der Scheu weiter Schichten, die nicht so weit

gehen wollten, sondern vielmehr in dem Bewußtsein lebten, von einer ganz an-

deren Vergangenheit als der deutschen mitgeprägt zu sein« (J IV, 255).

Auch die neuere Forschung betont, daß die Assimilat ion keineswegs voll -

ständige Aufgabe der jüdischen Identität beabsichtigt habe, sondern ein »Dop-

pelziel« verfolgte: Der Großteil der Juden wollte sich nicht nur in die deutsche

Gesellschaft integrieren, sondern auch in irgendeiner Weise ihre jüdische Be-

sonderheit bewahren.52 Für Scholem folgt daraus - und hier setzt, wie wir sehen

werden, seine Interpretat ion ein - , daß es einen »Widerspruch« gegeben habe

»zwischen der Ideologie, welche die Assimilation verkündete oder als vol lzo-

gen behauptete, und dem Verhalten in den wicht igen Lebenslagen, sowie der

psychologischen Realität« (ebd., 240).

Handelt es sich hier aber wirkl ic h und notwendig um einen Widerspruch?

Uriel Tal hat das Doppelz iel ganz anders charakterisiert, als genuin liberales

Unternehmen, das konsequent in einem leistungs- bzw. zukunftsor ient ierten

Gesellschaftsentwurf beruhe:

In this new society, a man would not be asked whence he came, but weither he was going. He would be judged by his achievements and not by the class to which he belonged, by his fruits and not by his roots. His religious affiliation would be regarded as a private matter, and there would be no need for him to deny it since, having been purified of all irrational elements, religion would no longer constitute a barrier between men.53

Zum Doppelziel vgl. Tal, Christians andjews, 16ff; Volkov, Jüdisches Leben und An-tisemitismus, 131 ff; Meyer u.a. (Hg.), Deutsch-Jüdische Geschichte, Bd. II , 208ff. - Vgl. dazu Volkovs treffende Kriti k des Begriffs der »Assimilation«: Er sei ideologisch auf-geladen und analytisch unsauber, weil er gleichzeitig soziale, kulturelle und psychi-sche Prozesse bezeichne, weil er dazu tendiere, deren Wechselwirkungen zu verschleiern und weil er sich zugleich auf einen Prozeß und ein Resultat bezieht. (Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus, 132f) Wer die Assimilation als gelungen beurteilt, denke an Akkulturation und Wertegemeinschaft, wer ihr Scheitern konsta-tiert, beziehe sich auf Sozialisation und Integration. Die von Volkov vorgeschlagene Revision der deutsch-jüdischen Geschichte durch den Begriff der Modernisierung er-möglicht es, sich von der Vorstellung eines eindimensionalen und einheitlichen Assi-milierungsprozesses zu lösen (Vgl. Volkov, »Zur Einführung«)

Tal, Christians andjews in Germany 16f. - Um das Problem überhaupt erst sichtbar zu machen, darf man nicht mit dem pejorativen Bild des Liberalismus arbeiten, das in der deutschen intellektuellen Tradition üblich ist, in der jener in der Regel von links wie von rechts als oberflächlicher Fortschrittsglauben und abstrakter Rationalismus aufgefaßt worden ist. Aus dieser Tradition kommend, aber mit ihr radikal brechend, haben Hannah Arendt und Leo Strauss dem einen starken Begriff der Öffentlichkeit bzw. eine positive Konzeption einer vollständig profan aufgefaßten Politik entgegen-

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Aus dieser liberalen Perspektive, die ihr Pathos und ihre Konsequenz aus der

Trennung von Öffentl ichem und Privatem sowie der Zuweisung der Religion

in die Privatsphäre nimmt, erscheint das Doppelziel der deutschen Juden - öf-

fentliche Integration und private Dist inkt ion - nicht jener »Widerspruch«, von

dem Scholem sprach, und auch kein schlechter Kompromiß.

Aber diese liberale Vision verliert ihre polit ische Kraft in dem Maße, in dem

sich die deutsche Umwelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder ts von ihr

abwendet. Nat ion, Kultur, Politik und auch Religion werden zu der Vorstellung

einer christl ich nat ionalen Kul tur verschmolzen; in ihr sind die Juden ein

Fremdkörper, weil sich der Bürger nicht mehr durch sein Hande ln in der öf-

fentlichen Sphäre konsti tuiert, sondern durch tiefe und mystische Quali täten,

durch seine Verwurzelung in der nationalen Kultur. »Identität« wird hier nicht

mehr aufgefaßt als zukünft ige Aufgabe, sondern als gegebene Substanz - ge-

rade das bringt die Juden in die von Scholem zu Recht bemerkte fatale Zwick-

mühle: »Die Selbstaufgabe der Juden wird ebensosehr begrüßt, ja gefordert,

wie zugleich häufig genug als Argument für ihre Substanzlosigkeit angeführt«

(J II , 26). Der Versuch, die alte Politik weiterzutreiben, führt zu einer gefährli-

chen Schere: Je mehr sich die Juden auf Liberal ismus und Modernis ierung

fixieren, desto mehr isolieren sie sich in einer zunehmend antiliberalen und mo-

dernitätsfeindlichen Gesellschaft.54 Auch der geschwächte deutsche Liberalis-

mus, der einer der wichtigsten Verbündeten der Juden im Kampf um die

Emanzipat ion gewesen war, wendet sich zunehmend von der Judenfrage ab, um

nicht in den Ruf zu kommen, nationale Interessen zu verraten.55

gehalten; gerade Arendt hat das Menschenbild freigelegt, das die liberale Betonung des genuin Politischen impliziert (vgl. Arendt, Vita Activa). Zum Verhältnis Scholem-Arendt vgl. Suchhoff, »G. Scholem, Hannah Arendt...«. Volkov betont, daß die Juden zu den Vorreitern der Modernisierung der Lebensform (Urbanisierung, Familienstruktur, Bildung, Leistungsverhalten) gehören und daß sie gerade dadurch isoliert werden (Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus, 131ff); ähnlich Nipperdey: »Die Assimilation ins Bürgerlich-Moderne ging so schnell, daß sie die eigentlich erstrebte Normalität überschritt, und also die Distanz zu den Nicht-juden gerade nicht aufhob.« (Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. I, 407) -Nach Mosse entbehrt die Tatsache, daß die Juden politisch am Liberalismus festhalten, nicht der Ironie, »denn gerade durch seinen Liberalismus und seinen Bildungsbegriff wurde dieses Bildungsbürgertum immer mehr isoliert« (Mosse, »Das Deutsch-Jüdische Bildungsbürgertum«, 176ff).

Zum Verhältnis der Juden zu den deutschen liberalen Intellektuellen vgl. Tal, Chri-stians and Jews, 31ff. Tal hebt hervor, daß die deutschen Intellektuellen in Folge des politischen Konstellationswandels sich dem Dilemma gegenübersehen zwischen ihren liberalen Vorstellungen und ihren Nationalgefühl entscheiden zu müssen; ihre Einstellung gegenüber den Juden spiegele in der Regel dieses Dilemma wieder (vgl. ebd., 48-51).

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Man kann in der deutschen Geschichte einen Beweis für die prinzipielle Schwäche des Liberalismus sehen, der mit der gesellschaftlichen Diskriminie-rung nicht gut umzugehen wisse und letztlich zu »optimistisch« sei.56 Aber man muß auch sehen, daß die liberale Form der Integration in die Gesellschaft wo-anders, etwa in Amerika, weitgehend funktioniert hat. Scholems Beschreibung aber schließt diese Möglichkeit von vornherein aus, schon durch ihren kon-zeptuellen Zuschnitt macht sie die liberale Option unsichtbar. Dieser Ausschluß ist charakteristisch für die persönliche Identitätskonstitution: Wie wir immer wieder sehen werden, spielt ein äußerst scharfer Trennungsstrich gegenüber dem Milieu der deutschen Herkunft eine fundamentale Rolle für Scholem; indem er das liberale deutsche Judentum nachträglich undenkbar macht, erwirbt sich Scholem die Autorität dessen, der von nichts abhängig ist.57

Der Ausschluß der liberalen Option hat aber auch eine politische Aussage, er suggeriert, daß der liberale Versuch einer Neutralisierung der kulturellen Identität durch die Trennung von Öffentlichem und Privatem nicht nur histo-risch gescheitert sei, sondern auch von vornherein der Sache des Judentums nicht gerecht werde. Er kann für Scholem wohl nur zu einer Atomisierung der Juden und zu einem Zerfall des Erbes führen. Überhaupt scheint Scholem den Liberalismus nur als naiven Optimismus und ungebrochenen Glauben an den Fortschritt zu verstehen; das eigentliche Pathos des Liberalismus, das in der An-nahme einer selbständigen politischen Sphäre und einer positiven Bedeutung der Öffentlichkeit besteht, tritt bei Scholem nicht in Erscheinung.58 Gerade in

56 So argumentiert Strauss: »Der Liberalismus steht und fällt mit der Unterscheidung zwi-schen Staat und Gesellschaft oder mit der Anerkennung einer durch das Gesetz ge-schützten, aber für das Gesetz unzugänglichen Privatsphäre [...]. So gewiß der liberale Staat seine jüdischen Bürger nicht »diskriminieren« wird, so gewiß ist er konstitutionell nicht fähig und auch nicht willens, die »Diskriminierung« von Juden seitens Einzelner oder Gruppen zu verhindern. Eine Privatsphäre im angegebenen Sinne anzuerkennen bedeutet, private »Diskriminierung« zuzulassen, sie zu schützen und sie so tatsächlich zu befördern.« (Strauss, »Vorwort«, 130 Daher habe die Judenfrage eine besondere Be-deutung für die Erkenntnis der Grenzen des Liberalismus, ja für die moderne politische Philosophie überhaupt (die für Strauss immer liberal sein muß); vgl. dazu auch Anm. 66.

57 Assmann betont, daß das polemische »Machtwon« Scholems als solches unantastbar ist und Schweigen gebiete: »Assimilation ist in Scholems Sicht das Ende des Juden-tums. Über dieses Ende verhängt er Schweigen.« (Assmann, »Einleitung« in: Mosse, Jüdische Intellektuelle, 14) - 1960 schreibt Scholem über das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden: »Das sind Dinge, die so unausdenkbar sind, dass wir heute gar nicht mehr in ihre Tiefe hinabsteigen können.« (Br II , 69) - Auch in Scholems Äuße-rungen über eine mögliche Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen Deutschen und Juden spielt das Schweigen und die Zurückhaltung eine wichtige Rolle, solche Be-ziehungen müßten »im Verborgenen vorbereitet werden« (J II, 46).

58 Daher erscheint auch der Fortschrittsglaube der Liberalen bei Scholem oft als säkula-risierter Messianismus oder doch durch diesen belebt, eine eigene Logik hat er nicht.

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dieser ambivalenten Beziehung zum Politischen ist Scholem ganz ein Kind sei-

ner Zeit: Auch für Scholem darf sich das polit ische Handeln nicht vollständig

von der metapolitischen jüdischen Identität und der Vergangenheit ablösen. Wie

wi r sehen werden, prägt dieses Problem - das schwierige Verhältnis zwischen

polit ischem Handeln und »metapolitischen« Voraussetzungen und Zielen dieses

Handelns - auch noch sein Verständnis des Zionismus.

1.2.2 Zionismus und historische Identität. Scholem wil l sich also nicht als deut-

scher Jude identifizieren, statt dessen sieht er sich von früh auf als Zionist. Es

habe keinen Unterschied gegeben zwischen der Entscheidung, »Jude« oder »Zio-

nist« zu sein, sagt Scholem später in einem Interview (JJC, 4f), Judentum und

Zionismus seien für ihn dasselbe gewesen. Aber was ist dieser Zionismus, und

welche Rolle spielt er für Scholem? Ist er der archimedische (Stand-)Punkt, der

Scholems ganzem Werk zugrunde liegt und an dem sich alle Widersprüche

lösen, wie Ar thur Her tzberg meint?59 Oder ist der Zionismus für Scholem nur

ein politisches Mittel , um eine konkrete Aufgabe zu lösen, nämlich die Bildung

einer modernen säkularen Nat ion, wie David Biale behauptet?60 Ist der Zionis-

mus Scholems (mit Herzberg) als dessen besondere Frömmigkeit zu verstehen,

oder soll er gerade (mit Biale) dazu dienen, die gefährlichen Seiten der Religion

zu bändigen? Die Uneinigkeit der Interpreten ist symptomat isch, denn wi r

Nur an einer Stelle spricht er der liberalen Hoffnung auch etwas »wirklich Echtes« zu, »nämlich das Echte, daß wir der Utopie zuerkennen müssen« (J IV, 253). Für Hertzberg ist der Zionismus der Schlüssel zur Gestalt Scholems, die an Wider-sprüchen so reich sei: »All of these various elements within Scholem were to find their resolution in Zion. Zionism, and not his scholarly studies of the Kabbala, or even the rcdefinition of the whole ofjewish history in the light of those studies, is the center of Scholem's intellectual and inoral cndeavor. The nascent Jewish Community in Palestine was the place within which this latter-day Archimedes chose to stand in order to forge his lever with which to move the world.« (Hertzberg, »G Scholem as a Zionist and as a Believer«, 190). Im Zionismus erfülle sich auch die Religiosität Scholems, die Hertz-berg stark betont, auch seine zugegebenermaßen unheimlichen Forschungsgegenstände ändern für ihn nichts an diesem Bild: »It was a part of the Jewish past; the present was Zionism.« (Ebd., 199)

Biale betont die säkulare Natur von Scholems Nationalismus. »Trotz des Säkularis-mus von Scholems politischer Haltung übersah er nicht die Rolle, die religiösen Motiven im Nationalismus zukommt. Er hielt es für unmöglich, eine nationale Bewegung zu erzeugen, ohne diese vitalen und zugleich gefährlichen Kräfte wachzu-rufen.« (Biale, »G. Scholem und der moderne Nationalismus«, 266) Deutlich ist die Religion hier nur Mittel zum Zweck, nicht mystischer Ort des Zusammenfallens von Gegensätzen: »In diesem Zusammenhang bedeutet »säkular« für Scholem dasselbe wie »Bändigung«: das Umleiten des Mystischen in die pragmatische Anstrengung, eine neue Nation aufzubauen.« (Ebd., 270)

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haben es bei Scholems »Zionismus« offensichtlich mit einem hochgradig idio-synkratischen und vielfältig in sich gebrochenen Privat-Zionismus zu tun, der eine komplizierte Beziehung zum historischen Phänomen des Zionismus hat. Wir werden hier, wie schon in der Frage des Deutsch-Judentums, zunächst an-hand von Scholems rückblickenden Äußerungen den allgemeinen Rahmen und die zentralen Probleme dieses Themenkreises darstellen, in den nächsten Kapi-teln soll dann anhand der Tagebücher die Entwicklung von Scholems jugend-lichem Zionismus nachvollzogen werden.

Wie wir schon angedeutet haben, fungiert der Zionismus in Scholems Auto-biographie vor allem als Gegenpol zum »Selbstbetrug« der Assimilationskultur: Zionist zu werden ist eine moralische Entscheidung für »sich selbst«: »Der rein politische und völkerrechtliche Aspekt der Bewegung war für so viele, die sich ihr anschlössen, nicht ausschlaggebend. Sehr einflußreich waren dagegen Ten-denzen, die auf die Besinnung der Juden auf sich selbst, auf ihre Geschichte und eine mögliche Wiedergeburt geistiger und kultureller, aber auch gesellschaftli-cher Natur gerichtet waren.« (VBJ, 61) Der Zionismus erscheint hier als spezi-fisches Phänomen der jüdischen Identität, nicht als Form eines allgemein vorhandenen europäischen Nationalismus und nicht als Schutz vor Antisemi-tismus. Er ist der Ort des »Juden als Juden«, der mit der Vergangenheit seiner Wurzeln und der Zukunft der »Erneuerung« verbunden ist. Zu der Geschichte, in die sich die Zionisten hier wieder stellen wollen, gehört auch die »religiöse Überlieferung« (ebd.); er selbst, schreibt Scholem, habe sich von vielen anderen Zionisten durch seine »positive Wertung des Religiösen« unterschieden: »Ich war nicht im herkömmlichen Sinne religiös, aber ich träumte von irgendeiner Verbindung des säkularen mit dem religiösen Element« (ebd., 187).

In seinem autobiographischen Rückblick hebt Scholem allerdings auch hervor, daß das Verhältnis der Zionisten zur Geschichte kein einfaches gewesen sei: »Denn von vornherein erzeugte der Widerstreit zwischen dem Streben nach Fort-setzung, Wiederbelebung der traditionellen Gestalt des Judentums und dem be-wußten Aufstand gegen eben diese Tradition, freilich innerhalb des jüdischen Volkstums und nicht durch Entfremdung und Abkehr von ihm, eine dem Zio-nismus zentrale, unentrinnbare Dialektik.« (Ebd., 62) Das Verhältnis des Zionis-mus« zur Geschichte ist demnach durch einen Widerstreit bestimmt, den man immanent nennen kann, insofern er sich auf das Verhältnis zur eigenen Vergan-genheit bezieht. Ganz ähnlich wie bei seiner Beschreibung des »Selbstbetruges« sieht Scholem sich auch hier nicht genötigt, auf politische Bedingungen oder Ideen der Umwelt einzugehen, um die Dynamik der jüdischen Geschichte zu verstehen. Diese immanente »Dialektik zwischen Kontinuität und Revolte« (ebd., 187) liege allerdings keineswegs offen zu Tage und, so Scholem im Rückblick, sie sei ihm in seiner Jugend auch nicht bewußt gewesen, »denn wir sahen den Abgrund noch

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4S DAS POLITISCHE SCHREIBEN

nicht, der sich zwischen den verschiedenen Deutungen solch umfassender Parolen im Versuch, sie zu verwirklichen, auftun würde« (ebd., 188).61 Quer zur Dialektik von Kontinuität und Revolte und diese verdeckend liegt eine andere Dialektik von Parole und Realisierung, also von metapolitischer Erwartung (irgendwie soll die ganze jüdische Kultur erneuert werden) und politischer Umsetzung (eine kon-krete jüdische Gemeinschaft soll in Palästina errichtet werden). Die »Erneuerung« des Judentums kann also nur so lange als widerspruchslos (undialektisch) er-scheinen, wie sie nicht (politisch) realisiert wird, nur als abstrakte »Parole« können die verschiedenen Deutungen - Kontinuität oder Revolte - in ihr nebeneinander bestehen, im konkreten öffentlichen Handeln ist das nicht möglich.

Diesen Gedanken des »Aufbrechens der Widersprüche im Vollzug« werden wir immer wieder als zentral für Scholems historisch-politisches Denken er-kennen; hier dient die doppelte Dialektik dazu, einen komplexen Begriff des Zionismus zu entwerfen. Scholem erbt diese Idee des Zionismus dabei vom »Kulturzionismus« insbesondere Achad Ha'ams, in dessen Entwurf die Span-nung zwischen Politik und Metapolitik bereits angelegt ist.

Achad Ha'am ist einmal als »Gründer einer Tradition des schlechten Gewis-sens und der Opposition innerhalb des Zionismus« bezeichnet worden, denn mit ihm beginnt die kulturzionistische Polemik gegen den »bloß politischen« Zionis-mus.62 Dessen Ziel, die Staatsbildung in Palästina, ist für Achad Ha'am nicht nur unrealistisch, sondern auch sekundär gegenüber der geistigen Frage des Juden-tums. Denn wenn der »Staatsgedanke [...] sich nicht auf die Basis der nationalen

»Losungen wie »Erneuerung des Judentums« oder »Wiederbelebung der Herzen« ver-deckten diese Dialektik nur verbal, die bei jedem Versuch, sie im konkreten Vollzug des Aufbaus einer neuen jüdischen Gemeinschaft mit Inhalt zu erfüllen, aufbrechen mußten und in der Tat die innere Geschichte der zionistischen Bewegung seit meiner Jugend bis zu diesen Tagen weitgehend bestimmt hat, ja noch immer mächtig ist.« (VBJ, 62) - An anderer Stelle schreibt Scholem, im Zionismus sei eine entscheidende Frage »niemals zu klarem Austrag gekommen«: »War der Zionismus eine Revolution im Leben des jüdischen Volkes, ein Aufstand gegen seine Existenz in der Galuth, die er radikal verneinte [...], oder war er vielmehr aus dem Bewußtsein historischer Kon-tinuität zu verstehen, als eine Fortsetzung und Evolution der Kräfte, die die Existenz und Dauer des jüdischen Volkes auch in den langen Zeiten der Zerstreuung bestimmt haben?« 0 D, 59f) Rosenberg, Das Verlorene Land, 132. - Die Position Achad Ha'ams kann dabei ganz gegensätzlich gewertet werden: Avinieri stellt A. H. als Realisten dar, der mit Recht gesehen habe, daß eine Masseneinwanderung ein kaum realisierbares und auch (was das Verhältnis zu den Arabern angeht) gefährliches Ziel sei (Avinieri, The Making of Modem Zionism, 112ff); anders dagegen Bein: »Die Lehre Achad Haams war jedoch zunächst überspitzt formuliert und indem sie Ursachen und Folgen umkehrte und die materielle Judennot als bewegenden Faktor ausschalten wollte, geriet sie in einen cir-culus vitiosus.« (Bein, Die Judenfrage, Bd. I, 281)

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Kultur stützt«, würde letztendlich »der Faden abgeschnitten, der es [das Volk] mit seiner Vergangenheit verbindet, und die historische Basis unter seinen Füßen weggezogen«.63 Für Achad Ha'am ist die Politik nicht nur nicht ausreichend zur kulturellen Erneuerung, sondern gefährdet diese geradezu durch die »symboli-sche Politik«, durch Diplomatie und die großen Gesten der Kongresse: Die all-gemeine Schwäche des Zionismus liege »in jenem verfrühten »Siege« [...] der dem Gedanken durch die Schuld seiner Anhänger zuteil geworden ist. Denn indem sie noch vor der Zeit Großes vollbringen wollten, verließen sie die langwierige Bahn der natürlichen Entwicklung und setzten einen neuen zarten Gedanken in die Wirklichkeit um, noch bevor er gereift war«.64

Allerdings bleibt bei Achad Ha'am unbestimmt, was denn nun der spezifi-sche Inhalt dieser Nationalkultur sein solle bzw. worin denn nun die Besonder-heit der Juden bestehe. Selber ausgesprochener Atheist, lehnt er jedenfalls die religiöse Interpretation des Judentums ab: Nicht die religiöse Auserwählung, sondern nur das »Bewußtsein der ethischen Auserwähltheit« soll das Judentum prägen und seine besondere Stellung in der menschlichen Evolution ausmachen, ohne daß besonders deutlich würde, worin diese Restgröße bestehe.65

In Gestalt dieser »Auserwähltheit« taucht hier das Problem des religiösen Erbes wieder auf: »Der kulturelle Zionismus glaubte einen sicheren mittleren Boden zwischen der Politik (der Machtpolitik) und der göttlichen Offenbarung gefunden zu haben, zwischen dem subkulturellen und dem suprakulturellen, aber ihm fehlte die Strenge beider Extreme.«66 Gerade wenn der religiöse Sub-text der »Kultur« des Kulturzionismus ins Spiel kommt, spitzt sich der Konflik t zwischen dem verfrühten Sieg und dem Ziel, zwischen Metapolitik und Politik aufs äußerste zu.

Auch Scholems eigene Position wird durch diese Spannung bestimmt, auch er lehnt das rein politische Ziel einer »Normalisierung« der Juden ab: »In this respect I am an Achad Ha-amist and religious, but more religious than Achad Ha-am. I don't believe in a world of total secularism in which the religious factor wil l not manifest itself with redoubled strength.« (JJC, 34) Wie wir sehen werden (s.u. Kap. 1.4.3), formuliert Scholem schon Anfang der zwanziger Jahre

63 Achad Ha'am, Am Scheidewege, Bd. II , 19f. 64 Achad Ha'am, a.a.O., Bd. I, 35. 65 Achad Ha'am, a.a.O., Bd. I, 262. - Vgl. dazu die Kriti k von Klatzkin: »Wie kann man

gleichzeitig Gott verneinen und die Auserwähltheit bejahen?« (zit. nach: Rosenberg, Das verlorene Land, 138)

66 Strauss, »Vorwort«, 13. - Strauss« Analyse der Judenfrage und des Zionismus in die-sem Vorwort ist für den metapolitischen Aspekt des Zionismus hochinteressant, kann aber hier aus Platzgründen nicht untersucht werden. Zum Verhältnis Scholems zu Strauss vgl. Smith, »Gershom Scholem and Leo Strauss«.

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seine Position, daß das religiöse Element im Zionismus weder ganz liquidiert werden soll, wie im politischen Zionismus, noch einfach realisiert werden kann. Diese Spannung bestimmt auch seine Enttäuschung über die zionistische Rea-lität in Palästina, sie bricht auch den eigenen Zionismus: Keinesfalls löst dieser für Scholem schon alle Fragen, und die Ankunft in »Zion« ist nicht per se die Ankunft an einem stabilen, »natürlichen« Ort.

Das wird gerade in jenen späteren Äußerungen Scholems deutlich, die sich explizit auf das Problem der jüdischen Identität beziehen. 1970 schreibt Scho-lem in einem Vortrag Who is ajew: »With the return of the Jewish people to its own history and to its own land, Judaism has for the majority of us become an open, living, and undefined organism.« (PM, 93) Die Rückkehr nach Israel löst die Frage der Identität nicht einfach, sondern eröffnet sie erst im eigentlichen Sinne. Denn, wie Scholem weiter ausführt, während in der langen Zeit des Exils die religiöse Definition unangefochten gewesen sei, stehe sie nun neben einer säkularen. Gerade die Rückkehr zum eigenen Ort führt also nicht zu einer Be-ruhigung, sondern macht gerade alles unbestimmt: »With the realization of Zionism, the fountains of the great deep of our historical being have welled up, releasing new forces within us.« (Ebd., 98)

Allerdings basiert dieses Identitätskonzept und die es tragende Vorstellung von Kontinuität und Revolte auf einem Ausschluß und auf einer stillschweigenden Voraussetzung. Ausgeschlossen in Scholems Beschreibung wird das Verhältnis des Zionismus zu Europa. Um dessen Bedeutung zu erkennen und insbesondere den »metapolitischen« Aspekt des Zionismus sichtbar zu machen, darf man die-sen nicht nur teleologisch betrachten als eindeutig in der Staatsgründung Israels kulminierend, sondern muß seine besondere Struktur, Leistung und Verankerung in der jeweiligen Gesellschaft betonen.67 Der moderne Zionismus kann ja gerade

Dieser Perspektivenwechsel ist erst in der neueren Forschung erfolgt. Feisei weist dar-auf hin, daß die Geschichtsschreibung des Zionismus immer palästinozentrisch gewesen sei und zionistischen Erfolg oft am Ausmaß der Alliah gemessen habe, was für die Zeit vor 1948 anachronistisch sei (Feisei, »Criteria and Conception in the Historiography...«, insbes. 298); erst in neuerer Zeit betrachte man auch die lokalen Kontexte. Man müsse hier differenzieren: »If Zionism is defined in clear-cut terms as a political movement leading to the realization of clear-cut political goals - the creation of a Jewish State and the concentration of all Jews there - then one set of evaluative criteria is called for [...]: ideological consistency, extent of aliya, and the size and quality of Organization. If, on the other hand, Zionism is also considered as an expression ofjewish life in the Diaspora, then these well-defined goals are inadequate. If Zionism is not only directed towards a historical goal, but is a continuing process, it requires new evaluative criteria. It has then to be considered as part of the re-definition of modern Jewry, in all places and at all levels.« (Ebd., 312) - Auch Mintz betont die Diversivität des Zionismus und kritisiert den Ausdruck als solchen: »Hasn't the time come to admit that Zionism is a rieh polysemous coneept open to multiple significations - and for that reason a term which acts to

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DAS FELD: DEUTSCHE JUDEN UND ZIONISTEN 51

darum eine Massenbewegung werden, weil er in vielem »europäisch« und »bür-

gerlich« bleibt bzw. hier auf geschickte Weise Kompromisse eingeht.68 Zugleich

kritisiert er »Europa«, allerdings folgt er dabei weitgehend den europäischen Mu-

stern der Kulturkritik , am deutlichsten - und am folgenreichsten - wird das dort,

wo er auch die antisemitischen Angriffe gegen die »Unnatürlichkeit« des jüdischen

Lebens und die »Natürlichkeit« des Antisemitismus übernimmt: »Die Zionisten

wollten Europa verlassen, ohne es abzulehnen, sie wollten die Konsequenzen aus

dem Scheitern der Emanzipation ziehen, ohne damit moralische Vorwürfe zu ver-

binden [...]. Aus diesem Dilemma wurden verschiedene Auswege gesucht. Im

Mit telpunkt stand dabei der Versuch, den Brennpunkt zionistischen Denkens

vom Antisemitismus auf die Negation des Galut zu verlagern.«69 Gerade in der

Generation der Zionisten, zu der Scholem gehört, wird die Verneinung des Exils

zu einem fundamentalen Bestandteil des Zionismus.70

diminish and obscure our understanding of the ideological changes which have actually occurred over the course of a hundred years in the Jewish national movement?« (Mintz, »Work for the Land of Israel ...«, 170) - Berkowitz hat darauf hingewiesen, daß die meisten Geschichten des Zionismus als eine Teleologie der Staatsbildung konzipiert sind, damit aber die Voraussetzung einer gemeinsamen jüdischen Kultur als selbstverständlich unterstellt werde, in Wahrheit sei diese in weiten Teilen gerade vom Zionismus erst wiederhergestellt worden (Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry, 4ff).

Zum deutschen Zionismus vgl. Reinharz, der betont, daß die deutschen Zionisten zunächst in ihrer Ablehnung der Diaspora sehr viel zurückhaltender sind als Herzl (Reinharz, »Ideology and Structure«, 277f), erst 1912 ändert sich das und mit einer neuen Generation von Zionisten setzt ein Radikalisierungsprozeß ein (ebd., 278ff). Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus, 102. - Daher gebe es nicht selten Ähn-lichkeiten zwischen der antisemitischen und der zionistischen Polemik gegen die As-similation (ebd., 96ff); Volkov zitiert eine Äußerung von Talmon: »Herzl glaubte offensichtlich an die Möglichkeit eines Handels mit den Antisemiten [...] Wir werden die überschüssigen Juden aus euren Staaten herauslotsen, und ihr werdet uns dafür hel-fen, ihnen eine Zufluchtsstätte zu suchen und ihren eigenen Staat zu gründen.« (Ebd., 97) - Vgl. Hellige: »Die - vom Gegner erzwungene - Aufgabe der Assimilation verbanden die Zionisten jener ersten Generation nicht zugleich mit der Absage an die gegnerischen Wertvorstellungen, weil sie diese ebenso wie die Kriti k am Judentum selbst verinnerlicht hatten.« (Hellige, »Generationskonflikt...«, 506) Volkov betont die Bedeutung der Verwerfung des Exils in der zweiten Generation der Zionisten, insbesondere bei Klatzkin (Volkov, Jüdisches Leben und Antisemitismus, 104f.). »Dies alles als »pathologischen Selbsthaß« zu klischieren, geht der Hauptfrage aus dem Weg. Die radikale Negation des Galut war entscheidend für die Ideologie des Zionismus, wenn er nicht den Kampf gegen den Antisemitismus zu seinem Hauptan-liegen machen sollte.« (Ebd., 105) - Über die Ideologie der shilat ha-gola (Verneinung des Exils) vgl. Schweid, der einen immanenten Widerspruch hervorhebt »Both the weakening of the positive relationship toward the Jewish heritage through shilat

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Diese Verneinung des Exils ist freilich nur eine Seite. Der Zionismus stellt nicht

nur eine Ideologie, sondern auch eine Kultur dar, die nach Berkowitz die Funk-

tion einer »supplemental nationality« übernimmt: Gerade der deutsche Zionis-

mus sei wirksam als »fabrication of a national culture with which Jews could

identify without setting foot in Palestine«.71 Die staatslosen Zionisten sind völli g

auf die imaginäre Vergesellschaftung durch Kultur angewiesen: Durch Mythen

und Symbole wie die neuen Zionsfahnen, durch partizipative Erfahrungen wie die

Teilnahme an zionistischen Kongressen, durch ein ganzes System von Publika-

tionen und Institutionen kann sich der Einzelne als Teil der jüdischen »Nation« er-

leben, ohne daß er - und das ist entscheidend - die westeuropäische Nationalität

und Kultur aufgeben muß. Auf diese Weise wird die zunächst nur als aufgedrängt

erlebte jüdische Identität auch übernommen.72 Diese symbolische Ebene ist we-

sentlich für die Integrationskraft der zionistischen Bewegung und verhindert, daß

die aus sehr heterogenen Gruppen zusammengesetzte zionistische Bewegung zer-

fällt . Gerade Herzl, dessen politische Vorstellungen nichts spezifisch Jüdisches

ha gola and the weakening of the latter because of a positive attitude toward the historical heritage of the nation have ultimately weakened that strain of Zionism which seeks to effect an overall revolution in the life of the Jewish people, but which draws its strength and motivation from its identification with the Jewish people, its history, and its heritage.« (Schweid, »The Rejection of the Diaspora«, 135) Man müsse hier allerdings auf die inneren Differenzierungen achten: Während etwa Brenner und Berdishewsky der Diaspora keinen Wert einräumen, (ebd., 136ff), lehnen Bialik und Achad Ha'am sie zwar ab, betonen aber gleichzeitig ihren Wert als Erbe (ebd., 147ff); die Erziehung in Israel sei dann aber eher durch jene bestimmt worden (ebd., 155f).

71 Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry, 6. - »Zionist culture did not im-mediately foresee the European Jewish Bourgeoisie as the settlers of Zion, nor did it consistently appcal to them to immigrate in order to solve their own »Jewish Problem«. Nevertheless, Zionism regarded all of its followers as füll members of the Jewish nation. The »vicarious nationalism« that it engendcrcd is quite possibly a uniquc feature of Zionism.« (Ebd., 7) Die Stärke von Berkowitz' Buch ist, daß es diese Entwicklung nicht von vornherein als Verfall oder Kompromiß bewertet. Natürlich habe es immer das Ri-siko der Trivialisierung gegeben. Aber: »The movement had littl e choice but to accept this as a risk.« (Ebd., 189) - Nach Mintz ist der Zionismus in seiner Gegenwartsarbeit wirksamer gewesen als in seinem Aufbau Palästinas: »In other words: it was the Jewish Community that conquered Zionism rather than vice versa. Zionism was absorbed by the Community, acclimated to it, and lowered its sights: now a stunted version of its former seif in regard to final goals, it was nonetheless able to enhance significantly its actual strength.« (Mintz, »Work for the Land of Israel...«, 1640

72 Berkowitz veranschaulicht das besonders am Jüdischen Nationalfond: Die Spende stellt eine niederschwellige Art der Solidarität mit dem Zionismus dar, die darüber hin-aus durch die Nähe zu traditionellen Formen der Wohltätigkeit leicht akzeptabel ist, andererseits wird um den Akt der Spende ein symbolisches Netz aufgebaut, das den bloß profanen Akt zu einer Partizipation an einer nationalen Sache macht, vgl. Ber-kowitz, Zionist Culture and West European Jewry, 180ff.

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haben, fungiert mit seiner charismatischen Erscheinung als Integrationsfigur: Weil es jedem möglich war, seine Ansichten auf Herzl zu projizieren, stellte der idea-lisierte und ständig reproduzierte Herzl einen wichtigen Kohäsionsfaktor des Zionismus dar.73

Die zionistische Kultur ist also keineswegs eine rein jüdische, sondern stellt einen Kompromiß dar; nur solche hybride Kultur kann die metapolitische Lei-stung der Konstitution einer jüdischen Identität im Exil und für das Exil leisten. Das macht deutlich, daß die von Scholem postulierte Dialektik von Kontinuität und Revolte im Verhältnis zur jüdischen Tradition keineswegs die einzige ist -im Zionismus ist sie eher ein Problem, das ständig vertagt wird -, neben oder hinter ihr steht die Dialektik von Eigenem und Fremdem, also des Verhältnisses der jüdischen und der europäischen Kultur. Diese Dialektik wird von Scholem aber stets ausgeblendet: Der Zionismus ist für Scholem rein als innerjüdische Be-wegung verständlich, nicht als europäische Nationalbewegung. Ähnlich wie schon bei Scholems Äußerungen zum deutschen Judentum verdeckt eine postu-lierte immanente Dialektik eine komplexere Dialektik.

Auf der anderen Seite impliziert sein Bild des Zionismus auch eine selbst-verständliche Vorentscheidung: Wenn sich jüdische Identität in der Dialektik von Kontinuität und Revolte bildet, also im Verhältnis zum kulturellen Erbe, so ist sie wesentlich historisch konstituiert und zwar aus der eigenen Geschichte heraus: Das ist alles andere als selbstverständlich, es ist auch möglich, Identität ganz anders zu denken, als einen bestimmten kollektiven Habitus, als persön-liches Engagement oder auch als Bestimmung durch die Anderen. Scholem be-tont die inneren Kräfte, und innere Kräfte sind für ihn immer auch Kräfte der Erinnerung: »Der Druck von außen erzeugt Gegendruck und Zusammenschluß von innen. Wichtiger aber und entscheidender waren die, die Juden sein woll-ten, weil sie in sich selber hineingeschaut und dort ihre Verbundenheit mit ihrer Vergangenheit und nicht weniger mit ihrer Zukunft entdeckt haben« (J II , 48).

Vgl.: »It is almost impossible to overestimate the extent to which the image of Herzl figured in the seif definition of Zionism [...] Theordor Herzl's image helped bridge the gap between secular-national aspiration and Jewish messianism.« (Berkowitz, Zionist Culture and West European Jewry, 135ff) In Herzls Porträt selber, unendlich oft re-produziert, verschmilzt die traditionelle Messiaserwartung mit einem modernen poli-tischen Führer, was wohl nicht prägnanter ausgedrückt werden kann als im geläufigen Witz: Wem der Zionismus seinen Erfolg verdanke? Herzls Bart (vgl. ebd., 137). - Herzl ist Charismatiker par excellence, vgl. etwa die bekannten Aufzeichnungen nach dem ersten Kongreß: »In Basel habe ich den Judenstaat gegründet - [...] der Staat ist wesentlich im Staatswillen des Volkes, ja selbst eines genügend mächtigen Einzelnen (L'Etat, c'est moi, Ludwig XIV ) begründet.« (Herzl, Zionistische Werke, Bd. II, 24.) Charismatische Herrschaft ist immer metapolitisch, weil sie eine politisch nicht ver-fügbare Dimension menschlichen Handelns behauptet.

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Wenn Identität überhaupt eine Identifikation mit einem »wir« bedeutet, dann ist für Scholem dieses >wir< zunächst und in primärer Weise die historische Ge-meinschaft, weniger die unmittelbare Umwelt, von der in seinen Äußerungen zur Identität kaum die Rede ist. Man kann vielleicht noch weiter gehen und sagen, wenn es für Identität ebenfalls wichtig ist, sich gegen ein Anderes oder gegen Andere abzuheben, so wird für Scholem dieses Andere gerade durch die Welt seiner Herkunft, durch das deutsche Judentum, repräsentiert. Seine Iden-tität vollzieht sich durch Abgrenzung vom Verwandten, diese Abgrenzung wie-derum vollzieht sich durch einen »Sprung« in die Vergangenheit, durch Identifizierung mit der historischen Gemeinschaft der Juden.

In dieser historischen Gemeinschaft ist es auch möglich, Jude »im vollen Sinne eines ungebrochenen historischen Bewußtseins« (ebd., 17) zu sein; wie immer dialektisch, ist also auch den modernen Juden ein Verhältnis zum Eigenen mög-lich. Auch diese Möglichkeit ist alles andere als selbstverständlich, wie man sich etwa an Hannah Arendts ganz anderer Interpretation der Judenfrage klarmachen kann: Auch für sie ist nicht der Antisemitismus entscheidend, sondern die Re-aktion der Juden, »das verlogene Leugnen der Existenz des Judenhasses« und der damit verbundene »Realitätsverlust«.74 Allerdings hat es nach ihr damals kei-nen positiven Ausweg gegeben, charakteristisch für die deutsch-jüdischen Intel-lektuellen sei gewesen, »daß sie ins Judentum nicht zurück wollten, nicht zurück wollen konnten, aber nicht weil sie an Fortschritt und damit an automatisches Verschwinden des Judenhasses glaubten oder weil sie zu »assimiliert«, dem Ju-dentum der Herkunft zu entfremdet gewesen wären, sondern weil ihnen alle Tra-ditionen und Kulturen gleich fragwürdig geworden waren.«75 Damit wird die Judenfrage zum Spiegel der Moderne schlechthin, während sie das bei Scholem eben im selben Maße zu sein scheint - sie ist das Problem einer jüdischen Mo-derne, zu deren Verständnis man nicht außerhalb des Judentums stehen muß.

Jedenfalls ist für Scholem der unhintergehbare, ja der einzig mögliche »Stand-ort« als Jude das jüdische Gedächtnis, es ist weit fundamentaler als das Land Israel oder dessen Staatlichkeit und bildet eigentlich erst dessen Basis. Gegen Ende seiner Erinnerungen, als er seine Ankunft in Jerusalem schildert, be-schwört Scholem noch einmal dieses »Geschichtsbewußtsein« (VBJ, 225), das der zionistischen Jugend eigen gewesen sei: »Mit unserer Heimkehr in unsere eigene Geschichte wollten wir, jedenfalls die meisten von uns, sie verändern, aber wir wollten sie nicht verleugnen. [...] Ohne diese »religio«, diese »Bindung« nach rückwärts, war und ist dies Unterfangen aussichtslos, von Anfang an zum Scheitern verurteilt.« (Ebd., 225f)

Arendt, »Walter Benjamin«, 223. Arendt, a.a.O., 227.

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1.3 Revolte und Romantik: Die erste eigene Sprache

Im letzten Kapitel sind die Deutungen, die Scholem seiner eigenen politischen Herkunft gibt, problematisch geworden: Sowohl die Diagnose vom Selbstbetrug der Assimilation als auch der Entwurf einer historischen Dialektik der jüdischen Identität haben ihre Evidenz und Schlichtheit verloren. Es hat sich gezeigt, daß sie auf einem Ausschluß beruhen, und mehrfach drängte sich die Vermutung auf, daß dieser Ausschluß auch, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, die eigene Herkunft und deren Probleme unlesbar macht. Tatsächlich erscheinen diese Probleme in Scho-lems frühen Texten sehr viel deutlicher; dadurch wird sich zeigen, daß die im vor-hergehenden Kapitel analysierte Identitätskonstruktion und -theorie des späten Scholem sich keineswegs natürlich einstellt, sondern nur als Resultat einer Durch-arbeitung verschiedener Identitätsentwürfe verstanden werden kann.

Es ist nicht Sinn der folgenden Überlegungen, die äußere, im engeren Sinne bio-graphische Seite von Scholems Identitätssuche zu rekonstruieren und nachzu-zeichnen, welchen Gruppierungen sich Scholem wann anschließt. Ebenfalls ausgeblendet ist Scholems Beschäftigung mit der jüdischen Tradition, diese soll der nächste Teil anhand von Scholems philosophischen und theologischen Re-flexionen untersuchen. Hier soll dagegen die politische Karriere Scholems, seine Positionierung in den zionistischen Diskursen untersucht werden. Entscheidend dabei ist, wie sich für Scholem eine Weise der Selbstinterpretation, -beschreibung bzw. -inszenierung ausbildet, die ihm dann erlaubt, eine stabile jüdische Position nicht nur aufrechtzuerhalten, sondern auch zum Ausdruck zu bringen. Diese Po-sition bildet sich erst langsam heraus, an seinem Anfang steht eine heftige Revolte gegen sein Elternhaus und dementsprechend auch ein Ethos der Revolte (1.3.1). Um seine weiteren Entwicklungen zu verstehen, muß der historische Kontext die-ses Ethos« dargestellt werden, insbesondere der Identitätsdiskurs Martin Bubers (1.3.2). Eine Weile greift Scholem zu diesem Diskurs, um sich zu artikulieren (1.3.3), bald versucht er aber, ihn durch Radikalisierung zu überbieten (1.3.4). Schließlich führt ihn aber seine Enttäuschung durch Buber dazu, diesen Diskus insgesamt zu verwerfen (1.3.5), das löst eine tiefe Krise aus, deren weitere Ent-wicklung ich im nächsten Kapitel darstellen werde. Nur am Rande kann ich hier auf Scholems Verhältnis zu Benjamin eingehen, auch dieser spielt für den Aufbau von Scholems Identität eine wichtige und nicht immer eindeutige Rolle (1.3.6).

1.3.1 Generationskonflikt und Ethos der Revolte. Scholem hat rückblickend ein-mal gesagt, daß seine jüdische Besinnung »a revolt against the life-style of the run-of-the-mill bourgeoisie to which my family belonged« gewesen sei QJC, 2),

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von diesem Ethos der Revolte und dem damit verbundenen, typischen deutsch-

jüdischen Generationskonfl ikt jener Zeit müssen wi r ausgehen. Weil die Inte-

grat ion der Juden nicht ihren »natürlichen« Verlauf n immt, steht Scholems

Generat ion in einer besonderen Spannung: Von den jüdischen Eltern in die

deutsche Kul tur hineingedrängt, von dieser aber wieder abgestoßen, sucht sie

nach neuen Identitätsangeboten.76 Durch Verschränkung mit dem allgemeinen

Jugendproblem der Jahrhundertwende entsteht hier ein neuer Diskurs mit einer

typischen imaginären Gegenwelt, die den Konfl ik t mit der assimil ierten El-

terngenerat ion verschärft: »Wie noch jede Generat ion revol t ierender Söhne

überspr ingt auch diese von jungen Juden die Lini e der angepaßten Väter, um

sich im tief gestaffelten Hintergrund schon historisch gewordener Generat io-

nen eine Tradition zu suchen, vor deren ehrwürdiger Kulisse die Väter als blasse

Schemen erscheinen müssen.«77 Die Dialektik der Tradit ion entfaltet sich hier

also als Konflik t der Generat ionen.

I n Scholems Entwicklung spielt der äußerst heftige Konflik t mit seinem Vater

eine entscheidende Rolle. O b w o hl hier seitens des Sohnes nicht viel von Am-

bivalenz zu spüren ist, deutet die Vehemenz des Konfl ikt s darauf hin, daß es

Vgl. Schatzker: »Beinahe sämtliche jüdische Sozialisations- und Erziehungsagenturen bezweckten und bewirkten die Sozialisation der jüdischen Jugend in die deutsche Ge-sellschaft und ihre Integration in die deutsche Kultur, während beinahe alle deutschen Sozialisationsagenturen, bewußt oder unbewußt, einen zusätzlichen Sozialisations-prozeß in die entgegengesetzte Richtung bewirkten, der die jüdischen Jugendlichen zum Judentum und zum jüdischen Bewußtsein zurückführte.« (Schatzker, Jüdischegend im zweiten Kaiserreich, 15) - Laut Hellige war in der Wilhelminischen Zeit »ein scharfer Generationskonflikt selbst bei einer »normal« verlaufenden kindlichen Per-sönlichkeitsentwicklung unter dem Druck antijüdischen Ressentiments eher typisch, weil die Opposition gegen den Vater sich in jedem Fall mit der gesellschaftlichen Aus-einandersetzung verschränkte« (Hellige, »Generationskonflikt, Selbsthaß ...«, 478). Mattenklott, »»Nicht durch Kampfesmacht...««, 346. - Mosse betont, daß Scholems Re-volte ganz in der Tradition der jugendbewegten Revolte gegen das bürgerliche Estab-lishment steht: »This bourgeoisie was defined through its life-style and not as a social and political class.« (Mosse, »Scholem as a German Jew«, 119). - Moses stellt in Anleh-nung an die Psychoanalyse besonders die väterliche Autorität in den Mittelpunkt der Analyse: »Die Rebellion der Söhne [...] gewann im Mikrokosmos der jüdischen Familie die Dimension einer wahren Umkehrung der Werte.« (Moses, Der Engel derschichte, 186) Die Söhne, die wieder nach dem Judentum streben, geraten in ein beson-deres Dilemma, wenn sie sich von der Autorität des Vaters abwenden: »Nun beruht aber die Beständigkeit der jüdischen Tradition auf der unantastbaren Macht dieser Autorität: denn eben die Autorität bürgt für Echtheit und unveränderliche Gültigkeit des göttlichen Gesetzes. Es ist also kein Zufall, daß die Freudsche Religionskritik von der Entmystifizierung des Gottesbegriffs als Projektion des Bildes vom Vater und von der Gesetzesauffassung als väterlichem Gebot ausging.« (Ebd., 188) Vgl. auch meinen Aufsatz »Jüdisches Gedächtnis, Mystische Tradition und moderne Literatur«.

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sich hier um mehr als eine normale Adoleszenzkrise handelt, über das Ausmaß, in dem dieser psychologische Faktor hier bestimmend war, läßt sich allerdings lediglich spekulieren, um so mehr, als sich Scholem dazu wenig äußert.78

Allerdings berichtet er in seinen Erinnerungen von einer »fürchterlichen Szene am Mittagstisch«, zu der es im Januar 1917 gekommen sei: Der ältere Bru-der Werner war auf einer kommunistischen Demonstration gegen den Krieg ver-haftet worden; als Gerhard ihn vorsichtig gegen den Vater zu verteidigen versucht, »bekam [dieser] einen Wutanfall. Er hätte nun genug von uns beiden. Sozialismus und Zionismus - alles dasselbe, kriegsgegnerische deutschfeindliche Umtriebe, die er in seinem Haus nicht weiter dulden würde. Er wolle mich nicht weiter sehen.« (VBJ, 92f)

In nuce enthält diese Szene alles: Väter, Söhne, Deutsche, Sozialisten, Zioni-sten. So ist die Reaktion des Vaters mehr als einseitige patriarchale Gewalt in einem herkömmlichen Generationskonflikt, denn man kann wohl davon ausge-hen, daß hier keinesfalls nur der Vater den Sohn angreift. Der Vater ist für den Sohn die Verkörperung des »Selbstbetruges«, dessen Wertesystem er radikal ab-lehnt. Umgekehrt ist auch der Identitätsentwurf des Sohnes für den Vater nicht nur fragwürdig, sondern eigentlich total unverständlich, wie eine andere Erinne-rung Scholems zeigt: »My father had said to me, »Why don't you become a rabbi? If you want Yiddishkeit so much, then become a rabbi and you'll be able to keep busy with Yiddishkeit all your life.« I told him, »I don't want to be a rabbi.« Papa didn't understand what I wanted: Yiddishkeit without anything? I called it Zionism.« (JJC, 10, vgl. VBJ, 71) Auch diese Szene ist charakteristisch: Scholem wil l sich vom Selbstbetrug abwenden, aber er weiß noch gar nicht, wohin er sich wenden soll und um welches Selbst sich die Juden eigentlich betrügen. Gerade hier wird deutlich, daß der Zionismus Scholems, die reine »Jüdischkeit«, noch alles andere als »klar« ist, und vor allem die negative Kraft der Abstoßung hat. »It seemed very rational to me«, schreibt Scholem rückblickend über sein jüdisches Erwachen, »Today I ask myself whether it was really all that rational« (ebd., 7).

Der Stil der Absetzung gegenüber seiner Herkunft, der sich erstmals in der Auseinandersetzung mit seinem Vater manifestiert, setzt sich fort, am beein-druckendsten wohl in der Formel, mit der sich Scholem bereits Herbst 1915 von Europa verabschiedet und vom Weltkrieg distanziert: »Wir wollen die Scheide-linie zwischen Europa und Juda ziehen: »Meine Gedanken sind nicht deine Ge-danken und deine Wege sind nicht meine Wege«.« (T I, 297f) Scholem hat wiederholt geäußert, daß die besonderen Probleme der deutsch-jüdischen Iden-

Auch die Tagebücher und Briefe enthalten wenig Material zum konkreten Verhältnis zum Vater (vgl. immerhin den Traum, der Vater wolle ihn erwürgen, weil er nicht Sol-dat werden will , T I, 213) Biale urteilt vorsichtig: »If there was any source for these [Scholem's] rebellious personality traits, it was his father.« (Biale, Gershom Scholem, 10)

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tität für ihn nie eine Rolle gespielt hätten, so schreibt er etwa im Sommer 1918 an Werner Kraft, »die Auseinandersetzung mit dem Deutschjudentum, die für so viele Juden ein schmerzliches Problem bildet, ist für mich niemals eins ge-wesen [...]. Zu Werten, die ihre Legitimation als Werte erst im deutschen Wesen erhalten, habe ich nie ein Verhältnis gesucht und gefunden.« (Br I, 94)

Diese Distanzierung wird immer apodiktischer, sie löst sich auch von einer diffusen Kulturkritik . Zunächst spricht Scholem ganz im kulturkritischen Idiom von der »Dekadenz« Europas, die er hinter sich lassen wolle;79 1916 wird Europa nicht mehr kritisiert, sondern außen vor gelassen: »Was ist ein Westjude} Der-jenige, in dem die geistigen Ordnungen des Judentums eingestürzt sind bei der Berührung mit »Europa«, vom Juden also gesehen der geistigen Unordnung. Dies Europa also erscheint nicht sichtbar als ein Element des Westjuden, son-dern offenbart sich höchstens immanent in der Lage der Ordnungen, in der ^4rr, wie sie liegen.« (T I, 457) Das Westjudentum »gibt« es also eigentlich gar nicht, es ist keine Mischung, geschweige denn eine Synthese aus Judentum und Eu-ropa, sondern nur eine Ruine des Judentums ohne eine eigene Ordnung, die sich an der »Verwirrung« zeige (ebd.). Das Urteil über Europa ist sozusagen »einge-klammert«, darüber weiß Scholem jetzt nicht einmal mehr etwas zu sagen.80

Scholem hat rückblickend gesagt, in seiner Jugend sei »Verwirrung« sein Lieb-lingswort gewesen > (JJC, 1 lf) , »verwirrt« sind für ihn weniger die Deutschen als die Juden, die sich selbst betrügen. In dieser frühen Phase wird das deutsche Ju-dentum aber weniger mit Argumenten kritisiert als verworfen, d.h. seine ganze Problematik wird als Scheinproblem kategorisiert, von dem man sich einfach abwenden müsse. Von »Verwerfung« zu reden, scheint deshalb angemessen, weil es hier ja auch um den eigenen Ursprung geht, dessen Spuren zu tilgen sind und gegen den eine »Scheidelinie« zu errichten ist.81 Mi t dieser ursprünglichen Tren-

Immer wieder finden sich in Scholems Tagebüchern die Verachtung der »Kulturmen-schen«, des »Zweckgetriebes« der bürgerlichen Welt (T I, 29) und der bürgerlichen Si-cherheit (ebd., 33f). Die Kultur wird als verlogen denunziert, (ebd., 44) und als Übel schlechthin betrachtet: »Dekadenz und Kultur sind Synonyma.« (Ebd., 62) Die Auf-gabe der wahren Zionisten wäre daher, die »Kultur in ihrem anrüchigen Sinne in Eu-ropa zu lassen und dort drüben, wo unsere Herzen sind, ein echtes Volk zu schaffen ohne diesen Lug und Trug« (ebd.). »Für den Deutschen ist möglicherweise Europa keine Unordnung, denn es gibt so etwas wie den deutschen Genius, aber was Europa nun eigentlich ist, das zu entschei-den, wage ich auf keine Weise.« (T I, 458) -Vgl. auch die spätere Äußerung: »Die Frage, worin denn nun in der Tat der Einfluß des Abendlandes auf das Judentum von heute besteht, ist sehr schwierig . Es handelt sich um das Phänomen einer Gespenst-werdung [...] der konkreten Daseinsformen.« (T II, 330) Der Ausdruck »Verwerfung« ist der Lacanianischen Psychoanalyse entnommen, er soll hier aber nur eine besondere Art der Negation bezeichnen, die ihren Gegenstand nicht einfach kritisiert, sondern ihn als nichtexistent behandelt. Die Verwerfung schließt

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nung geht eine große Bestimmtheit einher: »Ich beziehe alles, was ich sehe, aufs

Judentum und betrachte es als solcher. Vielleicht könnte man einen derartigen

Standpunkt einseitig nennen. Ich bin aber nun einmal so.« (T I, 19)

Das Komplement zur Verwerfung der eigenen Herkunft ist das Ethos der Re-

volte, das in Scholems jugendlichen Aufzeichnungen sehr viel deutlicher zum Vor-

schein kommt als in seiner Autobiographie. In einer Tagebucheintragung von 1916

reflektiert Scholem seine bisherige Entwicklung: Zunächst sei das »ganz unbewußt

und ohne deutliche Vorstellung jedenfalls von der tiefsten Bedeutung [geschehen].

Die entscheidende Wendung ist erst bedeutend später, 1914 etwa, gekommen: das

Bekenntnis zur vollständigen Revolution. Aber noch vor dem Krieg.« (Ebd., 376f)

Das Ethos der Revolte prägt die erste Phase von Scholems jüdischer Identitätssu-

che, etwa von 1914-1917, er bezeichnet dieses Ethos auch als anarchistisches.

Schon 1914 schreibt er seinem linkssozialistischen Bruder Werner:

Ihr, das heißt ihr Sozialdemokraten von der marxistischen Seite, habt die feste Überzeugung, daß man 1. den Sozialismus beweisen kann und 2. die Vorausset-zung des S. der Materialismus - historischer und philosophischer - sei. [...] Lieber Werner, ich glaube nicht an die Geschichtsphilosophie - komme sie nun von Hegel (id est Marx) Ranke oder Treitschke, meinetwegen nicht einmal an die negative von Nietzsche. [...] Ich meine, wenn man wirklich etwas mit der Geschichte beweisen könnte, so ist es höchstens der - Anarchismus, sonst nichts. (Br 1,11)

Der Anarchismus, also die Lehre, daß die revolutionäre Tat immer möglich ist,

daß es also eigentlich keine historische »Situation« gibt, ist der Geschichtsphilo-

sophie in der Tat entgegengesetzt. Der Geschichtsphilosoph nimmt ja die Stelle

des Wissenden ein, der die moralische Forderung spöttisch im Namen der »hi-

storischen Notwendigkeiten« abweisen kann. Der Anarchist lehnt sich gerade

dagegen auf, indem er Skeptizismus und Moral gleichzeitig in den Dienst nimmt:

Di e anarchistische freie Tat ist radikal, moralisch und eigentlich unanalysierbar,

etwas aus, das führt zu einer stabilen, selbstverständlichen Welt, die allerdings, am Ort des Ausschlusses, einen »blinden Fleck« hat. - Goetschel spricht m.E. zu Recht von einem »blind spot in the empistemological grounding of his [Scholem's] project«: »Already here we find the curious tension in Scholem berween a profound engagement with historical understanding and its very opposite, a passionate, if not fanatic rejection of certain options for historical action that he only could deem aberrant and perverse.« (Goetschel, »Scholem's Diaries« 80f.) - Die Trennung ist so radikal, daß sie auch die sonst allgegenwärtigen moralischen Probleme auflöst, wie etwa aus einem Brief Scholems an Aaron Heller hervorgeht, der aus Prinzip bei der Musterung nicht lügen will . Für Scho-lem ist das ein Scheinproblem: » Man sollte sich über die Tugendhaftigkeit nicht zu viele Gedanken machen, das heißt: Wäre von unserer eigenen Welt, dem jüdischen Bereich, die Rede, so hättest Du recht. [...] Aber in unserer gegenwärtigen Zeit setzt sich jemand, der handelt, wie Du es wünscht, zu dieser Sache in Beziehung, zu der wir überhaupt keine Beziehung haben, weder eine positive, noch eine negative« (Br I, 110).

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jenseits von taktischen oder auch psychologischen Erwägungen. Wir werden die-sem Anarchismus immer wieder begegnen, er prägt Scholems theologische Re-flexionen, er schlägt sich noch im Vorbehalt des Historikers gegenüber einer Geschichtsphilosophie nieder.82 Für den jungen Scholem kann der Anarchismus zunächst das Ethos der Revolte ausdrücken, mit dem Scholem seiner Umgebung, besonders seinem Elternhaus, entgegentritt, denn die anarchistische Betonung der Empörung als conditio humana hält ein Interpretationsangebot für den Ge-nerationskonflikt bereit; zugleich drückt der Anarchismus auch die Skepsis gegenüber den politischen Institutionen der Älteren aus, gegenüber der »Orga-nisation«, die für Scholem ein »trüber See« ist, »in den der reißende Strom der Idee mündet« (Br I, 5) Trotz alledem reicht der Anarchismus ihm aber nicht aus: »Ich, Gerhard Scholem stehe [...] nicht auf dem Boden des Anarchismus. Weil er die Einheit nicht kennt.« (Ebd., 6) Auch die jugendliche »Revolte« ist keine Lösung: Sie ist zu »oberflächlich«. Schon hier finden sich beide Momente jenes Spannungsverhältnisses, das Scholem selbst im Rückblick die Dialektik von Kontinuität und Revolte genannt hat.

Das wird vollends deutlich im Juni 1915, angesichts eines Vortrages des Nietzscheaners Kurt Hiller, bei dem sich Scholem, Benjamin und Werner Kraft kennenlernen. Hiller fordert das Vergessen der Vergangenheit, die jugend-lich-unbeschwerte Zuwendung zu neuen Ufern. Scholem lehnt diese Auffas-sung ab, sie kenne »keine Polaritäten und Tragödien. [...] Und dabei ist es doch ganz anders. Der Weg der Jugend ist erfüllt mit Abgründen, mit schwersten Ge-gensätzen, die nicht einfach mit Stillschweigen übergangen, sondern in irgend-einer Weise realisiert werden wollen.[...] Es ist keine Lösung des Problems, über den Abgrund hinwegzuspringen: Wir können nicht springen.« (T I, 123) Diese Abgründe zu »realisieren«, ohne jemals die Möglichkeit des Sprunges zu haben, wird immer Aufgabe von Scholems Identität sein, daher wird Scholem auch nie-mals »reiner« Anarchist und sein Anarchismus ist niemals der einfache Stand-punkt, aus dem alles andere folgt, andere Diskurse folgen und amalgamieren sich mit den anarchistischen Entwürfen.

Scholem greift zunächst nach den vorhandenen Diskursen, ohne sich festzu-legen. Man muß dabei die skeptischen, anarchistischen und romantischen Ideen, die Scholem etwa im Brief an seinen Bruder artikuliert, nicht zu genau nehmen und nicht als Protophilosophie interpretieren, der Sinn jener Formulierungen

Zu Scholems Anarchismus vgl. auch VBJ, 60f, insbesondere Landauer hat hier eine wichtige Rolle gespielt. Die Bedeutung des Anarchismus für Scholem wird oft betont (er ist etwa die Leitkategorie von Biale), nicht immer wird ausreichend unterschieden zwischen einer heraklitisch-nietzscheanischen Ontologie, die Scholem vertreten haben soll, und Anarchismus als politisch-moralischer Theorie. Scholem selbst betont die moralische Natur seines Anarchismus, so etwa JJC, 35.

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ist eher, gegenüber dem Bruder eine Stellung zu beziehen bzw. die Differenz zu ihm aussprechbar zu machen. Natürlich bedient sich Scholem dazu einer frem-den Sprache, aber es wäre verfehlt, hier nach besonderen Einflüssen und Über-nahmen zu suchen - für die Worte findet man diese Einflüsse allzuleicht, ob aber wirkliche Konzepte hinter diesen Worten stehen, ist schwer zu entschei-den. »Revolte« und »Einheit« sind Schlagworte, für deren Funktionsweise es ge-rade zentral ist, daß sie nicht allzu scharf gefaßt sind.83 Verständlich sind sie nur als dynamische und politische Ausdrucksweisen, d.h. im Rahmen des Feldes, in dem sie funktionieren. Das Feld, das wir im folgenden exemplarisch analysie-ren werden, bildet gleichzeitig den unmittelbaren Kontext, in dem Scholem zu sprechen beginnt: die deutsch-jüdische Jugendbewegung, insbesondere in ihrem von Martin Buber beeinflußtem Teil.

1.3.2 Die Jugendbewegung und Buber. Wir haben schon gesehen, daß der Gene-rationskonflikt für das Identitätsproblem der »postassimilatorischen« Juden eine besondere Bedeutung hat und neue Rollenangebote verlangt, die zu wesentlichen Teilen von der jüdischen Jugendbewegung zur Verfügung gestellt werden. Das geschieht in scheinbar paradoxer Weise selbst wiederum als kulturelle Assimila-tion, nämlich in Anlehnung an die deutsche Jugendbewegung: Zum letzten Mal findet hier eine Anlehnung des jüdischen Diskurses an den deutschen statt.

Das entscheidende Charakteristikum bereits der deutschen Jugendbewegung ist die Verbindung von Authentizitätsethik mit einer neuen Sozialform. Gerade die weitgehende Entlastung der bürgerlichen Jugendlichen von Alltagshandeln er-möglicht, aus der Ablehnung der atomisierten Gesellschaft auch praktische Kom-promisse zu ziehen und eine neue Sozialform zu entwerfen: den »Bund«, der eine »organische« Vergesellschaftung ohne »mechanische« Demokratie ist, und der von seinen Mitgliedern anders als die bürgerlichen Institutionen totales Engagement fordert.84 Gegen objektive Normen und Kriterien spielt die Jugendbewegung eine

Sehr treffend hat Bourdieu diese Logik der Schlagworte anhand des ideologischen Ge-gensatzes von »Kultur« und »Zivilisation« beschrieben. Eine strenge Rekonstruktion einer »Theorie« über diesen Unterschied würde gerade das wesentliche dieser Unter-scheidung verfehlen: »Sicher ist die Schnittfläche aller möglichen Anwendungen der Opposition von Kultur und Zivilisation so gut wie Null; ungeachtet dessen erlaubt die praktische Beherrschung dieser Unterscheidung [...] in jedem konkreten Fall ebenso unbestimmte, verschwommene wie totale Unterscheidungen hervorzubringen, die sich nie ganz und gar mit denen eines anderen Benutzers decken, aber auch nie vollkom-men verschieden sind und allen Äußerungen einer Zeit jenes Flair von Einheitlichkeit verleihen, das [...] einen wichtigen Bestandteil jeder soziologischen Definition von Zeit-genossenschaft ausmacht.« (Bourdieu, Die politische Ontologw Martin Heideggers, 32) Ich folge hier der Typologie Schatzkers, in: Schatzker, »Martin Buber's influence on the Jewish Youth Movement«, 154-158.

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»innere Wahrheit« aus, die in »Gesinnung« und »Haltung« besteht. Daher lehnt sie

auch die Erziehung als Vermittlung von Wissen ab und setzt auf indirekte Erzie-

hung durch Vorbild und Partizipationserfahrungen. »Jugend« kann dabei selbst ein

wichtiges Schlagwort werden als unkonkrete Beschwörung des Kommenden, »ju-

gendliche« Radikalität wird eine charakteristische Denkform, die sich durch eine

charakteristische »Spannung zwischen unbestimmter totaler Negation und unbe-

stimmter totaler Position« auszeichnet.85

Die jüdische Jugendbewegung kann, wie gesagt, generell als Spiegel der deut-

schen betrachtet werden; allerdings treten dabei auch die Spannungen, die bereits

die deutsche Jugendbewegung prägten, besonders deutl ich zu Tage. Äußerl ich

nimmt die Spannung in dem Maße weiter zu, wie sich gerade in der deutschen Ju-

gendbewegung der Antisemit ismus ausbreitet;86 intern manifestieren sich die

Spannungen an dem aus dem deutschen Kontext übernommenem Kult des Natür-

lichen und Gesunden: Das jüdische Erwachen finde »erst auf einem Umwege statt

[...]. Indem der Einzelne ein natürliches Verhältnis zur Umwelt gewinnt, [...]

indem Sinne, Körperlichkeit, Diesseitigkeit, persönlicher Mut eine größere Be-

deutung für sein Dasein gewinnen, muß sich auch seine Stellung zum Judentum

verschieben.«87 Hier sind alle realen Bedingungen und Konflikt e der jüdischen Si-

tuation zugunsten eines allgemeinen Makels der »Unnatürlichkeit« ausgeblendet.

Lieber, »Kulturkritik der Jahrhundertwende«, 17. -Vgl . auch Schatzker: »In this way the youth movement feil victim to an inexorable dialectic: for a perpetuation of the State of being spiritually moved [...] was bound to reduce the youth movement to absurdity, whereas the translation of the ideals into reality spelled the dissolution of the movement. The span between the two poles of this dialectical process constitutes the history of the various youth movements.« (Schatzker, »Martin Buber's Influence ...«, 158) - Allerdings setzt die massive Politisierung der Jugendbewegung erst nach dem Ersten Weltkrieg ein (vgl. Nipperdey, »Jugend und Politik um 1900«); sie hat aber Vorgänger in der Jugend-kulturbewegung, diese erhebt schon vor dem Ersten Weltkrieg den »Anspruch, daß der bildungsbürgerlichen Jugend ein gesamtgesellschaftlicher Führungsanspruch zu-komme« (Linse, »Die Jugendkulturbewegung«, 124); darin steckt zugleich politisches Bewußtsein des Generationskonflikt und dessen Auflösung in allgemeine Formeln eines »Geistes der Jugend«. (Vgl. Hermann, »Die Jugendkulturbewegung«, 230f). Gerade »weil die Jugendbewegung von »vested interests«, von wirtschaftlichen, poli-tischen und sozialen Zwängen noch nicht völlig eingeschränkt war [...], erhielt ihr Antisemitismus eine Authentizität, die durch bagatellisierende Erklärungen wie Kon-kurrenz, Neid oder Ignoranz nicht vom Tisch gefegt werden konnten.« (Schatzker, Jüdische Jugend, 263) Zum Antisemitismus in der deutschen Jugendbewegung vgl. ebd., 251-66.

Moses Calvary, zitiert nach Schatzker, Jüdische Jugend, 272. - Vgl. auch: »Die Be-schäftigung mit Nietzsche, oder mit Hölderlin vermag uns stärker zu Juden zu ma-chen als die erzwungene Rückkehr zu einem Ritual, an dessen Sinn wir nicht glauben.« (zitiert in: Reinharz, Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 68f)

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Weil aber das Unbehagen angesichts der Folgen dieser Naturverk lärung in

der deutschen Jugendbewegung nach wie vor präsent bleibt, wird die jüdische

Jugendbewegung dazu gedrängt, nach einer spezifisch jüdischen Übersetzung

der Authentizitätsideologie zu suchen, die sie bei Mart in Buber findet.

Bubers Denken kann man als »religiösen Anarchismus« betrachten, der ein

zeittypisches Phänomen der Heterodoxie des deutschen Bi ldungsbürgertums

ist.88 Er verbindet die anarchistische Rhetor ik der Ablehnung des Zwangscha-

rakters des Staates mit der »religiösen« Verurteilung der bürgerlichen Profanität;

damit ist er als »Anarchismus« »freier« als der bürgerl iche Liberalismus, als »reli-

giös« ist er »tiefer« als der kleinbürgerl iche National ismus.

Buber überträgt diese Denkf igur auf die Probleme der jüdischen kulturellen

Revolut ion und schafft damit einen außerordent l ich wirksamen Identitätsdis-

kurs. Dieser betont das persönliche Element, die Judenfrage ist für ihn eigent-

lich eine Frage nach persönlicher Authentizi tät, die mit kulturkri t ischen Topoi

verschmolzen wird: der westl iche Mensch sei kontemplativ, sein Blick zerlege

die Wirklichkeit und ihm »objektiviert sich die Welt als eine Vielheit von Din-

gen«; dem »Orientalen« dagegen - dessen Paradigma eben der Jude sei - »be-

kundet sich die Welt als die schrankenlose Bewegung, die ihn durchdringt« und

zur »Verwirklichung« drängt.89 Bubers Erfolg innerhalb von Zionismus und Ju-

gendbewegung liegt vor allem darin begründet, daß er mittels ausgesprochen

moderner und europäischer Figuren denkt, diese aber zurückproj iz iert in ein

Bereits Max Weber bezeichnet Anarchismus und Syndikalismus als die einzigen Bewe-gungen, die funktional die Rolle der Religion für die europäischen Intellektuellen spielen könnten (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 313f) - Löwy analysiert diesen romantischen Anarchismus, er betont, daß es sich hier vor allem um einen Aufstand gegen einen Lebensstil handelt, gegen die »Bürgerlichkeit«, die mehr mit Nietzsches Phi-listerkritik denn mit Marx' Klassenanalyse aufgefaßt wird (Löwy, Erlösung undpie, 47). - Mendes-Flohrs Analyse hebt die »kritische Einstellung zur bürgerlichen Zivilisation, Abscheu gegenüber dem Wilhelminischen Regime und eine mißtrauisch-distanzierte Haltung zum autoritären Staat und zum Militarismus, eine Abwertung der Politik, eine entschiedene Ablehnung der Romantik und de[n] Glaubefn] an die Macht des Wortes« (Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, 118f). Gerade ihre Distanz zu Staat und Autorität unterscheidet sie damit auch von den Ringerschen »Mandarinen«, allerdings führt das keineswegs zu einer realistischeren Einstellung zur Politik, wie etwa das Beispiel des Forte-Kreises oder später auch des »Geheimen Deutschlands« zeigt. Buber, Der Jude und sein Judentum, 47. - Im »Streben nach Einheit entzünden sich im Juden die schöpferischen Kräfte« (ebd., 23). Dieses Judentum entspricht damit genau den Bedürfnissen der deutschen Situation: »Wenn die Deutschen sich gern als Nation des heroischen Strebens oder als das Volk mit den zwei faustischen Seelen in der Brust sehen, das eben dadurch dazu ausersehen ist, Europa aus den Niederungen der Dekadenz wieder zu sich selber emporzuführen, so waren die Juden für Buber in demselben Maße dazu bestimmt.« (Baioni, Kafka: Literatur und Judentum, 28)

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»Urjudentum«. Vor allem mit seinen chassidischen Schriften gelingt es Buber, diese Ansichten äußerst populär zu machen: Sie treffen die ganz aktuellen Be-dürfnisse seiner Zuhörerschaft gerade durch ihr wohlabgewogenes Maß zwi-schen Exotik und Anpassung an den Zeitgeschmack. Durch die Brill e der deutschen Einheitsmystik erscheint der Chassidismus als pantheistische Welt-frömmigkeit, zugleich individualistisch und gemeinschaftsbezogen, zugleich ar-chaisch und modern, zugleich verständlich und doch dem dekadenten Europa entgegengesetzt. Buber gelingt das, weil er ein außerordentliches sprachliches Talent hat, die Dinge in der Schwebe zu lassen und die wichtigsten zeitgenössi-schen Diskurse zu kombinieren. Das kann man besonders deutlich an der von Buber vertretenen »Erlebnislehre«, die uns als Beispiel für die politische Funk-tion der Theorie bzw. die Logik von Schlagworten dienen soll.

Mi t Bubers >Erlebnislehre< bekommt sein Diskurs philosophische »Weihe« und einen »metaphysischen« Unterbau. Grob gesagt, basiert die neue Metaphysik auf der Annahme, die private Wahrnehmung sei die unmittelbarste und letztlich der Grund der Wahrheit, während jede Verallgemeinerung durch den Begriff diese Unmittelbarkeit nur verfälsche. Bei Buber handelt es sich aber keineswegs um ausschließlich erkenntnistheoretische Reflexionen, »Erlebnis« ist eine überdeter-minierte Figur eines zwar nicht vollständig explizierbaren, aber nichtsdestotrotz prägnanten Ideenkomplexes auch politischer und kulturkritischer Art. Wenn die »Theorie« des Erlebnisses auch zwischen Tautologie und Paradoxie schwankt, wird sie doch eigentlich verständlich einerseits durch das, gegen das sie sich rich-tet und was sie nicht sagt, andererseits durch ihre Konnotationen in den ver-schiedenen Feldern. »Erlebnis« ist negativ bestimmt als das, was in »Betrieb« und Wissenschaft nicht aufgeht, die Erkenntnistheorie ist hier auch Kulturkriti k und Glorifizierung des inkommensurablen Genies; zugleich ist es das Subjektiv-Pri-vate im Gegensatz zum Gesellschaftlichen. Bei Buber gehen, wie Paul Mendes-Flohr gezeigt hat, diese beiden Elemente schließlich eine Verbindung ein mit Georg Simmeis Untersuchung der Formen der Vergesellschaftung.90 Simmel hatte sich bemüht, die Begriffe »subjektiver« und »objektiver« Kultur rein formal zu gebrauchen. Buber hypostasiert die Simmelschen Prinzipien zu wirklichen Entitäten, sie sind nicht mehr Strukturmomente der Gesellschaft, sondern ste-hen sich als die Antagonisten »der Einzelne« und »die Gesellschaft« gegenüber.91

In Von der Mystik zum Dialog (bes. 29-54) arbeitet Mendes-Flohr heraus, wie es vor allem der Kontakt mit Simmel ist, der Buber dazu bringt, seine mystische Einheits-lehre auf die Gesellschaft zu übertragen und schon 1906, als Herausgeber der Schrif-tenreihe Die Gesellschaft, in der auch Simmeis Die Religion erscheint, Ideen über direkte und indirekte Vergesellschaftung zu entwickeln. Besonders deutlich wird das, der Natur von Bubers Interessen entsprechend, bei der Religion. Simmel hatte den rein analytischen Unterschied zwischen der subjektiven

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So kommt es in der Buberschen »Erlebnislehre« zu einer doppel ten U n-

scharfe: Erstens überblendet er epistemologische Ideen über eine privilegierte

innere Wahrnehmung mit politischen Ideen über eine organische Gemeinschaft,

zweitens macht er aus der rein formalen Unterscheidung eine wertmäßig auf-

geladene.92 Das Erlebnis-Disposit iv in Kombinat ion mit Bubers kul turz ioni-

stischen Aktivitäten und dem von ihm entworfenen Neuchassidismus machen

aus Buber den wirkungsmächtigsten Interpreten des deutschen Judentums vor

dem Krieg, insbesondere in der Jugendbewegung findet er große Akzeptanz.93

1.3.3 Sprachversuche und Krisen. Das Vokabular von »Jugend«, »Bewegung«, »Er-

neuerung«, »Erlebnis« ist für Scholems Sprache zunächst konstitutiv, auch er be-

nutzt diese Sprache mit der ihr wesentlichen Unscharfe, wobei es sich m.E. wenig

lohnt, hier die genauen Einzelzeiten zu rekonstruieren: »Jugend« ist hier die Sub-

stanz der »Bewegung« oder umgekehrt, »Bewegung« ist das »Schöpferische«, ist die

Überwindung der Gegensätze, sie ist aber auch mit »Tiefe«, »Mystik«, vor allem

aber mit »Opfer« assoziiert.94 Scholem argumentiert also ganz innerhalb des Dis-

Erlebniskomponente und ihrer kulturellen Form, zwischen »Religiosität« und »Reli-gion« gemacht. Buber übernimmt dieses Begriffspaar und scheinbar auch seine Wech-selbeziehung, verwandelt »Religiosität« aber in eine schaffende Kraft, in das reine und ungebrochene Leben, das gleichzeitig die Quelle aller Religionen und ihr Urbild ist, demgegenüber die konkreten Formen nur abgeschwächte Abbilder sind. Während Re-ligiosität für Simmel »eine unter anderen soziologischen Erscheinungen« ist, stellt sie für Buber »etwas Metaphysisches dar, »ein eigentümliches Verhältnis zum Absoluten«, verkörpert vom biblischen Juden« (Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, 84).

92 Es ist diese latente Normativität, die auch nach der dialogischen Wende Bubers Position prägt, vgl. Mendes-Flohr, Von der Mystik zum Dialog, 135ff: Obwohl Buber seine »Er-lebnislehre« vor allem durch die Kriti k Landauers an ihrem Asthetizismus und Forma-lismus revidiert, gibt er »sein Ziel der »Verwirklichung« nicht auf, nur vom »Erlebnis« als dem maßgeblichen Ort der Verwirklichung ging er ab« (ebd., 150). Daher ist Ich und Du, in dem Bubers Selbstkorrektur am deutlichsten Ausdruck findet »ebensogut wie eine theologische Abhandlung, wofür es meistens genommen wird [...] eine Anleitung zur ethischen Regeneration der Gemeinschaft« (ebd., 14). Vgl. auch Simon: »Aus der »Theo-logie« soweit Bubers religiöses Denken sich überhaupt als solche bezeichnen läßt, ist also eine religiöse Soziologie entsprungen. Religiöse Soziologie, nicht Religionssoziologie« (Simon, »Martin Buber und das deutsche Judentum«, 49). - Man könnte Bubers Den-ken als »Entsublimierung« sprechen: Die Erfahrungen, die Simmel versucht hatte, durch Terminologisierung zu bewältigen, kommen wieder unmittelbar zur Sprache.

93 Schatzker weist darauf hin, daß Bubers Einfluß ganz diffus gewesen sei, nicht durch eine Auseinandersetzung mit Bubers Denken, sondern »through the perpetual repetition of a few fragmentary propositions and watchwords torn out of their context«. (Schatzker, »Martin Buber's Influence«, 153) - Schon Ludwig Strauß hatte Bubers Einfluß mit dem Nietzsches auf das deutsche intellektuelle Klima verglichen (Vgl. ebd., 154).

94 Die Zionisten sind »Menschen der Sehnsucht«, sie versuchen »die Jugend wiederzu-schaffen ihrem Volke und den Fluch zu beschwören, der auf ihm lag« (T I, 47). »Aber

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kurses der Jugendbewegung und der »Erlebnislehre«, das hindert ihn nicht, die Ju-

gendbewegung auch zu kritisieren. Scholem ist schon früh dezidierter Gegner des

Ersten Weltkrieges, er geht so weit, daß er eine illegale Flugschrift, die Blau-Weiße

Brille, herausgibt, die voller heftigster Polemiken gegen die jüdische Jugendbe-

wegung und ihre Kriegsbegeisterung ist. Auch diese Polemiken bedienen sich

aber der Rhetor ik der Jugendbewegung, sie stellen also eine Überbietung dar:

»Wir aber haben keine jüdische Jugendbewegung, sondern eine Bewegungslosig-

keit. Drei Worte, fehlte immer mindestens eins: Jüdische Bewegung ohne Ju-

gend - Jüdische Jugend ohne Bewegung - Jugend Bewegung ohne Judentum.«

(T I, 291) Die jüdische Jugend ist keine »Bewegung«, weil sie nicht radikal ist, die

jüdische Bewegung - der Zionismus - entbehrt der Jugendlichkeit, des Schöpfe-

rischen, und die Jugendbewegung des Jüdischen. Scholem hat zwar eine radikale

Position, aber noch keine eigene Sprache; um sich auszusprechen und sich über

sich selbst klarzuwerden, benutzt er die Sprache der Jugendbewegung. 95

Besonders deutlich wird das dort, wo er seine eigene Rolle imaginiert. Zunächst

ermöglicht die Rede von der »Bewegung« Identifizierung mit einem emphatischen

»Wir«, die man vor allem in seinen frühesten Aufzeichnungen sehen kann.96 Dazu

kommt ein Moment der persönlichen Berufung, das besonders deutlich wird in

einer Reisegedanken betitelten Phantasie aus dem Sommer 1914: Nietzscheani-

nur die Bewegung trägt dauerndes Leben in sich, die große und wahrhaftige Opfer verlangt.« (Ebd., 308f) »Drei Dinge scheinen mir wesentlich zu sein zur Beurteilung des Daseins oder des Standes der Bewegung: »Form«, »Inhalt« und der sie verbindende und zur »Bewegung zusammenschweißende Funke des entscheidenden Ereignisses.« (Ebd., 314f) Vgl. auch schon hier, nach der Lektüre von Bubers Daniel: »Alle »Bewe-gung« ist unterirdische Bewegung.« (Ebd., 160) - Das Erlebnis ist unbeweisbar: »Was wir fühlen, ist unser innerster, eigenster Besitz, es ist unser Erlebnisl Das Erlebnis aber, d.i. das was nicht um uns, sondern in uns sich von Anfang zu Ende abspielt, gehört nicht in den Geltungsbereich des Kausalitätsgesetzes, d.h. kann nicht bewiesen wer-den.« (Br 1,12); vgl. auch T I, 29.

Auch Scholems später in Der Jude veröffentlichte Kriti k folgt zunächst einem ähnli-chen Schema. Der jüdischen Jugendbewegung fehle das entscheidende, was Bewe-gungen überhaupt erst ausmache, nämlich »daß sie sich fortwährend aus dem Strome der Bewegung neugebären« (T I, 513). Das sei bereits ihr Scheitern gewesen, die Tat-sache, »daß unsere Jugend in den entscheidenden Stunden dem Kriege unterlegen ist«, erscheint hier als sekundär, sie ist nur der »letzte und höchste Triumph der Verwir-rung gewesen, und der tiefste Sündenfall, den wir erlebt haben« (ebd.). - Vgl. Mosse: »Scholem's criticism of the Youth Movement [...] was not directed at its general thrust which he shared, but rather at the fact that, in his view, it stopped half-way.« (Mosse, »Scholem as a German Jew«, 120)

So schreibt er etwa im November 1914: »Wir sind die Kommenden, in deren Hände alles gelegt ist. Wir sind die Zukunft. Wir sind ganz anders als die vor uns waren. Wir haben gewählt und keine Kompromisse geschlossen. [...] Weg aus der Bahn, die Neuen kommen.« (T I, 65)

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sehe Topoi von einer Flucht ins Hochgebirge, des Lobes der Einsamkeit und der Ekstase (TI , 34f) werden mit einem »Auftrag« verbunden, denn nicht als Einsamer ist Scholem in den Bergen, sondern hier wil l er Kraft schöpfen, um das »Erlö-sungswerk da unten«, in der Welt des Ghettos, zu vollbringen. »Ich will das Feuer von den Bergen holen, des Mythos Feuer, das der Menschheit Seele. Bei euch droht zu verlöschen es, und dann müßtet ihr sterben. Ich mache diese Reise nicht für mich allein, für zehn Millionen mache ich sie.« (Ebd., 36) Hier ist er also nicht nur einer aus der Gemeinschaft, sondern ihr Mandatar mit messianischen Unter-tönen. Dieser Gedanke, der wohl für einen pubertierenden Jugendlichen nicht allzu selten sein dürfte, hängt aufs Engste zusammen mit der Möglichkeit einer ei-genen Sprache: Als Mythenbringer ist er zugleich auch Dichter: »Ich müßte sel-ber den Mythos der kommenden Wirklichkeiten dichten« (ebd., 138).

Noch klarer wird diese Selbstimagination in einem anderen dichterischen Eintrag von Mai 1915 sichtbar, den Scholem als »neuen Mythos, ein unbewuß-tes Produkt eines dichterischen Zwangs« (ebd., 115) und damit als besonders authentisch charakterisiert. Die ganze Geschichte des Zionismus wird in Bu-berscher Sprache und aus Buberscher Perspektive rekapituliert - und über-schritten, denn nicht in Buber erfüllt sich diese Bewegung, sondern in Scholem selbst: »Der junge Mensch aber ging allein durch die Welt und schaute sich um, wo die Seele seines Volkes auf ihn warte. [...]. Und er wußte tief, daß er der Aus-erwählte war, seines Volkes Seele zu suchen und zu finden, und daß er sich rü-sten müsse, den Weg freizumachen, [...] dazu aber brauchte er des Wissens von den Völkern« (ebd., 120). Hier geht es also um einen heroischen Helden, der zugleich auch schon ein Held des Wissens und sogar der Wissenschaft ist.

Neben solchen Höhenflügen der Phantasie stehen aber auch Zweifel und Skepsis. Skeptische Vorstellungen hatten schon in der anarchistischen Begrün-dung der Revolte eine zentrale Rolle gespielt, die Sprachskepsis Mauthners und der Sensualismus Machs spielen auch weiterhin eine Rolle in Scholems ersten erkenntnistheoretischen Überlegungen.97 Mi t dieser Skepsis geht - anders als

Zur Mauthnerschen Skepsis vgl. vor allem den Text über das »mechanische Weltbild« (T 1,124f; auch ebd., 352ff). Scholem lobt Mach gegenüber dem völlig verständnislo-sen Benjamin (vgl. WB, 40).- Bald entwickeln sich aber auch Vorbehalte: »Ich muß doch gestehen, ich glaube in meinem Herzen doch an die Möglichkeit einer Erkennt-nis« (T 1,138), insbesondere im Zusammenhang seiner Beschäftigung mit Kant treten Mauthner und Mach dann in den Hintergrund. 1919 schreibt er sogar, daß Mauthners Sprachkritik »im Grunde eine höchst raffinierte Ideologie des Journalismus sei [...] die Grundlage jener grundlosen Vertauschbarkeit der Worte [...], die den Journalismus kennzeichnet. Der Journalist rechtfertigt sein Dasein in der Philosophie eben dadurch, daß er mit oder ohne Erfolg nachweist, daß die anderen es keineswegs besser wissen.« (T II, 482f) Trotzdem habe Mauthner etwas an der Sprache erkannt, »ohne es geahnt zu haben: ihre dämonische Seite« (ebd., 483)

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Scholem im Rückblick suggeriert - auch eine Reihe dezidiert atheistischer Be-

kenntnisse einher, die durchaus nicht nur theoretischer Ar t sind, sondern von

Scholem tief und existentiell erlebt werden (dazu s.u. Kap 2.6). Sie modifizie-

ren auch sein Ethos, denn sie machen ihm den eigenen »Auftrag« und die ganze

eigene Posit ion fraglich. So schreibt er im Herbst 1915:

Ich habe manchmal das sehr traurige Gefühl, ein müder Jude und verbrauchter-wovon verbraucht, weiß ich nicht - Mensch zu sein. [...] Ich glaube in dieser Stunde nicht mehr, wie ich es einmal geglaubt habe, daß ich der Messias bin. Es ist traurig: Wenn ich einmal zu der Überzeugung gelangen muß, daß ich auch die Erneue-rung - für mich persönlich - nicht zu bringen vermag, bin ich kein Zionist mehr, jedenfalls nicht mehr, wie ich es als für einen Zionisten notwendig halte. (T 1,157f)

Mi t dem messianischen Anspruch steht auch die Möglichkeit, überhaupt Zionist

zu sein, in Frage. Folgerichtigerweise hat Scholem jetzt auch ganz andere Visio-

nen über die eigene Rolle bzw. über den »Mythos«, den er zu dichten habe: »Was

noch geschrieben werden müßte und auch noch geschrieben werden wird, das

ist der Roman des jungen Menschen, der nach Erez Israel ging und zerbrochen

ist in diesem Lande« (ebd., 195). Nicht die heroische Überwindung aller Wider-

sprüche, sondern das Scheitern ist jetzt paradigmatisch; an anderer Stelle wird

Scholem noch deutlicher: Er habe sich die »Novelle meines Selbstmordes« aus-

gedacht, nämlich »daß ich mich erschieße, weil ich zu der Ansicht komme, daß

die Paradoxie nicht aufzulösen sei, die im Leben des entschlossenen Zionisten

klafft« (ebd., 221).98 Scholems Entwicklung vollzieht sich also nicht so glatt, wie

er es im Rückblick suggeriert, sondern wird von heftigen Krisen begleitet.99

Zionist zu sein, bedeutet jetzt »die Aufopferung des Ichs aus der Unmöglichkeit, selber die Forderung erfüllen zu können, selber ein Sohn der palästinensischen Erde zu wer-den. Die zionistische Tat wäre dann der Selbstmord.« (T I, 226). - Aber Scholem zwei-felt dann auch wieder an dieser eigenen Radikalität: »Die äußerste Linke des Zionismus ist der Kreis der Selbstmörder; und doch scheint es mir zuweilen, als ob grade an die-sem Punkte die Theorie sich als grundfalsch offenbart, von dem alles-Opfern [...] Viel-leicht ist es doch so, daß jeder alles tut, was in seinen Kräften steht, und auch daraus folgen ja Opfer.« (Ebd., 309). Ganz traut Scholem hier der eigenen Logik also noch nicht. - Charakteristisch ist auch, daß Scholem jetzt nicht mehr selbst der Agent ist: »Ich möchte wohl gern, daß es [der zionistische Held] mein Sohn ist, denn ich bin ein Mensch, der seine schönste Wirklichkeit in schweigenden Träumen lebt. In Träumen, von denen noch keiner etwas gehört, und von denen ich niemals reden kann.« (Ebd., 196) Die heftigste Krise ist wohl seine Zeit im Militärhospital, als er Schizophrenie simu-liert, um dem Militärdienst zu entgehen. Über diese Zeit, die Scholem rückblickend als »the six most intense weeks of my life« bezeichnete QJC, 16), hat er sich Zeit sei-nes Lebens und mit voller Absicht ausgeschwiegen (Vgl. T II , 28) Nur Andeutungen aus den Briefen machen deutlich, daß es sich um ein einschneidendes Erlebnis gehan-delt hat: Seine Nerven seien stark zerrüttet (Br I, 69), er habe sein Gleichgewicht ver-loren (ebd., 77), sein Geisteszustand erscheine ihm fragwürdig (ebd., 88), er fühle sich

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1.3.4 >Ideologie< und >Zion<. Bisher haben wi r vor allem das Schwanken Scho-

lems zwischen den verschiedenen Posi t ionen und Id iomen gesehen, ohne daß

dabei schon eine eigene Sprache erkennbar gewesen wäre. Dieses Schwanken ist

allerdings nicht nur Unsicherhei t, sondern gibt ihm auch die Möglichkeit, in

allen Sprachen radikal zu sein, sich in alle Richtungen abzugrenzen. Im Mai

1915 schreibt e r, ihm werde zunehmend klar, »daß ich zwar genug Gedanken,

eigene Gedanken haben, aber diese nicht ohne äußere Veranlassung aus meinem

Speicher herausbringen kann. Ich kann und muß immer gegen jemand sein. Im

Ansch luß an dessen Aussagen ich dann meine Ansicht vortrage. [...] In dem

Sinne, aber nur in dem Sinne ist es richtig, wenn man sagt, mir sei Opposi t ion

ein Lebenselement.« (T I, 108) Gerade um etwas sagen zu können, geht Scho-

lem in Opposi t ion: Sein radikaler Ton ist daher auch Ausdruck des Bedürfnis-

ses nach einer eigenen Posit ion und einer eigenen Sprache. »Radikal« wil l

Scholem selbst zur Sprache kommen, das zeigt sich an vielen Äußerungen,

deren auffälligster Zug gerade ihre Unverständl ichkeit ist. Aus seinen Briefen

und Art ikeln werden seine Zeitgenossen kaum klug geworden sein, und zwar

nicht nur deshalb, weil hier eine extreme Posit ion vertreten wird, sondern

weil Scholem ein äußerst idiosynkratisches Vokabular benutzt und sein Argu-

mentat ionsaufwand oft in keinem Verhältnis steht zum an sich durchaus

verständlichen pragmatischen Ziel.100 Offensichtlich wil l er hier auch für sich

selber einen Sprachgebrauch erproben und als legitim durchsetzen. N o ch 1919

schreibt er an Buber, daß er »noch nicht den Mut habe, etwas drucken zu las-

sen, bevor ich nicht mit einer unmißverständl ichen Terminologie ankommen

kann« (Br I, 204).

Ein solcher Sprachversuch ist eine Zeit lang, vor allem im Jahr 1916, das Pro-

jekt der »Ideologie« und die Rede von »Zion«, die explizit als Art ikulation der ei-

genen Posit ion eingeführt wird: »Reden soll die Ideologie zu denen, die den

Zionismus als Forderung irgendwann und irgendwo in sich gefunden haben als

etwas Fertiges, Nichtvermitteltes, und die nun nach der Struktur und dem Recht

entsetzlich (ebd., 96). Kaum ist er vom Militärdienst freigestellt, betont Scholem al-lerdings, daß die eigene Krankheit Lüge (ebd., 99) und die Entlassung aus dem Mi -litär der Sieg seiner geistigen Anstrengungen war (ebd., 93). So schreibt Scholem selbst, »daß die Besonderheit meiner Sprache die Gefahr in sich trägt [...] jemanden im schlechten, nicht willkommenen Sinne elend zu machen.« (Br 1,166) - Die Unverständlichkeit Scholems spiegelt sich in den Reaktionen seiner Freunde: Werner Kraft schreibt, er habe das Gefühl, »als ob wir über einen Abgrund zu einander sprechen« (ebd., 91), Heller schreibt ihm 1919, er habe jetzt gemerkt, »dass ich nichts von dem, was du sprachst, verstanden hatte« (ebd., 190), worauf Scholem ihm mit einer langen Ausführung zu beweisen versucht, daß Verständnis hier auch aus prinzipiellen Gründen unmöglich gewesen sei und er es daher auch gar nicht versucht habe (ebd., 196ff).

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70 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

ihrer Sache fragen.« (T1,299)1 01 Mi t der eigenen Sprache beginnt Scholem auch,

sich von der Position Bubers zu distanzieren. »Die Jugend hat keine Ideologie,

die das ausspräche, was sie erkannt hat. Das, was sie erlebt hat, hat Buber gesagt,

aber nicht dies andere. Und Ideologie ist eben Erkennen. Es läßt sich keine Ideo-

logie des Zionismus auf Erlebnis aufbauen. Habe dies früher selber gedacht, habe

aber Meinung geändert. Erkenntnis muß sein.« (Ebd., 199) Vor allem legitimiert

die »Ideologie« das zionistische Sprechen, d.h. auch das eigene Sprechen, sie be-

hauptet, daß »das Schreien eine notwendige Epoche sei, bevor man an die Nur-

Arbeit geht« (T I, 368).102

Di e Gegenstände der niemals wirkl ic h ausformul ierten Ideologie sind die

zentralen Probleme des Kulturzionismus: das Verhältnis zur Überl ieferung, die

soziale Verantwortung gegenüber den Mitjuden, die kulturkrit ische Stellung zu

Europa (vgl. ebd., 199). Für alle Probleme ist die letzte Lösung »Zion«, worunter

allerdings sehr Verschiedenes fällt: nicht nur der »Sinn der jüdischen Ge-

schichte«, sondern auch die »Idee der Mystik«; und ein »religiöses Symbol« für

»den jüdischen, nicht von christl ichen Dingen angefressenen Begriff der Er lö-

sung« (ebd., 341 ff) . >Zion< saugt alle Begriffe auf, in Scholems Darlegungen er-

scheint es eher als Ort denn als An twort auf eine best immte Frage, es sei der

»Standpunkt [...], von dem aus man die entscheidende Einsicht gewinnen kann«

(ebd., 341). Tatsächlich ist »Zion« hier weniger ein Begriff als eine Markierung des

eigenen Ortes: »Zion« ist da, wo Scholem spricht. Später, als seine Zweifel ge-

Dabei soll die Betonung der Theorie keineswegs dem (typisch jugendbewegten) »rei-nen« Handeln entgegengestellt werden: Die Notwendigkeit der Ideologie steht neben der Notwendigkeit der Tat, es ist die reine Theorie, die zur reinen Praxis in einem komplementären, nicht kausalen Verhältnis steht: »Die Ideologie hat mit der Tat ein durchaus inkommensurables Verhältnis: sie läßt sich beliebig nahe an die Tat, an die Forderung der Tat heranbringen, aber sie erreicht sie nie ganz. Die Tat soll nicht mit der Ideologie in das Verhältnis von Ursache und Wirkung gestellt werden oder um-gekehrt, und es kann gar nicht oft genug betont werden, daß die Erkenntnis nicht dazu da ist, daß ihr eine Tat folge, sondern um ihrer selbst willen.« (T I, 300f) Später fordert Scholem den »Mut zur reinen Theorie - und dementsprechend auch den Mut reinen Handelns. Indem diese beiden Sphären dauernd aufs fürchterlichste zusam-mengemengt werden, entsteht die unreine pragmatische Theorie« (T II , 185). - Diese Figur der »Entmischung« von Theorie und Praxis mag von Benjamin angeregt sein (vgl. T I, 176), sie spielt auch später in Scholems politischer Theorie eine wichtige Rolle, dazu s.u. Kap. 1.4.3.

Damit schützt sie vor dem Dilemma des Radikalismus, nämlich vor der Gefahr (nebst der des Selbstmordes), in Schweigen zu verfallen. Gegen Julie Schächters Einwand, es werde im allgemeinen zuviel geredet (Br I, 340), wendet Scholem ein: »Die einzig vollkommene Konsequenz Ihres Standpunktes, der eine Ideologie nicht vor der Tat zuläßt (Zionist-werden ist, wie schon gesagt, keine Tat), wäre das absolute Schwei-gen, bis Sie in Erez Israel sind, was auch Ihnen unsinnig erscheinen wird.« (Br I, 23)

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REVOLTE UND ROMANTIK: DIE ERSTE EIGENE SPRACHE 71

genüber der zionistischen Politik zunehmen, überlegt Scholem auch, ob man nicht unter Umständen gezwungen werden könnte, Palästina wieder zu verlassen, dann müsse man eben »in »Zion« Zionist sein« (Br I, 137).103

Zunächst verschwinden die Probleme des Kulturzionismus, wenn man sie von »Zion« aus betrachtet: In >Zion< wird sich ein freier Umgang mit der Tradition ergeben, die sozialen Probleme werden gelöst werden durch eine »Synthese« zwischen tiefem Sozialismus und Aristokratie, durch eine »Durchdringung revolutionärsten Geistes mit tiefster Ehrfurcht und stärkster Empfindung für Würde« (T I, 344): »Alles übrige wird sich in zr"x [erez israet] schöpferisch finden, dort wird neugeschaffen werden, was an Schönheit nur irgend erreichbar ist, dort werden neue Symbole erstehen.« (Ebd.) Die »Ideologie« artikuliert hier das »messianische Ethos« Scholems: Er ist erfüllt von der Sehnsucht nach einer kommenden Erneuerung, die alle Widersprüche löst, in dieser Erneuerung wird er vielleicht eine besondere Rolle spielen (dazu s.o. EIN

LEITUNG). Alles ist noch fließend, Scholem hat keine besonders konkreten Erwartungen und keine Theorie des Messianischen, die erst ab Mitte 1916 entsteht, um ganz andere Themen kreist, vor allem um das Verhältnis zur Tradition, und eher apokalyptisch ausgerichtet ist. Vorher spielt konkretes Gedankengut keine besondere Rolle, >messianisch< ist vor allem die jugendliche Radikalität, die das Äußerste wil l und die Vorstellung einer endgültigen Aufhebung der Gegensätze.104

»Zion« ist aber nicht nur der Ort der zusammenfallenden Gegensätze, sondern impliziert auch Negation; von vorneherein benutzt Scholem »Zion« auch polemisch: »Berlin [d. h. der politische Zionismus], das ist die Ideologie der Politiker, der Taktiker, der Fälscher; Heppenheim [d. h. der Kulturzionismus Bubers], das ist die Ideologie der Verwirrung; Zion, das ist die unsere, die Ideologie

Vgl.: »Der rein nationale Begriff des Judentums führt nach "7xnö' |TK [erez israet] als letztem Ziel, der wahrhaft zionistische Begriff aber führt nach Zion, das in einer innerlichen Verknüpfung mit '"s [Abk. f. erez israet] gedacht wird. Ich würde nicht nach ö' px [Abk. f. erez Israet] gehen, wenn ich nicht nach Zion wollte.« (T I, 403). Später notiert Scholem dann: »Wenn ich einmal wissen werde, was der Zionismus ist, werde ich aus Palästina wohl wieder weggehen. Aber wohin? Diese Frage liegt so tief, daß kein Zionist von heute sie versteht.« (T II , 180). Der »Messias« so gut wie »Zion« ist ein absoluter Begriff (dazu s.u. Kap. 2.1), der sich gar nicht anders sagen läßt und sich allen Umsetzungen und Übersetzungen gegenüber querstellt: »Das ist mein positives Judentum, daß ich den Symbolen tatsächlich reellen Inhalt geben will , daß mir der Messias Messias ist und nicht nur die sozialistische Gesellschaftsordnung, daß mir Zion Zion ist und nicht nur ein Name für palästinensische Ackerbaukolonien. Wie natürlich gehört das alles dazu, aber das Ganze ist mehr, ist nicht durch irgendein Synonym ersetzbar, sondern nur durch den einen Ausdruck sagbar.« (T I, 364)

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des Dogmatismus, der Wahrheit, des einen notwendigen Standpunktes. Berlin fordert Zion aus Gründen, Heppenheim aus Erlebnissen und Sehnsüchten, Zion fordert sich selbst.« (Ebd., 342) Sogar Scholem selbst überkommt hier ein Zweifel, ob es sich hier nicht um eine bloße Rhetorik der Selbstaffirmation handelt: »Von wo aus wird Zion gefordert? von sich selber aus! Ist das nicht beinahe Unsinn! Ach nein, es ist der einzig richtige Ausdruck für unsere Meinung.« (Ebd.) Gerade diese Polemik stabilisiert die eigene Position: Je öfter Scholem sich als »Zionist« den anderen Halbzionisten entgegensetzt, desto plausibler wird ihm das, was zuerst nur eine Tautologie zu sein scheint.105

Die neue Sprache ermöglicht Scholem auch eine neue Kriti k an der Jugendbewegung: Neben der bekannten Kriti k an deren mangelnder Radikalität taucht im Frühling 1917 der Vorwurf auf, der Jugend fehle die »Ganzheit«.106 »Ganzheit« wird dabei nicht, wie man erwarten könnte, als Totalität von Verschiedenem bzw. als Vermittlung des Besonderen gedacht, sondern ihr Wesenzug liegt im Ausschluß des Unwesentlichen: Scholem wil l gerade keine »Vielseitigkeit«, sondern »Mut zur Beschränkung«, er wil l keine »Synthesen«, sondern »Dogmen« (ebd., 516); vor allem verurteilt er die »Versuche, nach allen Seiten zu schielen« (ebd., 322).107 Auf Bubers Bemerkung, das sei ja nur eine negative Kritik, reagiert Scholem in bezeichnender Weise: »Nun deutlicher kann man doch sein Unverständnis nicht äußern, denn was soll hier heißen, daß mein Aufsatz »rein negativ« ist? Einmal ist er es nicht, denn von Zion aus zu kritisieren, das ist die positivste Kritik , die denkbar ist, und zum zweiten ist daran nicht der Verfasser, sondern die Jugend schuld, in der von Zion nichts ist.« (Ebd., 456) Der »Zionismus« ist hier auch eine Immunisierungsstrategie: Hat man erst einmal den

Aber die Tautologie macht Scholem immer noch zu schaffen und zwar im Verhältnis zur Orthodoxie. »Der schwierigste Punkt hier ist, was die Thora ist, und hierüber bin ich noch durchaus nicht im klaren, so daß ich sagen könnte, die Thora sei die Thora. Denn sonst könnte man meinen, es sei damit die Orthodoxie auf den Thron gesetzt, was ich nicht beabsichtige und weswegen mir gerade die Thora Schwierigkeiten macht, so klar ich die Sache auch fühle.« (T I, 364f) Dieses sehr komplexe Verhältnis zur Orthodoxie werden wir im nächsten Teil erörtern. Die Ganzheit ist von Benjamins Das Leben der Studenten angeregt (vgl. T I, 321), auch bei Benjamin bezeichnet die »Totalität«, welche die Studenten zu erringen haben, vor allem die Freiheit von solchen Tätigkeiten, die sie nicht im innersten berühren würden, wie etwa Sozialarbeit. Diese negativ als »Unverwirrtheit« definierte »Ganzheit« steht auch bezeichnenderweise wieder im Zentrum einer Phantasie über Scholems eigene Rolle, nämlich, »daß man auf einen Grabstein möge schreiben können, ohne zu lügen: Er war sein Name oder Nin rvn IQÖ [schmo haja hu], das heißt: er war Scholem, das ist ganz [schalem= vollständig, unversehrt, ganz], er hat seinen Namen gelebt, ganz und ungeteilt zu sein. Woraus resultiert: Wer ganz ist oder sein will , kann nicht verwirrt sein oder sein wollen.« (T I, 327)

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REVOLTE UND ROMANTIK: DI E ERSTE EIGENE SPRACHE 73

rechten Standpunkt in »Zion« eingenommen, kann einen keine kritische Rück-

frage mehr treffen. Ganz im Gegenteil beginnt Scholem nun seinerseits, Buber

zu kritisieren.

1.3.5 Distanzierung von Buber. Wir haben schon gesehen, daß Buber in einer be-

stimmten Phase eine zentrale Rolle für die Herausbi ldung von Scholems politi -

scher Sprache spielt. Aber auch darüber hinaus ist Buber für Scholem bedeutsam:

Buber ist und bleibt der eigentliche Ant ipode, ohne den Scholems Schreiben

nicht zu verstehen ist. Vielleicht ist die Metapher des »Einflusses« hier doch auf-

schlußreich, wenn sie mit Harold Bloom nicht als Weitergabe von Ideengut, son-

dern als dramatisches Geschehen, als ambivalentes Verhältnis zum eigenen

Vorgänger, als Umgang mit einer zentralen Ambivalenz gedacht wird.108 Dabei

macht man es sich zu leicht, wenn man hier zwei »Weltanschauungen« einfach ne-

beneinander stellt - es handelt sich vielmehr um einen Kampf um den Platz des

legitimen Sprechers des Judentums.1 09

Für Bloom konstituiert sich dichterische Identität, indem die Vorgänger überwunden werden: »Mit »dichterischem Einfluß« meine ich nicht die Transmission von Ideen und Bildern von früheren zu späteren Dichtern [...]. Doch der Standpunkt eines Dichters, sein Wort, seine imaginative Identität, sein ganzes Wesen müssen für ihn etwas Ein-zigartiges sein und bleiben, oder er wird als Dichter untergehen [...]. Aber dieser fun-damentale Standpunkt ist auch der seines Vorgängers« (Bloom, Einflußangst, 64). Blooms agonistische Poetik basiert auf einem Konzept von Legitimität als Priorität, das seinen romantischen Ursprung so wenig verleugnet wie seine Anlehnung an eine mit Scholems Augen gelesene Kabbala als Theorie einer nachträglichen Legitimität: (Poetische) Tradition ist die Geschichte einer (Offenbarungs-)Urszene und ihrer Fol-gen. Damit kann Bloom auch die performativen, selbstinstituierenden Momente der Diskurse hervorheben; das wird besonders deutlich in der Theorie des revisionären Fehllesens: »Poetischer Einfluß vollzieht sich [...] immer durch die Fehllektüre des früheren Dichters, durch einen Akt der kreativen Korrektur, die wirklich und not-wendig eine Fehlinterpretation ist.« (Ebd., 30) Allerdings neigt Bloom dazu, dieses Verhältnis monumentalistisch als Geschehen zwischen »großen Männern« zu hy-postasieren; ich werde daher hier seine Theorie auch nur mit Vorsicht und Zurück-haltung anwenden.

Das Buch von Davidovics, Gershom Scholem und Martin Buber bleibt leider beim Re-ferat der inhaltlichen Positionen stehen und übersieht die fundamentale Divergenz der beiden Projekte. Es ist aber vereinfachend, von »zwei menschlichefn] Grundtypen« (Weltsch, »Gershom Scholem«, 532) - oder gar von Symbolen »für die Kräfte des Le-bens und die Kräfte der Erkenntnis« (Davidovics, a.a.O., 158)! - auszugehen, oder Buber mit Hinweis auf die Grenzen von Scholems »objectivist history« (Silberstein, Martin Buber's Social and Religious Thought, 70) zu verteidigen. Eine solche Argu-mentation unterschätzt nicht nur die Schärfe des Konflikts, sondern lebt auch von einer naiven Trennung von Wissenschaft und Philosophie. - Dagegen betont Hama-cher die reaktive Natur von Scholems Ablehnung, sie interpretiert sie »als eine Art Be-wältigungsversuch jener kurzen aber intensiven Zeit, da er selbst zu denen gehörte,

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74 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Auslösend für Scholems Distanzierung von Buber ist zunächst dessen posi-tive Haltung zum Ersten Weltkrieg. Für Scholem erscheint Buber daher etwa im Sommer 1916 als ein »Abtrünniger«, der »sich verloren hat, der da meint, für das Judentum zu streiten, wenn er deutsche Eichen pflanzt. Buber fehlt die Ma-thematik]« (Ebd., 362) Auch gegenüber der Erlebnislehre und Bubers Deutung des Chassidismus wird Scholem zunehmend mißtrauischer. Zugleich bleibt er von Buber auch beeindruckt: Dieser sei eben »Nur-Jude; er schwankt absolut und gar nicht« (ebd., 203), schreibt Scholem nach der ersten persönlichen Be-gegnung Ende 1915, die ihn »halb von Ironie und Spott durchschüttelt und halb von freudiger Anerkennung« hinterläßt (ebd., 201).

Die zunehmende Skepsis führt Scholem in eine tiefe Krise. Ende 1914 schreibt er über seine »Zweifel an der Mystik und an Martin Bubers Judentumsauffas-sung«: »Ich bin in schwerer Not, denn es schwinden mir alle Stützpunkte unter den Füßen« (Ebd., 72, vgl. auch 91f). Buber verkörpert das Judentum, aber es ist doch auch etwas falsch daran, was Scholem noch nicht zu fassen bekommt: »Je mehr wert Buber ist, desto rücksichtsloser muß gegen ihn gestritten werden, wenn er Zion verrät, je lieber wir ihn auf unserer Seite sähen, desto schärfer muß er verurteilt werden, wenn er Seitensprünge einer unerlaubten Mystik macht.« (Ebd., 362) Diese Ambivalenz wird in den nächsten Jahren »durchgearbeitet«, die Auseinanderssetzung mit Buber wird dabei wichtig für die Identitätskonstitu-tion: »An Buber habe ich in diesem Jahr nicht viel gedacht«, schreibt er drei Jahre später, »in den früheren Jahren war die Auseinandersetzung mit ihm ein dau-ernder und mich beschäftigender Akt. Jetzt ist dies nun endlich erledigt. Buber ist mir jetzt nur noch (freilich unschätzbares) Paradigma.« (T II , 430)uo

Die Kriti k an Buber richtet sich vor allem gegen die Erlebnislehre: Scholem wil l jetzt »Ordnung« und »Klarheit«, daher ist es gerade der vormals begrüßte »verschmelzende«, die Widersprüche »überwindende« Charakter des Erlebnis-ses, der ihm suspekt wird: »Das Erlebnis ist keine geistige Ordnung [...]. In dem Begriff des Erlebnisses nämlich, wie er jetzt als mystisch beweiskräftige

die der »stillen Einsamkeit heiliger Ekstase« [T I, 34] huldigten« (Hamacher, Gershom Scholem und die allgemeine Religionsgeschichte, 14). - Vgl. dazu auch Shapira über das ambivalente Verhältnis Scholems zu Buber; Shapira überliefert Scholems Aus-spruch: »While Buber did not hear the [Divine] voice, he did hear a Bat-kol [eine himmlische Stimme in der rabbinischen Tradition, der aber keine bindende Gewalt zukommt, vgl. Scholem Gb, 103f].« Shapira kommentiert: »Only about Buber could he have said such a thing.« (Shapira, »The Dialectics of Continuity and Revolt«, XVI) Noch 1967 beschreibt Scholem diese Ambivalenz in einem Brief an Grete Schaeder: »In meinen jungen Jahren habe ich nicht wenig über Buber geschrieben, aber nie etwas davon publiziert - manche seiner Schriften haben mich geradezu aus dem Häu-schen gebracht, aber zugleich war mir der Wert von Bubers Erscheinung so hoch, daß ich meiner Kriti k mißtraute.« (Br II, 184f)

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REVOLTE UND ROMANTIK: DIE ERSTE EIGENE SPRACHE 75

Zauberformel angewandt wird, lagern antinomische Schichten auf- und inein-ander.« (T I, 507) Dabei richtet sich die Kriti k Scholems nicht gegen die Er-kenntnistheorie, sondern gegen die »Moral« des Erlebnisses: »Erlebnis und Zauber sind im letzten Grunde identisch. Wer denkt bei Buber nicht an einen Zauberer?« (T II , 201)111 Scholems Kriti k ist nicht argumentativ, sondern >fi-gurativ«, auch deshalb, weil Scholem Buber doch auch nicht vollkommen ver-werfen wil l und kann, denn einen anderen Standpunkt hat er in dieser Zeit noch nicht zur Verfügung. Denn es sei das »Furchtbare an Buber [...], daß er die Wahr-heit irgendwie habe, aber sie falsch habe; man kann Buber nicht widerlegen, son-dern nur überwinden, wie ich ihn überwunden habe« (T1,387). Die Erlebnislehre zu überwinden, heißt daher nicht, sie kritisch zu destruieren, sondern ihre »Kraft« anzuerkennen, indem man sie rhetorisch verschiebt: »Erlebnis« wird jetzt für Scholem der Zentralbegriff einer dämonischen Gegenwelt, die Scholem mit einem kabbalistischen Ausdruck als »Welt des Tohu« bezeichnet (ebd., 507).112

Der »Zauberer« Buber hat also für Scholem durchaus Größe und letzte Be-deutung - anders als etwa Lehmann oder Wyneken - aber diese Bedeutung ist »verdreht« und »verkehrt«. Während etwa Benjamin Buber einfach für einen schlechten Romantiker hält, ist Scholem viel ambivalenter: »Immer wieder muß ich sagen: Buber ist irgendwie im Letzten verborgen, aber er ist im Letzten. Das ist natürlich doppelt so entsetzlich, aber doch auch doppelt so groß wie die Flachheiten und Nicht-Irrtümer (nicht Wahrheiten!) der anderen vielen. Buber ist ein Irrlehrer, aber ein Lehrer, einer der etwas von der Lehre hat.« (Ebd., 388) Diese Formulierung vom »Irrlehrer« taucht immer wieder auf, sie bezeichnet präzise das Verhältnis Scholems zu Buber: Dieser verkörpert etwas für Scholem Zentrales und kann nicht einfach banalisiert oder destruiert werden, gerade des-halb muß Scholems Abwehr gegen ihn besonders heftig sein. Im Sommer 1917

111 Später macht Scholem hier allerdings einen Unterschied: »Erlebnis ist noch schlim-mer als Zauber. Zauber ist dämonisch, Erlebnis gespenstisch.« (T II , 304)Gerade die Unentschiedenheit, ob hier ein Unterschied bestehe oder nicht, zeigt die figurative Natur der Kritik . Bei der Sprache der »Gegenwelt« (»Erlebnis«, »Zauber«, »Mythos«, »Gespenst«, »Dämon« u.a.) handelt es sich um ein Wortfeld, aus dem je nach Wert-intention mehr das (gespenstisch) Unwirkliche oder das (dämonisch) Tiefe betont werden kann. - »Philosophisch« wird die Kriti k erst, nachdem Scholem die Psycho-logismus-Kritik Cohens gelesen hat; diese erlaubt es dann auch, das »undefinierbare« Erlebnis als »pantheistisch« zu verwerfen (vgl. etwa T II , 219) dazu s.u. Kap. 2.2.

112 Diese Gegenwelt kann »Mythos« heißen, auch dieser Begriff wird jetzt umgewertet; er ist nicht mehr die identitätsstiftende Rede, die Scholem in den Reisegedanken vor-her »von den Bergen« bringen wollte, sondern ist zu überwinden. So spricht Scholem an anderer Stelle davon, der Messias würde eines Tages die Befreiung von Magie und Mythos bringen: »Mit den Vorarbeiten hat er Buber beauftragt, der freilich ein un-getreuer Knecht in dem geworden ist, daß er die Wertung umgekehrt hat.« (ebd., 450)

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schreibt Scholem schließlich an Werner Kraft, »dass Buber das Anti jüdische

schlechthin ist. Wie kommen Sie nur darauf, in ihm den Repräsentanten des Jü-

dischen zu sehen, dessen wesentlichste Ordnungen ihm zuwider sind oder von

ihm verschwiegen werden.« (Br I, 93f) Buber ist zum »Antijuden«, ja sogar zum

»Teuflischen« (ebd., 94) geworden - während andere um die Ordnungen nicht

wissen, verschweigt Buber sie. Es handelt sich nicht um die Verwerfung, mit der

sich Scholem gegen seine deutsch-jüdische Herkunft abgrenzte, sondern um

eine andere Form der Negation, die man als Dämonisierung bezeichnen kann.113

Escha Bergmann, Scholems erste Frau, erinnert sich 1959, Scholem habe »den

»Schreck seines Lebens« durch Buber bekommen und weil er nicht in die Art ver-

fallen wolle, in welcher Buber spricht, schweigt er.«114 Die Gestalt Bubers ist nicht

nur für den jungen Scholem ein negativer Orientierungspunkt und als solcher zen-

tral für die Bildung eines eigenen Ethos. Sie stellt mehr dar als eine Warnung oder

ein negatives Beispiel unter anderen, sondern hat einen megativen Einfluß< >in<

Scholems Schreiben. Entscheidend ist dabei die Ambivalenz Scholems gegenüber

Buber. Der Schreck des Lebens rührt ja erstens nicht daher, daß irgend jemand in

»Geschwätz« verfällt, sondern daß es gerade der »Nur-Jude« Buber tut. Offen-

sichtlich reicht der bloße Entschluß zum Zionismus alleine nicht aus, um der Ver-

wirrung zu entgehen; offensichtlich braucht es noch andere Sicherungen, die

Scholem zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennt: Gerade weil er noch keinen an-

deren Begriff vom Judentum hat, stellt für ihn der »AntiJude« Buber eine letztlich

unanalysierbare Verkörperung der »Verwirrung« dar, ein mächtiges Gegenbild.

Der Schreck über Buber ist zweitens auch ein Erschrecken vor sich selbst,

denn es ist ja immerhin die eigene Sprache, gegen die Scholem sich hier auch

auflehnt. Die Überwindung Bubers ist damit auch die Überw indung der eige-

nen Herkunft; dabei geht es ja nicht nur um die biographische Phase der Buber-

113 Als »Dämonisierung« bezeichnet Bloom die vierte revisionäre Ratio; in ihr macht sich der Nachfolger vom Vorgänger frei, indem er dessen Individualität auf ein größeres, allgemeineres Prinzip zurückführt (vgl. Bloom, Einflußangst, 87ff): Es ist nicht Buber, mit dem Scholem zu kämpfen hat, sondern mit dem Mythos schlechthin. Zum Dämonischen als Kategorie s.u. Kap. 3.7.2.

114 So überliefert Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. II , 308. - Der Gegensatz von »Buber« und »Schweigen« findet sich zuerst in einem Brief von September 1917 (Br I, 121 ff) und in Aufzeichnungen vom Oktober desselben Jahres (T II , 71ff): Buber scheine »das Schweigen nicht ertragen zu können: es muß alles aufgesetzt werden, glossiert, verdanielt, verwirklicht.« (Br I, 122) Vgl. auch die »dämonisierende« Er-klärung: »Buber ist unglücklich. Ihn hat im entsetzlichsten Sinn die gefallene Spra-che verführt. Die phantasieloseste Abstraktion, das theorieloseste Geschwätz, der resonanzloseste Mystizismus konnten sich keine bessere Residenz erwählen, als den lebenden Leichnam eines Menschen, der über das Erlebnis seiner eigenen Bedeutung gestolpert ist.« (ebd.) Zur zentralen Rolle des Schweigens in Scholems »asketischem Ethos« s.u. Kap. 1.4.2.

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REVOLTE UND ROMANTIK: DIE ERSTE EIGENE SPRACHE 77

Begeisterung, sondern um eine Möglichkeitsbedingung der eigenen jüdischen Identität. Gibt es überhaupt eine andere Weise, das Judentum zu erneuern als die der jüdischen Romantik?

Weil die Gefahr Bubers durchaus eine innere ist, kann sein »Einfluß« auch nicht in einem einzigen Schritt überwunden und abgeworfen werden. Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist die Bildung des eigenen Ethos nur auf komplizierten Umwegen möglich.

Aber der »Einfluß« geht tiefer: Scholem ist niemals gewillt, das »Letzte«, in dem Buber »irgendwie« sei, diesem einfach zu überlassen und sich auf seine Wis-senschaft zu begrenzen oder zu leugnen, daß es dieses »Letzte« überhaupt gebe. Gleichzeitig mit der Distanzierung von Buber wird auch ein Angriff auf dessen Position geführt, man kann mit einer gewissen Übertreibung sagen, daß das ganze Werk Scholems daran orientiert ist, die Position Bubers »unmöglich zu machen« und gleichzeitig dessen Position einzunehmen.

Diese Intention Scholems, Buber gleichzeitig zu verdrängen und zu beerben, prägt noch die Kontroverse mit Buber in den sechziger Jahren.115 Scholem übt dabei nicht nur Kriti k an Bubers fehlender philologischer Solidität, sondern trägt auch eine Revision des Buberschen Geschichtsbildes vor. Für Buber war der Chassidismus authentisch und bedeutsam, für die Kabbala hat er dagegen nicht besonders viel Sympathie, und berücksichtigt sie nur, indem er sie auf den Chas-sidismus als ihren »Höhepunkt« bezieht.116 Scholems revidiert das in doppelter Hinsicht: Zum einen gehört der Chassidismus eigentlich in die Entwicklungs-

115 Diese Kontroverse kann ich hier nur andeuten, vgl. dazu den Literaturbericht in: Ha-macher, Gershom Scholem und die allgemeine Religionsgeschichte, 11 -21. - Grözin-ger (»Gershom Scholems Darstellung des Hasidismus«) zeigt sehr gut die Entwicklung in Scholems Auffassung des Chassidismus: »Hat sich Scholem unter dem Einfluß der zunächst von ihm bedingt bejahten Hasidismusarbeiten Bubers durch konsequente Einbeziehung des Hasidismus in die Geschichte der Kabbala ent-zogen [...], so ist er doch andererseits gerade durch sie zunehmend wieder dahin ge-langt, dem Hasidismus seine originelle Eigenständigkeit [...] wieder zuzubilligen.« (ebd., 124) Letzteres kann aber erst in dem Moment geschehen, als Scholem eine an-dere, eigene Interpretation des Chassidismus entwickelt hat.

116 Laut Davidovics (Gershom Scholem und Martin Buber, 94) merkt man deutlich die Abneigung Bubers gegen die Esoterik der Kabbala. Man kann das etwa an Bubers Text »Jüdische Mystik« sehen, der zwar in vielem Scholems Modell vorwegnimmt -der Lurianismus als erster Höhepunkt der jüdischen Mystik, der Sabbatianismus als »Entladung der unbekannten Volkskräfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirklichkeit der Volksseele« (Buber, Werke, Bd. III , 14) -, aber all das sind für Buber nur »Vorläufer der letzten und höchsten Entwicklung der jüdischen Mystik, des um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen Chassidismus, der sich zugleich fort-setzte und widerlegte. Der Chassidismus ist die Ethos gewordene Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, ist nicht Askese, sondern Freude in Gott.« (ebd., 15)

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78 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

lini e der Kabbala und kann nicht getrennt von ihr betrachtet werden - daher ist

er auch keineswegs antignostisch wie Buber meint - , zum anderen ist er nicht ihr

Zielpunkt sondern ihr Aus- und Nachklang.117 Es scheint fast, als wolle Scho-

lem Bubers Entwurf eines »neuen Judentums« - die weltzugewandte Frömmig-

keit des Chassidismus - ersetzen durch seinen Entwurf der Kabbala, verstanden

als jüdische Gnosis, in die der Chassidismus integriert werden könne.

Noch deutlicher wird die Dynamik dieses Konfliktes dort, wo Scholem sich

explizit auf Buber bezieht: Einerseits betont er stets die bahnbrechende Leistung

des Älteren in der Aufdeckung der mystischen und mythischen Dimensionen des

Judentums - »Wir alle sind in irgend einem Sinne seine Schüler« (J I, 168) -, an-

dererseits heißt es am Ende der Kriti k an Bubers Auffassung des Chassidismus,

um diesen zu verstehen, »werden wir wohl noch einmal von vorne beginnen müs-

sen« (ebd., 202).!18 Buber habe etwas gesehen und die »Anregung, die er damit

gegeben hat, ist noch heute wirksam, wenn auch unter anderen Perspektiven«

7 Schon 1921 hatte Scholem Buber geschrieben, daß dieser die theoretische Seite des Chassidismus vernachlässige, paradoxerweise geschieht das unter Bubers Prämisse, der Chassidismus sei »Ethos gewordene Kabbala«. Aber diese »Entschematisierung des Mysteriums« sei »eine nicht ganz untheoretische Tat« und müsse in der Logik der Ge-schichte der Kabbala begriffen werde (Scholem in: Buber, Briefwechsel, Bd. II , 87). 1935 schreibt er dann: »Jenes »Nicht Kabbalistische« in den Lehren des alten Chassi-dismus existiert nämlich gar nicht, es ist ein Phantasieprodukt einiger moderner For-scher, die die kabbalistische Literatur nicht kennen.« (Scholem, »Rezension von Ysander«) - Die Stellung des Chassidismus zeigt sich besonders an der Darstellung in Die jüdische Mystik: Der Chassidismus führt einerseits nach dem Höhepunkt der Lu-rianischen Kabbala und der dramatischen Explosion des Sabbatianismus zurück zur Vermischung der Mystik mit Magie, die an den Anfängen der Kabbala stand (JM, 383); zweitens ist der Zadikismus wie der Frankismus nur ein irrationaler Kult der Macht (ebd., 370). - Der Chassidismus erscheint weniger als Verwandlung der Kabbala denn als ihr Ausläufer, der zwar den Messianismus neutralisiert, aber die gnostische Grun-danschauung übernimmt; letzteres betont Scholem gerade gegen Bubers »existentiali-stische« Interpretation, vgl. J I, 193ff.

8 Laut Bergmann sagt Scholem noch bei seiner Emeritierung, er wäre ohne Buber nie-mals zur Kabbala gekommen (Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. II , 495). -Scholems Aufsätze über Buber wimmeln aber geradezu von konsekutiven Äußerun-gen, Scholem selbst spricht von einem »Moment der Kritik , das von wahrer Einsicht in Bubers Leistung unablöslich ist« (J II , 135). Er beginnt mit dem »Faktum« der »fast völligefn] Einflußlosigkeit Bubers in der jüdischen Welt, die seltsam mit seiner Anerkennung bei NichtJuden kontrastiert« (ebd., 135), und endet mit der »bitteren Ironie [...], daß er, der Philosoph des Dialogs, nicht erreicht hat, in einen Dialog mit seinem eigenen Volke einzutreten« (ebd., 191). - In der gesamten Kontroverse ist sich Scholem deutlich bewußt, daß es um die Autorität Bubers geht: Buber spreche über dem Chassidismus mit einer »Stimme [...], die Autorität beansprucht« (J I, 174), aber er »beansprucht [...] eine Autorität, die wir ihm nicht einräumen können« (ebd., 179).

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REVOLTE UND ROMANTIK: DIE ERSTE EIGENE SPRACHE 79

Q 11,157) - nämlich bei Scholem. Scholem erhebt hier gegenüber Buber den An-spruch, dessen Einsichten »nach Hause« zu bringen, d.h. erst eigentlich legitim zu machen, ihn also zu beerben und zu korrigieren. Man hat dabei oft von einem »gewollten Mißverständnis des Buberschen Werkes« durch Scholem gesprochen, das darin besteht, Bubers philosophischen Entwurf mit rein historischen Fragen zu konfrontieren.119 Das macht den revisionären Impuls Scholems allerdings nur noch deutlicher auffällig: Er muß Buber nun endlich einmal zu fassen bekommen und ihm gegenüber eine Stellung gewinnen, deshalb nimmt er auch in Kauf, Buber nicht nur gegen dessen Intentionen zu lesen, sondern das auch in einer teil-weise äußerst verletzenden Weise zu tun.120 In dieser Vehemenz liegt m.E. beides: der Anspruch des Erben, aber auch die Notwendigkeit, den »Einfluß« zu bewäl-tigen. Gegen den Vorwurf, er habe Buber unnötig hart behandelt, schreibt Scho-lem : »Schließlich war ja der Schock, den Buber mir versetzt hat, durchaus nicht kleiner als der, den ich ihm zugefügt habe, und in diesem Zusammenhang muss ich sagen, daß die von ihnen beklagte Schärfe meiner Kriti k an seiner chassidi-schen Botschaft das Mildeste war, was ich mir habe abringen können.« (Br II , 184)

Scholems Verhältnis zu Buber ist durch einen beständigen Kampf um Auto-rität und Identität geprägt, um die Repräsentation seiner selbst und um die legi-time Sprache. Er muß dem Vorgänger, dem »Vater« die Sprache entreißen, aber weil sie doch vom Vorgänger stammt, bleibt immer eine entscheidende Ambi-valenz und eine Arbeit, die nicht abgeschlossen werden kann. Denn auch wenn die legitime Sprache erworben ist, ist es unmöglich, den »Vater« einfach zu ver-nichten; er muß »umgeschrieben« werden, d.h. einen Platz in der neuen Ordnung finden: sei es als dämonischer Zauberer, sei es als der, der nicht weit genug ge-gangen ist. Wie immer handelt es sich für den, der unter »Einfluß« steht, um eine bedrohte Identität, um eine schwierige Grenze, von der sich der Nachfolger in keine Richtung zu weit entfernen darf, um nicht entweder mit dem Vorgänger zusammenzufallen oder ganz bar aller Legitimität dazustehen. Diese ambivalente Identifizierung wird noch deutlicher in Scholems Verhältnis zu Benjamin.

1.3.6 Exkurs: Scholem und Benjamin. Scholem hat Benjamin in seinem Buch über diesen und in seinen Erinnerungen eine zentrale Rolle in seinem Leben einge-räumt. Das bezieht sich keineswegs nur auf den intellektuellen Austausch, auch

119 Davidovics, Gershom Scholem und Martin Buber, 105f. - Nach Grete Schaeder habe Buber sich gefragt: »Wie ist es möglich, daß er mich nicht versteht!« (Nach Br I, 303)

120 Verletzend mußten dabei v.a. Scholems Wiedergabe von privaten Äußerungen Bu-bers sein: Buber habe den chassidischen Ausspruch, die messianische Welt sei eine ohne Gleichnisse, nicht zitiert, weil er jene nicht verstehe (J I, 206); auf Scholems Ein-wände habe Buber geantwortet, wenn das wahr wäre, sei ja sein ganzes Lebenswerk nichts wert (J II, 186).

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80 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

als Person hat Benjamin eine wichtige Funkt ion als imaginärer Gefährte, das ist

insofern bemerkenswert, als für den jungen Benjamin weder sein Judentum noch

gar der Zionismus auch nur annähernd so zentral sind wie für Scholem.121 Trotz-

dem erscheint Benjamin für Scholem bereits früh als die Verkörperung der jüdi-

schen Substanz: »Dieser Mensch war kein Zionist und kam vielleicht erst durch

mich zum Judentum, aber er war das Wunder, das in jedem Geschlecht nur ein-

mal da ist: In ihm sprach sich das Tiefste, das absolute Judentum aus, ohne daß er

nur eine Ahnung davon hatte.« (T II , 54)

Es wäre eine ganz eigene Arbeit nötig, um das Verhältnis von Scholem und

Benjamin insgesamt darzustellen, jene Gemeinsamkeit der Einsamen, die selber

auf einer kompl iz ierten Taktik und Rollenvertei lung beruht.1 22 Auf Benjamin

wil l ich hier nur insofern eingehen, als die Entwick lung Scholems kaum

verständlich ist, ohne in Betracht zu ziehen, daß es 1917/18 zwischen ihm und

Benjamin zu einer tiefen Krise kommt. Dabei geht es mir weniger um die Re-

konstrukt ion der Krise als solcher - diese heikle Arbeit am Schlüsselloch kön-

nen künftige Forscher erledigen, wenn sie wollen - , sondern um die Weise, in

der Scholem diesen Konflik t verarbeitet.

Für Scholem gewinnt die Beziehung zu Benjamin vor allem nach der Distan-

zierung von Buber an Bedeutung: Beide machen zu dem Zei tpunkt einen

schmerzl ichen Distanzierungsprozeß von persönl ichen Vorbi ldern - also von

Buber bzw. Wyneken - durch, beide haben ihre vorherige Posit ion verloren und

versuchen, eine neue zu gewinnen, vor allem für Scholem ist dabei Benjamin eine

Zeitlang eine wichtige Stütze. Besonders der Brief, den Scholem im Dezember

Scholem hat von Anfang an als bemerkenswert empfunden, daß er »zu dem Nicht-zionisten und Nichtmathcmatiker Benjamin« gehen müsse, um sich auszusprechen (T I, 273). - Ich kann mich hier nicht mit der Frage des »Jüdischen« bei Benjamin aus-einandersetzen. Das würde nicht nur verlangen, sich von Scholems Darstellung von Benjamins Judentum zu lösen, sondern müßte auch gegenüber Scholems Charakte-risierung des Judentums insgesamt kritische Distanz wahren, denn jene ist natürlich gerade an die Gestalt Benjamins angepaßt. Überhaupt ist »das Jüdische« in Bezug auf Benjamin m.E. eine äußerst gefährliche Kategorie, weil sie heute allzuoft als Phrase, als letzter, geheimnisvoller Erklärungsgrund benutzt wird. Benjamin sei eben ein »jü-discher Denker« - dieser Satz verbirgt mehr Probleme als er löst. Die prekäre Freundschaft samt ihren Strategien und Taktiken hat Wohlfahrt bereits gut herausgearbeitet (Wohlfahrt, »»Die eigene, bis zum Verschwinden reife Einsam-keit««); seine Darstellung ist allerdings deutlich aus der Perspektive Benjamins gese-hen, sie geht kaum auf die besonderen Probleme Scholems ein, der daher recht blaß bleibt. - Andere Darstellungen des Verhältnisses (Alter, Necessary Angels; Handel-man, Fragments of Redemption) sind geblendet durch die große Übereinstimmung in den Formulierungen Scholems und Benjamins und präsentieren nur deren inhalt-liche Übereinstimmungen, gehen aber nicht auf die »Taktik« der Freundschaft ein, die diese Gemeinsamkeit erst möglich macht.

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REVOLTE UND ROMANTIK: DI E ERSTE EIGENE SPRACHE 81

1917, in einer heftigen persönlichen Krise, von Benjamin erhält (vgl. VBJ, 118),

hinterläßt einen tiefen Eindruck:

Diese zehn Zeilen machen mein Leben gesund. [...] Ich bin ja gut, o Gott, und meine Seele ist noch nicht von dir verworfen. Es war ein Irrtum meiner schweren Stunden, das zu glauben [...]. Denn welche Bedrängnis kann mein Herz nun fin-den, wo dieses geschehen ist, wo mir Gott selber durch den Mund seines treuesten Propheten Mut hat erwecken lassen. (T II , 91 )123

Der Brief weckt bei Scholem außerordent l iche Erwar tungen, bei denen auch

Benjamins Frau Dora eine wichtige Rolle spielt. Ausdruck dessen ist ein schnell

anwachsender Briefwechsel, in dem allerdings, so Scholem rückblickend, »die

Leidenschaften, die mich bewegten [...], und von Seiten Benjamins die Probleme

seiner Existenz« ausgeklammert worden seien (WB, 69). Schon hier verläuft die

Kommunika t ion vor allem über Sachliches, obwohl Scholems Erwar tungen

weit darüber hinausgehen.

Das Zusammentreffen in der Schweiz, das diese Erwartungen mit der Realität

konfrontiert, führt daher zu einer tiefen Enttäuschung von Benjamins Person,

deren deutliche Spuren man sogar in Scholems nachträglichem Bericht noch fin-

den kann.124 Im Rückblick der Autobiographie versucht Scholem, den Konflik t

zu verstehen und betont auch, daß Benjamins Amoral nichts mit Zynismus zu

tun gehabt habe, es habe sich eher um einen »moralischen Anarchismus« gehan-

delt, den er ähnlich wie die eigene Person beschreibt.125 Die Tagebücher sind hier

In Scholems Reaktion wird auch die religiöse Bedeutung deutlich: »Gäbe es bis heute in mir noch einen Zweifel, daß Gott ist, jetzt könnte ich nicht mehr zweifeln, ich habe ja Gott erkannt. Dir danke ich es, Freund.« (T II , 91) Allerdings hält diese Hoch-stimmung nicht lange vor, drei Wochen später überwiegen schon wieder die Zweifel (vgl. ebd., 94f), auch Benjamin spielt in der nächsten Zeit keine zentrale Rolle in Scholems Aufzeichnungen. In seinem Bericht in WB arbeitet Scholem sehr viel Material aus den Tagebüchern ein, das die Krise bereits andeutet, kommentiert dieses Material aber äußerst sparsam, so daß viel im Dunkeln bleibt. Es scheint einen Konflik t zwischen Ehrlichkeit und Dis-kretion zu geben, besonders deutlich wird das dort, wo Scholem die Briefe von und an »Stefan« zitiert (WB, 88ff, 94ff). In der Weise, wie Scholem hier jeweils anschließt -ohne klärenden Kommentar! -, zeigen sich die Konflikte ebenso wie die Probleme, die Scholem mit der Darstellung hat. Scholem porträtiert Benjamin in seiner Unbedingtheit der Betonung des Geistigen als einen »Schriftgelehrten, der in eine andere Welt verschlagen und auf der Suche nach seiner »Schrift« ist« (WB, 70), also mit denselben Kategorien religiöser Herkunft, mit denen er auch sich selbst später bezeichnet. Benjamins »Dekadenz« sei eigentlich ein Anarchismus gewesen, denn die moralischen Werte hätten für ihn »nur in der Le-benssphäre, die er um sich aufgebaut hatte, und in der geistigen Welt« gegolten, »sie zersetzten sie dialektisch, wo es sich um ihre konkretere Beziehung auf ihre Leben-sumstände handelte« (ebd., 71).

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sehr viel heftiger und heben die Enttäuschung deutlicher hervor: Dora und Wal-ter Benjamin würden beide zu viel lügen (T II , 23 lf) , vor allem Doras Leben sei »verlogener noch als meines, jawohll« (ebd., 262). Er kritisiert die Lebens-führung des Ehepaars und deren Rücksicht auf Konventionen, Walter erscheint Scholem als »dekadent« (TII , 268) und wird sogar mit Buber verglichen (ebd.). Fast trotzig schreibt Scholem, auch Benjamin habe »eine Menge illegitimer Er-kenntnisse« (ebd.). Schließlich ist Scholem angewidert von den recht turbulen-ten Szenen der Ehe Benjamin, das Paar ist wiederum gestört von Scholems offensichtlich oft recht moralistischem Auftreten.

Aus all diesen Gründen kommt es immer wieder zu heftigen Auseinanderset-zungen, die Scholem tief erschüttern. Schon nach einem Monat schreibt er, sein Leben »konvergiert auf den Selbstmord«, und »noch niemals« habe er »mit sol-cher Intensität und Nähe an den Tod gedacht, an den Freitod« (ebd., 225). Statt die erwartete Hilf e zu bringen, machen die Benjamins alles noch schlimmer: »Sie treiben mich buchstäblich in den Tod [...]. Es gibt Augenblicke [...], wo ich sie für vollkommen unedle Menschen halte, in ihrem Verhältnis dem Alltag gegenüber besonders. Das tötet mich.« (Ebd.) Zwar gibt es auch immer wieder Versöhnun-gen, letztendlich nimmt aber die Distanz zu, Scholem nimmt seine Hoffnungen und Erwartungen an Benjamin zurück und distanziert sich zusehends: Benjamin habe »keine Ahnung [...], was mich eigentlich zu all diesem treibt« (ebd., 425) und befinde sich »in dem schrecklichen Irrtum, meine und seine Lebensart seien die-selbe und meine Leugnung dieses Sachverhaltes sei Koketterie« (ebd., 448).

Den Konflikten, die man hier erkennt, liegen nicht einfach verschiedene Temperamente oder gar das Eheleben der Benjamins zugrunde, sondern auch eine grundsätzlich verschiedene Orientierung: Benjamin ist viel mehr an geisti-gen und ästhetischen Phänomenen um ihrer selbst willen interessiert, Politik als Thema beginnt ihn gerade erst wieder zu interessieren. Scholem ist dagegen viel mehr mit (Meta-)Politik beschäftigt, für ihn ist die Frage nach der Lebensform entscheidend, offensichtlich ist er auch ganz vom Gedanken der moralischen Authentizität erfüllt. Die von ihm erstrebte innere Ordnung des Lebens findet er bei Benjamin entgegen seiner Erwartung gerade nicht: dieser sei »kein ge-rechter Mensch« (ebd., 230) und ihn bringe »das Wort »objektiv« in Rage [...]. Das ist nicht Zufall. Und mir kommt es sehr auf das Objektive in diesen Din-gen an.« (ebd., 425). Auch Benjamin ist für Scholem »verwirrt«, allerdings in einem tieferen Sinne als die deutschen Juden: Es gebe »irgendetwas Grenzen-loses, alle Ordnung Übersteigendes, das seine Arbeit mit Aufwendung aller Kräfte zu ordnen sucht. Es ist in der Tat das völlig Namenlose, das seine Arbeit legitim macht.« (ebd., 257)126 Benjamin behält durchaus etwas Faszinierendes

126 Vgl: » Walter mag sein, was immer er ist, es gibt eine Grenze, die er nicht über-schreitet. Das muß ich täglich erfahren. Die Metaphysik macht ihn wahnsinnig. Seine

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und bleibt ein Vorbild für das Denken, aber für die innere Ordnung der Le-bensführung kann er kein Vorbild sein und mit ihm ist für Scholem auch keine Gemeinschaft möglich. In dem Maße, wie Scholem das klar wird, werden auch die anderen Menschen seiner Umgebung wieder wichtiger, vor allem Grete Brauer und Escha Burchardt.127

Gegenüber Benjamin muß Scholem sich zunehmend abgrenzen, nur durch Distanzierung kann er sich wieder stabilisieren: »Mein Begriff von Verzicht ist so, daß es nichts Irrelevantes in bezug auf ihn gibt, für Walter und Dora aber gibt es Dinge, auf die sie glauben ein Recht zu haben nicht verzichten zu müs-sen.« (Ebhd., 419) Bereits hier sieht man deutlich die Bedeutung des asketischen Ethos für Scholems nächste Jahre, je stabiler er in jenem wird, desto weniger greift er aber auch Benjamin und dessen »Dekadenz« an. Der Konflik t wird zu einem Irrtum, so können beide unbeschadet aus ihm hervorgehen: »Ich habe mich geirrt, als ich schrieb, daß ich zu Walter ein völlig positives Verhältnis habe. Und diesen Irrtum muß ich widerrufen, und auch wenn es die jetzigen Kämpfe kostet.« (Ebd., 420)

Ein Moment der Distanz ist von jetzt an prägend nicht nur für die Beziehung der beiden zueinander, sondern für Scholems Ethos überhaupt, als er die Schweiz verläßt, glaubt er, »daß die einzige Möglichkeit, noch eine Verbindung mit ihm [Benjamin] aufzurichten, in der nächsten Zeit der schriftliche Verkehr ist« (ebd., 449). Es mag sein, daß er diese Distanz von Benjamin gelernt hat, für den sie ja nach Scholem äußerst charakteristisch war (vgl. WB, 71f). Der Brief-verkehrt auf Distanz wird dann auch das Medium sein, in dem die beiden ihre Kommunikation fortsetzen.

Der »Einfluß« Benjamins - wenn wir ihn im Sinne der vorhergehenden Seiten verstehen wollen - bleibt aber bestehen, auch Benjamin bleibt >in< Scholems Schreiben präsent. Wie Buber ist auch er eine Verkörperung, aber nicht die der Verwirrung, sondern die des authentischen modernen Juden, in dem das Jüdische immer noch irgendwie präsent sei.128 Dieses Bild, das Scholem vehement gegen

Wahrnehmung ist keine menschliche mehr, sondern die des Gott anheimgegebenen Irren.« (T II, 231) Von Benjamins »Wahnsinn« spricht Scholem auch (Br I, 161). Vgl. über den Besuch Grete Brauers: »Es sammelt sich wieder ungeheure Substanz in mir an, die ihr strahlendes Dasein in mir zum Leben erweckt. Das kann Walter nicht. Das ist der Unterschied: seine Schriften können es, und bei Grete vermag es ihr Dasein.« (T II , 412) »Warum sage ich, daß Gretes Wirkung auf mich so unendlich noch gewaltiger ist als die Walters [...] war? Weil sie einfach gesagt - moralisch auf mich gewirkt hat.« (ebd., 426) Auch Scholem will nicht immer entscheiden, ob Benjamin im letzten jüdisch sei, die »dunkleren Gründe« von Benjamins Produktion seien nicht so einfach zur Sprache zu bringen: »Es war nicht das Judentum, es war nicht der Materialismus, es war etwas, was auf Begriffe zu bringen vorläufig noch niemand von uns gelungen ist und was

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andere Vereinnahmungen und auch gegen das vermeintliche Selbstmißverständ-nis Benjamins verteidigt, hat wohl auch für sein eigenes Schreiben eine wichtige Funktion, nirgendwo wird das deutlicher als in der Klammer, die Scholem um Die jüdische Mystik legt: Es beginnt mit der Widmung an Benjamin - »Dem Freunde, in dessen Genius die Tiefe des Metaphysikers, das Eindringen des Kri -tikers und das Wissen des Gelehrten sich trafen« (JM, V) -, es endet mit der Evo-kation der Propheten einer neuen jüdischen Mystik, und wer hätte den Platz jenes Propheten in einer götterlosen Zeit einnehmen können, wenn nicht Benja-min, der für Scholem »die genauen Konturen des Theologischen noch da [auf-spürte], wo es vollends ins gänzlich Weltliche aufgelöst erscheint« (Eng, 19)?

Man hat an dieser Stelle den Eindruck, daß Benjamin für Scholem eine Alter-native verkörpert, die er selbst als »Professor« nicht ergreift, die aber doch besetzt sein muß, damit nicht »alles umsonst« sei. Vielleicht kann man von einer positi-ven Dämonisierung sprechen: eine Verkörperung des Eigentlichen, um das die eigene Arbeit kreist; eine komplizierte Aufgabenteilung also. Zu dieser Zeit haben sich die Rollen gegenüber der Auseinandersetzung in Bern allerdings ver-schoben: Scholem hat bereits den »Schafpelz des Philologen« angezogen und sich auf die gegenüber »Mathematik und Erkenntnistheorie [...] so viel zweideutigere Position« des Historikers der Kabbala zurückgezogen (Br 1,471), Benjamin wird dagegen die prophetische Eindeutigkeit zugesprochen. Cynthia Ozick berichtet von einem Gespräch mit Scholem, das hier sehr deutlich ist: »>I call myself a metaphysical clown,« Scholem says; >a clown hides himself in theater.« I ask whether Walter Benjamin ever hid that way. »Benjamin never played theater.««129

doch denen, die Gespräche mit ihm geführt haben, als etwas Unkonstruierbares aber höchst Reales vor Augen stand.« (Br II; 175) Ozick, »The Fourth Sparrow«, 133.

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DAS ASKETISCHE ETHOS 85

1.4 Das asketische Ethos

Die Abwendung von Buber und von der eigenen Buber-Begeisterung bringt Scho-lem zunächst in die prekäre Lage, gar nichts mehr sagen zu können; in einem zwei-ten Schritt führt sie aber zur Ausbildung einer prägnanten eigenen Position. Dieser Prozeß läßt sich vor allem an den Texten der Jahre von 1918 bis zu Scholems Über-siedlung nach Palästina 1923 ablesen; allerdings werden ungefähr ab 1920 die Auf-zeichnungen sehr viel seltener, da die offene Selbstreflexion in Form des Tagebuches fast vollständig aufhört und Scholem nur noch wenige esoterische Texte verfaßt. Dies ist nicht zufällig. Entscheidend für seine Entwicklung wird die Selbstbe-schränkung, der Scholem seine Äußerungen unterwirft: Er spricht sich nicht mehr direkt und einfach aus, und aus dem verkündenden Zionismus der »Ideologie« wird ein esoterischer Zionismus, aus dem revoltierenden und messianischen Ethos wird ein asketisches, das für die intellektuelle Gestalt Scholems charakteristisch bleibt.

Dabei geschehen mehrere Dinge gleichzeitig: Die Selbstreflexion wird fortge-setzt und führt Scholem immer wieder zu Selbstkritik und Verzweiflung, aber auch zu einer besonderen Stilisierung der eigenen Einsamkeit (1.4.1). Das drückt sich vor allem in der besonderen Betonung des »Schweigens« aus, das zur zentra-len Kategorie nicht nur von Scholems Sprachtheorie, sondern auch seiner dis-kursiven Praxis wird (1.4.2). Gleichzeitig gewinnt die Politik im engeren Sinne in diesen Reflexionen eine besondere Bedeutung, Scholem bemüht sich um eine Ab-grenzung der politischen »Sphäre« von der der Religion (1.4.3). Seine eigene Posi-tion stabilisiert sich dabei; sie erscheint ihm jetzt aber anders als in den vorhergehenden Jahren nicht mehr einfach als »revolutionär«, sondern als eine Po-sition der Grenze selbst (1.4.4).

1.4.1 Krisenerfahrungen. Die Abwendung von Buber drängt Scholem dazu, auch seine eigene Sprache von »Jugend« und »Zion« aufzugeben; dies führt zu einer tiefen Krise, die im Frühling 1917 Ausdruck findet in einem besonderen Heft der Tagebücher mit dem Titel Exemplum non datum. Das nicht gegebene Beispiel. Dieses Heft ist voll von Selbstvorwürfen, Zerknirschung und Selbst-anklage, weder wirklicher Zionist, noch richtiger Jude zu sein: »Bin ich ein Jude? Nein. Ein Mensch? Nein. Ein ehrlicher Junge? Nein. Was bin ich denn nun also? Ein Nihilist, ein vor Gott verworfenes Subjekt, das Gott hintergeht, weil er es verworfen hat.« (T II , 22)

Das zentrale Thema dieser Krisen ist jetzt die Einsamkeit, oft stellt Scholem sich selbst dabei als den einsam-heroischen Radikalen dar.130 Aber, und das ist

130 Einsamkeit war schon vorher ein wichtiges Thema, schon im Frühling 1915 schreibt

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86 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

neu an diesen Reflexionen, das Heroische und die »Tiefe« dieser Einsamkeit wird

ihm jetzt selbst fraglich. Er bezeichnet sich selbst als »Gottesschwindler« und

»Tiefenheuchler« (ebd.), der gerade durch seine Radikalität verlogen sei:

Es war einmal ein Mensch, der führte ein verfehltes Leben und fand auch nicht den Mut, ein Ende damit zu machen, denn er war so feige in der Tiefe seines Herzens, daß er so etwas nicht konnte. Da machte er sich ein Spiel mit den Dingen [...]: er wurde ganz, ganz radikal, so radikal, daß keine Forderung, die man hätte erheben können, auf ihn Eindruck machen konnte, da er alle überflügelte - und so brauchte er sie nicht zu verwirklichen. Er erfand eine Wissenschaft, wie man die Leere sei-nes Herzens hinter der Fülle seines Geistes verstecken konnte und nannte sie dann in Schändung einer wohlanständigen Sache Zionismus. (Ebd., 19)131

Di e eigene Radikalität und die Uberbietungsstrategie von »Zion« wird ihm also

zweifelhaft und erscheint jetzt als getarnte Feigheit. Man hat den Eindruck, daß

sich Scholems Zweifel an der Authentizität des Zionismus, nachdem er alle ande-

ren Zionisten verworfen hat, nun auch gegen sich selbst richtet; der Selbstzweifel

bildet gleichsam einen doppelten Boden - es ist ihm nicht mehr entscheidbar, ob

er Radikaler oder bloßer Heuchler ist. Indem auch die schon erworbene Sprache

wieder verloren wird, wird alles fraglich und unwirkl ich: »Die Worte der Men-

schen haben etwas Gespenstisches für mich. Ich bin vor der Sprache.« (Ebd., 175)

Scholems Krisen sind in dieser Zeit nicht mehr Krisen des Zweifels - an der

Religion, am Zionismus der anderen - , sondern, mit Kierkegaard gesprochen,

Krisen der Verzweiflung. Tatsächlich mag die Lektüre Kierkegaards nicht un-

Scholem: »Ich gleite immer schöner in die Arme des Nihilismus hinein. Denn an die ehrliche Gesinnung meiner Freunde mir gegenüber glaube ich schon seit geraumer Zeit nicht mehr.« (T I, 94) Vgl. auch die charakteristischen Äußerungen über Schnitz-lers Der Weg ins Freie: Hier gehe es eigentlich um den einsamen Weg, um »eine große Wanderung auf einer Straße, wo keiner den anderen sieht«, um »die große, ungeheure Inselhaftigkeit aller Menschen« (ebd., 193f), aber »vielleicht sind diese Einsamen im letzten Sinne nur Verirrte« (ebd., 194f). - Ende 1917 erscheint die Einsamkeit Scho-lem als die einzige Lösung: »Ich bin fromm nur wenn ich einsam bin. Mich tötet die Gemeinschaft mit den andern« (TII , 90). Ähnliche Äußerungen sind häufig: Er müsse sich »unzugänglich« machen, dann würde auch der »falsche Schein« aufhören (ebd., 138f); er erkenne jetzt, daß alle wertvollen Menschen unglücklich seien (ebd., 151).

131 Vgl. auch: »Und eben das macht meine tiefste Verworfenheit aus, daß ich mit der Er-kenntnis leben kann, ja berühmt sein könnte, daß ich verworfen bin. O Gott, warum sieht es denn niemand! Warum ist mir die Lüge so gut gelungen, daß ich noch;Wer-mann mit ihr überrumpelt habe?« (T II , 80) - »Ich bin kein Psychopath, sondern ein Bürger. Weil alle mich für das Gegenteil halten, halten sie mich für verrückt.« (Ebd., 34) Sehr oft spricht Scholem auch in dieser Zeit vom Selbstmord: »Ich bin so verlogen, daß ich vielleicht ein heroisches Leben lügen werde, weil ich zum Selbstmord verlogen bin. Selbstmord braucht Gehalt.« (Ebd.) An anderer Stelle spricht Scholem vom »schlei-chenden Hochmut des Gedankens: Wäre ich doch in einem Monat tot« (ebd., 94).

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DAS ASKETISCHE ETHOS 87

wichtig gewesen sein für Scholems Ausdruck dieser Erfahrungen, jedenfalls kann man das Phänomen an Kierkegaards Überlegungen gut verdeutlichen: Ver-zweiflung ist für Kierkegaard ein Se'&srverhältnis, wer verzweifelt ist, wil l ver-zweifelt er selbst sein oder verzweifelt nicht er selbst sein. Da dieses Verhältnis im Bewußtsein gründet, hat es eine Tendenz zur Steigerung: »Je mehr Bewußt-sein aber in solch einem Leidenden ist, der verzweifelt er selbst sein will , um so mehr potenziert sich auch die Verzweiflung und wird zum Dämonischen.«132

Der dämonische Mensch verschließt sich in Schweigen und Einsamkeit, um der Hilf e zu entgehen, die ihn aus seiner Verzweiflung befreien will : »weil sie ihn nämlich scheiden würde von seinem - dämonisch verstandenen - unendlichen Vorzuge vor anderen Menschen, von seiner - dämonisch verstandenen - Be-rechtigung dazu, der zu sein, der er ist«.133

Von »Potenzierung« spricht auch Scholem in ähnlichem Sinne: »Welcher Ab-grund, welche unsägliche unrettbare Unordnung, wenn man kalt seine Nichtsig-keit ins Unendliche potenziert« (T II , 80). Auch hier ist »Potenzierung« die Steigerung des Negativen, auch hier besteht diese Steigerung darin, dem Gottes-verhältnis - also dem »Guten« - auszuweichen: »Ein Jude, der nicht beten kann, potenziert sein Dasein. Diese Größe ist die Gefahr unseres Lebens.« (Ebd., 304) Wir werden der theologischen Bedeutung dieser Verzweiflung im nächsten Teil nachgehen (s.u. Kap. 2.6.2); schon hier wird deutlich, daß die »Potenzierung« der Verzweiflung aus dieser eine positive Größe macht.

Um der eigenen Verlogenheit und »Tiefenheuchelei« zu entgehen, unterzieht sich Scholem zunächst dem Schweigen: Schweigen sei »Verzicht auf die Periphe-rie« und »Verzicht auf die Hybris« (ebd., 158). Schweigen ist für Scholem eine »kathartische« Maßnahme, es ist Schutz vor dem »Geschwätz« der illegitimen Zio-nisten so gut wie vor sich selbst. Auch seine eigenen Aufzeichnungen erscheinen ihm jetzt nicht mehr als unbcfragbare Vision wie etwa in den Reisegedanken: »Ich sehe meine Gedanken, aber ich habe keine Visionen. Das ist Schwindel von mir gewesen. Ich habe nur eine höchst lebendige Gedankenphantasie.« (Ebd., 28)

Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 72. - Kierkegaard spricht auch vom »Gesetz der Potenzierung« (ebd., 14), zu dem ganzen Komplex vgl. Theunissen, Das Selbst auf dem Grund der Verzweiflung. Zu Scholems Verhältnis zu Kierkegaard s.u. Kap. 2.6.2. Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, 72. - Das »Dämonische« ist jene aufs höchste gesteigerte Verzweiflung, die der Hilfe, der Auflösung der eigenen Verzweiflung -und also bei Kierkegaard auch: dem Glauben - ausweicht, es ist »Angst vor dem Guten«. »Indes je geistiger aber die Verzweiflung wird, um so mehr achtet sie gerade auch selber darauf, die Verzweiflung in der Verschlossenheit mit dämonischem Scharfsinn verschlossen zu halten« (Ebd., 73). Daher ist das Bedürfnis nach Ein-samkeit ein Kennzeichen des Dämonischen (vgl. ebd., 62ff).

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88 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

I n dieser Skepsis zeichnet sich das asketische Ethos Scholems ab, das sich der

großen Worten, des Geschwätzes, der Schwärmerei und der Vision enthält. Wie

bei jeder Askese handelt es sich um Steigerung durch Beschränkung, um eine

Verneinung, die eine andere oder höhere Bejahung ermöglichen soll, um Stabi-

lisierung der eigenen Posit ion also durch ihre Erschwerung. Man kann dabei

wieder von »Potenzierung« sprechen, ja von »Selbstdämonisierung«, denn das

Mittel der Askese ist gerade das Schweigen, das über diesen U m w eg zu einer

paradoxen Stärke gemacht wird: »Ich weiß Unerhör tes, seit der Tod mein

Schlafgenosse ist. Ich bin in der Tat ruhig, aber ich bin tot. U m ein Haar und

auch ich werde gespenstisch werden« (T II , 267). Die Stabil isierung durch

Schweigen ist durchaus bedroht, für Scholem wird es also darauf ankommen,

t ro tzdem irgendwie zu sprechen.

1.4.2 >Geschwätz<, >Arbeit< und >Schweigen<. Scholems asketischer Rückzug

führt vor allem zur Ablehnung der Jugendbewegung und ihres bekenntnishaf-

ten und verkündenden Diskurses, den er vor kurzem noch selber benutzt hatte.

So schreibt er schon Anfang 1918, ihm sei »die ganze sogenannte Jugendbewe-

gung ganz und gar gleichgültig, ich glaube nicht, daß sie möglich ist, und meine

Arbeit erstreckt sich auf die Sache und nicht die Einkle idung. Die ganze Ju-

gendbewegung ist ein deutscher Schwindel. Ich wil l Zionist sein und nichts an-

deres, kein »Jugendbewegter«. Auf meine Jugend verzichte ich.« (Br I, 136f)134

Dieser Verzicht bedeutet auch den Verzicht auf die öffentliche Äußerung; pro-

grammatische Art ikel wie jenen zur »Ideologie« wil l Scholem jetzt nicht mehr

schreiben und von seiner eigenen Vergangenheit distanziert er sich, so etwa von

der Blau-Weißen Brille, die eine »unwürdige Dienerin der zionistischen Sache«

gewesen sei, zu unernst und dem »Literatentum« zu nahe (T I, 471 ).135

Der »Verzicht auf die Jugend« ist ein zentrales Motiv der Tagebücher jener Zeit, vgl. etwa T II , 185ff. Deutlich wird dieses Motiv auch in dem Rückblick, den Scholem 1919 unter dem Titel Wenn man erzählen könnte, wie wir Zionisten wurden (vgl. Ebd., 552ff) verfaßt: Auf eine sprachlos schöne Kindheit habe die ironische Jugend gefolgt, die die jüdische Substanz erzwingen wollte, dann die Politik, in der auch die Freundschaft verloren gegangen sei, schließlich aber, als alles geschändet worden sei, der Umschlag: »So verließen wir die Sprache unserer Kindheit und gingen die Spra-che unserer Jugend lernen in unendlicher Resonanz. Damals erkannten wir He-bräisch als den einzigen Weg.« (Ebd., 554)

Eine Zeitschrift mache überhaupt nur als Zeitschrift eines »Geheimbundes« Sinn: »Die Blau-Weiße Brill e ist ein Irrweg, denn auch sie führt nicht nach Zion, sondern ins Narrenhaus, letzten Endes.« (T I, 472) - Vgl. auch: »Ich muß eine lange Zeit für die Öffentlichkeit schweigen. Ich muß arbeiten« (T II , 152). »Mein Schamgefühl ver-bietet derartige Produktionen. Vorwegnahmen sind unerlaubt.« (Ebd., 164) In seinen Erinnerungen schreibt er, er habe seit 1919 nicht mehr gerne über den Zionismus diskutiert (vgl. VBJ, 150f).

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DAS ASKETISCHE ETHOS 89

Diese Trennung findet in dem Abschied betitelten offenen Brief an Siegfried Bernfeld von 1918 ihren Abschluß.136 Anders als in Scholems ein Jahr zuvor ver-öffentlichtem Aufsatz Jüdische Jugendbewegung (s. o. Kap. 1.3.4) hält Scholem der existierenden Jugendbewegung nicht mehr die Forderung nach »Radikalität«, »Ganzheit« oder »Zion« entgegen, sondern verwirft die Jugend insgesamt: »Gegen sie gilt nicht mehr Hieb und Stich, sondern allein das eine: sie zu durchschauen. Sie kann nicht widerlegt, sie kann nur überwunden werden.« (Br I, 462.)

Was das bedeutet, versucht Scholem nun auf der Ebene der Sprache plausi-bel zu machen: Die Sprache der Jugend sei eigentlich keine Sprache, sondern »Geschwätz«, für das gelte: »Man kann alles mit allem vertauschen und es ändert sich nichts.« (Ebd., 463) Die Jugend spreche stets, aber daß sie nicht schweigen könne, zeige ihre eigentliche Sprachlosigkeit: »Menschen aber, die nicht schwei-gen können, können im letzten Grunde auch nicht miteinander reden. Sie ver-stehen sich nicht, denn ihre Sprache hat weder Grenze noch Grundlage, sie ist chimärisch.« (Ebd., 463) Weil die Jugend in der Welt des »Geschwätzes« lebe und dort alle Forderung schon imaginär vorweggenommen habe, könne man nicht mit ihr reden »Der Jugend die Sprache wiederzugeben ist die Aufgabe. Sie er-fordert einen anderen Weg als den der Sprache, der nicht mehr zur Jugend führen kann, seit sie im Geschwätz, das höchste Prinzip der Sprache [...] selbst verkehrt hat.« (Ebd., 463) Die einzige Möglichkeit sei jetzt das Schweigen, denn es sei der »einzige Weg dieser Überwindung, der nicht pervertiert werden kann« (ebd., 462). Der Weg ins Schweigen um der Sprache willen ist zugleich der Weg in die Einsamkeit: »Gemeinschaft verlangt Einsamkeit: nicht die Möglichkeit, zusammen das Gleiche zu wollen, sondern allein die gemeinsame Einsamkeit begründet die Gemeinschaft. Zion, die Quelle unseres Volkstums, ist die ge-meinsame, ja in einem ungeheuren Sinne identische Einsamkeit aller Juden« (Ebd., 462). Wenn es hier, in Deutschland keine sichtbare Gemeinschaft der Zio-nisten geben könne, so müsse man, schreibt Scholem an Bernfeld, eben an einen »Geheimbund« denken, »der die einzige Möglichkeit einsamer Gemeinschaft darstellt, die in der Verborgenheit verwirklicht wird« (ebd., 465).137

Der Text wil l offensichtlich eine in Scholems Sinne »zionistische« Politik der Äußerung begründen, die um ein »beredtes Schweigen« kreist, ein Schweigen,

136 Zur Entstehungsgeschichte dieses Briefes vgl. T II , 185ff, Scholems Brief ist offen-sichtlich angeregt von Benjamins Brief an Buber, vgl. Benjamin, Briefe, 125ff. Vgl. zu diesem Brief auch die Kommentare von Mattenklott, Jüdische Intelligenz,\48f{.

137 Von Geheimbünden schreibt Scholem immer wieder: Im Sommer 1916 träumt er häu-fig von einem »»Bunde der Eiferer««: »Daß sich eine kleine Anzahl junger Zionisten [...], die von Zion im Innersten beherrscht werden, denen Zion restlos zum Religiö-sen schlechthin geworden ist - offen gesagt, rede ich natürlich hier immer von mir sel-ber, so wie ich sein möchte -, daß sich solche wahrhaft Ergriffenen zusammentun« (T I, 363). Vgl. auch ebd., 448f; T II, 452, 495.

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90 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

das nicht einfach ein Verstummen ist und nicht (oder nicht nur) Rückzug in eine

persönl iche »Reinheit« sondern auch ein polemisch-pol i t ischer Akt . Aus der

Rhetor ik der radikalen Negat ion wird eine Reflexion auf die Rhetor ik und eine

reflektierte Rhetorik. Deren Formul ierung erfolgt in paradoxen Figuren - Re-

st i tut ion der Sprache durch Schweigen, Wiederherstel lung der Gemeinschaft

durch Einsamkeit - , die für Scholems Aufzeichnungen jetzt äußerst charakte-

ristisch sind. Wechselt Scholem von der Tautologie der Ideologie (»Zion« ist

»Zion«) jetzt einfach an den anderen Pol der rhetorischen Möglichkeiten? Sinn

macht seine Polemik weniger durch diese Paradoxien als durch ihren asketi-

schen Gestus, sowohl in den Werten, die sie dem Zionisten nahelegt - »Schwei-

gen, Arbeit und Erkenntn is, Reinheit, Strenge und Verzicht« (Br I, 465) - als

auch in ihrer eigenen Erscheinungsweise, durch den apodikt ischen Stil seiner

Polemik. Die Autor i tät, die Scholem hier beansprucht, wird durch die Parado-

xien eher noch gesteigert, die eigene Position ist wirklic h so markiert, daß kaum

jemand anders sie teilen kann.138

Neben »Schweigen« und »Einsamkeit« spielt jetzt die »Arbeit« für Scholem eine

entscheidende Rolle, sie ist das, wovon Abschied, ein wortreiches Plädoyer für

das Schweigen, eigentlich zu sprechen behauptet:

Was ich hier sagen kann, ist also nicht das Positive, das vielmehr nur als der Grund meiner Verneinung sichtbar gemacht werden kann. Arbeit ist mündliche Lehre, und von ihr läßt sich nichts niederschreiben als die Methode, und allein der Me-thodos meines Schweigens ist es, den ich hier aussprechen wil l und muß, nicht um zu bekehren [...], sondern um für eine Jugend zu zeugen, die Zion und die Lehre schweigend empfängt, entfaltet und tradiert [...]. (Ebd., 462)139

»Arbeit« als »Lehre« ist der zentrale Gedanke Scholems in diesen Jahren, er ent-

hält zugleich ein asketisches und ein religiöses Element, das sich in der Anspie-

lung auf Tradition zeigt. Auf Scholems »Theorie« der Lehre bzw. der Tradition

Das Schweigen ist also nicht Verstummen und Rückzug, sondern gerade die Basis für polemische Autorität: »Ich bin oft doch Agitator«, notiert er im Tagebuch, »aber so apodiktisch, daß es keinen Widerspruch gegen mich gibt.« (T II , 157) Vgl. »Für die Diktion Scholems, wie nicht minder für die Walter Benjamins zur selben Zeit, ist be-zeichnend, daß sie den Mangel an lehrhafter Autorität durch Apodiktik und di-stanzschaffende Redegesten ersetzt, die jeden Versuch von Kumpanei oder auch nur theoretischer Einvernahme von vornherein zum Scheitern verurteilen.« (Mattenklott, Jüdische Intelligenz, 155) Vgl.: »Die Ästhetik dieser Opposition gegen das Geschwätz ist noch nicht geschrie-ben worden. In ihr hat - neben dem Essai - der Brief einen wichtigen Ort, weil er als Sprachform gestaltet werden kann, in der exorerodj-vorläufig und in subjektiv anar-chischer Form ausgesprochen werden kann, worüber der Schreibende eigentlich nur lehrhaft verbindlich sprechen dürfte, wenn diese einzig angemessene Sprache dafür nicht verstellt wäre.« (Mattenklott, Jüdische Intelligenz, 152f)

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DAS ASKETISCHE ETHOS 91

und deren philosophisch-theologische Problematik werde ich im nächsten Teil eingehen. Für uns ist an dieser Stelle wichtiger, daß Scholem damit neue Legi-timität gewinnt: Er spricht nicht mehr im Namen einer kommenden Jugend, sondern im Namen von »Lehre« und »Tradition«. Allerdings kann das nicht mehr einfach ausgesprochen werden, denn die Arbeit kann sich nur schweigend voll-ziehen, wenn sie nicht pervertiert werden soll. Wil l Scholem also der legitime Sprecher der Tradition sein, muß er sozusagen »im Schweigen sprechen«, das versucht er offensichtlich in seinem Brief an Bernfeld. Es hat also nicht nur sprachphilosophische oder gar mystische Gründe, daß das Schweigen in Scho-lems Äußerungen zur Tradition eine so große Rolle spielt. Man kann hier von einem »Wiedererkennen« reden, durch das Scholem sein Legitimitäts- und Aus-drucksproblem in der traditionellen Literatur wiederfindet: »Alle Juden sind außerstande, innerhalb der geschriebenen und schreibbaren Sprache das Letzte zu sagen. Dies hängt mit dem Kommentar zusammen.« (T II , 200)140

1.4.3 Religion, Politik und Sprache. Diese Betonung von Arbeit und Tradition hat auch zur Folge, daß Scholem ab 1919 innerhalb des Zionismus zunehmend »konservativer« argumentiert. Wenn er in öffentlichen Auseinandersetzungen noch Stellung bezieht, spricht er sich gegen die Verwerfung des Erbes im Namen von »Erneuerung«, »Natürlichkeit« oder »Leben« aus: 1919 verteidigt er Bialiks Aufwertung der Halacha gegen den Angriff Brenners, die religiöse Tradition hätte dem modernen Juden nichts mehr zu sagen (s.u. Kap. 1.6.1); drei Jahre spä-ter initiiert er einen kollektiven Protest gegen die Entwicklung im jüdischen Wanderbund Blau-Weiß, der sich immer stärker dem rechten Flügel 9er deut-schen Jugendbewegung annähert (Vgl. VBJ, 188f; T I I , 705ff). Die Beschwörung der »Jugend« ist für Scholem jetzt nur noch »Götzendienst«, dem gegenüber er sogar ironisch das Bürgertum lobt (TII , 709). Das Moment des Bruches und der Revolte, das wenige Jahre vorher die Aufzeichnungen des jungen Scholem be-herrschte und auch eigentlich erst seine Position konstituierte - Sprechen war Rebellion -, tritt immer mehr in den Hintergrund.

1921 schreibt Scholem an Robert Weltsch und Hans Kohn, sein Begriff vom Zionismus sei »zu einem völlig unrevolutionären, weil sich auf eine Schicht, auf

140 Den Ausdruck »Wiedererkennen« entlehne ich aus der Epistemologie Althussers bzw. der Subjekttheorie Lacans, er bezeichnet die imaginäre (ideologische) Schein-Erkennt-nis, welche die Bedürfnisse des erkennenden Subjekts in einem nach außen projizierten Objekt bestätigt sieht, Musterbild ist die narzißtische Selbsterkenntnis«, die doch nur Selbstbespiegelung ist. Fruchtbar erscheint dabei vor allem die Unterscheidung von der Erkenntnis, allerdings muß diese Art narzißtischer »Spekulation« nicht so negativ be-wertet werden wie im Althusserschen Szientismus, der sie radikal ausschließen will . In Wirklichkeit hat sie natürlich spezifische Leistungen: Sie baut die imaginäre Welt des Subjekts auf, aus der heraus dann selber wieder imaginäre Produktionen möglich sind.

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der es keine Revolutionen gibt, beziehenden Begriff vom Zionismus« gewor-den (Br 1,217). Nicht nur sind für ihn die sozialen Probleme nicht mehr die ent-scheidenden, sondern auch die »Umwälzungen der Seele« die Scholem sich ja immerhin selbst abgefordert hatte, sind jetzt unwesentlich gegen die »tiefe Ste-tigkeit der Lehre« (ebd., 217). Sein Zionismus schließe nicht nur »die übliche Phraseologie eines revolutionären Zionismus«, sondern im Grunde die ganze politische Sphäre, in der die Revolution mit Recht als das Zentrum erblickt wird, als irrelevant, wenn nicht verderblich aus. Selbst wäre der Zionismus eine revolutionäre Sache, müßte er - mit doppelter und dreifacher Vorsicht - diese Terminologie vermeiden« (ebd., 216). Der letzte Satz mit seinem verneinten Konjunktiv ist äußert charakteristisch für Scholem: Er beläßt es nicht bei der Behauptung, der Zionismus sei unrevolutionär, sondern betont, daß er vor der Politik geschützt werden müsse. Charakteristisch ist auch die Rede von den »Sphären«: Scholems Rhetorik rekurriert nicht mehr auf Prinzipien, die alles an-dere »überwinden« und dem eigenen »Standpunkt« unterordnen, sondern unter-scheidet verschiedene »Schauplätze«, an denen die Sachverhalte ihren »legitimen« Ort haben. Man hat den Eindruck, daß Scholems Formulierungen an juridische Formen anschließen, wobei immer noch offen bliebe, ob diese Formen eher von der jüdischen Tradition oder der Cohenschen Philosophie angeregt sind. Je-denfalls ist der Gedanke einer legitimen Zugehörigkeit in einen bestimmten Seinsbereich in dieser Zeit sehr häufig.141

In dieser Rhetorik ist Politik ist nicht mehr einfach unwesentlich, sondern bil-det eine eigenen Bereich mit eigener Logik, dies sei aber eben nicht die »Sphäre«, in der man den Zionismus suchen dürfe. Dieser »überwindet« die Politik also nicht einfach, sondern beide scheinen nebeneinander stehen zu bleiben. Wie wer-den noch sehen, wie dieser Gedanke der »Sphären« Scholem zu einer besonderen Rhetorik der Grenze führt, an dieser Stelle impliziert er, daß Scholem nicht po-litisch »konservativer« wird, sondern daß sich für ihn der Umfang von Politik än-dert, diese sachlich aber immer noch anarchisch revolutionär bleibt.142

Die Ordnungslehre bezieht sich immer auf legitime Erkenntnisse (vgl. T II, 17), Kom-mentar ist legitime Deutung (ebd., 303), Bubers Erkenntnisse (und teilweise auch die Benjamins) sind illegitim (ebd., 268), das zionistische Bürgertum ist ein legitimes Me-dium des Zionismus (ebd., 625) usw. Es gibt aber auch einen abweichenden Begriffs-gebrauch: Man brauche eine Legitimierung als Zionist (ebd., 15) bzw. die Legitimierung des Anfängers sei die Würde seiner Taten (ebd., 197). - Vgl. auch: »Le-gitim ist das Legale in der Historie. Die Idee des Legitimen ist rein historisch. Es gibt z.B. keine legitime Idee der Zahl, wohl aber eine des Sieges.« (Ebd., 352) Vgl. auch die Notiz über den Bolschewismus (T II, 556ff), wo das revolutionäre Han-deln das legitim historische ist: »Derjenige, der weiß, daß er historisch handelt, ist ein Revolutionär. Dies ist der weiteste Begriff von Revolution.« (Ebd., 557) - »Die Re-volutionen scheitern. Aber dies ist und kann niemals ein Argument gegen sie sein.

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DAS ASKETISCHE ETHOS 93

Die Beziehung von Zionismus und Politik wird eine Weile durchaus wider-sprüchlich erörtert. Zunächst scheint die Betonung der »Lehre« Scholem dazu zu führen, daß der Zionismus ganz unverständlich wird. 1918 schreibt er eini-germaßen verwirrt, er wisse inzwischen gar nicht mehr, was der Zionismus sei: »Gewiß, ich weiß es auf der vorletzten Ebene: das jüdische Volk zur Gestalt bringen. Aber auf der letzten - da gibt es vielleicht gar keinen Zionismus. Da gibt es Religion, die ganz und gar anders aussieht als der Zionismus.« (TII , 145) Aber Scholem bleibt unsicher, vor allem weil er zur selben Zeit auch in Zweifel gerät, was die Religion sei: Seit 1918 betont er immer, daß er zwar an der abso-luten Autorität der Religion festhalte, aber sie trotzdem nicht als bindend für die eigene Lebensform anerkenne, denn »solange das messianische Reich nicht da ist [...], werde ich keine Instanz über meine Handlungen anerkennen außer denen, die wir anarchisch und frei aufrichten« (Br I, 195).

Wir werden im nächsten Teil untersuchen, welche Rolle dieser »religiöse An-archismus« in Scholems theologischen Reflexionen spielt; für sein politisches Schreiben bedeutet der hier ausgedrückte Aufschub der religiösen Autorität, daß dem profanen politischen Handeln gegenüber der Religion ein eigenes Recht eingeräumt werden kann: Solange die Religion noch nicht bindend ist - solange also das messianische Reich noch nicht besteht -, bleibt konkretes politisches Handeln notwendig. Daher gewinnt Scholem jetzt auch eine positive Einstel-lung zur Politik im engeren Sinne von Taktik, Machtkampf und Parteiwesen, also gerade zu jenen Aspekten des Zionismus, die er in der Phase der Ideologie vehement verworfen hatte. Sehr deutlich wird das im Text Politik des Zionismus von 1920. Hier betont Scholem, daß »Propaganda« ein legitimes Mittel sein könne und Radikalität dem Zionisten nicht gut anstehe: »Das zionistische Bür-gertum ist ein legitimes Medium des esoterischen Zionismus, der Radikalismus ist der Schwindel der betrogenen Betrüger.« (T II , 625)143 Anders als wenige

Die Revolutionen überliefern immer wieder den Generationen die stumme Lehre von der Eindeutigkeit der Geschichte.« (Ebd., 556) - Für den Juden sei das aber so nicht möglich: »Revolution ist dort, wo das messianische Reich ohne die Lehre aufgerichtet werden soll. Im letzten Grunde kann es für den Juden keine Revolu-tionen geben. Die jüdische Revolution ist allein der Wiederanschluß an die Lehre.« (Ebd.) - Noch 1938, nach der Enttäuschung in Palästina, verfaßt Scholem eine Notiz über die Unmöglichkeit einer permanenten revolutionären Bewegung: »Es gibt eine permanente revolutionäre Bewegung - vor dem Sieg!! Aber nicht nachher! Der Sieg ist der Umschlagspunkt, der die Perspektiven verändert, so wie der Wan-derer auf der Passhöhe angelangt, nun eine völlig neue Landschaft der Geschichte vor sich sieht. Was es dann noch gibt, ist wie immer wichtig und problematisch, aber nicht mehr von beliebiger Dauer im Ablauf.« (»Schwindel der Revolutionen«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr.88))

143 Vgl. auch die Notiz Propaganda vom Sommer 1920: »Jawohl, es gibt Propaganda, aber nicht die intensive, sondern die mystische. Es ist diejenige, die methodisch vom

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94 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Jahre vorher gibt es jetzt keinen authentischen metapolitischen Standort »Zion« mehr, von dem aus die Widersprüche letztlich aufgehoben sind; daher ist es bes-ser, sich »bürgerlich« zu verstellen, als Radikalität vorzuspiegeln. Scholem erwägt während dieser Zeit sogar, ob »die zionistische Literatur nicht als ein Verrat, sondern als eine wirkungsvolle Verteidigungsaktion für das Unsichtbare ange-sehen werden müßte, wenn man sie von innen her ansieht« (ebd., 486f).144

Auch hier scheint es zwei Schauplätze - den sichtbaren und den unsichtba-ren - zu geben, die jeweils ihre eigene Logik haben; das formuliert Scholem explizit in Politik des Zionismus: »Politisch ist diejenige Sphäre, in der die Hand-lungen prinzipiell als Mittel aufgefaßt werden [...]. Es kann innerhalb der politi-schen Sphäre nichts geben, was aus ihr herausführt, man darf auf ihr gleichsam nicht ahnen, daß es noch anderes gibt« (Ebd., 624). >Zion< ist zwar noch Ziel, aber nicht mehr Gegenstand der zionistischen Politik: »Die Politik des Zionis-mus ist auf die Realisierung der unmetaphorischen Offenbarungsgegenwart (Zion) gerichtet. In ihr darf Zion nicht vorkommen. Von Zion sprechen heißt es verraten.« (Ebd., 624f) Immer noch geht es in der zionistischen Politik um »mehr« als um bloße Politik, aber dieses mehr darf jetzt nicht mehr ausgesprochen wer-den, es ist nur noch »Geheimlehre«: »Die Wahrung der Distanz ist das höchste politische Symbol.« (Ebd., 625)

Deutlich sieht man auch hier Scholems Bedürfnis, Grenzen zu ziehen, das Be-dürfnis nach »Ordnung« statt »Verwirrung«. Durch die asketische Wendung nimmt dieses Bedürfnis sogar noch zu - wie man überhaupt Askese auch als gesteiger-tes Formbedürfnis definieren kann -, denn die Ordnung muß ja zuallererst an sich selbst realisiert werden können. Wieder ist dabei der präskriptive, fast juridische Charakter des Gedankens der »Sphäre« auffällig: Der Zionismus darf nicht revo-lutionär sein, er dürfte nicht einmal revolutionär sprechen, wenn er es wäre.

Die Überschreitung der Grenze zwischen den Sphären ist für Scholem daher jetzt der Hauptgegenstand seiner Polemik, so etwa im bereits zitierten Brief an Weltsch und Kohn:

Sie halten die Konfusion von Religion und Politik wahrscheinlich für etwas Großes, ich halte sie für ein Unglück. Ich denke, daß der einzige vernünftige Sinn

Zionismus schweigt, während sie von ihm redet. [...]. Es gehört zu den irrsinnigsten Behauptungen der oberflächlichen »Jugendbewegung«, daß es Propaganda nicht gebe« (TU, 636). Allerdings ist das nur eine Erwägung, Scholem fügt gleich hinzu, es sei zweifelhaft, ob das gelinge: »Freilich müssen manche Entwicklungen dabei doch zu stutzig ma-chen, denn daß das Buch Jiskor kein vollendeter Verrat sei, davon habe ich mich durchaus nicht überzeugen können. Die einzige und höchst vollkommene »Literatur« des Zionismus sind - in denen der Begriff des Zionismus niemals vorkommt - die Schriften Agnons.« (T II , 487) Zum Buch Jiskor s.u. Anm. 147.

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DAS ASKETISCHE ETHOS 95

einer jüdischen Politik, wenn es überhaupt eine gibt, der sein könnte, durch systematische Erzeugung und Vorschiebung eines gewissen Scheines unsere Wie-dergeburt in einer unsichtbaren Sphäre zu ermöglichen; die Gruppe der revolu-tionären Zionisten hat das ihre getan, diese Wiedergeburt am kalten Licht der Öffentlichkeit erfrieren zu lassen [...]. (Br I, 217f)

Scholem reformuliert hier das problematische Verhältnis von Polit ik und Me-

tapolit ik im Zionismus. Von der Gefahr der Polit ik als der Gefahr des verfrüh-

ten Sieges hatte schon Achad Ha 'am gesprochen, auch Scholem betont die

Gefahr einer einsinnigen Poli t is ierung, welche die kulturel le Erneuerung ge-

fährden könne.1 45 Die Beschwörung dieser Gefahr zeigt aber noch mehr - ge-

rade in ihrem beschwörenden Ton - : Das Verhältnis von Religion und Polit ik

läßt sich offensichtlich nicht als reine Trennung denken, beziehungsweise man

versteht diese Trennung gerade in ihrer Vehemenz nicht angemessen, wenn man

auch die Möglichkeit der Vermischung versteht. Religion und Polit ik sind für

Scholem offensichtlich nicht einfach zwei Dinge, sondern sie können einander

auch gefährden; sein Drängen auf Entmischung reagiert auf eine Kor rumpie-

rung der legitimen Verhältnisse. Anders gesagt, ist die »Konfusion von Religion

und Politik« deshalb möglich, weil beide an einem gemeinsamen Bereich part i-

zipieren. Dieser Bereich ist die Sprache.

Schon in Abschied hatte Scholem die »politischen« Fragen auf Sprachprobleme

bezogen, in den folgenden Jahren wird noch deutlicher, daß seine Polit ik eine

Polit ik des Wortes ist. So schreibt er 1919, nach der Lektüre einiger polit ischer

Pamphlete von Büchner und Weitling: »Auch die schönste Soziologie der Pro-

duktionsweisen erklärt nicht das allergeringste Sprachphänomen und Rätsel. In

jeder Schrift liegen unendl ich viele sprachliche Armeen in halbem Schlaf bei-

einander, und da passieren sowohl innerhalb der Schrift als in ihrer Beziehung

nach außen, gemeinhin Wirkung genannt, stets die merkwürdigsten Vorgänge.«

Vgl. die neue Definition von Verwirrung: »Verwirrung nenne ich jene, durch die Ver-mischung der Ordnungen entstandene Beschaffenheit der Jugend, die die Dinge nicht durchaus vom Zentrum, sondern von den unendlich vielen Standpunkten der Peri-pherie her betrachtet, deren heimlichstes Gesetz ist: ja nicht die Prinzipien an die Dinge heranzutragen, sondern immer und immer wieder die schillernden Gesichts-punkte der Politik« (T II , 105). - Diese Konfusion von Religion und Politik spielt für Scholem immer eine entscheidende Rolle, er wirf t sie bekanntlich auch Benjamin vor, dem er noch 1931 schreibt, dieser schwebe in Gefahr, »zwar nicht das letzte, aber viel-leicht das unbegreiflichste Opfer der Konfusion von Religion und Politik [zu wer-den], deren Herausarbeitung in ihrer echten Beziehung von niemand deutlicher erwartet werden durfte als von dir« (Benjamin, Briefe, 529, ebenfalls WB, 287) -Auch hier ist wohlgemerkt nicht von einer absoluten Beziehungslosigkeit der »rei-nen« Religion zur »unreinen« Politik die Rede, sondern von einer begriffenen und einer unbegriffenen Beziehung.

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96 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

(T II , 472). Diese Dimension der Politik läßt sich verstehen durch Rekurs auf

die sprachliche Dimension der Religion, die Scholem hier eher andeutet als sy-

stematisch entfaltet: Das »politische Wort« entstehe als »Auseinanderfaltung des

kanonischen Wortes«, das heißt als »Spiegelung einer ausdruckslosen Welt, die

dennoch Sprache und Wort war in einer ausdrückl ichen Welt, die beides nicht

mehr ist. Dies ist meine sprachliche Erklärung der Politik« (ebd., 473).146

Wir werden noch sehen, wie die Vorstellungen einer »Entfaltung« der Worte in

Scholems Reflexionen über die Tradition (s.u. Kap. 2.4), aber auch in seiner Un-

tersuchung des Sabbatianismus, dem klassischen O rt seiner politischen Theorie

(s.u. Kap. 3.6), eine wichtige Rolle spielt. In den jugendlichen Aufzeichnungen,

die uns hier interessieren, wird dieses Thema oft am Begriff der »Phrase« entfaltet,

das auf einer konkreten Erfahrung zu basieren scheint: 1917 hatte Scholem das/zs-

/eor-Buches übersetzt, ein Gedenkbuch für die ersten bei der Verteidigung ihrer

Siedlungen gefallenen jüdischen Siedler; dieses Buch hat eine entscheidende Rolle

bei der Herausbildung der heroischen Mythologie des Kampfes gespielt und auch

anderenorts wichtige Kontroversen ausgelöst.147 Scholem wird bald skeptisch und

fragt sich, ob in dem Buch nicht in verhängnisvoller Weise »Mystifizierung der

Gewalt« (ebd., 143) und des Todes betrieben werde. Nicht aus Pazifismus lehnt

Scholem das Buch ab, sondern aufgrund der »andauernde[n] widerwärtigefn] Ver-

mischung der Sphären« (ebd.): Das Buch orientiere sich schon durch den Titel an

der traditionellen Totenklage, es enthalte aber alles andere als wirkliche Klagen,

sondern »die kindische Freude, daß >er unser war««, also ideologische Vereinnah-

mung (ebd., 144). Die ganze Ideologie des Heldentodes bleibe daher auf der Ebene

der Phraseologie: »In Deutschland spricht man Phrasen und hat keinen Mut mehr

zu tun, in Palästina stirbt man für Phrasen. Was ist nun schlimmer?« (Ebd.)148

Scholem schreibt auch von den politischen Implikationen anderer Sprachformen, was hier nur erwähnt werden kann: über den Zusammenhang von Prophetie und Politik (T II , 47 lf) ; über das Pamphlet als die »klassische Form der Unvollkommenheit« (ebd., 503); über den Journalismus, den man vom Musikstil her verstehen müsse: »Ohne alles Schöpferische wird das relative Wort weiter relativiert: mechanisch vollzieht sich der journalistische Prozeß, nachdem das fortgefallen ist, was allein den musivischen le-bendig macht: die Beziehung auf ein absolutes, prinzipiell unendlichdeutiges Wort.« (Ebd., 587) - Vgl. auch die Aufzeichnungen über Kraus, ebd., 467ff. Frankel (»The »Yiskor« Book of 1911«) analysiert die Kontroversen, die innerhalb des Jischuw bei der Redaktion des Jiskor geführt werden: An den drei zentralen Themen dieser Kontroversen - den jüdisch-arabischen Beziehungen, dem Verhältnis zur re-ligiösen Überlieferung und der Art der Erinnerung - könne man besonders gut die beginnende Mythenbildung innerhalb des Jischuw erkennen. Dabei ist die Jiddische Version, die Scholem übersetzt, von der Tendenz her die stärker ideologisierte (vgl. dazu ebd., 446f).

Scholem verzichtet später darauf, als Übersetzer genannt zu werden (vgl. VBJ, 99ff); die generellen Zweifel am Zionismus bleiben bestehen: »Damit ich in Zion leben

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DAS ASKETISCHE ETHOS 97

Hier steht der Phrase die Klage gegenüber als legitime Sprachform. Die Klage steht zu jener Zeit nicht nur im Zentrum seiner Sprachtheorie (s.u. Kap. 2.3.3.), sondern sie führt auch zu einer Verschiebung seines Begriffs des Zionismus. In der Figur der Klage erlaubt sich Scholem auch einen Blick zurück auf die bis dahin stets vehement verworfene eigene Vergangenheit. Im April 1923, also ein halbes Jahr vor seiner Auswanderung nach Palästina, schreibt Scholem den kurzen Text Die Wahrheit: »Das eben vermissen wir an den Zionisten: die Unfähigkeit, die verlorene Jugend ihres Volkstums, sein wahres Unglück, zu beklagen. Die Sicherheit einer gemeinsamen Zukunft verdeckt ihnen den Blick in den Abgrund von Trauer, der in der Mitte aller jüdischen Geschichte, im Herzen aller jüdischen Phänomene, sich auftut.« (TII , 712) Zionismus ist für Scholem jetzt nicht mehr die Zuwendung zur Zukunft, er ist auch nicht einfach der Wiederanschluß an eine große Vergangenheit, die in der Tradition gegeben ist, sondern auch in diesem Anschluß ist etwas Verfehltes, Verspätetes und Gescheitertes im Spiel. Das darf nicht übersprungen werden, es muß zur Sprache gebracht werden, der Zionismus müsse »die Ergriffenheit und die Trauer, die hinter den Fratzen der östlichen und westlichen Ghettos lauern, zu einer gestaltenden, aufrichtenden und heilenden Gewalt [...] erheben« (ebd., 712f).149

Noch lebt Scholem in der Hoffnung, der Zionismus könne auch das realisieren, aber daß hier die Klage auftaucht, deutet schon eine andere Möglichkeit an, die dann, nach der Einwanderung akut werden wird: Auch wenn der Zionismus nicht einmal seine (unmessianische) Erlösung bringen wird, so kann er doch dem Beklagten Würde geben und dem Klagenden Trost spenden.

Wenn die »Klage« das Verlorene in legitimer Weise zur Sprache bringt, so nimmt die »Phrase« das Erwartete in illegitimer Weise vorweg.150 Diese Gefahr

kann, muß ich vielleicht in Palästina unglücklich werden. Ich sehe die traurigsten und niederdrückendsten Möglichkeiten in der Zukunft.« (T II, 144) Die Klage soll hier auch die Verbindung zwischen dem persönlichen Leiden und der Geschichte konstituieren: »Das Leben des Zionisten [...], entbehrt es nicht der objektiven, unabwendbaren und darum unausgesprochenen Trauer? Er leidet ja doch immer nur persönlich und hat die Allgemeinheit seines Leidens nur in der Reflexion begriffen, er trägt eine gestohlene Krone.« (T II, 712) Diese Krone gilt es wieder anzueignen: »Wenn der Zionismus klagen gelernt haben wird, wird er mehr sein als eine Hoffnung: er wird erlösende Macht über unsere Seelen erhalten, jene Macht, die in den unsichtbaren Revolutionen des menschlichen Verstummens geboren wird.« (Ebd.) Zur Gefahr der Phrase vgl. auch einen Briefentwurf an seinen sozialistischen Bruder Werner: »Werdet ihr, was ja leicht möglich ist, einmal die Macht haben, so wird sich die Unreinheit, die Demagogie und all das Schlimme, das ihr ohne Not den Arbeitern, die euch vertrauen, eingeimpft durch euer Trommelfeuer der Phrasen, das ja schließlich eben wirkt, all dies wird sich dann furchtbar gegen jeden Versuch wenden, Ernst zu machen, denn nichts kann der Gemeinschaft der Menschen verderblicher sein als Demagogie. Und weil ihr die Menschen nicht vorbereitet habt [...],

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98 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

führt auch zu einer Reserve gegenüber dem Messianismus: Schon 1919/20

schreibt Scholem in einem Die Lehre von Zion betitelten Text: »Die tiefste denk-

bare Erkenntnis vom Zionismus« bestehe »in der hmitativen Erkenntnis, daß der

Zionismus auch und gerade auf der tiefsten Schicht keine messianische Bewegung

ist. [...] Die Erlösung, die der Zionismus bringt, ist aber keine messianische, nur

dann wäre sie es und also Zionismus messianisch, wenn sein Anspruch darauf

ginge, die Lehrbarkeit der Lehre herzustellen und zu verwirklichen.« (Ebd., 622)

Gerade der Messianismus, der metapolitische Faktor der Zionismus schlechthin,

darf nicht als Phrase verwendet werden, d.h. er darf nicht zur polit ischen Wir -

kung »entfaltet« werden. Daß diese Gefahr besteht, erkennt Scholem nicht erst

nach seiner Einwanderung nach Palästina oder nach seiner Beschäftigung mit

dem Sabbatianismus.151 Schon hier grenzt sich Scholem nach zwei Seiten ab: ei-

nerseits gegen die Redukt ion der Religion auf Politik (aus der Erlösung wird so-

ziale Erneuerung), andererseits gegen die Subsumtion der Polit ik unter die

Religion (aus dem Zionismus wird ein messianisches Unternehmen).1 52 Wieder

sondern nur mit unreiner Sprache, schlechter Ideologie und Rechthaberei ä tout prix gefüttert habt, wird in einem dann freilich unabwendbaren Meer von Blut eure Herr-schaft, die keine Grundlagen haben wird, zusammenbrechen.« (T II , 509).

51 Möglicherweise hat die Beschäftigung mit Blochs Geist der Utopie hier einen ent-scheidenden Impuls für Scholems politisches Denken gegeben (sie läßt sich aber kaum rekonstruieren), jedenfalls sticht die unvermittelte und schroffe Ablehnung der »Chri-stologie« hervor, die sich wohl gegen Bloch richtet (vgl. WB, 114): »Nur einem steht dieses Leben [das des Zionisten] in allen seinen Ordnungen unversöhnlich und uner-bittlich gegenüber: jeder, aber auch jeder Christologie. Hier liegt der Tod unserer Sub-stanz. Zionismus ist der stumme, furchtbare Krieg dagegen.« (T II , 623) - Man kann vermuten, daß die Polemik gegen die »Christologie« hier zugleich Polemik gegen einen schlechten, verinnerlichten Messianismus ist bzw. Polemik gegen die Vorwegnahme des Ewigen im Zeitlichen (dies ist ja der Kern der Christologie). - Wenig später be-zieht Scholem den messianischen Zionismus auch erstmals auf den Sabbatianismus. Die Gefahr des Zionismus liege im »fürchterliche[n] messianischefn] Irrtum, der sich innen sichtbar als Radikalismus, metaphysisch im genauen Sinn als Sabbatianismus kundgibt, von außen aber erscheint als die verruchte Antizipation der messianischen Heimatlosigkeit in die Geschichte« (ebd., 689). - Der Kern dieses Mißverständnisses ist für ihn hier »ein unsubstanzieller Glaube an die Ewigkeit unseres Volkes« (ebd.) und ein mechanischer Zeitbegriff, der die Zukunft nur als bestimmte und die Pro-phetie als Konstatierung einer bestimmten Zukunft betrachtet, dazu s.u. Kap. 2.5.1.

52 Die Abgrenzung nach beiden Seiten zeigt sich besonders an einem Briefentwurf aus der selben Zeit: Der Grundeinwand ist nicht, daß die Sozialisten ein religiöses Ideal profanieren, sondern die Vermischung von Messianismus und Zionismus überhaupt. Zionismus sei kein Messianismus: »Die Unfähigkeit der radikalen Zionisten, diesen außerordentlich bedeutsamen Satz einzusehen, macht schon aufs Steilste unsere Differenz sichtbar. Die Verwechslung, Vermischung und Verkehrung der Idee der Erlösung zu einer sozial wirksamen und sich völlig auswirkenden politischen Le-bensgemeinschaft ist nur ein sekundäres Anzeichen dieser Entzweiung. Darin aber

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DAS ASKETISCHE ETHOS 99

geht es um eine Trennung, wieder wird sie gegen einen Widerstand vollzogen, welcher der ganzen Konstellation die Spannung gibt und auch Scholems eigener Äußerung determiniert: Scholem nennt die Erkenntnis des unmessianischen Cha-rakters des Zionismus »tief«, sie ist nur esoterisch auszusprechen. Die exoterische Aussage, daß der Zionismus kein Messianismus sei, wäre in gewisser Hinsicht falsch, sie wäre eine rein politische Aussage, die zwar jenen »Schein« erzeugt, durch den geschützt sich die Wiedergeburt vollziehen könne, aber sie würde nicht den Zionismus als Ganzen beschreiben. Sehr bezeichnend schreibt er an Al -bert Baer: »Es gehört zu den wenigen Sätzen, die ich mich bereit finde, über den positiven Inhalt des Zionismus auszusagen, daß der Zionismus keine messiani-sche Bewegung ist - auch diesen sage ich hier nicht aus.« (Ebd., 632) Um den Zio-nismus zu beschreiben, kann kein kategorischer Unterschied zwischen Religion und Politik gemacht werden, es gibt nur eine prekäre Grenze, die immer wieder neu zu ziehen ist.

Daher muß Scholem über seinen Zionismus in gewisser Weise zugleich mes-sianisch und unmessianisch sprechen, so wie die »Geheimlehre« zugleich Vor-aussetzung der zionistischen Politik ist und in ihr nicht vorkommen darf. Das ist nur in einem in sich gebrochenen Diskurs möglich, der immer nur einen Teil ausspricht - seine Reflexionen müssen daher selbst esoterische oder ironische Form annehmen. In Die Lehre von Zion drückt sich das aus in der paradoxen Adressierung- »Für meine Schüler, die ich nicht habe« (ebd., 621) - und im un-klaren Status des Textes - Ist der Text die »Lehre von Zion« oder spricht er nur von ihr?

1.4.4 Esoterischer Zionismus: Scholem auf der Grenze. Scholem schreibt in sei-nen Erinnerungen, die Jahre von 1919 bis 1923 seien »im Grunde das Ende mei-ner inneren Entwicklung zu jener Konkretion des Daseins, von der ich geträumt hatte« (VBJ, 140) gewesen. Scholem hat inzwischen eine legitime Position und eine Sprache gefunden; er braucht den eigenen Ort nicht mehr emphatisch zu betonen und benötigt weder Visionen noch Ideologien, um sich als Zionist vor-zustellen: Die asketische Beschränkung und die Arbeit haben zu neuer »Sub-stanz« geführt, zu neuem Sprechen und zu neuer Autorität. Sehr treffend hat Franz Rosenzweig das in einer Bemerkung über Scholem ausgesprochen:

Für ihn ist sein Judentum nur Kloster. [...] Um diesen Preis der Verklostertheit oder Vereinsiedeltheit hat er sich dann freilich erkauft, was wir uns verdienen wer-den: man muß ihm glauben, ungefragt. [...] Er ist wirklich »dogmenlos«, man kann

erstreckt sich meine Gegnerschaft gegen den »radikalen« Zionismus. Nicht nur auf die ihn aufs Soziale hin mißverstehende, sondern auf die Vertreter einer zügellosen po-litischen Mystik überhaupt.« (T II , 633) Mit letzterer ist aber gerade die religiöse In-terpretation des Zionismus gemeint, vgl. dazu Scholem, »Politik der Mystik«.

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100 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

ihn gar nicht katechisieren. Das ist mir, bei einem Westjuden, noch nicht vorge-kommen. Er ist vielleicht der einzige schon wirklich Heimgekehrte, den es gibt. Aber er ist allein heimgekehrt. [...] Infolgedessen ist er sprachlos geworden. Er hat nur die Gebärde der Bewunderung oder Ablehnung, wirklich nur die Gebärdet

Tatsächlich bedingen sich Isolation, Zurückhaltung und polemische Autorität bei Scholem, allerdings ist er nur aus Rosenzweigs - durchaus polemischer -Perspektive »sprachlos«. Den »Dialog« verweigert er vielleicht, aber ihm bleiben die Formen des indirekten Ausdrucks, Sprachlosigkeit bzw. Schweigen bleibt eine Gefahr, aber Scholem verfügt auch über die Mittel, um dieser Gefahr zu begegnen.

Seine »Dogmenlosigkeit« schlägt sich auch in Scholems leitender Metaphorik nieder, diese ist jetzt nicht mehr die eines (dogmatischen) »Standpunktes«, son-dern der »Grenze«, des Dazwischen-Seins. In Die Lehre von Zion schreibt Scho-lem: »Das Schweben zwischen Zweifel und Tat und die Aufgabe, dieses Schweben selbst zu einem Wesentlichen in der Realisierung der Theokratie wer-den zu lassen, bestimmen unser ketzerisches Leben.« (T II , 622) Zionist sein, heißt, auf der Grenze zu leben, und wenn der Zionismus insgesamt ein Wider-ruf der Verwirrung sei, so bestehe die »Unreinheit« der meisten Zionisten darin, »daß sie jenseits dieses Widerrufes statt in ihm leben wollen« (ebd., 485). Gren-zen waren für Scholem schon immer wichtig - die »Scheidelinie« gegen Europa, die schwierige Abgrenzung von Buber, die Grenze zwischen Religion und Po-litik , schließlich auch die »Grenze zwischen Religion und Nihilismus« (Br I, 471), die für seine im nächsten Teil zu entfaltende theologische Reflexion we-sentlich ist. Stets gilt es, den Ort auf der Grenze selbst produktiv zu machen: »Man kann sagen, daß die Grenze das Medium meines Daseins sei. Ich poten-ziere mich selbst: dies ist eine gefährliche Tätigkeit.«(T II , 175)

Momente der Verzweiflung und Spuren der Krisen bleiben auch in diesen Formulierungen präsent - aber sie sind jetzt asketisch bewältigt, sie sind so ver-innerlicht, daß sie produktiv gedacht werden können. Das wird etwa in dem Text Die zionistische Verzweiflung aus dem Sommer 1920 deutlich, in dem die existentielle und religiöse Verzweiflung in eine »Theorie« der Grenze verwan-delt wird. Die »stabile« und »produktive« Verzweiflung des Zionisten wird jetzt von der »wilden« Verzweiflung unterschieden: »Die zionistische Verzweiflung führt niemals zum Selbstmord, der ihren Ordnungen entgegengesetzt ist.« (Ebd.)

Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, Bd I, 704. - Brocke (»Franz Rosenzweig und Gershom Scholem«) zeigt, daß diese Äußerung selbst im Kontext der Auseinander-setzung zwischen Rosenzweig und Scholem steht, jener will mit diesen Formulie-rungen Rudolph Hallo vor dem Einfluß Scholems schützen, der doch letztlich nur ein Nihilist sei: Er habe immer recht, aber man könne mit ihm auch keine fruchtbare Auseinandersetzung haben.

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DAS ASKETISCHE ETHOS 101

Der »konsequente« Selbstmord wird abgelöst von der Verzweiflung, die sich iro-nisch selbst zurücknimmt. Diese »potenzierte« Verzweiflung macht die Existenz wieder möglich und gibt die Sprache wieder; sie bleibt prägend und macht wohl auch eigentlich Scholems Besonderheit aus - denn man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß gerade dieser verinnerlichte Zweifel die besondere Qualität von Scholems späterer Prosa konstituiert: zugleich radikal und zurückhaltend, zugleich scharf und gelassen.154

In dem Text über Die zionistische Verzweiflung erkennt man deutlich noch die Person Scholems zwischen den Zeilen, eigentlich kommt er jetzt aber in sei-nem Schreiben zunehmend weniger vor - er verschwindet in seinen Texten.155

Auch das folgt zugleich der Logik der Askese und der des esoterischen Zionis-mus: Wenn es darum geht, zugleich messianisch und unmessianisch zu spre-chen, so ist das nicht mehr geradewegs möglich; die »Sphären« von Religion und Politik sind ja immer auch Sphären des Wortes. In verschiedenen Sphären zu schreiben, heißt auch immer, auf verschiedenen Niveaus, mit verschiedenen Adressierungen zu schreiben, es heißt, »esoterisch« zu schreiben, wenn man dar-unter nicht die Kommunikation des Verborgenen, sondern die verborgene Kommunikation versteht.156 Scholems »Esoterik« ist weniger ein Denkstil als eine Schreibpraxis, eine Kunst, mit seinen eigenen Texten umzugehen. Sym-ptomatisch dafür ist, daß Scholem zwar in späteren Jahren immer weniger eso-terische Aufzeichnungen macht und sicherlich nicht mehr die Intention hat, ein »System der Philosophie« zu entwerfen, daß er seine Jugendaufzeichnungen aber

»Die zionistische Verzweiflung betrifft die Skepsis an der Realisierbarkeit des Sicht-baren (die unmoralische betrifft die an der Realisierbarkeit des Unsichtbaren).« (T II , 638) - Vgl. auch »Die systematische Desillusionierung des jüdischen Volkes ist der »praktische« Ausdruck dieser substantiell zionistischen Propaganda: der Zweifel als Quell der Tat, das ist die menschliche Schicht, die wirksam und lebendig zu machen die Aufgabe ist. Glauben haben wir zu viel, Wissen gar keines, und das Medium der Verwandlung beider ineinander, in dem sich die zionistische Bewegung vollzieht, ist der Zweifel, die religiöse Macht des Judentums.« (Ebd., 637) Joseph Weiss, wohl der Lieblingsschüler Scholems hat das schon 1947 so charakteri-siert: »Was ist die Methode seiner Esoterik? Sie hat ihre Ähnlichkeit mit der Art man-ches mittelalterlichen Meisters, der sich selbst in die Gesichtszüge eines der tausend Gestalten seiner Massenbilder hineinzuschmuggeln pflegte.« (zit. nach: Br I, 459) 1960 antwortet Scholem diesem, er habe sich jetzt, in den Unhistorischen Sätzen, wie-der »zu einer der Figuren gemacht, die sich auf den bekannten Bildern verstecken« (zit. nach: Schäfer, »»Die Philologie der Kabbala ....«, 23). Im Sommer 1919 notiert er, »daß erstaunlich viel gerade bei den tiefsten Geistern so völlig ungesagt bleibt. Es ist, als ob die Dinge einen stummen, aber höchst wirksa-men Widerstand gegen gewisse Transformationen in die Sprache des Systems oder Schrifttums überhaupt haben. Die esoterische Seite des menschlichen Denkens kann kaum überschätzt werden.« (T II , 486)

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sorgfältig aufhebt, Abschriften von ihnen erstellt und sie - im Buch über Wal-ter Benjamin - auch wieder verwendet. Symptomatisch erscheint mir auch eine Praxis, die ungefähr 1917/18 einsetzt: Scholem beginnt, sich selbst zu zitieren, einzelne Formulierungen wandern durch verschiedene Texte. Das Schweifende und Suchende wird abgelöst durch ein Gewebe von Formulierungen, die Be-schwörung einer kommenden Ideologie wird abgelöst von dem Sammeln ver-schiedener Texte. So ein Schreiben intendiert nicht mehr die Gewinnung einer »unmißverständlichen Sprache«, die, einmal erworben, unendlich plastisch die eigene Identität aussprechen könnte; es produziert »nur« noch eine Reihe von Schriften, die nur mühsam und nur privat weitergeschrieben werden können. Gerade diese Zurückhaltung, diese Brechung im Selbstausdruck setzt die ein-zelne Äußerung in einen besonderen Wert ein; sie bremst das manische Schrei-ben und stellt wohl das Gegengewicht dar zu der sich gefährlich potenzierenden Selbstreflexion. Wenn Scholems Tagebücher zu Beginn dieser Phase etwas Selbstquälerisches, Zerfließendes haben, gewinnen sie jetzt eine Form.

Die Askese dieses esoterischen Schreibens ist Schutz vor der Phrase und vor der Verführung durch die Vorwegnahme, Schutz auch vor der performativen Magie von »Zion«. Trotzdem wird das, wovon er damals gesprochen hatte, auch nicht ganz preisgegeben, dafür sorgt eben jene Schreibpraxis: Was nicht ausge-sprochen werden kann, bleibt an anderer Stelle, verrätselt, auch präsent. Auch das, wovon Scholem jetzt nicht mehr sprechen will , ist damit irgendwo »aufge-hoben« - nicht in dem Sinne, daß es begrifflich kondensiert nun der weiteren Verwendung harren würde, sondern es wird mittransportiert als etwas Isolier-tes, Abgeschlossenes, das irgendwo in einem großen Archiv lagert. Wir werden noch sehen, wie sich die Spuren dieser Schriften an anderen Stellen in Scholems Werk finden, weniger in Form bestimmter »Gedanken« oder »Ideen« denn als be-stimmte Formulierungen, an denen Scholem hartnäckig festhält.

»Leidenschaft und Stille - das ist das Geheimnis der Zionisten.« (T II , 210) Beides hält sich hier gegenseitig aufrecht, der Preis dieser Balance, der Preis des asketischen Ethos überhaupt ist die Unmöglichkeit des Bekenntnisses. In Die Lehre von Zion schreibt er: »Dem Zionismus kann nicht geholfen werden, bis nicht zu allererst jede Möglichkeit des öffentlichen Bekenntnis genommen wird. Niemand soll das Recht zustehen, ein Organ für eine Bekehrung zu finden« (Ebd., 478). Innerhalb von Scholems Entwicklung und in seinem politischen Schreiben findet geradezu eine Umkehrung statt. Ursprünglich ist sein »Zionis-mus« ja vor allem anderen ein Bekenntnis, eine Formel, die es ihm ermöglicht, sich überhaupt wieder dem Judentum zu nähern: Jude sein hieß, »Zionist« sein, Zionist sein hieß, von >Zion< zu sprechen. Jetzt ist »Zion« aus dieser Rede ganz verschwunden, und von Zion zu sprechen heißt, es zu verraten. Der Zionismus ist »verinnerlicht«, so muß er auch esoterisch sein und sich verschleiern. An die-

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DAS ASKETISCHE ETHOS 103

ser Maskerade - wir werden sie noch an den verschiedenen Texten über die »wahren Absichten« seines Kabbala-Studiums thematisieren - hat Scholem wohl ein gewisses Vergnügen gehabt, aber sie ist ihm auch zur inneren Notwendig-keit geworden. Als etwa Hugo Bergman ihm 1947 nahelegt, er möge doch ein-mal nicht mehr als Historiker über die Aussagen anderer sprechen, sondern sich selbst äußern, bezweifelt Scholem, ob ihm das jemals möglich sein würde: »Denn ich habe ja den Glauben an die direkten »Botschaften« verloren, und ich kann keinen entdecken unter den »Verkündern«, der irgend einen Segen gebracht hätte. Ich neige zu der Ansicht, daß gerade die Naivität der direkten Hinwen-dung zum Menschen [...] verantwortlich ist für das Scheitern dieser Versuche« (Br 1,331).

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104 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

1.5 Die Krise der Einwanderung

I m Herbst 1923 wandert Scholem nach Palästina aus, zwei Jahre später wird er

Professor für jüdische Myst ik an der Universität Jerusalem - er ist angekom-

men und auch seine Er innerungen beendet er an dieser Stelle.157 Schon in den

bisher veröffentlichten Schriften und Briefen gibt es nicht wenige Spuren davon,

daß dieses A n k o m m en nicht ohne Probleme vor sich geht, eine Reihe jüngst

veröffentlichter Äußerungen und Briefe sowie einige bisher unveröffentlichte

Texte aus dieser Zeit - es handelt sich um eine Reihe esoterischer Manuskr ipte

aus den Jahren 1923-1931 - bestätigen diesen Eindruck; in Scholems späteren

Äußerungen wird die Ent täuschung kaum erwähnt und auch in der Literatur

zu Scholem hat sie bislang im Hintergrund gestanden.158

Man sollte die Enttäuschung, die sich in einigen Briefen niederschlägt, aller-

dings nicht überbewerten: Trotz allem bleibt er Zionist und verläßt Palästina

nicht wieder - was ja in den zwanziger Jahren durchaus nicht selten war. Auch

ist der Pessimismus, den Scholem seinen Not izbüchern und Briefen anvertraut,

immer nur die eine Seite; auf der anderen Seite, in weniger unglückl ichen

Stunden, engagiert Scholem sich konkret im Land und seinen Inst i tut ionen; er

wir d sogar im engeren Sinne polit isch tätig im Brit Shalom, einer Vereinigung

1977 schreibt Scholem über VBJ, er »glaube nicht, dass eine Fortsetzung kommt. Da wird es viel zu schwierig. Es ist auch viel leichter [...], kritisch über die Verhältnisse der eigenen Jugend zu schreiben, als über die schwierigen Entwicklungen im Lande Israel in den letzten fünfzig Jahren.« (Br III , 166) Diese Krise kann hier nur vorsichtig interpretiert werden, denn hier ist das Material noch spärlicher als für die Jahre von 1919-1923, vor allem aber stehen diese Äuße-rungen jetzt in einem ganz neuen Kontext der politischen Diskussionen in Palästina, den meine Arbeit nicht umfassend rekonstruieren wil l und kann; das wäre von künf-tiger Forschung zu leisten. - Zu den bekannten Zeugnissen dieser Krise zählt vor allem der 1975 veröffentlichte lange Brief Scholems von 1931 (WB, 211 ff) und der erst 1985 veröffentlichte Text Bekenntnis über unsere Sprache von 1926. Bei den noch unveröffentlichten Texten handelt es sich um ausschließlich esoterische Texte der Jahre 1923 bis 1930, von denen mir nicht einmal alle zugänglich waren, insgesamt un-gefähr 15 Schreibmaschinenseiten. Auch diese Texte sind vielfältig durch Selbstzitate miteinander verbunden. Ich werde diese Texte hier nicht ausgiebig zitieren, da mit baldigem Erscheinen gerechnet werden darf; ich danke ausdrücklich der Hand-schriftenabteilung der jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem für die Ermöglichung des Abdrucks. - Zum historischen Kontext vgl. den Überblick bei Biale, Gershom Scholem, 94ff, aufschlußreich für die Konflikte an der Hebräischen Universität ist die Darstellung von Myers, Re-lnventing Jewish Past, dort insbes. zu Scholem 151 f f.

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DIE KRISE DER EINWANDERUNG 105

zionistischer Intellektueller, die sich für eine Verständigung mit den Arabern einsetzt.159 Schließlich und vor allem triff t die Krise Scholem nicht unvorberei-tet: Wie wir schon gesehen haben, ist die Verzweiflung schon vorher eine zen-trale Komponente von Scholems Ethos. In gewisser Weise scheint er die Enttäuschung schon vorweggenommen zu haben, und so stehen die Mittel zu ihrer Bewältigung - Esoterik, Ironie, Rhetorik der Einsamkeit - auch schon be-reit. Es klingt daher auch nicht ganz unbekannt, was er 1933 an Benjamin schreibt: »Mein Leben hier ist nur möglich [...] weil ich mich dieser Sache bis in den Untergang und die Verzweiflung hinein verpflichtet fühle, sonst würde mich die Fragwürdigkeit einer Erneuerung, die vor allem als Sprachverfall und Hybris auftritt, schon längst gesprengt haben.« (Brw, 88)

Wie wir schon gesehen haben, besteht für Scholem ein enger Zusammenhang zwischen »Hybris« und »Sprachverfall«: Beide sind Resultat einer falschen Sprachpolitik, einer Vermischung von Religion und Politik in der »Phrase«. Wir werden in diesem Kapitel zunächst Scholems politische Enttäuschung bei der Einwanderung (1.5.1) und die damit korrespondierende Veränderung seines Ethos (1.5.2) zu verstehen suchen. Anschließend soll kurz seine Position nach dem Krieg umrissen werden, in der sich das Verhältnis zum Zionismus wieder stabilisiert (1.5.3) und Scholem eine neue Position für seine verschiedenen Schreibweisen findet (1.5.4) Der Sprachverfall, der hier ein ganz eigenes Thema und zugleich die Überleitung zum nächsten Teil ist, wird Gegenstand des näch-sten Kapitels sein.

1.5.1 Die Gefahr der Politik: Zionismus und Revisionismus. Schon Ende 1924, also ein Jahr nach seiner Einwanderung, nimmt Scholem in einem kurzen Text die Grundthemen seiner Enttäuschung vorweg:

Bei Gott - es war ja nicht dieses das was wir wollten. Wir glaubten im Innern an die Fülle des Herzens, und jene magere und kalte Kleinbürgerlichkeit, die einen Cha-luz mit einem Klausner verbindet - unvergesslich sind mir seine Tiraden, die ich 1923 in Petach-Tikwa anzuhören hatte, als ich zufällig in einen Vortrag von ihm ge-riet - bringt uns um. Und warum? Weil die Vertrocknung der Sprache unser Herz ausgedörrt hat [...]. Wir kamen und dachten uns in die Fülle eines Meeres zu stür-

Vgl. dazu Biale, Gershom Scholem, 97ff. - Lavski weist darauf hin, daß der Brit Shalom v.a. von liberalen und humanistischen Juden getragen wird: »The group thus deemed the Arab question a touchstone for the possibility of incorporating Zionism into their overall world-view.« (Lavski, »German Zionist and the Emergence of Brit Shalom«, 652) - Eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Brit Shalom habe nicht nur das Araberproblem, sondern auch die Herausforderung Jabotinskis gespielt (Vgl. ebd., 652ff, 658ff). - Scholem schreibt später, er habe den Humanismus der anderen Brit-Shalom-Mitglieder nicht geteilt: »For me it was a symbol of conduet.« (JJC, 43)

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106 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

zen [...], aber wir waten nur im Schlamm des Geschwätzes [...]. Metaphysisch haben wir die Schlacht, die der Zionismus in der Welt gewonnen hat, im Lande verloren.160

Statt einer Erneuerung des Judentums findet Scholem nur Kleinbürgerlichkeit oder - so ebenfalls in diesem Text - »weltlich vorgestrige Zionsstaatlichkeit«,161

statt einer lebendigen Sprache nur Geschwätz und statt einem metaphysischen Sieg nur einen Sieg in der Welt - diese drei Themen wiederholen sich immer wieder in seinen Aufzeichnungen. Die von Scholem schon in Deutschland kri-tisierte Vermischung von Religion und Politik findet im Jischuw, der jüdischen Ansiedlung in Palästina, kontinuierlich und massiv statt. Der Jischuw, an sich schon eine hochgradig politisierte und ideologisierte Gesellschaft, befindet sich in der frühen Zwischenkriegszeit in einer entscheidenden Umbruchphase: Die gesellschaftlichen Institutionen werden aufgebaut und die ideologischen Kon-flikt e spitzen sich zu. Scholem, der seine Position unter ideologisch viel ent-spannteren Verhältnissen konstituiert hatte, bleibt demgegenüber fremd. Schon 1926 schreibt er: »Wir glaubten in unserer Jugend, dass Ackerbaudörfer in Palä-stina zwar nicht Zionismus sind, wohl aber mit ihm in unmittelbarer Beziehung stehen. Unser Glaube hat sich als falsch erwiesen.«162 Er kritisiert die schon seit langem im Jischuw vertretenen sozialistischen Zionisten, vor allem aber den ge-rade aufkommenden revisionistischen Zionismus.

Der Revisionismus tritt als politische Kraft innerhalb des Zionismus auf, als sich Vladimir Jabotinski von der herrschenden Politik Chaim Weizmanns di-stanziert, eine »Revision« dieser Politik und die Rückkehr zu Herzls am Staat orientierter Politik fordert. Während Weizmann eher auf einen kontinuierlichen Aufbau der jüdischen Gesellschaft in Palästina setzt und das endgültige Ziel

160 Scholem, » Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben ...«, 1 (Are 4° 1599/277-I, Nr. 52).

161 Scholem, a.a.O. 162 Scholem, »Die Verzweiflung des Siegenden, 2 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 57). - 1928

schreibt er sogar, »in dem grossen Missverständnis, als ob Erneuerung etwas mit der Sache der Kolonisation zu tun hätte, liegt der Schlüssel zu unserem Scheitern ver-borgen.« (Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72)) - Es gebe eine «Verleugnung der Berufung« des Zionismus, »die aus reli-giösen Bezirken stammend ins Soziale umgefälscht worden ist und dadurch zur Ka-rikatur jenes traurigen Exempels unsterblicher Heuchelei geworden ist, die man als die Figur des jüdischen Sozialismus erkennt«, (ebd., 2) - Scholem kann den Sozialis-mus auch loben: »[D]ie grosse Chance der inneren Freiheit des Arbeiters ohne all-zustarke Bindungen ist ja gewiss das Beste am hiesigen Dasein.« (Scholem, »Heute vor 3 Jahren ...«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr.60)) Sehr bezeichnend auch in einem Brief an Simon: »Sie wissen, ich identifiziere den Sozialismus hier nicht mit dem Zionis-mus (schon gar nicht!!) aber mit was anderem kann man ihn überhaupt nicht in Ver-bindung bringen.« (Br I, 228)

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DIE KRISE DER EINWANDERUNG 107

dieser Entwicklung offen läßt, vor allem um dem Konflikt mit den Arabern aus-zuweichen, versucht Jabotinski dagegen immer wieder, die zionistische Be-wegung zu einer Resolution über das »Endziel« des Zionismus zu bringen, das nur eines sein könne: ein jüdischer Staat in seinen natürlichen Grenzen, d.h. auf beiden Seiten des Jordans. Die Staatsbildung müsse absoluten Vorrang haben, ihr müsse alles andere untergeordnet werden, insbesondere die sozialistischen Experimente des Arbeiterzionismus. Mi t seinem massiven Antisozialismus wird Jabotinski so auch zum Sprecher der in den zwanziger Jahren einwandernden bürgerlichen Mittelschichten.

Wie Herzl ist Jabotinski von der Idee des Staates und der symbolischen Seite des Zionismus fasziniert, allerdings verändert sich das Bild: Während bei Herzl eher die repräsentativen Seiten der Politik im Zentrum stehen, vor allem die Kongresse, geht es bei Jabotinski zeitgemäß um Disziplin und Militär . Der jü-dische Soldat, also das exakte Gegenteil der Diaspora-Existenz, soll das Ideal des neuen Juden bilden.163 Die Revisionisten können als der klassische Fall einer »Bewegung« innerhalb des Zionismus betrachtet werden: Eine »monistische« Ideologie und das Führerprinzip sollen die verschiedenen und durchaus hete-rogenen Gruppen zusammenhalten, die Jabotinski vertritt.164 Erfolgreich und -aus Scholems Sicht - folgenreich wird dies dadurch, daß Jabotinski den »inte-gralistischen Nationalismus« durch einen massiven Rückgriff auf das religiöse Erbe begründet: Er präsentiert seine Ideen in biblischen Romanen, hält Reden, die den Anspruch auf das »ganze Israel« aus der Bibel begründen.165 Vor allem der politisch verstandene Messianismus als das kontinuierliche Bestreben der Juden nach einem eigenen Staat wird zu einem integralen Bestandteil der revi-

Avinieri zitiert eine begeisterte Schilderung, die Jabotinski von einer Militärparade gibt: Es sei »the highest achievement of a multitude of free human beings to be able to act together with the absolute precision of a machine« (zit. nach: Avinieri, The Making of Modern Zionism, 172). Shavit betont, daß der Revisionismus nur in dieser Weise als Bewegung zu einer Ein-heit werden konnte: »It became apparent, that in order to provide the movement with an ideology, a political viewpoint was not sufficient. One needed a füll set of ideas and an all-inclusive program for every area of life. The middle class had to be given a sense of mission.« (Shavit, »Fire and Water«, 550) - Nach Avinieri hat der italienische Na-tionalismus für Jabotinski Vorbildfunktion, zunächst der Nationalismus der hero-ischen Freiwilligen Garibaldis, dann des italienischen Faschismus (vgl. Avinieri, The Making of Modern Zionism, 162ff); über Jabotinskis Rassentheorie vgl. ebd., 166ff. Vgl. Shavit, »Fire and Water«, 558f. »What really gave Jabotinsky's social ideas a mo-nistic flavor [...] was their Biblical garb« (ebd., 558) Wie Shavit ebenfalls darstellt, han-delt es sich hier vor allem um zeitgenössisches Gedankengut über den korporativen Staat, das nur äußerlich einen biblischen Anstrich bekommt; gerade dieser sei aber in der Jugendbewegung besonders wichtig gewesen.

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108 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

sionistischen Ideologie, die etwa von Joseph Klausner, wie Scholem Professor

an der Hebräischen Universität, verbreitet wird.166

Mi t dem Aufkommen der revisionistischen Bewegung scheint für Scholem

das Verhältnis zwischen Religion und Politik in eine neue, noch fatalere Phase

getreten zu sein, hier bricht die ganze Problematik des Zionismus auf: »Seit so

unverkennbar die Revisionisten als echte Utopisten die Erbschaft der zionisti-

schen Apokalypse angetreten haben, ist die innere Entb lößung des Zionismus

deutl ich geworden.«1 67 Gegen die hier zutage tretende Mischung von Religion

und Polit ik spricht sich Scholem jetzt auch öffentlich aus: Al s dem Brit Shalom

1929 vorgeworfen wird, dessen Friedenspolit ik verrate die Hoffnung auf voll-

ständige Erlösung, entgegnet Scholem.:

I, a member of Brit Shalom, am opposed [...] to mixing up religious and political concepts. I categorically deny that Zionism is a messianic movement and that it is entitled to use religious terminology to advance its political aims. The redemption of the Jewish people, which as a Zionist I desire, is in no way identical with the religious redemption I hope for the future.168

Wie schon vor seiner Auswanderung unterscheidet Scholem hier nicht nur Re-

ligion und Politik, sondern er betont, daß die Politik nicht »berechtigt« sei, sich

religiöser Sprache zu bedienen, das könne immer nur propagandistisch und zum

Schein geschehen:

The Zionist ideal is one thing and the messianic ideal is another, and the two do not touch except in pompous phraseology of mass rallies, which often infuse into our youth a spirit of new Sabbatianism that must inevitably fail. The Zionist movement is congenially alien to the Sabbatian movement, and the attempts to infuse Sabbatian spirit into it has already caused a great deal of härm.169

166 Jabotinski ist nicht der einzige, der das religiöse Erbe zu solchen Zwecken nutzt, der schon erwähnte Joseph Klausner folgt ebenfalls dieser Tendenz. Klausner wird bald zum Intimfeind Scholems, s.o. Anm. 160. Das Vorwort von Klausners histo-rischen Studie The Messianic Idea in Israel macht die politische Absicht deutlich: »It is not the Hebraic, the prophetic, the Messianic-Israelite social conception which has become a basis for bringing about redemption in the land of vision and promise, but a foreign social conception linked up with economic and historical materialism, to which the prophetic idealism is a mockery. [...] Zionist social po-licy cannot be based on an authoritarian materialism [...], it must be prophetic, saturated with the Jewish Messianic idea.« (Klausner, The Messianic Idea, X - die Hebräische Ausgabe ist von 1927). - Über Klausner und seine Funktion im Wis-senschaftsbetrieb vgl. Myers, Re-Inventing the Jewish Past, 94ff. Klausner scheint, was die Breitenwirkung angeht, der einflußreichste der Jerusalemer Hochschul-lehrer gewesen zu sein.

167 Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 2 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72). 168 Zit. nach: JJC, 44. - Zum Kontext vgl. Biale, Gershom Scholem, 99f. 169 Zit. nach: JJC, 44. - Ähnliches findet sich auch in privaten Äußerungen: »Die Hoff-

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DIE KRISE DER EINWANDERUNG 109

In privaten Reflexionen räumt Scholem allerdings ein, daß die Zionisten bisher die Kraft der religiösen Überlieferung nicht begriffen hätten: Sie hätten, so Scho-lem, immer nur nach vorne geschaut, es sei ihnen aber nie gelungen, diese »Beru-fung« mit einer »Besinnung« auf die Vergangenheit zu verbinden. »Die Zionisten, die sich der Dialektik ihrer Lage nie bewusst geworden sind, haben sich für den ausgebliebenen Erfolg im Historischen mit der Vergröberung ihrer Intentionen bis auf handfestes Mass hinab entschädigt. [—]Je gröber aber die Begriffe werden, desto nachdrücklicher wird die Realität der nächsten Jahre für ihre Auflösung sor-gen.«170 Scholem scheint hier zu meinen, daß die Schwierigkeiten im Aufbau des Jischuw, insbesondere die immer schwierigere Verständigung mit den Arabern, schließlich zum »handfesten« Nationalismus der Revisionisten geführt habe, der die konkreten Schwierigkeiten durch weitreichende Proklamationen übertönt. Neu an diesen Überlegungen ist, daß Scholem nicht nur die metapolitischen Ge-fahren dieses Vorgehens thematisiert (den Verrat am »unsichtbaren« Zionismus), sondern auch das ganz konkrete politische Risiko für den Jischuw: Ein Bündnis des Zionismus mit dem britischen Imperialismus oder gar die revisionistische Po-liti k jüdischer Macht würde letztlich zum Untergang des Zionismus führen.171

Als er daher - wohl irrtümlich - die Revisionisten als Sieger aus dem Zionisten-kongreß von 1931 hervorgehen sieht und dessen Schlußerklärung als offizielle Proklamation der Eigenstaatlichkeit zum Endziel des Zionismus interpretiert, er-reicht die Verzweiflung ihren Gipfel.172 In dieser Situation entsteht der lange Brief an Benjamin, in dem er nicht nur seine Distanz zum Zionismus hervorhebt, son-dern auch über die Ursachen von dessen Krise reflektiert.

nung auf Wiederherstellung einer Kontinuität, die durch Europa gefährdet schien, die religio, das Bemühen um »Wiederverbindung« mit den entscheidenden Lebens-kräften ist in einen verlogenen Chauvinismus umgebogen worden, bis nur das bare Aussen, mit einer messianischen Fratze verhängt, noch blieb.« (Scholem, »Nach fünf-zehn Jahren: Selbstbetrug?«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72)) Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 3f (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72) -»So siegreich sind wir Zionisten ja nie gewesen, dass wir uns hätten erlauben dürfen, zurückzublicken - und eben das ist der Fehler, den man korrigieren müsste. Denn wie könnte der Zionismus der historischen Besinnung sich zu entäussern, um un-verwandt seiner Berufung zu folgen. Es war unser Schicksal, beides vereinigen zu sol-len, und wir haben es nicht vermocht.« (ebd., 3) Die realpolitischen Gefahren des Zionismus führt Scholem vor allem aus in dem Ar-tikel »Um was geht der Streit?« (Are 4° 1599/277-1, Nr. 73) Im langen Brief an Benjamin schreibt Scholem, man habe auf diesem Kongreß »eine offen gegen uns [den Brit Shalom] gerichtete Resolution über das sogenannte »End-ziel« des Zionismus angenommen, durch die wir, wenn es genau zu nehmen wäre, eigentlich automatisch nicht mehr als »Zionisten« im Sinne der Organisation erschei-nen« (WB, 215). Tatsächlich wird die Resolution der Revisionisten auf dem Kongreß abgelehnt, vgl. dazu Biale, Gershom Scholem, 103.

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110 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

1.5.2 Der >verfrühte Sieg< und der >Esoteriker alter Mode<. Auch diese Ursachen

sind zu einem guten Teil schon bekannt: Einerseits habe der Zionismus zu früh

gesiegt, andererseits sei er zu stark an das Licht der Öffentlichkeit getreten. Wenn

Scholem dabei von dem Licht der Öffentlichkeit spricht - »Das Sichtbarwerden

unserer Sache hat sie zerstört.« (WB, 217) - , so steht das zunächst ganz in der

Tradition der deutschen »unpolitischen« Intellektuellen, die ihre metapolitischen

Werte vor der politischen »Profanation« schützen wollen.173 Es ist aber auch mehr

dabei: Erstens muß man Scholems Sätze nicht als Pauschaläußerungen lesen, son-

dern auch in den Kontext der Auseinandersetzung mit den Revisionisten stellen.

Zweitens ist zu beachten, daß Scholems Sorge hier weniger dem rein zu erhal-

tenden geistigen Zionismus gilt als der politischen Akt ion.

Deutl ich wird das dort, wo Scholem das andere Motiv der Krise, das des ver-

frühten Sieges erörtert. Schon in seiner ersten Aufzeichnung nach der Einwan-

derung hatte er davon gesprochen, daß der Sieg in der Welt den Sieg im Land

verhindert habe. Zwei Jahre später, 1926 verfaßt er über dieses Thema den Text

Die Verzweiflung der Siegenden: Die »Erbsünde« des Zionismus sei die »Anti-

cipation unseres Sieges«:

Wer seine Siege im Geistigen vorwegnimmt, verliert die Macht, sie im Körperli-chen zu gewinnen. Wir träumten nicht nur, unsere Utopien selber, die schönen Stunden, die wir zu schwärmen glaubten, sie haben unsere beste Kraft gesogen: wir haben zu früh gesiegt, denn wir sind in der sichtbaren Welt der Intelligenz die Sieger, bevor wir es in der unsichtbaren der Dämonen waren, die die Sprache un-serer in Versammlungen erkämpften Wiedergeburt bedrohen.174

Hier ist gerade nicht die Profanation der Utopie das Problem, sondern umge-

kehrt hat das utopische Träumen den polit ischen Sieg unmögl ich gemacht, das

Geistige bedroht also das Körperliche. Allerdings hat der geistige Sieg für Scho-

Die Kriti k der Öffentlichkeit haben wir schon oben an Scholems Warnung gesehen, die »Wiedergeburt nicht am kalten Licht der Öffentlichkeit erfrieren zu lassen« (Br I, 218); 1928 spricht Scholem vom »Fluch der Öffentlichkeit, das Ur-Paradox und also Ur-Problem unseres Unternehmens« (Scholem, »»Konsolidierung««, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr.69)) - Vgl. Wohlfahrt: »Scholems theologisch-politische Kriti k am empirischen Zionismus hält sich zwar an die »geheimen Güter« des Judentums, hat aber nichts spezifisch Jüdisches an sich. Sie überträgt vielmehr auf palästinensische Verhältnisse ein Gedankengut, das der deutschen Romantik entstammt, seit Nietz-sche überall im philosophisch-politischen Spektrum anzutreffen ist und sich allzu oft gegen die Juden hat ausspielen lassen. »Das Licht der Öffentlichkeit« - so ein von Hannah Arendt mehrfach zitierter Satz Martin Heideggers - »verdunkelt alles«.« (Wohlfahrt, »Haarscharf auf der Grenze...«, 195) Wohlfahrt liefert zwar eine genaue immanente Lektüre, blendet aber den Kontext der Äußerungen vollkommen aus, die dadurch eine nicht angemessene Allgemeinheit bekommen. Scholem, »Die Verzweiflung des Siegenden«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 57).

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DIE KRISE DER EINWANDERUNG 111

lern an einem falschen Ort stattgefunden, in der »sichtbaren Welt der Intelli-genz«, womit Scholem einen Bereich zu meinen scheint, in dem sich Politisches und Geistiges bastardisieren. Es ist die Sphäre der politischen Sprache, hier hat sich die Vermischung von Religion und Politik fatal ausgewirkt. Denn der ideo-logische Sieg des Zionismus ist nach Scholem nur durch Propaganda möglich gewesen: »Der Abgrund, auf dem der Zionismus nun geht, ist fürchterlich: es hat sich gezeigt, dass »Propaganda« eine Macht ist, die beschworen werden konnte, uns zu helfen, und wie alle Geister, nicht mehr ging. Nun, wo wir gar nicht mehr still sein können, verhindert uns unsere »Propaganda« zu siegen.«175

Der Zionismus ist »metapolitisch« erfolgreich geblieben, er hat die geistige Er-neuerung der Diaspora tatsächlich in gewissem Sinne geleistet, aber er hat dabei nicht nur seine Kraft verloren, sondern er hat sein Ziel auch nur dadurch er-reicht, daß er das religiöse Erbe zu politischen Zwecken benutzt hat.176 Gerade der Revisionismus, so scheint Scholem zu meinen, zeige, wie gefährlich dies nicht nur für das »geistige« Erbe ist, sondern auch für eine Politik, die sich mit der Hypothek solcher Propaganda belädt.

Es erscheint mir letztlich fraglich, ob Scholems Äußerungen zu den Ursachen der zionistischen Krise ein kohärentes Bild ergeben. Seine eigentliche politische Theorie entwickelt Scholem auch nicht hier, sondern in seinen historischen Stu-dien über den Sabbatianismus, in diesem Zusammenhang werden wir auch auf sie eingehen (s.u. Kap. 3.6). Deutlich sollte jedenfalls geworden sein, daß es sich hier nicht ausschließlich um die - vorhersehbare - Enttäuschung über die Kon-kretion einer Utopie handelt, sondern daß zum einen zumindest zum Teil spe-zifischere Erfahrungen dahinter stehen, daß zum anderen hinter Scholems Reflexionen nicht nur ein metapolitischer Überbietungsgestus steht, sondern ein komplexes Verhältnis von Religion und Politik.177

175 Scholem, a.a.O.,1 f. 176 Vorweggenommen ist der Sieg auch deshalb, weil der Zionismus das jüdische Leben

in der Diaspora erneuert und dabei seine Kraft verbraucht hat: »Als der Zionismus in Berlin siegte, von unser Aufgabe her gesehen also im leeren Raum, konnte er es in Jerusalem nicht mehr.« (WB, 216) Vgl. auch: »Der Zionismus sicherte wieder einmal die Existenz des Judentums für ein oder zwei Geschlechter. Das war ein Sieg, an den wir überhaupt nicht gedacht hatten, ein Sieg auf einem Felde, auf dem wir gar nicht kämpfen wollten. Dieser Sieg aber kostete den Zionismus das Beste seiner Kraft.« (Scholem, »Um was geht der Streit?«, 16 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 73)) - Vgl. auch: »Wir klagen so oft über die Schwäche des Zionismus in vielen Ländern; wenn wir aber einmal etwa Deutschland betrachten, so war dort der Zionismus zweifellos die Kraft, die das vertrocknete deutsche Judentum belebte und vor dem geistigen und hi-storischen Untergang rettete.« (Ebd.) - »Dubnow [...] hat zusammen mit dem Zio-nismus gesiegt, das ist das Paradoxon der zionistischen Bewegung.« (Ebd., 17)

177 An Kraft schreibt Scholem schon 1925: »Du kannst Dir in keiner Weise vorstellen, welche Welten sich hier berühren: das Leben hier ist für denkende Köpfe eine offene

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112 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Auch wenn Scholem auf eine bereits entwickelte Rhetorik der Krise zurück-greifen kann, verschiebt sich doch die Position. In Deutschland hatte Scholem noch die Möglichkeit eines ironischen Gebrauches der Propaganda und einer Verstellung als Bürger gesehen, er hatte »im Namen« einer unsichtbaren Bewe-gung gesprochen, als derjenige, der den Zusammenhang durchschaut, aber nicht in ihm steht. Einen solchen Platz gibt es jetzt nicht mehr: Jetzt spricht Scholem davon, daß »wir« in eine Krise geraten sind. Dabei nimmt die Skepsis von Jahr zu Jahr zu: Im Text von 1924 betont Scholem noch die kritische Situation des Zionismus: Jetzt sei die Stunde, »wo die Herzen sich entscheiden müssen, ob sie den Zionismus, dessen Sinn die Vorbereitung des Ewigen ist, gegen den Zio-nismus des Judenstaats, der die Katastrophe ist, aufgeben wollen«.178 Von die-sem Pathos des zugespitzten Momentes bleibt nicht viel übrig im Verlauf der verschiedenen Überarbeitungen und Umschreibungen: Schon zwei Jahre spä-ter schreibt Scholem, »der Zionismus, der uns herbrachte, ist hier zur Farce ge-worden«,179 schließlich im letzten überlieferten Text von 1930, aus dem auch der große Brief an Benjamin zitiert, heißt es: »Wir haben die unsichtbaren Kräfte der Geschichte falsch eingeschätzt. Kann aber ein Irrtum repariert werden? Ist nicht Unwiderruflichkeit das wahre Sigel des Historischen?«180 Fast scheint Scholem hier nur noch im Rückblick auf etwas schon Abgelaufenes zu schreiben, der Titel Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug? suggeriert, daß der Zionismus, den er seit seiner Jugend als die klare Richtlinie gewählt hat, ihn wieder in den »Selbstbetrug« zurückgeführt hat, aus dem er sich hatte befreien wollen.

Wenn es keine positive, klare Möglichkeit mehr gibt, wird das eigene Han-deln sinnlos: »Es handelt sich nicht darum, sich zu retten, sondern anständig zugrunde zu gehen: in den Abgrund zu springen, den Abgrund zwischen Sieg und Wirklichkeit, Zionismus und Existenz, um ihn zu schliessen. Aber wir haben keine Sprache. Darum wird unser Opfer vergeblich sein.«181 Es scheint, daß die Position auf der »Grenze« von Religion und Politik ihm selbst nicht mehr als produktiv erscheint, und wenn er jetzt Stille gefunden zu haben meint,

Einladung, überzuschnappen, und auf jeden Fall ist so oder so ein theologi-scher Hintergrund auch der lächerlichsten Lebensform unentrinnbar notwendig.« (Br 1,222)

8 Scholem, »Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 52).

9 Scholem, »Heute vor 3 Jahren ...«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 60). - Auch hier wird die Zukunft noch beschworen: »Das Land ist der Spielball von Leidenschaften, die nicht mehr von uns abhängen. In abermals 3 Jahren wird es sich entschieden haben, ob es noch Hoffnungen auf einen zionistischen Ausgang gibt.« (Ebd.)

0 Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72). 1 Scholem, »Die Verzweiflung des Siegenden«, 2 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 57).

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DI E KRISE DER EINWANDERUNG 113

ist das nicht das lebendige Schweigen des Geheimbundes, sondern eine private

und schmerzhafte Stille.182 Die Entwick lung habe nicht zur Klarheit geführt:

In unserer Jugend standen wir im Zentrum, dort war uns alles geordnet, aber seit-dem wir aus ihm herausgetreten sind [...], blendet uns ein zweideutiges Licht: Po-liti k in ihrer Auswirkung auf unser Leben. Im Zentrum gibt es keine Politik, und ohne messianischen Verführungen zu erliegen, waren wir uns doch des religiösen Begriffes unserer Aufgabe gewiss. Das ist anders geworden. Und doch stehen wir auch nicht in der fremden Dimension, von der unsere Bewegung schon als in sich abgeschlossen erblickt werden würde.183

Al s Zionist bleibt Scholem im Polit ischen verhaftet - die Abwendung von dem

profanen Projekt zu einer Religion jenseits der Polit ik lehnt Scholem auch hier

ab.184 Immer noch ist der wahre Ort des Zionisten auf der Grenze und im Zwei-

fel, aber dieser Standpunkt erscheint ihm jetzt weder als produkt iv noch als klar:

»Wo aber stehen wir? Das ist nicht auf Begriffe zu bringen, und das ist ein Ein-

wand. Wir suchen von einer noch nicht entfalteten, also geheimen, Wirklichkeit

her das Äussere zu beeinflussen. Das ist ein zwar mystisches, aber dennoch aus-

sichtsloses Unternehmen, und das Wissen um das Kämpfen auf verlorenem Po-

»Ich kann keine Brücke von meinen geheimen Hoffnungen zu dem kleinbürger-lich-verlogenen, mit der nationalen Phrase geschmückten Bum-Bum (Betrieb) finden. Das waren nicht die Kräfte, die mich lockten. Aber ich habe wenigstens das eine gefunden: Stille.« (Scholem, »Heute vor 3 Jahren ...«, 1 (Are 4° 1599/277-1, Nr.60)) Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 4f (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72). Dies scheint der folgende Satz zu meinen: »Einige sprangen hinüber, man darf nicht einmal sagen, dass sie sich retteten, denn die wir kannten, trugen das Stigma des Un-tergangs nicht weniger als die, die nicht springen konnten.« (Scholem, a.a.O., 5 )-Spuren seines Vorbehaltes gegenüber dieser Rückwendung einiger Freunde zur Re-ligion finden sich in verschiedenen Äußerungen: An Ernst Simon schreibt er 1925 warnend: rmön 'bin [ba'ale teschuwa, d.h. zum Judentum zurückgekehrte] haben Hybris zu fürchten. Beten Sie keine Leitartikel und lassen sie den H. L. [Harry Levy, den Herausgeber der orthodoxen Zeitschrift, bei der Simon arbeitete] nicht mit dem Himmelreich experimentieren - [...] so etwas rächt sich.« (Br 1,224f) Er kritisiert Je-huda Magnes neuerwachte Frömmigkeit (Br I, 331), auch bei Agnon führt dessen or-thodoxe Haltung zur Distanzierung, s.u. Anm. 256. - Bergmann berichtet, Scholem habe 1928 gesagt: »Einmal war eine Stunde da: das war, als nach der Balfour-Dekla-ration die messianische Stimmung war. Damals hätte Kook durch eine revolutionäre Tat, durch Erleichterungen, die jüdische Religion retten können. Die Stunde verging, Kook fand den Mut nicht angesichts seiner vielen Gegner. [...] Wenn der Zionismus einmal sein Ziel erreicht hätte und eine Gemeinschaft neu geschaffen würde, dann würde auch der Schulchan Aruch neu geschaffen werden. Bis dahin müsse man zwi-schen zwei Stühlen sitzen, es gibt legitim vor Gott Menschen, die zwischen zwei Stühlen sitzen.« (Bergmann, Tagebücher und Briefe I, 261)

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114 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

sten ist nicht fruchtbar - jedenfalls nicht jenseits der Erkenntnis.«1 85 Die alten

Begriffe des asketischen Ethos sind noch vorhanden, aber sie scheinen in keine

positive Konstellation mehr gebracht werden zu können und bleiben als Frag-

mente im Raum. Immer noch gibt es Paradoxien, aber sie haben keine produk-

tive Kraft mehr, sie schaffen keine Klärung und weisen nicht in die Zukunft:

»Wir aber bleiben als die Esoteriker einer alten Mode stehen. Unsere Physio-

gnomie wird zweideutig und verworren blieben.«186

Den Brief an Benjamin schließt er mit einem resignierten Schluß: »Unsere ei-

gene Hybr is hat uns den Weg verbaut, der zum Volke führt. So bleibt uns nur

die Produktivi tät des Untergehenden, der sich erkennt. In sie habe ich mich seit

Jahren vergraben.« (WB, 217) Immer ist die Einsamkeit die Strategie: Sie soll

gegen die Hybr is der Politik und der Religion schützen und die für den Ethos

notwendige Eindeutigkeit konstituieren.187 Zugleich ist sie die Posit ion, die für

Scholem tatsächlich auch wieder produkt iv wird, denn was ist schließlich ein-

samer als die Archive, in denen sich Scholem in jenen Jahren auf die Suche nach

kabbalistischen Manuskr ipten macht?

Allerdings geht es der Einsamkeit, von der Scholem hier spricht, nicht mehr

um die Verwirk l ichung der Gemeinschaft durch Einsamkeit, sondern sie ist

die wirkliche Isolierung des Einzelnen. Tatsächlich bleibt Scholem einsam, und

die E inwanderung nach Israel stellt nicht den existentiellen Wandel dar, den

er sich einmal von ihr erhofft hatte: Al s Professor an der Universität - einer im

Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 5 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72). -Auch der esoterische Zionismus erscheint jetzt als problematisch, vielleicht trägt ge-rade die Erfahrung, daß die religiösen Inhalte ganz reaktionär genutzt werden kön-nen, dazu bei, daß Scholem jetzt diesen Standpunkt in Frage stellt. »Es ist wohl schon so, daß der Zionismus nur noch hinter dem Rücken der Zeit sein Dasein führen kann. Vielleicht ist das der unverrückbarste Standpunkt - wie es zugleich auch der reak-tionärste ist.« (Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 4 (Are 4° 1599/277-I, Nr. 72)) Scholem, »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?«, 4 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72). -Vgl. auch: »Zuerst schien es uns als ob das Judentum durch den Zionismus zu reiner und würdiger Gestalt kommen würde, dann machte uns die Korruption seiner Moral und seiner Sprache stutzig, dann verschob sich das Bild ins Paradoxe, statt der nai-ven Gradlinigkeit positiver Konstellationen begannen wir die Einschaltungen des Wi-derstandes in diesen Prozess wichtiger zu empfinden als den unheilvollen Ablauf des Prozesses selbst.« (Ebd., 5) An Benjamin kritisiert er in den dreißiger Jahren, dieser habe seiner Angst vor der Einsamkeit nachgegeben und sei deshalb in Gefahr, der Konfusion von Religion und Politik zu erliegen: »Dich gefährdet das Verlangen nach Gemeinschaft, und sei es selbst der apokalyptischen Revolution, mehr als das Grauen der Einsamkeit« (Ben-jamin, Briefe 533). - Vgl. dazu Wohlfahrt, »»Die eigene, bis zum verschwinden reife Einsamkeit««.

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DIE KRISE DER EINWANDERUNG 115

Jischuw fremden und damals auch umstrittenen Institution - bleibt er in gewisser Hinsicht isoliert, den Habitus eines mitteleuropäischen Intellektuel-len - um nicht zu sagen: eines deutschen Professors - behält er bis ins hohe Alter bei. Ironischerweise wird Scholem, der sich in seiner Jugend so heftig von Deutschland und Europa ablösen wollte, jetzt gerade als ausgesprochen deutsch wahrgenommen.

1.5.3 Nach der Krise: Stabilität oder Melancholie? Scholems apokalyptische Warnungen aus den zwanziger Jahren bleiben nicht sein letztes Wort über den Zionismus: In seinen Äußerungen nach dem Krieg steht nicht mehr die befrei-ende oder apokalyptische Zukunft einer Krise im Vordergrund, sondern jene »Dialektik von Kontinuität und Revolte«, die wir bereits in Scholems rück-blickender Interpretation des Zionismus beobachtet haben. Das »Aufbrechen der Widersprüche« in dieser Bewegung ist für Scholem unübersehbar gewor-den - aber es wird jetzt auch positiv bewertet, als ein Lebensprozeß, als »Meta-morphose«.188 Dabei handelt es sich weniger um eine Versöhnung mit den realpolitischen Verhältnissen als um ein Resignieren, die Spannungen erschei-nen weniger überwunden als entschärft, oder wenn überwunden, dann nur durch die noch tragischeren Ereignisse des Holocaust. Schon 1946 äußert Scho-lem in einem Vortrag, die Katastrophe des europäischen Judentums habe auch den Zionismus vor eine neue Aufgabe gestellt. Bisher habe der Zionismus gegen das Exil rebelliert und aus dieser Rebellion seine Kraft bezogen; zugleich habe man in dieser Rebellion doch die Kontinuität mit der Diaspora niemals voll-ständig aufgegeben. So habe der Zionismus ein belebendes Element innerhalb der jüdischen Geschichte darstellen können:

This revolutionism was quite convenient to all of us, so long as there was someone against whom to rebel. Today, following the great disaster which has befallen our people our Situation has been tragically altered: the revolution finds itself in a vacuum from the national viewpoint; the nation is no longer the great reservoir

Für die Entwicklungen in diesen Jahren gelten die im letzten Kapitel gemachten Ein-schränkungen in verstärkter Weise: Erstens gibt es auch für den Zeitraum nach dem Krieg nicht viele Texte, in denen sich Scholem über seine politische Position und sein Selbstverständnis äußert, noch dazu handelt es sich in der Regel um Interviews, die nicht dieselbe Ernsthaftigkeit haben wie schriftliche Äußerungen. Der eigentliche Schwerpunkt von Scholems Schreiben nach dem Krieg liegt nicht in diesen Äuße-rungen, sondern in seinen historischen Schriften; in diesem Rahmen und als Histo-riographie werden wir sie auch im dritten Teil lesen. Zweitens kann ich hier nicht auf die Entwicklung der israelischen Politik und auch nicht auf die Diskussion über die jüdische Identität eingehen, obwohl gerade die amerikanische Diskussion für Scho-lems Wirkungsgeschichte äußerst wichtig ist. Auch hier wäre noch ein weites Feld für weitere Forschungen.

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116 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

assuring the continuity of that against which we rebel. Thus we ourselves need to worry about both sides of the coin. (PM, 155)

Durch die Katastrophe wächst dem Zionismus noch eine Aufgabe zu, an die er

ursprünglich nicht gedacht hatte. Er muß die historische Kont inui tät mit seiner

Vergangenheit, die ursprünglich seine selbstverständliche Voraussetzung gewe-

sen war, jetzt auch selbst herstellen und pflegen.189 Es gibt jetzt nichts mehr zu

negieren - so werden auch Scholems Texte zu Zionismus und Judentum weni-

ger scharf und weniger pointiert. In seiner Jugend war das Judentum eine To-

talität, aber diese war vor allem dadurch best immt, was nicht zu ihr gehörte;

1974 spricht Scholem vom Judentum als offenem Organismus mit unendlichen

Manifestationen, man könne gar nicht sagen, was sich noch alles in ihm entfal-

ten werde.190 Das »Wesen« des Judentums, um das Scholem in seiner Jugend so

sehr gerungen habe, gibt es jetzt für ihn gar nicht mehr, sein Judentum besteht

nicht mehr aus Abgrenzungen, im Gegenteil: »There is nothing Jewish that is

alien to me.« (JJC, 42)

Trotz dieser proklamierten Offenheit führt Scholem auch weiter Polemiken,

allerdings seltener und unwilliger als in seiner Jugend. Bei aller Toleranz in jüdi-

schen Dingen reagiert Scholem äußerst scharf auf antizionistische Argumente,

gerade wenn sie von Juden vorgetragen werden, was sich besonders an seiner Aus-

einandersetzung mit Hannah Arendt zeigen läßt. Schon 1946 protestiert Scholem

heftig und mit einer Ar t Bekenntnis gegen Arendts Zionism Reconsidered, obwohl

sich ihre Positionen inhaltlich nicht so fern zu stehen scheinen:

Ich bin Nationalist und völlig ungerührt von angeblich progressiven Deklama-tionen gegen eine Anschauung, die man mir seit meiner frühesten Jugend als überwunden immer wieder darstellt. Ich glaube an die unter menschlichen Ge-sichtspunkten betrachtet »ewige« Dauer des Antisemitismus [...]. Mi r ist das

An anderer Stelle formuliert er noch radikaler: »Ich wil l nicht etwa sagen, daß die Fragen nach unserm Verhältnis zur Tradition und zur Geschichte des Judentums als einer unter religiöser Inspiration stehenden Gesellschaft etwa bedeutungslos oder gar hinfällig geworden seien. Aber wir geben uns keiner Täuschung hin: gegenüber dem unfaßbaren, unausdenkbaren Konkreten, das so zerstörend in unser Leben als Juden eingegriffen hat, treten diese Dinge in den Hintergrund.« (J II , 63) - Vgl. auch den Brief an Shalom Spiegel vom 8.5.1945 (!), hier schreibt Scholem, der ganze Sieg laufe darauf hinaus, daß man jetzt auch wieder »für das Gute« kämpfen könne: »Das Rin-gen beginnt von neuem, aber die Tatsache, daß es überhaupt beginnen kann - darauf läuft im ganzen unser »Erfolg« hinaus.« (Br I, 297) - Weigel bewertet die Rolle des Holocaust besonders hoch: »Der Zivilisationsbruch der Shoah, mit der die Kata-strophe stattgefunden hat, die Stunde der Erlösung aber ausgeblieben ist, markiert somit eine Zäsur auch für das messianische Denken.« (Weigel, »G. Scholem und In-geborg Bachmann«, 614) Auch Idel sieht einen deutlichen Bruch in Scholems Den-ken um die vierziger Jahre (vgl. Idel, »Zur Funktion von Symbolen«, 64ff, 68ff). Vgl. dazu den Text Scholem, »Judaism« von 1974.

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Du KRISE DER EINWANDERUNG 117

Staatsproblem vollkommen schnuppe, da ich nicht glaube, daß die Erneuerung des jüdischen Volkes von der Frage seiner politischen, ja sogar von der Frage sei-ner sozialen Organisation abhängt. Mein politischer Glaube ist, wenn er irgend-etwas ist - anarchistisch. Aber ich kann es den Juden nicht übelnehmen, wenn sie auf progressive Theorien, die von niemand anderem praktiziert worden sind, keine Rücksicht nehmen. (Br I, 310f) 191

Di e Nat ion ist also wesentlich, nicht aber der Staat - er ist, wie Scholem auch an

anderer Stelle betont, notwendig als Schutz für die Nat ion; gerade der Holocaust

habe das überdeutl ich gemacht und zeigt, daß Antisemitismus ein fundamenta-

les Problem sei.192 Auch wenn er Arendt im Einzelnen recht gibt, spricht er ihr

doch nicht das Recht zur Kriti k zu: Wer nach den Gefahren der Politik für den

Zionismus fragen wolle, müsse das von einem Standpunkt innerhalb des Zionis-

mus tun, nicht, wie er es Arendt vorwirft , mit antizionistischen Argumenten. Für

Scholem erhebt sich angesichts von Arendts Ausführungen die Frage, »inwie-

fern von dem Standorten [sie] ihrer Fragestellung aus Zionismus, d.h. die Mei-

nung, daß die Vorgänge in Palästina auf jeden Fall das entscheidende Ereignis der

jüdischen Geschichte unserer Generation sind [...], noch möglich ist« (Br 1,310).

Zionismus ist hier nur noch das »entscheidende« Ereignis, nicht mehr Befrei-

ung und Erneuerung, überhaupt läßt Scholem hier ganz offen, was der Zionis-

mus denn positiv bedeute. Wichtiger ist jetzt die Opposi t ion gegen Argumente,

die Scholem nicht mehr hören will , seien es die Beschwörungen einer deutsch-

jüdischen Symbiose, sei es die Kr i t i k an der Existenz Israels aufgrund von

Theorien, die ihm hoffnungslos widerlegt erscheinen. Scholem ist jetzt sozu-

Arendt hatte die Forderung der Zionisten nach einem eigenen souveränen Staat kritisiert: Hier habe letztlich der Revisionismus gesiegt, die Chance der Verständi-gung mit den Arabern sei damit gescheitert. Scholem gibt ihr in vielem Recht, aber insgesamt lehnt er Arendts Kriti k ab, weil sie einen falschen Standpunkt habe: »Ihr Artikel ist keine Frage an den Zionismus, sondern eine muntere Neuauflage kom-munistischer Kriti k strikt antizionistischen Charakters, versetzt mit einem diffus blei-benden Golus-Nationalismus« (Br I, 309). - Die spätere Auseinandersetzung in der Folge von Arendts Eichmann-Buch wiederholt nur die Kontroverse von 1946; vgl. dazu Suchoff, »G. Scholem, Hannah Arendt...«

Der Antisemitismus ist für Scholem ein fundamentales Problem, zu dem er sich aber nie grundsätzlich äußert; an Adorno schreibt er 1943: »Als alter Historiker glaube ich leider nicht mehr, daß die Sozialwissenschaftler etwas Relevantes über das Thema beizutragen haben.« Deren Äußerungen »haben mich immer mehr davon überzeugt, daß hier nun einmal leider nur die Metaphysiker etwas der Sache dienliches zu sagen haben.« (Br I, 291) Vgl. auch die wütenden Ausfälle gegen Horkheimers Aufsatz zur Judenfrage in Brw, 318ff. - An Arendt kritisiert er später, daß sie die Idee des funda-mental Bösen aus Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft zugunsten der »Ba-nalität des Bösen« in Eichmann in Jerusalem aufgibt. - Zu den Problemen der Analyse des Antisemitismus innerhalb des Zionismus vgl. Volkov, Jüdisches Leben undsemitismus, 88ff.

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118 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

sagen Anti-Antizionist, und er reagiert schon hier, in der Auseinandersetzung

mit Arendt, äußerst unversöhnlich auf das, was ihm als verantwortungslose Kri -

ti k erscheint.193

Auch innerhalb der israelischen Diskussion erlischt Scholems Polemik nicht,

obwohl er sich nach dem Ausscheiden aus dem Brit Shalom nicht mehr in der

konkreten Polit ik engagiert. Aber in verschiedenen öffentlichen Stel lungnah-

men kritisiert er zum einen die Rolle der Or thodox ie in Israel,194 zum anderen

die »Kannaaniter«, eine schon in der Vorkriegszeit entstandene Bewegung jün-

gerer Intellektueller, die eine neue »israelische« Identität statt der Bindung an die

»schwächliche« jüdische Vergangenheit propagieren: N icht die religiöse Über-

lieferung, sondern das Land, das biblische Kannaan müsse im Zent rum dieser

neuen Identität stehen.195

Scholems Krit i k ist scharf: N icht nur dienen die Kanaaniter immer als Bei-

spiel dafür, daß so ein Sprung in eine Urzeit nur ein fiktives Unternehmen sein

könne, Scholem schließt sie auch explizit aus dem Judentum aus. Er könne sich

alle möglichen Metamorphosen der jüdischen Identität vorstellen, sagt Scholem

einmal in einem Gespräch mit israelischen Pädagogen, auch ein Atheist könnte

ein Jude sein: »On ly the severance of the livin g tie wi t h the heritage of the

generations is, in my opinion, educational murder. I wil l admit that I am a

193 Seine Position hat jetzt sozusagen die Form der Gegenfrage: In einem Interview ant-wortet er auf die Frage nach dem Preis des Zionismus mit der Gegenfrage nach dem Preis des Exils und mit einem scharfen Angriff auf George Steiner, der jene Frage ge-stellt hatte. »I have no argument with a Jewish intellectual who gives priority to his personal emotional complexes, over the problem of histortc responsibility. Let every-one do what he likes.« (Scholem, »Zionism«, 263) Vor allem wil l er hier keinen Dia-log führen: »Let everyone do what he likes. It is not realistic to argue with him. A person who gives priority to his own private, personal troubles, and indulges him-self in the creative opportunities of alientation - should he go wherever he likes, and live to the best of his understanding.« (ebd., 266)

194 1970, also bereits in der Zeit des Wiedererstarken der Orthodoxen in Israel, kritisiert Scholem deren (durch die rabbinische Autorität über die Konversion vermittelte) Rolle bei der Definition dessen, was jüdisch sei, vgl. PM, 93-99; »Zionism«, 284ff. Auch die Frage des Personenstandsrechts betrifft das schwierige Problem von Meta-politik und Politik im Zionismus, sie war bei der Staatsgründung - ganz ähnlich wie die Verfassungsfrage - mit dem klaren Bewußtsein vertagt worden, daß sich eine po-litische Lösung hier nicht finden lassen würde, vgl. dazu Eisenstadt, Diemation der israelischen Gesellschaft, 265ff.

195 Auch wenn diese Bewegung eine historische Episode bleibt, hat sie doch nicht wenig Einfluß auf die junge Generation, in der israelischen Erziehung stehen zunächst tatsächlich die Bibel in ihren »archaischen« Teilen und die Verbundenheit mit der Landschaft Erez Israels im Vordergrund. Vgl. dazu Biale Gershom Scholem 106f, Ei-senstadt, Die Transformation der israelischen Gesellschaft, 188f. Eine detaillierte und kritische Analyse der Kanaaniter als säkulare anti-zionistische Häresie und als ima-ginäre Konstruktion gibt Shavit, The new Hebrew Nation.

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DI E KRISE DER EINWANDERUNG 119

thoroughgoing anti-Canaanite.« (PM, 85)196 Für ihn kann jüdische Ident i tät

auch in Israel nur durch historisches Bewußtsein konst i tu iert werden, nicht

durch den »natürlichen« »Boden«: »Das israelische Volk, das sich vom jüdischen

absondern wird, geht sicherem Untergang entgegen.« (Br I I , 130)

Wieder verteidigt Scholem den Zionismus auch in dieser Hinsicht gegen des-

sen Kritiker, etwa gegen Georges Fr iedmann, der prognost iz iert, Israel werde

sich »normalisieren« und dessen jüdische Vergangenheit werde damit an Bedeu-

tung verlieren. Das, antwortet Scholem, unterschätze »die ungeheure Kraft des

auch aus dialektischen Pendelschlägen sich wieder rekonstruierenden histori-

schen Bewußtseins« (Br II , 130). Auch wenn es die von Fr iedman beobachte-

ten Tendenzen in Israel gebe, müsse das doch nicht das endgültige Schicksal des

jüdischen Volkes bedeuten:

Wahr würde mir scheinen, dass es [das jüdische Volk] in eine Krise eintritt und ein-treten muss, ja vielleicht sogar in eine Krise, die lebensgefährlich ist. [...] Dass in unserer Generation diese Krise sich mit völligem Ernst stellt, scheint mir das Sig-num der Legitimität des historischen Vorgangs, dem wir beigewohnt haben. Ich sage nicht, dass das jüdische Volk nicht auch untergehen könnte, aber eine Meta-morphose der Tradition und der Formen, in denen sein Genius sich geäußert, stellt keinen solchen Untergang dar. (Br II , 130)

Der Zionismus ist kein Ankommen auf festem Boden mehr, er ist immer noch

offen, steht in der Krise, aber wie im Brief an Arendt ist er auch hier die

scheidende Bewegung der jüdischen Gegenwart, an welcher die Krise besonders

deutlich wird. Zionismus, das betont Scholem jetzt immer wieder, sei ein Pro-

zeß; und die Rhetorik, mit der dieser Prozeß beschrieben wird, ist jetzt weni-

ger von der Vorstellung einer unmit te lbar bevorstehenden Krise best immt als

von einem dauernden Wandel, in dem man schon steht. Zwar wird das Moment

der Krise nicht ausgeschlossen - auch der Untergang ist möglich, der ganze Pro-

zeß ist ein kritischer und krisenhafter - , aber die Krise ist »zerdehnt« zu einem

Lebensprozeß.1 97 Die Juden seien immer noch unterwegs, schreibt Scholem

noch 1980 in einem Brief:

This has convinced me of the utter falseness of my earlier definition of Zionism which I used to give until 1950: Zionism is a movement against the excessive travelling of the Jews. Could I have been wronger? So now I have another definition on which I hope to end my days: Zionism is the return of the Jews into

In einem anderen Interview betont Scholem, daß er alle Parteien in Israel willkommen heiße: »I am one of those who say that there is no conflict. It is obvious that we are all torch bearers. Except the Canaanites.« (Scholem, »Zionism«, 277, vgl. ebd., 278ff, 288ff) Er spricht zwar auch jetzt noch oft von Krise, gebraucht aber daneben oft Bilder einer lebenden Verwandlung, von »Metamorphosen«, vom »Versuch großer menschlicher Alchemie« (J II , 53f), vgl. auch die vitalistische Metaphorik in Scholem, »Judaism«.

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120 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

their own history. Of course, one can say (as Fania does) that they don't seem to want it too much. (Br III , 216)

Zionismus ist nicht mehr die Lösung aller Probleme, nicht einmal die Lösung der politischen Frage, sondern nur noch »utopischer Rückzug in die eigene Ge-schichte« (J II , 49).198 »Utopisch« ist der Zionismus, weil das Ende immer noch offen ist, »Rückzug« ist er, weil er die Welt nicht überwinden will , sondern sie anerkennt, in die eigene Geschichte zieht er sich zurück, weil es ihm nicht mehr um die Weltgeschichte oder eine Metageschichte geht..

Noch schärfer als bisher unterscheidet Scholem diesen Zionismus vom Mes-sianismus, schärfer, aber zugleich einfacher: »The difference between Zionism and Messianism resides in the fact that Zionism is acting within history, while Mes-sianism remained on an Utopian plane.«199 Diese Unterscheidung scheint aller-dings nicht mehr die Ambivalenz zu haben, die ihr in den zwanziger Jahren noch eigen war, sie hat nicht mehr das Pathos der Präskription, sondern gibt sich als Feststellung. Allerdings fügt Scholem auch manchmal hinzu, es sei »kein Wun-der«, daß der Zionismus »von Obertönen des Messianismus begleitet ist, ohne doch - der Geschichte selber und nicht einer Metageschichte verschworen - sich ihm [dem Messianismus] verschreiben zu können« (Gb, 157). Aber der Bezug wird jetzt hier gar nicht mehr analysiert, wie sich noch zeigen wird, ist die - von Rosenzweig übernommene - Kategorie der »Metageschichte« hier einigermaßen mißverständlich, gerade weil sie den Unterschied so selbstverständlich zu machen scheint. Für Scholem ist die Grenze niemals vollkommen scharf, jedenfalls ist der Zionismus auch in seinen späteren Äußerungen nicht einfach eine Bewegung innerhalb der Geschichte - immer ist noch ein »mehr« dabei, »a hidden core« (JJC, 43), »a mystical side« (ebd., 44). So bleibt ein angedeuteter Rest apokalyptischer Rhetorik, aber weil Scholems Texte selber nicht mehr im drängenden Ton der Apokalypse geschrieben sind, erscheinen diese Andeutungen über die mystische Seite des Zionismus unbestimmt: »It hasn't manifested itself. But one day it wil l do so. Perhaps we will be privileged to see it manifest itself. But meanwhile - well, that is why I have never dealt with this matter.« (Ebd., 45) Dazu scheint es für

Hier gibt es verschiedene Formulierungen, manchmal spricht Scholem vom »utopi-schen Rückzug auf Zion« (Gb, 167), an anderer Stelle hebt er hervor, daß es vor allem die Aufgabe der Vorstellung einer besonderen jüdischen Mission betrifft, »the return to Zion could be construed as the Jew's betrayal of their vocation to be a trancendent people - to be a people that is not a people, to quote Heine, a Volksgespenst« (Scholem, »Judaism«, 507). Scholem, »Zionism...«, 269. - Vgl. auch Scholem, »Judaism«, 507: »Parenthetically, Zionism is not to be regarded as a species of messianism: I consider it the pride of Zionism that it is not a messianic movement. [...] Messianic movements are apt to fail. Zionism is rather a movement within the mundane, immanent process of history« (Scholem, »Judaism«, 507)

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DIE KRISE DER EINWANDERUNG 121

Scholem nicht mehr viel zu sagen zu geben, er scheint fast ein wenig müde, so als würde er sich nicht mehr die Mühe machen, seinen Interviewpartnern zu erklären, was er denkt. Ganz anders als in seinen historischen Schriften, die äußerst spar-sam mit modischer Theoriesprache sind, benutzt er in seinen Interviews mit leich-ter Hand große und einigermaßen problematische Begriffe wie »Metageschichte« oder »Säkularismus«. Scholem redet nicht mehr so apodiktisch, vielleicht will er verstanden werden, vielleicht ist es ihm nur noch lästige Pflicht sich mitzuteilen, jedenfalls sind die eigentlichen Spannungen seiner Position nur noch bedingt zu sehen, weil alles so allgemein ist - und die Beschwörung eines mystischen Kerns des Zionismus ist nicht weit entfernt von Geheimnistuerei.

1.5.4 Zurückhaltung und Stärke. Noch einmal verändert sich das Ethos« Scho-lems: die Askese wird »weicher«, die Ironie milder, die Paradoxe treten zurück oder sind doch jetzt weniger zugespitzt. Asketisch bleibt er, aber das erscheint nicht mehr als innere Härte, sondern als taktvolle Zurückhaltung. 1969 ist er in seinem Anspruch bescheidener geworden:

Ich wurde mein Leben lang von Erwartungen und Enttäuschungen hin und her-gerissen, Erwartungen vom jüdischen Volk überhaupt und von uns, die wir im Lande Israel an der Arbeit waren, im besonderen. Ich habe viele Stadien dieses Prozesses von höchster Erwartung bis zu tiefster Enttäuschung, ja Verzweiflung kennengelernt und an mir selber durchgemacht. Das hat mir die Lust genommen, mich mit einem Anschein von Autorität zu Worte zu melden, die in diesem Falle nur eine Anmaßung und Vorspiegelung hätte sein können. (J II, 55)

Zurückgenommen und doch aus einer inneren Sicherheit - aus dem, was man »Lebenserfahrung« nennt - spricht Scholem jetzt auch öffentlich. Die Esoterik in der Ausdrucksweise ist dabei scheinbar verschwunden, auf den ersten Blick sind Scholems Äußerungen jetzt ganz klar und einfach. Wir werden aber sehen, daß das Spiel der Selbstzitation und das Sprechen einer Privatsprache sich an entscheidenden Stellen durchaus fortsetzt. In gewissem Sinne kann man sagen, daß sich diese esoterische Schreibweise hier erst vollendet, in Texten nämlich, die zugleich ganz klar und verständlich und doch »tief« in dem Sinne sind, daß sie dem Wissenden Anregungen und dem Neugierigen Andeutungen geben. Auch die Strategie, indirekt und an verschiedenen Orten zu schreiben, bleibt weiterhin wichtig, sie wird jetzt vor allem mit drei neuen Genres umgesetzt.

Zum einen schreibt Scholem seit Ende der zwanziger Jahre auch wissen-schaftliche Essays, hier findet er in ganz anderer und neuer Weise die Möglich-keit, zwischen den Zeilen zu sprechen. Vor allem in seiner Geschichtsschreibung des Sabbatianimus spricht er Warnungen an den Zionismus aus und verleiht die-sem zugleich eine historische Tiefendimension: In der sabbatianischen Krise hat der Zionismus und eigentlich die ganze »jüdische Moderne« eine Vorgeschichte,

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122 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

und was eine Vorgeschichte hat, so scheint Scholem zu suggerieren, kann auch eine Nachgeschichte haben. Auch hier wird also die zionistischen Krise »zer-dehnt«, indem sie auf die jüdische Geschichte projiziert wird. Zugleich stiftet das auch neue Legitimität für Scholem - mit komplizierten Manövern wird die wis-senschaftliche Legitimität auch auf die öffentliche Äußerung übertragen.

Ein weiteres eigenständiges Genre bilden eine Reihe von Gedichten in Scho-lems Nachlaß.200 Sie stellen gleichsam die Kehrseite der Selbstinstituierung als jüdische Autorität dar, in ihnen kann sich die Krise auch weiterhin aussprechen. In seinen ersten Jerusalemer Jahren findet Scholem hier einen festen Stil, ähn-lich der oben untersuchten Rhetorik der Verzweiflung und der Melancholie. All e diese Gedichte sind stark situiert, sie sagen den Ort aus, von dem aus sie gesprochen werden: Scholem reflektiert die historische Situation metaphysisch-theologisch im Lehrgedicht über Kafka (s.u. Kap. 2.7.2) oder in dem Ingeborg Bachmann gewidmeten Gedicht, er geht auch der Bedrohung der eigenen Exi-stenz nach wie in dem Gedichten »Media in vita« oder in »Vae Vieris/ oder der Tod in der Professur«. Zugleich stellen die Gedichte, zum großen Teil als Wid-mungsgedichte oder in konkreten (brieflichen) Gesprächssituationen geschrie-ben, eine Präsupposition eines Dialogs dar.201 In den Gedichten schreibt sich auch die Esoterik der frühen Aufzeichnungen fort, sie stellen damit auch Ver-suche dar, den eigenen, nicht mehr sagbaren Ort noch einmal auszusprechen. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß dieser Versuch gerade nach der Einwanderung in deutscher Sprache unternommen wird.

Das dritte Genre schließlich besteht aus den Essays, die Scholem über seine Zeitgenossen schreibt; mit einer Ausnahme - einer Rede über Franz Rosenzweig von 1930 - stammen diese Texte erst aus den sechziger und siebziger Jahren. Wir haben schon gesehen, daß sich Scholem in diesen Texten auch selbst darstellt oder sich doch in Relation zu seinen Gegenständen setzt: Buber erscheint als einer, der

Die Gedichte sind noch nicht veröffentlicht, ein Teil ist 1984 in der Zeitschrift Haa-darim erschienen. Wohlfahrt interpretiert die Gedichte als Stadien zunehmender Verzweiflung, an deren Ende die Scholem eigene Dialektik versagt, vgl. ders., »»Haar-scharf auf der Grenze ...<«, 198-204. Weigel betont die »Gleichzeitigkeit von Verber-gung und Veröffentlichungswunsch«, in der sich die für die Kabbala typische Dialektik des Geheimnisses wiederhole (Weigel, »Scholems Gedichte und seine Dich-tungstheorie«, 18f). Vgl. auch die ausführliche Interpretation von Scholems späte-stem Gedicht bei Weigel, »G. Scholem und Ingeborg Bachmann«. Das Lehrgedicht über Kafka und Angelus Novus steht im Rahmen der Korrespon-denz mit Benjamin, »Vae victis« wird Hans Jonas als Widmungsgedicht zu JM geschickt, auch in den anderen Gedichten fällt nicht nur die starke Präsenz des lyri-schen Ichs, sondern auch der anredende Gestus auf. Weigel betont die Adressiertheit der Gedichte und betont die »Rhetorik hypostasierter Übereinstimmung« in ihnen (Weigel, »Scholems Gedichte und seine Dichtungstheorie«, 44).

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DI E KRISE DER EINWANDERUNG 123

viel, aber nicht alles erreicht hat und aus dessen Fehlern man gleichsam Scholems eigene Position ableiten kann; Benjamin garantiert dem Historiker Scholem die Möglichkeit einer authentischen und zugleich jüdischen Metaphysik auch in der Gegenwart. Andere wären hier zu ergänzen: Agnon wird zur Projektionsfläche für die eigene Erfahrung mit dem Sprachwandel, Rosenzweig, in dem das mysti-sche Erbe wieder auftaucht, schließlich Kafka, dem kein eigener Text gewidmet ist, der aber als Garant einer vollkommenen Prosa so gut wie als Theologe der Verzweiflung für Scholem eine zentrale Rolle spielt.

Mi t Ausnahme von Agnon handelt es sich bei allen Porträtierten um deut-sche Juden. Das revidiert Scholems Verwerfung des deutschen Judentums nicht, denn stets hebt er zugleich hervor, daß diese Juden sich keine Illusionen über ihre Fremdheit in Deutschland gemacht hätten. Aber zumindest ein Teil des deutschen Judentums kann jetzt »gerettet« werden, in diesem Rahmen stehen dann auch Scholems eigene Erinnerungen, die ja zum großen Teil auch von deutschen Juden handeln. Auch die eigene Herkunft, kann jetzt, aus einer sta-bilisierten Position, wiederangeeignet werden: Fast versöhnlich stimmt die Tat-sache, daß der alte Scholem mit seinem älteren Bruder Reinhold über die Familiengeschichte korrespondiert und mit freundlicher Geduld auf dessen Un-wissen in jüdischen Fragen eingeht.

Auch bei diesen essayistischen Arbeiten handelt es sich um eine Projektion der eigenen Erfahrung, diesmal weniger in die Tiefe der historischen Vergan-genheit, sondern in die Breite einer Generationserfahrung. Die Juden, die Scho-lem porträtiert, garantieren ihm auch die Möglichkeit eines wirklich modernen Judentums noch an der Grenze, zugleich »erschreibt« er sich hier auch eine Ge-meinschaft. Vielleicht sprechen manche seiner Äußerungen auch im Namen von dieser verborgenen und disparaten Gemeinschaft, wahrscheinlich sprechen sie auch, als innerer Dialog, zu dieser Gemeinschaft.

Scholems Texte über »seine« Tradition lesen sich zuerst klar und leicht, zeigen dann aber ihre Tiefen, denn sie sind weder »objektiv« noch spiegeln sie einfach seine »Überzeugungen« wider. Sie arbeiten sich an ihren Gegenständen ab, sie kon-struieren Personen, aber nicht ohne Brüche. Genauso wenig wie seine Historio-graphie sind sie einfach eine »geschickte« Art, das zu sagen was er eben sagen möchte, sondern hier sind verschiedene Logiken am Werk, auch verschiedene Er-fahrungen, die Reibungen sind spürbar. Wie immer, so spiegelt die Rekonstruk-tion einer Tradition auch hier eine Krise der Tradition wieder. Vielleicht kann man, um das Spezifische dieser Texte zu erfassen, von einem »starken Schreiben« sprechen: Sie haben immer auch die Funktion, sich in einen anderen Text einzu-schreiben, aber nicht in einer direkten Weise, nicht als reine Projektion, ge-schweige denn als einfaches Urteil. Oft sogar gegen einen starken Widerstand, denn Scholems Schreiben ist auch ein Ringen mit den Texten, über die er schreibt.

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124 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

1.6 Exkurs: Die Bedeutung der Sprache

Die Enttäuschung, die Scholem bei der Ankunft im Land erlebt, wird vielleicht am deutlichsten und auch am verständlichsten an seiner Haltung zur Sprache. Wie wir schon gesehen haben, ist das falsche Verhältnis zum jüdischen Erbe in der Propaganda in seinen Augen eine große Gefahr für den Zionismus, diese Gefahr ist aber nicht nur eine politische, sondern auch eine kulturelle. Dabei scheint sich seine Haltung zu wandeln: 1925 schreibt er an Kraft, er »leide aufs katastrophalste an den Sprachverhältnissen« (Br I, 222), 1933 spricht er ge-genüber Benjamin von der »Fragwürdigkeit einer Erneuerung, die vor allem als Sprachverfall und Hybris auftritt« (Brw, 88); weitere Beispiele dieser äußerst kritischen Haltung werden wir noch sehen. Auf der anderen Seite hebt er in einem Interview aus den siebziger Jahren die positive Seite dieses Prozesses her-vor, der ihm jetzt gerade den Kern des Zionismus darstellt:

The mystical side of Zionism concerns something that is growing without being messianic: it comprises elements that do not cross the border into the eschatological but stay in the realm of the realizable, which are sure to have Symbols of its own in history, in the everyday external world, in the world of action etc., something that can work, such as in the revival of the language as a language that is suited for people to speak, live, and think in it. (JJC, 44f)

Das scheint ein Widerspruch zu sein - wie Scholem im selben Interview sagt, habe er seine »Dialektik« nicht aus dem Lehrbuch gelernt, sondern gerade anhand der »contradictions in the constructive processes here [in Erez Israel]: the inner contradictions of the revival of the secular language and the silence overpowering the language.« (ebd., 36)

Ist die Erneuerung des Hebräischen ein Verlust oder ein Gewinn, ist sie nur Sprachverfall oder hat sie auch ein konstruktives Element bzw. wenn sie »dia-lektisch« beides enthält, worin besteht der innere Zusammenhang? Wie sich zei-gen wird, ist die Interpretationskategorie der »Säkularisierung« hier nur von begrenztem Nutzen: Der naheliegende Eindruck, Scholem versperre sich gegen jede »Profanisierung« der heiligen Sprache, so wie er sich gegen jede »Profani-sierung« der Erlösung wendet, wird seiner Position nur unzureichend gerecht.

Wie wir sehen werden, hat Scholem einen außerordentlich emphatischen Be-griff der Sprache: Sie ist eine Art Organismus, eine Ganzheit, in der sich das gei-stige Prinzip des Judentums verwirklicht. Hier soll Scholems Stellung zum Hebräischen allerdings nicht aus seiner spekulativen Sprachtheorie »erklärt« werden - diese wird hier bewußt ausgeklammert und soll im nächsten Teil un-tersucht werden -, sondern sie soll wenigstens ansatzweise aus der spezifischen

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 125

politisch-kulturellen Erfahrung der Erneuerung des Hebräischen verständlich werden. Dazu werden wir zunächst in aller Kürze die Diskussionen im Kon-text der Erneuerung des Hebräischen darstellen (1.6.1), um dann die erwähnte Ambivalenz oder »Dialektik« Scholems zu untersuchen (1.6.2). Schließlich kann die Interpretation an späteren Äußerungen Scholems über Agnon überprüft werden (1.6.3). Meine Arbeit kommt hier allerdings schon durch ihre Einspra-chigkeit an ihre Grenze. Es wäre hier außerordentlich fruchtbar, nicht nur auf Scholems Übersetzungen und seine Kommentare zu fremden Übersetzungen einzugehen, sondern seinen hebräischen Stil zu analysieren, beides sei künfti-ger Forschung überlassen.

1.6.1 Die Erneuerung der hebräischen Sprache. Immer noch gibt es das Bild, zur Erneuerung der hebräischen Sprache hätten Einzelne direkt auf die Bibel zurück-gegriffen und die alten »toten« Worte wieder neu »belebt«, diese Vorstellung ist aber aus verschiedenen Gründen irreführend.202 Erstens ist die Rede von »lebenden« und »toten« Sprachen nur metaphorisch und triff t die Rolle des Hebräischen in der Diaspora kaum; zweitens beginnt die Erneuerung der gesprochenen hebräischen Sprache nicht aus dem Nichts, sondern wird durch die Entwicklung der Schrift-sprache vorbereitet. Es handelt sich bei der Wiederbelebung der hebräischen Spra-che also nicht um eine einfache Revolution, sondern um einen Prozeß, in dem man drei Phasen unterscheiden kann: das Hebräisch der traditionellen Diaspora, die neuhebräische Literatur und das gesprochene Neuhebräisch im Jischuw. Wie wir sehen werden, befindet sich Scholem zwischen der zweiten und dritten Phase, diese Zwischenstellung macht seine spezifische Erfahrung verständlich.

In der ersten Phase, in der traditionellen jüdischen Gesellschaft, ist die he-bräische Sprache in besonderer Form präsent, nicht als flexibles Sprachsystem,

Die Vorstellung einer lebendigen und natürlichen Sprache gehört natürlich selber in den Kontext des Nationalismus, wie Rabin zu recht hervorhebt: »It appears that the metaphors »live« and »dead« were not applied to languages in the period when diglossia was the normal form of sociolinguistic structure. These terms came into use when the European middle classes developed economic power and demanded political power« (Rabin, »The National Idea and the revival of Hebrew«, 748) - »Hebrew was not a dead language: it merely changed its position from that of the »upper« language in a diglossia to that of a national, Western-style all purpose language, and it had to fit itself for that new role. The idea that Hebrew was »revived« from the Bible and early Rabbi-nic literature is wrong.« (Ebd., 60) Auch Harshav betont, daß Hebräisch in der Dias-pora niemals »tot« war (Harshav, Hebräisch, 180ff), die Vorstellung, daß ein Einzelner (Ben Yehuda) die Sprache in heroischer Anstrengung und unter Opferung seines Soh-nes »schaffe«, trage deutlich die Züge eines Mythos und fungiert wohl auch als solcher (vgl. ebd., 137ff). - Vgl. auch Scholems kritische Äußerung über den Stand des He-bräischen im Jischuw vor dem ersten Weltkrieg (JJC, 41).

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126 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

das ständig neue Äußerungen erzeugt, sondern als eine Reihe von (größtenteils auswendig präsenten) Texten. Das schließt zwar nicht aus, daß auch Neues auf Hebräisch gesagt werden kann - zu jeder Zeit gibt es eine hebräische religiöse Literatur, seit der Haskala auch profane Äußerungen -, erschwert es aber außer-ordentlich. Man könnte sagen, daß die hebräische Literatur bis Mitte des neun-zehnten Jahrhunderts die Texte der Überlieferung zitiert, um das auszudrücken, was sie eben ausdrücken will , in der Regel führt das zu einem pathetisch bibli-sierenden Stil. Insgesamt sollte man hier statt von einer toten Sprache von einer »Diglossie« bzw. einer »eingebetteten Sprache« sprechen, also einer Sprache, die zwar nicht alle möglichen Funktionen einer Sprache erfüllt, aber durchaus nicht jeglicher Flexibilität entbehrt.

Die zweite Phase setzt mit der Renaissance der neuhebräischen Literatur in Osteuropa in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts ein. Die entscheidende Neuerung besteht darin, daß die neuhebräischen Schriftsteller neue Sätze bil-den, um über neue Themen zu sprechen. Sie beschränken sich nicht mehr dar-auf, fertige Äußerungen aus der Überlieferung zu zitieren, sondern sie kombinieren die verschiedenen Worte zu neuen Äußerungen. Dabei nutzen sie die verschiedenen Sprachschichten der Überlieferung und »mischen« biblisches, rabbinisches und mittelalterliches Hebräisch, man spricht daher auch von einem »synthetischen Stil«.203 Dabei sind deren jeweilige Kontexte und Konnotationen durchaus präsent: Für den neuhebräischen Schriftsteller besteht die Sprache nach Harshav »nicht aus Wörtern, sondern aus Texten in scheinbar mehreren getrennten und als solche zu lernenden Sprachen - Tora, Propheten, Mischna, Midrach, Talmud, mittelalterliche Philosophie, mittelalterliche Poesie. In sei-nem Bewußtsein wurde jeder moderne hebräische Text durch dieses Prisma ge-filtert und zerfiel in das Mosaik seiner historisch bedingten Komponenten.«204

Die verschiedenen historischen Schichten der Überlieferung bilden jetzt die ver-schiedenen Sinnschichten einer Äußerung, in gewisser Weise ersetzten sie die Idiolekte, die das Hebräische als nicht gesprochene Sprache ja nicht hat.205

Vgl. dazu Harshav, Hebräisch, 198f- Vgl. vor allem Alters anschauliche Darstellung des nuskah-Sü\es in The Invention of Hebrew Prose, 19ff, besondere Bedeutung bei dieser Veränderung hat auch die Veränderung der Syntax: statt der relativ undiffe-renzierten Satzstruktur des biblischen Hebräisch wählen die neuen Dichter jene des rabbinischen Hebräisch als Grundstruktur, vgl. ebd., 30ff. Harshav, Hebräisch, 194. - Vgl. auch Alters Charakterisierung: »The pleasure of such texts derive from a tacit compact between writer and reader that they share an abundant culture of classical language which the writer will continuously exhibit with the most inventive virtuosity, counting on the knowing reader for repeated recognition of the skill of verbal prestidigitation.« (Alter, The Invention of Hebrew Prose, 36) Alter hat dieses Problem vor allem in Bezug auf den Realismus herausgearbeitet. Der synthetische Stil »exploitfs] the internal, »Bachtinian« heteroglossia of Hebrew by

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 127

Diese Li teratur ist nur im Bewußtsein der Überl ieferung lesbar, die daher

eine neue Bedeutung gewinnt. Wi r wol len uns das kurz an Chaim Nachman

Bialik vergegenwärtigen, der nicht nur der bedeutendste Lyriker, sondern auch

ein wichtiger Ideologe der Renaissance des Neuhebräischen ist und auf Scho-

lem einen tiefen Eindruck hinterlassen hat.206 Bialik wil l die hebräische Sprache

erneuern, aber er wil l es eben mittels des religiösen Erbes tun, heftig polemisiert

er daher gegen die Einführung neuer »erfundener« Worte ins Hebräische.207 Um

die Mögl ichkeiten der hebräischen Sprache auszuschöpfen, müsse man die

Überl ieferung in ihrer Gesamtheit kennen, statt eines zweisprachigen Wörter-

buches brauche man daher eher ein einsprachiges oder besser, ein Kompendium

der klassischen Texte: das »Einsammeln der Überl ieferung« wird Bialiks zen-

trales Projekt.208

producing a lively, often comic interplay in his texts of the sundry historical strata of the Hebrew language« (Alter, Hebrew and Modemity, 7). »The general principle of literary expression manifested in their enterprise is that literary realism is by no means dependent on a transcription of living speech but, on the contrary, always needs the stylistic norms and Conventions of antecedent literature in order to achieve its compelling approximations of immediate experience.« (ebd., 60f) - Damit sei in dieser Sprache auch das religiöse Erbe noch präsent bzw. es gibt ein besonders spannungsreiches Verhältnis zwischen Religion und profaner Welt: »The subjects, to be sure, of the new writing, might often be far removed from synagogue and study-house, but the language in which such subjects were represented was steeped in the values of Torah and prayer and commandments that had defined Jewish lif e form the from the first centuries of the Common Era to the modern age. It was Mendele's ability to exploit these accumulated resources of expression and to teach othcrs how to exploit them, that led Bialik to celebrate his achievement as a distilla-tion from »the treasure-house of the people's creative spirit.« (Alter, The Invention of Hebrew Prose, 38) Vgl. dazu auch Anm. 222.

Allerdings kritisiert er Bialiks Gedichte als dämonisch-zweideutig, weil in ihnen das individuelle und das nationale Ich vermischt seien; Bialik sei daher ein Opfer der Er-neuerung der Sprache (T II , 374f; vgl. auch Br I, 232f). Vgl. etwa: »In einer neuen Verbindung alter Worte liegt zuweilen mehr schöpferische Kraft als in einem neugeschaffenen Worte.« (Bialik, Essays, 24) - Das kann durchaus als Polemik gegen Ben Yehuda verstanden werden, der sich ja vor allem mit Lexiko-graphie beschäftigt. Paradoxerweise steckt gerade hinter diesem aufklärerischen Pro-jekt auch der Glaube an eine mystische Bedeutung des Vokabulars. Vgl. dazu etwa: »Es ist unumgänglich nötig, die Menge und Beschaffenheit des sprachlichen Besitzes aus allen Zeiten vollkommen und klar zu kennen, bevor man sonst Versuche und Bemühungen irgendeiner Art macht, unsere Sprache zu erwei-tern.« (Bialik, Essays, 26) In »Das hebräische Buch« umreißt Bialik so ein Projekt einer Bibliothek des Erbes (ebd., 35ff). Dabei handelt es sich auch um ein Konkur-renzprojekt zur »westlichen« Wissenschaft des Judentums, Bialiks Kriti k an dieser nimmt in Vielem Scholems spätere Formulierungen vorweg: »Statt ihrer ersten Väter und Schöpfer, die wirkliche Gelehrte und originelle Menschen waren, wurden ihr im

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128 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Für Bialik kann die Sprache nur von innen erneuert werden, geradezu exzes-

siv gebraucht er dabei eine Metaphorik des »Lebens« bzw. der inneren Dynamik

der Sprache.209 A m deutlichsten wird das vielleicht in Offenbarung und Verhül-

lung in der Sprache von 1915, ein Aufsatz, der Scholems spätere Äußerungen bis

in die Formul ierung hinein beeinflußt. Bialik beschreibt einen Kreislauf: In der

Sprache entstehen immer neue Worte, werden ausgesprochen und gehen dann in

den selbstverständlichen Gebrauch über, sei dies einmal geschehen, merke der

Sprecher nichts mehr von der tiefen Bedeutung, die die Worte einmal besessen

haben, »er ahnt gar nicht, wie schwankend jene Brücke aus Worten ist, wie tief

und finster der Abgrund, der unter ihm sich auftut, und welch ein Wunder, daß

er ungefährdet hinüberschreitet.«2 10 Die Worte, einmal selbstverständlich ge-

worden, werden zur »Scheidewand« gegenüber dem Reichtum der Wirklichkeit,

die Stabilität ist aber nur eine scheinbare: »Wenn wi r daran gingen, den wahren,

den innersten Kern aller Worte und Systeme bloßzulegen, so würden wir ganz

zum Schluß nach dem letzten Auspressen zu nichts anderem gelangen als zu

einem Wort von drei Buchstaben. Welches ist es? Wiederum jenes furchtbare

»Was«, hinter dem ein noch furchtbareres X steht, das Nichts.«2 11 Aber dieser

Abgrund werde auch immer wieder sichtbar, vor allem durch die Dichter, wel-

che die Sprache nicht mit Selbstverständlichkeit gebrauchen: Ihre Aufgabe ist es,

»in jedem Moment [...] eine unaufhörl iche Bewegung, neue Verschmelzungen

dritten und vierten Geschlecht unbedeutende Zwerge zuteil, die Brocken auflasen und Knochen abnagten [...]. Das lebendige und tätige Judentum [...] - diese kannte sie nicht und wollte es nicht kennen.« (Ebd., 234) - Zum Projekt des Einsammelns der Tradition vgl. Rotenstreich, Tradition and Realitiy, 62ff und Myers, Re-Iniventing the Jewish Past, 133ff.

209 Vgl.: »Die Sprache ist ja sozusagen eine Art lebendigen Wesens, und durch Füttern und Mästen wird ihr wohl besser, sie wächst aber nicht und entwickelt sich nicht.« (Bialik, Essays, 27) - »Die Werkstätte einer wahrhaft lebendigen Sprache ist das Leben und eine Literatur, die aus dem Leben kommt. Eine solche Sprache hält ihre Kinder nicht in ihrem Leibe zurück, sondern wird immer fruchtbar und mehrt sich von selbst. [...] Ihr Wörterbuch muß demnach nicht die Aufgabe haben, den Besitz schlechthin zu sammeln, sondern dieses Sammeln muß die Sprache zum Sprießen bringen und ihre Kraft wachsen lassen; es muß eine Art Geburtshilfe sein.« (Ebd., 30)

210 Bialik, a.a.O., 7. 2 ' ' Bialik, a.a.O., 1 1 .- Vgl. auch: »Aber jene Fläche des Diesseitigen, die im Bereich des

vermeintlichen Lichtes liegt, welchen Wert hat sie letzten Endes gegenüber dem gren-zenlosen Meer des Weltendunkels.« (Ebd., 10) Der Abgrund kann auch als »Frage« bezeichnet werden: »Kein Wort hat in sich die völlige Aufhebung irgendeiner Frage, sondern es hat nur - ihre Verhüllung in sich.« (Ebd., 8) - Es bleibt dabei in Bialiks Text offen, ob die Abgründigkeit der Bedeutung in der Historizität der Sprache be-gründet ist (die ursprünglichen Bedeutungen werden vergessen) oder in einer gene-rellen Sprachskepsis (die wahre Welt ist sprachlich nicht zu erfassen).

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 129

und Einungen in sie [die Sprache] einzuführen. Die Worte zucken unter ihren

Händen, sie erlöschen und entbrennen, gehen unter und leuchten auf [...], leeren

und füllen sich, tun eine Seele von sich ab und hüllen sich in eine andere. [...]. Das

Profane wird heilig und das Heilige profan.«212 Das Gesagte kann man wohl in

seinem Sinne auch auf den »synthetischen Stil« übertragen, der die alten Worte in

Bewegung setzt, jedenfalls räumt Bialik den Dichtern eine entscheidende Be-

deutung bei der Erneuerung der Sprache ein. Er beschreibt ihre Aufgabe mit

durchaus religiösem Pathos - wie sollte er auch anders, denn der Essay ist ja ur-

sprünglich auf Hebräisch geschrieben, er kann also gar nicht anders, als einen re-

ligiösen Wortschatz zu benutzen.

H ier zeigt sich aber die ganze Ambivalenz dieser neuhebräischen Literatur,

eine Ambivalenz, in der auch Bialiks Projekt des »Einsammelns der Überl iefe-

rung« steht. Die Sammlung, die Bialik vornehmen will , soll auch die Funkt ion

eines Kanons für die Li teratur haben. Dabei betont Bialik einerseits, daß die

Kriterien der Aufnahme in diesen Kanon rein literarische sein sollen, anderer-

seits überträgt er in massiver Weise die Begrifflichkeit der religiösen Überliefe-

rung auf dieses Projekt.213 Besonders deutlich wird diese Übertragung in Bialiks

Halcha und Aggada, ein Text, den Scholem übersetzt und immer besonders

hoch schätzt.214

212 Bialik, a.a.O., 13. - Vgl. auch: »Ein Wort geht, das andere kommt, ein System steigt empor, das andere sinkt hinab; und die alte, die ewige Frage ohne Antwort bleibt un-berührt.« (Ebd., 10)

213 Vgl.: »Der ganze Stoff muß daher nur im Hinblick auf seinen literarischen Charakter betrachtet werden, als Produkt des literarischen Schaffens der Nation oder des Ein-zelnen, doch nicht in irgendeiner anderen Hinsicht oder aus irgendwelcher anderen Absicht heraus.« (Bialik, a.a.O., 56). Zur Bibel können daher auch Pseudoepigraphen und »wissenschaftliche Erklärung« (ebd., 57) gegeben werden. - Für Rotenstreich zeigt sich in Bialiks zwischen heiliger Überlieferung und nationalem Kulturgut schwankenden Projekt des »Einsammelns der Tradition« exemplarisch die Ambivalenz des zionistischen Projektes (Rotenstreich, Tradition and Reality, 80ff).

214 Vgl. dazu WB, 109; VBJ, 77 - Auch an anderen Stellen wird das Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache durch das Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Thora metaphorisiert. Vgl. etwa: »Das innere, das seelische Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem geistigen Inhalte [...] wird nur durch eine Spra-che befestigt, die vom Vater auf den Sohn übergeht, die ein Geschlecht aus dem Munde des anderen empfängt. Das ist die wahre mündliche Lehre, die der schriftlichen Lehre ewiges Leben verleiht. [...]. Ohne eine Sprache, die im Herzen lebt, gibt es für die Schrift keine Nahrung, kein Gedeihen und Wachsen und keine geistige Erhebung.« (Bialik, Essays, 230) Vgl. auch: »Die Lehre - das ist jener hohe und erhabene nationale Begriff, der die Weltanschauung der ganzen Nation in sich schließt.« (ebd., 232) -. Für Bialik enthält die »schriftliche Lehre« die gesamte schriftliche Überlieferung, samt Tal-mud und nachbiblischer Literatur (ebd., 230); das entspricht natürlich keinesfalls dem Begriffsumfang in der religiösen Tradition.

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130 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Auch dieser Text handelt von der Erstarrung und Verflüssigung der Worte und der Funktion der Literatur in diesem Prozeß. Modell dafür sind für Bialik Halacha und Haggada, also einerseits der (verbindliche) religionsgesetzliche Teil der rabbinischen Überlieferung, andererseits ihr legendenhafter Teil, der weni-ger verbindlich und auch in Form und Inhalt freier ist als die Halacha. Bialik polemisiert gegen jene neuhebräische Literatur, die nur die Freiheit der Aggada wil l und sich gegen die Verbindlichkeit der Halacha wehrt. Für ihn ist beides notwendig, beides sind letztlich »zwei Gesichter eines Wesens«: »Die Halacha ist die Kristallisation, das letzte und notwendige Ergebnis der Aggada, die Ag-gada ist die wieder flüssig gewordene Halacha.«215 Auch hier spart Bialik nicht mit Metaphern, um den Kreislauf der Überlieferung zu beschreiben: Immer wieder wird die freie Form zu einer verbindlichen Schöpfung, immer wieder führt diese zur freien Form. »Groß ist die Aggada - denn sie führt zur Halacha. Jede Aggada aber, an der nichts zur Halacha strebt, ist sentimental und zerfließt schließlich ebenso, wie sie die Tatkraft ihrer Herren auflöst.«216

Eine wirkliche Literatur bedürfe der Bindung - aber es bliebt offen, worin diese Bindung für Bialik bestehen soll. Ist Halacha wirklich eine gute Metapher für literarisch Werke, und seien es kanonische; ist Literatur wirklich »schriftli-ches Leben«, wie Bialik einmal sagt?217 Die Idee eines profanen literarischen Kanons bleibt in einer ähnlichen Weise ambivalent wie Achad Ha'ams Idee der ethischen Auserwähltheit; dort mischten sich Evolutionismus und biblische Be-grifflichkeit, bei Bialik mischt sich der Literaturbegriff eines russischen Intel-lektuellen mit dem der überlieferten »Literatur«.218

215 Bialik, »Halacha und Aggada«, zitiert nach T II , 559f. - Für das Wechselverhältnis zwischen Halacha und Aggada hat Bialik wieder eine ganze Reihe von Metaphern, das Mündliche und das Schriftliche verhalten sich wie Gedanken zum Wort oder Worte zur Tat, wie Wasser zu Eis (ebd., 560), wie Lyrik zur Epik (ebd., 565).

216 Bialik, »Halacha und Aggada«, zitien nach T II, 577. - »Das Daseinsrecht der schönen Literatur beruht letzten Endes doch nur darauf, daß sie mit ihren eigentümlichen Mit-teln einen festen Zusammenhang zwischen den formenden Einzelnen und den zu for-menden Vielen herstellt. »Poesie um ihrer selbst willen«, »wie der Vogel singt« steht - in Stunden des Pausierens - jenen an, die vorher und nachher im Schweiß ihres Angesichts um die Aufrichtung eines starken, alle Zweige der Menschlichen Kultur umfassenden Schrifttums sich mühen, eines Schrifttums, das Leben gestaltet und Leben aufbaut.« (Ebd., 579) - Die Ablehnung der ästhetizistischen Literatur und Betonung der »gestal-teten Lebenshaltung« (ebd., 561) der Halacha dürfte Scholem stark angesprochen haben.

217 Bialik, »Halacha und Aggada«, zitiert nach T II , 572. 218 Beim Begriff der »Literatur« verkompliziert sich dieser Sachverhalt, weil er - anders

als der der Auserwähltheit - zugleich objektsprachlich und metasprachlich verwen-det ist, weil er also auch die eigene Äußerung beschreibt. Wir werden am Begriff der »Tradition« sehen, daß Scholem zumindest in seiner Jugend in ähnlicher Weise mit Be-deutungen spielt.

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 131

Diese Überblendung produziert einen äußerst starken Begriff von Literatur,

der für die zweite Phase der Erneuerung des Hebräischen insgesamt charakte-

ristisch ist.219 Die Theorie spiegelt dabei gewissermaßen die Praxis wieder: Auch

der »synthetische Stil« ist nicht so tradit ionalist isch, wie er zunächst scheint,

denn auch er entnimmt zwar seine Worte der Überlieferung, reißt sie aber auch

aus deren Kontexten heraus, um ganz andere Dinge damit zu sagen. Er löst also

die Bindungen der einzelnen Worte auch auf und macht sie disponibel nicht nur

für weitere Kombinat ionen, sondern auch, um ganz andere Muster syntakt i-

scher oder formaler Ar t aufzunehmen; er ermöglicht es beispielsweise Bialik,

seine hebräischen Dichtungen an russische Versformen anzunähern.2 20

Andere sind dabei viel radikaler: Gegen Bialiks Betonung der Tradition gibt

es starken Widerstand, so fordert der im Jischuw aufgewachsene Dichter Schlon-

sik die »Freiheit der Wörter«, die »freie Liebe zwischen den Wörtern, ohne den

Baldachin und ohne die Hochzeitsgelübde des heiligen Textes«.221 Gerade Ha-

lacha und Aggada löst eine Kontroverse aus - in der auch Scholem auf Seiten

Bialiks Stellung bezieht (vgl. T I I , 602ff)-, als Joseph C. Brenner Bialik vorwirft ,

das sei doch alles nur Theorie, man solle sich doch lieber den Realitäten im Lande

widmen. Brenner ist es auch, der in der Praxis sehr viel weiter geht als Bialik,

neue Wörter und Satzmuster in die Sprache einführt, vor allem aber eine Schreib-

weise entwickelt, die an den europäischen Realismus angelehnt ist.222

' Das gilt noch für Ben Yehuda; wie Rabin zeigt, steht auch für diesen zunächst die Sprache der Literatur im Vordergrund: »In other words - literature - and with it the literary language - still remains the greatest achievement of a modern nation. But in order to function, it needs a territory where the population depends on this literature alone, and behind it the national idea, which wil l provide literature with its purpose.« (Rabin, »The National Idea and the Revival of Hebrew«, 754) Hobsbawm betont, daß sprachlicher Nationalismus generell typisch für Intellektuelle sei und sich in der Regel vor allem auf die Literatur beziehe, er sei »weit eher kennzeichnend für die ideologische Konstruktion nationalistischer Intellektueller mit Herder als ihrem Pro-pheten denn für die wirklichen Benutzer der Sprache aus der einfachen Bevölkerung. Es ist ein literarischer und kein existentieller Begriff.« (Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, 267)

0 Vgl. dazu Harshav, Hebräisch, 205f. 1 Zit. nach Harshav, Hebräisch, 204. 2 Diesen Prozeß hat Alter breit untersucht, er unterscheidet innerhalb der neuhebräi-

schen Literatur zwei Generationen: die erste (die in dieser Arbeit Bialik repräsentiert) orientiert sich noch weitgehend an traditionellen hebräischen Mustern und bildet die nuskah-Yorm als Standard-Muster hervor, die zweite (v.a. Brenner und Gnessin) bricht massiv mit dieser Form und arbeitet mit ganz neuen Mustern, um spezifisch moderne Erfahrungen auszudrücken und die Standard-Formen moderner Literatur, vor allem eine variable Erzählperspektive übernehmen zu können, (vgl. Alter, The Invention of Hebrew Prose, 45ff) - »The anü-nuskah writers of the early 1900s [...] were essentially trying to make Hebrew work as a dialect of Standard Novelistic.

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132 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Schon in der Entwick lung der neuhebräischen Schriftsprache kündigt sich

also eine »Verflüssigung« der Überlieferung an, massiv setzt sich dieser Prozeß

in der dri t ten Phase der Erneuerung, in der gesprochenen Sprache im Jischuw

fort. Vor allem in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg - also zu der Zeit, als Scho-

lem einwandert - wird das Hebräische zur dominanten Sprache im Jischuw, zur

»Grundsprache« der Gesellschaft, in der alle tendenziell alles sagen können.2 23

Das führt zu einem Prozeß, der oft als »Europäisierung« der Sprache beschrie-

ben wird und der noch bis lange in die Nachkriegszeit reicht: Zahlreiche N e o-

logismen werden erfunden bzw. aus anderen Sprachen übernommen, aramäische

und j iddische Formen werden ausgeschieden, die Syntax nähert sich den eu-

ropäischen Sprachen an, auch die Aussprache wird in gewissem Sinne »europäi-

siert«. Für uns sind weniger die Einzelheiten interessant als die Tatsache, daß sich

damit radikal die Ar t und Weise verändert, in der die Sprache präsent ist:

In der Vergangenheit gab es einen Fundus von Texten, aus dem der Einzelne Wör-ter und Redewendungen beziehen konnte, nun gibt es ein Repertoire einer leben-digen Sprache, in der die Elemente verschmolzen sind, einen aktiven Wortschatz und Wortverbindungen, die - unabhängig von ihren Ursprüngen - [...] verwendet werden. Dieses »lebendige« Vokabular kann von jedem benutzt werden, gleich-gültig ob er Hebräisch als Muttersprache beherrscht, die Urtexte studiert hat oder nicht.224

With regard to the History of Hebrew language, it is instructive to note that the process of Europeanization that many linguists have observed in Israeli Hebrew actually began in the composition of fiction a good quarter-century before Hebrew was fully revived as a spoken language.« (Alter, Hebrew and Modemity, 56) - Auch Shaked hebt die Bedeutung dieser Entwicklung hervor, insbesondere die von Brenner: »Brenner was among the initiators of the conscious - not to say artificial - transition from literary to spoken language. He imbibed numcrous Arabisms and Yiddishisms, merging them into a modern Hebrew of sorts.« (Shaked, »Shall all Hopes ...«, 780) Vgl. dazu Harshav, Hebräisch, 177f- Harshav hebt hervor, daß es sich nicht einfach um den »Entschluß« handelt, eine Sprache zu sprechen, sondern daß die Schaffung einer Gesellschaft, in der diese Sprache benutzt werden könne, die Voraussetzung sei: Die Entwicklung habe drei Phasen gehabt: in der ersten haben nur einzelne Hebräisch sprechen können, die zweite Alliah habe begrenzte soziale Situationen für das Spre-chen von Hebräisch geschaffen, die dritte schließlich (zu der auch Scholem gehört) ein »säkulares hebräisches Polysystem« geschaffen, erleichtert insbesondere durch Zulassung des Hebräischen als offizielle Sprache durch die Mandatsverwaltung, (vgl. ebd., 238ff)

Harshav, Hebräisch, 268. - Das moderne Hebräisch »bedient sich eines gewissen Spektrums an sprachlichen Möglichkeiten aus der Vergangenheit, unter der Bedin-gung, daß die Wörter oder Ausdrücke unabhängig von ihrem ursprünglichen Kon-text sind, keine Sachkenntnis der Quellen verlangen, aus der sie stammen, und den Text nicht als im Stil »mosaisch« ausweisen.« (ebd.) Über die Europäisierung der Spra-che vgl. die Ausführungen ebd., 264ff.

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 133

Paradoxerweise führt das dazu, daß die neuhebräischen Klassiker, die ja gerade

die Präsenz der Überl ieferung voraussetzen, für einen heutigen hebräischen

Leser nur mit Schwierigkeiten verständlich sind.225 Gerade diese Tatsache macht

deutlich, daß die zweite Phase eine ambivalente Übergangsphase ist, diese Er-

kenntnis gilt es nun für Scholem fruchtbar zu machen.

1.6.2 Sprache und Religion: Scholems Sprachkrise. Die hebräische Sprache spielt

für Scholems jüdische Identität von Anfang an eine zentrale Rolle: Die Besinnung

auf sein Judentum beginnt mit dem Wunsch, Hebräisch zu lernen, immer wieder

schreibt Scholem, daß Hebräisch eigentlich der einzige Weg zum Zionismus sei,

zahlreich sind die Polemiken gegen jene, die kein zentrales Verhältnis zum He-

bräischen haben.2261919 schreibt er den Text Wie soll man Hebräisch lernen?, der

seine Position zusammenfaßt:

Das Ziel des Hebräischlernens ist nicht die Fähigkeit, sei es sich selbst in dieser Sprache auszudrücken [...], sei es den Ausdruck anderer qua seiner allgemeinen Bedeutung zu verstehen. Vielmehr gilt es, das Hebräische so zu durchdringen, daß das Judentum in seinem geistigen Wesen als identisch mit seinem sprachlichen er-faßbar wird. Die Sicht des Hebräischen, nicht seine Rede ist das Ziel [...]. (T II , 612)

Das Judentum als geistiges Wesen wird also sichtbar an der hebräischen Spra-

che, Hebräisch zu lernen wäre demnach der erste und entscheidende Schritt zur

Aneignung dieses geistigen Wesens und damit die Verwirkl ichung der Arbeit,

es ist weniger Voraussetzung bzw. Mittel dieser Aneignung, als daß es mit ihr

zusammenfällt.227 Die metaphysische Bedeutung, die Scholem dabei der he-

Vgl. Harshav, Hebräisch 207, 255f. - Das ist schon durch den Wechsel von der ash-kenasischen zur sephardischen Aussprache begründet, liegt aber auch an der Ver-schmelzung der Sprachschichten. »Für den hebräischen Leser heute besteht die persönliche Basis [...] in dem israelischen Hebräisch, das wie eine monolithische Spra-che ohne Hinweis auf die quellenmäßige Herkunft jedes Wortes aussieht.« (ebd., 194) Daher ist er nicht mehr in der Lage, das Spiel mit den verschiedenen Quellenschich-ten zu verstehen. Die Bedeutung des Hebräischen scheint vor allem nach der Abwendung von Buber stark zuzunehmen, Scholems 95 Thesen beginnen apodiktisch: »Das Judentum ist aus seiner Sprache herzuleiten.« (T II , 300) Schon vorher polemisiert er gegen jene, die Hebräisch nicht vom Zentrum her betreiben (ebd., 430f). 1919 schreibt Scholem in einem einigermaßen poetischen Rückblick auf seine Entwicklung über deren letzte Phase: » Damals erkannten wir Hebräisch als den einzigen Weg. Der Fluß der Rede versagt, wo das ehrfürchtige Stammeln der alten Vokabeln uns erneuernd einsetzt, vor der Arbeit verstummt der Bericht [...], vor der Stille des einsamen Lebens der große Irrtum: daß man begründen müsse.« (Ebd., 554)

Das kommt in verschiedenen Thesen zum Ausdruck: »Hebräisch ist nicht nur der erste, sondern auch der letzte Schritt im Judentum.« (T II , 304) »Der hebräische Aus-druck für erleben ist: sehen.« (Ebd.)

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134 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

bräischen Sprache zuschreibt, werden wir im nächsten Teil untersuchen, hier soll uns die Rolle des Hebräischen in der kulturellen Erneuerung beschäftigen.

Aufschlußreich an diesem Text sind gerade die praktischen Vorschläge Scho-lems, wie man denn diese Sicht der Sprache zu erreichen habe: Man solle beim Lernen nicht mit der gesprochenen Sprache - also mit dem Neuhebräischen -beginnen, sondern der Reihenfolge der historischen Herausbildung folgen, also zunächst ausschließlich die Bibel lesen, dann die rabbinischen Schriften usw. Scholem geht offensichtlich davon aus, daß die so gelernte Sprache selbst ein »sichtbares« Bild der jüdischen Überlieferung ist. Wenn also, wie er einmal schreibt, das Judentum aus seiner Sprache herzuleiten ist (T II , 300), so ist um-gekehrt diese Sprache aus dem Judentum bzw. aus seiner Überlieferung »herzu-leiten«. Wir werden im nächsten Teil sehen, daß diese Reflexion über Tradition für Scholems theoretisches Denken eine zentrale Bedeutung hat.

Scholem beherrscht sein Hebräisch, als er nach Israel kommt, in seinen Er-innerungen rechnet er sich zu den wenigen Juden seiner Generation, dem auch der Ausdruck auf Hebräisch gelang. »Das war in den ersten Jahren keine Ar-beit, die mir leicht und ohne Zögern von der Hand ging. Meine hebräischen Studien [...] ebneten mir aber den Weg zur freien Assoziation innerhalb des Denkens und der Bilderwelt der hebräischen Quellen, die es sind, die eine energische, (wenn nötig) rhetorische und fruchtbare Äußerung im Hebräischen erst möglich machen.« (VBJ, 220) Noch in den Erinnerungen ist die Enttäu-schung über die spätere Entwicklung des Hebräischen zu spüren, er spricht hier fast mit Begeisterung von der »ersten Generation, in der das Hebräische aus dem Buch in die gesprochene Sprache hinüberwanderte«, hier habe man noch »die semitische Syntax und die schöne Wortwahl bedacht [...], bevor eine Generation nach ihnen jener Prozeß des Niedergangs einsetzte, durch den das gesprochene Hebräisch zu einer indoeuropäischen Sprache wurde« (Ebd., 90f).228

Für uns ist nun die Frage, wie diese in gewisser Hinsicht vorhersehbare Ent-täuschung von ihm interpretiert wird. Schon im September 1923, also unmittel-bar nach seiner Ankunft in Palästina schreibt Scholem den dafür äußerst aufschlußreichen Text Bemerkungen über Hebräisch und Hebräischlernen, der

Vgl. auch: »Inzwischen trennen uns von dieser Zeit mehr als zwei Generationen und wenn ich heute Briefe lese, die ich vor sechzig Jahren auf Hebräisch geschrieben habe, geschieht dies mit einem lachenden und einem weinenden Auge: lachend wegen des Fortschrittes unserer Sprache und weinend über den Preis, den wir dafür bezahlt haben« (VBJ, 91) - Allerdings überlegt Scholem 1930, ob er auf deutsch oder auf He-bräisch publizieren soll: »Hierzulande herrscht in diesen Fragen ein so enger Ge-sichtskreis, daß man ohne in Konflikte zu geraten nicht einmal auch nur die Frage stellen dürfte. Aber sie ist doch da.« (Br I, 264)

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 135

um die Frage kreist, ob es heute überhaupt möglich sei, Hebräisch zu lernen.229

Scholem unterscheidet dabei zwischen geschriebenem und gesprochenem H e-

bräisch, die Krise betreffe nur dieses: »Hebräisch als Sprache des Buches, der Li -

teratur, lebt. Es hat ein noch innerlich strahlendes, gewaltiges und erstaunliches

Leben, es hat sich in der Säkularisierung den Abglanz, die stetige Resonanz jener

Offenbarungen bewahrt, denen es sein ewiges Leben verdankt.«230 Die geschrie-

bene Sprache einschließlich der neuhebräischen Literatur - Scholem erwähnt hier

Mendele und Bialik - , ist also durchaus lebendig, t rotz ihrer »Säkularisierung«;

zumindest in diesem Fall ist also die Sprache nicht dadurch gefährdet, daß sie für

profane Zwecke gebraucht wird. Sie bleibt eine »starke Sprache« mit eigenem

Ausdruckswert: »Diese Sprache hat die Fülle und Schweigsamkeit wahren Le-

bens, sie hat noch in einem in der heutigen Welt erschütternden Maße die Red-

lichkeit der Metapher, die Erneuerung aus einem Kanon der Sprache sich

bewahrt«.231 Die geschriebene Sprache hat noch die Fülle der Überlieferung und

die Form, die ein Kanon immer vorschreibt, daher kann sie auch im Schweigen

sprechen: »sie verhieß uns die stummen Bezirke, ohne die kein geistiges, das ist

sprachliches Leben geführt werden kann«.232 Die Sprache der Literatur ist für

Scholem also, in dessen eigenen Worten, eine Sprache, die »gesehen werden« kann,

man könnte auch sagen, sie ist eine Sprache mit einer starken Form, denn diese

Form ermöglicht schließlich den schweigenden Ausdruck.

Ganz anders steht es um das gesprochene Hebräisch, das uns in Erez Israel be-gegnet. [...] Das gesprochene Hebräisch hier, nicht das einiger weniger Auserlese-ner, sondern jene Sprache, in der du dich mit deinem Nachbar unterhältst [...], ist keine Sprache. Sie ist, kann man sagen, das vollendetste Volapük, das für die Juden aus aller Herren Länder, denen Esperanto zu fern liegt, erdacht werden könnte, aber eine Sprache, in der eine Welt leben und weben kann, ist es nicht. Hierzu trägt sehr vieles bei.233

Für ihn hat die gesprochene Sprache bereits an Form verloren, sie wird dispo-

nibel als Kommunikat ionsmit tel und ist damit keine eigentliche Sprache mehr.

229 Scholem spricht davon, daß die Erneuerung des Hebräisch schon vor dem Krieg der »unheimliche Punkt« gewesen sein, dem man aber aus dem Weg gegangen sei: »Man verschob [...] diese Frage auf »drüben« - damals ein apokalyptischer Begriff. Nun hat sich die Apokalypse in ein großes Geschäft verwandelt, wir sind »drüben« und müs-sen uns wehren, und das hebräische Fragezeichen [...] erscheint in neuer Gestalt.« (Scholem, »Bemerkungen über Hebräisch...«, Are 4° 1599/277-1, Nr. 25, 1)

230 Scholem, »Bemerkungen über Hebräisch...«, Are 4° 1599/277-1, Nr. 25, 2. 231 Scholem,a.a.O., 3. 232 Scholem,a.a.O., 3. - Die Sprache sei »ein gewaltiges Medium, in das sich zu begeben

Verwandlung ebenso fordert wie verheißt, sie bildete, als sie sich uns eröffnete, das einzige Siegel der Gewissheit der Wiedergeburt« (ebd.).

233 Scholem.a.a.O., 3.

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136 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

Das ist natürlich Ausdruck eines kulturellen Elit ismus, es erklärt sich auch aus

der Übergangssituation, in der Scholem steht, und - ihm zufolge - aus dem be-

sonderen Verhältnis zwischen gesprochener und geschriebener Sprache im H e-

bräischen: Anders als andere Sprachen »lebe« das Hebräische noch heute aus

seiner reichen Vergangenheit, also aus seinem schriftlichen Erbe, nicht aus dem

gesprochenen Wort: »Dies ewige Leben hat, darüber kann kein Zweifel sein,

sein zeitliches gefährdet.«234

Diese »Gefahr« betont Scholem in dem Brief an Franz Rosenzweig,

kenntnis über unsere Sprache, der die zukünft ige Entwick lung der Sprache in

durchaus apokalyptischen Tönen beschwört: »Ein Geschlecht, das die frucht-

barsten unserer heiligen Tradit ionen übernimmt: unsere Sprache, kann nicht -

und mag es auch tausendfach wollen - ohne Tradit ion leben. [...] Gott wird in

einer Sprache, in der er tausendfach in unser Leben zurückbeschworen wird,

nicht s tumm bleiben.«235 Eigentümlich ist diesem Text, wie schon Wohlfahrt

bemerkt hat, ein Schwanken: »Einerseits kann die heilige Sprache nicht end-

gültig entheil igt werden und wird sich an ihren Schändern furchtbar rächen.

Andererseits stünde viel Schlimmeres bevor, sollte die Kraft der Namen gebro-

chen werden können. «236Tatsächlich schwankt Scholem, ob die Sprache wirk -

lich »entheiligt« worden sei und sich von der Tradit ion abgelöst habe:

Man glaubt, die Sprache verweltlicht zu haben, ihr den apokalyptischen Stachel gezogen zu haben. Aber das ist ja nicht wahr, die Verweltlichung der Sprache ist

Scholem,a.a.O., 2. - Vgl. auch: »Während nun in den lebenden Sprachen dieses Leben der Literatursprache sich aus dem der gesprochenen herauskristallisiert und die Tie-fen des Sprachlichen sich aus der Berührung mit dem gesprochenen Wort bilden, gilt all dies bis heute noch nicht vom Hebräischen. Noch ist sein wahrstes Leben das aus der Historie (und nicht gar selten dem Einfluß des lebendigen Jiddisch) gespeiste.« (Ebd., 3) Scholem, »Bekenntnis über unsere Sprache«, 216f. - Moses interpretiert diesen Text von der kabbalistischen Sprachphilosophie und Benjamins Theorie der Sprache her (Moses, Der Engel der Geschichte, 224ff): »Das Hebräische, das für die jüdischen Mystiker die Ursprache der Menschheit ist, hat die magischen Virtualitäten der Spra-che treu aufbewahrt, allerdings nur insofern, als sie »heilige Sprache« bleibt, das heißt als sie in ihrer reinsten Form weiterbesteht: in der, die sie in den klassischen Texten der jüdischen Tradition und ihrer Liturgie annimmt. Umgekehrt kommt ihre nach-lässige Handhabung im tagtäglichen Leben einer wahrhaftigen Profanation gleich« (Ebd., 226) Hier wird Scholem eine Sprachmystik untergeschoben, die gerade zu sei-nen schwächsten Seiten gehört, vgl. dazu auch das in der EINLEITUNG über die theo-logische »Ausbeutung« Scholems gesagte.

Wohlfahrt, »Haarscharf auf der Grenze«, 199. - Wohlfahrts Interpretation arbeitet sehr gut die Ambivalenz des Textes heraus, allerdings geht auch sie ganz undifferen-ziert von der »Heiligkeit« der Sprache aus und nimmt keinen Bezug auf die spezifi-sche Entwicklung des Hebräischen.

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 137

ja nur eine Facon de parier, eine Phrase. Es ist schlechthin unmöglich, die zum Ber-sten erfüllten Worte zu entleeren, es sei denn um den Preis der Sprache selbst. Das gespenstische Volapük, das wir hier auf der Gasse sprechen, bezeichnet genau jene ausdruckslose Sprachwelt, in der die »Säkularisierung« der Sprache allein möglich werden konnte.237

Diese verwirrenden Äußerungen lassen sich auf zwei Weisen verstehen, wenn man sie auf Scholems historische Erfahrung mit dem Hebräischen bezieht: Ent-weder ist dieses nicht als Sprache »säkularisiert« worden, sondern hat sich in eine Scheinsprache ohne inneres Leben und Schweigen verwandelt; oder diese »Säku-larisierung« hat gar nicht stattgefunden, in Wirklichkeit sei der »apokalyptische Gehalt« immer noch präsent. Wahrscheinlich geht Scholem davon aus, daß beide Entwicklungen stattgefunden haben, daß die Sprache zum Teil ihren Ausdruck-scharakter verliert, zum Teil im Banne einer apokalyptischen Phraseologie steht, Verschleiß und Ideologisierung der Sprache schließen einander ja auch nicht aus. Die fatale Bedeutung dieser Phraseologie für die politische Entwicklung im Jischuw hatte Scholem ja schon an anderer Stelle hervorgehoben: Die Phrase benutzt den religiösen Gehalt der Sprache zu politischen Zwecken, sie vermischt Religion und Politik und gefährdet dabei nicht nur die Politik, sondern auch die Sprache - statt daß diese sich »unsichtbar«, d.h. abseits von der politischen Sphäre, erneuert, wird der religiöse Gehalt aus ihr herausgepreßt. Mi t einer War-nung vor dieser Entwicklung schließt Scholem seine erste Studie über den Sab-batianismus von 1928: »Die messianische Phraseologie des Zionismus, besonders in entscheidenden Momenten, ist nicht die geringste jener sabbatianischen Ver-führungen, die die Erneuerung des Judentums, die Stabilisierung seiner Welt aus ungebrochenem Sprachgeist, zum Scheitern bringen können.« (J1,146)238

In Bekenntnis über unsere Sprache hält Scholem daran fest, und das macht die eigentümliche Dramatik dieses Textes aus, daß die Sprache nicht in dem gegen-wärtigen Zustand bleiben könne: »Wir leben ja in dieser Sprache über einem Ab-grund, fast alle mit der Sicherheit des Blinden. Aber werden wir nicht, wir oder die nach uns kommen, hineinstürzen, wenn wir sehen werden?«239 »Wir« - also die erste Generation der Hebräischsprechenden im Jischuw - sprechen irgend-

Scholem, »Bekenntnis über unsere Sprache«, 215. - Vgl. den genauen Leser Wohl-fahrt: »Daß er [Scholem] in diesem Zusammenhang die Worte »Aktualisierung« und »Säkularisierung« zwischen Anführungsstriche setzt, könnte zweierlei heißen: daß es sich um nichtsbedeutende Phrasen oder aber um die Karikatur ihres eigentlichen, le-gitimen Wortsinns handelt.« (Wohlfahrt, »Haarscharf auf der Grenze«, 197) Vgl. auch an anderer Stelle: »Das Volk hat seine Wiedergeburt durch Heuchelei und Schande sich zu bestätigen geeilt, und als »Lehre aus Zion« die Phrase erfunden, die wahre Herrin der Chimäre.« (»Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug«, 2 (Are 4° 1599/277-1, Nr. 72)). Scholem, »Bekenntnis über unsere Sprache«, 215.

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138 DAS POLITISCHE SCHREIBEN

wie Hebräisch in einer Übergangssituation, ohne Bewußtsein ihrer Tiefe.240 An-

ders dagegen die nächste Generat ion, die nur auf Hebräisch angewiesen sein

wird: Entweder wird sie ganz in einer Schein-Sprache existieren: Wenn diese im

Verschleiß vol lkommen ihr »Leben« verliert, wäre die nächste Generat ion »hoff-

nungslos der Leere preisgegeben«.241 N icht weniger gefährlich ist aber die an-

dere Möglichkeit, daß die Jugend wirklic h zur hebräischen Sprache kommt:

»Überliefern wi r aber unsern Kindern die Sprache, die uns überliefert worden

ist, machen wir, das Geschlecht des Übergangs, die Sprache der alten Bücher in

ihnen lebendig, so daß sie sich an ihnen neu offenbaren kann - muß denn dann

nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages, gegen ihre Sprecher, Aus-

druck finden?«242

Was ist diese Gewalt der Sprache und wie kann sie sich gegen ihre Sprecher

wenden? Scholem beschreibt das unvermittelt mit einer >kabbalistischen< For-

mul ierung: »Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache be-

schlossen, ist ihr Abgrund versiegelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, die

alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen.«2 43

Es scheint mir fraglich, ob Scholem hier wirklic h eine ungebrochene magische

Kraft der heiligen Sprache im »Namen« annimmt oder einfach daran »glaubt«,

daß das Hebräische eine »heilige Sprache« sei, jedenfalls kann man diese For-

mulierungen auch auf die sehr viel konkretere Erfahrung mit der hebräischen

Sprache beziehen.

Scholems Rede vom »Abgrund« scheint gleichermaßen die in den Worten im-

plizierte Bedeutungsfülle im allgemeinen und einen besonderen religiösen Ge-

halt zu meinen, tatsächlich waren diese beiden Bedeutungen auch schon in

»Wir«, scheint Scholem nahezulegen, haben ja auch noch andere Sprachen, in denen wir sprechen und schreiben können - er selbst kann ja sogar in einem deutschen Text über die Krise des Hebräischen schreiben. Bleibt damit nicht auch später die Fähig-keit zum mehrsprachigen Ausdruck zentral, die Scholem ja bald mit seinen englischen und deutschen Veröffentlichungen nutzt? Bereits 1930 fragt er sich, »ob es richtig ist, ein Buch mit dem man etwas Neues bringen will , so zu schreiben, daß die Religions-historiker und Philosophen es nicht lesen können«, d.h. auf Hebräisch (Br I, 245). »Hierzulande herrscht in diesen Fragen ein so enger Gesichtskreis, daß man ohne in Konflikte zu geraten nicht einmal auch nur die Frage stellen dürfte. Aber sie ist doch da.« (Ebd., 246)

»Denn die Namen haben ihr Leben, und hätten sie es nicht, weh unseren Kindern, die hoffnungslos der Leere preisgegeben werden.« (Scholem, »Bekenntnis über unsere Sprache«, 216) - »Unheilschwer ist dies Hebräisch: in seinem jetzigen Zustand kann und wird es nicht bleiben, unsere Kinder haben keine andere Sprache mehr, und es ist nur wahr zu sagen, daß sie und allein sie die Begegnung werden bezahlen müssen.« (Ebd.) Scholem, »Bekenntnis über unsere Sprache«, 215. Scholem, a.a.O., 216.

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EXKURS: DIE BEDEUTUNG DER SPRACHE 139

Bialiks ganz ähnlichen Formulierungen über den Abgrund in der Sprache ange-legt.244 Weil die hebräische Sprache im profanen Gebrauch ihre Bedeutung aus dem Fundus religiöser Überlieferung bezieht - oder jedenfalls für Scholem be-ziehen soll -, ist im Sprechen auch eine religiöse Dimension präsent. »Das Erbe unserer Väter ist gefährlich« hatte Scholem schon 1921 über eine schlechte Übersetzung geschrieben (T II , 657), es ist in der Sprache präsent. In ihr ist das Gefährliche dieses Erbes aber auch bewältigt, jedenfalls solange, wie sie wirkli -che Sprache mit starker Form ist, in ihr ist der »Abgrund versiegelt«, aber nicht verschwunden. »Wir«, das »Geschlecht des Übergangs« gehen über ihm, ohne ihn zu sehen, aber wir lassen diesen »Abgrund« nicht ruhen, sondern beschwören ihn immer wieder herauf. Wenn die Sprache aber ihre Form verliert, kehrt sich der Abgrund gegen uns: »Nun graust es uns manchmal, wenn aus der gedankenlo-sen Rede eines Sprechers ein Wort der Religion uns erschrickt«.245 Das werde die nächste Generation in die Krise führen: »Wenn die Sprache sich gegen ihre Sprecher wenden wird - auf Minuten tut sie es schon in unserem Leben, und das sind schwer vergeßliche, stigmatisierende Minuten, in denen sich die ganze Ver-messenheit unseres Unterfangens uns offenbart - werden wir dann eine Jugend haben, die im Aufstand einer heiligen Sprache bestehen können wird?«246

Immer wieder beschwört Scholem diese Zukunft herauf, die »unausbleibli-che Revolution«, den »Moment, wo sich die in der Sprache gelagerte Macht ent-falten wird, wo das »Gesprochene«, der Inhalt der Sprache, wieder Gestalt annehmen wird«.247 Das ist nicht aus der Position eines sicheren (»kabbalisti-schen«) Wissens gesprochen, es ist auch eine Dramatisierung eines Sachverhal-tes, der anders für Scholem vielleicht nicht zu formulieren war, spiegelt doch die Ambivalenz des Textes wohl auch die eigene Ambivalenz Scholems wider.

Gleich zu Beginn bezeichnet er den Jischuw als »Vulkan«.248 Ist für ihn die-ser Vulkan in den folgenden Jahren erloschen oder ausgebrochen, ist die Spra-che vollends verschliffen worden und im Verstummen versunken oder ist ihr apokalyptischer Gehalt in der Phrase wieder ausgebrochen? Die dritte, positive Möglichkeit, daß die Tradition wieder »Gestalt annehme«, ist für ihn offen-sichtlich nicht eingetroffen. Ob die erste oder die zweite Möglichkeit, oder eine Kombination von beiden, die Entwicklung des Hebräischen für Scholem am besten kennzeichnet, läßt sich aus seinen späteren Äußerungen nicht ablesen,

244 Auf diese Ähnlichkeit hat schon Alter hingewiesen, er hebt überhaupt die Bedeutung dieser Metapher bei Scholem hervor: »Fast immer fungiert er als interpretierende Me-tapher und nicht als lexikalische Reflexion oder analytische Klassifikation des jeweils untersuchten Gegenstandes.« (Alter, »Scholem und die Moderne«, 161)

243 Scholem, »Bekenntnis über unsere Sprache«, 216. 246 Scholem, a.a.O., 216. 247 Scholem, a.a.O., 216f. 248 Scholem, a.a.O., 215.

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vollkommen unplausibel wären beide nicht: die erste angesichts der Normali-sierung des Hebräischen, die wir schon angedeutet haben, die zweite angesichts des Wiedererwachens des aggressiven Messianismus im Israel der sechziger und siebziger Jahre. Scholem hat sich darüber ausgeschwiegen.

1.6.3 Sprache im Übergang: Scholem und Agnon. Insgesamt scheint Scholem die Entwicklung später aber positiver zu bewerten, wie wir bereits an dem oben zi-tierten Interview von 1970 gesehen haben. Aber auch dort, wo er die pessimi-stischen und apokalyptischen Töne aufgegeben hat, hält er doch daran fest, daß es sich bei der Erneuerung des Hebräischen um eine entscheidende Krise han-delt, nicht einfach um ein Wiedererwachen und nicht um eine Normalisierung.

Besonders deutlich wird das an seinen Texten über den hebräischen Schrift-steller Agnon, von denen einer den bezeichnenden Titel S. J. Agnon - der letzte hebräische Klassiker trägt.249 Das ganze Werk Agnons sei, so hebt Scholem ge-rade gegenüber dem nichthebräischen Leser hervor, nur vor dem Hintergrund der Entwicklung der hebräischen Sprache verständlich. Die moderne hebräische Literatur habe von vornherein auf einem »Paradox« beruht: »Sie nährte sich von einer Sprache, die sich aus einer im wesentlichen religiösen Tradition herschrieb, aber nach profanen Zielen strebte.« (JII, 88) Zunächst sei das noch relativ un-berührt von der gesprochenen Sprache geschehen, erst bei Agnon sei die hebräi-sche Literatur mit der Entwicklung des gesprochenen Neuhebräisch konfrontiert gewesen. Agnon habe, so Scholem, mit wachem Bewußtsein vor der Tatsache ge-standen, »daß diese Metamorphose des Hebräischen [zur gesprochenen Sprache] einen entscheidenden Formverlust mit sich brachte« (J II , 90). Wenn Scholem die-sen Formverlust und seine Gefahren beschreibt, finden wohl auch seine eigenen Erfahrungen Ausdruck:

Ich kann Scholems Interpretation von Agnon hier nicht umfassend darstellen und wil l nur auf die Äußerungen eingehen, die Scholem in den Zusammenhang zur Ent-wicklung der hebräischen Sprache gehören. Über Scholems Verhältnis zu Agnon vgl. Sparr: »Die Frage nach Agnons Stellung zur historischen, zur religiösen Tradition des Judentums ist auch eine Selbstbefragung Scholems«, bei Agnon finde sich »jene Zweideutigkeit, die Scholem auch darum erkannte, weil sie die eigene war« (Sparr, »G. Scholem und die moderne Literatur«, 47). - Zu den persönlichen Beziehungen zwischen Scholem und Agnon s.u. Anm. 256. - Alter stellt Agnon als den Vollender des synthetischen Stiles dar, gleichzeitig erreiche er auch die Reinheit des Flaubert-schen style indirect libre (Alter, Hebrew and Modernity, 12ff, 140ff), dabei sei sein traditionalistisches Auftreten durchaus irreführend: »A scrutiny of his technical procedures and his assumptions as a psychological realist make it particularly hard to maintain the notion he often liked to foster that he somehow sprang directly out of the Bible, the Midrash, the commentaries of Rashi, and the tales of the Hasidic masters, without intervention from modern Europe.« (Ebd., 135)

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Es liegt auf der Hand, daß eine Sprache leicht chaotisch werden kann, die nicht län-ger aus dem Studium alter Texte und aus bewußter Reflexion sich bildet, sondern aus unbewußten Prozessen, bei denen die Macht der Tradition nur eine nebensächliche Rolle spielt. [...] Künftig könnte daraus sehr wohl sich ein Medium bilden, in dem ein neues Genie seinen Ausdruck finden kann, aber diese Sprache wird dann in ihren Mitteln und Möglichkeiten wesentlich von der alten verschieden sein, (f II , 90)250

Scholem spricht nicht mehr von »Profanation«, sondern von »Formverlust«, er be-

schreibt diesen Prozeß jetzt nicht mehr nur als Auflösung, sondern betont auch

dessen Lebendigkeit und dessen posit ive Momente. Denn gerade dieser habe

Agnons Meisterschaft möglich gemacht, der nach Scholem am »Kreuzweg« die-

ser Entwicklung stand, wo er noch einmal in beide Richtungen habe sehen kön-

nen, auf das Hebräisch als Sprache des Buches und auf das gesprochene

Hebräisch: »Das ist freilich eine Stellung, die einen Schriftsteller von Genie in-

stand setzt, den Rang eines Klassikers zu erreichen. [...] Er kann ein klassischer

Meister werden - aber er wird wohl ein letzter in dieser Reihe sein.« (Ebd., 89)

Für Agnon ist die »Form« der religiösen Tradit ion und der Textüberlieferung

noch präsent, auch er schreibt im synthet ischen Stil mit bewußter und sicht-

barer Anlehnung an tradit ionelle Texte und Formen; gerade dadurch, betont

Scholem, erreiche Agnon eine »Sprache von außergewöhnl icher Dichte« und

»Spannung«.251 Agnon schreibe, so legt Scholem nahe, wie eine »heilige Spra-

che«, das verleihe auch den profanen Gegenständen einen »Glanz«: »Denn auch

250 Scholem betont, es sei »eines der am meisten in die Augen springenden Ergebnisse der Wiedergeburt des Hebräischen als einer natürlichen Sprache, daß die Wörter den schweren Ballast historischer Töne und Obertöne abwerfen, der sich im Laufe von dreitausend Jahren heiligen Schrifttums angesetzt hat. Die Wörter haben eine neue Jungfräulichkeit erworben und können in einen neuen Zusammenhang treten, aus dem der alte und zuweilen stickige und bedrückende Geruch von Heiligkeit ver-dunstet ist.« (J II , 90f) - Scholem spricht hier auch von der »anarchischen Lebendig-keit, Gesetzlosigkeit und Rauhbeinigkeit der neuen Sprache« (ebd., 91).

251 Vgl: »Das Hebräische, das Agnon schreibt, ist eine Sprache von außergewöhnlicher Dichte. Sie stellt sich bewußt in das Kontinuum der alten literarischen Traditionen der biblischen, talmudischen und mittelalterlichen Sprachwelten. Sie sucht ein Maxi-mum an Neuem mit, auf den ersten Blick gesehen, möglichst alten Mitteln zu errei-chen und schränkt den Gebrauch neuer Sprachmittel in Wortwahl, Syntax und Kadenz der Sätze auf ein Minimum ein. Sie geht also ihre Gegenstände nicht unmit-telbar und ungebrochen in einem Ausdruck an, der dem Autor hier und jetzt aus der sprachlichen Umwelt zufließt [...], sondern sie erreicht ihre Ziele auf ganz entgegen-gesetztem Wege. In jedem Satz schwingen in großem Reichtum Beziehungen auf die Sprache der alten Bücher mit, Zitate, halbe und Viertelzitate, Andeutungen und An-spielungen, die der Schilderung auch der einfachsten Sachverhalte eine eigenartige Spannung verleihen und einen Glanz über sie ausbreiten, in dem sich die Aus-drucksfülle dieser traditionsreichen Sprache mit ihrem archaischen Lakonismus groß-artig verbinden.« (Scholem, »Über einen Roman von S. J. Agnon«, 331)

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das Profanste wird in dieser Sprache gleichsam in einen sakralen Zusammen-

hang gestellt«.252 N icht weniger wichtig ist aber ein zweites Moment in dieser

Sprache: »Zugleich aber macht sie diesen unendl ichen Beziehungsreichtum

einer Heil igen Sprache und geprägten literarischen Tradit ion zum Gegenstand

eines nicht durchweg einfältigen, sondern von ironischen Lichtern durchsetz-

ten Spiels, in dem das Heil ige profaniert oder jedenfalls in vielfältigen Bre-

chungen säkularisiert wird.«253 N icht allein das Festhalten an den traditionellen

Formen, sondern ihre ironische Benutzung bringt die wirklic h klassische Spra-

che hervor, Agnon ist also nicht nur der Epigone der klassischen Form, sondern

erst eigentlich ihr Nutzn ießer und Ausbeuter. Daher ist für Scholem das H e-

bräisch Agnons »das schönste Hebräisch [...], das seit Jahrhunder ten geschrie-

ben worden ist. Es ist der Ausdruck einer Sprachsubstanz, die in unendl ich

gebrochenem Farbenreichtum aufglüht, bevor sie mit der Rückwanderung aus

dem Lehrhaus und der Literatur in den Alltag [...] einer entscheidenden, schöp-

ferischen und gefährlichen Metamorphose entgegengeht.«254

Ist die »aufglühende« Sprachsubstanz verbraucht (»ausgeglüht«, »verglüht«) in

dieser Krise? Dann wäre Agnon tatsächlich der »letzte Klassiker«. »Nur im

Vorübergehen« wil l Scholem anmerken, »daß es ja eben das Zerbrechen dieses

sakralen Tradit ionszusammenhanges und das Hineinwandern des Hebräischen

aus dem Lehrhaus in die Sprache der Säuglinge ist, die die ganze Problematik

des Hebräischen und seiner Li teratur im neuen Israel best immt, die zugleich

aber auch eine Meisterschaft von jener Art , wie sie Agnon zur Vol lendung

gebracht hat, im Grunde fürderhin unmögl ich macht«.2 55 Die Frage nach der

252 Scholem, »Über einen Roman von S. J. Agnon«, 331. - Während Scholem in dem Aufsatz von 1965 noch als ganz gelungen klassisch Schreibenden darstellt (vgl. die vorige Anm.), hebt er zwei Jahre später auch das »künstliche« dieses Verfahrens her-vor: Der Leser komme »nicht von dem Gefühl los, daß immer mehr von diesem Werk als eine Art verzweifelter Beschwörung, als ein Anruf an die, die nach ihm kommen würden, entstand« (J II , 91). Scholem betont hier stärker das Moment des Scheiterns, damit ist Agnon auch in die Distanz bzw. in die Vergangenheit gerückt.

253 Scholem, »Über einen Roman von S. J. Agnon«, 331. 254 Scholem, a.a.O., 332. 255 Scholem, a.a.O., 332. - Vgl. auch die Ausführungen in einer Rede zum Bayrischen

Literaturpreis von 1974; hier hebt Scholem hervor, daß nicht nur die konservative Sprache der Bücher, sondern auch das gesprochene »Standard Hebrew« eine wich-tige Rolle spiele: »Having migrated from the ancient books to the mouth of babes and suckling, it has given way to an extremely vital language, characterized by an an-archistic lack of rules. Only by the confrontation between these two linguistic worlds wil l the Hebrew of the future develop, deriving its image from the fruitful experience of the meeting between them - a fertile but dangerous process.« (PM, 22) Das Gegenbild ist hier die deutsche Sprache, die während des Nationalsozialismus einer Degeneration verfallen sei.

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Zukunft des Hebräischen läßt Scholem offen, zwar spricht er hier von neuen Chancen, aber über die wil l er, der »Esoteriker der alten Mode«, nicht viel sagen.

Es scheint, als habe Scholem seine grundlegende Diagnose von der Entwick-lung des Hebräischen nicht geändert, geändert ist nur die Bewertung dieses Pro-zesses und die Position, die Scholem ihm gegenüber einnimmt: Er betont jetzt auch die positiven Seiten der Entwicklung - oder bemüht sich jedenfalls, das zu tun -, die Krise steht nicht mehr bevor, sondern ist bereits geschehen, sie ist schon selber »klassisch«. Statt des dramatischen Pathos« einer kommenden Ka-tastrophe gibt es daher jetzt leisere, melancholischere Töne.

Strukturell bleibt für ihn die Krise aber die gleiche, die er schon in den zwan-ziger Jahren wahrzunehmen glaubte. Man kann diese daher mit einiger Vorsicht von den späteren Texten her noch einmal besser verstehen: Seine Bewunderung für Agnon, die ja bis in seine Jugend zurückreicht, zeigt noch einmal, daß für ihn keineswegs jeder »profane« Gebrauch der hebräischen Sprache schon ein Mißbrauch der »heiligen Sprache« ist. Bei Agnon ist es gerade die Ironie, die mit der heiligen Sprache bricht, die die Schönheit und den Reichtum überhaupt erst sichtbar macht; gerade der »häretische« Gebrauch der heiligen Sprache gibt dem, was in ihr versiegelt wird, eine neue Gestalt. Nicht zufällig ist Häresie später das zentrale Thema von Scholems Historiographie.

Auch der »Konservatismus« Scholems erscheint noch einmal in einem verän-derten Licht: Eine starke Literatur braucht eine starke Tradition, aber sie braucht genauso auch den Bruch damit. »Klassisch« ist daher nicht einfach jene vergangene Tradition, die den Schreibenden bindet, sondern das Klassische ist gerade der Moment, wo mit der Tradition gebrochen wird. In eine ebenfalls be-wußt »klassische« Formulierung faßt Scholem das in den Unhistorischen Sätzen: »Echte Tradition bleibt verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf einen Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar.« (J III , 264) Wie wir sehen werden, ist dieser Gedanke in Scholems Reflexionen über das Wesen der Tradition zentral, und das ist keineswegs erst seit seiner Enttäu-schung durch den »empirischen Zionismus« der Fall. Schon seit 1916 reflektiert Scholem über Krise und Verfall der Tradition, das ist ebenfalls nicht zufällig, denn sein eigenes Projekt der »Aneignung der Tradition« steht, genau wie das Agnonsche, auf der Grenze zwischen konservativer Fortsetzung der Tradition und häretischem Bruch mit ihr.

Von Agnon selbst distanziert er sich aber auch wieder, und zwar gerade, weil dieser die Grenze in seinen späteren Werken verlassen habe. Wo Agnon eine un-gebrochen positive Haltung zum traditionellen Judentum einnimmt, kann Scholem das nur bedauern: »Die dialektische Haltung des Autors seiner eige-nen Erfahrung und der Überlieferung gegenüber [...] ist hier aufgegeben, und

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das, möchte ich fast sagen, ist sehr schade.« (J II , 121)256 Die Grenze selbst bleibt

der eigentlich produktive Or t, und was Scholem den frühen Agnon seinen Zeit-

genossen zurufen läßt, könnte er wohl auch selber rufen: »»Da ihr die Stetigkeit

der Tradition und ihrer Sprache in ihrem ursprünglichen Zusammenhang nicht

mehr akzeptiert, so nehmt sie wenigstens in der Verwandlung an, die sie in mei-

nem Werke durchgemacht hat, nehmt sie von einem an, der am Kreuzweg steht

und nach beiden Richtungen schaut.«« (Ebd., 9lf )

256 Hier kann Scholem sehr harte Worte finden: »Wir haben es mit einem fast hysterischen Versuch zu tun, die Formen eines zum Erlöschen verurteilten Lebens für die Nachwelt aufzuheben. Es ist ein einigermaßen trauriges Schauspiel, denn man merkt die Absicht und wird verstimmt.« (J II , 120) - Niewöhner zeigt Ursachen der Distanzierung auf; vor allem Agnons Wendung zur Orthodoxie habe zur Entfremdung geführt. Agnon habe ihm Anfang der zwanziger Jahre gesagt: »Scholem, ich habe das Gefühl, du willst fromm werden. Werd' bloß nicht fromm«; nun wird aber Agnon fromm, Scholem spricht hier von der »überaus intrikaten orthodoxen Heuchelei«, vor allem aber von der »verrücktefn] Selbstbespiegelung im Mantel seiner halb naiven Demut, die einem den Atem verschlägt« (Zit.: nach: Niewöhner, »»Ich habe keinen Garten ...'«, 86)

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2. DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN: SCHOLEMS PHILOSOPHISCHE UND THEOLOGISCHE FRÜHSCHRIFTEN

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2.1 Einleitung: Scholems esoterische Texte und die Probleme ihrer Interpretation

»Man kann das Judentum im letzten Grunde nicht beweisen, sondern nur glauben.« Nein, im letzten Grunde muß man es beweisen können. (T I, 432)

Im letzten Teil haben wir uns vor allem mit Scholems Selbstverständnis ausein-andergesetzt und untersucht, wie er seine eigene (diskurspolitische) Position konstituiert und stilisiert. Aber seine frühen Aufzeichnungen erschöpfen sich selbstverständlich nicht darin, über sich selbst zu schreiben, im Gegenteil ist es gerade spezifisch für diese Texte, daß dies immer mit einer sehr breiten und all-gemeinen sachlichen Reflexion verbunden ist. Vor allem das Judentum wird immer wieder und mit höchstem Anspruch - eben dem des »Beweises« - reflek-tiert, dies steht von vornherein auch im Zusammenhang mit allgemeinen philo-sophischen, theologischen und mathematischen Fragen.

Man kann dabei in Scholems Tagebüchern grob drei verschiedene Schichten von theoretischen Äußerungen unterscheiden: Erstens gibt es die um die Mathe-matik und die systematische Philosophie kreisenden Äußerungen. Hier versucht Scholem, sich in der Sprache des Neukantianismus und (ansatzweise) der Logi-stik vor allem über das Verhältnis von Mathematik und Philosophie und über die Möglichkeiten einer systematischen Philosophie klar zu werden. Hier handelt es sich in der Regel um verstreute Aufzeichnungen ohne feste Form, sie sind nicht besonders zahlreich, sie stammen vor allem aus dem Jahr 1916, die Themen wer-den 1918, im Zusammenhang mit der gemeinsam mit Benjamin durchgeführten Lektüre von Cohen, noch einmal aufgenommen. Zweitens gibt es eine große Menge von meist Notizen über das Judentum, die ungefähr ab Ende 1916 auch mit systematischer Intention verfaßt werden. Innerhalb dieser Schicht verschiebt sich noch einmal der Schwerpunkt: Scholem beginnt die Entwicklung seiner »Theorie des Judentums« in Abwendung von Buber und in positiver Rezeption von Molitor und Hirsch. Dazu kommen, teilweise vermittelt durch Benjamin, auch andere Autoren der Spätromantik wie Baader und Schelling ins Spiel. Un-gefähr ab Frühjahr 1918 treten dann mehr und mehr Stil und Terminologie der Frühromantik in den Vordergrund, insbesondere die Theorie des »Mediums«. Eine dritte Schicht eigenen Charakters bilden die selbständigen esoterischen Texte, sie sind in der Regel aus vorhergehenden Notizen entwickelt und von Scholem wohl als Höhepunkte seiner Produktion angesehen worden. Die drei zentralen Texte sollen in der Folge näher interpretiert werden: Über Klage und Klagelied von An-

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148 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

fang 1918, der ein Jahr später verfaßte Text Über Jona und den Begriff derrechtigkeit und schließlich Über die Kabbala, jenseits betrachtet von 1921.

Vor allem an der zweiten Schicht kann man eine äußerst charakteristische for-male Spannung feststellen zwischen einer beständigen Problematisierung und Infragestellung einerseits und einer äußerst apodiktischen Tendenz, die man als Pendant zu der von Scholem treffend so bezeichneten »Konstatierontologie« (Br III , 174) Benjamins betrachten kann. Dabei nimmt die apodiktische Tendenz im Laufe der Zeit stark zu, vor allem seit Scholem Ende 1917 verstärkt zur Form des Fragments bzw. der These greift, von welcher er verschiedene Sammlungen mit programmatischem Charakter anlegt, deren wichtigste und zugleich knapp-ste die 95 Thesen über Judentum und Zionismus vom Sommer 1918 ist. Das im letzten Teil herausgearbeitete »asketische Ethos« Scholems prägt hier auch sein theoretisches Denken: In oft - im Doppelsinn - »blendenden« Formulierungen, die zugleich dogmatisch und programmatisch sind, versucht Scholem »seine« Sprache des Judentums zu sprechen. Dieses Projekt bleibt unvollendet, die Ta-gebücher - niemals zur Publikation bestimmt - werden nicht fortgesetzt; sie die-nen aber als Materialquelle noch für die Reflexionen des späten Scholem.257

2.1.1 Probleme der Lektüre. Scholems »Theorie des Judentums« stellt sowohl eine historische als auch eine systematische Zugangsweise vor erhebliche interpreta-torische Probleme und ist bisher kaum thematisiert worden.258 Auch wenn der Gestus bzw. das »Ethos« verhältnismäßig leicht zu bestimmen ist und man eine Übersicht über die behandelten Themen geben kann, ist es doch alles andere als einfach, über eine Bestandsaufnahme hinausgehend in die Texte einzudringen.

Die Interpretation wird wesentlich dadurch erschwert, daß das Projekt einer »Theo-rie des Judentums« ein Torso geblieben ist: Nach Mitteilung H. Kopp-Oberstebrinks finden sich im späteren Nachlaß kaum noch Texte mit solch hohem philosophischen Anspruch. Allerdings kann man aus anderen Quellen vermuten, daß es noch theolo-gische Aufzeichnungen gibt, die mir nicht zugänglich waren (vgl. Bergmannbücher und Briefe, 261, 357). Das liegt natürlich v. a. an der bis vor kurzem unbefriedigenden Quellenlage. Smith« eher referierender Aufsatz ordnet Scholems Überlegungen unter das Problem der Sä-kularisierung ein (Smith, »Die Zauberjuden«, 238), er spricht von einer »Jewish-Ger-man rhetoric of esotericism« (ebd., 227) und hebt zu Recht hervor, daß »Benjamin's immense achievement [...] did not emerge ex nihilo« (ebd., 243). Goetschel weist be-sonders auf die Bedeutung von deutsch-jüdischer Identität einerseits, Sprachphiloso-phie andererseits hin (Goetschel, »Scholem's Diaries«, 80). Hamacher geht nur ganz kursorisch auf die Tagebücher ein (Hamacher, Gershom Scholem und dieschichte, 50ff), sie betont vor allem die Abwendung von der Orthodoxie (ebd., 54). Kil -cher (Die Sprachtheorie der Kabbala) sucht hier eine romantische Kabbala, ist gerade darin aber zu allgemein, dazu s. u. Kap. 2.3.1. Weigel interpretiert Scholems Klagelied-Aufsatz (»Scholems Gedichte und seine Dichtungstheorie«, 28ff), dazu s. u. Kap. 2.3.3.

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EINLEITUNG: SCHOLEMS ESOTERISCHE TEXTE 149

Diese Probleme müssen kurz skizziert werden, trotz meines entschiedenen Tonfalles kann ich selber keineswegs den Anspruch erheben, ihnen vollkom-men entgangen zu sein.

Es ist zwar sehr leicht, in Scholems Texten eine Fülle von »Einflüssen« zu fin-den, aber das bleibt beliebig, solange man keine Kriterien hat, um die Verarbei-tung dieser Einflüsse durch Scholem zu verstehen, solange man also noch keine wenigstens rudimentäre Vorstellung davon hat, wovon diese Texte überhaupt reden. Ein Sonderfall dieses Problems ist die Beziehung zu Benjamin, hier er-scheint es wenig sinnvoll und oft unmöglich, Prioritätsfragen im Einzelnen ent-scheiden zu wollen, andererseits ist es kaum möglich, Scholems Gedanken durchgehend unter Absehung von Benjamins Überlegungen zu verstehen. Ich werde mich hier darauf beschränken, zum Verständnis von Scholems Entwür-fen gelegentlich auf Benjamin zurückzugreifen und allenfalls noch eine unter-schiedliche Tendenz zwischen beiden Theoriebildungen zu betonen; hier wäre sicherlich eine wesentlich tiefer eindringende Interpretation möglich.259

Scholems Texte sind auch offen, um in ihnen alle möglichen »Meinungen« über die verschiedensten Gegenständen zu finden. Dabei besteht m. E. die Ge-fahr, daß die Jugendtexte zu einer bloßen Zitatenquelle werden; das unkontrol-lierte Herausgreifen von Behauptungen, die dann jeweils als »zentral« bezeichnet werden, dringt aber nicht in den Gedankenzusammenhang des Textes ein und fetischisiert letztlich nur den Text. Nichts gewonnen scheint mir mit der Aus-sage, der jugendliche Scholem sei eben ein »Mystiker«, entwerfe eine »mystische« Mathematik usw. Was hier unter »Mystik« zu verstehen wäre, wissen wir ja noch nicht, sondern wir wollen gerade durch die Untersuchung von Scholems Auf-zeichnungen erfahren, was er darunter versteht. Ähnliches gilt für das Thema

Die Kategorien zur Untersuchung einer solchen »Symphilosophie« sind allerdings noch kaum erarbeitet, auch ist das Material einseitig (von Benjamin gibt es keine Ta-gebücher) und problematisch, da man zumindest für die Berner Zeit davon ausgehen muß, daß die schriftlichen Zeugnisse nur Niederschläge sehr viel komplexerer Ge-sprächszusammenhänge sind. - Insgesamt bleibt der Eindruck, daß Benjamin deut-lich fester im systematischen Denken steht und auch der bestimmende Partner in der Wahl der Kategorien war, daß sich Scholem diese aber durchaus selbstständig und von einem von Benjamin unabhängigen Standpunkt aneignete. Wie im ersten Teil ge-zeigt wurde (Kap. 1.3.6), ist die Nähe zwischen Benjamin und Scholem auch nicht so groß wie Scholem das rückblickend dargestellt hat. - Nach der Lektüre des Sprach-aufsatzes schreibt Scholem: »Es geht mir mit dem Verständnis Benjaminscher Sachen immer ganz merkwürdig: Zuerst stehe ich irgendwo auf der weiten Welt und Benja-min im Himmel, dann nähert sich mir das Ausgedrückte und plötzlich: Noch jedes-mal habe ich genau den augenblicklichen Ruck verspürt, bin ich im Zentrum, haben die Dinge nichts Schwieriges mehr für mich und kann ich mich mit jenen Anschau-ungen ganz identifizieren und sie fortbilden.« (T I, 467)

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150 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

des »Messianismus«: Zwar ist es leicht, ein messianisches Ethos in Scholems Auf-

zeichnungen zu finden, um so schwerer ist es aber, verständlich zu machen, was

damit gemeint ist.260

Weil die Untersuchung von einzelnen »Einflüssen«, »Ansichten« oder »The-

men« unbefriedigend bleibt, erscheint es mir notwendig, die Texte nicht isoliert,

sondern im Zusammenhang zu lesen. Mi t dieser Forderung beginnt allerdings

erst das eigentliche Problem: Läßt der Status der Texte überhaupt eine solche

systematisierende Interpretat ion zu? Es ist nicht nur fraglich, ob diese Texte

immer kohärent sind, sondern es ist völli g unbest immt, auf welche Fragen sie

überhaupt antworten bzw. welchen Gegenstand sie überhaupt haben. Einer Re-

konstrukt ion des Gegenstandsbezuges stehen hier nicht nur die äußerste Kürze

und der fl ießende Charakter der Texte entgegen, sondern vor allem ihre Ge-

schlossenheit. Besonders deutlich wird das an dem, was man vielleicht »absolute

Begriffe« nennen könnte.2 61 Wie wi r schon im letzten Kapitel gesehen haben,

verwendet Scholem gern an zentraler Stelle die Tautologie: »Zion« ist eben »Zion«

und nichts anderes, »die Thora ist die Thora« oder - nicht ganz so radikal - die

»Thora« wird durch >Zion< erklärt bzw. umgekehrt »Zion« durch die »Thora«.

Trotz aller geschilderten Probleme gibt es aber auch Züge in Scholems Tage-

büchern, die ihre Lektüre ermöglichen und erleichtern: Diese zeigen deutl iche

Spuren denkerischer Arbeit; gerade ihre offene Form, in der sich oft verschie-

dene Varianten, Vorstufen und Überarbei tungen desselben Textes finden, er-

Die messianischen Überlegungen Scholems wären m. E. im Rahmen der spätroman-tischen >Weltalter«-Spekulationen zu verstehen: Die Unterscheidung eines gespensti-schen, eines dämonischen und eines messianischen Zeitalters (das auch das Weltalter der Offenbarung heißen kann, vgl. WB, 79f; T II , 238f, 344f) scheint mir vor allem durch Baader, Molitor und Schellings positive Philosophie bestimmt, weniger (oder jedenfalls nicht ausschließlich) durch Cohen. Die »Weltaltcr« stellen dabei schon in der Spätromantik nicht einfach eine geschichtsphilosophische Periodisierung dar, sondern sind immer auch theologisch und poetologisch gedacht; in der Rezeption durch Scho-lem (und Benjamin) verschiebt sich das mindestens in zweierlei Hinsicht: Einerseits übernehmen sie die für die Spätromantiker durchaus zentrale christologische Orien-tierung dieser Philosophie nicht (die ja bei jenen erst den Zusammenhang der ver-schiedenen Weltalter erschließt - vgl. bei Scholem T II 40, 180f), zum anderen zweifelt Scholem schon in seiner Jugend an der Möglichkeit einer »positiven Philosophie«. Es wäre daher die Frage nach dem »Niveau« und Status dieser Begriffe zu stellen (deter-minieren sie wirklich die Denkprozesse?), vgl. dazu Mattenklott, »Mythologie, Mes-sianismus, Macht«, der die rhetorische bzw. figurale Natur des »Messianismus« hervorhebt. Zum verwandten Phänomen einer apokalyptischen Rhetorik der Selbst-ermächtigung vgl. Brockoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, bes. 16ff. So kann man in Anlehnung an Blumenbergs »absolute Metaphern« Begriffe nennen, die sich durch Resistenz gegenüber der Explikation auszeichnen (Blumenberg,radigmen zu einer Metaphorologie, 9ff).

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EINLEITUNG: SCHOLEMS ESOTERISCHE TEXTE 151

möglicht es, Tendenzen und Probleme zu erkennen. So formuliert Scholem bei-spielsweise immer wieder Theorien über den Status der Bibel, die sich nicht nur in aufschlußreicher Weise unterscheiden, sondern auch in der Regel von Selbst-zweifeln begleitet werden, die oft mehr von den Scholem beschäftigenden Pro-blemen zum Ausdruck bringen als seine positiven Formulierungen. Zur Klärung kann auch beitragen, wie Scholem in späteren Texten auf ähnliche Pro-bleme und Formulierungen zurückkommt, hier ist natürlich besondere Vorsicht vor voreiligen Vermischungen geboten und vor allem auf die Abweichungen der späteren Texte von den frühen zu achten.262

An diese »Öffnungen« der Texte kann die Interpretation anknüpfen und die Texte »deidealisieren«, d. h. die Probleme aufdecken, die Scholem durch seine apodiktischen Aussagen und esoterischen Formulierungen mehr zu verdrängen versucht, als daß es ihm gelänge, sie wirklich zu lösen. Man muß daher hinter den Antworten, die Scholem gibt, nach den (unausgesprochenen) Fragen suchen, auf die sich jene Formulierungen beziehen. Denn wie jede andere besteht Scho-lems »Philosophie« nicht darin, seine »Weltanschauung« auszusprechen, sondern sie ist eine bestimmte Konstruktion und Handhabung von Begriffen, eine be-stimmte »theoretischen Praxis«.263 Erst auf dieser Ebene der »Problematiken«, erst wenn man die Fragen hinter den Texten mit dem historisch gegebenen Begriffs-material in Korrelation setzt, ist eine Lektüre der Texte möglich, die sich weder in der Aufzählung von Aussagen erschöpft, noch an der Heterogenität der Texte vorbei zu einer rigiden Rekonstruktion wird. Zugleich ist damit eine differen-zierte Historisierung möglich, denn die Problematiken sind stets in verschiede-nen Diskursen gegeben, die nicht ohne weiteres ineinander »übersetzt« oder in eine einfache (teleo-)logische Abfolge gebracht werden können.264 So wird es

Diese Texte sind v. a. der offene Brief an Schoeps von 1932, eine Diskussion über die Bedeutung der Thora von 1939, Zehn unhistorische Sätze über Kabbala von 1958, Reflections on the Possibility ofjewish Mysticism in our Time von 1963 und Reflec-tions on Jewish Theology von 1974. Hinzuzuziehen sind Äußerungen in Interviews und gelegentliche Bemerkungen in seinen historischen Studien. Den Gedanken der »theoretischen Praxis« und der »Problematik« entnehme ich ebenso wie das Konzept einer symptomalen Lektüre (die nach den Fragen der Antworten sucht) der anti-cartesianischen Epistemologie Bachelards und Althussers, vgl. bes. Althusser, Für Marx, 124ff. Anders als Althusser beziehe ich »Problematik« auf den philosophischen Diskurs, während ich in bezug auf die (Geschichts-)Wissenschaft lieber vom »Paradigma« sprechen werde; ein solches enthält nicht nur Begrifflichkei-ten, sondern auch empirisch-methodische Standards, welche die Philosophie eben nicht hat (vgl. die der Sache nach identischen Ausführungen über die Gegenstands-losigkeit der Philosophie, Althusser, Philosophie und spontane Philosophie, 19ff). Theoretisches Denken ist ja Antwort nicht nur auf eine bestimmte Sachfrage, sondern bezieht sich auch auf den jeweilig gängigen Diskurs, es ist ein Eingriff in diesen, der sich erst verstehen läßt, wenn man dessen Struktur kennt. Vgl. dazu insgesamt wieder

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beispielsweise bei der Frage nach der Theologie Scholems darauf ankommen, die m. E. oft übersehene Eigenlogik theologischer Fragestellungen gesondert zur Kenntnis zu nehmen, anstatt sie einfach als Appendix an die Philosophie aufzu-fassen oder sie auf den »Zeitgeist« zu reduzieren. Umgekehrt darf eine Interpre-tation auch nicht dazu führen, alle Überlegungen Scholems auf eine Theologie zurückzuführen, die »letztlich« hinter allem stehe. Das Spezifische der Proble-matiken liegt auch gar nicht in irgendwelchen »letzten« Sätzen - bei diesen kann man vielmehr davon ausgehen, daß sie das Problem eher verzerren -, sondern in sehr viel »äußerlicheren« Merkmalen wie etwa dem Verhältnis zu konkurrieren-den Problematiken oder anderen Disziplinen (z. B. impliziert jede Philosophie ein Verhältnis von Philosophie und Wissenschaften), aber auch in der inneren Gliederung ihres Gegenstandsbereiches (z. B. im Verhältnis von Ontologie und Erkenntnistheorie). An diesen Merkmalen läßt sich m. E. die Position eines ein-zelnen Autors sehr viel präziser darstellen als durch allgemeine Labels wie »Ide-alismus«, »Irrationalismus«, »Dekonstruktivismus« und was es sonst für »-ismen« geben mag. Für die historische Erkenntnis sind hier wie meistens die negativen Tatsachen die aufschlußreichsten, also das, was der infragestehende Autor gerade nicht rezipiert, nicht versteht oder nicht positiv verwerten kann.265

2.1.2 Das Problem der >Tradition<. Ich erhebe nun keinen Anspruch, Scholems philosophische und theologische Reflexionen vollkommen auszuschöpfen und gestehe auch freimütig, daß es eine Reihe von Äußerungen gibt, die ich schlicht nicht verstehe. Es ist nötig, hier eine Wahl zu treffen - ich folge der Grund-orientierung meiner Arbeit und wähle die Figur der »Tradition« als die »Öffnung«, von der ich mich den Texten nähern werde.

»Tradition« bedeutet hier zunächst das von Scholem mit großer Energie be-triebene Projekt der Aneignung des jüdischen Erbes. Man muß bedenken, daß Scholems Reflexion über eine »Theorie des Judentums« immer parallel mit der Beschäftigung mit der jüdischen Überlieferung unternommen wird. Im Rück-blick spricht Scholem nicht unironisch davon, sein entscheidendes jüdisches »Er-

Althusser, aber auch Henrichs brillante Überlegungen zur Argumentanalyse der kan-tischen und idealistischen Philosophie (Henrich, Identität und Objektivität, 9ff). Man muß unterscheiden zwischen Äußerungen, die in das Innere einer Problematik eingreifen, und solchen, die ganz außerhalb ihrer bleiben und lediglich zur Abwehr dienen. So werden wir etwa an Scholems Äußerungen zur Theologie auch sehr deut-lich die Grenze seines Verständnisses sehen: Das Neue der »dialogischen Theologie« Bubers und Rosenzweigs bekommt er deshalb nicht zu Gesicht, weil er es unter der Kategorie des Subjektivismus verbucht. Scholem hat hier tatsächlich nur eine »Mei-nung« im Sinne Bachelards, die vor der Problematik stehen bleibt. Ähnliches gilt für Hermeneutik und Marxismus.

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lebnis« sei die Lektüre des Talmud und der klassischen Kommentarliteratur ge-wesen, also die »traditionelle und direkte Begegnung nicht mit der Bibel, sondern mit der jüdischen Substanz in der Tradition« (VBJ, 53). Diese ^exegetische Er-fahrung< bleibt für Scholem bestimmend, und man kann daher m. E. seine theo-retischen Reflexionen immer auch als Niederschlag dieser Erfahrung lesen.266

Dieser »praktische« Aspekt der Tradition ist zugleich ein prinzipieller: Scho-lem denkt nicht nur über Tradition nach, sondern wil l auch »gemäß der Tradi-tion« denken. Daher ist aber auch Scholems gesamtes Denken durch die Frage der Aneignung determiniert: Wenn Scholem etwa vom Messianismus spricht, handelt es sich nicht einfach um eine persönliche Erfindung, sondern zumin-dest seiner Intention nach um den Sinn des jüdischen Messianismus, d. h. um den Messianismus wie er in der jüdischen Überlieferung gedacht wurde. Cha-rakteristischerweise sind die oben erwähnten »absoluten Begriffe« (»Zion«, »Thora«) der jüdischen Überlieferung selbst entnommen: Zu erklären ist das Ju-dentum für Scholem letztlich nur durch seine eigene Tradition.

Es unterscheidet ihn dabei vom Großteil seiner Zeitgenossen, daß er gegen-über den Aneignungsversuchen ausgesprochen skeptisch ist und alle Versuche, den historischen Abstand durch irgendeine Art von existentieller Entschlos-senheit zu »überspringen«, scharf kritisiert. Wie wir sehen werden, nimmt diese Skepsis im Laufe der Zeit zu; es scheint mir immerhin plausibel, daß dieser Zwei-fel, die Enttäuschung an der Möglichkeit einer erneuerten jüdischen Theologie, ein wesentliches Motiv für seine Zuwendung zur Historiographie der Kabbala ist. Wenn das richtig ist, gibt es auch keine geheime Theologie »hinter« seiner Hi-storiographie, sondern nur eine Erinnerung an jene, die sich in zweierlei Gestalt zeigt: Zum einen bleibt ein Problembewußtsein, das dieser Historiographie eine besondere Schärfe gibt, zum anderen gibt es aber auch eine untergründige Kon-tinuität in der Terminologie. Denn auch im historiographischen Werk tauchen die Begriffe von »Medium«, »Tradition«, »Kommentar« usw. wieder auf, wie wir sehen werden, betont gerade das von Scholem benutzte Paradigma der »Religi-onsgeschichte« die Bedeutung der Tradition.

Anders als die Philosophen des Judentums bis einschließlich Cohen und Buber be-ginnt Scholem seine theoretische Reflexion ja nicht erst in dem Moment, in dem er mit dem traditionellen Erbe schon vertraut ist - für ihn ist nicht das Judentum bereits gegeben und wird dann einer Reflexion unterzogen -, sondern der traditionelle Weg des Lernens und der moderne der Theorie entfalten sich gleichzeitig und beeinflus-sen sich gegenseitig. Scholem schreibt im Rückblick, die Erfahrung der Tradition sei etwas gewesen, »was sich, je älter ich wurde, desto nachdrücklicher den Begriffen versagte, weil es ein geheimes Leben freigab, das auf Begriffe zu bringen ich als un-vollziehbar erkennen mußte und das nur noch in Symbolen darstellbar erschien« (VBJ, 54).

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»Tradition« spielt aber noch in anderer Hinsicht eine wichtige Rolle in Scholems jugendlichen Aufzeichnungen: »Tradition« kann zum Fokus seiner Reflexionen werden, weil der Ausdruck in seiner Vieldeutigkeit reiche semantischen Potentiale hat. Nicht nur kann »Tradition« sowohl aktiv den Prozeß der traditio als auch pas-siv das traditum meinen, sondern der Begriff kann auch in ganz verschiedene Kontexte eintreten. »Tradition« kann kulturwissenschaftlich das tradierte Wissen der Gesellschaft meinen (im Gegensatz zur Erfindung), sie kann hermeneutisch die Wirkungsgeschichte des Erbes bezeichnen (im Gegensatz zum Bruch), histo-risch kann sie die mündliche Überlieferung im Gegensatz zu schriftlichen Quel-len meinen, philosophisch steht sie als Vorurteil gegen die Autonomie der Vernunft, theologisch kann sie im Gegensatz zur Vernunft, aber auch zur Offen-barung stehen.267 »Tradition« konnotiert sowohl Vorzeitigkeit des Überkomme-nen als auch die Gleichzeitigkeit des dauerhaft Gültigen. In den Traditionsbegriff ist die Semantik der verpflichtenden Gabe eingeschrieben, sie kann damit auch Schuldverhältnisse der »Erben« gegenüber ihren Vorgängern vorstellen. »Tradition« kann sowohl juridisch als (vertraglich geregelte) Übertragung von Eigentum ge-dacht werden, als auch als biologisch-genealogisches Verhältnis der Fortpflanzung.

Um Scholems Überlegungen zur Tradition zu verstehen, muß man all diese Kontexte im Blick behalten und »Tradition« nicht auf einen neutralen kulturwis-senschaftlicher Begriff, auf einen Ausdruck für den hermeneutischen Prozeß der Wirkungsgeschichte oder auf eine Theorie des medialen Gedächtnisses reduzie-ren. Wie wir sehen werden, verwendet Scholem den Begriff »Tradition« oft und in zentraler Funktion, ohne ihn eigentlich zu definieren; gerade jene Konnotationen konstituieren einen reichen Begriff der Tradition mit einer starken Rhetorik, die Scholems praktisches Projekt der Aneignung begleitet. Ohne diese Rhetorik zu analysieren, kann man weder dieses Projekt, noch Scholems Schreiben verstehen.

2.1.3 Exkurs: Die jüdische Tradition. Man würde sich offensichtlich in einem Zirkel bewegen, wenn man Scholems Traditionsbegriff aus jenem Judentum ab-leitet, das Scholem im großen Aufsatz über Offenbarung und Tradition be-

Zur Begriffsgeschichte vgl. Wiesberger, »Tradition, Traditionalität«. Vgl. auch die kri-tische Differenzierung bei Ricoeur, Zeit und Erzählung Bd. III , 355-37; zusammen-gefaßt: »1) die Traditionalität bezeichnet einen formalen Zusammenhangsstil, der die Kontinuität der Rezeption der Vergangenheit sichert; das heißt, sie bezeichnet die Reziprozität zwischen der Wirkungsgeschichte und unserem Affiziertwerden durch die Vergangenheit; 2) die Traditionen bestehen aus sinnüberliefernden Inhalten; sie transportieren das gesamte überkommene Erbe in die Ordnung des Symbolischen und damit dem Wesen nach in eine sprachliche und textuelle Dimension; das heißt, die Traditionen sind sinnvolle Aussagen; 3) Die Tradition als Legitimationsinstanz bezeichnet den Wahrheitsanspruch [...], der im öffentlichen Raum der Diskussion ar-gumentativ verhandelt werden kann.« (Ebd., 367)

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EINLEITUNG: SCHOLEMS ESOTERISCHE TEXTE 155

schreibt. Es kann hier nicht darum gehen, die sachliche Richtigkeit von Scho-lems Theorie der Tradition zu beurteilen, doch es ist wichtig, sich ihre Un-selbstverständlichkeit klar zu machen, sich etwa klar zu machen, daß die Rede von der »mündlichen« und der »schriftlichen« Tradition nicht einfach deskriptiv zu verstehen ist bzw. daß Begriffe wie »Kommentar«, »Kanon«, »Interpretation« etc. in bezug auf das rabbinische und kabbalistische Schrifttum metasprachli-che Ausdrücke sind, die man mit Vorsicht verwenden sollte. Die folgenden Be-merkungen sollen daher auch nicht eine Theorie der jüdischen Überlieferung darstellen, sondern auf Probleme hinweisen, die für die spätere Interpretation von Scholems Äußerungen von besonderer Bedeutung sein werden.268

In der rabbinischen Literatur stehen eine Reihe von Ausdrücken für die Überlieferung: Massar und qabal sind Ausdrücke des Gebens bzw. Nehmens, von ihnen sind die Massorah, die Pflege des biblischen Textes, und die Kabbala abgeleitet.269 Es ist dabei auffällig, daß den deutschen und lateinischen Begrif-fen des Gebens (überliefern, tradieren) hier auch ein Begriff des Empfangens gegenübersteht, dem allenfalls das vieldeutige »Erbe« entspricht. Das Studium der Überlieferung wird auch als schna, wiederholen, bezeichnet (von daher leitet sich Mischna her), die religionsgesetzliche Überlieferung wie das Überlieferte wird auch als halacha (von halak, Weg) bezeichnet. Auch hier findet sich also ein breites semantisches Feld von Traditionstermini mit keinesfalls fixierter Be-deutung. Spezifisch für das Judentum ist der Ausdruck der »mündlichen Thora«, er drückt die Vorstellung, daß parallel zur schriftlichen Thora - den fünf mo-saischen Büchern - eine mündliche Überlieferung an Moses übergeben wurde; die mündliche Thora manifestiert sich vor allem im großen Korpus der rabbi-nischen Literatur, also im wesentlichen in Mischnah, Talmud und Midrasch.

Ich kann hier nur verweisen auf eine reiche, sehr differenzierte und keineswegs zu definitiven Ergebnissen gekommene Debatte über Midrasch und Literatur, aber auch auf eine neue religionsgeschichtlich orientierte Forschung über das Judentum. Vgl. zur Übersicht die Rezensionen von Fraade, »Interpreting Midrash 1 & 2«; die Be-merkungen bei Stern, Midrash and Theory, 1-13; den Überblick bei Grohmann, Aneignung der Schrift, 107-125. - Diese Debatten sind in Deutschland noch kaum rezipiert, wo man nicht zuletzt unter dem Einfluß Scholems immer noch einen un-differenzierten und hermeneutischen Konzept anhängt, für den die Tradition eine (besonders freie) Art der Bibelinterpretation ist. Dabei ist massorah bzw. massoret der gebräuchlichere Terminus, qabala steht in re-lativem Gegensatz zu thorah und bezeichnet im rabbinischen Hebräisch die Über-lieferung außerhalb der Thora, also insbes. die Propheten und Hagiographen. Wie »tradieren« / »überliefern« haben auch die hebräischen Ausdrücke die juridische Kon-notation von ausliefern bzw. (bei qabala) eine Verpflichtung übernehmen. Vgl. zur Terminologie Bacher, Tradition und Tradenten y -24, dort auch weitere Ausdrücke amar (sagen) schma (hören), heijd (bezeugen).

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156 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Auch wenn sich die rabbinische Literatur ständig auf die Bibel bezieht, stellt

sie nicht einfach deren For tsetzung dar, sondern ist durchaus eigenständig.270

Sie besteht keineswegs nur aus »Kommentaren«, und auch der rabbinische

»Kommentar« ist nicht vol lkommen abhängig von der Bibel, selbst wenn er sie

ständig zitiert: In der Regel entwickeln rabbinische Kommentare eines be-

stimmten Bibelabschnittes ein ganz eigenes Thema in einer ganz eigenen Logik.

I n den Worten Jacob Neusners schreiben die Rabbiner nicht über die Bibel,

sondern sie schreiben mit ihr neue Texte mit eigener Logik.271 Darauf wird

zurückzukommen sein.

Di e traditio ist aber zugleich auch traditum: »Tradition« ist nicht nur der Pro-

zeß der Weitergabe, sondern auch die Gesamtheit des Gegebenem. Die Tradi-

t ion insgesamt ist gültig: Die Diskussionen der Rabbiner sind fast ausnahmslos

Diskussionen innerhalb der Überl ieferung, welche diese Gült igkeit nur be-

kräftigen. Besonders die religiöse Praxis spielt dabei eine entscheidende Rolle:

Das Religionsgesetz gilt, es steht nicht zur Diskussion, sondern seine Einhal-

tung ist gerade Voraussetzung für alle Diskussionen. Die Tradit ion ist selbst

diese Regelung der Lebensführung; hier lebt der Jude nicht nur in der Tradition,

sondern auch nach der Tradition.272

Vor allem Neusner und Green kritisieren scharf das (protestantische) Modell des Ju-dentums als Buchreligion, damit auch die, vielen hermeneutischen Interpretationen zugrundeliegende, Auffassung der rabbinischen Literatur als »Kommentar«: »The book religion model fails, because it works too well. It makes the ancient rabbis so familiär and so tractable, and takes us back to the beginning so fast, that we meet no one new on the way. The model's seif evidence, which is its power, blocks our per-ception of the particularities of rabbinic culture and thereby diminishes the likelihood of analytically useful comparison.« (Green, »Romancing the tome«, 151 f) - Neusner entwickelt eine Art Zweiquellentheorie: Die Mischnah ist gegenüber der Bibel ei-genständig und erhebt von sich aus einen Autoritätsanspruch, sie stellt die folgenden Werke vor das Problem der Beziehung von Mischnah und Bibel, welche die Werke jeweils verschieden lösen. Vgl. dazu etwa Neusner, Midrash in Context, 1-20. Vgl. dazu Neusner/Green, Writing with Scripture, 7-22, auch 176ff. Man kann diese Schreibweise als intertextuell bezeichnen, wichtig ist dann allerdings, die markierte Intertextualität der rabbinischen Literatur zu unterscheiden von der unmarkierten der innerbiblischen Exegese, welche ihre Aussagen unmerklich in den älteren Text einbaut, vgl. dazu Neusner, Introduction to Rabbinic Literature, 17ff; ders., Wrong Ways, 31-58. Für Boyarin kann eine differenzierte Bestimmung der Intertextualität im Midrasch als Mischform zwischen poetischer Anspielung und kritischem Zitat das Dilemma von Exegese und Eisege vermeiden, vgl. Boyarin, Intertextuality and the Reading of Midrash, bes. 22ff.

Die meisten talmudischen Diskussionen erzeugen keinen Dissens, sondern dienen zur Harmonisierung von Widersprüchen zwischen verschiedenen Autoritäten, vgl. dazu Neusner, Introduction to Rabbinic Literature, 83ff; Stern, Midrash and Theory, bes. 20ff. All e Diskussionen setzten eine gemeinsame Referenzsphäre voraus, die

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EINLEITUNG: SCHOLEMS ESOTERISCHE TEXTE 157

Diese Regelung hat allerdings nicht die Form eines Rechtssystems, sondern

überliefert sich als Fülle von Einzelentscheidungen und kasuistischen Diskus-

sionen, welche den Großteil der Überl ieferung bilden. Zitiert werden nämlich

nicht nur die Schrift, sondern auch die anderen Rabbiner, die typische Äuße-

rung hat die Form: »Rabbi x sagt, daß Rabbi y sagt, daß die Schrift sagt, daß ......

Di e rabbinische Tradition aktualisiert sich also immer wieder selbst. Dabei wer-

den diese Zitate nicht nur gesammelt, sondern in kunstvol ler Argumentat ion

miteinander verkettet bzw. einander gegenübergestellt. Die Dialogizität der rab-

binischen Literatur ist - gleichgültig ob die rabbinischen Dikta ursprüngl ich

mündl ich überliefert wurden - eine Fikt ion der dialektischen Argumentat ion,

die ihre Aussagen durch Verkettung und Gegenüberstel lung, durch Vertextung

von zitierten Sprechakten macht.273 Über Umstände und Intention dieser Kom-

posit ionsarbeit läßt sich allerdings nur schwer etwas sagen, denn die Autoren

der großen Kommentarwerke haben ihre Spuren gut verwischt: Sie äußern sich

nie, sie etablieren keine Metasprache, sondern sprechen in der Sprache ihrer

Quel len - auch das unterscheidet sie vom Kommentar im üblichen Sinne. Die

Vielheit der (zitierten) Stimmen geben dem eine Stimme, das hier nie spricht.274

»Die Tradition« ist der Raum aller dieser Äußerungen und Regelungen, ein

Korpus eigener Art , eine best immte Konsistenz der Wahrheit, die n i rgendwo

und zugleich überall ist.275 Sie hat Autorität, und sie autorisiert nicht nur ihre

außerhalb und vor der Interpretation steht, vgl. dazu Green, »Romancing the tome«, 164f. So erscheint auch die Thora weniger als ein Text als eine gesetzlich fixierte Ver-fassung, vgl. dazu Halbertal, People of the Book, 3ff, 11 ff. Vgl. hierzu besonders die Arbeiten von Goldberg. Im Rahmen der größeren Kom-position fungiere das Zitat einer rabbinischen Meinung »nicht mehr der Speicherung einer Lokution oder eines Sprechaktes [...], sondern ist Teil eines anderen, neuen Sprech- oder Schreibaktes, den der Urheber des Kommunikates [d. h. der gesamten Komposition] vollzieht. Dieser Urheber, namentlich nie genannt und in den Texten ohne jedes Ich, kompiliert nicht, er vertextet vielmehr die VS [d. h. die verschrifteten Sprechakte] - das Bild der Kollage wäre nicht unpassend - zu literarischen Einhei-ten, zu Kommunikaten.« (Goldberg, »Der verschriftete Sprechakt«, 128) Vgl. auch ders., »Entwurf einer formanalytischen Methode«, 51ff. Nach Stern liegt die Litera-tizität des Midrasch »not at the point where literature becomes exegesis but where exegesis turns into literature and comes to possess its own language and voice« (Stern, Midrash and Theory, 39

Über die Schwierigkeiten, die sich aus der Abwesenheit jeglicher Informationen über die historischen Umstände der Kanonisierung und generell aus dem Zustand der Texte der rabbinischen Überlieferung ergeben vgl. Neusner, Introduction to Rabbinic Literature, XXIIIff . Nach Goldberg ist die Zerstörung des eigenen Kon-texts wesentlich für die Kanonisierbarkeit der rabbinischen Überlieferung, vgl. ders., »Die Zerstörung von Kontext«, 200ff. »Midrashic commentary is both less and more than a »secular« interpretation. It is less than a secular interpretation because it is strictly bound by the authority of the text in

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Regelungen, sondern auch sich selbst. Schon die Rede von der »doppelten Thora« impliziert die Behauptung, daß die beiden Teile des rabbinischen Ka-nons eine Einheit bilden. Die »Mündlichkeit« der Thora besagt dabei notwen-dig, daß außer der Thora keine andere Schrift kanonisches Ansehen haben könne; indirekt ist damit auch gesagt, daß nur das in der richtigen Traditions-kette (»von Mund zu Mund«) Weitergegebene Anspruch auf Autorität hat. Jede Äußerung innerhalb der Tradition nimmt an der Autorität der Tradition teil; die mündliche Thora ist wie die schriftliche ein Moment der Offenbarung.

»Tradition« in diesem Sinne, als Instanz der Autorität, ist auch »anrufbar«, man kann sich auf sie berufen, man kann sie fordern, beanspruchen, in ihrem Namen zu sprechen oder ihre Krise voraussagen - und das ist möglich, auch wenn man nicht mehr alle ihre Voraussetzungen teilt. Es gibt also eine Rhetorik, die sich um den vieldeutigen Namen >Tradition< rankt. Wie wir schon bei Bialik gesehen haben, spielt diese Rhetorik eine wichtige Rolle in der jüdischen Geschichte der Moderne - vielleicht ist »Tradition« hier sogar die zentrale Figur, in der sich das moderne Judentum mit dem modernen Begriff der Geschichte und der Vernunft auseinandersetzt.276

2.1.4 Rhetorik von Tradition und Schrift. Auch Scholems Theorie der Tradition ist zugleich eine Rhetorik der Tradition. Als schlichte Beschreibung der Tradi-tion ist sie durchaus fragwürdig: Nicht nur vernachlässigt Scholem das prakti-sche Moment der Überlieferung, also das Religionsgesetz, auch seine Rede vom »Kommentar« charakterisiert die rabbinische Literatur nur bedingt. In beiden Momenten teilt Scholem die Textzentriertheit der frühen Erforschung der rab-binischen Literatur. Umso stärker ermöglicht die Rede vom »Kommentar« es Scholem, sich selbst in die Tradition einzuschreiben, also einen Ort zu finden, von dem aus die Aneignung denkbar ist. Dabei ist seine Theorie der Tradition keine bloße Projektion eigener Spekulationen in ein fremdes Korpus: Scholem

ways that a secular commentator can accept only at the price of immense obstacles to the very activity of interpretation. But it is more than a secular interpretation in that it is meant to yield knowledge and hence to lead the reader or listener to truth.« (Biderman, Scripture and Knowledge, 146) Biderman kritisiert die hermeneutische Interpretation der exegetischen Literatur und zeigt, daß hinter den oft zitierten Ge-schichten über talmudische Disputationen bitterer Ernst steckt: Die Geschichte von Moses und Rabbi Akiba (vgl. Gb, 91f) endet immerhin mit dem Tod des letzteren, die von Rabbi Elizer (Gb, 103f) mit dessen Exkommunikation, vgl. Biderman, a.a.O., 135ff. Vgl. dazu Rotenstreich, Tradition and Reality. Ähnlich argumentiert schon Wiener, Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzipation, in dessen Darstellung der jüdischen Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts immer der Konflikt zwischen jüdisch-tra-ditionalem und modern-kritischem Geschichtsbild der rote Faden bildet.

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bleibt verschuldet gegenüber »der Tradition«, die immer mehr ist, als er erreicht. Wie wir sehen werden, ist Scholem mit seiner Theorie niemals zufrieden, er-gänzt sie immer und betont auch immer mehr die Differenz von seinem Schrei-ben gegenüber »der Tradition«. »Tradition« gewinnt bei Scholem ihr Gewicht gerade durch ihre Zweideutigkeit, durch ihr Schwanken zwischen der Selbst-beschreibung der Tradenten und einer Beschreibung von außen, zwischen Re-präsentation der historischen Tradition und Performation der eigenen Position.

Entscheidend ist dabei, daß »Tradition« für Scholem auch zum Modell für das eigene Schreiben wird: Scholem entwirft mit den semantischen Potentialen und Unterscheidungen der Tradition (schriftlich - mündlich, zeitlos - zeitlich, Kanon - Kommentar) eine Poetik seines theoretischen Schreibens. Das eigene Schreiben ist nicht nur Schreiben über »Tradition« und »gemäß der Tradition«, sondern auch Schreiben als Tradition, es übernimmt auch die Form des Kom-mentars, des Zitats, des indirekten Diskurses. »Geschriebene Tradition«, schreibt Scholem im Sommer 1918, »ist die Paradoxie, in der die jüdische Lite-ratur sich essentiell entfaltet.« (T II , 302) Das ist nicht nur eine Aussage über die Tradition, sondern auch über sein eigenes Schreiben am Rand der Tradition, das zugleich ganz traditionell und ganz eigenständig sein will . In diesem Rah-men entwickelt Scholem die zentralen Kategorien seiner Sprachtheorie. In die-ser spielt der Begriff des Symbols keineswegs die zentrale Rolle, die man er-warten sollte; wie wir sehen werden, beschäftigt sich Scholem im gleichen Maße mit »Schrift«, »Text«, »Ironie«, »Kommentar« u. ä., also mit Kategorien, die nicht in eine Theorie der Bedeutung oder des Zeichens gehören, sondern in solche des Textes oder der Interdiskursivität.

Auch »Schrift« ist bei Scholem nicht nur ein simpler zeichen- oder medien-theoretischer Begriff, sondern ein ebenso rhetorischer. Denn der fundamentalen Äquivokation im Begriff der »Tradition« steht eine nicht weniger fundamentale Äquivokation im Begriff der »Schrift« gegenüber: die ja nicht nur die hebrä-ischen Schriftzeichen, sondern auch die »heilige Schrift« bezeichnet. Diese Schrift ist für die Rabbiner nicht einfach auszulegender Text: Auf der einen Seite ist sie ein Ding, die Schriftrolle, die Gegenstand höchster Verehrung ist.277 Auf der an-

Dabei ersetzt die Schriftrolle als zentraler kultischer Gegenstand den verlorenen Tempel, vgl. Neusner/Green, Writing with Scripture, 13ff; diese Heiligkeit des »Tex-tes« läßt sich offensichtlich nicht in hermeneutischen Termini oder als Kanon formu-lieren, sie entspricht der Fähigkeit der Texte, rituell zu verunreinigen, vgl. dazu Stern, »Sacred Text and Canon«. Zu einer allgemeinen Kriti k des Konzepts des »Heiligen Textes« vgl. Biderman (anschließend an Smith), für den sowohl der hermeneutische als auch der soziologisch-funktionalistische Ansatz unbefriedigend sind, weil sie den Autoritäts- und Wahrheitsanspruch nicht denken können, vgl. Biderman, Scripture and Knowledge, bes. 77-80, 102-105.

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160 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

deren Seite verwandelt sich die »Schrift« im Umgang der Rabbiner mit ihr. Eine

der auffälligsten Eigenheiten der rabbinischen Exegese ist es, daß sie sich ganz

auf den Vers konzentr ier t: Ziel der Exegese ist es weniger, einen Vers im Zu-

sammenhang einer Erzählung zu verstehen, sondern seine inneren Probleme

und Widersprüche aufzulösen. Daher können die Rabbiner Verse aus ganz ver-

schiedenen Teilen der Bibel miteinander in Verbindung setzen, ohne den jewei-

ligen Kontext der zit ierten Verse zu berücksicht igen.2 78 In diesem Verfahren

ändert die »Schrift« ihren Charakter: Der dekontextualisierte Text ist nicht mehr

göttl icher Sprechakt, sondern Substrat für neue Äußerungen, er ist nicht mehr

parole, sondern gleichsam langue für eine neue parole des rabbinischen Dis-

kurses. Al lerdings besteht diese Parole nicht aus einfachen Zeichen, sondern

einzelnen Versen, die durchaus noch Züge einer parole oder eines Textes haben:

Sie sind autonom und haben eine Bedeutung.2 79

Di e »Schrift« im Übergangsstadium ist hier eine Sprache von Zitaten. Lingui-

stisch betrachtet ist das Zitat zugleich Text im zit ierenden Text und (indexali-

sches) Zeichen eines anderen Textes.280 Zitieren scheint etwas nur noch einmal

Vgl. exemplarisch Kugel, »Two Introductions of Midrash«, 77ff. - Tatsächlich ist diese Lektüre zusammenzudenken mit der Kanonisierung, die dem Text seine normalen Funktionen entzieht und ihn selbstreferentiell macht, vgl. dazu Halbertal, People of the Book, 15ff. - »Die Schrift wird auf diese Weise kontextlos. [...] Die Schrift ist im Verstände der Rabbinen eben nicht ein Schriftwerk, das Gott zu einer bestimmten Zeit für bestimmte Menschen verfaßt hat, sondern ein Werk, das ohne kontextliche Beschränkung als solches da ist und gültig ist [...]. Da die Zeichen kontextunabhän-gig sind, wird die Deutung intertextuell: Die Schrift wird aus der Schrift gedeutet, nicht aus der Welt.« (Goldberg, »Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger«, 232) Zu diesem Übergang von biblischer parole (in hebräischer langue) zu biblischer lan-gue (für midrachische parole) vgl. Fishbane, The Exegetical Imagination, 9ff. Boya-rin wählt das Modell des Sprichwortes, das einen »ambigous Status« habe: »It belongs to langue in its aspect as a unit in a paradigm of proverbial units in the culture; how-ever, it also belongs to an already existing parole in that it is quoted from a precious discourse. [...] The tension between the parole-hke nature of the verse as an dement in an existing discourse and the langue-hke nature of its possibility of being selected and combined into new discourse provides much of the fascination and power of midrash.« (Boyarin, Intertextuality, 29) Vgl. Boyarins Analyse der Zitation gegen den Strich ebd., 34ff. Aufgrund dieses Zwischenstatus ist es wenig plausibel, die Funktion der Bibel als bloße »Kommunikatbasis«, d. h. bloß als Set rekombinierbarer graphi-scher Zeichen zu betrachten (so Goldberg, »Die Schrift der rabbinischen Schriftaus-leger«, 239ff), jedenfalls wenn man darunter die Buchstaben verstehen wollte. Compagnon untersucht die Arbeit des Zitierens historisch und systematisch. Sie erscheint einerseits als elementare Textpraxis vor der Bedeutung, als bricolage, an-dererseits gerade in ihrer Ambiguität als Schlüssel zu einer Texttheorie: »Quant au texte, le sens et le phenomene sont inseparables; et la citation tient un pole strategi-que, un carrefour ou un point de tangence entre les deux: eile est le lieu meme oü il

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EINLEITUNG: SCHOLEMS ESOTERISCHE TEXTE 161

zu sagen - und fügt doch etwas hinzu, es entfaltet eine Spannung zwischen zitiertem Text und zitierendem Text: Im Zitat erscheint eine innere Zweispra-chigkeit, seine Zeichen werden doppelt kodiert und damit ambig. Im zitieren-den Text erscheint ein Jenseits des Textes, mit dem Zitieren wird nicht nur ein Satz wiederholt, sondern eine Äußerung und ein Äußernder »zitiert«: angerufen als Instanz der Legitimation.281 Gerade weil das Zitieren zwischen Gebrauchen und Erwähnen schwankt, manifestiert sich in ihm eine Dimension der Sprache, in der Sinn und Phänomen, Bedeuten und Erscheinen zusammenhängen: Wenn die Rabbinen die Schrift zitieren, ist diese nicht nur ein Vorrat an Zeichen, ein System der Bedeutung, sondern in ihr erscheint Gott selbst.282

Diese >Sondersprache< zwischen Text und Zeichen scheint das Paradigma der »Schrift« zu sein, um die Scholems Denken und Schreiben kreist. Daß »Schrift« immer auch mehr ist als das Medium, in dem sich die Tradition selbst um-schreibt, wird sich bei ihm in der immer mitschwingenden Betonung einer »Of-fenbarung« als Mitteilung (also im Sinne der Parole) ausdrücken, die gegen die mystische Verabsolutierung der Tradition gesetzt wird. Zitieren, die Praxis, die Lesen und Schreiben miteinander verbindet, ist auch für Scholems Schreiben charakteristisch.283 Zitierend nähert er sich der Tradition an, als Zitat erscheint der kabbalistische Diskurs in seinen historiographischen Schriften, die zitie-rend-musivische Literatur Agnons ist für ihn paradigmatisch. Aber das Zitat organisiert sein Schreiben noch auf einer tieferen Ebene: Wir haben im letzten Teil schon gesehen, daß das Selbstzitat bei Scholem eine entscheidende Rolle spielt; sein theoretisches Schreiben wird diesen Eindruck mehr als bestätigen. Immer wieder schreibt Scholem seine eigenen Texte um, immer wieder über-nimmt er Formulierungen in andere Kontexte. Begriffe, Thesen, Aphorismen »wandern« durch die verschiedenen Schichten und Problematiken von Scholems Werk; dabei nutzt Scholem die Indetermination, die Zitaten eigen ist, um neue Sinneffekte zu erzeugen, er löscht Kontexte und überschreibt alte Texte, um weiterschreiben zu können. Man wird nicht fehlgehen, wenn man hier - sich

est impossible d'ignorer l'etroite correlation du sens et du phenomene, sans toutefois qu'ils s'y confondent. Ils sont inseparables, mais aussi irreductibles.« (Compagnon, La Seconde Main, 43) Zitieren ist nicht das bloße Wiederholen eines Textes in einem anderen Text, sondern ein Verhältnis zwischen zwei Signifikationssystemen, die jeweils aus Text und Äußerndem (»Autor«) bestehen; vgl. Compagnon, La Seconde Main, 55ff, 76ff. Zi-tiert werden nicht nur Texte, sondern auch Personen; »zitieren« hat auch die juridi-sche Konnotation, jemanden vor Gericht zu zitieren. Vgl. dazu Fishbane, The Garments of Torah, bes., 44ff. Vgl.: »La citation repete, eile fait retenir la lecture dans Pecriture: c'est en verite lec-ture et ecriture ne sont qu'une meme chose, la pratique du papier.« (Compagnon, La Seconde Main, 27)

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162 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

des im letzten Kapitel Gesagten erinnernd - auch eine Einübung einer Privat-sprache sieht.

Eingesprengt finden sich solche Formulierungen auch in späteren Texten und in der Geschichtsschreibung. Damit zeigt sich eine Kontinuität zwischen Früh-und Spätwerk, die weder darin besteht daß der Historiker Scholem nur (heim-lich) die Intentionen des Metaphysikers durchführt, noch daß jener mit diesem vollkommen bricht. Nicht nur tendiert Scholems Beschäftigung mit »Tradition« schon von Anfang an zu einer historischen Perspektive, die beiden Phasen sei-nes Werkes sind auch dadurch verbunden, daß der spätere »wissenschaftliche« Scholem gerne einmal seine metaphysischen Aufzeichnungen »zitiert«. Scholem wahrt dabei durchaus ironische Instanz, erreicht aber gerade damit einen rhe-torischen Effekt: Wir werden insbesondere an Scholems Unhistorischen Sätzen sehen, wie Scholem »Tradition« dazu nutzt, seinen Äußerungen eine bewußt »ka-nonische« Form zu geben (s. u. Kap. 2.9.3).

Da Scholem sich nach den zwanziger Jahren sehr viel häufiger explizit zu theologischen als zu philosophischen Fragen äußert, ist es pragmatisch, diesen Teil noch einmal zu untergliedern: Zunächst werde ich mich eher auf die philosophischen Fragen konzentrieren, dabei stehen die frühen Texte im Vor-dergrund, an denen vor allem die Entstehung von Scholems Konzept der »Tra-dition« dargestellt werden soll. In der zweiten Hälfte dieses Teils wird dann das theologische Problem der Tradition diskutiert, d. h. es wird an einigen Texten Scholems vor allem aus den dreißiger Jahren gezeigt, wie Scholem später mit den in seinem Traditionsbegriff inhärenten Spannungen umgeht. Die Trennung der Themen ist natürlich nicht so scharf zu ziehen, schien mir aber der Präzi-sion und Übersicht halber nötig. Der ersten Hälfte dieses Teils stelle ich ein Ka-pitel über Scholems Verhältnis zur philosophischen Problematik voraus, das mehr vorbereitenden Charakter hat, in der zweiten Hälfte geschieht Entspre-chendes für die Theologie, da ich hier geringere Vertrautheit vermute, bin ich etwas ausführlicher geworden.

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PHILOSOPHIE 163

TEIL A: PHILOSOPHIE

Biographisch kann Scholems Beschäftigung mit der Philosophie als Fortsetzung und Vertiefung seiner Suche nach einer jüdischen Identität verstanden werden, »philosophisch« wird diese Suche in dem Moment, wo Scholem es innerhalb der gegebenen philosophischen Situation ausdrücken wil l und sich auch der als »phi-losophisch« geltenden Sprache (»Erfahrung«, »Idee«, »Wahrheit« etc.) bedient. Er orientiert sich dabei durchaus an der akademischen Philosophie, wie für diese sind Piaton und Kant die grundlegenden Texte, während neuere »lebensphiloso-phische« Autoren wie etwa Bergson, Nietzsche oder Simmel kaum Erwähnung finden.284 Natürlich ist Scholems Nachdenken wie das fast aller seiner Zeitge-nossen geprägt auch durch diese neueren Autoren. Aber sein Verständnis von Philosophie und damit sein Projekt, das eigene Selbstverständnis philosophisch zu artikulieren, orientiert sich an der akademischen Philosophie und ist daher auch in deren Kontext zu untersuchen.

Wie erst jüngst wieder hervorgehoben, spielt das Denken Hermann Cohens für den jungen Scholem eine wichtigere Rolle als er ihm später eingeräumt hat.285 Cohen und, vermittelt durch ihn, Kant sind für den jungen Scholem zweifellos die Repräsentanten der Philosophie - das ist wenig verwunderlich, insofern der Neukantianismus um die Jahrhundertwende relativ unangefoch-ten das Feld der deutschen akademischen Philosophie beherrscht. Die Aus-einandersetzung mit Kant und Cohen bleibt auch nicht nur eine biographische Episode: Auch nach Scholems Abwendung vom akademisch-philosophischen Diskurs bleibt die Kantische Auffassung von Philosophie als autonomer Vernunfterkenntnis prägend für die Skepsis des älteren Scholem gegenüber der Philosophie überhaupt; außerdem bleibt Cohens Vorstellung eines >Er-fahrungskontinuums« und die dazugehörige Terminologie bei Scholem immer präsent. Alles Philosophieren ist auch Übernahme einer philosophischen Spra-che; die neukantianisch gebrochene Terminologie Kants ist für Scholem die Sprache der Philosophie.

Ende 1917 schreibt er an H. Heyman, dieser solle als Einleitung in die Philosophie Piatons Theaitetos und Kants Prolegomena lesen (Br 1,131), ferner spielen auch Hus-serl und natürlich Cohen eine wichtige Rolle, vgl. VBJ, 71 f, 111. Vgl. Smith, »Annonce auf ein Lebenswerk«, 279f. Biale sieht Ähnlichkeiten in der Geschichtsphilosophie (Biale, Gershom Scholem, 88) und in der Auffassung des Mes-sianismus (109) und weist auf eine mögliche Bedeutung des Cohenschen Ursprungs-prinzips für Scholem hin (143ff); allerdings ist die Auseinandersetzung vor allem durch Biales Entgegensetzung von Rationalismus und Irrationalismus geprägt. All -gemein vgl. v. a. Scholems Briefe zum Tode Cohens (Br I, 150ff)-

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164 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Wir werden zunächst anhand des Verhältnisses von Scholem zu Cohen und Kant das hier vorausgesetzte Konzept von Philosophie (die »Problematik« in obigem Sinne) erörtern, da dies der notwendige Horizont ist für das Verständ-nis der philosophischen Einzelprobleme (2.2). Allerdings gibt es bereits vor der Beschäftigung mit Kant philosophische Reflexionen Scholems, auf diese sozu-sagen »vorkritischen« Überlegungen zur »mathematischen Theorie der Wahrheit« werden wir im nächsten Kapitel zurückkommen (2.3.1), wie sich zeigen wird, setzt sich auch dort im Laufe der Zeit der kritische Impuls und die Cohensche Terminologie immer stärker durch. Wir werden dann auch darstellen, wie sich Scholems Überlegungen außerhalb der systematischen Philosophie weiternent-wickeln und vor allem seine Reflexionen über den jüdischen Begriff von Wahr-heit im Gefolge der Auseinandersetzung mit Molitor und der Beschäftigung mit dem Klagelied thematisieren (2.3). Diese Reflexionen führt Scholem weiter, indem er sich zunehmend der Terminologie der Frühromantik bedient (2.4). Schließlich soll das an einem der zentralen esoterischen Texte noch einmal ent-faltet werden und zugleich der Übergang zum theologischen Problem der Tra-dition angezeigt werden (2.5).

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PHILOSOPHISCHER HORIZONT: KANT UND COHEN 165

2.2 Philosophischer Horizont: Kant und Cohen

Scholems Überlegungen zur systematischen Philosophie beginnen mit einem Zweifel an der platonischen Auffassung der Mathematik, die ihn seit Ende 1916 beschäftigt: »Die mathematische Theorie der Wahrheit kann nicht leisten, was ich zuerst dachte: eine Metaphysik«, schreibt Scholem im Juni 1917: »Nur voll-kommene metaphysische Sicherheit könnte die Durchführung unserer Theorie verbürgen, soll sie nicht am entscheidenden Punkte, der Frage nach dem Wesen der Zuordnung der Wahrheit zu den mathematischen Gebilden und zum Sein, zur Symbolik werden, die in einer tieferen Sphäre zu überwinden [...] sie ja strebt.« (T II , 26)

Diese metaphysilt/eririsc/je Überlegung - reine Metaphysik droht, im pejorati-ven Sinne »symbolisch« zu werden, wenn sie nicht kritisch reflektiert wird - spie-gelt sich ein Vierteljahr später in einem »bedeutende[n] Erlebnis in den reinen Höhen der Idee« wider, das die Lektüre von Kants Prolegomena für Scholem dar-stellt. Er sieht sich vom »riesigen Fragezeichen« herausgefordert, mit dem Kant die Möglichkeit der Metaphysik versieht, »von der ich doch weiß, daß sie mög-lich ist und erst Philosophie bedeutet«. »Kommt einer und sagt einem: Ja, ganz schön mit deinen metaphysischen Ansichten, aber ich muß leider ablehnen, sie zu prüfen«, weil »die fundamentalen Kategorien, deren [sie!] Du Dich in der Meta-physik wie in der gewöhnlichen Sphäre bedienst, hier gar nicht erklärt sind, son-dern nur darin ihren Sinn haben, daß sie eben Erfahrung ermöglichen« (TII , 43f).

Interessanterweise entspricht dieses »Erlebnis« nicht dem üblichen Schock, den die Lektüre Kants in so vielen philosophischen Adoleszenten dargestellt hat. An-ders als etwa bei Kleist wird nicht die Objektivität der Gegenstandserfahrung in Frage gestellt - diese einfache Skepsis hinsichtlich der Sinnenwelt hatte bei Scho-lem bereits die Mauthner-Lektüre ausgelöst, sie spielt zu dieser Zeit schon kaum mehr eine Rolle. Kants Philosophie weist Scholem auf ein anderes, eher metho-disches Problem hin: Jede Metaphysik, auch die skeptische, verwickelt sich nach Kant in den »transzendentalen Schein«, wenn sie ihre Begriffe in Bereichen ver-wendet, die nicht mehr auf mögliche Erfahrung beziehbar sind. »Metaphysische« Sätze drohen daher einfach gegenstandslos (bzw. antinomisch) zu sein - damit stellt sich, wie schon Kant selbst bemerkt hatte, in ganz neuer Weise die Frage nach der Möglichkeit, dem Stellenwert und dem systematischen Aufbau der Phi-losophie. Gerade diese Frage nach einer neuen, nachkritischen Systematik, be-schäftigt auch Scholem in der Folgezeit.286 Einerseits fordert Scholem, ganz dem

Bezeichnenderweise hat, so schreibt Scholem später über seine im Winter 1917/18 er-

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166 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

typischen Kant-Verständnis seiner Zeit gemäß, Kant müsse überwunden oder fortgeführt werden, um über den bloß »negativen« Teil der Kriti k hinaus eine neue Metaphysik zu begründen.287 Auf der anderen Seite hinterläßt die Frage nach der Möglichkeit des legitimen Gebrauches metaphysischer Sätze aber einen bleibenden Eindruck, der letztlich die systematischen Versuche überlebt und Scholems Auffassung von Philosophie nachträglich prägt.

In der Intention der Weiterführung Kants triff t sich Scholem mit Benjamin; beide versuchen, diese Fortführung Kants durch eine Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus Cohens zu leisten.288 Auch Cohen beabsichtigt eine Revision Kants, vor allem wil l er dessen Konzept einer einfach rezeptiven Sinn-lichkeit überwinden. In seiner Logik der reinen Erkenntnis lehnt Cohen es ex-plizit ab, »der Logik eine Lehre von der Sinnlichkeit voraufgehen zu lassen. Wir fangen mit dem Denken an. Das Denken darf keinen Ursprung haben außer-halb seiner selbst, wenn anders seine Reinheit uneingeschränkt und ungetrübt sein muß.«289 Für Cohen liegt in der Begrenzung der Erfahrbarkeit auf Sinn-lichkeit eine Einschränkung der Autonomie der menschlichen Vernunft und der »Reinheit« des Denkens. Die Entgrenzung des Erfahrungsbegriffes ist für Ben-jamin und Scholem insofern attraktiv, als jetzt auch »nichtsinnliche« Erfahrun-gen etwa ästhetischer, religiöser oder metaphysischer Art nicht mehr von der Definition der Erfahrung ausgeschlossen sind. Außerdem ist Cohens Polemik gegen Anschauung und unmittelbare Sinnlichkeit für Scholem auch deshalb in-

folgte Kant-Lektüre, neben den Prolegomena vor allem die ebenfalls um Fragen der Systematik kreisende Einleitung zur Kritik der Urteilskraft einen »nachhaltigen Ein-druck« hinterlassen (WB, 65). - Wie Benjamin hat Scholem immer die systematische Natur der Philosophie hervorgehoben, insbesondere die Dreiteilung des Systems ist immer bestimmend (vgl. etwa T II, 384, 368f; Scholem, »Franz Rosenzweig«, 537). Über die Überwindung Kants in der »idealistischen Wende« des Neukantianismus zur Wertwissenschaft vgl. politisch orientiert und differenziert Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neukantianismus, 404ff; hier wird ausdrücklich eine Verbindung zum Sozialistengesetz gezogen. Vgl. auch Ringer, Die Gelehrten, 86ff über den »Idealis-mus« der Professoren als zentrales (überdeterminiertes) Konstrukt des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Aus dieser Perspektive ist auch Benjamins Bedürfnis nach Über-windung Kants (samt der ganzen »seelenlosen« Aufklärung, der Zweckrationalität usw.) weniger die Ausnahme als die Regel. Benjamin will »das Wesentliche des Kantischen Denkens« erhalten, aber »[w]orin dieses Wesentliche besteht und wie man sein [Kants] System neu begründen muß, um es hervortreten zu lassen, weiß ich bis heute nicht.« (Benjamin, Briefe I, 150) - Firo-rato (»Unendliche Aufgabe und System der Wahrheit« und »Die Erfahrung, das Un-bedingte und die Religion«) zeigt, daß Benjamin Cohen als radikale Weiterführung Kants gelesen hat, daß hier also keineswegs nur ein Mißverständnis vorliegt, wie die spätere Enttäuschung nahelegt. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 12f.

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PHILOSOPHISCHER HORIZONT: KANT UND COHEN 167

teressant, weil sich von hier aus die Möglichkeit ergibt, der Abneigung gegen

Bubers »Erlebnis-Lehre« phi losophischen Ausdruck zu verleihen.290

Durch die Loslösung von der Anschauung wird der Begriff der Erfahrung bei

Cohen frei zur Beschreibung des Denkens, gedacht als diskursiver Fortschritt,

dessen Paradigma für Cohen der platonische Dialog ist. Der Dialog ist eine Folge

von Fragen, in denen die Begriffe entwickelt werden:

Der Begriff ist Frage und bleibt Frage; nichts als Frage. Auch die Antwort, die er erhält, muß eine neue Frage sein, eine neue Frage wecken. Das ist eben das inner-liche methodische Verhältnis, welches zwischen Frage und Antwort besteht, daß jede Frage selbst eine Antwort sein muß; daher kann und muß auch jede Antwort eine Frage sein. [...] keine Lösung darf als definitiv gelten.291

Diese Logik der Frage und Antwort wird sich im Laufe der Darstel lung immer

wieder als zentral für Scholem erweisen; ihre »Dialektik« unterscheidet sich fun-

damental von der Hegeischen, denn sie vollzieht sich nicht zwischen Unmi t-

telbarkeit und Vermitteltheit innerhalb der Totalität des Bewußtseins, sondern

bezieht sich auf die Darstel lung des Inhalts mit Gegenbest immungen; sie hat in

ihrer Unabschl ießbarkeit sogar ein Moment der (sokratischen) Ironie.292

Di e Vermitteltheit dieses Denkens wird am Begriff des »Ursprungs« deutlich,

den Cohen in ganz anderem Sinne als die zeitgenössische »Lebensphilosophie«

und auch als die Phänomenologie benutzt. N i e ist für Cohen »Ursprung« ein er-

stes einfaches, die Frage nach ihm bedeutet daher auch weder die Frage nach der

kausalen Genese noch nach einer fundamentalen vorprädikat iven Schicht der

Erfahrung.2 93 »Ursprünglich« ist für Cohen keine erste Anschauung, sondern

Vor allem in Der Begriff der Religion im System der Philosophie, dem ersten größe-ren Werk Cohens, das Scholem liest, wird eine scharfe Kriti k des Gefühls als Erkenntnisquelle und als Basis der Religion geübt (vgl. etwa ebd., 86ff; insbes. die Po-lemik gegen Schleiermacher 94ff). Religion muß und kann anders begründet werden denn als »irrationales Gefühl«, auch sie muß als »reine Erfahrung« im Rahmen des Sy-stems der Philosophie thematisiert werden. Indem Cohen der Religion Eigenart, aber nicht Selbständigkeit im philosophischen System zuspricht, hypostasiert sie sich auch nicht zur Gegeninstanz der Rationalität schlechthin, s. dazu unten Anm. 413. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 378. - Vgl. dazu auch die Bezeichnung der Begriffe als Fragezeichen (ebd., 16), als Fragen (ebd., 30) und die Bezeichnung der Frage als »Hebel des Ursprungs«, »Grundlage des Urteils«, »Grund der Grundlage« (ebd., 3f)-Bekanntlich hat ja auch Kierkegaard die sokratische Ironie als Ausgangspunkt ge-nommen, um die Hegeische Spekulation zu kritisieren. Dazu s. u. Kap. 2.6.2. - Für Fiorato ist diese Ironie Zeichen der Modernität Cohens: »Die radikale Akzeptation [sie] der modernen »Weltentzauberung« läßt nämlich der Cohenschen »Philosophie des Ursprung« keinen Zugang zur Unmittelbarkeit der Erfahrung offen, die vielmehr durch die Verwissenschaftlichung endgültig verloren gegangen ist.« (Fiorato,schichtliche Ewigkeit, 9) Hier ist der Vergleich mit Heidegger aufschlußreich, der ebenfalls »ursprünglich« hin-

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168 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

eine besondere Ar t der Frage, der sich auch die vermeint l ich ursprüngl ichen

Evidenzen stellen müssen. Der Begriff des »Ursprungs« bezeichnet daher immer

ein »Ursprungsproblem«: »Die angeblich ursprüngliche Identität des Seins wird

hier durch dasjenige »Problem« ersetzt, von welchem her die jeweilige »Identität«

sich erst als »Idee« ergibt.«294 Ursprünglich ist dieses Problem insofern, als es der

letzte Grund der Aufweisung ist; es ist die Frage »Was ist »was ist«?«, also die

Frage nach dem Begriff selbst, die in jedem Urteil impliziert ist. Wie Fiorato

richtig schreibt, bedeutet das, »daß dasjenige Problem, das ein solches Urteil -

als Urteil - zu »lösen« hat, eigentlich nur als das seltsame Problem des Problems

best immt werden kann«.295

Fiorato gibt hier sehr gut Cohens Neigung zur »Potenzierung« wieder, näm-

lich von der »Frage« zur >Frage der Frage« überzugehen. Dabei handelt es sich

nicht um eine sich schließende Reflexion, sondern um die Freilegung der Be-

stimmbarkeit, also einer offenen Möglichkeit der Erfahrung.296 Wir werden spä-

ter Kant zurücktragen will . Ganz anders als Cohen wil l Heidegger der Geltungsfrage nicht nachgeben (Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik. 68f) und inter-pretiert die Kategorien nicht von ihrer Geltung, sondern von der Sachhaltigkeit des Urteils her (ebd., 84). Aus Kants Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung wird über das Mittelglied »das die Erfahrung Ermöglichende« schließlich die (phänomenologi-sche) Frage nach der ursprünglichen Transzendenz. Vgl. auch die Verwandlung des Wahrheitsbegriffes in § 44 von Heideggers Sein und Zeit, wo deutlich wird, daß es immer um eine ursprüngliche und vorprädikative Schicht der Wahrheit geht. Fiorato, Geschichtliche Ewigkeit, 28. - Die ursprüngliche Frage hebt sich dabei bei Cohen selbst auf: Die erste Frage nach der Möglichkeit des Nicht-Seins des Gegen-standes, die zunächst einen »wahren Abgrund« für das Denken darzustellen scheint (Cohen, Logik der reinen Erkenntnis, 84), verwandelt sich daher in die Bestimmung durch das »nicht«, und erweist sich somit als der »wahre Übergang« (ebd., 91). Die erste Frage ist daher nicht die Ursprungsfrage der Metaphysik (wie bei Heidegger), sondern nur der problematische Übergang vom unmittelbar Angeschauten zum x der Bestimmbarkeit. Auch Scholem spricht über die beiden Begriffe von »Nichts« (vgl. etwa T U, 137f).

Fiorato, GeschichtUche Ewigkeit, 34. - Der Ursprung stellt also keine primitive Schicht der Erfahrung dar, sondern »bildet im Gegenteil die Demonstration der Unmöglich-keit einer definitiven Begegnung mit dem Sein im Pol des Wesens. Als äußerste Geste der Diskursivität, die gegen die eigenen Grenzen stößt, stellt so das Urteil des Ur-sprungs (nur) ein letztes, »selbstironisches« Zeugnis des Denkens dar, das, ohne Zu-flucht in einer Wesensschau zu suchen, die eigene Abgründigkeit entdeckt.« (Ebd., 31). Benjamin versucht, mit Cohens Terminologie von »Frage« und »Ursprung« die Auto-nomie der Wissenschaft zu formulieren (vgl. v. a. die Aufzeichnungen in Benjamin, Ges. Schriften, Bd. VI , 51-53), das stößt bei Scholem auf unmittelbare Zustimmung: »Die Wissenschaft kann nicht erfragt werden. Lehre = System. Sie ist Lösbarkeit schlechthin. Er [Benjamin] sagte ungeheures hierüber. Über Evidenz im neuen System. Ich wußte das alles.« (T II , 221) - Fiorato zeigt, daß diese Formulierung eigentlich be-reits auf die Religion zielt: Die Nicht-Erfragbarkeit der Religion bedeutet daher auch

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PHILOSOPHISCHER HORIZONT: KANT UND COHEN 169

ter sehen, wie Scholem zahlreiche Charakteristika, die Cohen für die Erfahrung gibt - etwa Kontinuität und Unendlichkeit -, auf das Phänomen der Tradition überträgt, wie er sich dabei des Modells der »Frage« bedient und wie Cohens die Frage der Tradition zu derjenigen der »Tradierbarkeit« potenziert. Noch nach der Abwendung von Cohen schreibt er: »Das Judentum kann nur einmal po-tenziert werden: in der Philosophie. Die Philosophie ist die autonome Antwort, nicht auf die Frage, die das Judentum stellt, sondern Antwort als Theorie der Frage.« (T II , 333) Auch nachdem der hohe systematische Anspruch aufgege-ben ist, scheint Cohens Terminologie ihm immer noch paradigmatisch für eine philosophische Terminologie und geeignet zur Aufstellung von Problemen und zur Beschreibung von Erfahrungsverläufen.

Nicht weniger bedeutsam als diese terminologischen Anregungen ist aber die scharfe Kriti k an Cohens Philosophie durch Scholem, die gleichzeitig das Schei-tern der »Überwindung« Kants bedeutet und damit Scholems Reflexionen zuneh-mend auf andere Gebiete lenkt. Durch Cohens Depotenzierung der Anschauung entstehen Probleme sowohl in Bezug auf die Kant-Interpretation als auch syste-matischer Natur. Exemplarisch wird das an Cohens Behandlung des »Raumes« in seinem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft. Cohen spricht hier davon, daß das Angeschaute nicht gegeben sei, sondern es sei der »Raum [...], welcher äußere Gegenstände construiert«.297 Cohen überträgt hier das Modell der geometrischen Konstruktion auf Gegenständlichkeit schlechthin, damit weicht er aber deutlich von Kant ab. Denn die geometrische Konstruktion ist bei Kant ein Sonderfall, der keineswegs für die Erfahrung insgesamt stehen kann, sondern selbst nur Bedeu-tung hat, weil er auf die reine Erfahrungsform des Raumes bezogen ist. Diese Er-fahrungsform - der Raum - ist aber für Kant kein (konstruierter) Begriff, sondern wird als reine Anschauung - als Form der Gegebenheit von Gegenständen - ge-rade von den reinen Begriffen der Kategorien unterschieden.298

Cohen erwähnt diese radikale Verschiedenheit seines Ansatzes von dem Kants in seinem immerhin mit dem Anspruch des Kommentars auftretenden Kant-Buch nicht einmal; darüber hinaus wird gerade hier auch die Problematik der »Überwindung« der Kantschen Dualität von Anschauung und Begriff deut-

die Autonomie der Religion; für diese gibt es daher eine kritische, aber keine metaphy-sische Begründung (Fiorato, »Unendliche Aufgabe und System der Wahrheit«, 170). Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, 7. - Vgl. auch ebd., 26, 104 über die Kon-struktion in der Erfahrung. Diese Interpretation ist wohl letztlich in Cohens stark ausgeprägtem Piatonismus begründet, vgl. Köhnke, Entstehung und Aufstieg, 293ff. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft B 40ff, auch B 741ff über die Unterscheidung von begrifflich erkennender Philosophie und Anschauungen konstruierender Geometrie. -Auch Scholem äußert sich in allerdings unsicherer Weise zur Frage, ob mathematische Urteile analytisch oder synthetisch sind (etwa T I, 275, 382), des öfteren kritisiert er auch Cohens Interpretation der Mathematik (vgl. etwa T1,261,276; vgl. auch VBJ, 74).

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170 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

lieh. Die Zweistämmelehre ist bei Kant ja nicht lediglich einer überkommenen

Metaphysik geschuldet, sondern hat auch eine wichtige kritische Funkt ion, wie

wi r schon an Scholems »Kant-Erlebnis« gesehen haben: N ur von ihr aus ist es

möglich, »vernünftige« und »vernünftelnde« Schlüsse zu unterscheiden, d. h. sol-

che, in der die Verstandeskategorien auf mögliche (sinnliche) Anschauung be-

zogen werden, und solche, in denen das nicht mehr der Fall ist und bei denen

daher die Verstrickung in den transzendentalen Schein droht.2 99 Auch Cohen

wil l diese »spekulativen« Schlüsse abwehren, aber er muß sich dabei ganz ande-

rer Argumentat ionsf iguren bedienen: Zum einen ersetzt er Kants Bindung an

die Sinnlichkeit durch die Bindung an die Wissenschaft und deren Fortschritt,

zum anderen insistiert er darauf, daß die Spekulation die Ethik auflöse und zu

»Materialismus« und »Pantheismus« führe.300 Während die zweite Figur in Scho-

lems Theorie des Judentums eine Weile lang durchaus eine gewisse Rolle spielt,

lehnt Scholem den »cohenschen Grundgedanken, der die N a t ur und die Er-

kenntnis überhaupt nur im »gegebenen« Faktum der Wissenschaft sieht«, strikt

ab: »Dies schmeckt unverdaulich positivistisch und ist sicher falsch.« (T I I , 170)

So endet auch die von Benjamin und Scholem gemeinsam durchgeführte Lek-

türe von Cohens großem Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft mit einer

großen Enttäuschung. Es scheint, daß beiden Cohens konsequente Fehlinter-

pretat ion Kants durchaus auffällt, jedenfalls bezieht sich der größte Teil von

Scholems Kriti k auf den »interpretatorischen Cohen« (Br 1,180).301 Zugleich mit

Vgl. Köhnkes Kritik : Weil Cohen sich nicht eigens mit der Dialektik beschäftigt, ver-liere er den kritischen Zug aus den Augen und habe die Funktion der Bindung des Verstandes an die Erfahrung nicht erkannt; Cohens Piatonismus bzw. sein Anspruch, das »Selbe« noch einmal »besser« sagen zu wollen, hindere ihn daran, die Eigenheit von Kants Gedankenbildung zu verstehen (Köhnke, Entstehung und Aufstieg des Neu-kantianismus, 273ff). - Benjamin jedenfalls war sich der kritischen Funktion der An-schauung bei Kant durchaus bewußt, ohne allerdings eine Lösung zu haben: »Daß Kants Interesse einer Unterbindung der leeren phantastischen Gedankenflüge sich noch anders erfüllen ließe als durch die Lehre der transzendentalen Ästhetik darf an-genommen werden.« (Benjamin, Ge5. Schriften, Bd. VI , Ebd., 35). Köhnke beschreibt das sehr treffend: »Die Blickrichtung hatte sich damit gegenüber der Kritik der reinen Vernunft genau umgekehrt: Was Kant der Auffindung der Er-kenntnis zugrundeliegender Formen dienen sollte - die Analyse der Wissenschaften zum Zweck der Grenzziehung zwischen Glauben und Wissen -, das verselbständigt sich bei Cohen zu einer »Theorie der Erfahrung«, die den Begriff der Erfahrung nur in dem eminenten Sinne einer durch die apriorischen Formen erzeugten Erfahrung gelten läßt, einer Erfahrung, die ausschließlich in den Wissenschaften anzutreffen ist.« (Köhnke, Entstehung und Aufstieg, 281)

Scholem hebt in einem Brief an Ludwig Strauß vom Dezember 1918 hervor, daß seine völlige und hier absolute Verwerfung« weder »die Gestalt und das Dasein Cohens« als Jude, noch sein dreiteiliges System der Philosophie betreffe, sondern den »interpretato-rischefnj Cohen« (Br I, 180). Vgl. die Kriti k an Cohens »Methode des Erschleichens

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PHILOSOPHISCHER HORIZONT: KANT UND COHEN 171

der Enttäuschung durch Cohen wird auch Kant verworfen und verliert seinen Status als absoluter Referenztext.302 Aber Scholem erarbeitet auch keine neue Grundlegung der Philosophie in anderen Problemen als der Erkenntnistheorie oder im Anschluß an andere Traditionen als der (neu)kantianischen mehr.

Ausgehend von dieser »gescheiterten« Kant-Rezeption kann man auch einen Bezug Scholems zur Philosophiegeschichte herstellen, der nicht bloß in den allzu einfachen Schemata von Rationalismus und Irrationalismus stehen bleibt. Man kann dabei von drei typischen Kant-Lektüren ausgehen, die sich jeweils kri-tisch aufeinander beziehen: Cohen kritisiert die »spekulativ-dialektische« Kant-Lektüre Fichtes und des nachfichteschen Idealismus; Cohen wird wiederum seinerseits von Heideggers Analytik der Endlichkeit kritisiert.303 Scholem wie Benjamin stehen hier deutlich in der Nähe Cohens: Einerseits gebrauchen sie so gut wie nie die »dialektischen« Begriffe - »Ich«, »Setzung«, »Subjekt«, »Objekt« etc. -auf denen Fichte seine Lektüre aufbaut; andererseits machen sie auch die radi-kale Umdeutung Kants zu einer Ontologie des geschichtlichen »Daseins« nicht mit, die Heidegger vornimmt. In allen Lektüren spielt die Konzeption der »An-schauung« bei Kant bzw. seine Zweistämmelehre eine wichtige Rolle: Was immer diese auch im Letzten bedeuten mag, offensichtlich geht es in ihr auch um die Grenzen der Philosophie; wenn man dabei die von Kant festgeschriebenen Grenzen überschreiten will , bedarf es offensichtlich einer umfassenden Umori-entierung der philosophischen Grundlagen. Heidegger gelingt diese Umorien-tierung insofern, als er eine ganz neue philosophische Sprache und mit ihr eine ganz neue philosophische Problematik schafft - Benjamin und erst recht Scho-lem gelingt das nicht im selben Ausmaß, weshalb sie sich aus der Philosophie hinaus in andere Felder bewegen.304

von unbegründeten Gegenstandslosigkeiten« (T II , 275), so werde die »Realität des Gegenstandslosen bewiesen aus der Forderung nach methodischer Einheit« (ebd.): Cohens Kriti k sei »Mystifikation, aber keine Mystik« (ebd., 276). Vgl. dazu auch WB, 77ff.

302 So ist etwa Kants Postulat, die Zeit habe nur eine Dimension, für Scholem jetzt »einer der Beweise für die Ärmlichkeit der Erfahrung in der Aufklärung« (T II, 318). Nicht nur könne es in der eindimensionalen Zeit weder Ethik noch »eine freie Ansicht über Geschichte und Religion« geben, sondern auch die Mathematik sei damit »am aller-schlimmsten mißhandelt« (ebd.).

303 Mit jeder Interpretation verschiebt sich auch der Schwerpunkt der Lektüre: von der Dialektik (Fichte) über die Analytik (Cohen) zur Ästhetik (Heidegger). (Vgl. dazu Vuillemint L'heritage kantien). Damit ist auch ein Vergessen von Problemen ver-bunden: So wie bei Cohen das Problem der Dialektik und der Unterscheidung von Vernunft und Vernünftelei übersprungen wird durch die Orientierung an der Wis-senschaft, so scheint bei Heidegger das Problem der objektiven Wahrheit zunehmend zu verschwinden, vgl. dazu Tugendhat, Der Wahrheitsbegriff, 328ff.

304 Aus dieser Perspektive zeigen sich auch die Grenzen von Scholems philosophischem

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172 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Scholems Reflexionen finden in der Folgezeit keinen Anschluß mehr an die

klassische philosophische Sprache, werden immer idiosynkratischer, fragmen-

tarischer und esoterischer ausgedrückt, schon bald spricht er auch nicht mehr

von »Philosophie«, sondern von »Lehre«. Paradoxerweise scheint die Kant-Lek-

türe gerade durch ihr Scheitern best immend für Scholems Auffassung der Phi-

losophie: Das Ungenügen von Cohens Interpretation wird zum Ungenügen der

Philosophie schlechthin. Ein zumindest zum Teil neukantianisch gelesener Kant

(ohne die Bindung an den Fortschri tt der Wissenschaft) bleibt für ihn das Pa-

radigma der »Philosophie« überhaupt: Phi losophie ist systematische und auto-

nome Theorie der Erfahrung.305

Drei Aspekte dieses Kantianismus lassen sich auch beim philosophisch so

zurückhaltenden späteren Scholem deutlich erkennen. Erstens legt Scholem eine

große Reserve gegenüber der im eigentlichen Sinne »spekulativen« Begriffsbildung

an den Tag; besonders deutlich in der Kriti k des Hegelianischen Marxismus, den

er keineswegs nur wegen seiner materialistischen Grundannahmen verurteilt, son-

dern wegen der Kategorie der »Totalität der Gesellschaft«, die für ihn »völlig ins

Bodenlose« führe, weil sie in der konkreten Forschung gar nicht eingelöst wer-

den könne und daher immer »ins rein Spekulative auslaufen« werde.306 Scholems

eigene »philosophische« Äußerungen versuchen dagegen zumindest, sich nicht

(spekulativ) aus Begriffen zu erzeugen, sondern auf die eigene (exegetische bzw.

historische) Erfahrung bezogen zu bleiben; wo das nicht geschieht - etwa in der

Verständnis: Das ganze Problem der Hermeneutik, das vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die philosophische, sondern auch die religionswis-senschaftliche Diskussion beherrscht, bleibt ihm in seinen philosophischen Dimen-sionen fremd. Es scheint mir sowohl für Benjamin als auch für Scholem äußerst charakteristisch, daß sie diesem erkenntniskritischen Impuls noch in gewisser Hinsicht treu bleiben. Schon Adorno hatte diese »tiefe, leise antiquarische Bindung Benjamins an Kant« be-merkt, allerdings auf Kants »bündige Unterscheidung von Natur und Übernatur« bezogen, die in der neukantianischen und erkenntniskritischen Problematik nur sehr vermittelt eine Rolle spielt (Adorno, »Einleitung«, 576). Scholem, Und alles ist Kabbala, 22. - »Wie sieht eigentlich die Kategorie »Totalität der gesellschaftlichen Prozesse« aus in einer wirklichen Einzelanalyse?« (Ebd.) -Schon früher hatte Scholem gegenüber Adorno Vorbehalte geäußert: Zunächst rich-ten sie sich gegen die Fetischisierung der Gesellschaft (Br I, 299), anläßlich dergativen Dialektik heißt es dann, die Vermittlung durch die gesellschaftliche Totalität spiele »die Rolle eines deus ex machina«; es sei eine »durchaus in sich metaphysische These [...], dass es solche Totalvermittlung als Erklärungsgrundlage jedes Phänomens gäbe«, Scholem spricht sogar von der »Glaubensgrundlage, die man Ihnen vorgeben muss« (Br II , 178). - Bezeichnenderweise hebt er im Kontrast zu den Hegelmarxi-sten gerade Max Weber lobend hervor, dazu s. u. Kap. 3.7.3.

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PHILOSOPHISCHER HORIZONT: KAN T UND COHEN 173

prinzipiell theologischen Skepsis gegenüber dem Säkularismus (s. u. Kap. 3.7) -

liegen m. E. die schwächsten Stellen des späteren Scholems.

Scholems fortgesetzter »Kantianismus« führt zweitens zu einer sehr starken

Betonung des kri t ischen Momentes: »The inst rument of Reason developed

in Man largely on the critical, destructive side. [...] In the area of construct ion,

Reason has had relatively few successes [...]. Reason is a dialectical tool that

serves both construct ion and destruct ion, but has had more notable successes

in destruction.« (JJC, 31)

Konstruktiv, sagt Scholem in diesem späten Interview, sei eher etwas ande-

res, »something moral«, ohne das näher auszuführen. Aber dieses andere fällt

nicht mehr eigentlich in die Philosophie, denn diese ist für Scholem drittens au-

tonomes und systematisches Denken, nicht einfach Deu tung der Welt. Das

kann man etwa an seiner Interpretat ion Rosenzweigs sehen: Wenn dieser den

»Idealismus« auf eine neue Ar t des heteronomen Denkens hin überschreitet, so

ist das für Scholem »Theologie«.307 Allerdings ist die Grenzziehung zwischen

kritischem und nachkrit ischem Denken nicht immer so klar wie hier.308 Es gibt

bei Scholem keine deutliche »Konversion« vom autonomen zum heteronomen

Denken wie etwa bei Rosenzweig: Zunächst denkt Scholem mit dem Anspruch

auf philosophische Verbindlichkeit und auf »Überwindung« der Kantischen Phi-

losophie, als er diesen Anspruch aufgibt, erreicht er doch nicht eine nachkrit i-

sche, »positive« Philosophie, sondern problematisiert auch seine metaphysischen

Einsichten immer wieder. A m Ende dieses Prozesses steht die Abwendung

nicht nur von der »autonomen« Phi losophie, sondern von Phi losophie über-

haupt: Scholem verlegt sich ganz auf die Histor iographie, in der die Metaphy-

sik höchstens noch als Hintergrund für das historische Schreiben dient.

Scholem, »Franz Rosenzweig«, 531 .- »Die Autonomie des Denkens ist gefallen, von daher kann sie ihre [meint wohl: es seine] Subjekte nicht mehr erzeugen, sondern muß sie finden.« (Ebd.) Rosenzweig gehe also zur »Heteronomie des Denkens« über (ebd.), sein Buch sei zwar »seiner Form nach ein philosophisches System«, aber unter der Hand erscheine die »Theologie [...] hier im Herzen der uns allen bekannten Be-griffe« (ebd., 537f). - Es ist bezeichnend, daß Scholem hier von »Autonomie« redet, während Rosenzweig in der Regel von »Idealismus« spricht. Scholem scheint schwankend, was die generelle Möglichkeit einer »Post-Philosophie« angeht. So ist etwa Bloch für ihn dezidiert kein Philosoph, sondern ein Mystiker in philosophischem Gewand (vgl. PM, 217ff); dagegen beschreibt er Benjamin als Phi-losoph und zwar als den »reinefn] Fall eines Metaphysikers« (J II , 200). Auch nach-dem für Benjamin das »Ideal des Systems [...] von einer Skepsis betroffen und zerstört [wurde], die ebensosehr mit seinem Studium neukantianischer Systembildungen als mit seiner eigenen originären Erfahrung zusammenhing« (ebd. 204), sei Benjamin immer ein Philosoph geblieben - wahrscheinlich eben gerade weil Scholem Benja-mins Denken als in einer Erfahrung gegründet betrachtete.

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2.3 Symbol, Sprache und >Tradition<

Di e phi losophische Systematik ist nicht der einzige Gegenstand von Scholems

Interesse. Wie bereits erwähnt, finden sich schon vor der Auseinandersetzung

mit Kant No t i zen über Sprache und Mathemat ik, die um den Begriff des

Symbols kreisen. Diese Sprachtheorie ist insofern besonders bedeutsam, als man

immer wieder die Sprachtheorie als den eigentl ichen Kern von Scholems

Zugang zur Kabbala betrachtet hat. Eine solche Interpretat ion kann sich etwa

auf die Schlußpassage von Scholems spätem Aufsatz über die Sprachtheorie der

Kabbala stützen, wo das Ende der kabbalistischen Tradit ion Scholem zu einer

Reflexion über die Sprache motiviert:

Daß die Sprache sprechbar ist, verdanken sie nach der Meinung der Kabbalisten dem Namen, der in ihr gegenwärtig ist. Was die Würde der Sprache sein wird, aus der sich Gott zurückgezogen haben wird, ist eine Frage, die sich die vorlegen müs-sen, die noch in der Immanenz der Welt den Nachhall des verschwundenen Schöp-fungswortes zu vernehmen glauben. Das ist eine Frage, auf die in unserer Zeit wohl nur die Dichter eine Antwort haben, [...] die eines mit den Meistern der Kab-bala verbindet, auch wo sie deren theologische Formulierung als noch zu vorder-gründig verwerfen: der Glaube an die Sprache als ein, wie immer dialektisch aufgerissenes Absolutum, der Glaube an das hörbar gewordene Geheimnis in der Sprache. (J III , 69f)

Hier, am Ende der Kabbala, scheint ihre Wahrheit zu Tage zu treten: ein Sprach-

glaube, eine allgemeine Theorie der Sprachlichkeit der Welt bzw. des Symbolis-

mus, in deren Mittelpunkt der Name Gottes steht. Die frühen sprachtheoretischen

Reflexionen scheinen das nur zu bestätigen: Sprachtheorie bildet den Keim und

das Telos des Scholemschen Unternehmens.309

Diese These entwickelt etwa Menninghaus, für den Benjamins profan gelesene Theo-rie der Sprache die Kabbala vom Kopf auf die Füße einer ästhetischen Spracherfah-rung stellt, vgl. ders., Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 188ff, bes. 225f. Kilchers Untersuchung der Kabbala-Rezeption nimmt diese These der Selbstenthül-lung der Literatur wieder auf und wendet sie ebenfalls auf Scholem an: Nicht nur stelle die romantische Sprachtheorie den Ursprung von Scholems Beschäftigung mit der Kabbala dar (vgl. Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala, bes. 339f), sondern sie ist überhaupt der Kern von Scholems Unternehmen: »Was von der kabbalistischen Sprachmetaphysik bleibt, ist ein ästhetischer »Glaube« an die Sprache. [...] Nach die-ser Denkfigur kann aber gerade darin die äußerste Konsequenz der Sprachtheorie der Kabbala liegen, mehr noch: sie ist in ihr selbst schon angelegt. Die Sprache der Lite-ratur ist dann nicht nur die Rettung der Sprache der Kabbala, sondern mehr noch: ihre Vollendung.« (Ebd., 342) Eine ähnliche Position vertritt schon Rotenstreich, für den der Symbolismus und die Leugnung der unio-mystica die beiden korrelierenden

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Eine solche Lektüre scheint aber aus mehreren Gründen problematisch: Er-stens bilden die sprachtheoretischen Aufzeichnungen nur einen eher geringen Teil von Scholems Aufzeichnungen, auch sind sie immer mit geschichts- und re-ligionsphilosophischen Reflexionen vermischt, von denen man sie nicht ohne weiteres ablösen kann.310 Zweitens kreisen Scholems sprachtheoretische Refle-xionen keineswegs schwerpunktmäßig um eine Zeichen- oder Bedeutungstheo-rie wie es die behauptete Zentralität des »Symbols« nahelegen sollte. Wie schon angedeutet sind für Scholems Sprachreflexionen mindestens im gleichen Maße Kategorien wie »Ironie«, »Text«, »Kommentar« u.a. charakteristisch. Drittens schließlich hat Scholem einen denkbar weiten und durchaus inhomogenen Be-griff des Symbols: Modell des »Symbols« ist ihm sowohl das vieldeutige, tiefsin-nige und gleichnishafte mystische Symbol, aber auch das ganz entgegengesetzte terminologische Symbol, das gerade ein rein konventionelles Zeichen bar aller Ikonizität oder Indexalität ist. Dieser doppelte Symbolbegriff unterscheidet sich damit prägnant vom Symbolbegriff der romantischen Ästhetik, definiert als Durchscheinen eines Transzendenten im Endlichen. Scholem denkt dagegen die Symbole von Anfang an als integriert in die Textualität eines Symbolsystems -ein Aspekt, der noch seinen späten religionsgeschichtlichen Begriff des Symbols prägt und dessen »romantische« Definition konterkariert (s.u. Kap. 3.5.5).

Die Besonderheit von Scholems Symbolverständnis würde verfehlt, wenn man unterstellt, Scholem habe seine Theorie der Symbole aus der kabbalisti-schen Sprachtheorie übernommen und diese gar zur Basis seiner Reflexion über die Tradition gemacht. Tatsächlich kann man zeigen, daß die von Scholem früh entdeckte Sprachtheorie der Kabbala zunächst keine Anregung bietet und erst auf dem Umweg über die Reflexion über Tradition seine Bedeutung gewinnt. Um diesen Weg nachzuvollziehen, werden wir zunächst Scholems früheste Re-flexionen zur Zeichentheorie im Spannungsfeld von Mystik und Mathematik untersuchen (2.3.1). Der Fokus dieser Überlegungen verschiebt sich in der Aus-einandersetzung mit Franz Joseph Molitor auf das Phänomen der Tradition, wobei die erkenntniskritische Problematik des letzten Kapitels wieder auftaucht (2.3.2). Scholems negative ästhetische Theorie anhand seiner Theorie der Klage

Hauptachsen von Scholems Werk sind: Beide betonen die Indirektheit der Erfahrung und die Distanz von Gott und Welt. In dieser Interpretation erscheint das Symbol gar nicht mehr als Bezeichnungsmodus, sondern als Wesen der Sprache schlechthin, vgl. Rotenstreich, »Symbolism and Transcendence«, bes. 607f, 613f.

0 Goetschel betont die Unfertigkeit der frühen Aufzeichnungen: »Although Scholem's thinking emerges in these diaries as cogent and rigorous, the elements of his thought cannot be used to construct a consistent philosophy of language. For too much is in flux at this early stage, both terminologically and conceptually.« (Goetschel, »Scholem's Diaries«, 82)

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und des Verstummens der Sprache leitet bereits zu den Überlegungen über die Krise der Tradition hin, die das nächste Kapitel bestimmen (2.3.3).

2.3.1 >Ordnungslehre<, >Mystik< und Mathematik. Wir haben bereits oben die Reflexionen aus Scholems »vorkritischer« Phase erwähnt: Scholem spricht be-reits seit Anfang 1916 immer wieder von einer zu schaffenden »Ordnungslehre«, einer zeichentheoretisch fundierten Ontologie. Seine Überlegungen zum Zei-chen sind dabei zum einen durch Scholems intensive Beschäftigung mit dem Hebräischen, zum anderen durch sein Mathematikstudium motiviert.311 Wie Scholem im Sommer 1917 an Kraft schreibt, hat ihn die »Beschäftigung mit dem Hebräischen und das Nachdenken über das Wesen der Mathematik auf gleiche Weise zum Nachdenken über die Sprache getrieben« (Br I, 86); bezeichnender-weise wird die Ordnungslehre auch als »mathematische Theorie der Wahrheit« bezeichnet (vgl. etwa T II , 25f). Auch im Rückblick betont Scholem sein doppeltes Motiv: »Das sprachphilosophische Element einer von Mystik ganz gereinigten Begriffssprache wie auch deren Grenzen schienen mir klar. Ich schwankte damals zwischen den beiden Polen der mathematischen und der mystischen Symbolik - viel stärker als Benjamin, dessen Begabung für Mathe-matik gering war und der damals und noch lange durchaus mystischen Sprach-vorstellungen anhing.« (WB, 66)

Scholem beginnt keinesfalls als Sprachmystiker, man mißversteht die Ent-wicklung seiner Theorie, wenn man eine mystische Theorie der Sprache an ihren Anfang setzt, die sich nicht nur erst spät, nach dem Durchgang durch phi-losophische, geschichtstheoretische und theologische Überlegungen bildet, son-dern auch stets in der Spannung mit einer mathematischen Theorie der Terminologie bleibt. Zwar gibt es, wie Scholem später schreibt, »nur einen Be-weis für das Judentum: die Sprache«, aber »diese Einsicht ist ein Paradoxon, so-lange sie nicht entfaltet wird« (T II , 213).

Tatsächlich überwiegen in den Tagebüchern zunächst die mathematischen die sprachphilosophischen Reflexionen; in der Regel beschäftigen sich erstere mit dem Verhältnis der Mathematik zur Philosophie. Scholem polemisiert dabei vor allem gegen eine der Mathematik übergeordnete (normative oder grundlegende)

1 So reflektiert er etwa, daß das Prinzip der Wurzelverwandtschaft in der hebräischen Sprache die Ordnung der Welt repräsentiert (T I, 17f, 421); zur Theorie des Hebräi-schen s. u. Kap. 2.5.2. - Die Rede von der »Ordnung« ist immer auch polemisch zu verstehen gegen die »Verwirrung« der deutschen Juden und gegen die Bubersche Er-lebnislehre. Später, nach der Begegnung mit Molitor, wird Scholem sich zu jenen zählen, »die das Zentrum des Judentums nicht im Geistigen, sondern in der Sprache erblicken. [...] Dies »Geistige« ist Martin Buber. Ich aber bin ein Jude.« (T II , 213) -Allgemein über Ordnungslehre vgl., WB, 73f.

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»Philosophie der Mathematik« und behauptet, die Mathematik sei selbständig und müsse sich selbst untersuchen. Gegen seine phänomenologischen Lehrer Bauch und Linke, aber auch gegen Cohen, verteidigt er die Autonomie der Ma-thematik und ihre Fähigkeit, sich durch Formalisierung ihrer Begriffe selbst zu kontrollieren.312 Noch im Winter 1917/18 verteidigt er daher in einem Referat den formalen Logikkalkül der Fregeschen Begriffsschrift gegen eine phänome-nologische Philosophie der Mathematik.313 Scholems eigene Versuche zu so einer »Mathematik der Mathematik« - deren mathematischer Wert hier nicht be-urteilt werden kann - sind bezeichnenderweise selbst nicht formalisiert, sie haben immer die Form einer materialen Ontologie, deren Formulierungen zwi-schen Piatonismus, Phänomenologie und Neukantianismus schwanken, ohne daß es dabei zu einem eindeutigen Begriffsgebrauch kommt.314

Wichtiger sind Scholems allgemeine Reflexionen über das Verhältnis von Ma-thematik und Sprache; sie stellen eine Grenzbestimmung der Sprache dar, die für Scholem immer von zentraler Bedeutung sein wird. Die Sprache der Ma-thematik scheint dabei für Scholem in zweifacher Weise eine Sprache jenseits der normalen Sprache zu sein, von der sie sich zum einen durch »Gleichnis-losigkeit«, zum anderen durch Stummheit auszeichnet.

Schon Anfang 1916 betont Scholem, wohl im Gefolge Mauthners, die Gleich-nishaftigkeit der Sprache: »Es ist der Sprache beinahe selbstverständlich, im Gleichnis, im Symbol zu reden: das, was erkannt wird, kann meistens überhaupt nicht anders gesagt werden als im Symbol [...] Es kann nicht der Kern gesagt

312 Die Mathematik sei »höchstens philosophischer Deutung, nicht aber philosophischer Kriti k zugängig« (T I, 259), ja radikaler: »Wenn der Ausgang von der Mathematik als der einzig mögliche zur Fundierung des Begriffes Wissenschaft blieb, dann muß die Mathematik sich selbst untersuchen, es muß nicht »Philosophie der Mathematik« ge-trieben werden« (ebd., 264). Vgl. auch die wiederkehrende Forderung, man solle keine philosophischen Probleme in die Mathematik hereintragen, (vgl. etwa T II, 25f,163)

313 Neben der Beschäftigung mit Frege dürfte vor allem die mit Husserls antipsycholo-gistischer Grundlegung der Logik bedeutsam sein für Scholems Vorbehalt gegen eine Sprachmystik etwa im Sinne Landauers und für seine generelle Abneigung gegen die Psychologie, vgl. etwa die Psychologismuskritik T II , 110.

314 Typisch und bewußt platonisch ist das immer wieder umschriebene Verhältnis von zeitloser Wahrheit und zeitlicher Abschattung in der menschlichen Erfassung dieser Wahrheit (vgl. etwa T I, 277f); auch die neukantianische Sprache ist für die Mathe-matik präsent (vgl. etwa 427ff); schließlich spielt auch die Phänomenologie eine gewisse Rolle (Br 1,169), allerdings eher als platonische Wesensschau betrachtet, ohne die Problematik von epoche und Reduktion auch nur zu erwähnen (also ohne einen Begriff von der Methode der Phänomenologie zu haben). Alles scheint unsicher und fließend. Vgl. dazu etwa die wechselnden Unterscheidungen von Idee, Begriff, Wesen (T II , 141 ff) oder das Schwanken in der Frage, ob die Mathematik analytisch oder synthetisch zu verstehen sei (vgl. etwa T 1,139, 382, 467; auch VBJ, 111).

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werden: die Natur, denn die Natur ist unsagbar, sondern es kann nur bildweise angedeutet werden« (T1,264). Dieser Gedanke wird profiliert durch den Grenz-fall einer gleichnislosen Sprache: »Die Mathematik ist vollkommen sachlich, sie kennt kein einziges Gleichnis, und in keinem mathematischen Buche [...] findet man das Wort »als ob«. Hier hat sich die Sprache selbst überwunden: sie sagt aus, was ist, ohne einen Umweg.« (Ebd., 265) Dabei ist die Mathematik nicht die ein-zige Grenze des Symbolischen, insbesondere die zentralen Begriffe seines Nach-denkens über das Judentum wil l Scholem unsymbolisch verstanden wissen: »Die Thora kann kein Symbol sein [...], denn eine Überlieferung von der Wahrheit ist ihrem Wesen nach unsymbolisch. Die Gerechtigkeit ist kein Symbol.« (Ebd., 434)

Gerade diese Reflexion macht Scholem äußert kritisch gegenüber einer »my-stischen« Interpretation der Mathematik, die er gleichzeitig bei Novalis findet. Zwar seien Mathematik und Mystik gleichberechtigt der Dignität nach, denn »außer in der Mystik kann nur in der Mathematik wesentlich erkannt werden« (ebd., 288), aber Scholem wird auch nicht müde, den »große[n] Gegensatz« zu betonen: »die Mathematik kann nur nackt gleichnislos reden, die Mystik nur in Bild und Gleichnis« (ebd., 265).315 Mathematik und Mystik erwecken beide als »reine« Formen der Erkenntnis das Interesse Scholems, aber zu keiner Zeit be-deuten sie für ihn einfach dasselbe oder sind gegeneinander austauschbar. Schon hier unterscheidet sich Scholems Zugang zur Mystik wesentlich von der ro-mantischen Kabbala-Rezeption, was sich immer wieder in einer Kriti k an No-valis niederschlägt: »Er wollte beides [Mystik und Mathematik] verknüpfen und die Mathematik symbolisch sagen, daß er damit auf rein mystische Bahnen ge-riet, beweist die Unmöglichkeit dieses Versuches« (ebd., 265).316 Im Sommer

Vgl. auch: Die »okkulte Anschauung der Mathematik« als mystischer Sprache bzw. als Gleichnis für die Welt »behauptet eine Gleichnishaftigkeit der Mathematik, die auf dieser Stufe absolut falsch ist« (T I, 407). Zu Novalis vgl. auch: «Die tiefe Verbindung zwischen Mathematik und Mystik [...] wird bei Novalis nicht erreicht oder hergestellt, die Sphäre ist nicht - wie erstrebt -eben die der Berührung der beiden, sondern nur die der Mystik, und dadurch wird die Wahrheit, die in seinen Worten liegt, symbolisch - und damit ist sie zweifellos ge-richtet.« (Br I, 94: ) Vgl. auch die große Kriti k an Novalis, die ihm »Mystizismus« vorwirft: Novalis« »letztes Ziel ist groß, rein und wahr: die Rückbeziehung aller Dinge auf die Theorie, aber er erreicht es nur, indem er die Idee der Wissenschaft recht eigentlich ihrer Autonomie entkleidet, und indem er so ein anderes für sie un-terschiebt [...] was er Mystizismus nennt [...]. Indem man aber alle Dinge solcher-weise [...] identifiziert, beraubt man sich selber der Einsicht in die Koinzidenz von Ordnungen, die verschieden sind.« (T II, 254) - Kilcher räumt Scholems Novalis-Re-zeption eine entscheidende Bedeutung ein: »Ausgehend von Novalis« Konfiguration von Mathematik und Mystik hat also Scholem zu seinem ersten Zugang zur »ganzen Kabbala selber« gefunden: zur Frage nach der Sprachtheorie der Kabbala. Die Frage nach der Kabbala hat sich demnach nicht im Gegensatz, sondern im Einklang mit sei-

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1917 schreibt er rückblickend: »Der Satz von Novalis: »reine Mathematik ist Re-ligion« erregt schon seit etwa einem Jahr mein Grauen [...]. Das eigentlich Böse scheint mir nämlich nicht die Begeisterung für sie [wohl: die Mathematik] zu sein sondern ihre Ausdeutung jenseits ihrer Sphäre.« (Br I, 92)

Die Sprache der Mathematik muß also innerhalb einer spezifischen »Sphäre« verstanden werden, in der sie unsymbolisch ist. Man kann also sagen, sie sei Terminologie, insofern ihre Bedeutung rein konventionell bestimmt wird, indem innerhalb einer durch Formalisierung erzeugten Sondersprache die ein-zelnen Terme durcheinander erklärt werden; sie haben damit exakte Definitio-nen ohne »gleichnishafte« Konnotationen einer natürlichen Sprache. Dieses Konzept einer Terminologie, das Scholem im Rahmen seiner Auseinanderset-zung mit der Romantik noch einmal aufnehmen wird (s. u. Kap. 2.4.2), wird sich für seine Behandlung der kabbalistischen Symbolik als entscheidend er-weisen: Anders als für seine Vorgänger bedeuten die kabbalistischen Ausdrücke für ihn nicht immer etwas anderes - eine Philosophie, eine Religiosität -, son-dern verweisen aufeinander, sie müssen also nicht in eine andere Sprache »über-setzt« werden, sondern als Sprache entziffern werden.

In der Erzeugung einer solchen Terminologie liegt für Scholem auch die Be-deutung der formalen Logik bzw. des Logikkalküls. Deren Bedeutung sieht Scholem im Sommer 1917 in der Einsicht, »daß die Sprache ein durchaus unge-eignetes Mittel sei, um logische Beziehungen auszusprechen« und im »Bestre-ben, das Denken nicht in einer ihm aufoktroyierten, sondern in seiner eigenen Sprache reden zu lassen. Diese Sprache ist keine Lautsprache. Zu ihrer Mittei-lung kann also nur das Symbol in Betracht kommen.« (TII , 109) Auch hier be-tont Scholem die Begrenztheit der natürlichen Sprache, aber er benutzt hier offensichtlich einen ganz anderen Begriff des Symbols und zieht damit auch die Grenze der Sprache ganz anders: Symbolisch ist die Sprache hier nicht mehr, wo sie Gleichnis wird, sondern wo sie in Schrift übergeht. Die mathematische Sprache ist Sprache jenseits der Sprache, insofern sie stumm ist: »Die Sprachen der Symbolik aber schweigen«. (Ebd., 110)

Wir haben die Bedeutung dieses Gegensatzes von sprechender und schwei-gender Sprache schon bei der Erörterung von Scholems Sprachpolitik gesehen; sie wird auch für seine Theorie der Tradition von größter Bedeutung sein. Denn mit dem Begriff des Symbols als Schrift wird die Ebene der Semantik verlassen:

nem Mathematikstudium ergeben.« (Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala, 339f). Das unterschlägt allerdings Scholems Kriti k an Novalis. Obiges Zitat bricht Kilcher (ebd., 336) vor: »daß er damit auf rein mystische Bahnen geriet, beweist die Unmög-lichkeit dieses Versuchs« ab. Es blendet damit auch die spezifische Spannung von Scholems Ansatz aus, der die »ästhetische« Lösung eben von vornherein ablehnt zu-gunsten einer Verklammerung von historischem und theologischem Zugang.

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Die Frage ist nicht mehr, was Symbole bedeuten, sondern wie ihre Einschrei-bung funktioniert und welchen Zeichenprozeß sie nach sich ziehen. Zugleich ist damit ex negativo ein nicht-semantisches Moment in der Sprache gesetzt -ihre Lautnatur -, das in der Dynamik von Erklingen und Verstummen Scho-lems Verständnis von Offenbarung und Geschichte konstituiert. Denn die gleichnis- und lautlose Sprache der Mathematik dient doch hier immer nur als Grenzfall, der zwar nicht durch eine statische ontologische Grenze von ande-ren »höheren« Bereichen getrennt ist, aber durch andere Prinzipien dynamisiert wird. Daher betont Scholem zum Abschluß seines Referates, daß es Gebiete gäbe, »die von der Logistik nicht erreicht werden können [...] . Und zwar wer-den das alle jene Gegenstände sein, deren inneres sprachliches Prinzip durch die Lehre von den Zeichen nicht erschöpft werden kann, wie etwa Religion oder Geschichte.« (Ebd., 111)

2.3.2 >Tradition< und Kabbala: Scholem und Molitor. Neben der Reflexion über Sprache steht für den jungen Scholem die Beschäftigung mit der jüdischen Tra-dition im Vordergrund. Die Ausrichtung dieser exegetischen Erfahrung sowie die in ihr inhärente Problematik kann man besonders gut an Scholems Verhältnis zu Molitor erkennen, dessen Philosophie der Geschichte oder über die Tradition er im Sommer 1916 liest und dem er bekanntlich auch später eine große Bedeutung für seine eigene Entwicklung wie für die Erkenntnis der Kabbala einräumt, bei allen historischen Schwächen habe doch Molitor die »Adresse« angegeben, »wo das geheime Leben des Judentums einmal gewohnt zu haben schien«(Br I, 471).

Dabei bringt Molitor keineswegs dazu, sich überwiegend oder ausschließlich mit Kabbala zu beschäftigen, sondern weckt allgemein das Interesse an der Kommentarliteratur bzw. am Phänomen der Tradition als solcher.317 Bei der Auseinandersetzung mit Mol i tor - ebenso wie bei der gleichzeitigen Beschäfti-gung mit Samson Raphael Hirsch, s. u. - findet Scholem erstmals Veranlassung,

7 Scholem betont die Bedeutung Molitors für den Begriff der Tradition, 1916 schreibt er: »Nicht mit Leichtsinn hat Franz Molitor [...] sein außergewöhnliches Buch über die Kabbala - mit dem die ganze Größe des Mannes tatsächlich in einem Worte kenn-zeichnenden Titel versehen: Philosophie der Geschichte oder über die TraditionW« (Br 1,47). - Zitiert wird Molitor von Scholem später auch nur im Zusammenhang der Erörterung von mündlicher und schriftlicher Thora (Gb, 94,106). Vgl. auch Scholems Artikel »Molitor«. - Kilcher betont die Bedeutung Molitors für Scholem: »Die Kab-bala wird damit als eine Theorie der sprachlichen Bedingungen von Tradition und Ge-schichte lesbar. Sie ist Geschichtsphilosophie, aber als Sprachphilosophie.« (Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala, 254). Allerdings liest Kilcher Molitor sehr stark aus der Perspektive des späten Scholem, dagegen hebt Schulte richtig den heilsgeschicht-lichen Charakter von Molitors Philosophie hervor (Schulte, »»Die Buchstaben haben ihre Wurzeln oben'«, 151 ff) und gibt einen guten Überblick über Molitors Werk.

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sich die jüdische Tradition nicht nur praktisch anzueignen, sondern auch über diese Aneignung zu reflektieren; dabei übernimmt er Molitors Lösung nicht ein-fach, sondern versucht auf verschiedene Weise, das Problem zu reformulieren.

Al s Anstoß zur Reflexion kann Molitor gerade deshalb dienen, weil er an-ders als etwa Novalis nicht die »ästhetischen« und »symbolischen« Probleme der Kabbala in den Vordergrund stellt, sondern von vornherein aus einer theologi-schen Perspektive argumentiert, die Kabbala also viel »konservativer« betrach-tet und damit auch ihrem Selbstverständnis viel näher ist. Auf der anderen Seite sind ihm die Argumente der modernen Kriti k an der Kabbala durchaus be-kannt, und gerade sein Restaurationsversuch zwingt ihn, sich mit diesen von der romantischen Kabbala ignorierten Argumenten auseinanderzusetzen. Seine Position zwingt ihn also, Fragen zu stellen, die innerhalb der kabbalistischen Überlieferung selbst nicht gestellt wurden, ja nicht einmal denkbar sind; sie macht Voraussetzungen explizit, die dem kabbalistischen Denken zugrunde lie-gen, aber nicht artikuliert werden.

Molitors Darstellung der Kabbala ist in eine heilsgeschichtliche Spekulation eingelassen, die hier nur erwähnt werden soll:318 Sowohl Offenbarung als auch Tradition greifen von außen in die Menschheitsgeschichte ein, diese ist nicht als autonome Bewegung zu verstehen, sondern als Antwort der Menschen auf die göttlichen Heilstaten.319 Als wichtiger Bestandteil dieser Geschichte müsse auch

Molitor betont, vor allem in der Einleitung des zweiten Bandes, »daß man mit einer nackten, wörtlich-getreuen Darstellung der Kabbala ohnmöglich anfangen dürfe« (Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. II , 9) - In der konkreten Durchführung er-scheint das zunächst in einem Schwanken zwischen der Darstellung der Kabbala und theosophischen Spekulationen. So folgt etwa nach einem Abriß der Literaturge-schichte der Kabbala (Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 64-82) völlig un-vermittelt eine Reflexion über den Menschen im Schöpfungszustand. - Ab dem zweiten Band nimmt dabei die philosophische, stark an Schelling angelehnte Tendenz zu. Vgl. auch den Brief Molitors an Schelling: »Die Kabbala kann ohnmöglich ver-ständlich gemacht werden ohne eine vorhergehende Entwicklung derselben von dem höheren philosophischen Standpunkt aus, und von hier aus lösen sich dann auch die verschiedenen scheinbaren Widersprüche in den kabbalistischen Schriften auf, die sonst das Studium derselben so sehr erschweren.« (Molitor an Schelling am 15.10. 1832, zit. nach Sandkühler, Freiheit und Wirklichkeit, 260) Diese Spekulation führt also eher zur ideologischen Schließung der kabbalistischen Texte. Bei Molitor gibt es kein der Geschichte immanent gedachtes Prinzip, seine Ge-schichte ist eine modernisierte, aber eben nicht säkularisierte Form der alten Heils-geschichte. Sehr deutlich wird das an seiner Auffassung der Geschichte als Erziehung: Anders als etwa bei Lessing ist die göttliche Führung hier nicht Anleitung und Ent-wicklung der autonomen Menschennatur, sondern Zeichen der Bedingtheit des sün-digen Menschen und seiner Angewiesenheit auf Hilfe schlechthin. Als gefallene Kreatur bedürfe der Mensch der »Anregung und Beihülfe« (Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 3). - Vgl. auch Schulte, »»Die Buchstaben haben ihre Wurzeln

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die jüdische Überlieferung einschließlich ihrer talmudischen und mystischen Quellen betrachtet werden, die Molitor daher, zur Vertiefung des Christentums, entwickeln will . Dabei benutzt Molitor gerade den Gegensatz zwischen der so-genannten schriftlichen und mündlichen Thora, um seinen antiprotestantischen Begriff von Tradition zu explizieren. Die Schrift allein sei, »weil sie aller con-creten Bestimmtheit und individueller Specifikation [...] gänzlich ermangelt [...], jeder Art von Mißdeutung unterworfen«, daher bedürfe sie der Ergänzung: »Das mündlich ausgesprochene Wort, so wie die Uebung und das Leben müs-sen sonach die beständigen Begleiter und Dolmetscher des geschriebenen Wor-tes seyn; sonst bleibt dasselbe im Gemüthe ein todter abstrakter Begriff, dem es an allem Leben und concreten Gehalte gebricht.«320

Das ist nicht nur eine Reflexion über die Medialität der Erinnerung, sondern hat auch eine theologische Bedeutung. Die jüdische Lehre ist nämlich ursprüng-lich nicht toter Buchstabe oder »Gesetz« gewesen, sondern »etwas Lebendiges, bei dem man sich nicht auf den äußern todten Buchstaben allein beschränkte, son-dern zugleich auch dessen innern Geist mit in Anspruch nahm«.321 Nicht das mo-saische Gesetz, sondern eine geheime Überlieferung der Mystik sei die »lebendige Seele« des Judentums und der »tiefere Mittelpunkt des ganzen Lebens« im Ju-dentum; zugleich ist sie auch »das lebendige Prinzip der ganzen progressiven Ent-wicklung des Judenthums und seiner höheren Entfaltung zum Christenthum«.322

Molitor folgt dabei der traditionellen Auffassung, diese mystische Tradition sei schon Moses am Sinai überliefert worden. Große Teile des ersten Bandes sind daher gegen die »Neologen« jüdischer und christlicher Provenienz gerichtet, die ebendies bezweifeln, charakteristisch dafür sind etwa seine Erörterungen über das Alter der hebräischen Schrift und insbesondere der Vokalisierung, aus Gründen, die uns später klarwerden, ist Molitor hier besonders hartnäckig.

oben'«, 151 ff. - Die eigentliche Gcschichtsdarstellung hat bei Molitor dann die ei-genartig konjunktivische Form einer Heilsgeschichte: Hätten die Menschen nur adä-quat geantwortet, so hätte die Restitution der Schöpfung stattfinden können. Immer wieder wiederholt sich dieses Schema, etwa über den Sündenfall (ebd., 98f, 117), über den Tanz ums goldene Kalb (ebd., 149f), den Abfall Israels von David (ebd., 150f), die Verwerfung Christi durch das alte Israel (ebd., 241-47), die Veräußerlichung der Kirche (ebd., 254f) bis in die Gegenwart (ebd., 267-272).

0 Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 6. - Das ist natürlich auch eine Polemik gegen das protestantische Schriftprinzip, vgl. etwa ebd., 48f.

1 Molitor, a.a.O., Bd. I, 38. - Daher bilde die jüdische Tradition »ursprünglich nur ein einziges ungetheiltes lebendiges Ganze; welches aber bei seiner fortschreitenden Entfaltung immer mehr und mehr auseinander gegliedert, und zuletzt in einzelne Hauptteile abgesondert wurde.« (Ebd., 19) Diese Zerteilung führt nach Molitor bis in die Gegenwart hinein immer wieder zum tragischen Auseinandertreten von Geist und Buchstabe.

2 Molitor, a.a.O., Bd. I, 38, 43, 12.

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Zum einen verteidigt er die Ursprüngl ichkeit des Hebräischen spekulativ,323

zum anderen durch eine Reflexion über die Tradition, die gerade in ihrer Ambi-

valenz äußerst symptomatisch für das Problem der Tradition ist: Bekanntlich wird

die synagogale ThoraroUe ohne Vokalzeichen geschrieben, die Festsetzung der

korrekten Vokalisierung erfolgt erst durch die Masorah in der nachbiblischen Zeit.

Für Mol i to r ist dies einerseits notwendig für die lebendige Religion, denn die

Thora »würde durch eine bestimmte Punktat ion und Wortabthei lung ihre Un-

endlichkeit für die Anschauung verloren haben, sie würde dadurch zu einem be-

stimmten Einzelnen geworden seyn, und dadurch aufgehört haben, das Eine und

Al l zu sein«.324 Andererseits wil l er aber auch nicht auf die Authentizität der Vo-

kalisierung verzichten, keinesfalls wil l er zugeben, daß die vokallose Schrift an sich

ergänzungsbedürftig durch den Menschen sei: »Wie kann man wohl glauben, daß

die Gottheit die richtige Lesung und Deutung dem leicht veränderlichen Worte

blos allein vertraut habe, ohne dasselbe zugleich an gewisse Zeichen zu knüpfen,

und dadurch der Tradition einen sichern Leiter und feste Basis zu geben. [...] Re-

ligiöse Gründe sprechen also für das ursprüngliche Alter der Vökalzeichen.«325

Di e Lösung für dieses Di lemma sieht Mol i to r darin, daß die Vokalisierung

zwar existiert habe, aber nur im Geheimen. Die »Vokal- und Accent-Zeichen exi-

stierten aber, wie bemerkt, gleichsam nur im Verborgenen und traten blos da her-

vor, wo es nöthig war«.326 Die Masorah, und damit auch die ganze Kabbala, ist

Der Ursprung der Schrift wird auch metaphysisch in einer Signaturenlehre begrün-det: Weil die »Gestalten der irdischen Dinge [...] Abbildungen und Ausdrücke gei-stiger Kräfte und intellektueller Ideen« seien, trage jedes Ding »in seiner Gestalt die Signatur an sich, die seine inneren Eigenschaften unmittelbar ausdrückt.« (Molitor, a.a.O., Bd. I, 340) Diese »Ursprache und Urschrift ist weder eine menschliche Er-findung, noch eine Nachahmung der äußern physischen Natur, sondern eine Nach-ahmung Gottes, eine Nachbildung des göttlichen Redens und Schreibens« (ebd., 341). Die Schrift bildet also in nichtsinnlicher Weise eine andere Sprache ab und hat eine besondere Ausdrucksbedeutung und »dadurch erhält jener so unverständlich klin-gende Satz der Kabbalisten [...] seine Erklärung: daß die Buchstaben Abdrücke gött-licher Kräfte sind, daß Gott durch die Magie der Buchstaben Himmel und Erde erschaffen« (ebd., 342).

Molitor, a.a.O., Bd. I, 367. - Die vokallose Schrift war »ganz dazu geeignet, den Geist, so lange er in seiner Einfachheit blieb, immer rege und lebendig zu erhalten, und vor dem Absinken in den todten Buchstaben zu bewahren« (ebd., 369). Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 385f. - Kilcher übergeht diese ganze Di-gression und bezeichnet die Masorah in Molitors Auffassung als »Codierung der ab-soluten Schrift nach dem Maße von menschlichen Kategorien der Lesbarkeit« (Kilcher, Die Sprachtheorie der Kabbala, 253). Das scheint mir bereits viel zu sehr vom (späteren) Scholem her gedacht, für den die mündliche Tradition in der Tat die menschliche Seite des Prozesses ist.

Molitor, a.a.O., Bd. I, 387. - Was Moses mündlich offenbart worden war, »sollte weder zur ganz unbedingten öffentlichen Kunde gebracht, noch überhaupt in ihrem

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für Moli to r daher nicht eine immer neue Interpretation eines Textes, sondern nur

die getreue Aufbewahrung eines authentischen ursprünglichen Sinnes auf einem

anderen Schauplatz. Neben einer profanen moralisch-gesetzlichen Religion gibt

es eine innere geheime Lehre für die Eingeweihten. Diese aus der Aufklärung be-

kannten Idee einer duplex religio wird hier weniger auf die Vernünftigkeit der

Gehalte als auf den Modus der Überl ieferung bezogen.327 Das Spezifische ist

dabei die enge Verknüpfung der beiden Religionen, bei der die »innere« eigentlich

nur im Medium der »äußeren« erscheinen kann. Auch das kann man sich an der

Masorah klarmachen: Verborgen blieben ja nur die Vokalzeichen, die vokallose

Schrift dagegen ist vol lkommen öffentlich.328 Die esoterische Tradition existiert

daher im Judentum immer nur innerhalb der exoterischen Tradition:

In den heidnischen Religionen ist überall das Esoterische vom Exoterischen scharf getrennt [...]. Im Judenthum aber war das Esoterische vom Exoterischen nur leise geschieden und von dem einen zum andern ein leichter stufenmäßiger Übergang eröffnet. Die Juden kannten keine abgeschlossenen Mysterien im Sinne der heid-nischen Völker. [...] Darum war auch das Judentum einzig und allein zu einer pro-gressiven Entwicklung fähig, aus welcher das Heil des Christentums vorbereitet ward [...].329

Das zeigt nicht nur die enge Verwobenheit von Mol i tors heilsgeschichtl icher

Konstrukt ion mit seinem Geschichtsdenken, sondern eröffnet auch einen Zu-

ganzen Umfange nach ausführlich niedergeschrieben werden«, sondern »den ober-sten Häuptern, Lehrern und Vorstehern der Kirche mündlich überliefert, und als ein geheiligtes Depositum [...] aufbewahret bleiben« (ebd., 387). Die aufklärerische duplex religio hat dabei vor allem die politische Funktion, die Gleichzeitigkeit der wahren, aber politisch nicht opportunen, vernünftigen Religion mit der Religion der Masse zu denken, vgl. dazu Assmann, Herrschaft und Heil, 265-280. - Diese Ablösung von der aufklärerischen Auffassung der doppelten Religion ist nach Schulte überhaupt ein Kennzeichen der romantischen Autoren; bei ihnen »ent-steht und besteht [...] ein historisches Bewußtsein, welches offen anerkennt, daß Kab-bala ein jüdisches Erbe und ein Teil der jüdischen Tradition ist. Sie zählt nicht mehr nur zum Bestandteil irgendeiner diffusen esoterischen Tradition des Uralten, sondern sie wird erinnert und angeeignet als jüdische Mystik und als jüdische Philosophie, von Juden wie von Christen.« (Schulte, »Kabbala in der deutschen Romantik«, 18) Vgl. das Bild: »Also hat man in der alten Kirche, ehe der Vorhang zerrissen, nicht nur das Heilige und Allerheiligste des leiblichen Tempels, sondern auch das Heilige und Allerheiligste des geistigen Tempels der Thorah, nämlich die Vokale und Accente dem äußeren Auge entzogen, und blos den Vorhof des Tempels und den äußeren Bau der Thorah, die Consonanten, zur ehrfurchtsvollen Verehrung öffentlich dargestellt« (Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 22).

Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 201. - Dieser Gedanke der Offenbarung der Mysterien ist wohl von Schelling übernommen, bei dem das Christentum aus dem Heidentum dadurch entsteht, daß es die Mysterien öffentlich machte. Zu dem ganzen Komplex vgl. Frank, Der kommende Gott, 245ff.

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SYMBOL, SPRACHE UND »TRADITION« 185

gang zur Historizität und Textualität der Kabbala. Denn erstens hat diese Über-lieferung jetzt, obwohl sie authentisch mosaisch ist, eine Geschichte, die in ihrer Interaktion mit dem exoterischen Judentum liegt. Zweitens eröffnet sich Moli -tor damit auch eine Einsicht in die spezifische Form kabbalistischen Schrift-tums, den Kommentar. Der kabbalistische »Stil« besteht nicht darin, Wahrheiten anderer Herkunft zu verschlüsseln, sondern er erklärt die Wahrheiten, die in der schriftlichen Tradition schon gegeben sind. Die Mystik entfaltet sich an der Thora als deren Auslegung, sie ist wesentlich Kommentar. Molitor betont, daß diese Kommentare »nicht selber symbolisch« sind, sondern »blos die Erklärung des Symbols« enthalten; die mystischen Bücher sind daher selbst »ohne alle my-stische Form, in ihnen ist alles ungebunden und frei. Diese Bücher sind also keine eigentlich wahre Schriften, sondern bloße zur allgemeinen Kunde ge-brachten Notizen.«330 Die Kabbala besteht also aus einer sekundären Tradition, die nur durch Bezug auf die Thora verständlich ist, für sich selbst dagegen dun-kel bleibt; Molitor spricht hier auch davon, daß »die meisten Manuscripte so voll Abbreviaturen sind, daß sie ohne Schlüssel nicht können verstanden wer-den«.331 Wir werden sehen, wie Scholem diese Gedanken mit der Figur des Fragments aufnimmt.

Man muß betonen, daß Molitor eine Ausnahme in der Kabbala-Rezeption des 19. Jahrhunderts darstellt, die in der Regel davon ausgeht, daß die Kabbala neue Wahrheiten verkünde, die nur aus äußerlichen Gründen in das Gewand des alten »Buchstabens« gekleidet seien. Symptomatisch für so eine Interpretation der Kab-bala als »symbolische Philosophie« ist etwa Adolphe Francks Die Kabbala oder die Religions-Philosophie der Hebräer von 1844, das zwar »moderner«, »kritischer« und »historischer« ist als Molitor, aber gerade dadurch den inneren Bezug zwischen der esoterischen und der exoterischen Tradition sowie zwischen Form und Inhalt in der Kabbala aus dem Blick verliert. Für Franck ist es nur eine »Klugheitsregel«, daß die Kabbalisten weiterhin die Geltung der Thora behaupten, eigentlich ist diese für sie »eine bloße dicke Schale [...], unter welcher ein geheimnisvoller Sinn verborgen liege«.332 Die mystische Schriftdeutung sei ein bloßes »Mittel, der un-geschmälerten Freiheit gewiß zu sein, ohne mit der religiösen Autorität öffentlich zu brechen; und vielleicht bedurften sie auch dessen um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen«.333 Eigentlich seien die Kabbalisten aber »blos dem Antriebe ihres ei-

330 Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 53f. 331 Molitor, a.a.O., Bd. I, 81. 332 Franck, Die Kabbala, 53, 34. 333 Franck, a.a.O., 119f. - Franck spricht gelegentlich recht abfällig über die »Sonderbar-

keit, Künstelei und jene Gewohnheit des Orients, die Allegorie bis zur Spitzfindigkeit zu gebrauchen« (ebd., 125). - Ähnlich argumentiert auch Jellinek: »Der Kabbaiist [...] mußte aber vor den neuen, gefährlichen, der Mißdeutung leicht ausgesetzten Ideen [...] zurückschrecken; und es ist ganz naturgemäß, daß die kabbalistische Lehre [...] einen

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genen Geistes gefolgt; die Ideen, welche sie in die heiligen Bücher hineingetragen

haben [...] sind ganz ihr Eigenthum und bilden ein originelles, wahrhaft großes

System«.334 Die eigentümliche Form der kabbalistischen Schriften kann damit nur

privativ bestimmt werden als Allegorie, die noch am Buchstaben haftet bzw. »noch

an eine äußere Macht des geoffenbarten Wortes gefesselt« sei.335

Gegenüber dieser »philosophischen« Lektüre kann Mol i to r gerade aufgrund

seiner mangelnden Distanz zum Gegenstand und seines theologischen Interes-

ses, in der Kabbala eine authentische und »wahrheitsfähige« Tradit ion zu sehen,

die Eigenheiten der kabbalistischen Exegese und ihres Wahrheitsbegriffes sehr

viel deutlicher herausarbeiten, und insbesondere die Logik des doppelten - eso-

und exoterischen - Schauplatzes der Tradit ion herausarbeiten. Mol i to r wil l die

Kabbala ernst nehmen - gerade daher hat auch die Herkunft der Schrift eine Be-

deutung für ihn: Wenn die kabbalistische Exegese nicht nur eine »Klugheitsre-

gel« sein soll, sondern zu Recht einen Anspruch auf Gültigkeit hat, dann ist auch

die Form der Schrift entscheidend. Moli to r besteht daher darauf, daß man, wolle

man nicht den Glauben verlieren, alles retten müsse: Die »Neologen«, die eine

Inauthentizi tät auch nur der Vokalisierung annehmen, wüßten nicht, »daß sie

durch diese scheinbar ganz irrelevante Behauptung die Grundfeste der ganzen

Religion untergrüben. [...] Das Gebäude der Religion ist ein festes, sich gegen-

seitig stützendes Werk, aus dem man keinen Stein herausnehmen kann, ohne

daß das Ganze dem Einsturz Preis gegeben wird.«336

geheimen Unterricht bildete, sich nicht hervordrängte, in ihrem ersten Stadium nur We-nigen bekannt war.« (Jellinek in Franck, Die Kabbala, IX) Franck, a.a.O., 34f. - Dieses System ist ein hegelianischer Pantheismus, was uns hier nicht zu interessieren braucht. Vgl. auch Idel (Kabbalah, 8f) über diese idealistischen Interpretationen der Kabbala, allerdings überschätzt er aufgrund einiger Zitate bei weitem die Affinität dieser Positionen zu Scholem. Franck, a.a.O., 285. - Zwar habe »die Allegorie aus dem heiligen Buchstaben bald ein geschmeidiges Zeichen gemacht, das alles, was man wünscht, ausdrückt [...], allein es kann nicht bestritten werden, daß ein solches Verfahren, es geschehe aus Berechnung oder aus einer reinen Illusion, ein die wahre Philosophie beeinträchtigendes Vor-urtheil heilig spricht. Dadurch hat die Kabbala [...] ungeachtet des Pantheismus, der allen ihren Lehren zum Grunde liegt, einen religiösen und nationalen Charakter.« (Ebd., 285) Molitor, Philosophie der Geschichte, Bd. I, 442. - Bei der Untersuchung des Schrif-tursprungs komme es »hauptsächlich darauf an, welchen Begriff man von der Bibel hat«: Wer in der Bibel »blos ebräische Nationalmythe« sehe, für den werde auch ihre Sprache und Schrift keine Sonderstellung haben. »Wer hingegen glaubt, daß die Bücher des alten Bundes aus göttlicher Offenbarung geflossen [...] der wird sich viel leichter zur Annahme des primitiven Alters der Vokale gestimmt fühlen« (ebd., 384). Denn »schwerlich wird Gott 2. Ms. 32,16 mit der phönizischen Kaufmanns-Schrift auf die Tafeln geschrieben haben« (ebd., 335).

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Moli tor s enge Verbindung zwischen Sprachphilosophie, Geschichtsphi loso-

phie und Apologie der Kabbala zieht Scholem schnell an und läßt ihn, zumin-

dest polemisch, zum »Traditionalisten« werden: »Den jüdischen Gottesbegriff

begreift man nicht, »erlebt« man nicht, wenn man nicht Got tes Werk kennt,

Got tes Tat. Gottes Tat aber ist die »Tradition«, die »Thora«. Thora ist nicht der

Pentateuch allein, Thora ist der Inbegriff, das Integral der jüdischen Über l ie-

ferung« (Br I, 48).337 Wie wi r noch sehen werden, setzt sich Scholem zu dieser

Zeit selber gerade mit den »Neologen« auseinander, insbesondere mit der histo-

rischen Krit i k des Alten Testaments (s. u. Kap. 3.3), gegenüber deren Skepsis

ihm Mol i to r eine wichtige Stütze ist.338 Wie bei Mol i to r scheint die Geschichte

nur die Oberfläche einer Heilsgeschichte, die im Volk Israel verkörpert ist. Das

Judentum »hat« also keine Geschichte, sondern es »ist« die Geschichte:

Die Gleichung Historie = Thora sagt vielleicht dies wesentliche Moment aus, die Thora ist die Historie, die Geschichte der Thora ist die innere Geschichte der Welt, der historische Prozeß spielt sich in der Entfaltung der Thora ab. Die Geschichte ist die Wissenschaft von den inneren Gesetzen der Thora, freilich eine Geschichte, die noch nicht behandelt und untersucht ist. Molitor hatte eine Ahnung davon, aber er sieht es christologisch, und man muß es jüdisch sehen. Das wäre dann eine wahrhafte Ideologie des Zionismus. (T I, 405)

Wie wi r sehen, entgeht es Scholem nicht, daß Mol i tors Entwurf letztl ich auf

einer christologischen Auffassung der Hei lsgeschichte beruht, die Scholem

zwar vehement ablehnt, an deren Stelle er aber zunächst nichts anderes stellen

kann.339 Zunächst führt die Beschäftigung mit Mol i to r daher auch weniger in

337 Der Begriff der »Tradition« hat dabei immer auch eine polemische Funktion, insbes. gegen Bubers Erlebnis-Mystik: Mystik und Tradition würden im Judentum »als we-sentlich und zentral verknüpft und verbunden erscheinen: keine Mystik ohne Tradi-tion. Die jüdische Mystik baut sich nicht [...] auf ein Erlebnis auf, sondern - dem Einen ein Ärgernis, dem anderen eine Torheit: auf Tradition.« (Br I, 50)

338 Vgl.: »Im letzten wird sich die historische Skepsis nur vom Judentum aus überwin-den, durch den jüdischen Begriff der Tradition. Das Judentum ist die Historie selber. Es liefert auch den historischen Maßstab, den man wirklich an alle Dinge anlegen darf« (T I, 409).

339 Diese Wendung gegen Christologie findet sich immer wieder, diese ist Rückfall in den Mythos (vgl. T II , 180f). Besonders deutlich (weil scheinbar ganz unvermittelt) in einem Text von 1919/20: »Nur einem steht dieses Leben in allen seinen Ordnungen unversöhnlich und unerbittlich gegenüber: jeder, aber auch jeder Christologie. Hier liegt der Tod unserer Substanz. Zionismus ist der stumme, furchtbare Krieg dage-gen.« (T II , 623) - Auch im Umkreis der Diskussion über Blochs Geist der Utopie polemisiert Scholem scharf gegen dessen Christologie, vgl. den Brief von 1920, alle Verfälschungen, die Bloch in diesem Buch am Judentum vornehme, seien »nur Aus-strahlungen der zentralen Christologie, die uns dort untergeschoben wird. Das Cor-pus Christi in irgendeinem Sinne als die Substanz unserer Geschichte zu erfassen, das

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die Geschichtsphilosophie, sondern sie verändert in aufschlußreicher Weise sein Bild von der Bibel. Noch im August 1916 - also vor der Lektüre von Molitor -bezeichnet er die Bibel als »Arsenal der Gottessehnsucht und Gottessicherheit«, als Werk »religiöser[r] Übermenschen« (T I, 376), jetzt korrigiert er sich: die »Göttlichkeit der Bibel« liege nicht in ihrer »Menschlichkeit«, sondern »noch sechs Welten tiefer, sie liegt im letzten Sinne nicht im mythischen, sondern in dem [...] Bilde von der Historie, das sie [die biblischen Schriften] haben. Das Judentum ist die Historie selber, und weil es die absolute Wahrheit ist, ist die Bibel, ist die Thora göttlich, deshalb darf man aus der Bibel etwas beweisen« (T 1,411)

Damit zielt Scholem offensichtlich auch auf eine neue Interpretation der ei-genen exegetischen Praxis: Die neue Auffassung der Bibel bringt ihn in die Nähe zur orthodoxen Auffassung der Thora. Wie wir noch sehen werden (Kap. 2.6.3), setzt er sich zur Zeit seiner Molitor-Lektüre auch verstärkt mit Samson Raphael Hirsch auseinander, der ebenfalls gegen alle Neologen von der Göttlichkeit der Bibel und der gesamten Tradition ausgeht.340 Wie Molitor wil l Hirsch die Tra-dition restaurieren, indem er ihr eine neue Gestalt gibt. Die großen Kommentar-und Übersetzungswerke Hirschs transportieren die klassische jüdische Exegese in neuer Form, wie wir sehen werden, macht auch hier gerade der Modernisie-rungsversuch die Fremdheit der Tradition besonders deutlich.

Gerade hinsichtlich der Begründung der absoluten Geltung der Thora bleibt Scholem skeptisch gegenüber Molitors unbefangen heilsgeschichtlicher (und christologischer) Lösung einerseits, gegenüber dem halachischen Positivismus Hirschs andererseits. Scholem versucht, in einer äußerst charakteristischen Weise, beide Lösungen philosophisch zu >überbieten<, indem er das Erkennt-nis- bzw. Wahrheitsproblem auf die Exegese überträgt: Die entscheidende Frage

ist mir nicht möglich« (WB, 114). - Es ist auf der Basis der vorhandenen Texte schwer zu entscheiden, ob es sich hier nur um eine interreligiöse Polemik handelt, oder ob dahinter auch eine Verwerfung des in der Christologie implizierten Gedankens der Vermittlung steht. Scholems Verhältnis zur Neo-Orthodoxie geht bereits auf die Vorkriegszeit zurück. Schon 1913/14 distanziert er sich, aus »Opposition, zwar nicht gegen die Göttlich-keit, die ich auch damals [1913/14] noch anerkannte, sondern gegen gewisse Einzel-heiten der mündlichen Tradition« (T I, 210). 1916 nähert er sich ihr wieder an, was ihm »höchst merkwürdig« ist, ihn aber auch mißtrauisch macht (ebd., 411). Zwar wisse er jetzt, daß »auch die trockenste »juristische« Diskussion des Talmuds eine re-ligiöse Angelegenheit« sei (ebd., 411), trotzdem nimmt er Anstoß an der Lehre von der Göttlichkeit der halachischen Diskussionen: »Denn das ist doch der Sinn dieser Lehre: daß man dem Menschengeist nicht die Fähigkeit zutraut, über Dinge des Le-bens normativ selbständig zu urteilen und deshalb alles, was als Gesetz gelten soll, auf Gott zurückführen muß, um ihm Anerkennung zu sichern« (ebd., 377).

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SYMBOL, SPRACHE UND »TRADITION« 189

sei nicht die nach der Göttlichkeit der Thora, sondern diese sei nur die »Hülle« für das »Wahrheitsproblem« (T I, 432): »Die Thora ist kein Gesetz, genauso-wenig wie das Judentum eine Religion ist. Die Thora ist die Überlieferung von Gott und den göttlichen Dingen und das Prinzip der allmählichen Wiederfin-dung der Wahrheit, die im Schriftlichen angedeutet ist, deren Verständnis aber verlorengegangen ist.« (Ebd., 433)341

Die Wahrheit der Thora wird damit zu einem Sonderfall eines allgemeinen Wahrheitsproblem, das Verhältnis von Sprache und Wahrheit erscheint an der Thora sogar »am ehesten und unproblematischsten: als Sprache Gottes muß sie notwendig Sprache der Wahrheit sein, jeder Wahrheit« (ebd., 421).

Diese Gedanken versucht Scholem in einer Notiz vom November 1916, Über die Forschungsweise der Talmudisten, zu entwickeln, indem er den neukantiani-schen Gedanken des Erfahrungskontinuums auf die Exegese überträgt. Scholem ist zu dieser Notiz wohl von Hirsch angeregt, von dem er aber in aufschlußrei-cher Weise abweicht: Während Hirsch das exegetische Vorgehen durch die positive Gültigkeit der einzelnen Gebote begründet, blendet Scholem das juri-disch-praktische Problem aus und konzentriert sich auf die Frage nach der Wahr-heit der Interpretation.342 Es sei das Problem des rein analytisch-logischen Denkens, daß es zwar zu »dauernd neuen Wahrheiten« führen könne, diese »Un-endlichkeit« aber »menschlich gesprochen gleichgültig sein würde« (T I, 438). Daher bedürfe es eines »Regulativs«: »Es ist die Thora, in der das Problem der Be-ziehungen der Sprache zur Wahrheit nicht gestellt werden braucht oder jedenfalls leicht lösbar gemacht wird, indem sie aus dem göttlichen Zentrum entsprungen gedacht wird« (ebd., 439).343 Durch dieses Regulativ unterscheide sich die talmu-

Vgl. Auch die Kriti k des Grundsatzes der Göttlichkeit der Thora: »Das zentrale Problem hier ist aber nicht ernenn [Abk. für: tora min ha-schamajim, die Thora ist vom Himmel], das ist nur die Hülle, sondern das Wahrheitsproblem. Woher weißt Du denn, daß die Wahrheit nicht gefunden werden kann? [...] Die Orthodoxie traut den Menschen nichts zu, sie traut ihnen nicht zu, gültige Wahrheiten zu finden.« (T 1,432) Hirsch vergleicht die talmudische Exegese ebenfalls mit der Naturforschung (Hirsch, Neunzehn Briefe, 104f), aber er sieht beide »positivistisch«: »Wie aber in der Natur dir die Erscheinung als Faktum dasteht, wenn du sie auch noch nicht nach Grund und Zusammenhang erkannt hast, ihre Existenz nicht durch deine Forschung bedingt ist, sondern umgekehrt; so stehen dir auch die Bestimmungen der Thauroh [Thora] als Gesetz da, hättest du auch noch von keiner Grund und Zusammenhang erforscht, und deine Erfüllung ist nicht durch deine Forschung bedingt.« (Ebd., 105) Das ist natürlich insofern nicht ganz konsequent, als ein Gebot eben keine Erscheinung ist. -Zu Hirschs Exegese s. u. Kap. 2.6.3. Vgl. auch: »Die Thora kann demnach mit Recht als die geistige Erfahrung der Tal-mudisten bezeichnet werden, um so mehr, als über ihre Geltung keinerlei Streit zwi-schen ihnen obwaltete.« (T I, 440)

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190 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

dische Exegese von bloßer Beliebigkeit, sie kann daher auch im Kantischen Sinne als wirkliche »Erfahrung« bezeichnet werden. »Was für die moderne Wissenschaft die Welt ist: In der alles eine Deutung hat und nichts verloren geht und deren Er-forschung mit Hilf e gewisser Grundannahmen und Regulative über das logische Schema hinaus eine unendliche Reihe sachlicher Wahrheiten liefert« das sei »im Geistigen für das talmudische Judentum [...] die Thora gewesen« (ebd., 442).

Die talmudische »Erfahrung« scheint in dieser Argumentation zwar die Wahr-heit der Thora vorauszusetzen, aber nicht die orthodoxe Auffassung der Gött-lichkeit der ganzen Überlieferung, die für Scholem ein menschliches Tun ist; unklar bleibt hier allerdings, wie das »Entspringen« der Thora aus dem göttli-chen Zentrum aufzufassen ist.344 Darüber hinaus scheint für Scholem schon hier aus dem »Gesetz von der Stetigkeit der Wahrheit« (ebd., 441) - das ja, wie wir bereits oben sahen, in Cohens Erfahrungsbegriff impliziert ist - zu folgen, daß dieses Tun nur insgesamt als auf Wahrheit bezogen verstanden werden kann, nicht dagegen der einzelne Akt und die einzelne Deutung.

Deutlich zeigt sich hier die Tendenz, die erkenntnistheoretischen Probleme auf das Gebiet der Exegese zu verschieben, umgekehrt auch die Exegese er-kenntnistheoretisch zu interpretieren. Der von Scholem in dieser Zeit immer wieder äußerst emphatisch verwendete Begriff »Thora« verbindet diese beide Seiten: Einerseits bezeichnet er für Scholem »das Prinzip, nach dem die Ord-nungen der Dinge gestaltet sind«, das er auch »Sprache Gottes« nennt, anderer-seits »das Integral, den Inbegriff der religiösen Überlieferungen der Judenheit« (Br I, 89). Die Thora im ersten Sinne sei »auch, und sogar in besonderer Weise, in den Überlieferungen der Menschen erkennbar«, denn Thora im Sinne des geistigen Prinzips und Thora im Sinne der Überlieferung seien zwar nicht »identisch« würden aber miteinander »koinzidieren« (Br I, 89).

Auch das ist mehr als eine Problemanzeige denn als eine Lösung zu sehen, denn das Verhältnis von Identität und Koinzidenz bleibt hier so dunkel wie die Frage des Entspringens. Es zeigt zugleich, daß mit der Wiederkehr der philo-sophischen (d. h. neukantianischen) Terminologie auch deren Probleme wieder auftauchen, insbesondere die kritische Frage nach dem legitimen Vernunftge-brauch. Damit spitzt sich zugleich das Problem zu, das Scholem später mittels der romantischen Terminologie zu lösen versucht: Wie kann man den empha-tischen Begriff der »Tradition« begründen, ohne einfach heilsgeschichtlich zu

Vgl. auch: »Absolut gesehen muß sich die talmudische Forschungsweise, die ja doch logisch nicht auf die Göttlichkeit, sondern vielmehr auf die Wahrheit der Thora sich stützt, sich auch ohne den Grundsatz der coon in min [tora min ha-schamajim, die Thora ist vom Himmel] begründen lassen, nur, daß dies unendlich schwer wäre, ja unmöglich in unserer Zeit schon, weil die absolute Wahrheit noch nicht gefunden zu sein scheint, deren Besitz hier Voraussetzung wäre.« (T I, 441)

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SYMBOL, SPRACHE UND »TRADITION« 191

denken; wie kann die Erfahrung der Exegese von einer bloß »dialektischen« Scheinerfahrung unterschieden werden?

2.3.3 Die Grenzen der Sprache und die Dichtung: Über Klage und Klagelied. Die Lektüre Molitors lenkt Scholems Aufmerksamkeit aber nicht nur auf das Ver-ständnis der Tradition, sondern belebt auch sein allgemeines Interesse an der Sprachtheorie, die er jetzt als »Wissenschaft, die in jeder Hinsicht erst geschaf-fen werden muß« bezeichnet (T I, 420). Im Mai 1917 bezieht er das, angeregt durch Molitor, auf die Kabbala: »Grundgesetz der mystischen Sprachauffassung: All e Sprache besteht aus Gottesnamen. Es scheint, daß von hier aus die Begrün-dung einer Sprachtheorie sehr leicht (verhältnismäßig, verhältnismäßig!) wird. Die Sprachtheorie der Kabbala hat bis heute keinen würdigen Bearbeiter gefun-den, gleich der ganzen Kabbala selber. O Gerhard Scholem, was hättest Du noch alles zu tun?« (Ebd., 472)

Zunächst scheint es, als sei von hier aus das Problem einer wahrheitsfähigen Tradition lösbar, aber Scholem folgt diesen Überlegungen in der nächsten Zeit nicht. Die in der Kabbala angedeutete Sprachtheorie läßt sich für sich nicht entfalten, sie bedarf eines Umweges, der diesmal weder Mathematik noch Geschichtstheorie, sondern Poetik ist.345 Entscheidend für diesen Versuch ist wahrscheinlich die Begegnung mit Benjamin, der sich bekanntlich zur selben Zeit ebenfalls mit Sprachtheorie beschäftigt und dabei stets auch implizit poe-tologisch reflektiert. Am Schluß seines Aufsatzes Über die Sprache desschen und die Sprache überhaupt unterscheidet Benjamin zwei Aspekte der Sprache: Die Sprache ist Namen, insofern in ihr sich der geistige Gehalt der Dinge mitteilt; sie ist aber zugleich Symbol eines Nicht-Mitteilbaren.346 Scho-lem greift auf diesen von Benjamin kaum ausgeführten Gedanken des Symbo-lischen zurück und beansprucht, die Arbeit Benjamins fortzuführen. Im August

Nach Idel entwickelt Scholem seine frühesten Ideen zur Sprachtheorie in der Kab-bala anhand einiger Texte Abulafias, die in seinem späteren Werk eine auffallend geringe Rolle spielen, vgl. Idel, »A. Abulafia, G. Scholem ...«. Die Verlagerung des In-teresses auf die theosophische Kabbala scheint daher auch auf eine Verlagerung des Interesses von der Theorie der Namen zu einer der historischen Symbole und der Tradition zu sprechen. Für sein Interesse, die Kabbala als historische Artikulation des Judentums lesbar zu machen, ist die semiotische Theorie Abulafias wohl tatsächlich wenig geeignet. Vgl. insbes. Benjamin, Ges. Schriften, II/l , 156f, mit der Dimension der »Mitteilung« ist dabei nicht die kommunikative Funktion der Sprache gemeint; vgl. hierzu Men-ninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, lOff. Benjamins Theorie wird hier trotz ihres außerordentlich großen Einflusses auf Scholem nur gestreift, weil sie zum Verständnis von Scholems Überlegungen nicht unabdingbar ist; sie wird im nächsten Kapitel stärker im Vordergrund stehen.

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192 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

1917 schreibt er an Werner Kraft, Benjamins Arbeit habe »eben zuerst »nur« die

unsagbare wichtige Arbeit geleistet [...], terminologische Klarheit zu schaffen«,

aber in ihr »fehlen natürl ich noch ganz fundamentale Teile, wie z. B. über das

Symbolische in der Sprache und die Theorie des Zeichens und der Schrift, die

meiner Ansicht nach erst zu den letzten Tiefen führt, da sie in Mathematik und

Religionsphilosophie die entscheidenden Fragen aufwirft.« (Br I, 85) Hier tau-

chen also auch die Fragen nach dem Verhältnis von Lautsprache und Schrift aus

Scholems Reflexionen über die Mathemat ik wieder auf, insbesondere das

Schweigen spielt in den Reflexionen der Zeit eine große Rolle. Im Herbst 1917

konstatiert Scholem: »Die Sprache geht vom Schweigen zum Schweigen. Dies

ist eine der tiefsten Wahrheiten der Sprache. Die Sprache liegt zwischen ihnen

als Medium des Schweigens.« (T II , 60).

Di e Begriffskonstellation von »Ursprung«, »Schweigen«, »Schrift«, »Symbol«

entwickelt Scholem in Über Klage und Klagelied, einem seiner zentralen esote-

rischen Texte von Anfang 1918, den er explizit als die geforderte Ergänzung zu

Benjamins Text auffaßt.347 Der Text ist eine Reflexion über die Form der jüdi-

schen Klagelieder, von denen Scholem gleichzeitig einige übersetzt; zugleich

stellt er eine Theorie der Dichtung dar, denn die Klage wird Scholem zum Pa-

radigma der jüdischen Dichtung schlechthin.348 Die Ästhet ik des Verschwin-

dens, die er hier entwickelt, ist von großer Bedeutung für die Zuspitzung seines

Vgl. auch T II , 88 über den Anspruch der Fortsetzung der Benjaminschen Arbeit. Ein Brief Benjamins an Scholem, der insbesondere die Frage des Symbolischen erörterte, ist verloren. - Scholems Reflexionen haben durchaus existentielle Untertöne, sie be-ziehen sich auf die Vereinsamung des asketischen Ethos und - Liebeskummer. Im Dezember 1917 schreibt er, er habe »Dinge aus den letzten Tiefen meines Herzens niedergelegt, und es ist wohl kaum ein Mensch auf der Erde, der es ganz versteht« (ebd.). Vgl. auch: »Die Klageliedarbeit, angesehen als Beschreibung meines inneren Zustandes. Wer sie dann nicht versteht, muß von Gott verlassen sein.« (Ebd., 149) An Grete Bauer: »Du wirst die Arbeit über die Klage im tiefsten verstehen, wenn du sie als Bekenntnis meines Zustandes liest - und sicher ist sie das auch.« (Br I, 144) Diese Arbeit hat jüngst Weigel interpretiert als »Verkehrung« bzw. als »Formulierung vom umgekehrten Ort« gegenüber Scholems späten Reflexionen über das Verhältnis von Kabbala und Literatur: »Wenn dort die Dichter als Bewahrer eines Wissens um das Geheimnis beschworen werden, entspringt hier die Dichtung aus der Tradierung eines Erlöschens der Worte« (Weigel, »Scholems Gedichte und seine Dichtungstheo-rie«, 32). In beiden Fällen gehe es um eine »Negation der Aussage«, aber diese stehe im Klagelied-Aufsatz »in einem gänzlich anderen Verhältnis zur Offenbarung als das Bedeutungslose des göttlichen Namens: nicht im Zentrum der Offenbarung, sondern in Entgegensetzung zu ihr« (ebd., 29). »Damit ist die Klage als sehr komplexe Figur gefaßt: als Tod der Sprache in Form einer sich wiederholenden, auf das Symbol hin ausgerichteten Bewegung ihres Verlöschens, als wiederholte Artikulation, in der jegli-ches Symbolisierte verlischt bzw. vernichtet wird.« (Ebd., 31) - Sigrid Weigel verdanke ich auch zentrale mündliche Anregungen zu Scholems Verständnis von Ästhetik.

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SYMBOL, SPRACHE UND »TRADITION« 193

Symbolbegriffs und zeigt, daß hier nicht religiöse Literatur ästhetisch verstan-den wird, sondern umgekehrt Poesie mit anti-ästhetischen theologischen Kate-gorien bzw. mit ästhetisch neutralen Kategorien wie Schrift denkt.

Wie Benjamin unterscheidet Scholem zwischen zwei Reichen der Sprache, zwischen »dem des Offenbarten, Äussprechlichen, und des Symbolisierten, Verschwiegenen« (T II , 129). Er thematisiert nun nicht direkt die andere Seite der Sprache, entwickelt also nicht etwa eine Theorie des mathematischen Sym-bolismus, sondern spricht über die Grenze zwischen diesen Reichen. Diese zeige sich in der Klage, die nicht nur (wie jede Sprache) an beiden Reichen teil-habe, sondern »durchweg auf der Grenze, genau auf der Grenze dieser beiden Reiche« angesiedelt sei. (ebd., 128)

Diese Grenze ist von zentraler Bedeutung für die Idee einer wahrheitsfähigen Tradition, die hier unter dem Begriff der »Lehre« angesprochen wird: »Es ist eine Frage von sehr hoher Bedeutung, welchen Anteil die symbolischen Gegenstände an jenem Zusammenhang der Dinge haben, dessen Idee wir als Lehre bezeich-nen. Die Lehre umfaßt nicht nur die Sprache, sie umfaßt in besondere Weise auch das Sprachlose, das Verschwiegene, zu dem die Trauer gehört.« (Ebd., 131)

Die Klage gibt dem Lautlosen an der Sprache Ausdruck und ist damit wich-tiger Teil einer Sprache im weiten Sinn.349 Sie gibt auch der Lautlosigkeit selbst Ausdruck, denn sie ist »nichts als Sprache an der Grenze, Sprache der Grenze selbst« (ebd., 128). Benjamin hatte den Namen als Sprache der Sprache bezeich-net, insofern als sich in ihm die mitteilende Dimension der Sprache originär ma-nifestiert. Für Scholem hat die Klage eine ähnliche Stellung , insofern sie gerade die zentrale Grenze der Sprache manifestiert, zeigt sie etwas an der Sprache als solcher: »Und darum auch kann die Klage sich jeder Sprache bemächtigen: immer ist es der nicht leere, aber erloschene Ausdruck, in dem sich ihr Sterben-wollen und Nichtsterbenkönnen verbinden. Der Ausdruck des innerlichst Aus-druckslosen, die Sprache des Schweigens ist die Klage.« (Ebd., 131)

Als Sprache des Schweigens ist sie auch reine Sprache, in der sich die Sprach-lichkeit der Sprache ungebrochen manifestiert, wenn auch im Negativ jener reinen Sprache der Namen: »Solange die Unantastbarkeit des Schweigens nicht gefährdet ist, so lange werden Menschen und Dinge klagen, denn eben dies macht ja den Grund unserer Hoffnung auf Restitution der Sprache, auf Versöhnung aus: daß zwar die Sprache den Sündenfall erlitten hat, das Schweigen aber nicht.« (Ebd., 133)350

Vgl. auch die spätere Formulierung: »Das geistige Wesen des Menschen ist die Spra-che; hier muß die Sprache aber das Schweigen mit umfassen, denn sonst ist es nicht wahr.« (T II , 158) Vgl. zu diesem Scholems Äußerung in einem Dankesbrief von 1965 für Werner Webers Aufsatz »Wiederherstellung der Sprache«: »Ich war betroffen über die Formulierung

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194 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Aber die Klage ist nicht »reines« Schweigen in dem Sinne, daß sie nichts als

Schweigen wäre; sie ist zugleich die Sprache des Schweigens. Auch wenn die

Sprache genau auf der Grenze zwischen Mitteilung und Symbol steht, ist sie bei-

den gegenüber nicht gleichgültig: »Sie ist nicht symbolisch, sondern deutet nur

hin aufs Symbol, sie ist nicht gegenständlich, sondern vernichtet den Gegen-

stand.« (Ebd., 128) Die Klage verliert ihren Gegenstand bzw. löst ihre Mitteil -

barkeit auf, sie ist »labile Sprache« (ebd., 129), die nicht bei sich bleiben kann:

»Die Sprache in der Beschaffenheit der Klage vernichtet sich selbst, und die Spra-

che der Klage selbst ist eben darum die Sprache der Vernichtung. Alles ist ihr aus-

geliefert, in jedem gleichsam versucht sie von neuem das Symbol, und in jedem

muß es scheitern, weil sie Grenze ist.« (Ebd.) Diese destruktive Bewegung der

Klage best immt Scholem auch von ihrer gegenständlichen Seite her, indem er

ihren Gegenstand als Trauer bezeichnet, die selber nicht eigentlich ein mitteilba-

rer Gegenstand sei, sondern eine symbolische Beschaffenheit an allen Dingen.351

Di e Klage ist wesentlich Sprachvernichtung, in ihr löst sich das Beklagte auf,

insofern sich die Klagelieder selbst von einer verständlichen Mittei lung in die

bloße Rezitation und den Rhythmus auflösen.352 Die Klage ist also nur rein, in-

sofern sie eine Bewegung ist: »Und nur die immer wiederkehrende Gewalt des

Grenzphänomens bewahrt die Klage davor, stabil zu werden, d. h. aber nichts

anderes als symbolisches Geschwätz« (Ebd., 133).353

Di e Klage wird aber nicht nur als eine Grenze in der Sprache gedacht, son-

dern auch anderen Sprachen gegenübergestellt. Ihr Gegenüber ist dabei nicht

»Wiederherstellung der Sprache ist Mitarbeit zur Versöhnung«. Vor fast 50 Jahren schrieb ich als 20-jähriger Bursche eine Arbeit über Klage und Klagelied, die fast wört-lich mit diesem Satze endete und von unserer Hoffnung auf »Restitution der Sprache, auf Versöhnung« sprach.« (Br II , 146)

351 »Die Trauer ist eine Beschaffenheit an jedem Ding, ein Zustand, in den alles geraten kann [...] . Freilich aber liegt die Trauer vollkommen im Bereich der symbolischen Gegenstände: Sie bezeichnet an jedem Ding die erste Ordnung des Symbolischen.« (T II , 130) - Scholem orientiert sich wohl an Benjamins Bestimmung der Trauer als Ausdruck der Stummheit der Natur, vgl. Benjamin, Ges Schriften, I I / l , 155f. Vgl. auch Scholems spätere Aufzeichnung T II , 615f.

352 Scholem scheint hier vor allem die Prosodie der Klagelieder vor Augen zu haben: Die »Monotonie ist das tiefste sprachliche Symbol des Ausdruckslosen [...] Jedes Wort erscheint nur, um zu sterben.« (T II , 132) Bei Hiob spricht Scholem von der »sprach-liche ] Gestalt des Zerfließens« (T II , 456)

353 Hierher gehört auch der Bezug der Klage zu Mythos und Magie: Auch das Klagelied hat eine mythische Kraft (T II , 132), aber sein Mythos ist gebrochen, denn »hier zer-bricht der mythische Zauber zu dem unerhörten sprachlichen Phänomen der Grenze« (ebd.). Später schreibt Scholem, die Klage sei wesentlich Übergang, Verwandlung der Natur (T II , 382); sie hätte in die jüdische Literatur aufgenommen werden können, weil die mythische Klage mit der unmythischen Hoffnung verbunden worden sei (TU, 3910-

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SYMBOL, SPRACHE UND »TRADITION« 195

die Sprache der Freude, die wie Scholem betont, durchaus einen Gegenstand hat (ebd., 128). Die Klage als Sprache der Sprache hat kein Gegenüber in der Men-schensprache, weshalb ihr dort auch nicht geantwortet werden kann: »Es gibt keine Antwort auf die Klage, das heißt, es gibt nur eine: das Verstummen. [...] Nur einer kann auf die Klage antworten, Gott selber, der sie durch die Offen-barung aus der Revolution der Trauer hervorrief.« (Ebd., 130)

Wir werden unten sehen, daß Scholem diese Antwort als ironischen Dialog denkt, d. h. nicht als »echte«, direkte Antwort. Das ist aber erst möglich, wenn die Kategorie der Offenbarung entwickelt ist, die nicht nur sprachlich, sondern auch juridisch - als Antwort auf die An-Klage nämlich - gedacht ist (dazu s. u. Kap. 2.5). Im Zusammenhang des Klagelied-Aufsatzes wird der Begriff Offen-barung dagegen nur provisorisch im sprachphilosophischen Sinne verwendet, und zwar als Gegenbegriff zur Klage. In einer Aufzeichnung außerhalb des Auf-satzes bezieht Scholem das Begriffspaar auf den Sprachursprung: »Die beiden polaren Sätze: das Schweigen ist der Ursprung der Sprache, und: die Offen-barung ist der Ursprung der Sprache, als identisch zu erweisen, ist die höchste Aufgabe der Sprachmetaphysik.« (T II , 158)354 Das Schweigen ist hier nicht als Stummheit vor der Sprache zu verstehen, sondern als Verlöschen der Sprache in der Sprache selbst, wie es die Bewegung des Klagelieds markiert.

Diese Bewegung bezeichnet Scholem auch als Dichtung: »Jede Klage kann als Dichtung angesprochen werden, denn eben ihre besondere Grenzhaftigkeit zwischen den sprachlichen Reichen, ihre tragische Paradoxie macht sie dazu.« (Ebd., 131) Damit gibt der Aufsatz auch eine Bestimmung der Dichtung, wenn er die Klage folgendermaßen charakterisiert:

»Die unendliche Spannung, die sich in der Klage an jedem Wort entzündet [...], die unendliche Gewalt, mit der jedes Wort sich selbst verneint und in die Unendlich-keit des Schweigens zurücksinkt, in der seine Leere zur Lehre wird, vor allem aber die Unendlichkeit der Trauer selbst, die in der Klage sich als Rhythmus vernichtet, erweisen sie als Dichtung.« (Ebd., 132)

Dichtung scheint für Scholem ebenfalls zwischen Mitteilung und Symbol ange-siedelt, sie ist eine unendliche Bewegung, die im Gesagten das Nicht-Sagbare hervortreten läßt. Dieser »klagende« Charakter der Dichtung ist ihr durchaus we-sentlich und stellt ein wichtiges Kriterium in Scholems literarischen Urteilen dar: In Mörikes Maler Nolten erscheine zwar manchmal eine »Stille [...], die zur Klage aufzurufen scheint«, aber »die reine Klage wird in diesem Buche nicht

Scholem verwendet hier bereits die Cohensche Begrifflichkeit des Ursprunges (dazu s. o. Kap. 2.2): »Schweigen ist der Ursprung der Sprache - man sollte zwischen Ur-sprung und Entstehung scheiden - und verhält sich zum nicht-Reden wie das Nichts zum Nicht.« (T II , 139) Er kritisiert, daß im Klagelied-Aufsatz »die Definition des Schweigens vom Standpunkt der Sprachtheorie« her fehle (ebd.).

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196 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

gehört, der Irrtum, auf dem es sich gründet, ist die Meinung, daß man klagen könne ohne gesprochen zu haben« (TII , 193). Noch schärfer kritisiert er Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die voller gespenstischer Zweideu-tigkeit sei und die Klage nur pervertiere, um sich gegen die mythische Ordnung des Rechts zu wehren (vgl. ebd. 294ff).

Ist Dichtung wesentlich Klage, so steht sie als zweiter Ursprung der Sprache der Offenbarung gegenüber.355 Diese Konstellation, nicht der in ihr erschei-nende Gegenstand und nicht das in ihr Symbolisierte, charakterisiert sie als Dichtung. Sowohl die mathematischen als auch die theologischen Elemente in Scholems Sprachauffassung führen so dazu, daß er zu genuin ästhetischen Fra-gestellungen keinen Zugang findet; an ihre Stelle treten die Begriffe von Offen-barung, Tradition und (heiliger) Schrift. Im Sommer 1917 schreibt er an Kraft: »Mir selbst ist - ich weiß nicht, ob ich nach meinen Ansichten leider sagen kann - die ästhetische Sphäre so wie überall auch in der Sprache durchaus un-erreichbar, ja vielmehr unsichtbar, da ich mir absolut nicht vorstellen kann, wo in der Welt ästhetische Ordnungen existieren.« (Br I, 86) Scholem entwickelt seine weiteren Reflexionen nicht als Ästhetik, sondern vertieft die Frage nach der Traditionalität der Sprache. Damit verschiebt sich zugleich das sprachtheo-retische Interesse von einer objektiven Reflexion über sie mehr und mehr zu einer Reflexion über das eigene Schreiben, die im Kontext von Scholems Aus-einandersetzung mit der Romantik untersucht werden soll.

355 Sie kann als Tradition von der Offenbarung verstanden werden: »Daß die Klage tradiert werden kann, gehört zu den großen, wahrhaft mystischen Gesetzen des Volkstums.« (Ebd., 131)

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 197

2.4 >Tradition<, >Mystik< und Krise: Die Rezeption der Frühromantik

Di e Probleme von Sprache, Wahrheit und Tradit ion beschäftigen Scholem in

den Jahren 1917 und 1918 permanent und intensiv, allerdings bedient er sich

dabei zunehmend weniger der sprachtheoret ischen oder (neu)kantianischen

Terminologie - letztere wird mit der gleichzeitigen Enttäuschung über Cohen

verworfen - , als der Terminologie der Frühromant ik, wie »Ironie«, »Witz«, »Frag-

ment«, »System« und »Medium«. Romantische Autoren hatte Scholem schon früh

rezipiert, und man hat auch oft eine besondere Nähe zur Romant ik in seiner

H inwendung zur Vergangenheit und seiner Vorliebe für die Myst ik gesehen.356

So richtig das sein mag, wollen wi r jetzt nicht diesen diffusen Romantiz ismus

untersuchen, sondern die durchaus nicht in diesem Sinne »romantischen« Refle-

xionen des jungen Scholem, in denen das Problem der Tradit ion weiter entfal-

tet wird. Das wird allerdings dadurch erheblich erschwert, daß Scholem auch

die fragmentarische Form übern immt; die systematischen Zusammenhänge

werden wenn überhaupt nur vor dem Hintergrund von Benjamins breiter aus-

geführten Deutung der Frühromant ik erkennbar. Das scheint mir auch deshalb

angeraten, weil Scholem gerade in dieser Phase in engstem Zusammenhang mit

Benjamin steht und denkt.357

Es wird sich zeigen, daß die Terminologie der Frühromant ik zum einen dazu

dient, das Problem der Tradition auf die erkenntniskritischen Fragen zu beziehen,

die sich im Anschluß an die Kant-Lektüre ergeben haben (2.4.1). Die Frühro-

Vgl. dazu etwa T 1,157,215. - Bisher hat in der Sekundärliteratur immer die Beziehung Scholems zur Romantik in einem sehr allgemeinen Sinne eine Rolle gespielt, der eher auf die jüdische Neuromantik als auf die Frühromantik zutrifft: So etwa Bialehom Scholem, 36ff) oder Alter, der einschränkt, daß »the Romantic quest for an orga-nism of national history and a perspective on a national future could well be taken as the thumbnail program of Scholem's enterprise. If however, that enterprise can in one aspect be described as Romantic, it is a hard-headed, shrewdly sceptical Romanticism, and a Romanticism steeped in the bitter juices of modern experience.« (Alter, »The Achievement of Gershom Scholem«, 72)

Auch Benjamins Arbeit bemüht sich dabei nach Menninghaus »so schroff wie mög-lich mit depravierten Vorstellungen des »Romantischen« - im Sinne einer formlosen Poesie des Unbewußten oder der dunklen Nachtseite der Erfahrung - zu brechen« (Menninghaus, Unendliche Verdoppelung, 52). Menninghaus« Arbeit, die sehr scharf die Bezugspunkte und Tendenz von Benjamins Lektüre der Romantik herausarbei-tet, ist mir hier eine wichtige Stütze. Eine gute Darstellung, die auch den Bezug zur Beschäftigung mit Kant herausstellt, gibt auch Steiner, Die Geburt der Kritik, 17ff.

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198 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

mantik ist aber zweitens deshalb interessant, weil sie einen vertieften bzw. zuge-spitzten Begriff der »Mystik« impliziert, der nicht nur für Scholems spätere Inter-pretation der Kabbala, sondern auch Scholems eigene Denk- und Schreibweise fundamental ist (2.4.2). Drittens schließlich stellt die Frühromantik für Scholem auch eine Parallele zur eigenen Gegenwart dar, insofern auch die Romantiker vor dem Problem der Aneignung der Tradition stehen (2.4.3). Insgesamt werden wir sehen, daß die Rezeption der Frühromantik zum einen zu einer Verschärfung des Problems einer Wahrheitsform der Tradition und zum anderen zur Selbstreflexion von Scholems Schreiben führt, dergestalt, daß sein Reden über Tradition zuneh-mend zu einer Rhetorik des eigenen Schreibens wird.

2.4.1 Die Theorie des Reflexionsmediums. Wenn Scholem von der »tiefen, durchaus unsichtbaren Beziehung der Romantik auf Kant« spricht (T II , 315), folgt er Benjamin, der ihm bereits im Sommer 1916 schreibt, die Romantiker versuchten, »das an der Religion zu leisten, was Kant an den theoretischen Gegenständen tat: ihre Form aufzeigen. Aber gibt es eine Form der Religion?? Jedenfalls dachte sich die Frühromantik etwas dem Analoges unter der Ge-schichte.«358 Benjamin liest also die Romantiker, um die transzendentale Frage nach der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung auf die Religion zu über-tragen, indem er wie Kant auf die formalen Bedingungen der Erscheinung des »Gegenstandes« Religion reflektiert. Erst im Verlaufe der Dissertation, also gut zwei Jahre später, kommt Benjamin auf diese Ideen zurück, jetzt konzentriert er sich nicht mehr direkt auf Religion und Geschichte, die Problemkonstella-tion ist aber immer noch durch den Anschluß an Kant bzw. durch den Versuch der Überwindung von Kants Zweistämmelehre bestimmt.

Wir haben bereits gesehen, wie bei Cohen der Kantische Begriff der »An-schauung« aufgelöst wird und an seine Stelle das Kontinuum der (wissenschaft-lichen) »Erfahrung« getreten ist. Benjamin versucht nun, dieses unendliche Kontinuum der Erfahrung zusammenzudenken mit dem frühromantischen Kon-zept der »Reflexion«, die ja eine gesuchte »höhere«, d. h. nicht-sinnliche Er-fahrungsweise darstellt. Ähnlich wie Cohen will Benjamin keine Fundierung auf einer ursprünglichen Passivität annehmen; an die systematische Stelle der Kanti-schen »Anschauung« setzt er die »Reflexion«, die von den Romantikern ebenfalls als unmittelbar gefaßt werde.359 »Reflexion« soll »ursprünglich« im Sinne Cohens

Benjamin, Briefe, 138. Es ist bezeichnend, daß er dabei eine Reihe von frühromantischen Äußerungen un-terdrückt, um seine Interpretation plausibel zu machen: Weder die romantische Theorie der intellektuellen Anschauung, noch die Deutung der Reflexion als Verge-genständlichung werden bei Benjamin erwähnt; Menninghaus spricht von einer »Umdeutung der Reflexion aus einer Gestalt mittelbaren und trennenden Denkens

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 199

sein, als nicht weiter hinterfragbarer Grund der Frage: »Erst mit der Reflexion

entspringt das Denken, auf das reflektiert wird. Daher kann man sagen, jede ein-

fache Reflexion entspringe absolut aus einem Indifferenzpunkt. Welche meta-

physische Qual i tät man diesem Indif ferenzpunkt der Reflexion zuschreiben

möchte, steht frei.«360 Die Reflexion ist daher »medial« im selben Sinne wie die

Sprache »medial« ist: Sie ist nicht ein Werkzeug, das auf bereits Gegebenes ange-

wandt wird, sondern ein Feld, in dem Gegenstände allererst zur Erscheinung

kommen, Benjamin spricht daher insgesamt von der romantischen Theorie auch

als Theorie des »Reflexionsmediums«.361

Zweitens und daraus folgend ist die Reflexion auch »unendlich« - sie hat kein

Äußeres, das sie begrenzt. Das wil l Benjamin nun aber von dem für Cohen zen-

tralen Begriff des »unendlichen Fortschritts« unterschieden wissen: Es sei für die

Romant iker »axiomatische Voraussetzung« gewesen, »daß die Reflexion nicht

in eine leere Unendlichkeit verlaufe, sondern in sich selbst substanziell und er-

füll t sei«, das Fortschrei ten der Reflexion sei »durchaus nicht das, was unter

dem modernen Ausdruck »Fortschritt« verstanden wird [...]. Sie ist, wie das

ganze Leben der Menschheit, ein unendl icher Erfüllungs-, kein bloßer Werde-

prozeß.«362 Weil das allerdings bloß behauptet wird, wird der entscheidende Be-

zu der Form »unmittelbaren« und »intuitiven Denkens'« (Menninghaus, Unendliche Verdoppelung, 32), und weist auf die »polemische Abwesenheit Schellings« in Ben-jamins Arbeit hin (ebd. 54), in welcher die ganze Frage nach dem »Grund« der Refle-xion systematisch ausgeklammert werde. Die Reflexion hat laut Benjamin keinen Grund im Gefühl für die Romantiker, denn diese »perhorreszieren Beschränkung durch das Unbewußte« (Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 36). Man sieht hier deutlich die anti-'romantizistische« Tendenz der Interpretation Benjamins. Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 39.

Diesen Ausdruck führt Benjamin ein, vgl. Ges. Schriften, Bd. I, 36f; vgl. ähnlich bei Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. II , 24. - Der Begriff des Mediums kommt bereits in der Sprachtheorie vor, in der die Sprache als medial bestimmt wird, bereits hier werden Unmittelbarkeit und Unendlichkeit als konsti-tutiv für das Medium bestimmt, vgl. Benjamin, a.a.O., Bd. II , 142ff. An anderer Stelle nennt Benjamin die »Verfälschung des Mediums zum Organ« eine »Verkehrung die mir für unsere Zeit kanonisch geworden zu sein scheint« (Benjamin, Briefe, 190). -Menninghaus betont den Zusammenhang von Sprach- und Reflexionstheorie, blen-det allerdings den Zusammenhang dieser Sprachtheorie mit der aus der Kant-Inter-pretation hervorgegangenen Fragestellung nach der philosophischen Systematik aus; daher erscheint Menninghaus« Interpretation des Fragmentcharakters als Sprache und des Indifferenzpunktes als differerance wenig überzeugend (vgl. ebd., 57f). Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 31, 92. - Das folge aus dem »historischen Wesen der Romantik« (ebd., 12), nämlich aus dem »romantischen Messianismus«, der in seiner Arbeit nicht dargestellt werden könne; Menninghaus hebt zu recht hervor: »Krasser hätte Benjamin ein Kernstück seiner Darstellung nicht der Beliebigkeit arbiträrer Ak-zeptanz aussetzen können.« (Menninghaus, Unendliche Verdoppelung, 37)

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200 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

griff der »Erfüllung« äußerst unklar. Aus dem weiteren Verlauf seiner Arbeit

wir d immerhin ungefähr klar, was sich Benjamin aus der »Erfüllung« im Bereich

der Kunstkrit ik denkt :3 63 Die kritische Reflexion sei dort deshalb eine »erfüllte«,

weil in den kritisierten Werken »Urbilder« präsent seien, weil auch das reine Me-

d ium der Idee der Kunst letztl ich durch seine Inhalte - hier mit Goethe als

»Ideal« bezeichnet - gebrochen sei: »Wie die innere Struktur des Ideals eine un-

stetige im Gegensatz zur Idee ist, so ist auch der Zusammenhang dieses Ideals

mit der Kunst nicht in einem Medium gegeben, sondern durch eine Brechung

bezeichnet.«364 »Erfüllung« stellt für Benjamin daher gerade nicht ein in die Zu-

kunft aufgeschobenes Erreichen dar und auch keine vollständige Vermitt lung

des zu Erreichenden in der Reflexion, sondern hat ein Moment des Bruches, der

Nicht -Deckung.

Scholem n immt diese Theor ie des Reflexionsmediums, um »die Würde der

Erkenntnis als einer unmit te lbaren Beziehung wiederzugewinnen« (T II , 74),

also um das philosophische Projekt der Überwindung des Kantischen Dual is-

mus fortzuführen. Während dieses Projekt bei Benjamin aber von parallelen

ästhetischen Reflexionen begleitet wird, bezieht Scholem den Gedanken des Me-

diums auf die religiöse Tradit ion. Für Benjamin hat die Figur »heiliger Texte«

immer eine paradigmatische Funktion, aber eben nur als Figur. Scholem versucht

dagegen, sie ernst zu nehmen - trotz großer Nähe zeigen sich schon hier gegen-

strebige Tendenzen, die das »symphilosophische« Projekt letztlich in zwei ver-

schiedene Richtungen ausführen wird: eine »mystische« Krit i k der Geschichte

und eine kritische Geschichte der Mystik.365

Benjamin grenzt später die Geltung der romantischen Reflexionstheorie auf den Be-reich der Kunst und ihrer Kriti k ein, verwirft dagegen die romantische Theorie der Naturerkenntnis, er behauptet, »daß nur in der Kunst, nicht aber in der Natur der Welt die wahre, anschaubarc Natur abbildhaft sichtbar würde« (Benjamin, Ges. Schriften, Bd. 1,113). Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 111. - Diese Brechung besteht darin, daß die Werke ihre Urbildern nicht »erreichen« können, »sie vermögen nur in mehr oder weniger hohem Grad ihnen zu gleichen« (ebd.). Es scheint mir von großer Bedeutung, diese unterschiedlichen Richtungen von Benja-mins bzw. Scholems Überlegungen hervorzuheben und Scholems Äußerungen nicht einfach nur als minder konsequente Formen der Benjaminschen Überlegungen zu lesen. Weigel betont die Unterschiede, die trotz der »Strukturanalogie« zwischen Ben-jamins und Scholems Überlegungen bestehen: »Während aber für Scholem ein Bedeu-tungsloses, der Name Gottes, den Ursprung markiert, als Möglichkeitsbedingung aller Bedeutung, betont Benjamin die Figur einer Zäsur«, nämlich des Verlustes einer para-diesischen Ursprache (Weigel, »Scholems Gedichte und seine Dichtungstheorie«, 24). Der Unterschied zeige sich auch an den verschiedenen Bildfeldern, während bei Ben-jamin vornehmlich visuelle Bilder (»Aufblitzen«) gebraucht werden, sind es bei Scho-lem vornehmlich Bilder der Stimme und der Schrift: »Genau genommen, erscheint

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 201

In den Thesen, die Scholem 1918 aus Tagebuchexzerpten zusammenstellt, be-nutzt Scholem mehrmals das Konzept des Mediums; die erkenntnistheoretische und die religiöse Begrifflichkeit werden (»Medium« bzw. »Lehre«) fest miteinan-der assoziiert: »In der Lehre gibt es weder Objekt noch Subjekt. Sie ist Medium.« (TII , 302)366 Als »Medium« religiöser Erkenntnis ist diese kein Hindernis der un-mittelbaren Erfahrung (des »Erlebnisses«) mehr und verkörpert auch nicht den nur im Sprung zu überwindenden Zeitabstand. Im Gegenteil: »In der Überlie-ferung hat die menschliche Gemeinschaft ein unmittelbares Verhältnis zu Gott.« (Ebd., 305) Die Überlieferung ist also kein bloßes Werkzeug mehr, das Abhilfe schafft für die Distanz Gottes zur Welt, sondern sie ist die Bedingung seiner Er-kennbarkeit bzw. die Sphäre seines Erscheinens. Offensichtlich wil l Scholem hier wie schon mit der Heranziehung der neukantianischen Terminologie zugleich das religiöse und das erkenntnistheoretische Problem »überbieten«.367

Eng verbunden mit diesen prinzipiellen Reflexionen sind aber auch konkrete Überlegungen zur religiösen Überlieferung und deren Sprachform, insbesondere zum Kommentar: »Kommentar, d. i. legitime Deutung, ist die innere Form der Lehre.« Der Gedanke des Mediums eröffnet erneut Zugang zur Frage nach der »jüdischen Form der Wahrheit«, die ihn im Anschluß an Molitor beschäftigt. Wie-der gewinnt dabei das »vielgeschmähte rabbinische Judentum« eine zentrale Be-deutung, insofern es die Frage ,«ob das geistige Wesen der Welt ausdrückbar sei«, bejaht habe »in der Tatsache seiner Literatur, d. h. mit einem sehr tiefgelegenen Begriff von »Kommentar«« (Br I, 86). Dieser Kommentar wird jetzt anders ver-standen als unter dem Einfluß der Molitor-Lektüre: Während Scholem in der Notiz über die Forschungsweise der Talmudisten die Exegese als »induktive« Er-fahrung im »Medium« der Thora beschreibt, spricht er jetzt - in einem thematisch ähnlichen Text Über talmudischen Stil vom Sommer 1918 - von einer Reflexion des Talmudischen in sich selbst: Auch der Talmud selbst (bzw. die mündliche Lehre) wird hier als Medium beschrieben, dabei geht Scholem vom Überwiegen der Frage im Talmud aus: »Der Talmud gründet sich auf die einzig legitime Art

seine kabbalistische Sprachtheorie nämlich als eine Theorie einer Schrift, in der die Spur des Geheimnisses auf die Abwesenheit einer Stimme verweist« (ebd., 27). Zum Ver-hältnis von Stimme und Schrift in Scholems späteren Reflexionen s. u. Kap. 2.7. Ähnlich formuliert Scholem das »Gesetz der talmudischen Dialektik« in neukantiani-scher Sprache: »Die Wahrheit ist eine stetige Funktion der Sprache.« (T II , 302) Vgl. auch: »Die Lehre ist das Medium, in dem sich der Lernende in den Lehrer verwandelt.« (Ebd.) Auch Scholems heilsgeschichtliche und politische Reflexionen lassen sich in der Ter-minologie des Mediums reformulieren: Die Lehre wird von Scholem jetzt bezeichnet als »Strom, der zwischen den Polen der Offenbarung und des messianischen Reiches strömt« (T II , 303), Zionismus wird zum »reinen Leben im Medium des Judentums« (ebd.).

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202 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

der Frage: auf die mediale«, diese »kennt keine Antwort, d. h. ihre Antwort muß wesensmäßig wieder eine Frage sein«; deshalb habe der Talmud »Potenzen belie-biger Höhe, die das Mediale doch niemals verlassen« (TII , 31 lf) . Der Cohensche Gedanke der sich potenzierenden »Dialektik« der Erfahrung als Austausch von Fragen (s. o. Kap. 2.2) wird hier offensichtlich auf die Überlieferung übertragen, samt seines ironischen Momentes: Die Lehre als »Medium« ist unendlich und kann nicht von außen begrenzt werden, daher sei der »Versuch der Antwort innerhalb der Jüdischen Ordnungen (z. B. des echten Dialogs) [...] zum Scheitern a priori bestimmt. Daher im letzten Grunde gibt es jüdische Religionsphilosophie [...] nur auf fremdem Grunde. Das System der Antwort ist, jüdisch gesprochen, das rein dämonische. Die Antwort ist der Zauber, der verboten ist.« (Ebd., 312)

Scholems eigene »Theorie des Judentums« kann damit auch selbst kein »System von Antworten«, also keine Dogmatik sein, sondern nur eine Theorie der Frage selbst: »Das Judentum kann nur einmal potenziert werden: in der Philosophie. Die Philosophie ist die autonome Antwort, nicht auf die Frage, die das Juden-tum stellt, sondern Antwort als Theorie der Frage.« (Ebd., 333) Ganz ähnlich wie Cohen bestimmt Scholem die Philosophie als jene Reflexion, die das Problem (den »Ursprung«) eines Gegenstandsbereiches bestimmt, indem sie nach dessen »Frage« fragt. Die wirkliche Philosophie hätte das Problem, das im Talmud nicht nur nicht beantwortet wird, sondern nicht einmal explizit wird, nicht zu lösen, sondern nur zu formulieren als »Problem des Problems«. Scholems vieldeutige Rede von der »Frage« eröffnet bereits die Möglichkeit, daß diese Philosophie nicht nur Philosophie des Talmuds sein wird, sondern auch eine talmudische Philoso-phie, die sich selbst als Frage in das Kontinuum der Fragen einordnet.

Was aber ist jenes nicht formulierte, aber gemeinte »Problem« des Talmuds, nach dem hier gefragt werden soll? Es scheint eben die Frage nach der »Erfüllt-heit« des Talmudischen zu sein, also nach dem, was die Potenzierung des Talmuds von der »schlechten Unendlichkeit« eines bloßen Fortschreitens unterscheidet. In Über den talmudischen Stil wird das durch die Frage nach den Grenzen des Tal-mudischen ausgedrückt: Auch wenn das »Medium« des Talmuds »unendlich« ist, bleibt es für Scholem doch irgendwie zurückbezogen auf den »kanonischen Stil, welcher der der Bibel ist«, dieser könne anders als der talmudische, nicht »po-tenziert« werden (T II , 312). Wie die Klage wird die Sprache des Talmuds einer anderen Sprachform gegenübergestellt. Das macht klar, daß die jüdische Tradi-tion mehr ist als ein bloßes Beispiel: »Der Kommentar ist die innere Form der mündlichen Lehre, nur in ihr vollendet er sich. Kommentar ist legitime Deutung: kommentiert werden kann also im letzten Grunde nur die Bibel, das absolute Schriftwerk.« (Ebd., 198) Durch diesen Bezug auf das Kanonische ist das Kom-mentieren keineswegs nur ein unendlicher und selbstbezüglicher Prozeß, es ist also eine wirkliche Erfahrung und nicht bloß ein »dialektisches« Spiel der Kasui-

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 203

stik. Auch diese »Erfüllung« wird sich - ähnlich wie das Verhältnis von Idee und Ideal bei Benjamin - als äußerst spannungsreiches und diskontinuierliches Ver-hältnis zeigen.

2.4.2 >Mystik<, >System< und >Fragment<. Die Rezeption der Romantik ist aber nicht nur wegen der Verschiebung der Kantischen Fragestellung in Richtung von Religion und Geschichte wichtig, sondern sie verändert auch die Form von Scho-lems philosophischem Schreiben. Zunehmend verschwindet der Anspruch, seine Gedanken in systematischer Form zu entwickeln, statt dessen schreibt Scholem -vor allem im Winter 1917/18 - sehr viele Fragmente und versucht auch immer wieder, diese in neuen Sammlungen anzuordnen. Auch dieser Formwandel hat durchaus einen Bezug zur Kantischen Problemstellung: Für Schlegel kann die »Mitteilbarkeit des wahren Systems [...] nur beschränkt sein; das läßt sich a pri-ori beweisen«.368 Anders als im deutschen Idealismus ist die Figur der »Reflexion der Reflexion« für die Frühromantiker nicht nur spekulativ - und damit kon-struktiv -, sondern auch kritisch, insofern sie problematisiert, wie eine nachkan-tische Philosophie überhaupt dargestellt werden könne. Wenn Schlegel Fragmente schreibt, die zugleich systematisch und unsystematisch sein wollen, handelt es sich also um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Systemgedanken avant la lettre: »Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden.«369

Diese Darstellungsform wird von Benjamin explizit als »mystisch« bzw. als »mystische Terminologie« charakterisiert. Friedrich Schlegel sucht »eine unan-schauliche Intuition des Systems, und er findet sie in der Sprache. Die Termino-logie ist die Sphäre, in welcher jenseits von Diskursivität und Anschaulichkeit

Schlegel, zit. nach Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 46. - Auch hier kann Scholem auf Benjamins Vorarbeit zurückgreifen, der in der Fragment-Form der Frühromantik »eine eigentümlich positive Tendenz« zu bemerken glaubte (Ges. Schriften, Bd. I, 45), denn hier nehme die Philosophie selbst »mediale« Form an: »Die Philosophie beginnt in der Mitte, bedeutet, daß sie keinen ihrer Gegenstände mit der Urreflexion identi-fiziert, sondern in ihnen ein Mittleres im Medium sieht.« (Ebd., 43) Schlegel, Werke, Bd. II , 173 (Ath. Fr. Nr 53). - Vgl. auch: »Hat man nun einmal die Liebhaberei fürs Absolute und kann nicht davon lassen: so bleibt einem kein Aus-weg, als sich selbst immer zu widersprechen, und entgegengesetzte Extreme zu ver-binden.« (Schlegel, a.a.O., 164 (Blütenstaub Nr. 26)) - Man kann hier durchaus eine Parallele zwischen Früh- und Spätromantik sehen, also etwa zwischen dem frühen Schlegel und dem späten Schelling, insofern beide dem idealistischen Systemdenken und dem Gedanken der spekulativen Vermittlung kritisch gegenüberstehen und an der Undarstellbarkeit des Absoluten festhalten (vgl. dazu etwa Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, 224ff). Wie erst neuerlich wieder hervorgehoben, sind die Frühromantiker nicht nur spekulative Fichteaner mit platonisierendem Einschlag, sondern auch Anhänger Kants bzw. Reinholds.

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204 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

sich sein Denken bewegt«.370 Im Problem der Terminologie prägt sich das Pro-

blem der Systematizität des Denkens sprachphilosophisch aus; sie ist das sprach-

liche Komplement zur »Reflexion der Reflexion«. Zugleich ist damit ein Modell

mystischer Sprache angedeutet, auf das Scholem später zurückgreifen wird.

Zunächst bezieht Scholem die Figuren von »Fragment« und »Mystik« nicht auf

die kabbalistische Literatur, sondern in allgemeinen phi losophischen Zusam-

menhängen;371 vor allem erlauben sie ihm eine neue Selbstdeutung: Die Inten-

tion geht jetzt nicht mehr einfach auf eine neue Metaphysik, sondern auf eine

im beschriebenen Sinne »kritische Mystik«, die sich wie die frühromantische in

der Form des Fragments entfaltet. Er betrachtet sich jetzt nicht mehr als »Ideo-

loge« des Zionismus, geschweige denn als sein »Mythenbringer«, sondern als eso-

terischer Krit iker . Im Dezember 1918 reflektiert Scholem, warum ihm das

Schreiben so schwer falle: Er »denke nicht in Gedanken, sondern in Systemen«

(T II , 423), gerade daher könne er nichts produzieren: »Ich verfasse symbol i-

sche Literatur, die nur für mich selbst verständlich ist. [...]. Das System der Phi-

losophie aber werde ich nur tradieren. Und das ist gewiß paradox. Aber es ist

dies eben eine eminent jüdische Paradoxie.« (Ebd.)372 Gerade weil für Scholem

die »Tradition« ein »Medium« und kein System von Antwor ten ist, können sich

Fragmente in dieses Medium einordnen. Sie sind selbst »potenzierte Fragen«,

und als Fragen sind sie auch tradierbar. Es ist eben nicht möglich, von außen

über die Tradition zu sprechen, sondern man kann sich nur in sie einschreiben.

0 Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 47. - Schlegels eigene, oben zitierte Äußerung über die beschränkte Mitteilbarkeit zeige, »wie bewußt Schlegel sich schon frühe als My-stiker fühlte« (ebd., 46); allerdings sei »Schlegels Denkweise im Gegensatz zu derje-nigen vieler Mystiker ausgezeichnet durch Indifferenz gegen Anschaulichkeit« (ebd.).

1 Auch Kant wird jetzt als »Mystiker größten Stils« bezeichnet (Br I, 169), allerdings führe die »mythische Sachlichkeit« Kants nur zu einer »ungewollte [n] Antizipation einer dem Romantischen verwandten Ordnung« (T II , 315). Scholem scheint Kant also jetzt im Rückblick von der Romantik aus zu verstehen. - Auch Benjamin spricht von einer »mystischen« Verabsolutierung des Kritikbegriffs bei Kant, weil dieser »den beiden verworfenen Standpunkten des Dogmatismus und Skeptizismus nicht sowohl die wahre Metaphysik, in der sein System gipfeln sollte, als »Kritik«, in deren Namen es inauguriert wurde, entgegenhielt« (Benjamin, Ges. Schriften, Bd. I, 52). Weil be-reits Kant keinen festen, metaphysischen Bezugspunkt mehr hat, bekommt auch bei ihm die Terminologie mystische Züge.

2 Auch hier hat die Theorie des Fragments eine kritische Funktion in bezug auf die systematische Darstellung, besonders deutlich zeigt sich dabei Widerstand gegen die Vermittlung in der Theorie des Witzes, welcher »eine Warnung vor dem letz-ten Endes Christlichen« sei (T II , 422). Vgl. auch: »Der Witz ist diejenige Thora, die schon vor den Tagen des Messias gelehrt wird, [...] seine Totalität ist ihrem Wesen nach Torso, ironische Totalität. [...] In der Gestalt des Witzes wird das Tradierbare tradiert.« (Ebd., 368f).

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 205

Der Begriff des Paradoxes, das Friedrich Schlegel einmal »ein esoterisch ge-machtes Exoterikon« nennt,373 spielt eine wichtige Rolle bei dieser Einschrei-bung und die Rede vom Paradoxen wird immer wieder als zentraler Bestandteil von Scholems Rhetorik erscheinen. In seinen Thesen formuliert er das in äußer-ster Kürze: »Geschriebene Tradition ist die Paradoxie, in der die jüdische Lite-ratur sich essentiell entfaltet.« (T II , 302; vgl. schon 206). Das ist nicht nur als Aussage über die Paradoxien innerhalb der Tradierung der Thora zu verstehen, wie Scholem sie besonders bei Molitor dargestellt fand. Es handelt sich nicht weniger um eine Aussage über das eigene Schreiben und den »paradoxen« Ver-such, sich subjektiv einen Platz in der Tradition zu sichern. Der Satz ist also nicht nur Theorie der Einschreibung, sondern auch Theorie als Einschreibung: Der überdeterminierte und allgemeine Begriff der Tradition, den Scholem hier aufruft, eröffnet einen Raum, in dem sich das eigene Schreiben entfalten kann.

Für Schlegel geht die systematische Paradoxie des fragmentarischen Schrei-bens einher mit der systematischen Ironie. Die »logische Schönheit« der Iro-nie374 ist auch für Scholems Schreiben konstitutiv; wie wir schon im letzten Teil gesehen haben, prägt sie seinen asketischen Ethos, zugleich ermöglicht eine durchaus im rhetorischen Sinne zu verstehende Ironie es seiner theoretischen Reflexion, über alle möglichen Dinge zu reden, sich aller möglichen Sprachen zu bedienen, ohne es mit ihnen vollkommen ernst zu meinen. Die Ironie als Re-deform, die mit verschiedenen Schauplätzen der Äußerung spielt, ermöglicht es Scholem, die eigene Position im Verhältnis zu anderen zu bestimmen und auch einen Ort innerhalb und gegenüber dem übermächtigen Ort »der jüdischen Tra-dition« zu finden.

Wir werden an Scholems Überlegungen zur »Philologie« noch sehen, daß eine ähnliche Ironie ihm später auch ermöglicht, einen Ort als Historiker gegenüber der Tradition zu finden. Angedeutet ist dieser Bezug des fragmentarischen Schreibens zur Geschichte schon in seinen ersten Überlegungen zur mystischen Paradoxie: »Es gibt keine Geschichte der Literatur, es kann im Grunde nur eine Geschichte der Rezension geben. Nur vom messianischen Punkt aus ist die Li -teratur selbst als historisches Kontinuum in die Erkenntnis aufzunehmen [...]. Wil l der Kritiker also nicht der Theoretiker sein, so muß er Mystiker sein und den Kairos der legitimen Betrachtung in historischer Permanenz zu setzen ver-mögen.« (T II , 319)

Auch die historische Betrachtung kann daher in der Zeit nur »mystisch« sein, insofern, als sie indirekt und unanschaulich sein muß, auch sie scheint für Scho-lem daher die Form des Fragments haben zu müssen, wie er es in seinen Refle-

373 F. Schlegel, Werke, Bd. XVIII , 102 (Philos. Fragmente Erste Epoche II). 374 F. Schlegel, Werke, Bd. II, 152 (Kritische Fragmente Nr. 42)

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206 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

xionen zur Philologie (s. u. Kap. 2.9.) dann auch in der Tat betont. Aber für Scholem ist nicht nur die Historie auf die fragmentarische Form verwiesen, sondern auch umgekehrt hat die fragmentarische Schreibweise etwas wesent-lich Historisches, wie das an anderer Stelle noch deutlicher formuliert wird: »Das Fragment ist der Versuch historischer Entfaltung des Systems. Im Frag-ment spielt die stets unsichtbare Hauptrolle die historische Zeit.« (T II , 255) Fragmente entfalten sich also nicht in einem statischen Raum der Ideen, son-dern sind auf »historische Zeit« bezogen; diese Historizität der Darstellung führt bereits zum dritten Aspekt von Scholems Auseinandersetzung mit der Romantik.

2.4.3 Tradierbarkeit als Problem. Mehrfach ist auch in der neueren Forschung hervorgehoben worden, in welch engem Zusammenhang die Entwicklung der romantischen Geschichtsphilosophie mit der politischen und kulturellen Kri -senerfahrung der Romantiker steht.375 Die Romantik, schreibt Benjamin an Scholem, wohl durchaus mit Blick auf die eigene Gegenwart, sei »die letzte Bewegung, die noch einmal die Tradition hinüberrettete«.376 Gerade in dem Maße, in dem die Frühromantik hier ein viel höheres Problembewußtsein besitzt als die spätromantische, »positive« Zuwendung zur Vergangenheit, ist sie für Benjamin und Scholem interessanter und kann dann auch dazu dienen, diese zu kritisieren.377

Biographisch betrachtet, kann man in dieser Perspektive vielleicht sogar das Hauptmotiv von Benjamins und Scholems Zuwendung zur Romantik sehen, können sie doch von hier aus auch auf ihre im Rahmen der Jugendbewegung entwickelten pädagogischen Reflexionen zurückgreifen. Diese Verbindung kann man besonders deutlich in einem Brief Benjamins von 1917 sehen, in dem erst-mals Erziehung und Tradition als Medien zusammengedacht werden:

Der Lehrer lehrt nicht eigentlich indem er »vor-lernt«, beispielhaft lernt, sondern sein Lernen ist teilweise allmählich und ganz aus sich selbst zum Lehren überge-

So etwa Behrens: »Schlegels Geschichtsphilosophie ist Krisenphilosophie, oder - wenn man die Verbindung von Zeitkritik und Endzeitbewußtsein hervorheben will - »Kata-strophentheorie«.« (Behrens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, 23) - M. E. sollte auch Benjamins Rede vom »Messianismus als Zentrum der Frühromantik« vor diesem Hintergrund weniger als Figur der Vollendung als des Bruchs interpretiert werden. Benjamin, Briefe, 138. Für Scholem ist Novalis« Die Christenheit oder Europa »vollkommen abscheulich, denn es ist irgendwie typische Buberei dabei: Irrlehre« (T II , 254). -Vgl. auch: »No-valis hat die Erkenntnis verführt, daß Offenbarung noch stets Geheimnis war. [...] Er hat dieses Verhältnis der Offenbarung auf einer falschen (wenn auch tiefen) Sphäre erfaßt, auf einer Sphäre, in der es umkehrbar geworden ist (was schon alles sagt).« (Ebd.)

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 207

gangen. [...] Ich bin überzeugt: die Tradition ist das Medium in dem sich kontinu-ierlich der Lernende in den Lehrenden verwandelt [...]. Wer sein Wissen als über-liefertes begriffen hat in dem allein wird es überlieferbar, er wird in unerhörter Weise frei. Hier denke ich mir den Ursprung des talmudischen Witzes.378

Auch die Erz iehung wird hier als ein unmittelbares und unendliches Medium

aufgefaßt; der Erziehende wie der Erzogene sind also >in< der Tradition, »in« ihr

aber auch frei, das wird besonders deutl ich in dem Bild, das Benjamin hier be-

nutzt: »Die Lehre ist wie ein wogendes Meer, für die Welle aber (wenn wir sie

als Bil d des Menschen nehmen) kommt alles darauf an, sich seiner Bewegung

so h inzugeben, daß sie bis zum Kamme überstürzt mit Schäumen.«3 79 Die

Lehre als Med ium ist damit »gebrochen«: Die Weitergabe vollzieht sich nicht

kontinuier l ich, und der Rückgriff auf die Vergangenheit ist nicht einfach kon-

servative Rückkehr in die Vergangenheit.

Scholem übern immt diesen Gedanken Benjamins, auch er spricht von der

»Lehre« als dem »Medium, in dem sich der Lernende in den Lehrer verwan-

delt« (T II , 302). Auch seine Reflexionen kreisen dabei um das Verhältnis von

Freiheit und Gebundenhei t: Erst »in der Einheit von Einsamkeit und Verbin-

dung, von Einsamkeit und Gemeinschaft liegt die tiefere Einheit von Freiheit

und Geschichte im Begriff der Lehre, der Überl ieferung. Wer überliefern will ,

muß einsam sein - denn wie könnte er sonst die Überl ieferung erkennen - und

in Gemeinschaft sein, denn wie könnte er sonst überliefern?« (Ebd., 64f).

Schon für Benjamin ist es »so schwer über Erz iehung zu reden weil deren

O r d n u ng mit der religiösen O r d n u ng der Tradit ion ganz zusammen fällt«;380

Scholems Reflexionen kreisen von vornherein um die religiöse Tradition. Damit

stellt sich für ihn aber die Frage, wie denn eigentlich diese »freie Überlieferung«

aufgefaßt werden kann bzw. wie ein absoluter Gegenstand wie die Religion in

die Überl ieferung eingehen kann: »Ist die Definition, Religion sei das Bewußt-

sein von der O r d n u ng der Dinge, wirkl ic h richtig? [...] Wie kommt man von

hier aus zur Überl ieferung? Kann ein Bewußtsein (auch auf mystische Weise)

gelehrt werden?« (T II , 75) Durch das in der romant ischen Terminologie im-

pl izierte Kr isenbewußtsein wird die Frage nach der Tradit ion radikalisiert:

Auch die Überl ieferung muß irgendwie als »gebrochen« aufgefaßt werden. Dazu

br ingt Scholem wieder den Gedanken des Schweigens ins Spiel: »Die Lehre

wird durch Schweigen tradiert, soweit sie das Bewußtsein betrifft. Die Stellen,

an denen sie das Schweigen durchbr icht, sind Doppe lpunk te der Lehre, an

Benjamin, Briefe, 145f. Benjamin, Briefe, 146. - Vgl. dazu McCole, Walter Benjamin, 76ff; er interpretiert Benjamins gesamtes Werk vom Problem der Aneignung des Erbes her. Benjamin, Briefe, 146.

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208 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

denen ihre Beziehung zum Leben dialektisch wird.« (Ebd.)381 Wie die Sprache der Klage scheint hier auch die Lehre als Sprache des Schweigens verstanden zu werden. Auch sie bleibt an der Grenze, daher sagt Scholem auch, die Lehre werde » im Schweigen - nicht durch Schweigen - tradiert« (T II , 304).

Wieder sind diese Überlegungen erst dann verständlich, wenn sie auf die exe-getische Erfahrung und damit auch auf konkrete Phänomene aus der jüdischen Überlieferung bezogen werden. In der schon erwähnten Notiz Über denmudischen Stil steht das Schweigen deutlich im Mittelpunkt: »Im talmudischen Stil ist die Kunst des Verschweigens [...] zum materialen Gehalt geworden. Nicht das Gesagte, sondern das Verschwiegene ist in ihm die eigentliche Über-lieferung« (T II , 311). Diese schweigende Lehre wird hier aber durchaus ambi-valent und problematisch bestimmt, indem sie über die Idee der »Abbreviatur« mit der schweigenden Sprache der Schrift zusammengedacht wird. Schon Mo-litor hatte die kabbalistischen Schriften als Abbreviaturen von Gedanken gefaßt (s. o. Kap. 2.3.2), Scholem universalisiert und radikalisiert diesen Gedanken jetzt: »Die Abbreviatur ist der Übergang zum Schweigen, indem die Schrift als Abbreviatur nichts mehr ausspricht. [...] Die Abbreviatur verläßt innerhalb der Schrift das Literarische. Sie wird das nurmehr Bedeutende, und im Siddur des Ja'abez wird sie schließlich das Deutbare schlechthin. In diesem Werke, dessen Abbreviaturen keiner lesen kann, führt sich das Prinzip der Abkürzung ironisch ad absurdum.« (Ebd., 331)382

Schon hier entwickelt Scholem den Gedanken der »unendlichen Deutbarkeit« der Schrift, der nicht nur für seine Auffassung der Kabbala, sondern auch für seine theologischen Reflexionen von großer Bedeutung sein wird. In diesem Gedanken der »unlesbaren Schrift« findet sozusagen die komplette Umkehrung von Molitors Ausgangsthese statt: Ursprünglich sollte ja gerade die (»mündli-che«) Tradition den »Buchstaben« beleben und durchdringen, hier wird nun aber dieses Belebende selbst nicht nur wieder »tote« Schrift, sondern sogar unlesbar.

Vgl. auch: »Die Sphäre der Lehre kennt nur eine Grundlage und Voraussetzung: die des Schweigens.« (T II, 197) Aber sie scheint für Scholem dieses Schweigen auch not-wendig zu überschreiten: »Wo die Lehre das Schweigen durchbricht, wird ihre Be-ziehung auf das Leben dialektisch. Hierauf gründet sich die äußere Geschichte der Lehre.« (Ebd., 304) Vgl. hier auch Scholems Unterscheidung: »Die talmudische Abbreviatur ist die Sub-limierung eines Bekannten, die kabbalistische die eines Unbekannten. Die Geheim-nisse, die man nicht kennt, haben keinen Namen, sondern nur eine Abkürzung.« (T II , 331) - Zur selben Zeit reflektiert Scholem auch über andere formale Phä-nomene der Überlieferung, so etwa über den Musivstil, den er als »Kommentar im Text« bezeichnet, er gehöre zu den tiefmystischen Stilen«, und sei in der »mystischen Paradoxie« begründet, »die das kanonische Wort zum dichterisch (traditionell) be-stimmten wandelt« (ebd., 356).

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»TRADITION«, »MYSTIK« UND »KRISE« 209

Mi t der »Unlesbarkeit« kommt hier eine dezidiert kritische Kategorie ins Spiel, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von Sinn fragt.

Molitors Betonung der Form der Mitteilung wird damit noch einmal radikali-siert. Für Molitor war die Form der Tradition - bis in die Schrift und Vokalzei-chen hinein - wesentlich für die Exegese, aber sie war letztlich zurückgebunden an die Göttlichkeit der Hebräischen Schrift. Scholem dagegen betont das Proble-matische an der Abbreviatur in einer Weise, die sich nicht mehr in einer »positi-ven Philosophie« der göttlichen Sprache auffangen zu lassen scheint. Gerade weil die »Lehre« »Sprache der Grenze« ist, droht sie vollkommen in Nicht-Sprache überzugehen, denn die Möglichkeit unendlicher Deutung einer unendlich ab-gekürzten Schrift hebt das Prinzip der Abbreviatur zumindest in der äußeren Ge-schichte auf. Scholems Rede von der »Ironie« dieses Prozesses ist Molitor völlig fremd, es repräsentiert auch ein gesteigertes Krisenbewußtsein in bezug auf die eigene Gegenwart.

Die unlesbare Schrift, die die Tradition geworden ist, hat nicht nur die Laut-sprache, sondern Sprache überhaupt verstanden, sie ist vom »medialen« Schwei-gen - als Raum der Erscheinung von Sinn - zum wirklichen Schweigen übergegangen. Nach Scholem ist es »das Unglück und Elend der jüdischen Ge-schichte: daß die verschwiegenen Traditionen verlorengingen, als man das Schweigen verlernte« (TII , 278). Die unlesbare Überlieferung kann nicht mehr zum Gegenstand einer Frage werden, d. h. es gilt zunächst die Lesbarkeit wie-derherzustellen, die in der Tradition in dem Vorhandensein der richtigen Frage konstituiert ist. Die Wiedereinschreibung dieser Frage ist für Scholem die Auf-gabe des mystischen Kommentars.

Scholems bisher thematisierte Reflexionen sprechen nicht nur über den Kommentar, sondern wollen selber Kommentar sein, genauer: Sie stellen Vor-stufen eines erst zu entwickelnden Kommentars dar. Ein solcher müßte nach dem bisher entwickelten mehrfache Funktionen haben: Er müßte Kommentar einer kanonischen Schrift sein und auch thematisch die Frage nach der »Erfüll-theit« der Tradition bzw. ihres Verhältnisses mit dem »Kanonischen« in den Mittelpunkt stellen. Zweitens müßte in ihm die »Theorie der Frage« weiter aus-geführt werden, die als das letzte Wort der Philosophie erscheint (s. o. Kap. 2.2). Beide Fragen würden wiederum im Zusammenhang stehen mit dem zuletzt aus-geführten Problem der »Tradierbarkeit«, denn die destruktiven Konsequenzen der »unendlichen Reflektierbarkeit« der Überlieferung scheinen nur dann ver-meidbar, wenn die »Unendlichkeit« der Überlieferung als »erfüllt« gedacht wird, wenn also die unendliche Reflexion der Fragen ineinander irgendwo auch einen Grund haben im Kanonischen.

Aus diesem Problemhorizont heraus - und durch ihn natürlich auch be-grenzt - soll jetzt einer der zentralen esoterischen Texte Scholems interpretiert

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210 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

werden: Einerseits faßt diese Interpretation die bisher entwickelten Probleme; noch einmal zusammen, andererseits dient sie als Übergang zur eigentlich theologischen Fragestellung. Die Reflexion über die »Erfülltheit« der Tradition kanr letztlich nicht umhin, auch über das »Erfüllende« zu sprechen, über die Offenbarung selbst. Dieses Problem soll dann später in explizit theologischem Kontext erörtert werden. Wenn sich daher die Interpretation im nächsten Kapite. oft an eher vermuteten systematischen Zusammenhängen orientieren muß, sc werden wir in den darauf folgenden Kapiteln genügend Möglichkeiten haben unsere Resultate noch einmal zu überprüfen.

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»GERECHTIGKEIT« UND »IRONIE« 211

2.5 >Gerechtigkeit< und Ironie: Über Jona und den Begriff von Gerechtigkeit

Der Text Über Jona und den Begriff der Gerechtigkeit gehört neben dem Auf-satz über das Klagelied zu den wichtigsten Jugendaufzeichnungen Scholems. Er erwähnt ihn auch in seinen Erinnerungen in einem äußerst aufschlußreichen Kontext: Er habe ihn Ende Oktober 1918 Walter und Dora Benjamin vorge-tragen im Anschluß an deren Frage, warum er trotz seiner so starken Betonung des Jüdischen nicht die orthodoxe Lebensführung annehme: Rückblickend er-innert er sich: »Ich erklärte, so wie ich es damals formulierte, daß das für mich mit einer Konkretisierung der Tora auf einer falschen, zu frühen Sphäre zu-sammenhänge, die sich an den Paradoxien des Drehs [...] erweist. Es stimmt etwas in der Anwendung nicht: Die Ordnungen stoßen sich aneinander. Ich müsse den anarchischen Suspens aufrechterhalten.« (WB, 93)383 Auch dieser Text kreist also um das >dialektische< Verhältnis der Thora zum »Leben«, da-hinter steht nicht nur die juridische Frage der Geltung der Gebote, sondern auch die Frage der Erfülltheit der Thora. Wir werden daher zunächst Scholems Auslegung des Jonabuches untersuchen (2.5.1), dann die Verallgemeinerung der in der Exegese gewonnen Begrifflichkeit nachvollziehen (2.5.2) und schließlich der Verbindung folgen, die Scholem zwischen Jona und Hiob zieht (2.5.3).

2.5.1 >Gerechtigkeit<, Prophetie und >Aufschub<. Bereits im Sommer 1916, während Scholems Besuch bei Benjamin in Oberstdorf, findet sich eine Reflexion über »Gerechtigkeit« in Scholems Tagebüchern: «Äußerst wichtig ist, daß im He-bräischen DSOD [mischpat, Recht] und npTt [zedaka, Gerechtigkeit] ganz ver-schiedene Stämme sind, DSOD [mischpat ] ist etwas Menschliches, npiK [zedaka] Göttliches. Gottes OBOD [mischpat] kann sich nicht offenbaren (Jesaja 58), son-dern nur seine npix [zedaka].« (T I, 392)

Vgl. auch T II, 401, eine Vorstufe des Textes findet sich in T II , 335f. - Der »Dreh« ist die geläufige Formulierung für die Bestimmungen innerhalb der Orthodoxie, die prinzipiell anerkannte Gebote faktisch außer Kraft setzen, so kann etwa das Gebot des Jobeljahrs durch Übertragungen des Bodens an Nicht-Juden oder Nicht-Ortho-doxe auf halachisch legalem Wege umgangen werden. - In den Tagebüchern findet sich die Formulierung von der »Konkretisierung auf falscher Stufe« schon im Februar 1918, vgl. T II, 140. - Scholems rückblickender Kommentar, diese Frage sei später für ihn »gegenstandslos« geworden (WB, 93), verdeckt die Bedeutung, die dieses Pro-blem auch später für ihn hat, vgl. dazu unten Kap. 2.7.3.

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212 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Man kann wohl davon ausgehen, daß Scholem hier durch Benjamin dazu ver-

anlaßt wird, über »Gerechtigkeit« als Grenzzustand des Rechts zu reflektie-

ren.384 Al lerdings überschreitet die zit ierte No t iz das rechtsphi losophische

Problem einer Gerechtigkeit unter Menschen auf die Frage nach der Gerech-

tigkeit Gottes und die Möglichkeit ihrer Offenbarung. Zugleich dient sie jetzt

dazu, den Inbegriff des Judentums zur benennen: »Das Wesen des Judentums

ist die Gerechtigkeit. Eine göttl iche Kategorie. [...] I m Juden tum glaubt man

nicht, sondern ist gerecht.« (T I, 392)

Diese Verschiebung des Begriffes auf theologisches Gebiet ist keineswegs will -

kürl ich, spielt der Begriff der »Gerechtigkeit« doch in der Bibel eine durchaus

zentrale Rolle und wird von Scholem auch schon bald, bei seiner Lektüre von

Hirschs Kommentar zum Pentateuch, auf das Gebiet der Exegese übertragen.385

Entscheidend ist dabei, daß sich der biblische Begriff der Gerechtigkeit wesent-

lich von der formalen Gerechtigkeit des griechisch-römischen Rechtsdenkens

unterscheidet. Mi t npi:» [zedaka, Gerechtigkeit] ist in der Bibel nicht die justitia

gemeint, die mit verborgenen Augen durch Waage und Schwert jedem das Seine

gibt, sondern um das »gerechte«, d. h. sach- und ordnungsgemäße Verhalten ge-

genüber seinen Mitmenschen und gegenüber Gott.3 86 Das gerechte Gericht ist

Vgl. wenig später in einem Exzerpt Scholems aus Benjamins Aufzeichnungen: «Ge-rechtigkeit scheint sich nicht auf den guten Willen des Subjekts zu beziehen, sondern macht einen Zustand der Welt aus [...]. Tugend kann gefordert werden, Gerechtigkeit letzten Endes nur sein, als Zustand der Welt oder als Zustand Gottes.« (T I, 401; vgl. auch 430) Vgl. T I, 416, wo besonders die Polemik gegen die Gnade auffällt. Hirsch bestimmt in seinem Kommentar zu Gen. 18, 19 die Gerechtigkeit als Wohltat: »QE3ÖQ [mischpat, Recht] ist das einfache Recht, npix [zedaka, Gerechtigkeit] die Wohlthat, aber als Pflicht begriffen. [...] Erst DEDCI [mischpat], dann Tipix [zedaka], so lautet die Regel. Nie kann npix [zedaka] sühnend eintreten für das, was gegen osoo [mischpat] verbrochen wird.« (Hirsch, Der Pentateuch Bd. I, 264). An der kommentierten Stelle Gen 18, 19 kehre sich die Reihenfolge im Text aber um. Daß Hirsch auf die Reihenfolge der Worte im Text achtet, zeigt, wie nahe er zumindest formal der midrachischen Exegese ist, weil gegen die »Gesetzlichkeit« Sodoms polemisiert wird: »Hier aber steht zuerst npTSdaka, Gerechtigkeit]; denn hier gilts dem jüdischen Protest gegen Sodoms Lebens- und Staatsmaxime. Nicht DSOQ [mischpat, Recht], sondern npix [zedaka] heißt das welter-lösende Wort, das Abrahams Haus in die Welt und durch die Welt tragen soll. Wie weit ab auch das vom Menschen »gefundene« Recht vom Gottesrechte absteht [...], DBÖQ [mischpat], eine Art von OSOQ ist auch in Sodom zu Hause, ja Sodom zeigt uns, wie eine genußsüchtige, in sinnliche Wollust versunkene Welt [...] zuletzt gerade die Rechtsidee zu einem zweischneidigen Sophism, zuspitzt [...]. Das Zedaka-lose Recht verkehrt sich in Unmenschlichkeit und Härte. Dem gegenüber kehrt das »Testament« Abrahams an seine Kinder np-re [zedaka] vor tosoo [mischpat] heraus« (Ebd.). Nach von Rad gibt es: »im Alten Testament keinen Begriff von so zentraler Bedeu-tung, schlechthin für alle Lebensbeziehungen des Menschen wie den von der npis

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»GERECHTIGKEIT« UND »IRONIE« 213

nicht die formelle und unparteiische Justiz, sondern das Bemühen, im Interesse der Allgemeinheit, einen ausgeglichenen Zustand wiederherzustellen, daher ist der sprichwörtliche Schutz der Witwen und Waisen eine positive Aufgabe der Gerechtigkeit.387 Gerechtigkeit ist also nichts Formales, sondern eher etwas in-haltlich Gefülltes, eben der voll konkrete Zustand einer gerechten Ordnung; ein Aspekt, der sich wohl am ehesten mit »Weltordnung« übersetzen ließe. Diese Weltordnung ist immer als Wechselverhältnis göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit gedacht, denn die Weltordnung als Heilsordnung ist in der göttli-chen Zuwendung gegründet, der Heilszustand zugleich Gottesnähe. »Gerecht« ist Gott, solange er seine Heilszusage aufrecht erhält, also in seiner Zugewandt-heit zu den Menschen.388 Dieser Aspekt von Gerechtigkeit, der sich wohl als »Gemeinschaftstreue übersetzten ließe, betrifft nicht nur die Beständigkeit der göttlichen Verheißung, sondern auch die Weise, wie Gott den Menschen diese Verheißung zeigt, der also auch die Frage der Offenbarung betrifft, wie wir ja bereits an Scholems Jesaja-Zitat gesehen haben. Strafend ist Gott erst jenseits sei-ner Gerechtigkeit, im Zorn, der im rabbinischen Judentum der Gerechtigkeit Gottes geradezu entgegengesetzt wird; zornig ist Gott zugleich auch der abge-wandte und verborgene.

Der Zusammenhang zwischen der Gerechtigkeit als Weltordnung und der Gerechtigkeit als Gemeinschaft Gottes spricht sich in besonderer Weise in der

[Gerechtigkeit]« (von Rad, Theologie des Alten Testamentes, Bd. I, 382). Dabei zeige der Sprachgebrauch, »daß pTSI [gerecht] durchaus ein Verhältnisbegriff ist, und zwar in dem Sinne, daß er sich auf ein wirkliches Verhältnis zwischen zweien [...] bezieht, nicht aber auf das Verhältnis eines der Beurteilung unterzogenen Objektes zu einer Idee« (ebd., 383). - Nach Schmidt umfaßt die biblische Gerechtigkeit sowohl diese »Gemeinschaftstreue« als auch »Normgemäßheit«, die Vorstellung der »Sachgerecht-heit« werde ihr daher am ehesten gerecht: Gott ist gerecht, insofern er gemäß seiner Verheißung handelt (Schmidt, Gerechtigkeit als Weltordnung, insbes. 172f, 181f). Der Zustand der Gerechtigkeit ist dabei für die Gemeinschaft wie für den Einzelnen zugleich der Zustand des Heils, vorgestellt wird er als eine Art Sphäre, die den Ge-rechten umgibt; wenn sie beschädigt ist, muß sie durch Rechtfertigung wiederherge-stellt werden - auch das ist die Aufgabe des gerechten Gerichts. Vgl. dazu Koch, »Sädaq und Ma'at«, 55ff. Koch parallelisiert Zedaka mit der ägyptischen ma'at, die kürzlich von Assmann als konnektive Gerechtigkeit analysiert wurde, vgl. dazu Ass-mann, Herrschaft und Heil, 53-71. »Von den ältesten Zeiten an hat Israel Jahwe als den gefeiert, der seinem Volk die uni-verselle Gabe seiner Gerechtigkeit zuwendet. Und diese Israel zugewendete npix [Gerechtigkeit] ist immer Heilsgabe. Unvollziehbar die Vorstellung, daß Israel von ihr zugleich auch bedrückt würde. Der Begriff einer strafenden npii- [Gerechtigkeit] ist nicht zu belegen; er wäre eine contradictio in adjeetio.« (von Rad, Theologie des Alten Testaments Bd. I, 389) Nach Koch wäre »Gemeinschaftstreue« die angemessene Übersetzung, der allerdings die moralische Konnotation im deutschen ermangele (Koch, »Säday und Ma'at«, 54f)

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214 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Prophetie aus, denn die Propheten mahnen nicht nur die Wiederherstellung des gerechten Verhältnisse zwischen den Menschen bzw. zu Gott an, sondern in ihrer Rede spricht sich Gott auch selbst aus; er offenbart sich hier in seiner Ge-rechtigkeit, insofern er das Verhältnis zu Israel neu bestimmt. Gerechtigkeit ist also nicht nur Thema der prophetischen Verkündigung, sondern bestimmt auch ihren Status als Gottesrede; daher bildet sich innerhalb der Prophetie erstmals eine Theologie des »Wortes Gottes« aus, d. h. eine Reflexion über die Weise der göttlichen Offenbarung.389

Gerade am Begriff der Gerechtigkeit und am Phänomen der Prophetie kann Scholem daher die Frage nach der Erfülltheit der Tradition erörtern. Religion hatte Scholem als das »Bewußtsein von Ordnungen« definiert und dann ihre Lehrbar-keit problematisiert (TII , 75). Dieses Problem formuliert er nun als das Problem der Belehrung über Gerechtigkeit und bestimmt es als genuin das Problem der Prophetie: »Erziehung ist eine religiös-prophetische Kategorie« (T II , 523).390

Diese Kategorie soll am Buch Jona entfaltet werden. Scholems Kommentar hebt zu Beginn hervor, daß das Buch Jona ein äußerst

ungewöhnliches prophetisches Buch sei: Während die anderen Bücher des pro-phetischen Kanons großteils aus Prophetenworten bestehen, enthält das Buch Jona gar keine Prophetien, sondern besteht nur aus einer Handlung, die der Komik nicht entbehrt: Jona erhält den göttlichen Auftrag, der Stadt Ninive ein drohendes Strafgericht zu prophezeien; nach anfänglichem Zögern erfüllt er den Auftrag. Aber seine Prophetie läßt Ninive umkehren, so daß Gott sein Gericht nicht vollstreckt; Jona aber ist verdrossen und hadert mit Gott, daß er jetzt als Lügner verlacht werde. Gott läßt darauf eine Rhizinusstaude wachsen, um dem verbitterten Propheten Schatten zu gehen, er läßt sie aber dann wieder verdor-ren. Als Jona erneut zürnt, stellt Gott die rhetorische Frage, die das Buch be-endet: «Dir ist es leid um die Rhizinusstaude, um die du dich nicht gemüht und die du nicht großgezogen hast [...]. Und mir sollte es nicht leid sein um die große Stadt Ninive?« (Jona 4, 10t)

Gerade von dieser untypischen Form müsse die Interpretation ausgehen: Weil das Buch Jona keine Prophetien enthalte, reflektiere es das Problem der

Diese Worttheologie muß unterschieden werden von der liberalen Auffassung der Propheten als religiöser Genies, vgl. dazu von Rad, Theologie des Alten Testaments Bd. II, 89ff,96ff, 103ff. Die Prophetie ist also nach Scholem Belehrung über Gottes Gerechtigkeit, daher kann er auch schreiben, die Theorie des Judentums werde eine Prophetie sein müs-sen (vgl. schon früh Scholem, »Die 3 Teile des Systems der Lehre«, Are. 4° 1599/277-I, Nr 22, 2). - Auch ist an der Prophetie das Problem der Erziehung am besten zu verdeutlichen, denn es gebe »keine repräsentativeren Gestalten, weder für den Leh-rer als Gott selbst noch für den Schüler, als den im Sinne des Judentums höchst ge-rechten Menschen, den Propheten« (T II , 523).

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Prophetie «in mediumistischer Klarheit« (T II , 525) und sei daher der «eigent-liche Schlüssel zum Verständnis der prophetischen Idee« (ebd., 522): «Es stellt, wenn man so sagen will , die Theorie zu dem dar, was die anderen [propheti-schen] Bücher konkret enthalten« (Ebd.).

Diese Theorie wird indirekt mitgeteilt als »Inauguration eines Problems« in der Struktur des Buches.391 Scholem drückt das auch in der uns schon bekannten Terminologie von Frage und Antwort aus: «Jede solche Inauguration spricht sich in einer Frage aus und in ihr wird eben zugleich auch die höchste Erziehung voll-bracht; der Lehrer erzieht durch Fragen, nicht durch Antworten.« (Ebd., 523) Das Buch Jona stellt in doppelter Weise eine Frage: Zum einen gibt das Buch insge-samt keine Antwort, sondern zeigt ein Problem, stellt also eine Frage dar. Zum anderen spielt die Frage aber auch innerhalb des Buches eine zentrale Rolle, vor allem in Gestalt der abschließenden Frage. Hier ist Gott selbst der Lehrer: »Die Unterweisung des Propheten durch Gott selbst ist der höchste Ausdruck dafür, daß die Erziehung, um die es hier geht, die eigentlich zentrale und entscheidende ist.« (Ebd.) Beide Aspekte, die göttliche Erziehung im Buch und die Form des Bu-ches stellen daher eine Belehrung dar, die Scholem unter dem Begriff Gerechtig-keit faßt: »Gegenstand dieser Belehrung ist die Idee der Gerechtigkeit.« (Ebd.) Eine Entfaltung der Idee der Gerechtigkeit muß dieses Verhältnis zwischen Fra-gen innerhalb des Buches und die Frage des Buches selber verständlich machen.392

Die Belehrung erfolgt nicht direkt durch das Gesagte, sondern indirekt durch das Dargestellte, aber auch dieses erscheint auf den ersten Blick alles andere als typisch für die Prophetie: Der widerspenstige und zögernde Prophet Jona ist alles andere als ein gutes Beispiel eines Propheten. Gerade das aber, so Scholem, ist der Schlüssel zur Prophetie: Wie insbesondere am Schluß deutlich werde, verstehe der Prophet seinen Auftrag und damit die Prophetie nicht - aber ge-rade durch dieses Nicht-Verstehen könne der Leser die Prophetie verstehen. Der Umweg über die von Jona verkörperte »prophetische Ironie« (ebd., 525) ist also eine Darstellung der Prophetie selbst, durch diesen Umweg wird das Problem der Prophetie selbst verständlich gemacht.

1 Scholem hebt auch dadurch hervor, daß es um die Struktur, nicht um den Inhalt des Buches geht, daß er eine graphische Darstellung des Handlungsverlaufes gibt, eine »symbolische Darstellung, die mehr als ein Gleichnis ist« (T II , 523). Sie stellt die Handlung als symmetrischen Verlauf zwischen der Unendlichkeit des göttlichen Be-fehls und des unendlichen Nachhalls der abschließenden Frage dar, vgl. ebd., 523f.

2 Scholem betont dabei die Bedeutung der Spreclw&fe im Buch Jona: »Befehl und Frage sind die beiden entgegengesetzt gerichteten absoluten Setzungen der Sprache, die asymptotisch das gesamte Gebiet der Sprache umfassen.« (T II , 524) Gerade als Kategorien der Äußerung werden sie auch in Beziehung zur Gerechtigkeit gesetzt: »Die Setzung der Frage ist der Spruch der Gerechtigkeit [...], das Buch Jona schließt mit einer Frage.« (T II , 527)

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216 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Worin besteht nun Jonas Mißverstehen der Prophetie? Scholem geht auf den ersten Teil des Buches, Jonas Ausweichen vor dem göttlichen Auftrag, kaum ein und konzentriert sich auf Jonas Auftreten in Ninive und dessen Folgen. Hier spielt der Begriff der Gerechtigkeit eine zentrale Rolle, denn Jona verwechsele die Verkündigung der »Gerechtigkeit« mit jener der »Vergeltung«, er hat also gleichsam einen forensischen Begriff der Gerechtigkeit und nimmt die Ver-nichtungs^ro/>K«g Gottes gegen Ninive als Konstatierung: »Kap. 3, 4b gibt dem einen tiefgegründeten doppelsinnigen Ausdruck, denn »noch vierzig Tage und Ninive ist vernichtet« ist vom Standpunkt Jonas aus als eine Konstatierung, vom Standpunkt Gottes aus als Warnung gemeint.« (Ebd., 526)

Dieses Mißverstehen erschließt den Unterschied zwischen Recht und Gerech-tigkeit: «Jona steht auf dem Standpunkt des Rechtes, von dem aus er ja auch im Recht ist, Gott auf dem der Gerechtigkeit« (ebd.). Gerade weil er im Recht ist, kann Jona auch nicht widerlegt werden und wird daher nur indirekt belehrt durch die Schlußfrage, ob es Gott nicht leid sein sollte um Ninive. Die Belehrung des Buches ist daher »indirekt«, insofern sie nur durch die »inter-diskursive« Logik ver-schiedener Sprechakte und Standpunkte darstellbar ist. Keiner dieser Sprechakte enthält für sich Gerechtigkeit; denn auch Gott verkündet sie nicht, sondern läßt sie sich zeigen durch seine Vernichtungsdrohung: «In der Bekehrung wird das Recht überwunden und das Urteil nicht vollstreckt. [...] Denn dies und nichts An-deres bedeutet Gerechtigkeit im tiefsten Sinne: daß zwar geurteilt werden darf, aber die Exekutive davon völlig unterschieden bleibt.« (Ebd.) Jonas rechtlicher Standpunkt ist daher vorschnell, eine »Konkretisation auf zu früher Stufe«, denn Gottes Wort fällt nicht einfach mit seiner rechtmäßigen Ausführung zusammen, sondern der Aufschub, den Gott Ninive gewährt, macht die prophetische Ver-kündigung erst zur Verkündigung der Gerechtigkeit und damit eigentlich zur Of-fenbarung. «Der Aufschub, eine der zentralen ethischen Ordnungen, enthält den Grund der Dauer, des Seins der Gerechtigkeit.« (T II , 533)

Das Konzept des »Aufschubs« spielt in Scholems Überlegungen zum Un-terschied von Recht und Gerechtigkeit eine zentrale Rolle. In Anlehnung an Benjamins rechtsphilosophische Überlegungen wird die Gerechtigkeit zur Hin-terfragung der mythischen Rechtsordnung, in der sich der Tod als schicksalhafte Strafe naturhaft vollzieht. Im Talmud wird diese Rechtsordnung aufgeschoben: «Die Thora kennt die Todesstrafe, das talmudische Recht stellt sie nicht in Frage, aber realisiert die Idee des Aufschubes in der ausserordentlichen Zeugniser-schwerung [...]. Das Urteil wird praktisch durch Erschwerung unmöglich ge-macht. Die Idee aber bleibt immer die: das Urteil ist möglich, die Vollstreckung ist nicht möglich.« (Ebd., 528f.)393

393 Auch die für die jüdische »Gerechtigkeit« spezifische Forderung nach Wohltaten ge-genüber den Bedürftigen versteht Scholem als Aufschub: Über den Armen sei nicht

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»GERECHTIGKEIT« UND »IRONIE« 217

Aufschub bedeutet also nicht die Aufhebung des Urteils, das unterscheidet die Gerechtigkeit des Aufschubs für Scholem fundamental von der christlichen und antinomischen Forderung der »Liebe«: »Liebe ist die Annihilation des Ur-teils, Gerechtigkeit die der Vollstreckung; der Liebende urteilt nicht. Gerech-tigkeit und Recht ergänzen sich und koinzidieren, Liebe und Recht schließen sich aus.« (Ebd., 528) Diese Aufhebung des Urteils läßt gerade die Dialektik der Gerechtigkeit verschwinden und spaltet sie in Recht und Gnade. Diese Dialek-tik wäre aber auch verfehlt, wenn man die Gerechtigkeit als noch ausstehenden Akt der Rechtsüberwindung auffaßt, als kommende Revolution der ungerech-ten Weltordnung. Auch ein solches Verständnis der Gerechtigkeit rein von der Zukunft her kennzeichnet Scholem in einer anderen Notiz als christliche Verkennung: »Die jüdischen Begriffe sind aber in ihrer innersten Struktur keine Grenzbegriffe, keine Limits. Gerechtigkeit, Leben, das Ende der Tage, Heilig-keit usw. sind keine mechanisch-unendlich annäherungsfähigen regula-tiven Ideen, sondern zeichnen sich eben durch die prinzipiell neue Stellung zur Zeit aus. Was Limes ist, kann antizipiert werden: das ist das Geheimnis des Christentums.« (T II , 361)

»Gerechtigkeit« ist nicht ein ewig ausstehendes besseres Recht oder ein neuer Bund, sondern setzt das alte Recht gerade voraus.394 Es ist daher auch irre-führend, Scholems Begriff der Gerechtigkeit als »messianisch« zu bezeichnen, jedenfalls wenn man diesen Begriff unter der Dominanz der Zukunft denkt. Tatsächlich denkt Scholem »Gerechtigkeit« nicht vom Messianischen her, son-dern umgekehrt ist ihm jene Bedingung für dieses: »Wäre Gerechtigkeit nicht da, wäre auch das messianische Reich nicht nur ebenfalls nicht da, sondern überhaupt unmöglich.« (Ebd., 529)395

anders zu urteilen als über den Reichen. Armut sei also kein spiritueller Wert an sich, aber dieses Urteil sei aufzuschieben und dieser Aufschub manifestiere sich als Wohl-tat: «Der zur Handlung gewordene Aufschub ist Gerechtigkeit als Tat.« (T II , 528), hier weist Scholem auch auf Hirschs Interpretation hin, dazu s. o. Anm. 385. Daher wird die Gerechtigkeit auch nicht als kommendes Gottesurteil gedacht, sondern gerade als »Indifferenz des Jüngsten Gerichts« (T II, 527). Vgl. auch: »Die eindeutige Beziehung des richterlichen Urteils auf die Exekutive, die eigentliche Rechtsordnung wird aufgehoben im Aufschub der Exekutive.« (T II, 526) Hier zitiert er sogar Maimonides: »Was die Weisen die kommende Welt nennen, das hat seinen Grund nicht etwa darin, daß diese kommende Welt nicht jetzt schon vor-handen wäre, daß erst nach dem Vergehen dieser Welt jene käme. So verhält sich die Sache nicht, sondern jene Welt ist beständig daseiend.« (T II , 529) - Scholem verbin-det »Gerechtigkeit« daher auch nicht mit dem kommenden jüngsten Gericht, sondern mit der »Idee der historischen Annihilation des Gottesurteils« bzw. mit der »Indif-ferenz des jüngsten Gerichts« (T II , 527). Die prophetische Verkündigung ruft also nicht die Gerechtigkeit des schließlichen Urteils hervor, sondern ist gerecht, insofern sie dieses Urteil »neutralisiert«. Vgl. dazu Benjamins Reflexionen über den Unter-

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218 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Die Zeitlichkeit des »Aufschubs« muß daher nicht rein als zukünftig verstanden werden, sie ist nicht nur die Differenz zwischen dem gegenwärtigen Zustand und der kommenden Gerechtigkeit, sondern auch das die Gerechtigkeit erst Ermöglichende. Jonas Mißverständnis besteht gerade in seinem »mechanischen« Verständnis der Zukunft: Wie schon zitiert, mißversteht Jona den Satz: »Noch vierzig Tage und Ninive ist vernichtet«. Jona liest den Zeitbezug, der im Hebräischen hier nicht exakt bestimmt wird als konstative Äußerung über die Zukunft.396 Diese Verwechslung ist für Scholem von zentraler Bedeutung: »der tiefe Konflikt des Buches Jona beruht darauf, daß Jona die Prophetie, das ist empirisch gesehen Weissagung über die Zukunft, mit der Geschichtsschreibung, das ist Weissagung über die Vergangenheit, identifiziert sehen will . Die Weissagung über die Zukunft soll nicht anders sein als die der Vergangenheit. [...] Ninive ist in der Prophetie untergegangen (eben vom Standpunkt des Historikers).« (T II , 526) Jona versteht die Zukunft als abgeschlossen durch die verkündete (rechtmäßige) Vergeltung Gottes, weil er ein eindimensionales Verständnis der Zeit hat: »Denn warum wil l Jona Prophetismus und Geschichtsschreibung identifizieren? Es ist klar, er verwechselt die ewige und die nichtewige Gegenwart. Er soll in Ninive über die ewige Gegenwart weissagen, aber er selbst betrachtet diese Weissagung als eine über die andere. Die Zeiten, die sich in der ewigen Gegenwart verwandeln, sollen identisch sein.« (Ebd., 530)

Bisher ist die Gerechtigkeit negativ, im Unterschied vom Recht bestimmt worden, dabei hat sich gezeigt, daß diese negative Grenzbestimmung (etwa als erhaben ausstehendes zukünftiges Recht) den Begriff nicht erschöpfen kann. Gerechtigkeit ist aber auch positiv bestimmt, und zwar in der Rede von der »Verwandlung der Zeiten«.397 Scholem intendiert hier einen anderen Zeitbegriff, den man am besten verstehen kann, wenn man sich an das oben über den doppelten Sinn der biblischen Gerechtigkeit Gesagte erinnert. Gerechtigkeit ist der prophetischen Verkündigung nicht nur Inhalt, sondern manifestiert sich in ihr

schied der heidnischen und der jüdischen Vorstellung vom jüngsten Gericht (Benjamin, Ges. Schriften, Bd. VI, 97f), sowie die Kommentare von Menke dazu (Menke, »Benjamin vor dem Gesetz«, 249ff). rosn: ist Partizip, das auch die unmittelbar bevorstehende Zukunft meinen kann. Bemerkenswerterweise geht Scholem hier nicht auf die Doppeldeutigkeit von "]sn ein, das sowohl »zerstören« als auch »ändern« bedeuten kann. Auch betont die Präposition TU) (»nach«) die Dauer bis zum Ereignis, weniger das Ereignis selbst, vgl. dazu Wolff, Dodekapropheten, Bd. III , 123f. Vgl. dazu auch Scholems Hinweis auf Psalm 94, 15, (T IL, 526), asao TET pi^-iu ist wörtlich nicht »Recht muß Recht« bleiben, sondern Recht kehrt zur Gerechtigkeit« zurück. Scholem weist hier auch auf den besonderen Zusammenhang zum vorigen Vers (»Denn der Herr wird sein Volk nicht verstoßen noch sein Erbe verlassen«) hin, der den heilsgeschichtlichen Kontext der Gemeinschaftstreue betont.

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»GERECHTIGKEIT« UND »IRONIE« 219

unmittelbar, indem in ihr die Zuwendung und Offenbarkeit Gottes erscheint.398

Wie kann nun das der Gerechtigkeit wesentliche Moment des Aufschubs nicht nur als Gefordertes ersichtlich werden, sondern auch in der Forderung selbst? Scholem denkt den Aufschub der Offenbarung in dreifacher Weise: Als die Sprachlichkeit der Offenbarung, als das Verhältnis ihrer Momente zueinander und als »Unerfragbarkeit« der Offenbarung, mit anderen Worten: als Theorie der hebräischen Sprache, als Theorie des Verhältnisses von Offenbarung und Tradition und als Theorie der Offenbarung selbst.

2.5.2 Sprache, Tradition und Offenbarung. Jonas Mißverstehen der Zeit war zunächst ein Mißverstehen von Gottes Ankündigung - mit den Zeiten, die sich verwandeln, sind auch die Tempora des hebräischen Verbs gemeint. In verschie-denen Reflexionen vom Sommer 1918 setzt sich Scholem mit dem Zusammen-hang zwischen Sprache und Zeit im Judentum auseinander. Schon hier betont Scholem unter Rekurs auf Cohen, daß die Zeit im Judentum »ewige Gegenwart« ist und das Messianische Reich »die Gegenwart der Geschichte« sei (TII , 235).3" »All dies hängt aufs tiefeste zusammen mit der Metaphysik des Hebräischen, des-sen Zeitbezeichnung die tiefsten Aufschlüsse zu geben vermag.« (Ebd., 236) Diese Metaphysik ist mehr angedeutet als entwickelt. Es sind vor allem drei Ei-genheiten, die Scholem an der Grammatik des Hebräischen hervorhebt.

Der erste Punkt bezieht sich auf den Jussiv, der im Hebräischen den Impe-rativ ausdrücken kann. Der Jussiv ist morphologisch in der Regel nicht unter-scheidbar vom Imperfekt, welches der Darstellung der Nachzeitigkeit, aber auch von generellen Sachverhalten dient. So ist etwa der Dekalog im Jussiv for-muliert und wäre zu übersetzen als: »Du wirst nicht...« Scholem spricht hier von »der allgemeinen Darstellung von Präsens durch Futur«, die er als ethisch interpretiert: »Futur ist Befehl, und so ist die Forderung Gegenwart, Sein.« (Ebd.) Scholem begründet diese Ethik hier durch einen Zusammenhang mit dem göttlichen Sprechen, wenn er als Beispiel Lev. 19, 2 wählt: »rnn D'cnp [ke-doschim tihiju, ihr sollte heilig sein], d. h. ihr sollt sein = ihr werdet sein = ihr seid. Ihr seid heilig, weil ich heilig bin, nur das ist der Sinn der Forderung, das

Der Bezug von Gerechtigkeit und Offenbarung wird bei Scholem explizit durch einen Rekurs auf Jes. 56, 1 (nfwb Tp-isi, »daß meine Gerechtigkeit offenbart werde«) hergestellt: »Gleichwie die kommende Welt besteht, besteht die kommende Gerech-tigkeit. Dieses Kommen ist ihre Entfaltung, z'dakah wird nicht, sondern offenbart, entfaltet sich (Jesaja 56, 1). Ihr Kommen ist nur das Durchbrechen des strahlenden Mediums durch eine Verdunkelung.« (T II , 530) Scholem bezieht sich hier im wesentlichen auf Cohens Der Begriff der Religion, die-ser setzt sich wiederum mit Maimonides« negativer Attributenlehre und dessen In-terpretation der messianischen Zeit auseinander

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reine Antl i tz , die Gegenwart dieser Heiligkeit zu entfalten.« (Ebd.) Wie bei der

prophet ischen Ironie sehen wi r auch hier einen Zusammenhang verschiedener

(göttlicher und menschlicher) Sprechakte eine Verwandlung darstellen.

Der zweite von Scholem entwickelte Punkt betrifft die waw-Form im bibli -

schen Tempussystem: Die Hinzufügung des Präfixes 1 (waw, bedeutet alleine

auch »und«) führt im Hebräischen dazu, eine Verbform von der Vergangenheit

in die Zukunft zu verwandeln und umgekehrt. Diese Fo rm wird auch waw-

consecutivum oder Narrat iv genannt, weil sie besonders zur Darstellung einer

fort laufenden Hand lung in der Vergangenheit verwendet wird: »Esra öffnete

(Perfekt) das Buch und las (waw-Imperfekt: »und wird lesen«) aus ihm und das

Volk hörte (waw-Imperfekt: »und wird hören«) den ganzen Tag zu.« Scholem

interpretiert das Waw ha-Hippuch explizit als Verwandlung der Zeiten: »Was

geschieht dort? In der Verbindung verwandeln sich die Zeiten: Vergangenheit

in Zukunft und Zukunft in Vergangenheit, und wie? Im Medium der Gegen-

wart. Die Zeit des "nsnrr'i [waw ha-hippuch] ist die messianische Zeit. Der

Name Gottes allein verbürgt die metaphysische Möglichkeit dieser Konstruk-

tion. N ur was wieder geschehen kann, geschah.« (Ebd., 236f)

In der sprachlichen Darstel lung erscheint hier eine mehrdimensionale Zeit,

i n der auch die Dialekt ik des Aufschubs denkbar ist.400 Auch hier handelt es

sich nicht um eine rein sprachtheoretische Konstrukt ion, sondern wird als im

Namen Gottes »verbürgt« behauptet. Aber auch dieser N a me wird hier nicht

wie in der kabbalist ischen Sprachtheorie von der symbol ischen Fülle her ge-

dacht, welche er artikuliert, sondern von der durch ihn instituierten Zeitl ich-

keit, wie die Reflexion Scholems auf den Gottesnamen rrnx (ehjeh, er wird sein)

aus Ex 3,14 deutlich macht: »Der Gott der »sein wird«, fordert die Zeit, die »sein

wird«. Wie aber Gott ist, so ist auch diese Zeit.« (Ebd., 236)

Schließlich interpretiert Scholem drittens eine Kombinat ion der beiden an-

deren Fälle, wenn nämlich eine Forderung als zukünft ig angesprochen wird

durch ein waw-Imperfekt.

Im TBnrr'i [waw ha-hippuch] der Forderung, die als Vergangenheit ausgesprochen werden darf: als verbundene Vergangenheit: ranxi [we' ahavtaa], Du sollst lieben, das ist nur möglich, dir zu befehlen, weil du geliebt hast. Am Gewaltigsten von allen erscheint hier das Messianische in der Sprache, indem seine Strahlen selbst die Vergangenheit erheben. Nur eine Sprache, die jüdisch war, konnte solche Kon-struktionen erzeugen.« (Ebd., 237)

Im Jona-Aufsatz geht Scholem auf das vn [wa-jehi, und es geschah] ein, daß das Buch eröffnet und der waw-Imperfekt von »sein, geschehen« ist: »Zwar ist das episodische »und« ( in) im Gebrauch der historischen Erzählung durchaus gebräuchlich; es ist aber vielleicht doch erlaubt, es hier in seiner ursprünglichen Bedeutung als Symbol der Unendlichkeit des Geschehens zu nehmen, aus der das Wort Gottes an Jona er-geht.« (T II , 531)

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»GERECHTIGKEIT« UND »IRONIE« 221

Die waw-Tempora konstituieren hier einen Raum, in dem die Gerechtigkeit darstellbar ist.401 Es ist auch das Tempus des kanonischen Textes - das rabbini-sche Hebräisch benutzt kein waw-consecutivum mehr -, an ihm reflektiert sich daher auch die exegetische Erfahrung Scholems mit der Bibel. Dabei wird deut-lich, daß sich Scholems Sprachreflexion hier nicht auf die Bedeutung von Zei-chen konzentriert, sondern auf Diskurse und Sprechakte, wie gerade am Gottesnamen deutlich wird. Die Überlegungen zum »inter-diskursiven« Raum verschiedener Sprechakte, die schon auch seine Lektüre des Jona-Buches prä-gen, werden noch deutlicher, wenn Scholem sie vom Verhältnis der verschiede-nen Momente der Offenbarung her denkt.

Wie wir gesehen haben, ist die Gerechtigkeit Gottes nicht einfach ein Ge-genstand, über den die Prophetie spricht, sondern manifestiert sich in dieser selbst. Die Prophetie verkündigt daher auch nicht einfach ein ihr fremdes Ge-setz. Dieser Gedanke ist von zentraler Bedeutung für Scholems Reflexion über die Stellung der Prophetie im Kanon bzw. über das Verhältnis der verschiede-nen Teile des Kanons zueinander: »Thora, Prophetismus und Tradition sind die drei Teile [...] des jüdischen Systems. Keiner kann ohne den andern zu Ende ge-dacht werden.« (T II , 359) Diese Verhältnisbestimmung wird sich als wesent-lich auch für die gesuchte positive Bestimmung von Gerechtigkeit erweisen.

Die Bedeutung, die das Verhältnis von Prophetie und »Gesetz« für Scholem hat, ist besonders in den Vorstufen des Aufsatzes deutlich: »Die schriftliche Thora kann nicht ausgeführt werden. Sie ist Offenbarung. Die Offenbarung ist ethisch verstanden der Limes aller Ausführbarkeit, Limes aber nicht im Sinne der Annäherung der ganzen Reihe an sie, sondern daß es der unmittelbare Limes jeder individuellen Tat überhaupt ist.« (Ebd., 355)

Das liegt offensichtlich in der Richtung von Scholems Kriti k der Orthodo-xie, in deren Kontext der Aufsatz ja gehört: Die Thora sei nicht einfach ein Gesetz, sie sei Offenbarung, aber könne nicht einfach in die Anwendung über-gehen. Die Unterscheidung von Gesetz und Offenbarung findet in der Refle-xion über die prophetische Ironie statt. Aber damit ist die Thora selbst nur negativ bestimmt, mit anderen Worten: Die Rede vom »unmittelbaren Limes« bleibt schwer verständlich: Wenn die Thora nicht einmal als Grenzwert »antizi-piert« werden kann, wie ist sie dann überhaupt erschlossen?

Bei Jona konnte die »Gerechtigkeit« Gottes gleichsam in einem Hintersinn des Buches, durch Jonas Mißverständnis dargestellt werden, in der Thora, in der die ganze Dramaturgie zwischen Gott und dem Propheten nicht vorhanden ist und die sich als direkte Rede Gottes versteht, erscheint das nicht in derselben

Vgl. auch die Formulierung in Scholems Thesen: »Die Zeit des "nanrr'i [waw ha-hip-puch, waw consecutivum] ist die messianische Zeit.« (T II , 305)

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Weise möglich. Wie kann daher die »Gerechtigkeit« Gottes außerhalb der p ro-

phetischen Schriften verständlich sein, wenn diese nicht »Gesetz« sein soll?

H ier kommt Scholem auf die Überlegungen zur »Tradition« zurück:

Die Idee der Gerechtigkeit ist im Judentum diejenige, die das Verhältnis des Ka-nonischen zur Tradition kennzeichnet. Beide bleiben ohne sie im eigentlichen Sinne einander fremd und beziehungslos. Aber eben in der aus dem Kanonischen er-stehenden Gerechtigkeit wird die Tradition in der tiefsten Schicht erreicht und fun-diert. Denn eben das besagt die Idee der Tradition: die (geschriebene) Thora kann nicht angewandt werden. Sie ist das Recht Gottes, das noch nicht Gerechtigkeit ist, vielmehr dazu sich wandelt, in dem unendlichen Aufschub der Tradition. Offen-barung und messianische Zeit sind in ihr unzertrennlich verbunden. (T II , 529)

Di e Gerechtigkeit manifestiert sich hier wieder auf einem Umweg, im Verhält-

nis von Kanon und Tradit ion. Scholem bestimmt dabei das »Kanonische« weder

als ein Gesetz, das unmit telbar gilt, noch als etwas ganz anderes als das Gesetz;

ihre Funkt ion ist es gerade, als nicht angewandtes, aufgeschobenes Gesetz die

Tradit ion zu fundieren. Insofern die Offenbarung die Gerechtigkeit Gottes of-

fenbaren soll, impliziert sie also bereits die Tradit ion, denn die Gerechtigkeit

kann sich nur als »Verwandlung«, in der »ewigen Gegenwart« zeigen, die in der

Tradit ion zum Ausdruck kommt.4 02

Tatsächlich besteht die Tradit ion - oder, wie Scholem in einer Variante zum

letzten Satz des vorigen Zitates sagt: »die mündliche Tradition« (Ebd., 535) - in

einer Verwandlung des Kanonischen. Besteht die jüdische Tradit ion doch im

wesentlichen in einer Aufschmelzung des heiligen Textes zu einer Sprache. Wie

einleitend gesagt (s. o. Kap. 2.1.) schreiben die Rabbinen mit der Thora, d. hs ie

lösen die konkrete Bedeutung der göttl ichen parole immer mehr auf und ver-

wandeln den Text in eine langue, in der sie auch anders sprechen können als der

Text.

Diese Öffnung vollziehen die Rabbinen durch fortgesetzte bohrende Fragen

an den Text, die das spezifische der rabbinischen Exegese ausmachen. Dement-

sprechend charakterisiert Scholem den »unendlichen Aufschub« durch die Tra-

dit ion auch durch die an anderer Stelle schon entwickelte Dialektik von Frage

und Antwort:

Die Frage ist ein unendlicher Zyklus; das Symbol dieser Unendlichkeit [...] ist die rhetorische Frage. Diese »jüdische« Frage kann mit Recht als mediale bezeichnet werden, sie kennt keine Antwort, das heißt ihre Antwort muß wesensmäßig wie-der eine Frage sein; im allertiefsten Grunde gibt es im Judentum den Begriff der

402 Die Bedeutung dieser Perspektive auf die Tradition hebt ein Untertitel des den Jona-Aufsatz noch einmal zusammenfassenden Manuskripts »Zwölf Thesen über die Ord-nung der Gerechtigkeit« hervor: »Grundbeziehung: Kanon - Symbol - Deutbarkeit schlechthin« (T II , 533).

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Antwort nicht. In der Thora gibt es weder Fragen noch Antworten. Das hebräische Wort für Antwort heißt T'schuwah, das ist richtig übersetzt: Erwiderung, Umkehr, der Frage nämlich, die ein neues Vorzeichen bekommt, und so gleichsam zurück-kehrt. Von hier aus ist das Prinzip der talmudischen Dialektik leicht verständlich.« (Ebd., 526)403

Die »Unendlichkeit« des Mediums der Tradition kann daher auch als »Aufschub« im unendlichen Kontinuum der Fragen verstanden werden. Zugleich spricht Scholem hier aber auch von einem Außerhalb der Frage, denn in der Thora gibt es nicht nur keine Antworten, sondern auch keine Fragen. Sie wäre als das Er-füllende der Tradition undialektisch. Die Natur dieser erfüllenden Offenbarung ist immer noch wenig bestimmt: Wenn die »Erfülltheit« der Tradition »Gerech-tigkeit« ist, die zugleich »Offenbarung« und deren »Aufschub« ist, läßt sich dann über diese Offenbarung selbst noch etwas sagen, kann unabhängig von Tradi-tion und Prophetie nach ihr gefragt werden? Kann sich also die »Gerechtigkeit« Gottes anders manifestieren als indirekt, über dem Umweg des Aufschubs? Das ist zugleich die Frage nach der Stellung der Thora, der Scholem diese Funktion der Erfüllung zuschreibt.

2.5.3 Jona undHiob. Scholem erörtert die Frage des Kanonischen, also das Pro-blem der Offenbarung jenseits des Prophetischen im Jona- Aufsatz in einer kur-zen Erwähnung des Buches Hiob, das er als Parallele zu Jona bezeichnet: »Beide Bücher sind selbst Fragen, beide geben keine Antwort, sondern die Frage selbst ist die Lösung.« (T II , 525) Scholem hebt aber auch einen Unterschied hervor, der zugleich die prophetische Offenbarung von anderen abgrenzt: »Ihr Gegen-stand scheint derselbe: Gottes Gerechtigkeit, aber doch eben ganz verschieden, denn Hiob fragt allerletzten Endes nach dem Nichterfragbaren an dieser Ge-rechtigkeit, dem aller Prophetie Entzogenen und zu ihr Inkommensurablen. Jona aber stellt gerade das Erfragbare (nicht aber das Beantwortbare, denn das gibt es überhaupt nicht) an ihr dar, das die Wurzel des Prophetismus ist.« (Ebd.)

Wir sehen hier, wie Scholem seine »Theorie der Frage« durch das neu einge-führte Element des »Nicht-Erfragbaren« radikalisiert. Rekapitulieren wir kurz: Jona fragt irrtümlich nach dem Recht Gottes, diese Frage erweist sich durch Gottes Belehrung als gegenstandslos - bei Jona ist daher die »Grenze des »Guten« gegen das »Wirkliche««, die das Recht konstituieren würde, nur ein »metaphysischer Schein« (ebd.). Die Frage findet daher auch keine Antwort,

Vgl. bereits in der Notiz über den talmudischen Stil: »Das hebräische Wort für Antwort heißt T'schuba, d. i. richtig übersetzt Erwiderung. Umkehr, der Frage näm-lich, die ein neues Vorzeichen bekommt und so gleichsam zurückkehrt. Der einzig mögliche Begriff der Antwort ist der religiöse in der Bedeutung des Erhörens (n:j> ['ana]).«(T 11, 311)

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sondern wird indirekt belehrt, so wird der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit dargestellt, der also in Scholems Worten das »Erfragbare« an der Gerechtigkeit Gottes ist.

Anders nun bei Hiob, hier sei die »Grenze des Guten gegen das Wirkliche« kein metaphysischer Schein, »aber eben nur dadurch nicht, daß eine Frage er-hoben wird, die uns nicht ansteht. [...] Das ist die Ironie von Hiob.« (Ebd.) Die Bedeutung dieser Äußerung wird an einer Reihe von Aufzeichnungen aus der selben Zeit klarer: Auch das Buch Hiob sei ironisch, denn »indem es eine be-stimmte Einstellung lehren will , die es aber nicht ausspricht, stellt es sich auf den entgegengesetzten Standpunkt« (T II , 376). Auch hier geht es also um eine »in-direkte Belehrung«, das Buch nimmt ironisch einen Standpunkt ein, den man durch die Frage der Theodizee charakterisieren kann.404 Es wird also - zum Schein - direkt nach der »Gerechtigkeit Gottes« gefragt. Das Buch lehrt nun aber nach Scholem gerade die Gegenstandslosigkeit dieser Frage: »Was nicht Forde-rung ist an der Gerechtigkeit, ist nicht zu erfragen, ist in menschlichen Bezirken prinzipiell gegenstandslos. Die Gerechtigkeit Gottes ist kein Problem. Der Pro-phetismus kann nicht übersteigert, potenziert werden.« (Ebd., 376f) Der Frage des Buches entspreche also nicht nur keine Antwort, sondern nicht einmal eine »uns anstehende« Frage. »Erfragbar« wäre an der Gerechtigkeit Gottes nur das, was im Buch Jona dargestellt ist, nämlich ihre Grenze gegen das Recht, also gegen das Menschliche. Nur in der prophetischen Verkündigung, die - wenn sie sich richtig versteht - das menschliche Recht durch die Gerechtigkeit Gottes kri-tisiert, erscheint die Gerechtigkeit, darüber hinaus ist keine Frage möglich.405

Wieder wird diese Lehre indirekt erteilt, durch den Verlauf der Handlung des Buches: Hiob stellt die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes und im Verlauf der weiteren Gespräche »wird gezeigt, daß, einmal erhoben, die Frage nicht beant-wortbar oder auch widerlegbar ist. Hiob ist im Recht.« (Ebd., 377) Hierin scheint nach Scholem der entscheidende Unterschied Hiobs zu Jona zu liegen: Hiobs

Tatsächlich ist es fraglich, ob der Gedanke der Theodizee wirklich im Mittelpunkt des Buches Hiob steht; die wohl zutreffendere Interpretation, es gehe hier weniger um das abstrakte Problem der Theodizee als um die Frage nach dem rechten Verhal-ten im Leiden, ändert nichts an der Ironie der Belehrung (vgl. dazu Fohrer, Studien zum Buch Hiob; von Rad Theologie des Alten Testaments; Bd. I, 426f, der betont, daß es hier um »Rechtfertigung« geht, d. h. Hiob will sich seines Gottes versichern). Hiob fragt sozusagen über das Medium hinaus, darin liege auch die Beziehung Hiobs zur Klage als Sprache der Grenze: »Das Buch Hiob ist in seinem ersten Teil eine Klage und die, natürlich, vergeblichen Versuche, auf Klage zu antworten. Denn hat jemand die Grenzen gesehen, die sich rings um sein Leben ausdehnen, so klagt er mit Recht [...]. Die Freunde verstehen dies nicht, sie wollen nicht trösten, sondern ant-worten. Antworten aber auf die Klage kann nur Gott, und diesen Satz bestätigt der zweite Teil.« (T II , 378)

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Unwiderlegbarkeit beruht nicht wie die Jonas auf einer Verwechslung von Recht und Gerechtigkeit bzw. auf »metaphysischem Schein«. Hiob fragt ja auch nicht »mechanisch« nach Vergeltung, sondern verlangt nur danach, mit seinem Gott wie-der in ein »gerechtes« Verhältnis zu kommen. Trotzdem ist diese Frage gegen-standslos, was sich im Mittelteil des Buches - den Gesprächen mit den Freunden -zeige: Hier werde »an der Endlosigkeit der kreisenden Gespräche symbolisch sichtbar gemacht, daß hier keine legitime Frage vorliegt« (ebd.). Aber das Buch bleibt dabei nicht stehen: Hiob steigert seine Klagen im Verlauf des Dialogs und fordert Gott schließlich zum Rechtstreit. Gott erscheint, aber nur um Hiob die rhetorische Frage zu stellen, wo dieser denn bei der Schöpfung gewesen sei. In dieser Gegenfrage liegt für Scholem der Schlüssel zum Buch. Gott erscheint:

Aber er antwortet nicht, er entscheidet nicht, er lehrt nicht. Sondern erfragt zurück aber - und das ist ungeheuerstes Symbol dessen, was dieses Buch zu sagen hat - hat ihn Hiob in (scheinbar) ethischer Ebene gefragt, ihn über Geschichte angeklagt, so fragt Gott, antwortet mit einer Frage nach der Natur, der Kosmogonie. Das ist Iro-nie. Gott redet über etwas, über das der Streit ja scheinbar gar nicht ging. (Ebd., 377)

Es gibt hier also auch kein Gespräch, keine »Begegnung« zwischen Mensch und Gott, sondern dieser stellt nur die »eine »ironische Gegenfrage«. Indem Gott »iro-nisch die Frage reflektiert [...] zeigt er Hiob, daß so dessen eigene Frage nichts taugte«. Trotzdem verurteilt Gott Hiob nicht - wohl aber die Freunde, die ver-sucht hatten Hiobs Frage zu beantworten - und Scholem scheint auch davon aus-zugehen, daß der nicht stattfindende Rechtsstreit eine heilsame Wirkung hat. Auch hier werde Recht »annihiliert«: »Die Ordnungen des Gerichtes sind umge-stürzt, und im Grunde dieses Umsturzes wohnt die große Einsicht, daß Gott nicht verteidigt werden kann - gleich wie er selbst andere und sich selbst richtet, zeugt und anklagt, sich aber nie verteidigt, sondern stets nur andre.« (Ebd.) Es scheint also, daß die Frage nach der »Gerechtigkeit Gottes« für Scholem »wirk-lich«, aber »nicht erfragbar« ist. Schon vor der Abfassung des Jona-Textes hatte Scholem notiert: »Genausowenig wie eine Möglichkeit besteht eine Verpflich-tung, den konsequenten Zweifler zu widerlegen. [...] Natürlich hat der Atheist das Recht mich nach Gott zu fragen, aber noch unendlich legitimer habe ich das Recht, nicht zu antworten. Ein Gespräch, das der Resonanz entbehrt, ist a priori unerlaubt.« (T II , 276)406

Wie wir noch sehen werden, hat Scholem zugleich selbst atheistische Zweifel, seine apodiktische These »Das Dasein Gottes ist kein Problem« (T II , 304; vgl. auch ebd., 160) dienen auch dazu, diese Zweifel als theoretisch unmöglich zu überbieten. - Zur selben Zeit beginnt Scholem eine starke Abneigung gegen Gespräche ohne »Reso-nanz« zu entwickeln, so etwa in einem Brief an Heller: »Hier ist der Zionismus das Nicht-Erfragbare.« (Br 1,199) Scholem nimmt nicht gerade uneitel (dafür umso ver-klausulierter) die Position dessen ein, der wisse »daß es zum Wesen gegenstandslo-

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Di e Logik der Frage ist damit um ein Element erweitert, das bei der indirek-

ten Belehrung Jonas noch keine Rolle spielte: Das »Nicht-Erfragbare«. Es ist zu-

gleich auch die »Offenbarung«: Gottes Gerechtigkeit ist offenbar, aber sie stellt

kein »Problem« dar, und jeder Versuch, sie zu problematisieren, muß sich selbst

ad absurdum führen. Das Nicht-Erfragbare der Gerechtigkeit, das nicht einge-

hen kann in das Kont inuum der Fragen, das die Tradit ion konstituiert, ist zu-

gleich das Kanonische: das Moment an der Offenbarung, das nicht mehr über

Fragen zugänglich ist. Wie wi r sehen werden, ist daher gerade das Buch H iob

noch für den späten Scholem das Paradigma für die Frage nach der Offenbarung.

Scholems Gedanken über H iob sind um so wichtiger, als sie einen der selte-

nen Fälle darstellen, an denen Scholem sich auch später noch einmal direkt auf

seine jugendl ichen Über legungen bezieht. Daß Gott nicht verteidigt werden

könne, bezeichnet Scholem noch 1968 als eine seiner entscheidenden theologi-

schen Einsichten, aber seine Posit ion erscheint jetzt viel gebrochener, wie sich

gerade an Äußerungen über das Buch H iob aus derselben Zeit zeigt.407 Immer

noch spricht Scholem von der Ironie des Buches: H iobs Anspruch auf Gerech-

tigkeit »est reconnu de Dieu d'une fa^on ironique, parce qu'aucune reponse que

Dieu donne ä Job est au niveau oü la question avait ete posee«.408 Immer noch

ser Dinge gehört, auf gegenständliche Weise nicht ad absurdum geführt werden zu können«, woraus folge, »daß eine Diskussion hier völlig sinnlos ist, weil er dem B. [hier Heller, im obigen Sinn: dem Zweifler] nicht auf das Gebiet der Frage folgen kann, von dem er weiß, daß auf ihm nichts entschieden werden kann.« (Ebd.) - Auch später hat Scholem einen starken Vorbehalt gegen Gespräche, das bezieht sich nicht nur auf das »deutsch-jüdische Gespräch«, vgl. noch spät die Ablehnung einer Aus-einandersetzung mit Jonas über die Deutung der Gnosis: »Was soll eigentlich aus sol-chem Gespräch, in dem man aneinander vorbeiredet, herauskommen?« (Br III , 160) An Lichtheim schreibt er 1968, die »zentrale Zeile« seines Lehrgedichtes über Kafka bezöge sich darauf, »dass Gott nicht verteidigt werden könne, womit meine Stellung zur Frage von Gotteslästerungen ja wohl deutlich bezeichnet ist« (Br II , 217), er spricht auch von »meiner bekannten Blindheit gegen atheistische Rasereien« (ebd. 200). Scholem, »Quelques Remarques sur le Mythe de la Peine«, 141. (Der Aufsatz existiert auch englisch »On Sin and Punishment«, ich zitiere die französische Fassung wegen der hier abgedruckten Diskussion). - Scholems Äußerungen über Hiob gehören zu den seltenen Fällen, in denen sich der späte Scholem zu Fragen biblischer Religion äußert. Er betont die Bedeutung des Buches: »sans ce livre le Judaisme ne serait pas ce qu'il est dans l'histoire des religions« (Ebd., 140). - Vgl. auch Alter zu Scholems Interpretation von Hiob: »He repeatedly linked Job with Kafka not only because of the themes of judgement and inscrutable justice but also, I suspect, because of Jobs heterodox Ver-sion of revelation. It is revelation, after all, that »resolves« Job's quandary. When the Lord thunders his poetry from the whirlwind, we are drawn into a dazzling vision of sheer cosmic power, and of the uncanny beauty of power, that shatters human frame-works, including the Bible's own picture of a hierarchical, anthropocentric creation.« (Necessary Angels, 110)

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reden Gott und Hiob hier aneinander vorbei, aber das Resultat ist keine »indi-rekte Belehrung« mehr, kein »Umsturz des Gerichtes«, sondern wieder - Ironie: »Le comble de l'ironie dans ce livre si riche en ironie, c'est que Job, apres avoir demoli, aneanti le mythe courant de la peine, l'accepte, pour ainsi dire, de nou-veau en haussant les epaules; sauf que ce mythe s'en trouve repousse en arriere: du domaine de l'histoire et de la prehistoire au domaine d'une cosmogonie ab-solument impenetrable.«409

Hier wird der Gedanke der Gottesgerechtigkeit, über die zu belehren der Sinn des Hiob-Buches war, nicht mehr erwähnt, genausowenig der einer letzten, mes-sianischen Realität, die diese Probleme versöhnen würde, es bleibt allein der nackte Gedanke der Ironie. Auch in der Diskussion, die an den Vortrag ansch-ließt, wehrt sich Scholem mit einiger Verbissenheit gegen die Versuche, diese Iro-nie zu interpretieren und verständlich zu machen: »Je disais que c'est scandaleux de donner une reponse comme celle-ci [de Dieu]. Cela n'a pas de sens.«410

Scholem ist jetzt sehr viel skeptischer, was die »Lehre« des Buches angeht. Es möge ja sein, daß die Frage für Gott gegenstandslos sei, aber das mache das Buch nicht verständlicher: »»S'il n'y a pas de question pour toi - aurait-il [Job] pu dire -le probleme existe bien pour moi«. Mais Job au contraire accepte cette - comment le dire sans blasphemer? - ce bavardage comme reponse; mais nous les lecteurs, nous ne pouvons pas l'accepter.«411 Das ganze Buch bleibt ironisch, aber Scholem nimmt nicht mehr die Position dessen ein, der diese Ironie versteht und deutet.

Hiob bleibt ein Rätsel - gerade darum erscheint Scholem das Buch immer noch als Paradigma für das Problem der Offenbarung, wie an anderer Stelle

Scholem »Quelques Remarques sur le Mythe de la Peine«, 141. Scholem, a.a.O., 159. - In der anschließenden Diskussion verteidigt Scholem diese Ironie: »Le Livre de Job est un livre ironique. Si on l'entend autrement, il n'a pas de sens.« - »Je pense qu'il y a deux livres dans la Bible qui sont ironiques: le livre de Jona, le plus important document de l'ironie biblique, une explication ironique de l'essence de la prophetie, et le livre de Job.« (Ebd., 147) Vgl. auch die nächste Anmerkung. Scholem, a.a.O., 160. - Die anschließende Diskussion verläuft aufschlußreich: Scho-lem gibt nur sehr selten Kommentare und leistet heftigen Widerstand gegen die her-meneutisch ausgerichteten Versuche der Mitdiskutanten, die Bibel zu »verstehen« (etwa indem man den Rahmen (die Wette Gottes mit dem Teufel) des Hiob-Buches heranzieht, vgl. ebd., 149). Auf Castellis Einwand: »Vous faites une distinction fon-damentale entre les textes et l'hermeneutique, n'est-ce pas? Ici, nous sommes des her-meneutes« antwortet Scholem, die von den anderen vorgebrachten Deutungen seien »precisement ce que l'auteur vous a defendu. En effet vous dites: je me refuse ä ce choix.« (Ebd., 155; vgl. auch 160) Gerade der starke Offenbarungsbegriff hindert Scholem daran, hermeneutisch über den Text hinaus zu deuten, gerade das führt zur scharfen Betonung der Paradoxie, die an Kierkegaard erinnern mag, s. dazu Kap. 2.6.2.

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deutl ich wird, an der Scholem bezeichnenderweise sich auch wieder der Rede

von der »Frage« bedient.412 Religionsgeschichtlich betrachtet, würden die »bis

heute durch die Jahrtausende hallenden und unbeantworteten Fragen des Bu-

ches Hiob« den entscheidenden Moment darstellen, wo sich das »fragende Den-

ken« an den biblischen Gott heranwage, der selber »kein Produkt des Denkens«

sei (Gb, 10). U nd in genau diesem Buch erweise sich Go tt auch »als ein wahr-

haft jüdischer Got t, der auf unbeantwor tbare Fragen mit noch viel unbeant-

wortbareren antwortet« (ebd., lOf). Wieder ist jetzt für Scholem die Reaktion

Hiobs das eigentlich verwunderl iche:

Und doch, die offensichtliche Inadäquatheit der Antwort auf eine nur allzu sinn-volle Frage löst bei ihrem Partner nicht Skepsis aus, sondern überwältigt ihn, wenn man das für eine Form der Überzeugung halten darf. Der Gott, der zu Hiob aus dem Sturme spricht, ist so real, daß er die Fragen des sich regenden Gewissens überschreien kann und dieser Schrei seinen Kritiker beruhigt. In seiner Einheit ist dieser Gott, von Moses bis Hiob, zugleich ganz und gar Persönlichkeit, und weil er Persönlichkeit ist, gibt es Offenbarung. (Gb, 11)

Für den späten Scholem scheint das Buch H iob also nicht mehr durch die »kom-

munikative« Logik des indirekten Beispiels best immt (und damit auch ver-

ständlich), sondern durch eine Offenbarung, die bis zur Gewaltsamkeit real ist

und fast den Charakter einer dämonischen Epiphanie hat. Bezeichnenderweise

spricht er immer noch von der »Frage« (und »Gegenfrage«): Auch in bezug auf

»Offenbarung« ist das Denken fragend, aber es richtet sich auf etwas, was »nicht

erfragbar« ist und damit nicht zu erreichen.

Der Begriff der »Nicht-Erfragbarkeit« ist damit die letzte Kategorie der Phi-

losophie im Sinne einer »Theorie der Frage«, als die Scholem die Philosophie be-

st immt hatte (s. o. 2.2). Insofern diese Formul ierung ihren Gegenstand nicht

von diesem selbst her denkt, sondern von seiner (wenn auch negativen) Zu-

gangsweise, haben wir hier es hier durchaus noch mit einem phi losophischen

Begriff, nicht mit einem eigentlich theologischen zu tun - die Theologie würde

nicht vom »Nicht-Erfragbaren«, sondern von »Gott« oder »Offenbarung« spre-

chen. Das »Nicht-Erfragbare« stellt damit die negative Best immung der Grenze

2 Zur »Frage« vgl. auch die Geschichte, daß er in die kabbalistische Überlieferung ein-geweiht worden wäre, wenn er in die Bedingung eingewilligt hätte, keine Fragen zu stellen und die daran anschließende Charakterisierung der Kabbala als »ein Denken, das nicht aus Frage und Antwort konstruierbar ist« (KS, 117). An anderer Stelle spricht Scholem davon, die Kabbala fasse Erkenntnis auf »als eine in Gott gegrün-dete Frage, die keiner Antwort entspricht« (J III , 266); ähnlich über die Erkenntnis-theorie des Sohar: »Es gibt gewisse Bereiche des göttlichen Seins, nach denen man fragen kann und Antwort erhält. [...] Aber schließlich stößt die Meditation über Gott an einen Punkt, an dem noch »wer« gefragt werden kann, aber keine Antwort mehr zu erhalten ist. Vielmehr ist die Frage selbst hier schon die Antwort.« (JM, 240)

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zwischen Philosophie und ihrem Jenseits dar, insofern sie von der Philosophie gesehen wird.413

Gerade der Versuch, sich der Religion möglichst weit rein philosophisch zu nähern bzw. der Anspruch, das Judentum beweisen zu wollen, hindert Scholem hier daran, das, was sich der Frage entzieht, als Absolutes zu hypostasieren: Das Denken bleibt fragend und paradox, von einer Antwort ist immer noch nichts zu vernehmen. Auch wenn Scholem später sehr viel resignierter ist, was die Möglichkeit des Verstehens angeht, und die philosophische »Theorie der Frage« nicht mehr als solche formuliert, bleibt doch die Spannung präsent, die im Ver-hältnis von Frage und Nicht-Erfragbarem liegt. Sie prägt nicht nur die in den nächsten Kapiteln zu entwickelnden theologischen Überlegungen Scholems, sondern weist voraus auf seine Historiographie. Denn die Frage nach den Fra-gen strukturiert auch einen Raum, der sich später als geschichtlicher zeigen kann; so schreibt Scholem in den Vorstufen des Jona- Aufsatzes: »Religiöse Be-griffe sind solche, an denen ein Bezirk des prinzipiell nicht Erfragbaren nach-weisbar ist. Ist dies keine Definition, so eine Aussage. In der Präzision einerseits und Überschreitung andererseits vollzieht sich die Religionsgeschichte, die es als solche natürlich nicht gibt.« (T II , 373)

413 Die Kategorie ähnelt daher der Cohenschen Grenzbestimmung, der sich in Der Be-griff der Religion im System der Philosophie ebenfalls um eine Bestimmung der Grenze der Religion von der Philosophie her bemüht: Für Cohen hat die Religion innerhalb der Philosophie eben keine »Selbständigkeit«, denn diese würde das System der Vernunft und die Einheit der Kultur sprengen, sondern nur »Eigenart«, daher gibt es auch kein eigenständiges religiöses Vermögen, sondern die Religion wird im Ver-hältnis zu den Grunddisziplinen der Philosophie (Logik, Ethik, Ästhetik, Psycholo-gie) besprochen, vgl. ebd., 14f, 42ff.

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TEIL B: THEOLOGIE

»Tradition« und »Offenbarung« sind bei Scholem nicht nur sprach- und ge-schichtsphilosophische Begriffe, sondern werden auch im Kontext einer theolo-gischen Problemstellung entfaltet; um Scholems starken Begriff von »Tradition« zu verstehen, ist es daher unerläßlich, auch Scholems Reflexionen zur Theo-logie heranzuziehen. Dabei handelt es sich im Vergleich zu den bisher thema-tisierten Jugendaufzeichnungen um späte Texte, die von den dreißiger bis in die siebziger Jahre reichen; sie geben uns daher zugleich die Möglichkeit, zu verfolgen, wie Scholem die in seiner Jugend entwickelte Begrifflichkeit später verwendet.

Wie ich schon in der Einleitung hervorgehoben habe, ist es nicht ungefähr-lich, von der »Theologie« Scholems zu reden, jedenfalls, wenn darunter einfach »geglaubte« Überzeugungen und solide Fundamentalsätze verstanden werden, die »hinter« dem ganzen Werk stehen sollen. Demgegenüber gilt es, vor allem drei Dinge zu beachten: Erstens darf die Interpretation sich die Theologie Scho-lems nicht unkontrolliert im gesamten Werk zusammensuchen, sondern muß von den spezifisch theologischen Äußerungen Scholems ausgehen, das heißt von solchen, die er als Beiträge zu einer theologischen Diskussion versteht.414

Zweitens muß dazu der jeweilige historische Kontext in der Theologie heran-gezogen werden, um die innere Logik dieser Diskussionen zu verstehen; prä-gend auch für die jüdische Theologie ist dabei m. E. der Epochenbruch, den die dialektische Theologie am Anfang des Jahrhunderts darstellt. Drittens und vor allem gilt es zu bedenken, daß theologische Reflexion in der Entwicklung von Problemen besteht, sie ist nicht das Bekenntnis von »Weltanschauungen«, son-dern eine reflexive Disziplin mit einer je spezifischen Problematik. Es wird sich zeigen, daß Scholems wichtigste Äußerungen zunächst »Prolegomena« zur Theologie sind, Grundlegungen der Theologie auf theologischem Grund. Scho-lems Skepsis gegenüber Dogmen muß daher weniger als Ausdruck einer gehei-men »negativen Theologie« (oder auch seines »Messianismus«) verstanden

Dazu gehört natürlich vor allem, daß nicht jeder Satz über die Theologie eines Kab-balisten bereits ein theologischer Satz Scholems ist. Ich will keinesfalls bestreiten, daß die Theologie Scholems auch zwischen den Zeilen seiner historischen Texte steht, aber es scheint mir ungeschickt, von diesen auszugehen, weil man erstens zunächst dieses Phänomen des »Zwischen den Zeilen Stehens« selbst verstehen muß, weil sich zweitens die Prägnanz einer Position hier wie auch sonst am besten in der Polemik äußert.

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THEOLOGIE 231

werden denn als Zweifel an der Möglichkeit theologischer Rede überhaupt -und das heißt auch an der Rede der negativen Theologie.415

Was eine solche Grundlegung bedeutet, kann man an Scholems spätem Auf-satz Reflections on Jewish Theology verdeutlichen. Scholem betont hier, nicht ohne Ironie, daß er nicht zu den »fortunate ones« gehöre, die von einem »Ar-chimedean point« aus eine systematische Theologie aufbauen könnten, »for I have no positive theology of an inflexible Judaism« (JJC, 261). Er wolle daher nur «position and possibilities ofjewish theology today« (ebd.) bedenken, also eine »methodological perspective« (ebd., 277) einnehmen. Diese Erwägung wird nun nicht philosophisch (als Religionsphilosophie etwa) oder rein historisch (als Theologiegeschichte) durchgeführt, sondern stellt die Frage nach den Quellen: »Before one can speak about theology, one must necessarily speak about the sources on which such theology can draw.« (Ebd., 263) Theologie kann sich also nicht frei entfalten als philosophische Konstruktion, sondern nur in bezug auf etwas Vorgegebenes. Daher sei vor allem anderen die Frage nach der Autorität und der Legitimität des theologischen Diskurses zu stellen: »the question of the authoritative sources on which such a theology can draw; in other words, the question of the legitimacy of Revelation and Tradition as religious categories which can constitute the foundation of a Jewish theology« (ebd., 261).

Nur Offenbarung und Tradition können für Scholem ein Fundament abge-ben für Theologie, explizit weist er den Versuch zurück, beim »Glauben« zu be-ginnen: »I did not start out from the faith in God. The reason in obvious. The convicition of the existence of God [...] can be regarded as entirely independent of Revelation. No theology flows from it.« (Ebd., 275f) Der reine Gottesglaube ohne den Gedanken einer Offenbarung kann kaum mehr als eine leere Religio-sität hervorbringen, jedenfalls keine Theologie - eine religiöse Anthropologie

41S Zum Zusammenhang von Theologie und intellectual history gibt es nur wenig Li-teratur außerhalb der im engeren Sinne theologischen Beiträge, obwohl er m. E. oft erhellender als der Vergleich mit Lukäcs und Bloch, die oft als Referenzpunkt des »Aufstands gegen die entzauberte Welt« dienen (etwa von Bolz, Auszug aus derzauberten Welt). Eine Ausnahme bilden hier Löwith und Taubes, die schon früh auf die Bedeutung der dialektischen Theologie für das intellektuelle Klima des zwanzig-sten Jahrhunderts hingewiesen haben. - Es scheint für Geisteswissenschaftler außer-ordentlich schwer, sich in das Innere der theologischen Problematik einzudenken, nicht selten wird »Theologie« in geisteswissenschaftlichen Untersuchungen nur als besonders exotisches Set letzter Sätze oder privater Überzeugungen eines Autors auf-gefaßt. Insbesondere der Einsatz der Kategorie »jüdische Theologie« bei der Inter-pretation Scholems (und nicht weniger Benjamins) scheint mir eine kombinierte Strategie der Aneignung und Distanzierung zu sein: Sie ermöglicht es nicht nur, den Autoren alle möglichen Aussagen als unbefragbar zuzuschreiben, ohne sie interpre-tativ einholen und teilen zu müssen, sondern stiftet auch für den Interpreten noch eine besondere Legitimität.

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232 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

oder »Glaubenslehre« ist daher theologisch unfruchtbar. Schon diese Aussage muß im Kontext der Polemik gegen die liberale Theologie gesehen werden.

Scholem diskutiert in der Folge die möglichen Quellen einer jüdischen Theologie, es sind Bibel, rabbinische Tradition und Kabbala,416 er betont dabei die Uneinheitlichkeit dieser Quellen, insbesondere hinsichtlich ihrer Auffassung von »Offenbarung«: »the most important of these contradictions and precisely for the contemporary observer, surely does not concern the conviction of the existence of God [...]. It concerns the interpretation to which the concept of Revelation has been subjected.« (JJC, 265) »Offenbarung« (und davon abgleitet auch »Tradition«) ist daher auch in dem Sinne das Zentralproblem jüdischer Theologie, daß sie in dieser immer wieder umkreist wird; es gibt nicht einfach >die< Offenbarung, aus der theologische Folgerungen gezogen werden könnten, sondern man muß immer wieder verstehen, was überhaupt das mit »Offenbarung« gemeinte ist. »Offenbarung« und »Tradition« sind niemals rein deskriptive Begriffe, sondern implizieren selbst schon immer eine Theologie.

Das bedeutet, daß eine Rekonstruktion von Scholems theologischer Position nicht vom Gottesbegriff oder von anderen Inhalten theologischer Reflexion ausgehen muß, sondern von seinen Erwägungen über »Offenbarung« und »Tradition«.417 Diese Debatten muß man im Kontext des theologischen Wandels zu Anfang des 20. Jahrhunderts verstehen, der »Offenbarung« vehement in den Mittelpunkt rückt (2.6). Im Anschluß daran werden wir die Entwicklung dieser Probleme anhand der zentralen theologischen Äußerungen Scholems aus der Zwischenkriegszeit diskutieren (2.7), wie wir dabei sehen werden, nimmt der Zweifel Scholems an der Möglichkeit der Theologie immer stärker zu. Drittens werden wir andeuten, wie das theologische Problembewußtsein auch in Scholems historischen Äußerungen noch präsent ist (2.8); hier kann schließlich, unter erneutem Zugriff auf Scholems frühe Aufzeichnungen, auch der Übergang Scholems vom metaphysischen zum historischen Interesse verständlich gemacht werden (2.9).

416 Die jüdische rationale Religionsphilosophie des Mittelalters und der Neuzeit schließt Scholem hier aus, weil sie apologetisch und selektiv sei; zu diesem für Scholems Bestimmung der Mystik zentralen Ausschluß vgl. unten Kap. 3.4.2.

417 Es ist sicher zum Teil Idiosynkrasie, aber auch äußerst bezeichnend, daß Scholem als theologische Vorbilder weder Cohen (der für ihn ein Philosoph ist) noch Buber (der für ihn ein Ideologe ist) erwähnt, sondern ins 19. Jahrhundert zurückgreift: Schon 1916 spricht er gegenüber Lehmann von Hirsch als »von Steinheim abgesehen, dem einzigen Manne, der die Totalität des Judentums möglichst in deutscher Sprache sagen wollte« (Br I, 51).

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THEOLOGISCHER HORIZONT 233

2.6 Theologischer Horizont

Scholems Reflexionen über die Theologie gehören in den Kontext jüdischer Theologie. Es erscheint mir aber sinnvoll, einen Schritt zurückzugehen, um das theologische Problem der Offenbarung verständlich zu machen und den theolo-gischen Epochenbruch am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zu verstehen: zur dialektischen Theologie.418 Auch wenn Scholem diese selbst wenig rezipiert hat - wohl aber ihre Vorgänger Overbeck und Kierkegaard -, prägt sie sein theo-logisches Denken, und die meisten seiner theologischen Polemiken finden in dem von der dialektischen Theologie eröffneten Feld statt. Man geht vielleicht nicht einmal fehl, wenn man Scholem eine Art protestantisches »Schriftprinzip« zuschreibt - viel stärker etwa als Rosenzweig betont er das »Wort«, die »harte Offenbarung«, die Dialektik von Stimme und Schrift; der jüdische Kult und die jüdische Praxis spielen dagegen bei ihm kaum eine Rolle. Es ist daher angebracht, die Darstellung von Scholems theologischem Horizont mit der dialektischen Theologie zu beginnen (2.6.1), bevor man auf die spezifischeren Vorgänger Scholems eingeht. An diesen zeichnen sich dabei bereits jene Probleme ab, die für Scholem auch später zentral sein werden: die »dialektische« Position an der Grenze von Religion und Nihilismus entwickelt Scholem an Kierkegaard (2.6.2), das bei ihm immer problematische Verhältnis der Theologie zum »Leben« oder zur »Praxis« bei Samson Raphael Hirsch (2.6.3), sein Schwanken zwischen einem mystischen und einem supra-naturalistischen Begriff der Offenbarung an Salomon Ludwig Steinheim (2.6.4).

2.6.1 Epochenbruch in der Theologie. Die Tendenz der dialektischen Theologie ist antibürgerlich, antiakademisch und antihistoristisch, sie unterscheidet sich aber von den philosophischen Existentialisten und Dezisionisten, die nur mit der religiösen Rhetorik spielen, insofern sie qua Theologie auch zurückgebunden ist

4,8 Die Rezeption der dialektischen Theologie innerhalb des Judentums ist meines Wis-sens noch kaum untersucht, eine umfassende Untersuchung wäre ein Desiderat auch für ein tieferes Verständnis der Affinität von Protestantismus und Judentum (vgl. dazu Tal, »Theologische Debatte über das Wesen des Judentums«). Jedenfalls ist die Aus-gangsposition von Rosenzweig auch durch das Scheitern der liberalen christlichen Theologie geprägt, vgl. etwa Der Stern der Erlösung, 103-120, und ders.,land, 687ff. Rosenzweig ist aber bisher fast immer nur von seinem Verhältnis zu Hegel (also eher philosophisch als theologisch) her gedeutet worden. - Auch sonst ist die Rolle der dialektischen Theologie im Judentum nur schwach thematisiert, zu Barth und Cohen vgl. Korsch, Dialektische Theologie, der allerdings eher bei einem diffu-sen Vergleich stehen bleibt, jetzt auch Goud, Emanuel Levinas und Karl Barth.

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234 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

an die religiöse Überlieferung.419 Gerade hier, in Beziehung auf das exegetische Problem, findet ein entscheidender Wandel statt gegenüber den Vorgängern der liberalen Theologie des späten 19. Jahrhunderts: Für die dialektischen Theolo-gen erscheinen diese als rettungslos im »Historismus« befangen, dessen Negativ-bild nicht unwesentlich von der Polemik der neuen Theologengeneration geprägt ist: Für die liberale Theologie sollten historische Erkenntnis und Glauben ein-ander ergänzen, das Leitbild bildete eine »christliche Kultur«, in der Glaube und moderne Wissenschaft sowie Lebensführung in irgendeiner Form miteinander auskommen sollen. Gegen diesen »Geschichtspantheismus« wenden sich die dia-lektischen Theologen, um den Glauben von seiner Verstrickung in die Kultur zu befreien und wieder selbst zur Sprache zu bringen.420

Nirgendwo läßt sich das besser veranschaulichen als an Karl Barthsbriefvon 1918 bzw. in der maßgeblichen zweiten Auflage von 1922, der ein außerordentliches Echo, nicht nur in theologischen und, wie wir sehen werden, nicht nur in christlichen Kreisen hervorruft: Barths Werk beruht auf der escha-tologischen Deutung des Urchristentums (s. u. Kap. 3.6.2), aber seine eigentli-che Leistung besteht darin, diese Deutung aktualisierbar in der Gegenwart zu machen. Das gelingt durch ein außerordentlich scharfen Bewußtsein darüber, daß sich im Weltkrieg die Krise der Kultur manifestiere. Wenn die »Religion« dem modernen Menschen noch etwas zu sagen haben solle, so sei sie nicht mehr auf der Seite der Kultur zu suchen: »Denn Religion ist der Gegner, der als treu-ester Freund verkappte Gegner des Menschen, des Griechen und des Barbaren, die Krim der Kultur und der Unkultur.«421

Es geht der dialektischen Theologie also keineswegs um eine Überordnung der Religion über die Kultur oder gar um eine »religiöse Kultur«, sondern eher

419 Gegenüber der Reduktion der Dialektischen Theologie auf eine allzu zeitgemäß po-litische Theologie ist Skepsis angebracht, denn erstens ist »politische Theologie« selbst ein Kampfbegriff, der mehr Erklärung verlangt als gibt, zweitens vernachlässigt eine solche Reduktion die bewußte und zumindest bei Barth nicht nur rhetorische Di-stanz zur Politik. Über den ganzen Zusammenhang vgl. Schellong, »Jenseits von po-litischer und unpolitischer Theologie«.

420 Bultmann, »Die liberale Theologie«, 5. - An der Konstruktion des Negativbildes »Hi-storismus« als destruktiver Relativismus und als philisterhafter Positivismus sind die Theologen wesentlich mitbeteiligt; Graf spricht von einem »antihistoristischen Grundkonsens« (Graf, »Die »antihistoristische Revolution'«, 379f).

421 Barth, Der Römerbrief, 273. - Vgl. auch Gogarten: »Das Gericht, das die Religion an der Kultur vollzieht, triff t nicht hier einen Fehler und da einen [...]. Sondern es triff t die Kultur als Kultur.« (Gogarten, »Die Krisis unserer Kultur«, 120) und Brunner: »Die Religion übt nicht nur an dieser oder jener Form der Kultur Kritik , sondern stellt sie selbst, die Humanität selbst in Frage, weil sie den Menschen in Frage stellt.« (Brunner, »Die Grenzen der Humanität«, 262)

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THEOLOGISCHER HORIZONT 235

um die »Entmischung« von Religion und Kultur.422 Barth wil l keine religiös fun-damentierte Anthropologie begründen, sondern umgekehrt von der Seite Gottes aus denken. Daher ist auch nicht »Religion« als solche sein Thema, verstanden als menschliche Möglichkeit, sondern die »Offenbarung«, verstanden als Handeln Gottes. »Religion« - und bezeichnenderweise gerade die »Mystik« - bekommt einen deutlich pejorativen Beiklang: Als menschliche Möglichkeit betrachtet, sei die Religion gerade der Gipfel der Sünde, denn hier reiße der Mensch von sich aus die Grenzlinie zwischen Gott und Mensch ein.423 Diese Grenzlinie gelte es aber immer zu bewahren: »Wenn ich ein »System« habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kierkegaard den »unendlichen qualitativen Unterschied« von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung beharr-lich im Auge behalte. »Gott ist im Himmel und du auf Erden.'«424 So kann Barth die ganze Religionskritik übernehmen, ja noch verschärfen als Kriti k jener Re-ligion, die meint, vom Menschen aus Gott zu bestimmen.

Barth selber wil l »dialektisch« von Gott sprechen, nicht in dem Sinne, daß er verschiedene, zu synthetisierende Momente präsentiert, sondern indem er durch Satz und Gegensatz die Begrenztheit des eigenen Sprechens betont und auf etwas anderes »dazwischen« hinweist: »Der echte Dialektiker weiß, daß diese Mitt e unfaßlich und unanschaulich ist, er wird sich also möglichst selten zu di-rekten Mitteilungen darüber hinreißen lassen«.425 Dieses Vorgehen ist für ihn

Vgl. dazu Lübbe, Säkularisierung, 89ff, Schellong spricht von »Entflechtung von Gottesbewußtsein und Wirklichkeitserfahrung« (Schellong, »Jenseits von politischer und unpolitischer Theologie«, 299). Den Ausdruck »Entmischung« übernehme ich hier von Mattenklott, vgl. »Messianismus, Mythos, Macht«, 182. Barth identifiziert die »Religion« auch mit dem paulinischen »Gesetz«, das verschul-det und nicht erlöst, vgl. dazu Der Römerbrief, 237ff, 246ff: »Gerade die religiöse Möglichkeit ist unter allen Möglichkeiten innerhalb der Humanität die bezeichnen-deste für den Dualismus von Jenseits und Diesseits [...], die dieses Innerhalb unver-meidlich beherrscht.« (Ebd., 232) Zur »Dämonisierung der Religion« bei Barth vgl. auch Zahrnt (Die Sache mit Gott, 39ff). - Rhetorisch gesehen handelt es sich hier um eine Befreiung der religiösen Sprache aus der Einfriedung des 19. Jahrhunderts, in der sich »religiöse« Sprache nur auf andere »religiöse«, »erbauliche« Sprache bezog. Die Kraft dieses Sprachstils, der auch das jüdische Denken prägt und sich insbesondere bei Rosenzweig manifestiert, beruht darauf, daß die religiöse Sprache sich wieder di-rekt auf die Welt bezieht. Barth, Der Römerbrief (Vorwort zur zweiten Auflage), XX. - Neben dem Kierke-gaardschen unendlichen Unterschied hat Barth einen stark platonischen Begriff des »Ursprungs« (vgl. ebd., 22); überhaupt ist bei ihm sehr deutlich platonisch-es Ideengut zu finden, das von Cohen inspiriert ist, vgl. dazu Korsch, Dialektische Theologie, 66ff. Barth, »Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie«, 212. - Diese Dialektik wird auch als statische Dialektik zwischen Leben und Tod bestimmt: »Ein Übergang, eine Entwicklung, ein Aufstieg oder gar Aufbau von hier nach dort ist grundsätzlich aus-

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236 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

nicht logische Spielerei und nicht negative Theologie, sondern orientiert sich an

der Verkündigung, an der Aufgabe der Theologie, das Wort Gottes in ange-

messener Weise zur Sprache zu bringen. Denn für die Theologie komme es we-

niger darauf an, einen logisch korrekten Gottesbegriff zu erarbeiten, als Raum

für die Offenbarung zu eröffnen, die selbst das Allerpositivste sei.

Barths Römerbrief ist daher ein Kommentar, gebunden an Offenbarung, al-

lerdings ein ungewohnter: Barth interessiert sich wenig für die Gestalt Paulus«,

denn die »ganze Aufmerksamkeit war darauf gerichtet, durch das Historische

hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist«.426 Zwar

räumt Barth der histor ischen Krit i k ein prinzipielles Recht ein, aber er ent-

n immt ihr keine neuen Erkenntnisse und letztendlich verschwindet in seinem

Kommentar der historische Abstand zwischen Paulus und der Gegenwart des

Komment ierenden vol lkommen. Barth ist sich bewußt, daß er hier konservativ

vorgeht: »Wenn ich wählen müßte zwischen der historisch-krit ischen Methode

und der alten Inspirat ionslehre, ich würde entschlossen zu der letzteren grei-

fen: sie hat das größere, tiefere, wichtigere Recht.«427

Barth wil l »sachlich« denken, d. h. von der Sache des Glaubens her, dagegen

verschwinden für ihn die Probleme der Methode: Gegenüber der radikalen Dif -

ferenz zwischen Offenbarung und Welt verschwindet das Problem des Zeitab-

standes, gegenüber dem Wunder der Offenbarung verschwindet das Problem,

wie diese überhaupt für uns angeeignet werden kann.428 In den Kontroversen der

geschlossen. [...] Es bleibt zwischen diesen beiden rein negativen Möglichkeiten nur die Unmöglichkeit des »Minus mal Minus gleich Plus«: die Beziehung beider Nega-tionen aufeinander, die Aufhebung der einen durch die andere als ihrer beider Sinn und Kraft, ihre überlegene ursprüngliche Position.« (Barth, Der Römerbrief, 128) Barth, Der Römerbrief(Vorwort zur ersten Auflage), XL Barth, a.a.O., XI . - Zähmt demonstriert, wie der Respekt vor dem Recht der histori-schen Methode letztlich nur ein Lippenbekenntnis bleibt (Zahrnt, Die Sache mit Gott, 22f); Graf spricht hier von »Entgegenständlichung der Geschichte« und »Exegese der Gleichzeitigkeit« (Graf, »Die »Antihistoristische Revolution'«, 383, 390), sehr treffend auch seine Ausführungen über die »Usurpation« des Geschichtsbegriffs durch die Theologen (ebd., 396ff): Unter Geschichte wird von jetzt an weniger das historische Geschehen als die »Geschichtlichkeit« verstanden, damit wird aber auch der Zeitab-stand zu einem untergeordneten Problem der »bloßen Historie« gegenüber der »ei-gentlichen Geschichte«. Besonders augenfällig wird das an der Verschiebung, die Barth an Overbecks Begriff der »Urgeschichte« vornimmt. Dieser hatte darunter die Ge-schichte des Urchristentums verstanden, ein wenn auch kurzer, so doch wirklicher Verlauf des Geschehens, der den Exegeten vor besondere Probleme stelle. Bei Barth wird, seinem platonisierenden Zug gemäß, Urgeschichte ein eigentlich unzeitliches Geschehen, das für uns auch nicht mehr in einer zeitlichen Fremdheit, sondern eben in einer ganz anderen Dimension liege.

»Methode« wird dabei polemisch durch »Sachlichkeit« verdrängt, wie man etwa an dem Briefwechsel Barths mit dem liberalen Theologen Harnack sehen kann. Dessen

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THEOLOGISCHER HORIZONT 237

zwanziger und dreißiger Jahre betont Barth immer stärker, daß die Frage der

Methode für ihn kein eigenständiges Problem sei. Während etwa Emil Brunner

nach dem »Anknüpfungspunkt« der Offenbarung in der menschlichen Existenz

fragt und damit in die Nähe dialogischer Konzept ionen kommt, lehnt Barth das

ausdrücklich als Verwischung des »unendlichen Unterschiedes« ab.429 Es sei ge-

rade der Fehler der liberalen Theologie gewesen, den Unglauben zu ernst zu

nehmen - die Aufgabe der Theologie sei aber nicht Apologetik, sie müsse auch

nicht beantworten, wie der Mensch Gott erkennen könne, sondern ihre Aufgabe

sei es eben, die in der Offenbarung gegebene Erkenntnis zu explizieren.430

Die streng »sachliche« Orientierung an der Offenbarung führt Barth später zum

bewußten Anschluß an die vorliberale Theologie und deren »vorkritische« Form

der Dogmatik.431 Das ermöglicht ihm einen außerordentl ichen Reichtum in der

Sache, der allerdings nur durch einen Gewaltakt erreicht wird, welcher sich be-

sonders darin zeigt, daß das Moment des Paradoxen, das den Römerbrief noch

ganz dominiert hat, immer mehr in den Hintergrund drängt: Statt auf Kierkegaard

beruft er sich jetzt immer stärker auf die Autoren der christlichen Tradition.432

Frage nach der Wissenschaftlichkeit der neuen Methode weist Barth zurück: »Wenn die Theologie wieder den Mut zur Sachlichkeit bekäme, [...] so könnte es ja auch 50 sein, daß die »Wissenschaft überhaupt« nach »fester Verbindung und Blutsverwandt-schaft mit der Theologie ausschauen müßte, statt umgekehrt.« (Barth/Harnack, »Briefwechsel«, 329) Vgl. auch: »Die Sachlichkeit der Theologie besteht darin, daß sie sich die Auslegung der Offenbarung zu ihrer einzigen Aufgabe macht.« (Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I I / l , 228) - Das gilt genauso für Rudolph Bultmann, hier wird besonders deutlich geordert und reflektiert, daß sich die Theologie nicht durch ein vorab gegebenes Methodenideal bestimmen lassen dürfe, sondern »bei der Sache« sein müsse (dazu aufschlußreich Pannenberg, Problemgeschichte der neuerenlogie, 211 ff). Die Entgegensetzung von »Methodismus« und »Sachlichkeit« bestimmt noch die Diskussion bei Gadamcr.

429 Schon Brunners Suche nach einer theologischen Anthropologie sei natürliche Theo-logie, die »große Versuchung und Fehlerquelle« in der Theologie, die man wie eine giftige Schlange behandeln müsse: gar nicht »erst anstarren, um sich von ihr wieder anstarren, hypnotisieren und dann sicher beißen zu lassen, sondern indem man sie erblickt, hat man mit dem Stock schon zugeschlagen und totgeschlagen« (Barth, »Nein!«, 12f).

430 Vgl. auch Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. 1/1, 26ff, 73ff. 431 Auch die Kirchliche Dogmatik wird nicht philosophisch konstruiert oder durch eine

Erkenntnistheorie oder Anthropologie des Glaubens eingeleitet, sondern durch theo-logische »Prolegomena«, welche die »Lehre vom Wort Gottes« betreffen (»Es handelt sich nicht um die vorher, sondern um die zuerst zu sagenden Dinge.« (Barth,liche Dogmatik, Bd. 1/1,41).- Dieser Versuch führt ihn schließlich zur spekulativen Christologie und Trinitätslehre; so gewinnt gerade der Teil der Theologie für Barth wieder eine zentrale Bedeutung, den die liberale Theologie verworfen hatte.

432 Vgl. etwa Berger: »Die Tradition wird erneut bekräftigt, das heißt nach einem Zeit-raum, in dem sie nicht bestätigt wurde. Das Problem liegt ganz einfach darin, daß es

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238 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Man kann die Position des späten Barth mit gewissem Recht als neo-orthodox be-

zeichnen, gerade an ihr sieht man, wie fremd die traditionellen Vorstellungen, die

hier wieder bekräftigt werden sollen, dem modernen Bewußtsein geworden sind.

Es ist alles andere als wahrscheinlich, daß sich Scholem jemals mehr als kurso-

risch mit der Barthschen Theologie auseinandergesetzt hat.433 Aber seine theolo-

gische Positionierung ist ähnlich, insbesondere in seiner Ablehnung der liberalen

Vorgängergeneration. Schon in seinen frühesten öffentlichen theologischen Äuße-

rungen kritisiert er diese wegen ihrer Anthropozentr ik: »Von dem verführeri-

schen Schein der sittlichen Autonomie des Menschen, der die Theologie des im

wesentlichen vom Idealismus herkommenden jüdischen Liberalismus bestimmt

hat, führt kein Weg [...] zu den Geheimnissen der Offenbarung.« (J 1,231) Die li -

berale Theologie des 19. Jahrhunderts zeichnet sich für ihn durch zweierlei aus,

nämlich durch »die Unfähigkeit, religiöse Realität in strengen Begriffen zu durch-

dringen« und durch die »mangelnde Bereitschaft, die religiöse Welt des Juden-

tums in ihrer Totalität zu apperzipieren« (ebd.); sie ist für ihn also unscharf, weil

sie keine eigene theologische Sprache hat, und beschränkt, weil sie das Judentum

nur noch als rationale »Überzeugung« ansieht. Die Theologie »wurde verwässert,

als sie sich im vergangenen Jahrhundert bei Juden wie bei Christen dazu hergab,

der Philosophie als äußerste Grenze zu dienen, als eine Ar t Schmuckstein auf den

Dächern mächtiger Bauten, anstatt sich auf eigene Maße und Elemente zu grün-

den, so daß sie bei der Zerstörung der Philosophie mitzerstört wurde.«434

Di e zitierten Äußerungen Scholems stammen aus einer Besprechung von Ro-

senzweigs Stern der Erlösung; der in Scholems Sicht einen deutl ichen Bruch mit

sehr schwierig ist, diesen Zeitraum dazwischen zu vergessen.« (Berger, Der Zwang zur Häresie, 81f) Es bleibe daher ein fundamentaler Unterschied, denn »für den Or-thodoxen ist bisher noch nichts geschehen, wohingegen der Neo-Orthodoxe so tut, als ob nichts geschehen wäre« (ebd., 111). Der Glaube werde dabei nur durch einen Sprung erreicht, einmal erreicht, werde dieser aber vergessen; besonders zeige sich das an der zunehmenden Abwesenheit Kierkegaards, jener sei »das Gespenst, von dem das Barthsche Werk heimgesucht wird« (ebd., 95). Wir können hier der weiteren Geschichte der dialektischen Theologie nicht nachge-hen, insbesondere nicht ihrer hermeneutischen Wende durch Rudolph Bultmann. Es scheint mir nicht uncharakteristisch zu sein, daß sich Scholem mit Bultmanns auch in der Religionswissenschaft sehr wirksamen Entmythologisierungsprogramm nie-mals auseinandergesetzt hat und der eigentlich hermeneutischen Frage immer fremd geblieben ist. Gerade sein in gewisser Hinsicht biblizistischer Begriff von Offenba-rung ähnelt viel eher dem Barths als dem Bultmanns, wenn man hier überhaupt einen Vergleich ziehen will .

Scholem, »Franz Rosenzweig«, 532. - Christen wie Juden hätten im 19. Jahrhundert nur noch einen Schein von Theologie gehabt, die ihre Themen verloren habe, welche »vor ihr geflohen sind und sich in der Kunst verborgen haben« (ebd., 533). Zu die-ser Figur der Selbstverbergung s. u. Kap. 3.7.

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THEOLOGISCHER HORIZONT 239

dem Liberalismus bedeutet. Seine eigenen theologischen Überzeugungen ste-

hen bereits lange vorher fest und werden durch Rosenzweigs Werk kaum noch

beeinflußt.435 Wir müssen daher zurückgehen auf seine Auseinandersetzung mit

drei sehr verschiedenen Posit ionen des 19. Jahrhunder ts - Kierkegaard, S. R.

Hi rsch und S. L. Steinheim - , um die Konst i tut ion von Scholems eigenen theo-

logischen Überlegungen zu verstehen. Von hier aus wird dann auch verständ-

lich, warum Scholem letztlich gegenüber allen nachliberalen Theologien, auch

der Rosenzweigs, skeptisch bleibt.

2.6.2 Paradox und >Dialektik<: Scholem und Kierkegaard. In den Tagebüchern

der Jahre 1914 bis 1916 gehört Kierkegaard zu einem der häufigsten Bezugs-

punkte Scholems.436 Verschiedentlich stilisiert sich Scholem nach dem Bilde Kier-

kegaards - »ich muß immer an mich denken und uns vergleichen« (T1 ,41) - , die

Identifizierung ist so stark, daß er Kierkegaard sogar zum Juden macht (ebd., 108),

zum »letzten Abglanz alttestamentarischer Menschheit« (ebd., 376).437 Kierke-

gaards philosophisch-theologische Terminologie prägt Scholems theologisches

Denken lange Zeit, um so mehr, als sie sich an die Terminologie der Frühroman-

ti k anschließen läßt. Bezeichnenderweise bezieht er sich gerade nicht auf die

anthropologischen Begriffe Kierkegaards wie »Angst« und »Sünde«, die ja für die

existentialistische Rezeption auch innerhalb des Judentums eine wichtige Rolle

Es scheint in den zitierten Stellen, daß Scholem Rosenzweigs Diagnose vom »Idea-lismus« Hegelscher Prägung als Grundübel der Theologie (vgl. auch Scholem, »Franz Rosenzweig«, 530ff) genauso zu teilen scheint wie dessen Interpretation Cohens als einen den Idealismus bereits überschreitenden Denker (ebd., 536ff). In seinen eige-nen Reflexionen spielen Hegel und der Idealismus aber eine wesentlich geringere Rolle, und seine Theologie läßt sich kaum als Anti-Philosophie verstehen. Zum kom-plizierten Verhältnis Scholems zu Rosenzweig vgl. Brocke, »Franz Rosenzweig und G. Scholem«.

Die Bedeutung Kierkegaards hat Scholem später heruntergespielt, in den autobio-graphischen Schriften kommt Kierkegaard gar nicht vor, auch sonst erwähnt er ihn allenfalls polemisch. - Gelesen hat Scholem (jeweils wohl teilweise) Brandes Kierke-gaard-Buch (T I, 41 ff), den Augenblick (ebd., 108, 245), die Abschließendeschaftliche Nachschrift (ebd., 108), die Stadien auf des Lebens Wegs (ebd. 145, 232, 237), die Philosophischen Brocken (ebd., 154) sowie Furcht und Zittern (vgl. Br II , 199f). Mehrfach ist er überrascht, wieviel von Buber hier bereits vorweggenommen sei(TI, 108, 154). Sehr wichtig ist natürlich auch Kierkegaards Polemik des »Einzelnen« gegen die »Chri-stenheit« (bzw. gegen die unernsten Zionisten, vgl. T I, 108, 245), so stammt etwa der Ausdruck »Geschwätz« von Kierkegaard (Br I, 45). Auch Kierkegaards Kriti k der ästhetischen Existenz dürfte für Scholem wichtig gewesen sein, vgl. zur Wirkungs-geschichte Kierkegaards in dieser Hinsicht aufschlußreich Baioni, Kafka: Literatur und das Judentum, 202-217.

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spielen,438 sondern auf die Kierkegaardsche Dialektik, den Begriff des »Paradoxes«

und die Auffassung von »Glauben« als Leidenschaft für das Paradox. Kierkegaard

spricht vom »Glauben« bekanntl ich weder als von einer kognitiven Erkenntnis

noch von einem unmittelbaren Gefühl, vielmehr ist Glaube bei ihm die radikal

gesteigerte Innerlichkeit, das absolute Verhältnis, das als solches nicht entwickelt

bzw. »vermittelt«, sondern nur in leidenschaftlicher Innerl ichkeit festgehalten

werden kann: »Das Paradox des Glaubens ist dies, daß es eine Innerlichkeit gibt,

die inkommensurabel für das Äußere ist.«439 Was wi r oben als Scholems asketi-

sche Ethos der Verstellung untersucht haben, bekommt hier ein theologisches

Rationale.

Diese Innerlichkeit ist nicht einfach nur transzendent, so daß sie nicht

ständig zum Ausdruck kommen könnte und der Glaube daher irgendwie »my-

stisch unaussprechlich« wäre, sondern das Paradox der Innerl ichkeit verlangt

extremen Glauben und extremen Zweifel. »Dialektik« ist bei Kierkegaard nicht

das Verhältnis zwischen Erscheinung und Wesen wie bei Hegel, sondern die

wechselweise Entwick lung von Gegenbest immungen (Glaube und Zweifel),

ohne daß diese miteinander vermittelt würden. Man kann daher von einer »dop-

pelten Dialektik« reden.440:

Wi r werden noch sehen, daß eine ähnliche Dialektik auch in Scholems theo-

logischen Reflexionen eine entscheidende Rolle spielt; jedenfalls sollte man eher

an Kierkegaard als an Hegel denken, wenn bei Scholem von »Dialektik« die Rede

ist. Für Kierkegaard ist das Paradox allerdings lediglich eine Vorstufe, es ist nur

Aufforderung, den »Sprung« in den wirkl ichen Glauben zu vollziehen, diese -

spezifisch christl iche - Denkf igur des Sprunges übern immt Scholem nicht.

Auch hier ist ein wichtiger Unterschied Scholems zur existentialistischen Kier-

kegaard-Rezept ion zu sehen, die gerade das Moment der »Entscheidung«, des

438 Für Scholem spielt auch, abgesehen von der kurzen Begeisterung für den Kierkegaard des Augenblicks, die Person Kierkegaards gar keine Rolle, was sehr untypisch für diese erste Phase der Kierkegaard-Rezeption ist. Auch die für den Existentialismus so folgenreiche Denkweise Kierkegaards zwischen Dogmatik und Psychologie (vgl. dazu Anz, »Die Wirkungsgeschichte Kierkegaards«) ist für Scholem uninteressant, den Begriff der Erbsünde lehnt Scholem explizit ab (vgl. T II , 28, 199). Zu einer über-fälligen Neulektüre Kierkegaards, die ihn aus dem Schema des existentialistischen Denkers befreit, vgl. Ricoeur, »Philosophieren nach Kierkegaard«.

439 Kierkegaard, Furcht und Zittern, 75. 440 Das kann auch ausgedrückt werden durch den Zusammenhang des Pathetischen und

des Dialektischen, der hier als (sokratischer) Zweifel gedacht wird: »In demselben Maße wie er [der Glaubende] pathetisch gespannt ist in bezug auf seine ewige Selig-keit, muß er sokratisch befürchten, sich in einem Irrtum zu befinden.« (Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. II , 91) »Wird das Dialektische übersprungen, dann wird das Christentum zu einer leicht gewonnenen Einbildung, dann wird es zu nichts anderem als zu Aberglauben.« (Ebd., 137)

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subjektiven »Engagements« betont. An deren Stelle setzt Scholem die »Tradition«: »Daß es eine Überlieferung von Gott gibt, das liegt im Wesen des Judentums und ist das, was kein Moderner begreifen kann, und das ist der Punkt, den Kier-kegaard nie begriffen hat und an dem sein Christentum klar wird. Es war ein tiefer Irrtum von mir, zu glauben, daß Kierkegaard ein Jude sei.« (T I, 411) Mi t dieser Distanzierung von Kierkegaard versucht Scholem auch mehrfach, den Begriff des Paradoxes kritisch zu destruieren, verwendet ihn aber doch wei-ter.441 Wie wir ja bereits an der Hiob-Interpretation gesehen haben, betont Scholem auch in späteren Jahren nicht selten die paradoxe Natur des Glaubens, gänzlich gelingt die Überwindung Kierkegaards daher nicht.

Wichtig ist Kierkegaard für Scholem auch durch seine Theorie der »indirekten Mitteilung«, die als Fortsetzung der Romantischen Theorie der Ironie betrachtet werden kann. Weil das rechte Verhältnis des Glaubens eben die Innerlichkeit sei, könne man nicht von ihm reden wie von einer dinglichen Sache: »Das Wie der Wahrheit ist gerade die Wahrheit. Es ist darum Unwahrheit, eine Frage in einem Medium zu beantworten, wo die Frage nicht auftreten kann.«442 Auch die Rede vom Glauben muß »paradox« sein, denn sie reflektiert immer auch den eigenen Standpunkt im Verhältnis zu diesem Gegenstand; für Kierkegaard dient sie dazu, von einem Standpunkt außerhalb des Glaubens über den Glauben zu sprechen: »»Ohne Vollmacht« aufmerksam zu machen auf das Religiöse, das Christliche, das ist die Kategorie für meine gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller.«443

Die ganze Reihe der pseudonymen Schriften ist daher »ironisch«, insofern sie auf etwas hinweisen will , ohne direkt von ihm sprechen zu wollen. Dadurch bekommt das Werk aber ein Doppelgesicht, denn es fällt schwer, Kierkegaards nachgeschobenen Versicherungen Glauben zu schenken, das Ganze sei das Werk des religiösen Schriftstellers und die Ironie lediglich ein Darstellungs-

So habe Kierkegaard »nach der Möglichkeit des Messianischen in der Geschichte« gefragt, aber einen mechanischen Zeitbegriff zugrunde gelegt, daher falle er ins Pa-radoxe zurück, während diese Frage in der historischen Zeit und im Judentum lös-bar sei (T II, 338f). Vgl. auch Scholems spätere Reflexionen, in denen er den »tiefsten Grund der Illegitimität von Kierkegaards Erkenntnis« darin sieht, daß dessen Para-dox kein notwendiges sei, sondern nur (romantisch) darauf beruhe, daß hier der sy-stematische Gedanke aus dem Zusammenhang gerissen werde (T II , 404). - Im späteren Werk wird Kierkegaard nur noch selten erwähnt: Als typischer Vertreter der »reinen Innerlichkeit« der christlichen Erlösungsvorstellung (Gb, 170), aber auch als legitimer Interpret der Abrahamgeschichte (Br II , 199f). - Wie wir sehen werden, spielt auch die paradoxe »Innerlichkeit«, die Scholem immer mit Kierkegaard verbin-det, bei der Darstellung des Sabbatianismus eine wichtige Rolle, hier kommt dann auch die Terminologie des Paradoxes wieder zu ihrem Recht. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift, Bd. II , 24. Kierkegaard, Schriften über sich selbst, 10.

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pr inz ip, das er völli g unter Kontrol le habe. Neben dem Glaubenden Kierke-

gaard steht immer auch der »Dämonische«, der über den Sprung redet, um ihn

nicht zu tun, und gerade in der Darstel lung der Verzweiflung sein besonderes

Geschick entfaltet.444

Diese fundamentale Ambivalenz Kierkegaards ist für Scholem von Anfang an

wichtig. Scholem hat rückblickend gesagt, sein Glaube habe nie in Frage gestan-

den, tatsächlich finden sich in den Jugendtagebüchern eine ganze Reihe von

deutl ich atheistischen Äußerungen. Nach der Lektüre Kierkegaards schreibt

Scholem: »Ich möchte beten können, aber ich kann es nicht. [...] Ich kann nicht

sagen, was sich bei Kierkegaard mir immer aufdrängt, Credo, quia absurdum est.

[...] Ich kann nicht einmal sagen, ich glaube. Nein, ich hoffe nur.« (Ebd., 42) -

Scholem hat auch keine Lust mehr zu »Lernen« und wil l sich »abgewöhnen« (!),

in die Synagoge zu laufen (ebd., 87).445 Einige dieser Zweifel entspringen eher

Scholems jugendlichem Übermut und seinem anarchistischen Schwung, hinter

anderen steht eine existentielle Krisenerfahrung. Gerade in diesem Zusammen-

hang zitiert Scholem Kierkegaards Selbstilisierung aus dessen Stadien - »Er ward

ein Denker, aber kein Beter, ein Prediger, aber kein Glaubender, er konnte vie-

len helfen, nur nicht sich selbst« - mit der Ergänzung: »Das ist auf mich gesagt.

Ich möchte beten, aber ich kann es nicht.« (Ebd., 41f)

Zum Dämonischen als ambivalentem Begleiter des Religiösen s. Kap. 1.4.1, dieser Gedanke ist wohl für Scholems Kategorie des Gespenstischen entscheidend. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz »Das »Dämonische'«. - Zu Kierkegaards Ambivalenz: »Dialektik läßt sich - wenn von Kierkegaard die Rede ist - geradezu definieren als eine durchanalysierte und bewußtgemachte Ambivalenz, die sich ihrer selbst hinrei-chend dialektisch bewußt ist, um nicht das zu verwerfen, woraus sie selbst entspringt und sich nährt: die Doppelheit. Man kann dieses Festhalten an der Paradoxalität als Vorzug oder als Ärgernis bewerten. [...] Die Zweideutigkeit, die Kierkegaards Ele-ment ist, kann man ein nihilistisches Vakuum nennen oder man kann sie den Raum des Einfältigen nennen, der sich niemals aufschließt« (Nordentoft nach Deuser, Kier-kegaard, 15). - Besonders deutlich erscheint diese Ambivalenz in der Funktion des »Ästhetischen«, das einerseits zu überwindendes Stadium, andererseits aber auch not-wendiges Darstellungsmedium für die ganze Existenzmitteilung ist, vgl. ebd. 59ff. Rückblickend schreibt Scholem: »I have never cut myself off from God. I don't understand atheists; I never did.« Q]C, 35, vgl. auch WB, 73) - Vgl. dagegen: »Ich bin mir nun ganz klar darüber, daß ich an keinen persönlichen Gott glaube und an einen, der nur die Idee der Sittlichkeit verkörpern soll, noch weniger! Mein Gott ist wohl nur ein Ideal meiner Träume vom erfüllten Menschenleben. [...] Man hat in den letz-ten hundert Jahren den alten Himmel so gründlich eingerissen, daß er für immer weg ist.« (T I, 79) Über das von Mach inspirierte »mechanistische Weltbild« schreibt Scholem: »Man fühlt sich wohl und befreit, daß man nicht immer an ein unbekann-tes Wesen hinter den Sternen und Welten denken muß [...]. Gott ist nicht zum Aus-halten.« (T I, 124) Vgl. auch T I, 54, 155f. Scholem erwähnt auch später des öfteren seine Unfähigkeit zu beten (T II , 145) und seine Angst vor der Bibel (ebd., 241).

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Wenn Scholem im Rückblick schreibt, er habe in seiner Jugend »haarscharf auf der Grenze zwischen Religion und Nihilismus« gelebt (Br I, 471), so situiert er sich in großer Nähe zum Kierkegaard der Pseudonyme. Aber auch später, als diese existentiellen Töne verblaßt sind, bleibt das Problem der Mitteilung ebenso be-stehen wie ein Zug von Ironie, und beides schuldet sich nicht einfach einer Lust am Versteckspiel. Als etwa Bergman ihm 1947 nahelegt, er möge doch einmal nicht mehr als Historiker sprechen, sondern ein freies Bekenntnis in Sachen der Religion ablegen, bezweifelt Scholem, ob ihm das jemals möglich sein würde: »Denn ich habe ja den Glauben an die direkten »Botschaften« verloren, und ich kann keinen entdecken unter den »Verkündern«, der irgend einen Segen gebracht hätte. Ich neige zu der Ansicht, daß gerade die Naivität der direkten Hinwendung zum Menschen [...] verantwortlich ist für das Scheitern dieser Versuche« (Br I, 331). Das ist weder Diskretion, noch innere Stärke oder ein Spiel mit Masken: »Ich lebe in der Verzweiflung und kann nur aus der Verzweiflung tätig sein.« (Ebd.)446

Auch das »asketische Ethos« bleibt immer ambivalent: Hinter der Ironie steht die Verzweiflung, hinter der Verzweiflung steht aber auch wieder die Ironie.

2.6.3 Theologie und >Leben<: Scholem und S. R. Hirsch. Aber wir sind mit dem letzten Zitat schon weit vorausgeeilt, für die Entwicklung von Scholems theo-logischen Reflexionen nach der Abwendung von Kierkegaard ist zunächst die Beschäftigung mit zwei jüdischen Theologen bedeutsam: Samson Raphael Hirsch und Salomon Ludwig Steinheim. An jenem sieht er den Versuch der »Durchdringung der Totalität des Judentums«, an diesem die Suche nach »stren-ger Begrifflichkeit« für die Theologie verwirklicht, die zu unterlassen er der li -beralen Theologie des 19. Jahrhunderts ja vorgeworfen hatte.

Wir haben schon gesehen, daß sich Scholem im Sommer 1916, zeitgleich zu seiner Beschäftigung mit Molitor, mit Samson Raphael Hirsch (1808-1880) und dessen Neo-Orthodoxie beschäftigt.447 Hirsch kritisiert die liberale Theologie

Scholem grenzt sich hier gegen die Rückkehrer (zum jüdischen Gesetz) ab: »Ich wun-dere mich manchmal, mit welcher Geschwindigkeit ein Mann wie Magnes [...] seine Streitigkeiten mit dem Heiligen - gelobt sei er - vergaß und anfing, sich auf ein Wis-sen zu berufen, das unserem Wissen widerspricht. Und wie leicht ist es, andere auf-zufordern, sich auf Gott zu verlassen - etwas, das mich immer wieder empört, wenn ich ihn predigen höre.« (Br I, 331) Simon interpretiert die antipathetische Art Scho-lems generell als eine »Form der indirekten Mitteilung im Sinne des jungen Kierke-gaard« (Simon, »Über einige theologische Sätze«, 162). Daß »das teilweise Schweigen der indirekten Mitteilung [...] als ein Schweigen von Gott zu verstehen [ist], und damit als ein Bekenntnis zu ihm« (ebd.), übersieht freilich die Ambivalenzen dieser Mitteilungsform und das Moment der Verzweiflung schon bei Kierkegaard. Zu Hirsch vgl. Rosenbloom, Tradition in an Age of Reform. Das Verhältnis Scholems zur Orthodoxie ist wenig untersucht, Schweid hebt m. E. richtig hervor: »Scholem's

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des zeitgenössischen Reformjudentums, das die jüdische Lebensform in be-

denkl icher Weise an ihre Umgebung anpasse. Die von ihm begründete N e o-

Or thodox ie propagiert dagegen die Gleichzeit igkeit von or thodoxer Lebens-

praxis und Engagement in Staat und Gesellschaft, die in der Formel Thora im

derech erez, Thora in der Welt, Ausdruck findet.448 Das zieht Scholem offen-

sichtlich an; wie er etwa 1916 schreibt, sei es Hirsch »in seinem ganzen Leben

nicht eingefallen, Juden tum und ... zu sagen« (T I , 434). Später ist Scholem

allerdings sehr viel skeptischer. 1934 schreibt er, Hirschs Programm habe letzt-

endlich doch zur Assimilation geführt: »Die Losung, die bestimmt war, in einer

verwandelten Welt dem Frommen das jüdische Rückgrat zu stärken, hat mehr

als jede andere dazu getan, es ihm zu brechen.«449

Hirschs Werk hat aber für Scholem nicht nur diese politische Bedeutung, son-

dern führt Scholem vor allem vor Augen, daß sich das Judentum nicht in »Glau-

bensüberzeugungen« erschöpft. Vehement weigert sich Hirsch, innerhalb des

Judentums »Kern« und »Schale« zu trennen und das Judentum auf eine (rational

faßbare) »Idee« zu beschränken. Auch die schwer verständlichen Gebote seien

relation to othodoxy is a prime example of ambivalence in feeling and thought.« (Schweid, Judaism and Mysticism, 157) - In VBJ erwähnt Scholem nur kursorisch, er habe Hirschs Pentateuch-Kommentar »mit Hingabe und Begeisterung für seine Ori-ginalität studiert, bis mir nach einiger Zeit die Augen aufgingen und ich wieder nüch-tern wurde« (VBJ, 44). - Nach einem Hinweis von Christoph Schulte kann man auch Scholems (für einen Zionisten vollkommen unübliche) positive Bewertung der ash-kenazischen Aussprache auf den großen Eindruck zurückführen, den Hirschs Schrif-ten auf ihn gemacht haben.

Legitime religiöse Reform könne nur sein die »Verwirklichung jenes ewigen Ideals in den und mit den von der Zeit gestellten Verhältnissen; Erziehung, Erhebung der Zeit zur Thauroh [=Torah] - nicht aber die Nivellierung der Thauroh nach der Zeit, Abtragung des Gipfels zu der Flachheit unseres Lebens. - Wir Juden bedürfen der Reform durchs wiedererkannte, geistig erfaßte, mit aller Tatkraft verwirklichte Ju-dentum; aber jenes ewige, von Gott alle Zeiten für alle Zeit uns aufgesteckte Vorbild bedarf nicht der Reform durch unsere Lebensermächlichung [-erleichterung] erstre-benden Söhne der Zeit.« (Hirsch, Neunzehn Briefe, 92) - Diese Stelle zitiert Scholem noch 1974 (JJC, 276). - Für Hirsch hat die Emanzipation eigentlich überhaupt keine religiöse Bedeutung: »Hirsch wil l also nicht sehen, daß mit der Emanzipation sich mehr ändern muß als bloß das äußere Schicksal.« (Wiener, Jüdische Religion, 73), vgl. ähnlich auch Rosenbloom, Tradition in an Age of Reform, 168ff. Scholem, »Politik der Mystik«, 1. - Scholems Kriti k steht hier im Kontext einer Po-lemik gegen Breuer, insbesondere gegen dessen metageschichtlichen Anspruch: Auch bei Breuer wolle der Jude »ein Jude sein, und nichts als Jude - aber ihm wird in lan-ger, freilich überaus dubioser Interpretation des Herrschaftsanspruchs der Theokra-tie das Dasein im profangeschichtlichen Bereich verboten« (Scholem, »Politik der Mystik«, 2). Vgl. auch den Vorwurf, Hirschs Wechsel ins Deutsche habe dazu beige-tragen, die Sprache zu vergespenstigen (T II , 507).

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»Symbolausdrücke« des Bekenntnisses zur Thora, daher sei die »Sorgfalt um so-genannte Kleinigkeiten nicht mehr lächerlich und nicht weniger vernünftig als [...] Sorgfalt um klare verständliche Sprache und leserliche zierliche Schrift«.450

Hirschs eigene Exegesen im Pentateuch-Kommentar greifen daher auch auf die Fülle und den Detailreichtum der midrachischen Exegese zurück, die seinen Zeit-genossen nur noch als verachtenswerte »talmudische Spitzfindigkeiten« gelten. Wir haben schon gesehen, daß Hirsch zusammen mit Molitor ein wesentlicher Impuls für Scholem ist, sich mit dem Wesen der Tradition auseinanderzusetzen.

Hirsch faßt das Judentum heteronom auf, nicht eine philosophische Idee soll den Maßstab bilden, sondern die Gebote, die den Juden überliefert sind. Der klassischen wie der modernen Religionsphilosophie wirf t er vor, sie würde von der falschen Seite ausgehen: »statt sich ins Judentum zu stellen und sich zu fra-gen: nachdem das Judentum diese Forderungen an uns macht, welche Ansicht über Menschenbestimmung muß es haben [...], hatte man seinen Standpunkt außerhalb des Judentums und zog es zu sich herüber«.451 Anders als die Alt -Orthodoxen wil l er allerdings die Tradition nicht mehr für selbstverständlich nehmen, sondern versucht in seinem Choreb, die Überlieferung mittels einer Art symbolischer Deutung der Gebote neu verständlich zu machen, ohne hier zwischen wesentlichen und unwesentlichen zu unterscheiden.

Hirschs Streben nach Totalität ist für Scholem genauso anziehend wie der Anspruch, sich dem Judentum nicht von außen, sondern durch intensive Quel-lenlektüre anzunähern. Hirsch sei im 19. Jahrhundert der einzige gewesen, der erkannt habe, »daß die Theorie des Judentums nicht die Theorie einer Idee sei« (T II , 316). Wie wir schon oben gesehen haben (Kap. 2.3.3), führt diese Einsicht im Verein mit der Lektüre Molitors zu einer neuen Entdeckung von Begriff und Bedeutung der »Tradition« und zu einer veränderten Auffassung der Thora. Schon früh spricht Scholem dabei angesichts von Hirschs Symboldeutungen von der »innerlichen Neigung Hirschs zur jüdischen Mystik« (TI , 414).452 Aber auch hier ist Scholem bald enttäuscht: Hirsch verwende das symbolische Ver-fahren letztlich nur, um bürgerliche Tugenden und geläufige Ideen in den Text der Thora hineinzulesen, später nennt er Hirschs Welt eine »Welt der hem-mungslosesten Allegorese (die sich, wie damals üblich, fälschlich als Symbolik nahm) [...], die sich den Zugang zur Mystik und zum echten Symbol (in dem sich nicht irgendwelche »Ideen«, sondern ein Unaussprechliches und Unvoll-

Hirsch, Neunzehn Briefe, 68. Hirsch, a.a.O., 98f. Vgl. auch: »Der Versuch, einen reinen Begriff der Lebenshaltung zu entwickeln, führte ihn mit Sicherheit dazu, die Bedeutung der Sprache für das Judentum zu er-kennen. Hirsch war der letzte Mystiker des Judentums« (T II, 316).

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ziehbares realisieren) mit Konsequenz und Ernst verboten hat«.453 Scholem

nennt das »Kabbalaangst«, das heißt, den »Entschluß zur Abrogat ion jeder tie-

fen Spekulation, die auf eine neue und positive Weise auf jene Welt der Kabbala

hätte zurückführen können« (J I, 229).454

Trotz dieser Kriti k weist die Or thodoxie auf das Problem hin, das Judentum

in seiner Totalität zu verstehen und weckt Scholems Bewußtsein für die Bedeu-

tung der Kommentarliteratur. Hinter der Diskussion über die Symbolik steht al-

lerdings noch mehr, nämlich eine Auseinandersetzung über die praktische

Bedeutung der Theologie. Hirsch betont schließlich immer wieder, daß die Ge-

bote nicht nur »Symbolausdrücke«, sondern auch »Symboltaten« seien, daß man

also von einer Bedeutung der Gebote für das eigene Leben ausgehen müsse.455

Für Scholem ist die or thodoxe Lebensführung aber, wie wi r bereits gesehen

haben, eine »Konkret is ierung der Tora auf einer falschen, zu frühen Sphäre«

(WB, 93). Während daher die Heteronomie der Thora für Hirsch in deren prak-

tischer Geltung besteht, faßt Scholem sie von vornherein unter dem Aspekt der

Wahrheitsfrage unter »Aufschub« der Frage ihrer praktischen Geltung. Von die-

ser Auseinandersetzung finden sich allerdings nur wenige Spuren; es scheint, daß

Scholem dieses Problem hier und in seinen späteren Äußerungen bewußt her-

untergespielt hat.456 Tatsächlich ist seine Position alles andere als selbstverständ-

Scholem, »Politik der Mystik«, 2. -Vgl . auch Hirschs »Symbolismus« und sein »Se-paratismus« seien seine »Gewaltmittel« gewesen. »Hirsch erzwang auf eine Weise, die von Brutalität nicht frei ist, was die Historie ihm verweigerte« (T II , 316). - Wie-ner betont ebenfalls, daß die Werte, die Hirsch in der Thora symbolisiert sieht, kei-nesfalls besondere jüdische, sondern allgemeine und geistige sind; letztlich gerate das durch viel Symbolik erreichte Ideal des Jisroel-Menschen daher doch zu einer Kari-katur bürgerlicher Werte, vor allem zur Ablehnung von Besitz- und Genußsucht (Wiener, Jüdische Religion, 75f). Die für die ganze neuere jüdische Theologie charakteristische Kabbalaangst habe sich gerade bei Hirsch fatal ausgewirkt, als dieser »es vorzog, einen höchst fragwürdigen und fast brutalen Symbolismus eigener Produktion zu statuieren, um nur der Rück-beziehung einer Welt auf die, die er sich selbst verboten hatte: der Kabbala, auswei-chen zu können« (J I, 230). - Bei Hirschs Nachfolger Isaac Breuer (1883-1946) werde dann der »triumphale Wiedereinbruch der Kabbala in das orthodoxe Denken« ma-nifest (Scholem, »Politik der Mystik«, 2). Scholem bekämpft hier vehement den An-spruch der Orthodoxie, der legitime Erbe der Mystik zu sein, Breuers ganze Argumente ließen sich »mit einer kleinen dialektischen Verschiebung, die sich im Ge-brauch leicht einstellt, genau so gut als Argumente für den Zionismus brauchen.« (Ebd.)

Hirsch, Neunzehn Briefe, 66f. -Wie wir gesehen haben leitet Hirsch die Möglichkeit seiner symbolischen Exegese gerade aus der Geltung der einzelnen Gebote ab, s.o. Kap. 2.3.2. Jedenfalls spielt das Problem der Beziehung der Thora auf das »Leben« in Scholems theologischen Reflexionen eine sehr untergeordnete Rolle - in Reflections on Jewish

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lieh, denn der praktische Bezug ist der Theologie ja keineswegs äußerlich und die Einhaltung der Gebote für das Judentum alles andere als ein Beiwerk. Wie wir noch sehen werden, spielt eine »dialektische« Beziehung zwischen »Offenba-rung«, »Tradition« und »Leben« in Scholems Reflexionen unausgesprochenerweise durchaus eine Rolle, dabei wird Scholem einräumen, daß die Orthodoxie mit ihrer Auffassung von Thora konsequent, aber »unvollziehbar« sei.

2.6.4 Die Offenbarung als Audition: Scholem und Steinheim. Der dritte wichtige theologische Bezugspunkt für Scholem ist, wie gesagt, Salomon Ludwig Stein-heim (1789-1886), dessen Die Offenbarung nach dem Lehrbegriff der Synagoge Scholem kurz nach seiner Beschäftigung mit Hirsch mit großer Zustimmung liest.457 Bezeichnenderweise handelt es sich wieder um eine »konservative« Auf-fassung; Steinheim kritisiert die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts gerade wegen ihrer Tendenz zur »Modernisierung« der Offenbarung: »Den eigentlichen Begriff, die wahre Wortbedeutung hat man verworfen, und an die Sache selbst seit langem nicht mehr geglaubt; und weil das Wort ein so althergebrachtes, so weit in die Vorzeit hinein ragendes war, dass man es nicht füglich abzuschaffen wagen mochte, so hat man es, nach dem Systeme einer fortschreitenden religiösen Ent-wickelung des Gefühls, des menschlichen Bewusstseins, ausgebalgt«.458

Für Steinheim ist Religion aber nicht im Gefühl oder Bewußtsein zu be-gründen, sondern nur durch eine Offenbarung, die nicht Ergänzung oder Vor-stufe der natürlichen Vernunft ist, sondern dieser geradezu entgegengesetzt.459

Theology etwa wird es nur ganz allgemein erwähnt. »Arbeit« scheint die Erfüllung der Gebote ganz zu ersetzen. Vgl. auch: »I hesitated about becoming observant. For some reason it didn't appeal to me. Judaism interested me very much, but not the praxis of observanecs.« (JJC, 10) Im November 1916 besitzt er Steinheims Buch noch nicht (vgl. T I, 436), später be-zeichnet Scholem Steinheims Werk als »meinem Dafürhalten nach höchst bedeuten-des und entsprechend absolut unbekanntes sehr seltenes Buch« (Br I, 205). - In der Sekundärliteratur spielt Steinheim nur bei Biale eine Rolle, als ein von Scholem kri-tisierter Irrationalist (Biale, Gershom Scholem, 128f), Scholems positive Steinheim-Rezeption taucht hier nicht auf. Steinheim, Die Offenbarung, Bd. I, 86. - Wie die dialektischen Theologen übt Stein-heim heftige Kriti k insbesondere an Schleiermacher (ebd., 183ff). Die Offenbarung ist für Steinheim ein methodisches Prinzip, der wesentliche Un-terschied ist daher ein methodischer: »Der Antirationalismus Steinheims führt so zu keinen anderen Inhalten des Glaubens hin, als sie auch der ethische Rationalismus gelehrt hatte. [...] Steinheims Differenz von Kant liegt lediglich darin, daß er den Ur-sprung dieser Lehren nicht in der sittlichen Vernunft, sondern in der Offenbarung sucht.« (Guttmann, Philosophie des Judentums, 341) - Wie schon bei Hirsch ist hier also der materiale dogmatische Gehalt nicht wesentlich anders als im Liberalismus, auch wird er in der ganz untraditionellen Form der »biblischen« Dogmatik entwickelt.

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Diese Entgegensetzung denkt Steinheim durch eine an Kant angelehnte Dia-

lektik der Erfahrung: Die Vernunft erhebe ständig Fragen, die sie nicht lösen

könne, nur der Entschluß, die Offenbarung anzunehmen, die »Gefangenneh-

mung der Vernunft unter dem Glauben«, könne diesem Di lemma begegnen.460

Man kann sich das etwa an der Lehre von der »Schöpfung aus Nichts« klarma-

chen, die bei Steinheim eine besonders große Rolle spielt (wie in der ganzen jü-

dischen Theologie des 19. Jahrhunder t, wo sie im allgemeinen das Bol lwerk

gegen »Materialismus« bildet): Diese Lehre kann nicht aus der Vernunft stam-

men - deren Grundsatz ex nihilo nihil fit sie widerspricht - , aber sie löst, ein-

mal übernommen, die Kantische Ant inomie vom Anfang der Welt auf.461

Gerade die Suche nach einer neuen methodischen Begründung für die Theo-

logie läßt Steinheim also auf den tradit ionel len supranatural ist ischen Begriff

der Offenbarung zurückgreifen: »Weder durch Reflexion, noch durch Erfah-

rung, oder irgend ein mögliches Mittel , mit welchem der Geist des Menschen

andere Wahrheiten in sich und aus sich entwickelt, soll diese Lehre der Offen-

barung erklärl ich sein, sondern sie soll der Ar t sein, dass sie dem Menschen

nur durch ein vernehmliches Wort von Aussen, durch das O hr zugekommen

sein kann.«462

Di e Offenbarung ist für Steinheim mithin etwas Gegebenes, das von Außen

an den Menschen herantritt, und zwar als »Mittheilung eines unbekannten Tat-

Steinheim, Die Offenbarung, Bd. I, 66. - Steinheim betont mehrfach den negativen Charakter der Vernunft, er sieht »ihre Hauptkraft im Einreissen und Kritisieren, nicht aber im Aufbauen und Befestigen« (ebd., 68). Anders als bei Kant ist diese Dia-lektik universal, sie tritt nicht erst im Bereich des Unbedingten ein, sondern wirkt je schon im Gegensatz zwischen Erfahrung und Vernunft; vgl. dazu aufschlußreich Guttmann, Die Philosophie des Judentums, 338ff. Diese Konzeption ist für den »Kan-tianer« Scholem natürlich sehr interessant, vgl. seine ähnlichen Formulierungen oben über die Grenze der Vernunft s. o. Kap. 2.2. Diese Konzeption führt Steinheim dazu, die Gemeinsamkeit zwischen Philosophie und mythischer Weltsicht zu betonen: »Man kann nur eins von Beiden sein, entweder Heide und Philosoph, oder Offenbarungsgläubiger; es gibt kein Mittelding ohne Widerspruch.« (Steinheim, Die Offenbarung, Bd. I, 361) - Besonders den Idealismus lehnt Steinheim ab: »Religious thinkers generally place philosophical idealism above materialism, since idealism finds room in its System for the God-concept and seems to have a close affinity for the spiritual aspect of religion. But it is precisely idealism, aecording to Steinheim, that imperils religion in that it negates God by confining Hirn within the limits of a closed, rational System. It needs the word »God«, but must rejeet the true content of the word which is antirational, since it refers to transcendent existence. Steinheim therefore prefers materialism to idealism, since it must necessarily assume a spirit outside of matter that directs it.« (Rotenstreich, Jewish Phdosophy, 173) Steinheim, Die Offenbarung, Bd. I, 88.

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bestandes«, nicht als Gefühl oder diffuse Theophanie.4 63 Damit ist auch der In-

halt der Offenbarung nicht Sprache an sich, sondern ein konkreter Sprechakt,

ein begrenztes Wort. Steinheim kann sich hier explizit auf die Vorstellung be-

ziehen, die Thora sei Moses auf dem Sinai Wort für Wort diktiert worden. Al s

»Mitteilung« ist die Of fenbarung zugleich historisch, weil »der Worts inn der

»Offenbarung« den des »historischen« im strengsten Wortverstande involviert.

[...] Eine Bekanntmachung, eine Mitthei lung ist ein Act, und fällt in einen be-

stimmten oder best immbaren Zei tpunkt, im Gegensatze zum reinen Erkennen

aus eingeborenem Geistesvermögen ist jenes ein wirkliches Erfahren, durch ir-

gend einen äusserlichen Sinn.«464

Scholem übernimmt diese Betonung der heteronomen und konkreten Natur

der Offenbarung in seinen theologischen Reflexionen. So schreibt er etwa 1921,

Offenbarung sei »die zentrale Grundtatsache der Religion« und zwar nicht als

ein »amorphes, auf einer unergründl ichen, ebenso wie ihre Emanat ionen ver-

schwommen bleibenden Sphäre der Innerl ichkeit sich abspielendes Erlebnis«,

sondern als »Audit ion im strengen Sinne des Begriffs« (T II , 667).465 Auch in

Steinheim, a.a.O., Bd. I, 123. - Die Offenbarung ist positive Gegebenheit: »Die Ge-genstände der Offenbarung sind erweislich von aussen her und durchweg neue Mitt -heilungen, die wir eben so wenig zu erdenken fähig sind, als - einen Baum, eine Sonne, ein Sandkorn; die wir erkennen, aber nicht kennen und von welchen ebenfalls der alte Spruch des Stagiriten [Aristoteles] gelten muß, dass in ihnen allen etwas Wun-derbares, ein Unerfassliches enthalten sei.« (Ebd., 84) Steinheim, a.a.O., Bd. I, 82. - Das Historische ist schon am Anfang von Steinheims Erörterungen das Kriterium zur Unterscheidung von der natürlichen Religion, denn eine Offenbarung mit Mitteilungscharakter setzte einen »Anfangspunkt« (ebd., 18) voraus, den eine natürliche Religion nicht habe. Die Unterscheidung geht hier aber noch weiter: »Eine eigentliche Offenbarung schliesst jede Entwickelung von innen heraus, jedes eigentliche Wachsthum [...] völlig aus; sie kann keine allmählich fort-schreitende Entwickelung und Vervollkommnung von sich gelten lassen, ohne aus ihrem Charakter zu fallen.« (Ebd., 20) Im engeren Sinne ist die Offenbarung also ohne Geschichte: »Nur das, aus dem zuerst Mitgetheilten in deriativer Art und in ab-steigender Linie Geschaffene, kann ihr angehören; allein das würde keine Erweite-rung, keine Entwickelung im eigentlichen Sinne, wie dieser sonst gang und gebe ist, genannt werden können.« (Ebd., 21) Geschichte könne in der Offenbarungsreligion nur darin bestehen, daß sich die Menschen an die feststehende Offenbarung assimi-lieren: »Wir entwickeln nicht sie; sondern sie uns.« (Ebd. 29). - Vgl. dazu Scholems Ausführungen zu der für alle monotheistischen Religionen charakteristischen »Vor-stellung von der Entfaltung der Geschichte«: »Sie bestehen immer darauf, daß die erste große Offenbarung auch die den höchsten Rang einnehmende war. Von da an sinken Rang und Gradstufe« (KS, 32).

Hieraus wäre auch der Begriff der »Härte« der Offenbarung zu entwickeln, von dem aus Scholem etwa Rosenzweigs Übersetzung kritisiert (vgl. Br 1,214f). Zu einem Vergleich der Übersetzungsstrategien vgl. Brocke, »Franz Rosenzweig und G. Scholem«, 137ff.

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den schon oben zitierten Reflections on Jewish Theology betont Scholem die Be-deutung der »akustischen Sphäre«, insbesondere das rabbinische Judentum ver-stehe unter »Offenbarung« nicht die Gegenwart Gottes, sondern sein Wort. Hier zitiert Scholem Steinheim - »a genuine antimystic« (JJC, 273) -, um das »Neue Denken« in der jüdischen Theologie zu kritisieren. In diesem werde, so Scho-lem, in der Regel die Grenze zwischen einer »divine comunication establishing an authority« und den Theophanien verwischt, das führe zu »attenuating and subjectivist talk of Revelation which was bound to destroy Relevation's autho-ritative character« (ebd., 272).466 So sei etwa Bubers Begriff der Offenbarung ein rein mystischer, »nur eben mit dem einen großen Unterschied, daß für die Mystiker die historische Offenbarung die mystische impliziert, indem die eine sich in der anderen auseinanderlegt. Davon ist bei Buber freilich nicht mehr die Rede. Er kennt nur eine, eben die mystische Offenbarung« (J II , 173). Gerade in der Polemik wird Scholem dabei deutlich: Wenn Buber schreibt: »die Offen-barung schüttet sich ja nicht durch ihren Empfänger wie durch einen Trichter«, kommentiert Scholem das mit: »es ist freilich genau das, was die historischen Offenbarungen tun!« (ebd., 175). Ähnlich schreibt er im großen Aufsatz über Offenbarung und Tradition, die Offenbarung sei im Judentum ursprünglich »natürlich« verstanden worden als »konkrete Mitteilung eines positiven sprach-lichen und aussprechbaren Inhalts« (Gb, 92).

Allerdings erwähnt Scholem in Reflexions on Jewish Theology auch bereits das »fundamental paradox« von Steinheims Auffassung bzw. allgemein der Lehre von der Verbalinspiration: »Can the human word contain the word of God in its pure form or can the word of God, if it exists, express itself within the confines of the human language?« (JJC, 266) Hier taucht also das Problem des Verhältnisses zwischen verschiedenen Sprachen und verschiedenen Sprechakten wieder auf, das wir schon in Scholems esoterischen Reflexionen gesehen haben. Es bleibt als Paradox bestimmend für Scholems theologische Reflexionen der Zwischenkriegszeit, die diese Frage als Verhältnis von Offen-barung und Tradition denken.

Zum neuen jüdischen Denken rechnet Scholem hier neben Rosenzweig und Buber auch Hermann Cohen, Kaufmann Kohler (JJC, 272) und Abraham J. Heschel (ebd., 274): »They all polemicized against mysticism while borrowing its metaphors in case of need« (ebd., 272) - An anderer Stelle spricht Scholem von dem »Bestreben vieler Philosophen des »Neuen Denkens« [...], Grenzen zwischen sich und der Welt der My-stik zu ziehen« (Scholem, »Franz Rosenzweig«, 542). Zu Scholems Kriti k vgl. auch Schweid: »In Scholem's opinion, modern Jewish theology's main weakness is its inability to sustain the tenet of >Thora from Heaven« in its fundamental sense.« (Schweid, Judaism and Mysticism, 156)

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OFFENBARUNG UND TRADITION 251

2.7 Offenbarung und Tradition

Scholems theologische Reflexionen über Offenbarung und Tradition schließen an seine früheren esoterischen Überlegungen zur Konsistenz und Wahrheits-fähigkeit der Tradition an. Insbesondere die Differenz von Offenbarung und Tradition, die sich im Frühwerk eher angedeutet fand, tritt jetzt in den Mittel-punkt und erweist sich als fundamental für Scholems Denken: Obwohl Scho-lem sie in enge Beziehung setzt, identifiziert er beide letztlich niemals; weder wird die Tradition selbst zur Offenbarung, noch wird die Offenbarung ganz in Tradition aufgelöst. Gerade diese Spannung macht Scholems Denken produk-tiv und beweglich: In immer neuen Figuren artikuliert Scholem die Differenz von Offenbarung und Tradition, ohne daß er dabei zu einer stabilen und ein-deutigen Unterscheidung findet.

Diese Figuren sollen in diesem Kapitel dargestellt werden, sie können auch als Antworten auf die im Laufe seiner Theorie der Tradition aufgetauchten Fra-gen verstanden werden: Wie kann Scholem seinen »harten« Begriff der Offen-barung - der, wie wir an der Hiob-Interpretation gesehen haben, fast einen Zug des Absurden trägt - mit dem der Tradition vermitteln (2.7.1)? Wie kann zwei-tens der »Aufschub« in bezug auf die (praktische) Anwendbarkeit der Thora theologisch ausgewiesen werden (2.7.3)? Ist Scholems eigene Position schließ-lich drittens selber wieder positiv eine theologische Position bzw. wie bewertet er selber den Status seiner theologischen Reflexionen (2.7.3)?

2.7.1 Die >Blendung der Offenbarung<. Die früheste Äußerung Scholems in einer eindeutig theologischen Debatte ist eine Polemik gegen Hans Joachim Schoeps« Jüdischer Glaube in dieser Zeit, die Scholem 1932 schreibt und 1937 veröffentlicht.467 Der Text nimmt eine entscheidende Stellung in der »Verschie-bung« von Scholems esoterischer Sprache in seine späteren Veröffentlichungen ein, denn einerseits greift Scholem hier auf den Gedanken des »Mediums« aus den frühen Schriften zurück, auf der anderen Seite übernimmt er entscheidende Formulierungen der Schoeps-Polemik in einen Vortrag über Offenbarung und

Biale hat die Bedeutung dieses Textes erkannt und ihn eingehend als »antiexistentia-list manifesto« interpretiert (Biale, Gershom Scholem, 127ff, hier 130). Allerdings ist der Begriff des Existentialismus unzureichend für die Diskussion des theologischen Problems der Offenbarung, jedenfalls solange er wie bei Biale lediglich zum Verdikt des Irrationalismus führt. Symptomatisch dafür ist, daß Biale die Positionen Schoeps«, Bubers und Steinheims nicht gegeneinander differenzieren kann.

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Tradition aus den sechziger Jahren.468 Zugleich kann man hier besonders gut die Verortung Scholems in den theologischen Debatten seiner Zeit sehen, weil hinter der Polemik auch eine Auseinandersetzung mit der dialektischen Theo-logie stattfindet; wie wir sehen werden, ist Scholems Stellung hier durchaus ambivalent.

Hans Joachim Schoeps selbst ist außerordentlich stark von der dialektischen Theologie, insbesondere von Barth beeinflußt, zugleich bezieht er sich aber auch explizit und wiederholt auf Steinheim.469 Er polemisiert heftig gegen den Liberalismus und »ethischen Nomismus« in der jüdischen Theologie und die »immanent begründete« Sinngebung des Lebens, die der Liberalismus voraus-setze. Dabei würde die Offenbarung mit zeitlos-allgemeingültigen Wahrheiten gleichgesetzt und ihr »Geltungsanspruch für das eigene Leben [...]siert«.470 Gerade für den so lange als rein rational aufgefaßten jüdischen Glau-ben hänge aber alles davon ab, ob »er sich als OffenbarungsreYigion ausweisen kann, der gegenüber der zur Entscheidung gedrängte Mensch nur die Alterna-tive hat, zu glauben oder nicht zu glauben«.471 Schoeps versucht also, die Wende zu einer Theologie der Offenbarung auf das Judentum zu übertragen, ganz im Sinne Barths fordert er eine »bis zur Wirklichkeit des Offenbarungsfaktums vordringende Besinnung« als Grundlegung der Theologie »vor aller Verkün-digung im Lebensraum der Synagoge«.472 Nur wenn man zurückgehe auf das »Daseinsverständnis des alttestamentlichen Menschen [...], welches aus der Heiligen Schrift [...] eben als Offenbarungsglaube zu uns spricht«, könne man einerseits der liberalen Reduktion der Religion auf allgemeinmenschliche Sittlichkeit entgehen, andererseits die »Ungeschichtlichkeit des orthodoxen Anspruchs [überwinden], daß durch »Lernen« im Talmud und ernsthaftes Ver-senken in die Streitigkeiten der halachischen Gesetzeskommentierung unserer konkreten Notlage der allgemeinen Glaubenslosigkeit auch nur irgendwie ge-

Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, insbesondere wenn man Scholems Brie-fäußerungen und fremde Berichte hinzuzieht, daß Scholem in den dreißiger Jahren durchaus noch beabsichtigte, diese theologischen Äußerungen weiter zu entwickeln. Von 1938 an tritt dann die Arbeit an den Hauptströmungen in den Vordergrund und Scholems historische Interessen scheinen seine theologischen mehr oder weniger vollständig abzulösen: In der Historiographie findet Scholem jetzt eine ganz andere Art, sich zu artikulieren, die uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird. Altmann, auf den wir unten noch eingehen werden, hat gezeigt, daß es sich hier bis in den Aufbau hinein um ein Deckungsverhältnis zu Barths Dogmatik handelt (Alt-mann, »Zur Auseinandersetzung mit der dialektischen Theologie«, 2680, auch Scho-lem erwähnt die Abhängigkeit von Barth (Br I, 468). Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit, 1. Schoeps, a.a.O., 2. Schoeps, a.a.O., 3.

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OFFENBARUNG UND TRADITION 253

holfen werden könnte«.473 Schoeps versucht dann, ähnlich wie schon Steinheim,

eine Reihe von biblischen »Dogmen« aufzustellen, auf deren Einzelheiten wi r

hier nicht einzugehen brauchen.

Scholems Krit i k an Schoeps ist in gewohnter Weise scharf, vor allem in der

beißenden Polemik gegen Schoeps« Bekenntnis zum Deutschjudentum. Theo-

logisch weiß er sich einig mit Schoeps in der Ablehnung des Liberalismus und

findet es »sehr verdienstvoll«, daß Schoeps mit Steinheim gegen die »Perversion

der Begriffe von Offenbarung und Erlösung unter der Herrschaft eines der Il -

lusionen der Autonomie verfallenen Denkens« polemisiert (Br I, 466). Aber er

kritisiert Schoeps« Neigung, aus dem Judentum einen Gegenstand des Glaubens

zu machen; sie resultiere aus Schoeps« »ausdrückl icher Ablehnung der Tradi-

t ion als der wesentl ichen Kategorie religiöser Lebenshal tung im Juden tum -

eine Ablehnung, die auf einen Sprung ins N i rgendwo, biblische Theologie bei

Ihnen genannt, hinausläuft« (ebd., 468).474 Scholem bleibt höchst skeptisch ge-

genüber diesem »Sprung« zum biblischen Daseinsverständnis, das für Schoeps

der Inhalt des Glaubens ist. Zum einen sei auch das biblische Daseinsverständ-

nis dem modernen Menschen vo l lkommen fremd, vor allem aber stelle so ein

Sprung eine »Neutral isierung jüdischen Geschichtsbewußtseins« dar, insofern

die Aktual isierung der jüdischen Überl ieferung mittels der »Existentialproble-

matik des modernen Judentums« allzuleicht in »einen sehr unexistentiellen und

uns allen wohlbekannten Subjektivismus« abgleiten könne (ebd., 469).

Scholem formuliert dieses hermeneutische Problem der Aktualisierung der

Überl ieferung auch explizit theologisch in bezug auf die Offenbarung:

Die Offenbarung, und diese alte und tiefe Wahrheit kommt in Ihrer Schrift zu kurz, wie sie es schon bei Steinheim kam - die Offenbarung ist bei aller Einmalig-keit doch ein Medium. Sie ist als Absolutes, Bedeutung Gebendes, aber selbst Be-deutungslose das Deutbare, das erst in der kontinuierlichen Beziehung auf die Zeit, in der Tradition, sich auseinanderlegt. Das Wort Gottes in seiner absoluten sym-bolischen Fülle wäre, wenn anders es zugleich auch unmittelbar (undialektisch) bedeutend wäre, zerstörend. Nichts nämlich [...] ist, auf historische Zeit bezogen, mehr einer Konkretisation bedürftig als eben die (um ihre Worte zu benutzen) »ab-solute Konkretheit« des Offenbarungswortes. Ist doch das absolut Konkrete das Unvollziehbare schlechthin, dessen Absolutheit eben seine unendliche Spiegelung

Schoeps, a.a.O., 4 - Die Anlehnung an die protestantische Theologie zeigt sich auch im weiteren Aufbau von Schoeps« Schrift, die mit einem Referat der prote-stantischen Theologie beginnt (ebd., lOff), später betont er besonders den Glauben und das Wort Gottes (ebd., 66ff), um sich dann - wie Steinheim - an den verschie-denen Glaubensartikeln (Einzigkeit Gottes, Schöpfung, Offenbarung, Erlösung) zu orientieren. An anderer Stelle wirf t Scholem Schoeps die »Abrogation der Frage nach dem reli-giösen Sinn der mündlichen Thora und ihrer Grundbegriffe (Überlieferung, Kom-mentar, Frage und Erfragbarkeit)« vor (Br I, 469).

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254 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

in den Kontingenzen des Vollzugs bedingt. Hier erst wird es, mit dem Index der Anwendbarkeit versehen, dessen das Absolute entbehrt, der menschlichen Tat als Konkretes auch ergreifbar. (Br I, 469f)

In diesen für Scholem zentralen Sätzen werden die Formulierungen über die Nichtanwendbarkeit der schriftlichen Thora aus den jugendlichen Aufzeich-nungen aufgenommen (s. o. Kap. 2.5), um die Offenbarung anders zu bestim-men denn als Entscheidungsruf: Das Absolute ist >ergreifbar< erst in seiner Entfaltung, unmittelbar ist es den Menschen »unvollziehbar«.

Scholem spricht hier auf verschiedenen Ebenen. In der Nicht-Anwendbarkeit der Offenbarung liegt zunächst ein hermeneutisches Problem, das Scholem mit-tels der schon bekannten Terminologie des »Mediums« beschreibt: Außerhalb des Bezuges auf »die Kontingenzen des Vollzugs« bzw. auf Zeit bedeute das Wort nichts, wozu der Mensch sich überhaupt entscheiden könnte. Das verdeutlicht Scholem gerade an dem von Steinheim und Schoeps so herausgestellten Dogma von der »Schöpfung aus Nichts«: »Denn was jenes Nichts nun eigentlich »sei« oder wenn man wil l »nichtsei« - eine Bestimmung an Gott (also ein »Nichts Gottes«) oder nicht - diese entscheidende Frage, die die Zweideutigkeit der Formel sofort enthüllt, kann erst und allein auch eine Entscheidung darüber herbeiführen, ob dieses Prinzip in der Tat die von ihm behauptete Fundamentalbedeutung [...] hat.« (Br I, 467f) Diese Frage sei aber gar nicht zu entscheiden ohne die Inter-pretationen der Tradition, ohne die Wirkungsgeschichte der Offenbarung, wel-che die Tradition darstellt. Scholem beschreibt das hier mit der Metapher der »Stimme«, die uns noch öfter begegnen wird: »Die Stimme, die wir vernehmen, das ist das Medium, in dem wir leben, und wo sie das nicht ist, da ist sie hohl und nimmt den Charakter des Gespenstischen an, in dem das Wort Gottes nicht mehr wirkt, sondern - und sei es auch in Dogmen - umgeht.« (Ebd., 470)

Gleichzeitig evoziert Scholem hier auch ein anderes Problem, das weniger die Bedeutung der Offenbarung betrifft als das »Nicht-Erfragbare« an ihr. Wie wir schon an Scholems Reflexionen zu Hiob gesehen haben, hat die Offenbarung etwas Inkommensurables noch gegenüber ihrer Wirkung. Dieses Moment drückt Scholem jetzt aus, indem er von der »Blendung [...], die von der Offenbarung aus-geht« spricht (ebd., 470): Die Offenbarung für sich ist nicht nur dunkel und be-deutungslos, sondern hat auch eine Kraft; dieses Leuchten oder diese Kraft wird zugleich als produktiv vorgestellt, insofern die Offenbarung zwar bedeutungslos, »Bedeutung Gebend« (ebd., 469) ist bzw. indem sie als »Stimme« bezeichnet wird. Diese Kraft läßt sich nicht mehr einfach auf der Ebene der Hermeneutik verste-hen, wie besonders die schon zitierte Stelle über das unmittelbare Gotteswort zeigt: »Das Wort Gottes in seiner absoluten symbolischen Fülle wäre, wenn an-ders es zugleich auch unmittelbar (undialektisch) bedeutend wäre, zerstörend.« (ebd., 469) Dieser für Scholem äußerst charakteristische Satz hat selber eine >dia-

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OFFENBARUNG UND TRADITION 255

lektische« Rhetorik: Scholem bleibt nicht bei der - hermeneutischen - Behauptung stehen, es gäbe eben keine unmittelbare Bedeutung der Offenbarung, sondern spricht doch - in den Klammern des Konjunktivs - von dieser Unmittelbarkeit als Zerstörungskraft. Die Figur der Kraft dient hier dazu, die Erfülltheit der Tra-dition und die Dialektik des Aufschubs zu denken: Die Tradition ist nicht von der Offenbarung ablösbar, erreicht diese aber auch nie; gerade daher können weder Offenbarung noch Tradition das »Leben« direkt und einfach bestimmen.475

Daß diese Dialektik Scholem am Herzen liegt, wird deutlich, wenn man sie mit der Kriti k an Schoeps durch Alexander Altmann vergleicht: Wie Scholem wehrt sich Altmann gegen Schoeps« protestantische Hypostasierung des »Sprungs«, aber in äußerst aufschlußreicher Weise geschieht das aus ganz ande-ren Motiven und in ganz anderer Weise. Altmanns Kriti k geht nicht von der hermeneutischen Fragwürdigkeit der Hypostasierung der »Entscheidung« aus -also vom Problem der Offenbarung -, sondern richtet sich gegen den »gnosti-schen« Einschlag der dialektischen Theologie, der sich auch bei Schoeps zeige. »Die jüdische »Entscheidung« wird die »Welt« nicht so im Rücken lassen dürfen wie die Barthsche. [...] Dort gründet das Motiv der Entscheidung in einer spe-zifischen Voraussetzung, die wir vom jüdischen Bewußtsein her nicht akzep-tieren können: in der Lehre vom Widerspruch der Geschichte gegen die Urgeschichte, des Zeitlichen gegen das Ewige.«476 Das verfehle aber nicht nur die Schöpfungsqualität der Welt, sondern auch die jüdische Lebensform des Ge-setzes, die »nicht in der Labilität der Entscheidung gegeben sein« könne: »Ent-scheidung ist punkthaft, Tun ist Erstreckung in der Zeit, ist Weg.«477 Altmann

Von hier aus wird auch noch einmal die zentrale und positive Bedeutung der - in die-sem Aufsatz allerdings nicht genannten - Kategorie des »Aufschubs« verständlich: Der Aufschub ist hier nicht nur ein Zwischenzustand des bloßen Wartens auf (die mes-sianische) Unmittelbarkeit, sondern ermöglicht es, die beiden Seiten der absoluten Fülle und der menschlichen Vollziehbarkeit aufeinander bezogen zu denken. - Für Schoeps erscheint gerade dieser Aufschub als Nihilismus, er antwortet Scholem: »Daß Sie nun aber das absolut Konkrete des Offenbarungswortes als das »Unvoll-ziehbare schlechthin« bezeichnen, erfüllt mich mit Besorgnis hinsichtlich Ihrer Per-son und hinsichtlich Ihres - verzeihen sie das pietistische Wort - »Seelenheils«. - Ich beginne zu ahnen, wer da mit mir spricht.« In der späteren Anmerkung ergänzt Schoeps: »Ich habe durchaus verstanden, daß ein Nihilist mich über Offenbarung hat belehren wollen.« (Schoeps, Ja - Nein - und Trotzdem, 49f). Altmann, »Zur Auseinandersetzung mit der »Dialektischen Theologie««, 258. - Alt-mann arbeitet heraus, daß Schoeps »in vollkommen naiver Weise das Begriffsgerüst der dialektischen Theologie für das Judentum einfach übernimmt« (ebd., 268f). - Alt-manns Artikel erscheint 1935 - also zwischen der Abfassung und der Publikation von Scholems Brief an Schoeps und mit aller Wahrscheinlichkeit unabhängig davon. Altmann, »Zur Auseinandersetzung mit der »Dialektischen Theologie««, 267. - Vgl. auch: »Die Entscheidung als konstituierender Akt ist hier [im Judentum] deshalb

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stützt sich hier auf die dialogischen Philosophien Bubers und Rosenzweigs, für diese ist die Beziehung zwischen Gott und Mensch nicht durch das Paradox -bei Barth etwa: Heil durch den Tod - geprägt, sondern durch den Dialog zwi-schen Mensch und Gott. »Keine Dialektik des Widerspruchs verhindert das ru-hende Menschsein. [...] Gott und Mensch begegnen einander, nicht aber hebt Gott die menschliche Existenz nach der Schöpfung wieder auf, indem er sie in der Offenbarung anspricht.«478 Wenn Schoeps wie Barth behauptet, »daß die ungläubige und von der Offenbarung abfallende Welt voller dämonischer Po-tenz ist und sich in ihrer Dämonie selber zu zerstören - nämlich ihre Schöp-fungsqualität zu verlieren droht«, so ist das für Altmann »durch und durch apokalyptisch« und habe daher »einen für jüdische Ohren falschen Ton«.479

Scholems Kriti k ist vollkommen anders orientiert, sie setzt nicht bei den In-halten (der Schöpfungsqualität) und auch nicht beim (dialogischen) Verhältnis des Menschen zu Gott an, sondern bei der Frage nach der Natur der Offenba-rung. Inhaltlich argumentiert Scholem geradezu entgegengesetzt zu Altmann: Während dieser bei Schoeps mehr Apokalyptik sieht, als dem Judentum gut tue, bezeichnet Scholem in seiner Polemik gegen Schoeps das Apokalyptische an sich als durchaus legitim: »Die Beziehung einer historischen auf eine ewige Gegenwart scheint mir nur auf zwei Weisen realisierbar zu sein (die sich kei-neswegs ausschließen müssen): im Medium der Apokalyptik oder der Tradition. Der »biblische« Standort jenseits von beiden ist eine Chimäre.« (Br I, 470) Tatsächlich läßt er selber auch in der Rede von der blendenden bzw. zerstören-den Kraft der Offenbarung durchaus apokalyptische Töne anklingen, gerade dieses Moment schließt für ihn allerdings die existentielle Aneignung (den »bib-lischen Standort«) aus, die Schoeps vornimmt.

Damit kritisiert Scholem nicht nur in anderer Weise als Altmann, man kann darüber hinaus vermuten, daß er implizit die Position Altmanns bzw. der »dia-logischen Theologie« in seine Kriti k einschließt. Jedenfalls ist der durchgehende Tenor seiner Kriti k an Rosenzweig und Buber gerade, daß diese die Apokalyp-tik verdrängten: Bei Rosenzweig sieht er eine »tiefe Tendenz, dem Organismus des Judentums den apokalyptischen Stachel zu nehmen«, diese »bedingt bei ihm wohl auch den seltsam kirchlichen Aspekt, unter dem hier manchmal unver-sehens das Judentum erscheint« (J 1,232); auch an Buber kritisiert er dessen Ab-wertung der Apokalyptik und dessen allzu scharfe Abgrenzung gegen die

nicht gefordert, weil dieser Akt bereits geschehen ist, und zwar als vor dem Einzel-leben in der Urgeschichte des Volkes ergangene Berufung und Antwort.« (Ebd., 260) Altmann, »Zur Auseinandersetzung mit der »Dialektischen Theologie««, 259. Schoeps, Jüdischer Glaube in dieser Zeit, 3; Altmann, »Zur Auseinandersetzung mit der »Dialektischen Theologie««, 269.

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OFFENBARUNG UND TRADITION 257

Gnosis.480 Gegen die Betonung des Konkreten, Weltlichen halte die Apokalyp-

ti k - die Scholem in diesem Zusammenhang »die Erkenntnis von der Katastro-

phalität aller historischen Ordnung in einer unerlösten Welt« nennt (J I, 232) -

eine Spannung aufrecht, die ganz der paradoxen Bezogenheit von Offenbarung,

Tradit ion und »Leben« entspricht. Für die Apokalypt iker gäbe es »genau ver-

standen, jenes Konkrete gar nicht, das von nichterlösten Wesen vollzogen wer-

den könnte«, daher nennt Scholem die Apokalypt ik auch »die eigentliche

anti-existenzialistische Idee« (Gb, 167). Die »Unvollziehbarkeit des Konkreten«

ist somit sowohl in der Idee der Tradit ion als auch in der Apokalypt ik ver-

wirkl icht . Beide sind zutiefst »dialektische« Ideen in dem Sinne, daß durch sie

Göttl iches und Menschliches aufeinander bezogen werden, aber so, daß sie sich

niemals »begegnen« können.

2.7.2 Das >Nichts der Offenbarung<. Die Idee der »Unvollziehbarkeit des Kon-

kreten« bildet zumindest in den dreißiger Jahren den Kern von Scholems theo-

logischen Reflexionen, sie prägt auch den Briefwechsel, den Benjamin mit

Scholem über Kafka führt. Diese Diskussion ist nicht nur eine Auseinanderset-

zung über jüdische Literatur, sondern auch eine Reflexion über »Offenbarung«,

von vornherein ist die Diskussion mit Benjamin sowohl auf den frühen Jona-

Aufsatz als auch auf die Polemik gegen Schoeps bezogen.481 Die Diskussion mit

c Scholem sieht bei Rosenzweig eine »geheime Verbindung« »zwischen dem Paradox einer im genauesten Sinn mystischen Erkenntnistheorie, die doch unter heftigster Po-lemik gegen die Mystiker inauguriert wird, und dem überwältigenden theologischen Paradox einer Auseinandersetzung mit dem Christentum, die mit einem theologi-schen non liquet endet« (Br I, 243f)- - Der Kern von Scholems Ablehnung des neuen Denkens scheint mir vor allem in dessen Tendenz zur Entgeschichtlichung zu liegen, es wäre zu fragen, ob Rosenzweigs Abwendung von der Geschichte nicht noch (ne-gativ) von Hegels Geschichtsbegriff geprägt ist. Träfe das zu, so würde folgen, daß Rosenzweig das, was nicht in der Geschichte aufgeht, nur radikal ahistorisch denken kann. Vgl. dazu Moses, Der Engel der Geschichte, 51 ff, bes. 57f; Mendes-Flohr, »Franz Rosenzweig and the Crisis of Historicism«. - Zu Scholems Kriti k an Bubers Vernachlässigung der Apokalyptik vgl. J II , 180ff.

Schon 1928 schreibt Scholem an Kraft, bei Kafkas Prozeß handele es sich um die »die erste Rekonstruktion der Welt des Buches Hiob, die seitdem einem Menschen, und natürlich nur einem Juden, aufgegangen ist« (Br I, 235), drei Jahre später rät er Ben-jamin, »jede Untersuchung über Kafka vom Buche Hiob aus zu beginnen oder zum mindesten von einer Erörterung über die Möglichkeit des Gottesurteils. [...] Die Ge-danken, die ich vor vielen Jahren in meinen Thesen über Gerechtigkeit die du kennst ausgesprochen habe, würden sich in ihrer Beziehung zur Sprache mir als der Leitfa-den meiner Betrachtungen bei Kafka ergeben.« (WB, 212f) - Scholem erwähnt auch den Brief an Schoeps als Hinweis auf eine »richtig verstandene Theologie« (Brw, 157), die der Schlüssel zur Interpretation Kafkas sein müsse, später zitiert Benjamin zu-stimmend aus diesem Brief (ebd., 172). - Trotz der spärlichen Quellenlage - anders

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Benjamin kreist dabei um den Unterschied zwischen »Unvollziehbarkeit« der

Offenbarung und ihrer »Abwesenheit«: Scholem kritisiert an Benjamins Kafka-

Essay, daß dieser Kafka unter dem Gesichtspunkt der Abwesenheit der Offen-

barung darstelle, das treffe aber Kafkas Welt nicht, in der die Offenbarung doch

überall präsent sei: »Nicht, lieber Walter, ihre Abwesenheit in einer präanimi-

stischen Welt, ihre Unvollziehbarkeit ist ihr Problem. [...] Nicht so sehr Schüler,

denen die Schrift abhanden gekommen ist [...] als Schüler, die sie nicht enträt-

seln können« seien die Kafkaschen Gestalten (Brw, 158). Gegen Benjamins Ein-

wand, daß »die Schrift ohne den zu ihr gehörigen Schlüssel eben nicht Schrift

ist sondern Leben« (Brw, 167), betont Scholem, es sei gerade »die Differenz die-

ser beiden Stände, die ich mit meiner Äußerung vom Nichts der Offenbarung

treffen will « (ebd., 175).

Diese Formel vom »Nichts der Offenbarung«, die Scholem schon im ersten

Brief eingeführt hatte - »Die Welt Kafkas ist die Welt der Offenbarung, freilich

in jener Perspektive, in der sie auf ihr Nichts zurückgeführt wird« (ebd., 157) - ,

umschreibt noch einmal anders das uns schon bekannte Problem der parado-

xen Gegebenheit der Offenbarung. Auf Benjamins Nachfrage macht Scholem

deutlicher, was er unter dieser Formel versteht:

Ich verstehe darunter einen Stand, in dem sie bedeutungsleer erscheint, in dem sie zwar noch sich behauptet, in dem sie gilt, aber nicht bedeutet. Wo der Reichtum der Bedeutung wegfällt und das Erscheinende, wie auf einen Nullpunkt eigenen Gehalts reduziert, dennoch nicht verschwindet (und die Offenbarung ist etwas Er-scheinendes), da tritt sein Nichts hervor. Es versteht sich, daß im Sinn der Religion dies ein Grenzfall ist, von dem sehr fraglich bleibt, ob er realiter vollziehbar ist. (Brw, 175)

Auch hier denkt Scholem eine Offenbarung jenseits der Bedeutung, allerdings ist

diese nicht durch zerstörende »Kraft« charakterisiert, sondern einerseits durch Phä-

nomenalität, andererseits durch »Geltung«. Beides sind Grenzformen der Textua-

lität: Einerseits ist jeder Text ein Phänomen, andererseits kann der Anspruch oder

die performative Kraft des besonderen Textes der Offenbarung auch juridisch als

Geltung gedacht werden. Dabei wird das »Nichts der Offenbarung« nicht mehr als

unmittelbar beschrieben, sondern als Residuum einer Offenbarung vorgestellt, die

ursprünglich reicher war. Dabei scheinen Unmittelbarkeit und Redukt ion zu-

sammenzugehören, so daß diese möglich wäre, weil sie schon im Wesen der Of-

fenbarung selbst liegt: Die Offenbarung wäre je schon »nicht-erfragbar« und würde

nicht erst durch eine etwa schicksalhafte Dekadenz dazu verfallen. Die Verbor-

als bei Benjamin gibt es bei Scholem nur verstreute Äußerungen über Kafka - spielt der Briefwechsel eine zentrale Rolle in der Scholem-Interpretation, insbesondere bei Moses und Wohlfahrt, zur Debatte zwischen Benjamin und Scholem vgl. auch mei-nen Aufsatz »Mystische Tradition und moderne Literatur«.

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OFFENBARUNG UND TRADITION 259

genheit der Offenbarung gehört schon zu ihrem Wesen, ihre Reduktion enthüllt

ihr Wesen. Diese Figur verwendet Scholem nicht selten, so spricht er etwa von der

»Würde der Sprache, aus der sich Gott zurückgezogen haben wird« (JII I , 70) oder

davon, daß Gott heute »nicht länger ausgerechnet in den Himmeln wohnen«

wolle, er »verschränkte sich ins Geheimnis und offenbart sich nicht«.482 Auch das

von Scholem an Benjamin geschickte Lehrgedicht über Kafka benutzt eine ähnli-

che Figur: Gott anredend, konstatiert das Gedicht seine Entfernung:

So allein strahlt Offenbarung in die Zeit, die dich verwarf. Nur dein Nichts ist die Erfahrung, die sie von dir haben darf. (Brw, 155)

Wie kann eine solche Selbstverschränkung gedacht werden? Oft scheint sie

Scholem direkt als göttliches Handeln zu denken. Dabei läßt er besonders den

Lurianischen Gedanken des Zimzum anklingen.483 Der Gedanke einer »»Selbst-

verschränkung« Gottes »aus sich selbst in sich selbst«« (JM, 286) soll bei Luria

das Problem der Schöpfung lösen - warum gibt es überhaupt eine Welt unab-

hängig von Gott, wo Gott doch ursprüngl ich alles war? - , lurianisch gedacht

existiert die Welt nur, insofern Gott in ihr abwesend ist, sie ist gleichsam »sein

Nichts«. Scholem interpret iert diesen Gedanken als »das tiefste Symbol des

Exils« (JM, 287) und als Antwort der Kabbala auf die Katastrophe der Vertrei-

Scholem, »Franz Rosenzweig«, 533. »Offenbart er sich wirklich nicht? Liegt vielleicht gerade in dieser seiner letzten Selbstverschränkung seine Offenbarung? Vielleicht war das Verschwinden Gottes bis zum Punkt des Nicht von höherer Notwendigkeit und wird sich nur einer Welt, die entleert ist, sein Königtum offenbaren« (Ebd.). - Vgl. auch eine von Bergmann überlieferte Aufzeichnung Scholems von 1937 über »Gottes abgewandtes Antlitz«: »Man mache es sich zu leicht mit dem Verständnis der Stelle, indem man moralische Kategorien heranbringe. Gesprochen aber wird von Gottes spurlosem Abgewandtsein. Es ist nicht so, daß der Herr des Hauses, mit Kafka zu sprechen, in ein höheres Stockwerk übersiedelt ist, sondern er ist ausgezogen und nicht zu finden. Dies ist der Zustand abgrundloser Verzweiflung. Und hier, lehrt die Religion, findet man Gott: »Nun gehe hin und mache Propaganda!«« (Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. I, 357)

Auf die Bedeutung dieser Figur für Scholem ist schon des öfteren hingewiesen wor-den. Mi t ihr melde Scholem »theologische Zweifel gegen eine neue Idolenlehre an«, nämlich die These von der kompletten Säkularisierung der Neuzeit (Wohlfahrt, »»Haarscharf auf der Grenze««, 179). »Der Rekurs auf den lurianischen Zimzum er-möglicht dem Gläubigen, das Selbstverständnis der Moderne als ein Mißverständnis zu verstehen, die Rede von der Gottverlassenheit beim Wort zu nehmen und den Nihilismus, der die Religion überwunden zu haben meint, durch einen religiösen Ni -hilismus zu ersetzen.« (Ebd., 187) Zum Motiv des Zimzum bei Scholem vgl. auch Schulte, »»Die Buchstaben haben ihre Wurzeln oben««, der besonders auf die Vorge-schichte dieser Konzeption in der christlichen Kabbala eingeht.

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bung aus Spanien.484 Erst in dieser Lektüre - und damit auch abhängig von ihr -bekommt der Gedanke auch die geschichtstheologische Valenz, um derentwil-len Scholem sie zitiert: Ist Selbstverschränkung ein wesentlicher Akt Gottes, kann eine gottverlassene Welt daher immer auch als eine von Gott verlassene Welt aufgefaßt werden. So wird es möglich, auch die gottverlassene Gegenwart noch theologisch zu denken, er würde damit eine geschichtstheologische Über-bietung aller Skepsis und allen Zweifels darstellen, eine Theologie des abwe-senden Gottes samt der messianischen Erwartung seiner Wiederkunft.

Die Selbstverschränkung kann aber auch spezieller nicht als Handeln Gottes, sondern als Eigenschaft der Offenbarung verstanden werden. Tatsächlich wird im Kontext der Kafka-Briefe ja auch nicht das »Nichts Gottes« thematisiert, nicht der verborgene Gott und der Glauben an ihn, sondern das »Nichts der Of-fenbarung«, das die methodische Grundlegung der Offenbarung betrifft. Auch für diese Idee gibt es ein historisches Vorbild, nämlich in der mystischen Auf-fassung der Offenbarung: Wie wir sehen werden, verliert die Offenbarung in der mystischen Interpretation ihre eindeutige Bedeutung und wird zu einem Reservoir von Sinn. Scholem hatte das im Brief an Schoeps schon in der dort kaum entwickelten Figur der »Stimme« ausgedrückt, die das »Medium« sei, in dem wir lebten (Br, I, 470). In der Logik dieses Bildes entspricht die Reduktion der Offenbarung der Entwicklung vom festen, eindeutigen Wort zur (unend-lich plastischen) »Stimme«. Die »unmittelbare« Offenbarung würde sich also in das Medium ihrer Vermittlung auflösen, statt dessen würde sie jetzt aufgefaßt als reine Möglichkeit ihrer möglichen Realisierungen. Wie Scholem später ein-mal schreibt, sei diese Vorstellung der »unbegrenzte[n] Plastizität des göttlichen Wortes [...] wohl in der Tat die einzige Weise, in der man die Vorstellung von einem geoffenbarten Wort Gottes ernst nehmen kann« (KS, 103).

Damit scheint sich allerdings auch die »Dialektik« der Unvollziehbarkeit auf-gelöst zu haben, die im Schocps-Bnef noch eine wichtige Rolle spielt, denn die »Unvollziehbarkeit« wäre gar kein Problem mehr, sondern die Deutung und Umdeutung der Tradition wäre der natürliche und legitime Weg, die unendlich plastische Offenbarung zu realisieren. Die rhetorischen Reserven der >(Zer-störungs-) Kraft«, der »Geltung« und der »Blendung« der Offenbarung gingen verloren oder lösten sich in der Vermittlung auf. Man darf die Lektüre daher nicht abbrechen, in dem man Scholem einfach einen mystischen Begriff der Of-

Vgl. auch: »Man ist versucht, dieses Zurückgehen Gottes aufsein eigenes Sein mit Aus-drücken wie »Exil« oder »Verbannung« seiner selbst aus seiner Allmacht in noch tiefere Abgeschiedenheit zu interpretieren.« (JM, 286f) - Idel hat betont, daß Scholems Inter-pretation des Lurianischen Zimzum als Symbol des Exils keineswegs selbstverständ-lich aus den Quellen folge und auch von Scholem selbst immer nur mit großer Vorsicht vorgetragen werde, vgl. Idel, »Zur Funktion von Symbolen bei G. Scholem«, 72ff.

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fenbarung zuschreibt. Die aus dem »harten Begriff« der Offenbarung stammende Reserve gegen Mystik wird sich immer wieder als fundamental für Scholems Denken erweisen; sie ist es auch, durch welche die mystisch aufgelöste Offenbarung »im Sinn der Religion [...] ein Grenzfall ist, von dem sehr fraglich bleibt, ob er realiter vollziehbar ist« (Brw, 175).

Diese Grenzhaftigkeit drückt sich bereits darin aus, das Scholem sowohl die Reduktion Gottes als auch die Reduktion der Offenbarung nicht einfach als Enthüllung des Wesens denkt, sondern als historischen Prozeß. So wird die Selbstverbergung Gottes etwa durchaus als historisches Phänomen der jüdischen Neuzeit situiert, wenn Scholem sie in Zusammenhang mit der Krise der Theologie bringt.485 Auch das Lehrgedicht hat keine allgemeine theologische Aussage, sondern entwickelt die Theologie einer gottlosen Zeit, um so mehr als es durch die permanente Adressierung Gottes nicht nur dessen Abwesenheit, sondern auch die eigene Situation um so wirksamer darstellt: Im Appell ist das Subjekt der Äußerung besonders präsent.486

Darüber hinaus hat die Geschichte, die hier theologisch reflektiert wird, nicht unbedingt ein Telos, sie schwankt eher zwischen zwei Polen hin und her. Auch das drückt sich im Gedicht aus, insbesondere durch die Reihe von Fragen und den offenen Schluß:

Wer ist hier der Angeklagte? Du oder die Kreatur? Wenn dich einer drum befragte, Du versänkst in Schweigen nur.

Kann solch Frage sich erheben? Ist die Antwort unbestimmt? Ach wir müssen dennoch leben, bis uns dein Gericht vernimmt. (Brw, 156)

Nicht nur wird hier wie bei Hiob eine Frage weniger beantwortet als niedergeschlagen, sondern das Gedicht selbst löst sich in diesem offenen Ende auf und entzieht sich damit einer eindeutigen theologischen Deutung: Eine Richtung der Geschichte ist nicht mehr auszumachen. Nicht weniger deutlich kommt

485 Vgl.: »Der Gott, der in der Psychologie vom Menschen und in der Soziologie von der Welt weggetrieben wurde, wollte nicht länger ausgerechnet in den Himmeln wohnen, übergab den Thron des strengen Gerichts dem dialektischen Materialismus und den Thron des liebenden Erbarmens der Psychoanalyse, verschränkte sich ins Geheimnis und Offenbarte sich nicht.« (Scholem, »Franz Rosenzweig«, 533)

486 Moses betont »das diskursive Paradox, das dieses Gedicht beherrscht, das von der Abwesenheit Gottes handelt, ihn aber unentwegt anredet« (Moses, Der Engel derschichte, 196f). Das Gedicht betont seinen Status als Äußerung durch die starke Verwendung von deiktischen Pronomen und Adverbien (»dies«, »hier«) und Personalpronomen (»Du«, »Wir« fungieren als shifter).

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diese Ungerichtetheit der Geschichte in einem Brief Scholems an Benjamin zum

Ausdruck, der das Benjaminsche Bild vom Strom der Tradition und dessen Wel-

len (s. o. Kap. 2.4.3) noch einmal aufnimmt. Keinesfalls bedeute das Unlesbar-

werden des Gesetzes bei Kafka eine Ent fernung vom Jüdischen: »Solche

Erkrankung, würde ich sagen, liegt in der Natur der mystischen Tradition selbst

angelegt: daß Tradierbar/eeit der Tradit ion allein noch als ihr lebendiges erhal-

ten bleibt, ist im Verfall der Tradit ion, in ihren Wellenbergen [von Scholem

nachträglich korrigiert: Wellentälern] nur natürlich.« (Brw, 286)487 Immer wie-

der, suggeriert das Bild, trit t die Tradition in den Zustand der Redukt ion auf ihr

Nichts ein, immer wieder entfaltet sie sich dann auch wieder. Damit wird deut-

lich, daß die mystische Auffassung der Tradit ion nicht etwa die Wahrheit der

unmystischen Auffassung der Tradition ist, sondern ihr Komplement. Denn der

Strom der Tradit ion kann nicht nur aus Wellentälern bestehen, oder er würde

eigentlich seine Bewegung verlieren. Eine rein mystische Theologie erscheint

als unvol lständig und kraftlos. Sie erscheint Scholem daher auch zunehmend

weniger als heute noch mögliche theologische Opt ion.

2.7.3 Das Problem des religiösen Anarchismus. 1939, also nicht lange nach dem

Briefwechsel über Kafka, hat Scholem in einer Diskussion noch einmal die theo-

logischen Implikationen seiner Auffassung in prägnanter Weise dargestellt und

noch einmal eine eigene Position umrissen.488 Scholem beginnt seine Reflexionen

Moses interpretiert dieses Bild rein zeitlich als Theologie der Hoffnung: Scholems Unterschied zu Benjamins Vorstellung der Erkrankung der Tradition bestehe »ge-rade im Urteil über die Zukunft der Tradition [...]. Ist sie auf immer erloschen oder wurde sie nur vorläufig unterbrochen?« (Moses, Der Engel der Geschichte, 200) Scholem glaube an die Möglichkeit der Erneuerung: »Genau auf diesem Glauben an eine unbegrenzte Plastizität der Tradition beruht Scholems »negative Theologie« und eben darin unterscheidet sie sich von einem reinen Nihilismus.« (Ebd.) Allerdings ist dieser Glaube bei Scholem gefährdet, wie insbesondere Wohlfahrt herausgearbeitet hat: »Ein Glaube, der der Verzweiflung entstammt, ist nicht davor gefeit, in ein Nichts zurückzufallen« (Wohlfahrt, »»Haarscharf auf der Grenze««, 203). Allerdings muß man betonen, daß es sich hier um ein Protokoll von mündlichen Äußerungen Scholems handelt, welches nur mit Vorsicht zu interpretieren ist. Es handelt sich um eine Diskussion des Ha-'ol Kreises, an der neben Scholem auch Y. F. Baer, S. H. Bergman, M. Buber, J. Guttman, J. L. Magnes und E. Simon teilnah-men; das Protokoll findet sich in englischer Übersetzung bei Mendes-Flohr (Divi-ded Passions, 344-46). Mendes-Flohr unterscheidet in seinem Kommentar Scholems Anarchismus zu recht von dem Bubers und kommt zu dem Schluß: »Buber's meta-nomian attitude [...] was undoubtedly more familiär and in a sense more understan-dable (although, to be sure, not necessarily acceptable) to his colleagues in Ha-'ol than Scholem's dialectical, »transitional« anarchism.« (Ebd. 349) Zur Diskussion vgl. auch Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 55ff.

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darüber, was die Thora heute bedeuten könne, mit dem Verweis auf Offenbarung und Tradition: »There is no Torah without revelation, and there ist no Torah without heteronomy, and there is no Torah without an authoritative tradition.«489

Für schriftliche wie mündliche Offenbarung sei Autorität wesentlich, gegenüber der das Individuum heteronom sei: »The Torah is the sounding of a supernal voice that obliges one in an absolute manner. It does not acknowledge the autonomy of the individual.«490 Zwar sei es richtig, daß sich die Gesamtheit von mündlicher und schriftlicher Thora im Laufe der Zeit verändere, aber »in spite of this development, there is nothing arbitrary about it whatsoever. Although every generation wishes >its< Torah to be the divine voice of revelation, there is no place here for the individual's freedom of decision. In principle, therefore, Orthodoxy is correct.«491

Scholem orientiert sich also wieder an der Position der Orthodoxie als inner-lich konsequente Form des Umgangs mit der Thora, aber er übernimmt diese Po-sition nicht. Zur Distanzierung triff t er eine wichtige Unterscheidung zwischen den aufeinander bezogenen Elementen »mündlicher« und »schriftlicher« Thora: «We are unable to accept the Oral Torah of Orthodoxy«.492 Daraus folgt für ihn allerdings nicht, daß für uns eben die schriftliche Thora Autorität habe, die münd-liche dagegen nicht (das wäre der fiktiv e Standpunkt der »biblischen Theologie«); viel radikaler sei für »uns« mit dem Ausfall der mündlichen Thora auch die schrift-liche unverständlich geworden: »The Torah is understandable only as Oral Torah, only through its relativization.«493 Das hermeneutische Problem, das Scholem oben polemisch gegen Schoeps gewendet hat, betrifft also durchaus auch »uns«, d. h. jene, die nicht mehr einfach den Supranaturalismus der Orthodoxie teilen können, die also nicht mehr an die Göttlichkeit von Bibel und Tradition glauben.

Mi t zwei Gedanken versucht Scholem, diese Position positiv verständlich zu machen: Einerseits evoziert Scholem eine kommende Tradition: »We must there-fore wait for our own oral Thora, which will have to be binding for us, leaving no room for free, non authoritative decision.«494 Nach Scholem leben »wir« also in einem Zwischenzustand - freigesetzt von der Bindung durch die mündliche Thora, aber auf eine neue wartend -, den Scholem auch als Anarchismus bezeich-net: »To a known degree we are all anarchists. But our anarchism is transitional,

489 Scholem, zit. nach: Mendes-Flohr, Divided Passions, 345. 490 Scholem, zit. nach: a.a.O., 344. 491 Scholem, zit. nach: a.a.O., 345. 492 Scholem, zit. nach: a.a.O., 345. 493 Scholem, zit. nach: a.a.O., 345. - »There is no Written Torah without the Oral Torah.

Were we to desire to restrict the Torah to the Torah transmitted in writing, we would not be able to read even the Pentateuch, only the ten commandements.« (Ebd.)

494 Scholem, zit. nach: a.a.O., 345.

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for we are the living example that this [our anarchism] does not remove us from Judaism.«495 Dieser >passive< Anarchismus ist also nur notgedrungen ein solcher, er lebt aus dem Bewußtsein der eigenen Schwäche und des bloß Provisorischen.496

Zugleich betont Scholem aber auch, daß die eigene Position nicht nur negativ bestimmt ist, nicht nur eine Notlösung ist: »I do not have a feeling of inferiority with respect to those who observe [the law]. We are not less legitimate than our forefathers; they merely had a clearer text.«497 Erst mit dieser Behauptung ist die Idee des »transitional Anarchism« voll entfaltet: Sie beschreibt nicht nur eine »leere« Zwischenzeit des Wartens auf eine neue Bindung, sondern eine jüdische Position, die genauso »legitim« sein soll wie die der Tradition. Offensichtlich ent-spricht diese Position dem »Nichts der Offenbarung«, also dem Zustand, in dem jede besondere Bedeutung wegfällt und nur noch die formale Geltung übrig bleibt, die aber nicht mehr als Gesetz vollziehbar ist.

Worin besteht nun allerdings der Unterschied zwischen der Unvollziehbar-keit des Gesetzes und seiner Abwesenheit, was unterscheidet den »transitional anarchism« von einer schlichten Skepsis gegenüber der Religion? Wie schon in der Kafka-Deutung spielt eine Metapher eine Schlüsselrolle in dieser Unter-scheidung, nämlich die des »unlesbaren« oder »unklaren« Textes: Kafkas Schüler ebenso wie >wir< haben gemäß dieser Metapher den »Text« der Offenbarung nicht einfach beiseite gelegt, nachdem er seine bindende Kraft verloren hat, son-dern wir beschäftigen uns weiterhin mit ihm und entfernen uns daher nicht vom Judentum. Der »legitime Anarchismus« wäre dann die Bindung an einen »unles-baren Text«, also an einen Text, der gilt, aber nichts bedeutet bzw. eben unend-lich deutbar ist. Solange es aber noch keine verbindliche Interpretation gibt, kann dieser Text auch nicht als »Gesetz« im praktischen angewandt werden, denn was nichts bedeutet, kann das eigene Handeln nicht bestimmen. Die an-gemessene Weise des Umgangs ist die Lektüre, d. h. die Beschäftigung mit ihm unter Umgehung der Frage nach seiner Anwendbarkeit.498 Offensichtlich legi-

Scholem, zit nach: a.a.O., 346. Darin unterscheidet sich Scholems Anarchismus, zumindest in seinen Augen, deut-lich von dem Bubers. Dieser betont und fordert die Entscheidung, die schon an sich religiöse Bedeutung habe. Laut Scholem verlangt Bubers Theorie vom Einzelnen, »eine Richtung einzuschlagen und eine Entscheidung zu treffen, aber sie sagt nichts darüber aus, welche Richtung und welche Entscheidung« (J I, 197f). Für Scholem hat die Entscheidung an sich keine positive oder gar religiöse Bedeutung, die Notwen-digkeit, sich selbst zu entscheiden, beruht zuallererst auf intellektueller Redlichkeit, nicht auf ethischen Fundamenten. Scholem, zit. nach Mendes-Flohr, Divided Passions, 346. Laut Schweid soll sich Scholem öfter in diese Richtung geäußert haben: »Through empathetic study, one forges a connection and possibly prepares in some way for the destined renewal.« (Schweid, Judaism and Mysticism, 158)

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timiert Scholem hier die eigene Position des »profanen Schriftgelehrten«, der am Text bleibt, aber den »anarchischen Suspens« angesichts von dessen Bedeutung und dessen Beziehung zum Leben aufrechterhält: Für den kontemplativen Leser, der die unendliche Bedeutung des Textes nicht durch eine (normative) Bedeutung reduziert, hat der Text tatsächlich seine mystische Fülle.

Durch die Figur des »unlesbaren Textes« wird die Frage der Offenbarung noch einmal verschoben: Sie ist jetzt weniger »Stimme« als »Schrift«, und zwar in ihrem Grenzzustand als reine Inskription jenseits der Bedeutung. Das knüpft natürlich an die Unterscheidung zwischen schriftlicher und mündlicher Thora an, vor allem aber an kabbalistische Vorbilder. Die Kabbalisten radikalisieren den Gedanken der doppelten Thora, dabei bildet sich etwa die Auffassung, es gebe eine Ur-Thora vor der eigentlichen schriftlichen Thora, welche nur eine Interpretation jener Ur-Thora sei. Nach einer anderen Auffassung ist die Thora in der Form, in der sie uns überliefert ist, nur eine der möglichen Kombinatio-nen ihrer Buchstaben, in einer anderen Epoche der Welt werden dieselben Buchstaben anders kombiniert werden und etwas anderes bedeuten. In diesen Überlegungen verbindet sich nach Scholem »streng traditionalistische Haltung, die nichts am Buchstaben der Tora, wie sie am Sinai gegeben wurde, rütteln läßt, mit der Auffassung, daß die selbe Tora in anderen Äonen ein anderes Gesicht zeigen werde, ohne daß damit ein Widerspruch in ihrem innersten Wesen gege-ben wäre« (KS, 198).499

Offenbarung wird hier ebenfalls als »Medium« aufgefaßt, allerdings weniger als wandelbare Stimme denn als »Schrift« im Sinne eines materialen »Codes«, der in seinen Interpretationen realisiert wird. Damit würde die »Schrift« der Offen-barung nicht mehr die gesetzte Form eines Buches sein, sondern der (rekombi-nierbare) Bestand von Zeichen; die bestimmte und gestalthaft abgegrenzte Mitteilung (die Offenbarung als »Wort«) wird dabei ersetzt durch die Offenba-rung eines Ausdrucksmaterials. Die Rhetorik dieser Figur beruht auf einem überdeterminierten Begriff von »Schrift«, der ja zugleich die Fixierung der Of-fenbarung in den biblischen Büchern und das Medium dieser Fixierung be-zeichnen; diese doppelte Bedeutung ermöglicht Scholem den Übergang von einer Bedeutung zur anderen bzw. die Integration von positivem und mysti-schem Offenbarungsverständnis.

Es scheint, als habe Scholem diese Position eine Weile für theologisch frucht-bar gehalten, wenn er sie auch sonst kaum so direkt ausgesprochen hat. Letztlich überwiegen aber seine Zweifel, wie wir schon gesehen haben, betont er in der Regel auch das performative (»Kraft«) und juridische (»Geltung«) Moment der Of-

Vgl. auch: »Diese Gedankengänge vereinigen in höchst erleuchtender Weise das or-thodoxe Beharren auf dem unveränderlichen und absoluten Charakter der Tora mit der Vorstellung ihrer Relativierung in der geschichtlichen Perspektive.« (KS, 99)

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fenbarung; beide lassen sich nur schwer medial abbilden. Besonders deutlich wer-den seine Zweifel in dem Aufsatz Reflections on the Possibility of Mysticism in our Time von 1963.500 Auch hier geht es um den Zusammenhang von Bindung und Freiheit in der Kabbala und in der Gegenwart, aber Scholem macht jetzt einen ex-pliziten Unterschied. Zwar hätten die Kabbalisten bei aller Bindung ein freies Ver-hältnis zur Überlieferung gehabt, aber den Grund dieser Bindung-in-Freiheit sieht Scholem jetzt nicht mehr in der formalen Bindung an »die jüdische Tradition« oder die hebräische Sprache, sondern in der Offenbarung im strengen Sinne: »What is the basic assumption upon which all traditional Jewish mysticism in Kabbalah and Hasidism is based? The acceptance of the Torah, in the strictest and most precise understanding of the concept of the word of God.« (PM, 14) Hier wird also nicht die Offenbarung von der Mystik her betrachtet, sondern umgekehrt betont, daß Mystik nur möglich sei durch Bindung an eine vorgängige Offenbarung: »Thus, once a person has accepted [...] this strict, exact concept of Torah from heaven, without any whitewashing - from then on, he enjoys an extraordinary measure of freedom [...]. He becomes so to speak a member of the family « (ebd., 14).

Hier ist also nicht mehr die Bindung an das »Nichts der Offenbarung« das Le-gitimierende, sondern das Akzeptieren der Offenbarung in einem umfassenden Sinne. Was damit gemeint ist, macht Scholem ex negativo deutlich: »We do not believe in Torah from heaven in the specific sense of a fixed body of revelation having infinite significance. And without this basic assumption one cannot move.« (ebd., 15) Für uns als Moderne sei vielleicht die Auffassung einer unbe-stimmten und unendlich wandelbaren Offenbarung nachvollziehbar, nicht aber der Offenbarung eines »fixed body of revelation«. Als solche feste Gestalt ist die Offenbarung mehr als ein bloßes »Medium«, sie ist mehr als eine (unendlich wan-delbare) »Stimme« oder (rekombinierbare) »Schrift«. Offenbarung in diesem zugleich emphatischen und engen Sinne erscheint jetzt aber bei Scholem als Vor-aussetzung einer Mystik: »The moment this assumption falls, the entire structure upon which mysticism was built, and by means of it it was to be accepted among the people as legitimate, likewise falls« (ebd., 15).501

Wiener gibt eine schöne Schilderung der großen Erwartungen, die das Publikum hier an Scholem gerichtet habe, und der Enttäuschungen angesichts seiner negativer Diagnose über die Möglichkeit einer Mystik in der Gegenwart (Wiener, 9 1/2 My-stics, 84 ff). Vgl. auch: »Each and every word and letter, and not merely something general and amorphous lacking in specific meaning, is an aspect of the Torah from heaven« (PM, 14). - Scholem will zwar nicht ausschließen, daß es weiterhin mystische Erfahrung gebe (Rav Kook sei ein Beispiel), aber es sei unwahrscheinlich, daß diese noch kollektive Be-deutung haben werde: »If there is to be a mysticism that reflects the experience, it will not easily, if at all, assume the simultaneously free and obligatory expression that deri-ves from its being bound to an historical revelation« (PM, 16).

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Scholem räumt also ein, daß die kabbalistische Theorie der Offenbarung selbst eine implizite Voraussetzung habe, die heute nicht mehr gegeben sei; daher könne man auch ihre Theologumena von der reinen »Stimme« oder »Schrift« der Offenbarung nicht mehr einfach übernehmen. Diese Voraussetzung besteht aber für Scholem gerade in dem »harten« Sinn der Offenbarung; letzt-lich erweist sich also dieser Sinn von Offenbarung - Scholem spricht hier auch ganz in Steinheims Sinne von »historical revelation« (ebd., 16) - als der funda-mentalere gegenüber dem mystischen Sinn der Offenbarung, dieser kann sich immer nur neben dem unmystischen Begriff der Offenbarung als »Wort« bilden und wird daher wesenlos, wenn dieser nicht mehr besteht. Ein rein mystischer Begriff von Offenbarung (als »Stimme« wie als »Schrift«) ohne Bindung an eine Offenbarung im Sinn einer Mitteilung (als »Wort«) kann für Scholem offen-sichtlich keine Legitimität mehr beanspruchen, wie schon seine Vorbehalte gegen das »Neue jüdische Denken« zeigten.

Damit ist auch »unser« Anarchismus nicht mehr derselbe wie jener der Kabba-listen: Suggerierte die Ha-'ol Diskussion noch, der religiöse Anarchist sei der le-gitime Nachfolger der Mystiker, so ist er jetzt nur noch ihr Epigone, der nicht mehr Mitglied der »Familie« ist und sich nicht mehr »bewegen« kann. »Religiöser Anarchist« ist nicht mehr der, welcher die bestimmte Form der mündlichen Thora anzweifelt um einer kommenden willen ist, sondern der, welcher die Grundan-nahme der jüdischen Tradition einschließlich der Mystik, die Annahme der »Thora vom Sinai«, verloren hat. Das wird geradezu zum Bestandteil von Scholems »De-finition« des Anarchismus: »Anyone attempting today to bring matters of inspiration and mystical Cognition within the ränge of public understanding, with-out seeing himself, with a clear conscience, as being connected in an unqualified way with the great principle of Torah from heaven, or of that seifsame Torah with those seifsame letters as it is, is a religious anarchist.« (ebd., 15f) An anderer Stelle macht Scholem deutlich, daß er sich damit auch selbst beschreibt: »I myself believe in God, but I am a religious anarchist. I do not believe in the Torah of Moses from Sinai. If [!] God really exists, then there is something sublime in the very wrestling over belief in Hirn.« (ebd., 85)502

Dieser Anarchismus ist nun die unhintergehbare Kondition des Modernen, nicht einfach eine Rebellion gegen die Form oder gegen Dogmen. Mit der »har-ten« Bedeutung der Offenbarung ist auch ihre legitimierende Kraft fragwürdig ge-worden: »The binding character of Revelation for a collective has disappeared. The word of God no longer serves as a source for the definition of possible contents

Vgl. bereits Scholems Schlußwort aus der Ha-'ol Diskussion: »I believe in God, this is the basis of my life and faith. All the rest is in doubt and open to debate.« (Zit. nach: Mendes-Flohr, Divided Passions, 346)

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of a religious tradition and thus of possible theology. Even where a mystical conception of Revelation is positively admitted, it necessarily lacks authoritative character.« (JJC, 274)503

Es bleibt also ein grundlegender Zweifel an der mystischen Theologie: Auch wenn Scholem vom »Nichts der Offenbarung« bzw. von Tradition oder Sprache als »Medium« der Offenbarung spricht, so steht dahinter keineswegs ein uner-schütterlicher Glaube an die Offenbarung auch dort, wo sie unsichtbar ist, wo von ihr nur noch die Tradition geblieben ist. Schon die Frage nach der Tradier-harkeit stellt sich ebenso an die Grenze der Tradition wie die Frage nach der Sprechbarkeit der Sprache (vgl. J III , 69f); es schwingt hier daher auch stets ein genuin kritischer Impuls mit. Zugleich schwingt ein Zweifel mit, ob diese Tra-dition jetzt wirklich noch vollziehbar sei, ob sie nicht bereits ein »gespenstisches« Ende in der »leeren« Tradition etwa der Assimilation genommen habe. Gerade aufgrund der Uneindeutigkeit und Überdeterminiertheit von »Tradition« kann Scholem dieses Ende wenigstens denken, das ja weder aus der Innenperspektive der religiösen Tradition vorstellbar ist - hier gehört jeder inspirierte Kommen-tar zur heiligen Tradition - noch aus der Perspektive einer rein profanen Wir-kungsgeschichte, in der kein Kommentar an sich heilig ist, die Tradition als profanes Geschehen aber niemals an ein Ende kommt.

Es ist daher auch mißverständlich, von Scholems »negativer Theologie« zu sprechen, jedenfalls dann, wenn man darunter eine bestimmte Art des Gottes-bildes oder ein extrem gesteigertes Transzendenzbewußtsein versteht. In einer solchen »negativen Theologie« wäre die Abwesenheit Gottes in der Welt eigent-lich nur eine Modifikation seiner Anwesenheit, Gottferne würde letztlich wie-der zu Gott führen.504 Aber wenn Scholem vom »Rückzug Gottes in sich selbst«

Scholems Anarchismus wird oft als »nietzscheanisch« betrachtet, so etwa bei Bialehom Scholem, 126-33) oder Macoby, für den Scholems Anarchismus darin besteht, »that he did not believe that there was a norm or orthodoxy in Judaism in comparision with which all other trends were to be condemned as heresies or as inauthentic. Any trend that made use of Jewish concepts and that did not seek to turn people away from Judaism (as, for example, Christianity did) was part of the whirlpool that formed the historical reality of Judaism.« (Macoby, »The greatness of Gershom Scholem«, 147f) Nur selten kommt überhaupt zu Bewußtsein, daß der Anarchismus in der Religion etwas anderes meint als Überschuß der Kraft, so bei Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 54ff: »Religiöser Anarchismus birgt Verzweiflung, er ist keine Theologie, mit der es sich leben läßt, keine positive oder gar du; Theologie des Juden-tums.« (Ebd., 59) Eine solche Interpretation vertritt Moses, der die Anwendbarkeit theologischer Ka-tegorien stets voraussetzt. Simon sieht eine Nähe Scholems zur negativen Attribu-tenlehre des Maimonides, was »nicht allzu erstaunlich« sei, denn »die rationalistisch-philosophische Position, daß wir von Gott in unserer artikulierten menschlichen Begriffssprache immer nur aussagen können, was er nicht sei, nie aber, was er wirk-

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spricht, so ist das nicht als dinghaftes Geschehen oder Handeln einer göttlichen Person vorzustellen. In Frage steht hier nicht um die Stellung Gottes innerhalb eines fraglos existierenden theologischen Rahmens, sondern um die Funda-mente der Theologie selbst. Wie gerade Scholems Unterscheidung zwischen »Abwesenheit« und »Unvollziehbarkeit« der Offenbarung deutlich macht, geht es ihm nicht um das »metaphysische« Problem, wo Gott ist, sondern um die Frage nach der Möglichkeit theologischer Aussagen, also nach der Möglichkeit von Theologie im eigentlichen Sinn. Diese Frage ist insofern »doppelt dialek-tisch«, als sie immer die beiden Seiten des Aneignenden und des Anzueignen-den in sich schließt; die beiden aber nicht zur Deckung gebracht werden können. Das Ergebnis ist in der Tat paradox: Auf der einen Seite, auf der »wir« stehen, können wir uns Offenbarung nicht anders vorstellen denn als mystische, auf der anderen Seite ist diese mystische Offenbarung aber nur vollziehbar als abhängig gedacht von der historischen Offenbarung. Scholem erkennt die theo-logische Bedeutung der »Offenbarung« als begrenzte und konkrete Botschaft, aber er sieht sich nach der historischen Skepsis nicht mehr in der Lage, diesen Offenbarungsbegriff anzunehmen.

Scholem vertritt keine besondere theologische Position mehr, sei sie nun »mystisch« oder »negativ-theologisch«, sondern steht wirklich an der Grenze zwischen Religion und Nihilismus. Aber an diesem Ort ist zugleich ein großes theologisches Problembewußtsein gegeben, denn gerade weil er um das theo-logische Gewicht der Begriffe von Offenbarung und Tradition weiß, gibt sich Scholem mit der Lösung von der »unendlichen Plastizität« nicht zufrieden. Die-ser Vorbehalt ist auch für seine eigentlich historischen Texte von entscheiden-der Bedeutung, die nur vor dem Hintergrund der umrissenen Problemstellung verständlich sind.

lieh ist, zeigt als »negative Theologie« eine starke Affinität zur Haltung der »indirekten« Mitteilung«.« (Simon, »Über einige theologische Sätze«, 164) - Tatsächlich unterschei-det sich die Dialektik der indirekten Mitteilung von der negativen Theologie der Gott-esprädikate aber gerade durch ihre doppelte Dialektik, die immer auch eine Dialektik der Verzweiflung impliziert (s. o. Kap. 2.6.2). - Die Kriti k der Interpretation von Scho-lems Denken als »negativer Theologie« soll keineswegs die Möglichkeit einer anderen und positiven Auffassung negativer Theologie bestreiten. Sie folgt hier schon daraus, daß m. E. bei Scholem nicht der Gottesbegriff, sondern der Offenbarungsbegriff im Mittelpunkt steht und Scholem daher einen anderen Typ von Theologie vertritt.

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2.8 Theologie und Geschichte

Das Problem, ob und inwiefern auch »wir« heute noch Anschluß an die Tradi-tion finden können, hat zwei Seiten: Es impliziert nicht nur ein Bild des eige-nen Tuns und der eigenen Situation, sondern auch eine Interpretation der Vergangenheit, mit der in Kontinuität zu stehen beansprucht wird. Um die Po-sition des älteren Scholem zu verstehen, muß man daher auch nach dem Bild fragen, das sich der Historiker Scholem von der Tradition macht. Wir haben schon gesehen, daß die Konzepte von Text und Interpretation für die jüdische Tradition nur in begrenztem Sinne sachgerecht sind, jetzt werden wir sehen, daß Scholem sich der Problematik dieser Ausdrucksweise durchaus bewußt ist.

In Von Berlin nach Jerusalem schreibt Scholem, in seiner Jugend hätten ihn drei Dinge besonders an der rabbinischen Überlieferung fasziniert: Die »Red-lichkeit« mit der alle Überlieferung aufgezeichnet wurde, der »Lakonismus«, d. h. »die Wortkargheit dieser Rabbinen und ihre unbedingte Treffsicherheit« und schließlich der »sich über viele Jahrhunderte hinziehende, nicht abbrechende Dialog der Geschlechter, dessen Protokoll der Talmud bildet« (VBJ, 55). Die Theorie dieser Tradition formuliert er jetzt vorsichtig: »Das Kontinuum der »Lehre«, auf das hier alle Äußerungen der »Weisen« und ihrer Schüler projiziert wurden, war ein letzten Endes nicht eigentlich historisches Medium - dazu lagen ihm zu offenkundig religiöse und metaphysische Voraussetzungen zu-grunde, die mich später viel beschäftigen sollten -, hatte aber eine eigene Würde und, wie ich bald zu spüren bekam, Problematik.« (VBJ, 55) Auf diese Span-nung zwischen Historie, Metaphysik und Religion werden wir auch in Scho-lems historischen Schriften zur Tradition zu achten haben.

Die klassische Äußerung Scholems über das hermeneutische Problem der Tradition ist der Aufsatz Offenbarung und Tradition von 1962, in den Scholem wesentliche Formulierungen aus seinem Brief an Schoeps übernimmt, was be-reits darauf hinweist, daß sich zwischen den Zeilen des religionsgeschichtlichen Aufsatzes auch theologische Probleme verbergen. Allerdings spricht Scholem hier weniger über Offenbarung als über die jüdische Traditionsbildung, nur ganz kursorisch geht er auf die Offenbarung ein, die ursprünglich »natürlich« als eine »konkrete Mitteilung eines positiven sachlichen und aussprechbaren In-halts« aufgefaßt worden sei (Gb, 92). Das dient Scholem aber nur als Anlaß für Reflexionen über die anschließende historische Entwicklung: Die kanonisierte Offenbarung könne nicht einfach angewandt werden, weil die Umstände sich wandeln; Kanonisierung ziehe Kommentierung nach sich. Scholem drückt das auch als Verhältnis von »Offenbarung« und »Tradition« oder als Verhältnis von

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THEOLOGIE UND GESCHICHTE 271

»schriftlicher« und »mündlicher« Thora aus, obwohl diese Begriffe nicht unpro-

blematisch sind: Wie wi r oben gesehen haben (Kap. 2.1), ist »mündliche Thora«

durchaus ein dogmatischer Begriff für ein schriftliches Textkorpus, das bean-

sprucht, ebenfalls an der Offenbarung tei lzunehmen.5 05 Ebenfalls ist auffällig,

das Scholem die verschiedenen Stufen der Tradit ionsbildung kaum differenziert

und insbesondere die Mischnah kaum erwähnt, die als Kodif ikat ion des reli-

giösen Gesetzes eine zentrale Rolle im Prozeß der Tradit ionsbildung spielt.

Scholem geht über seine allgemeinen Äußerungen zum Verhältnis von Ka-

nonisierung und Tradit ion hinaus, um das Spezifische der jüdischen Tradit ion

zu best immen. Dieses liege in einer

Annahme über die Natur der Wahrheit, die für das rabbinische Judentum, wie viel-leicht für jede traditionelle Religionsverfassung, charakteristisch ist: die Wahrheit ist ein für allemal gegeben und festgelegt. [...] Die Anstrengung des Wahrheit Su-chenden besteht nicht darin, sich etwas auszudenken, sondern vielmehr darin, sich in die Kontinuität der Tradition des göttlichen Wortes einzuschalten. [...] Mi t an-deren Worten: nicht das System, sondern der Kommentar ist die legitime Form, unter der die Wahrheit entwickelt werden kann. [...] Die Wahrheit muß an einem Text entfaltet werden, in dem sie vorgegeben ist. (Gb, lOOf)

Entscheidend - Scholem spricht vom »springenden Punkt« (ebd., 96) - ist aber

erst ein weiterer Schritt, wie nämlich das Verhältnis von Kanon und Kommen-

tar gedacht wird. Die rabbinischen Schriftgelehrten begnügen sich nämlich nicht

damit, die »mündliche« Tradition des Kommentars neben der »schriftlichen« des

Kanons herlaufen zu lassen, sondern bemühen sich, den Inhalt der Kommen-

tare »aus der Schrift herauszulesen und zu deduzieren« (ebd., 96). Der Kom-

mentar wird also nicht mehr als Anwendung der identischen Thora auf die Zeit

gedacht, sondern als ihre Entfaltung in der Zeit. Das Dogma vom Offenba-

rungscharakter der mündlichen Thora »lief darauf hinaus, daß all dies irgend-

wie in der Offenbarung steckte - und mehr: daß es nicht nur in ihr mitgegeben

sei, sondern in einer zeitlosen Sphäre der Offenbarung, in der sozusagen alle

Geschlechter versammelt waren, dem Moses als dem ersten und umfassendsten

Träger der Tora schon expliziert worden sein müsse« (ebd., 100).

Nach dem Selbstbild der Rabbinen ist also die »Stimme« der mündlichen Tra-

dit ion nicht einfach Ergänzung der »Schrift«, sondern ist irgendwie in dieser im-

pliziert. Die rabbinische Tradit ionsbildung basiere also auf einem bestimmten

Der Titel der Erstveröffentlichung im Eranos-Jahrbuch (»Tradition und Kommen-tar als religiöse Kategorien im Judentum«) macht besonders deutlich, daß es Scho-lem vor allem um die Dynamik der Tradition geht. - Im Rahmen dieses allgemeinen ersten Begriffs der Tradition als Überlieferung und Kommentartradition zitiert Scho-lem auch affirmativ Molitors Reflexionen über das Zusammenspiel von Schrift und gesprochenem Wort, vgl. Gb, 93f.

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272 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Verhältnis zwischen Zeitlichkeit und Unzeitl ichkeit, letztlich auf einer ahistori-

schen Konstrukt ion. Die Tradition ist also ohne »wirkungsgeschichtliches Be-

wußtsein« - die Zeit ist »unmarkiert«. So »verabsolutieren« bereits die klassischen

Talmudisten »den Begriff der Tradition, in der sich zwar in der historischen Zeit

der Sinn der Offenbarung auseinanderlegt, aber nur, weil in einem zeitlosen Sub-

strat schon alles, was erkannt werden kann, vorweggenommen ist« (ebd., 100).

Das drückt sich etwa in der Vorstellung aus, schon Moses habe in der mündlichen

Thora gelernt, und seit diesem gebe es eine ununterbrochene Traditionskette.

Scholem spricht hier von einer »fiktiven Konstruktion« (ebd., 99), deren »offen-

bare Absurdität« eine »desto ernster zu nehmende Voraussetzung religiöser

Natur« verrate (ebd., 100), nämlich den Glauben an die Unausschöpflichkeit der

Offenbarung. Wir werden sehen, wie es Scholem an dieser Stelle - am Ort der Un-

terscheidung des eigenen Standpunktes vom Selbstbild der Tradition - gelingt, die

theologischen Probleme der Offenbarung wieder in seinen Text einzuschreiben.

Mi t der Verabsolutierung der Tradition wird auch der Begriff des Kommen-

tars komplex. Nicht jeder Kommentar ist jetzt ein legitimer, sondern nur jener,

der in der Offenbarung schon vorweggenommen ist. Das zeigt auch, daß die Me-

tapher einer Textinterpretation hier nicht problemlos ist bwz. daß die verbrei-

tete Auffassung einer »hermeneutischen« oder gar »nietzscheanischen« Freiheit

der Interpretation in Talmud und Kabbala eine moderne Projektion ist.506 Sie er-

möglicht es dem Literaturkri t iker, sich eine lange Reihe von Vorgängern und

sogar eine Gegentradit ion zuzuschreiben; sie ermöglicht es zugleich, eine mo-

derne jüdische Identität zu behaupten, deren Wesen die Text-Zentriertheit sei.507

Auch Scholem bedient sich dieser Text-Metapher nicht selten, und man kann

vermuten, daß gerade darin ein Grund seiner Attraktivität in den literaturwis-

Vgl. etwa I landelman, gerade in ihrer Scholcm-Intcrpretation wird deutlich, daß ihre Identifikation der Heiligkeit des Textes mit dessen Deutbarkeit problematisch ist: »But if the holiness of a text is its capacity to be opened up symbolically to infinite interpretation rather than any concrete positive content, then what is the difference between certain secular texts which have a similar capacity by virtue of the nature of language itself, and sacred scripture?« (Handelman, Fragments of Redemption, 90). -Zu Handelmans Interpretation der rabbinischen Literatur vgl. auch die Kriti k von Neusner (Wrong Ways and Right Ways, 31-58): »She [Handelman] reads the issue as a historical one, in terms of the origin of the law. But it was a question of authority, not origin.« (Ebd., 47)

So etwa Bloom, für den die gesamte westliche Gesellschaft eine literary culture ist, »since it has no authentic religion and no authentic philosophy, and wil l never acquire them again, and because psychoanalysis, its pragmatic religion and philosophy, is just a fragment of literary culture« (Bloom, Agon, 23). Ganz besonders betreffe das jüdi-sche Identität in der Moderne, bei der Bloom die »Religion« ganz durch die »idea of text-centeredness, and [...] even of text obsessiveness« ersetzen möchte (ebd., 320).

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THEOLOGIE UND GESCHICHTE 273

senschaftlichen Debatten liegt. Scholem bleibt in der Regel auf der Ebene der Texte und spricht kaum über die kultische und rituelle Bedeutung der »Schrift«, oft scheint er die »Heiligkeit« der Texte mit deren »Deutbarkeit« zu identifizieren. Aber wie wir nun schon wiederholt gesehen haben, geht diese Identifikation bei Scholem nicht glatt auf: Der Kommentar bedarf der »Erfüllung«, dem »mittelbaren« Wort steht ein »unmittelbares« gegenüber, die mystische Offenbarung ist an die »harte« historische Offenbarung gebunden, und auch die rabbinische Tradition bedarf einer »metaphysischen Konstruktion«, um zu funktionieren.

Man kann wohl zu recht vermuten, daß es gerade Scholems theologisches Problembewußtsein ist, das ihn daran hindert, die Überlieferung nur als Textgeschehen zu beschreiben. Insbesondere behält er das Problem der Autorität der Tradition bei. Nur vor diesem Hintergrund ist es möglich, eine verbindliche Tradition zu schaffen, denn, wie Scholem hervorhebt, ist die religiöse Tradition »nicht einfach die Summe dessen, was die Gemeinschaft als kulturelles Gut besitzt und den Kommenden überliefert. Sie ist eine spezifische Auswahl aus diesem Besitz, die herausgehoben und mit religiöser Autorität umkleidet wird« (ebd., 95).

Dieses Bewußtsein, daß die Freiheit der Interpretation an bestimmte Bedingungen gebunden ist bzw. daß sie ihre historische Bedeutung verliert, wenn diese Bedingungen fehlen, ist entscheidend für Scholems Interpretation der Kabbala. In Offenbarung und Tradition stellt Scholem die kabbalistische Auffassung der Tradition unmittelbar anschließend an die rabbinische Tradition dar. Schon deren Vorstellung einer ununterbrochenen Traditionskette führe »mit einem hohen Maß immanenter Logik zur Aufstellung mystischer Thesen über den Charakter der Offenbarung ebensosehr wie über den der Tradition« (ebd., 99). Der ursprüngliche Charakter einer konkreten Mitteilung tritt dabei immer weiter in den Hintergrund, am Ende dieser Entwicklung steht die uns schon bekannte »These von der unendlichen Sinnfülle des göttlichen Wortes« (ebd., 109), die Scholem auch mit der uns schon bekannten Formel über die Unvollziehbarkeit der Offenbarung charakterisiert.

Damit verschiebt sich für die Kabbalisten die Autorität der Offenbarung, sie ist »nicht mehr im unverwechselbaren, eindeutigen »Sinn« der göttlichen Mitteilung konstituiert, sondern in ihrer unendlichen Plastizität« (KS, 23). Scholem betont aber sogleich, daß der Kabbaiist in einem anderen Sinne an die Autorität gebunden bleibe: »Die Anerkennung des unverändert gültigen Sinnes der traditionellen Autorität ist der Preis, den die Exegese des Mystikers für ihre Verwandlung des Gehaltes der Texte zahlt. Solange dieser Rahmen nicht gesprengt wird, bleiben das beharrende und das vorwärtstreibende Moment [...] im Gleichgewicht, oder vielleicht sollten wir besser sagen, in fruchtbarer Spannung.« (ebd., 23f)

Die »Aufschmelzung des heiligen Textes« (ebd., 21), die der Mystiker vornimmt, ist daher immer abhängig von einem Rahmen traditioneller Autorität,

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274 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

denn wie Scholem immer wieder betont, sind ja auch gerade die Kabbalistenthodoxe Juden, d. h. sie setzen auch den »Rahmen« des normativen Judentum voraus. Gerade diese Bindung an die Tradition macht die Mystik für Scholem interessant gegenüber der völligen Ablösung der Interpretation vom Text. Die konfliktlose Reinterpretation ist für Scholem offensichtlich wenig interessant. Es ist nur bezeichnend, daß er wenig Interesse für die eigentlich »dekonstrukti-ven« exegetischen Verfahren der Kabbala hat wie etwa Numerologie und Ge-matria: Wenn der auszulegende Text vollkommen zerstört wird und nur noch als Ausdruckssubstrat dient, ist die spezifische und belebende Spannung zwi-schen Text und Interpretation verloren, die Scholems starker Begriff von Schrift impliziert.508 Für Scholem ist die Kabbala nicht neutrale Zeichenpraxis, sondern sie ist immer auch Auseinandersetzung mit den Texten und Kontexten des rab-binischen Judentums, die selbst nur innerhalb der jüdischen Tradition möglich ist. Der kritische Historiker aber steht außerhalb dieses Systems, dessen Prä-missen er nicht akzeptieren kann. Das theologische Problembewußtsein er-scheint hier also als Bewußtsein des historischen Abstandes - umgekehrt macht der Abstand, die Unterscheidung zwischen dem Ort des Historikers und dem Ort der Tradition, dieses Problem erst darstellbar.

Am Anfang seiner Ausführungen von Offenbarung und Tradition erwähnt Scholem eher beiläufig, daß seine Darlegungen auf einer Ebene operieren, die der Tradition selbst fremd sei: Die »Gläubigen« hätten die »historische Fragestellung« verworfen, für den Historiker bleibe sie dagegen »fundamental«: »Wenn er [der Historiker] den Sinn verstehen will , der in den Annahmen der Gläubigen steckt, ist er deswegen nicht an die fiktiven Behauptungen gebunden, die deren Ent-

Die Bedeutung dieser Praktiken in der Kabbala hat immer wieder Idel hervorgehoben, prägnant faßt er den Unterschied zwischen der Symboldeutung (die bei Scholem ein-seitig im Mittelpunkt stehe) und Abulafias dekonstruktiver Hermeneutik zusammen. Erstere erhalte »the basic structure of the verse, of the pericope, and of the whole text [...], not with Standing the daring symbolism the theosophical kabbalist is infusing« (Idel, Language, Thorah, and Hermeneutics in Abulafia, XV). - »A certain dialogue between the preexisting theology and the text was established, so that not only was the text reinterpreted, but, to a certain degree, also the extrabiblical processes were changed by the attempt to infuse them into the text« (ebd., XI). Anders gehe Abulafias viel ra-dikalere Methode der Buchstabenkombinatorik vor: »Beyond extracting the allegorical meaning of a certain biblical text [...] Abulafia points the way to a method of returning the text into its hylic form as a conglomerate of letters to be combined and new meanings being infused in the new »text«.« (Ebd., X) »The text then becomes a pretext for the ongoing process of pursuing a mystical experience rather than understanding a Text in depth. [...] Basis for the understanding of the deconstruetive action of Abulafias advanced stages of interpretation is the concept that each and every letter can be considered a divine name in itself.« (Ebd., XV) Vgl. auch Idel über die pneumatische Exegese Abulafias in Kabbalah, 234ff.

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THEOLOGIE UND GESCHICHTE 275

stehung betreffen oder, wenn man will , vernebeln.« (Gb, 92) Dieser Unterschied ist in der Tat wesentlich: Wie wir schon gesehen haben, ist das ahistorische Selbst-bild für die Texte wesentlich, insofern es konstitutiv ist für die Möglichkeit rabbinischer Exegese. Indem der Historiker nach der Geschichte der Traditionen fragt, arbeitet er seinem Gegenstand strikt entgegen, und zwar nicht aufgrund einer besonderen »anarchistischen« Neigung, sondern weil es im Wesen der histo-rischen Methode liegt, Ungleichzeitigkeiten zu finden, so wie es im Wesen der Tra-dition liegt, diese zu leugnen.509 In den Reflections on Jewish Theology nennt Scholem insgesamt die Vorstellung einer wortwörtlichen Offenbarung das Opfer der historischen Kritik , »one of its most important victims, if not the most important one« (JJC, 274). Die Kriti k des Pentateuchs, die hinter dem einheitli-chen Dokument eine Geschichte erkennt, zerstört die Vorstellung der Offenba-rung der Thora am Sinai. Zwar läßt sie die Möglichkeit einer unbestimmten Offenbarung offen - genau in diese Richtung geht die Bibelwissenschaft des 19. Jahrhunderts, wenn sie die Rolle der Propheten so stark betont -, aber weil dieser der fundierende Hintergrund fehlt, wird diese modernisierte Offenbarung leer und kraftlos.

Die Differenz zwischen modernem und traditionellem Standpunkt hat ent-scheidende Auswirkungen auf Scholems Begriff von »Tradition«. Im Schoeps-Brief hatte es geheißen, daß erst die Tradition das Wort Gottes »in der Zeit anwendbar« mache, jetzt spricht Scholem auch davon, es sei die Aufgabe des Tradierenden, »die Tora zu konkretisieren, sie hie et nunc anwendbar zu ma-chen, und darüber hinaus diese seine spezifische Form der Konkretisation über-lieferbar zu gestalten« (Gb, 112). Die Tradition wird also immer noch als Vermittlung der unmittelbaren und unvollziehbaren Offenbarung beschrieben, als »die Übersetzung ins Menschliche und Ergreifbare des unausschöpfbaren Wortes Gottes« (ebd., 112). Anders als in seinen vorherigen Äußerungen macht

509 Scholem erwähnt mehrfach, daß es eine »bedeutende Spannung« gebe »zwischen dem realen Vorgang der Traditionsbildung und der Deutung dieses Vorgangs im religiö-sen Bewußtsein der Schriftgelehrten selbst« (Gb, 99). - Mit dem Problem einer Hi-storie des Ahistorischen setzt sich Scholem auch in »Kabbala-Forschung« von 1937 auseinander: Es seien »doch im Grunde nur zwei Haltungen, die bisher zum Phäno-men der Kabbala überhaupt mit Ernst und Leidenschaft eingenommen worden sind: die des Kabbalisten und die des aufklärerischen Kritikers« (ebd., 27). Ersterer lebt in der Kabbala und »verzichtet und muß wohl verzichten auf viele Fragestellungen, die der Wissenschaftler nicht aufgeben kann«, denn er lebe ganz in einer zeitlos gedach-ten Tradition: »Historischer Sinn und historische Kriti k waren niemals die starken Seiten der Mystiker« (ebd., 27f). Der »aufklärerische Kritiker« habe dagegen eine Haltung, »die weniger die des Wissenschaftlers als vielmehr des aktiven Kämpfers gegen eine noch lebendige und als feindlich und gefährlich empfundene Macht war« (ebd., 28f). Scholem möchte eine dritte Position einnehmen, kann hier aber nicht recht deutlich machen, worin diese bestehen solle.

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276 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Scholem diesmal aber - als Historiker, aber eben mit theologischem Problem-bewußtsein - eine wichtige Einschränkung: »Dies gilt freilich nur im Sinne derer, die eine metaphysische Gleichzeitigkeit aller Tradition annehmen. Für die, denen die Tradition die Schöpfung der Historie selber ist, in deren Zeit sich, wie wir sagten, die Offenbarung reflektiert, stellt die Tradition also legitimer-weise die höchste Schöpfung des Judentums dar, das sich im genauen Verstände erst in ihr konstituiert.« (ebd., 112)

Noch einmal betont Scholem, daß die These von der unbegrenzten Plasti-zität der Tradition, in der auch »unsere« Fremdheit noch eine Variante wäre, nur unter theologisch-metaphysischen Voraussetzungen denkbar ist, die Scholem selber gerade nicht teilt. Sie kann - jedenfalls im strengen Sinne und theologisch fruchtbar - nur gedacht werden als Kontinuierung der Thora vom Sinai, also in strenger Bindung an die Offenbarung, metaphysisch setzt sie die Gleichzeitig-keit der Tradition voraus. Insofern »wir« laut Scholem diese beiden Vorausset-zungen aber gerade nicht mehr teilen können, ist es für »uns« im strengen Sinne gar nicht möglich »sich in die Kontinuität der Tradition des göttlichen Wortes einzuschalten« (ebd., 101).

Der Historiker Scholem bricht also mit dem Selbstverständnis der Tradition, denn die historische Frage muß außerhalb der Tradition stehen, die sich selber ja nicht als Schöpfung des Judentums, sondern als Schöpfung Gottes betrachtet. Al -lerdings wird man kaum sagen, daß dieser Bruch in Scholems Text besonders her-ausgestellt werde. Der Begriff der »Kontinuität« ist hier mit Bedacht gewählt, denn er kann offensichtlich zweierlei bedeuten: einerseits die logische odersche Kontinuität der Offenbarung, ihr Anspruch, in einem zeitlosen Raum wi-derspruchsfrei und autoritativ zu sein, andererseits die zeitliche Kontinuität, also die Kette der Überlieferung. Weil Tradition ein doppeldeutiger Begriff ist - zu-gleich religiös und profan -, kann Scholem diese Verschiebung unbemerkt vor-nehmen. Durch diese zugleich zugegebene und überschrittene bzw. verschleierte Grenze wird auf der rhetorischen Ebene ein doppeldeutiges Verhältnis von Kon-tinuität und Diskontinuität des Historikers gegenüber seinem Gegenstand er-zeugt, die Scholems ganzes Werk prägt.

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 277

2.9 Tradition und >Philologie<

Nur wenn man das komplexe Verhältnis von Kontinuität und Bruch gegenüber der Tradition beachtet, kann man auch die biographische Entwicklung Scho-lems angemessen verstehen, insbesondere seinen Entschluß, die Kabbala histo-risch zu erforschen. In dieser Entwicklung spielt der Begriff der »Philologie« eine entscheidende Rolle: Er dient dazu, die philosophische Theorie der »me-dialen« Erfahrung und die Theologie von Offenbarung und Kommentar zur Ausdeutung und Vertiefung der eigenen (»exegetischen«) Erfahrung als Histo-riker zu nutzen. Mi t der Darstellung von Scholems Überlegungen zur Philolo-gie wollen wir daher diesen Teil schließen, dabei werden wir zunächst auf Scholems frühe Aufzeichnungen zur Philologie eingehen (2.9.1), um dann dar-zustellen, wie Scholem seine eigene Position zwischen Kabbala und Philologie bestimmt (2.9.2). Dabei wird es besonders wichtig sein, auf das rhetorische Mo-ment bzw. die Schreibstrategie dieser Äußerungen einzugehen (2.9.3).

2.9.1 >Philologie< als Geheimwissenschaft. Von Philologie wil l Scholem schon 1918 »nur mit der größten Ehrfurcht sprechen«: »Es ist eine wahre Geheim-wissenschaft und die einzig wahrhaft historische Wissenschaft, die es bisher gibt. Sie ist eine der größten Bestätigungen meiner Ansichten über die zentrale Bedeutung der Tradition in einem freilich neuen Sinne des Wortes.« (Br 1,167) Scholem schließt also an seine Reflexionen über Tradition an, noch deutlicher als diese speisen sich seine Gedanken zur Philologie einerseits aus der frühro-mantischen Sprach- und Geschichtsphilosophie (s. o. Kap. 2.4), andererseits aus der intensiven Lektüre von modernen »Philologen«, insbesondere von Bibel-wissenschaftlern (s. u. Kap. 3.3).510 Gerade in der Praxis, bei seinem eigenen

510 Tatsächlich spielt die Philologie bereits bei Schlegel eine entscheidende Rolle, was für Scholem aber insofern von geringerer Bedeutung sein dürfte, als Schlegels entschei-dende Fragmente zur Philosophie der Philologie erst 1928 veröffentlicht worden sind und Scholem nur die wenigen Andeutungen aus den Athenäumsfragmenten kennen konnte. Daher schreibt er auch, eine »Philosophie der Philologie« sei noch von »nie-mand ernstlich versucht worden« (T II , 329), obwohl schon Schlegel sie als Geheim-wissenschaft erkannt habe (T II , 271). - Behrens sieht in Schlegels »Philosophie der Philologie« das Kernstück von dessen Methode: »Denn indem er [Schlegel] die Phi-lologie als eine unendliche und universale Methode historischer (Selbst)Erkenntnis bestimmt, ist sie zugleich auch zu einer Philosophie der Historie geworden.« (Beh-rens, Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie, 95) - Scholem scheint seine Auffas-sung von Philologie eher eigenständig entwickelt zu haben; erwähnt immerhin sei sein Lob von Merx, Die Prophetie desjoel, das für Scholem »methodisch höchst vor-

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278 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

»philologischen Jesajastudium«, beginnt Scholem zu verstehen, »was Phi lolo-

gie im tiefen historischen Sinne heißt« (T II , 271).

Man kann dabei vier Momente unterscheiden. Erstens sieht Scholem in der

Philologie selbst eine Ar t von Tradition: »Philologie ist eins der präzisesten Bei-

spiele des wahren Begriffes von Tradition. Die Arbeit einer ganzen Generation

verdichtet sich zu einigen wenigen Sätzen, die die Grundlage der folgenden aus-

machen. Sie geht darin auf, und es ist sehr notwendig, obwohl sie vergessen

scheint.« (Ebd.) Zweitens interpretiert Scholem diesen Sachverhalt von vorn-

herein von der religiösen Tradition her: »Philologie im leeren, technischen Sinne

entsteht da, wo der Kommentar nicht mehr als historisch-religiöse Kategorie er-

kannt wird. Der Kommentar ist die legitime Gestalt philologischen Schrifttums.

Hierin offenbart sich seine Beziehung zur Mystik, die Tradition ist.« (Ebd., 329)

Di e Form des Kommentars, die Scholem bereits im Zuge seiner Mol i tor - und

Hirsch-Lektüre als die »jüdische« Form der Wahrheit best immt hatte, ist auch

für die Philologie wesentlich.511 Damit kann er die Philologie drittens auch als

Fortsetzung der Tradit ion denken, wie er in Lyrik der Kabbala betont, könne

»tiefe Philologie eine echt mystische Funkt ion haben«, sie stehe der Kabbala

nahe, weil »eine würdige Überl ieferung [...] vielleicht eine tiefere Beziehung zu

einer Kabbala involviert, die nicht ganz ohne Grund »Überlieferung« heißt, als

sie der Willkü r der Taumelnden gelingt.« (Ebd., 684)512

Damit gewinnt das Konzept der »Philologie« innerhalb von Scholems Refle-

xionen viertens auch eine besondere systematische Funkt ion. Wi r haben oben

gesehen, daß die »Tradition« auch deshalb eine Schlüsselfunktion hatte, weil sie

bildlich ist, auch wenn die eigenen Ergebnisse des Mannes natürlich nichts taugen. Er hat eine - philologische! - Idee« (Br I, 177). Merx wil l das Buch Joel von seiner »Auslegungsgeschichte« her verstehen (Merx, a.a.O., 110) und stellt in aller Breite die Kommentare (auch die jüdischen) dar. Merx hebt auch die besondere Bedeutung des exegetischen Problems für die systematische Theologie hervor: »Das Verhältnis von Quelle und System ist durch das Verständnis der Quelle bedingt, d. h. von den her-meneutischen Principien abhängig, deren Entwicklung zu kennen daher eine tiefere Bedeutung hat, als es auf den ersten Blick scheint.« (Ebd., 445)

11 Vgl. auch: »Die Apologie der Mystik ist meistens nur aus dem Negativen geliefert worden. In Wirklichkeit hat sie seit Urzeiten ihre positive Apologie (auch außerhalb der Mathematik, die mystisch mißzuverstehen keine Leistung ist): die Philologie. Der Philologe ist der Mystiker Ka6'ei;oxr|v.« (TII , 329)

12 Explizit verwahrt er sich in Lyrik der Kabbala gegen die gerade in den Buber nahe-stehenden Kreisen so verbreitete Philologenschelte: »Es scheint [...] ein allgemein mo-derner Sport zu sein, gegen diese verknöcherten, traditionslosen Halunken, die aber auch wieder in ihren »lexikalischen« Traditionen verkalkt sind [...], vom Leder zu zie-hen Diese neigen nämlich der scheinbar unmystischen Auffassung zu, daß einen Text zu verstehen mitunter schwieriger und jedenfalls eine weittragendere Pflicht sei, als ihn zu erleben.« (T II , 678)

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 279

das systematische und kritische Problem der Aussagbarkeit von Wahrheit be-

traf. Insbesondere sollte »Tradition« eine neue, wesentliche Ar t von Geschichte

begründen, was Scholem vor allem im Anschluß an Mol i to r dazu gebracht

hatte, die jüdische Tradit ion geradezu mit der Geschichte zu identifizieren. A n

diese systematische Stelle rückt jetzt die Philologie, auch sie wird erkenntnis-

theoretisch reflektiert und wird zum Paradigma für die historischen Wissen-

schaften überhaupt :5 13

Das, was an der Geschichte darstellbar ist, ist nicht ihr Verlauf, sondern eine Ab-folge höchst unwirklicher Konstellationen: in jedem historischen Moment bleibt die Abfolge der Ereignisse, die historische Bewegung, zeitlich stehen, und es er-leidet dann dieses System eigenartige virtuelle Verschiebungen. Dieser Zustand ist der, der einer Wissenschaft: Geschichtsschreibung als Gegenstand aufgegeben ist. Immanente Änderungen der Beziehungen ohne zeitliche Variation vollziehen sich bei dem Übergang der Geschichte ins Schrifttum, in die Quellen oder selbst die mündliche Tradition, die beide ihre höchst eigenartigen Gesetze historischer Me-chanik [...] haben. Die Lehre selbst also ist nie darstellbar, sondern stets nur ihre (unwirkliche, aber exakte) Erstarrung in unendlich kleinen Verschiebungen ihrer Wirklichkeit. (T II , 387f)

N icht die geschichtl iche Veränderung als solche sei also wesentl ich, sondern

eine Abfolge von Konstel lat ionen, die jede für sich herauszuarbei ten seien.

Dabei erhält die philologische Rekonstrukt ion der »Quellen« eine besondere Be-

deutung, denn die Konstel lat ionen bilden sich im Moment der Einschreibung,

die Aufgabe der Geschichtsschreibung könne es daher nur sein, die Konstella-

tionen und ihre Variationen zu untersuchen. Die Philologie, die Benjamin auch

als »Geschichte der Terminologie« bestimmt, ist jetzt eine Theorie des histori-

schen Textes als Theorie der Einschreibung.514 Al s eine solche Theorie entfal-

' " Philologie sei bisher nicht verstanden worden aufgrund der »Unfähigkeit, den Be-griff der Geschichte, ihre Grundlage, philosophisch zu entfalten« (T II , 329). Dies müsse parallel zur Mathematik (der anderen Grundwissenschaft) entwickelt werden: »Ich weiß jetzt, daß eben die metaphysisch verschiedene Rolle der Tradition ein Hauptkriterium der mathematischen und historischen Wissenschaften ist. Die jüdi-sche Tradition ist in einem präzisen Sinne die Einheit beider. Ihre Tradition ist histo-risch und erhält sich doch, als ob sie mathematisch wäre. Dies eben ist die religiöse Tradition.« (Ebd., 271f)

'14 Benjamin äußert sich 1921 gegenüber Scholem zum Verhältnis von Philologie und Geschichte. Jene biete »eine Seite der Geschichte, oder besser eine Schicht des Hi-storischen dar, für die der Mensch zwar vielleicht regulative, methodische, wie kon-stitutive, elementar-logische Begriffe mag erwerben können; aber der Zusammenhang zwischen ihnen muß ihm verborgen bleiben. Ich definiere Philologie nicht als Wis-senschaft oder Geschichte der Sprache sondern in ihrer tiefsten Schicht als Geschichte der Terminologie, wobei man es dann sicher mit einem höchst rätselhaften Zeitbe-griff und sehr rätselhaften Phänomenen zu tun hat. Ich ahne auch, ohne es ausführen zu können, was Sie andeuten, wenn ich nicht irre, daß Philologie der Geschichte von

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280 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

tet sie auch das Paradox der geschriebenen Tradition, von dem Scholem schon im Zusammenhang mit der Frühromantik sprach. Diese Entfaltung ist jetzt, im Begriff der Philologie, dezidiert auf das Gebiet der Geschichte verschoben: »Das System der Mystik ist ihre Geschichte, eine andere kann es nicht geben. [...] Der Versuch, die mystische Idee der Tradition anders als in deren System darzustellen« sei zum Scheitern verurteilt (T II , 382). Philologie kann deshalb auch zur Selbstbeschreibung von Scholems eigener Position als Historiker ge-braucht werden.

2.9.2 Scholems Selbstverständnis zwischen Philologie und Kabbala. Scholem gewinnt also im Verlauf seiner Auseinandersetzung mit der Philologie einen po-sitiven Begriff von dieser und von der Gelehrsamkeit überhaupt, damit ent-dramatisiert sich auch die von Scholem 1916 noch als »Paradoxie« empfundene Tatsache, daß der »Europafeind und Anhänger des neuen Orients« ausgerechnet als »Lehrer der eben europäischen Wissenschaft« nach Palästina geht (T1,226).515

Trotzdem bleibt das Verhältnis zwischen Mystik, Geschichte und Philologie voller Spannungen, die Scholem 1921 - schon mit der Dissertation über das Buch Bahir beschäftigt - noch einmal zu reflektieren versucht. Die Aufzeichnungen, in denen das geschieht, sind nicht nur aufgrund ihres Inhaltes interessant, sondern auch durch ihre Geschichte: Den ursprünglichen Text arbeitet Scholem 1937 in einen Brief an S. Schocken (Ein offenes Wort über die wahren Absichten meines Kabbalastudiums) um, wesentliche Gedanken daraus übernimmt er in seinehistorischen Sätze, den Schocken-Brief schickt er schließlich noch 1978 an David Biale, weil dieser seiner Meinung nach ihn zu einseitig theologisch von den Unhistorischen Sätzen aus interpretiert habe.516 Wir wollen an diesem schon öfter

Seiten der Chronik nahesteht. Die Chronik ist die grundsätzlich interpolierte Ge-schichte. Die philologische Interpolation in Chroniken bringt an der Form einfach die Intention des Gehalts zum Vorschein, denn ihr Gehalt interpoliert Geschichte.« (Benjamin, Briefe, 257) Vgl. auch: »Wenn ich schreiben könnte wie die Philologen - und wenn es wirklich erlaubt wäre so zu schreiben (freilich gibt es auch Grenzen, in denen es das zu sein scheint), so könnte ich aus den paar Dingen, die ich einmal zu wissen hoffe, eine ver-borgene Bibliothek machen« (T II , 423). Vgl. dazu Schäfer, »Die Philologie der Kabbala«, 24. - Schäfer, der auch die Vorstu-fen des Schocken-Briefes veröffentlicht hat, sieht in Scholems Texten zur Philologie eine klare Tendenz in den Überarbeitungen »von der mathematisch-philosophischen über die religiöse zur säkular-wissenschaftlichen, ironischen Perzeption der Kabbala« (ebd., 21); das vernachlässigt die fundamentale Rolle der Ironie schon in den frühe-sten Texten und nimmt Scholems Rhetorik als Programm; Hamacher hebt hervor, daß man weder Scholems Schocken-Brief noch seine Unhistorischen Sätze als theo-logisches Credo betrachten solle, denn niemals behaupte Scholem, »dem Historiker diene die Philologie nur als mehr oder minder unwichtige Verkleidung, als Deck-

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 281

interpretierten Dokument noch einmal die Rhetorik untersuchen, in der Scholem

das Verhältnis des Historikers zur Tradition darstellt.

Im Brief an Schocken schreibt Scholem rückblickend, er sei »keineswegs aus

Versehen »Kabbaiist« geworden«, sondern habe gewußt was er tat, als er sich »da-

ran machte, den Schafpelz des Philologen anzuziehen und mich aus Mathema-

ti k und Erkenntnistheorie auf eine so viel zweideutigere Posit ion zurückzog«

(Br I, 471). Offensichtlich handelte es sich nicht um ein rein wissenschaftliches

Interesse, aber seine ursprüngliche Absicht, »nicht die Historie, sondern die Me-

taphysik der Kabbala« zu schreiben, habe er sich »offenbar viel zu leicht vorge-

stellt«, daher hätten sich zunächst historische Studien als notwendig erwiesen:

Gewiß, Geschichte mag im Grunde ein Schein sein, aber ein Schein, ohne den in der Zeit keine Einsicht in das Wesen möglich ist. Im wunderlichen Hohlspiegel der philologischen Kriti k kann für heutige Menschen zuerst und auf reinlichste Weise, in den legitimen Ordnungen des Kommentars, jene mystische Totalität des Sy-stems gesichtet werden, dessen Existenz doch gerade in der Projektion auf die hi-storische Zeit verschwindet. (Br I, 472)

Dieses Thema - das Verhältnis der philologischen Kriti k zu ihrem Gegenstand

»Kabbala« - prägt auch die früheren Entwürfe; dabei unterscheidet Scholem ei-

nerseits immer zwischen »Wesen« und »Erscheinung«, zwischen der »Sache selbst«

und dem Tun des Philologen, auf der anderen Seite gibt es eine nicht weniger

starke Tendenz in den Texten, diese Unterscheidung aufzuheben bzw. zu un-

terlaufen. Besonders in den frühen Entwürfen wird deutlich, wie stark Scholem

schwankt zwischen einer Krit i k der Philologie als bloß die »Außenseite« erfor-

schender Disziplin und der Hervorkehrung ihrer Leistungsfähigkeit und »Le-

gitimität«.517 Gerade aufgrund dieser zweiten Tendenz tut man gut daran, in

diese Texte nicht einfach das abstrakte Problem des Histor ismus einzutragen,

sondern der Logik der Texte selbst zu folgen, insbesondere der Bildlichkeit, mit

der Scholem sein Problem artikuliert.

Di e ersten Entwürfe sind vom deutlich geometrisch konnot ierten Ausdruck

der »Projektion« dominiert: »Die Philologie der Kabbala ist nur eine Projektion

auf eine Fläche. U nd eben in dieser Projekt ion verwandeln sich viele Bezie-

mantel, unter dem eine unhistorische Metaphysik verkündet wird« (Hamacher,hom Scholem und die Religionsgeschichte, 64). Zu den Unhistorischen Sätzen vgl. auch Biales »Gershom Scholem's Ten Unhistorical Aphorisms«, der allerdings den Unterschied zwischen den unhistorischen und den historischen Äußerungen Scho-lems nivelliert.

7 Der Text von 1921 ist sehr viel dramatischer, mit höherem philosophischen Anspruch und mit deutlich messianischen Untertönen: »Das »Heil« das Juden erwarten dürfen ist die unendliche, die virtuelle Verschiebung im Antlit z der Dinge.« (T II , 687) Al -lerdings ist das auch hier die Hoffnung nicht ohne Vorbehalte: »Im Brand einer neuen mystischen Bewegung würde der Zionismus zusammenbrechen.« (Ebd., 688)

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282 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

hungen bis zur nur noch intensiv wahrnehmbaren Punktualität, und gerade die natürlich, die für das Mystisch-Körperliche an der Kabbala, für das was ihren Raum konstituiert, fundamental sind.« (TII , 685) Die »Kabbala selbst« wird mit einem Raumkörper gleichgesetzt, sie ist nicht die einfache ideale Einheit einer »ausdehnungslosen« Wahrheit. Die spezifische Blindheit der Philologie besteht daher auch nicht darin, daß sie die Wahrheitsfrage nicht stellen kann bzw. daß sie - im Bild gesprochen - nur die (räumliche) »Abschattung > der »Sache selbst« zu Gesicht bekomme, sondern gerade in der Reduktion von deren »Räumlich-keit«. Denn »das Vieldimensional-Substantiell-Räumliche des Systems ver-schwindet wesensnotwendig [...] bei der Projektion auf die Fläche und wandelt sich in ihr zu dem großen Schein der Entwicklungslinie« (ebd.). Die »Projek-tion«, welche die Philologie vornimmt, ist also nicht nur das Nicht-Sehen des »wahren Kernes«, sondern sie ist eine Transformation, in der zwar die Räum-lichkeit verschwindet, dafür aber etwas anderes erscheint: die »nur noch inten-siv wahrnehmbare Punktualität« bzw. der »Schein einer Entwicklungslinie«. Die spätere Rede vom »7/oÄ/spiegel« der Kriti k suggeriert sogar, daß durch diese Transformation eine virtuelle Räumlichkeit wiederhergestellt werde.518

Das ist freilich nur möglich durch eine Distanzierung vom Gegenstand, indem nämlich nach Scholem »die Existenz des Systems - der mystischen Grundtatsache - ironisch bestritten« werde (ebd.). Aber dieses Bestreiten ist in-sofern nur »ironisch« als das System eben in anderer, »unräumlicher« Form (als »Punktualität« oder »Linie«) wieder auftaucht. Damit erscheint die Philologie auch nicht nur als neutrale Vorbereitung auf eine etwaige Beschäftigung mit der »Sache selbst«, sondern gerade als eine Weise, diese »Sache selbst« darstellbar zu machen, indem man sie bestreitet. Von hier aus wird verständlich, warum die historische und kritische Frage für Scholem gerade die »legitime« sein kann: Nicht die »fromme« Behauptung eines Systems kann dieses sichtbar machen, sondern jene Lektüre, die mit ihrem Gegenstand bricht bzw. diesen auf das »ironische Papier der Geschichtsschreibung« zwingt (ebd., 687).

Dieses Papier, die Fläche, auf die der Historiker abbildet, erscheint in Scho-lems Text allerdings zugleich auch als Hindernis, als »Nebelschleier der Ge-schichte«, der um den »Berg, das Korpus der Dinge« hänge (Ebd.). Es komme also auch darauf an, »durch die Fläche hindurchzugehen, den Schleier der Ge-schichte vom Räume des Wirklichen abzuheben, nein zu ignorieren« (ebd.). Um die Kabbala zu verstehen, scheint Scholem also noch eine zweite Transforma-tion für notwendig zu halten, eine »virtuelle [...] Verschiebung, die die Dinge der Geschichte in ihre Ursprünglichkeit zurückverwandelt« (ebd., 688). Diesen

Die wahre Philologie sei daher auch nicht einfache Abbildung, sondern unendliche Vermittlung, sie ist also nicht Organ, sondern Medium; daher müsse sie auch »von der genauen Unendlichkeit, die keine Zeichnung, kein Bild haben«, sein (T II , 687).

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 283

Schritt bezeichnet Scholem 1921 noch als »einfach« man brauche nur »Mut, in einen Abgrund zu steigen, der wider Erwarten bei uns selber enden könnte« (ebd., 687). Es ist allerdings schwierig zu verstehen, was man sich unter diesem Schritt vorzustellen hat: Ist die Philologie also doch nur Vorbereitung auf das mutige Praktizieren der Kabbala selbst oder handelt es sich erst bei dieser zwei-ten Verschiebung um den Schritt zur eigentlichen Philologie? Für letzteres spricht immerhin, daß es auch bei diesem Schritt für Scholem wichtig ist, »nicht einfach in Gottes Gegenwart geblendet zu versinken« , sondern nach »Katego-rien« zu suchen, um die Kabbala zu begreifen; diese Kategorien seien »Über-lieferung und Sprache, die Träger und Hüter des Geheimnisses« bzw. das »Geheimnis der Tradierbarkeit der Wahrheit« (ebd., 688). In der Frage nach der Tradierbarkeit berühren sich aber Kabbala und Philologie, denn als Tradition aufgefaßt, ist die Kabbala immer schon aus dem Status der einfachen »Sache selbst« herausgetreten in den der Räumlichkeit.

Deutlicher wird die Rolle der Philologie in der Formulierung derschen Sätze, in der Scholem den Nebel der Historie sich aus der Sache selbst freisetzen läßt:

Die Philologie einer mystischen Disziplin wie der Kabbala hat etwas Ironisches an sich. Sie beschäftigt sich mit einem Nebelschleier, der als Geschichte der Mystischen Tradition das Korpus, den Raum der Sache selbst umhängt, ein Nebel freilich, der aus ihr selber dringt. [...] Aber liegt solch Element der Ironie nicht vielmehr schon im Gegenstand dieser Kabbala selber, und nicht nur in ihrer Geschichte? Der Kab-balist behauptet, es gäbe eine Tradition über die Wahrheit, die tradierbar sei. Eine ironische Behauptung, da ja die Wahrheit, um die es hier geht, alles andere ist als tradierbar. [...] Echte Tradition ist verborgen; erst die verfallende Tradition verfällt auf einen Gegenstand und wird im Verfall erst in ihrer Größe sichtbar. (J III , 264)

Indem der Schleier und die Sache selbst hier nicht mehr trennbar sind, erscheint auch die Kabbala selbst als ironisch. Bereits die kabbalistischen Sätze sind ge-brochen und funktionieren nicht so, wie sie beanspruchen zu funktionieren, wie wir schon gesehen haben, ist ja auch ein »Selbstmißverständnis« über die eigene Freiheit konstitutiv für die Kabbala. Man kann also geradezu sagen, daß es die »Kabbala selbst« gar nicht gibt, jedenfalls ist sie in ihrer »Räumlichkeit« gar nicht denkbar, sondern muß notwendig anders sein als sie erscheint und anders er-scheinen als sie ist. Die Erkenntnis der Kabbala setzt daher notwendig an der Fläche an, denn nur hier gibt es überhaupt eine Erscheinung der »Räumlichkeit« der Kabbala. Nur auf der Fläche gibt es »Symptome« von etwas nicht mehr Flächenhaftem, und zwar gerade in den kleinen Unterschieden und Verschie-bungen auf der Fläche: »In diesem Paradox, aus solcher Hoffnung auf das rich-tige Angesprochenwerden aus dem Berge, auf jene unscheinbarste, kleinste Verschiebung der Historie, die aus dem Schein der »Entwicklung« Wahrheit her-vorbrechen läßt, lebt meine Arbeit, heute wie am ersten Tage« (Br I, 472).

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284 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

Wie wir schon oben gesehen haben, gehört das Zurückprojizieren der Ge-danken in die Vergangenheit zum Wesen der Tradition, sie konstituiert damit einen zeitlosen »Raum« der Wahrheit. Weder darf der Philologe diese Projektion einfach übernehmen, noch darf er sich damit begnügen, sie einfach destruierend zu entlarven und in eine Vielzahl von (datierten) Einzeltexten aufzulösen. Die »positive« Philologie nimmt eine andere Projektion vor, nicht die in den zeitlo-sen Raum der Tradition, sondern auf die historische Entwicklung. Damit »bricht« sie den Gegenstand - um ihn wieder lesbar zu machen. Sie unterschei-det sich damit wesentlich von der romantischen Kabbala etwa Molitors nicht bloß durch die Tatsache einer historischen Sichtweise, sondern durch eine Trennung von Ebenen der Äußerungen: Während etwa Molitor ständig seine eigenen Überlegungen mit denen der Kabbalisten mischte, um diese zu »ent-schlüsseln« und in ein philosophisches System zu übersetzen, ist für den kri-tisch arbeitenden Historiker die Trennung zwischen Objekt- und Metasprache zentral. Allerdings unterscheidet er sich vom negativen Kritiker, für den die Objektsprache eigentlich keine innere Kohärenz hat und völlig ausgelöscht wird. Der negative Kritiker spricht über die Kabbala, in der eigentlichen Phi-lologie kommt - freilich auf einem wesentlichen Umweg - auch die Kabbala selbst zur Sprache. Für den eigentlichen Philologen sind also in gewisser Weise beide Sprachen intakt - das spricht sich aus im Zitatt das im philologischen Text immer neben der »historischen Erklärung« steht und immer getrennt von ihr bleibt. Das Zitieren hindert den Philologen daran, von den »Zeugnissen« über-zugehen zum »Leben«, daß »dahinter steht« - der Text und seine eigene Logik bleibt bestehen, wird nicht »übersetzt« und nicht aufgelöst, sondern bildet einen Text im Text. So ist auch der philologische Text, gerade weil er sich weigert, sei-nen Text vorschnell zu »verstehen«, gebrochen durch etwas anderes, durch eine Autorität, die ihn stützt, mit der er aber auch kämpft. Wir werden im nächsten Teil sehen, wie sich dieser gebrochene Text in Scholems historischem Schreiben manifestiert und dann auch die »doppelte Logik« der kritischen Geschichte bes-ser verstehen.

Mi t den letzten Überlegungen sind wir über Scholems Reflexionen hinaus-gegangen. Halten wir fest, daß die »Kabbala selbst« sich für ihn nur in ge-brochener Form erkennen läßt, sie kann nur in einem fremden »Medium« erscheinen, und zwar im »Hohlspiegel« der philologischen Kritik . Noch einmal gebraucht Scholem hier also die Idee des »Mediums«, gerade an diesem Gebrauch kann man sich noch einmal die Bedeutungsverschiebung klarmachen, der dieses Konzept unterzogen wird: In Scholems Notiz Über dieweise der Talmudisten von 1916 war noch die Thora das Medium, in dem die »wahre« Erfahrung der Talmudisten möglich ist; wie wir inzwischen gese-hen haben, ist diese Erfahrung gerade deshalb möglich, weil sie den histori-

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 285

sehen Charakter dieses Mediums so gut wie ihren eigenen ignoriert.519 Im Schoeps-Brief erschien dagegen die Thora nur anwendbar »in der kontinuier-lichen Beziehung auf die Zeit, in der Tradition« (Br 1,469). Hier ist also die Tra-dition das Medium, in dem die Thora sich verwirklicht. Allerdings schwankt »Tradition« hier doppeldeutig zwischen seiner religiösen und seiner profanen Bedeutung, zwischen »Tradition« im Sinne autoritativer (und zeitloser) In-terpretation und »Tradition« im Sinne der Überlieferung in der Zeit. In einem letzten Schritt schließlich ist der »Hohlspiegel« der philologischen Kri -tik das Medium, in dem die Kabbala erscheint; jetzt steht gerade der historische Charakter des Mediums im Vordergrund, der metaphysische wird dagegen ausgeblendet.

In verschiedenen Stufen sind für Scholem also Offenbarung, Tradition als mündliche Thora, Tradition als Überlieferungsgeschichte und schließlich Phi-lologie das »Medium« der Erkenntnis. Dabei verwischt Scholem im zitierten Brief an Schocken bewußt den Unterschied zwischen dem traditionellen Kom-mentar, der auf der Voraussetzung der Gleichzeitigkeit der Tradition beruht, und dem philologischen Kommentar, der diese Voraussetzung ja nicht nur aus Mutwillen zerstört, sondern weil philologische Erkenntnis eben auf die Un-gleichzeitigkeit des scheinbar homogenen Textes abzielt. Ähnlich sind sich die beiden Arten des Kommentars nur in einem Punkt - beide haben einen vorge-gebenen Text, auf den sie sich beziehen, den sie im Zitat auch »tradieren« und an dessen Autorität sie sich abarbeiten. Aber für den Philologen ist sein Text nicht der absolute Text der Offenbarung und kann es nicht sein, da sein eigenes Werk-zeug, die historische Kritik , diesem Anspruch zuwiderläuft. Trotzdem scheint diese Ähnlichkeit - die Vorzeitigkeit des Textes - für Scholem ausreichend, um beide parallel zu setzen. Scholems großartige Seiten über die »Natur der Wahr-heit« im rabbinischen Judentum bewegen sich genau an dieser Grenze: Einer-seits sei der Kommentar die »legitime« (Gb, 101) Form der Wahrheit im rabbinischen Judentum, andererseits erscheint diese Tradition für den histori-schen Kritiker »legitimerweise« als profanes Geschehen (Gb, 112).520 Wenn also

5,9 Auch später, in den Unhistorischen Sätzen schreibt Scholem, in der Kabbala sei die Thora das »Medium, in dem alle Wesen erkennen«: »Die Symbolik des »leuchtenden Spiegels«, die von den Kabbalisten auf die Tora übertragen wurde, ist dafür auf-schlußreich. Die Tora ist das Medium, in dem sich die Erkenntnis spiegelt. [...] Die Erkenntnis ist der Strahl, in dem die Kreatur von ihrem Medium aus zu ihrer Quelle vorzudringen sucht - unabwendbar im Medium bleibend, denn noch Gott selbst ist ja Tora.« (J III , 265) Hier beschreibt Scholem die »Unendlichkeit« dieser Erkenntnis freilich mit Resignation: »Es ist etwas unendlich Trostloses um die Aufstellung der Gegenstandslosigkeit der ersten Erkenntnis, die auf den ersten Seiten des Buches Sohar gelehrt wird.« (Ebd.)

520 Besonders charakteristisch ist die Doppeldeutigkeit, in der hier von »Legitimität«

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286 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

der Philologe auch auf die religiöse Autorität des Textes verzichten muß, bleibt ihm doch eine irgendwie »legitimierende« Kraft, solange er sich auf den vorge-gebenen Text bezieht. Daß diese Stärke »dialektisch« zugleich auch Schwäche ist, haben wir bereits gesehen.

Philologie und Kabbala haben in dieser Rhetorik nicht nur deshalb eine Af-finität, weil beide Überlieferungen sind, sondern weil beide in eigenartiger Weise »ironische« und indirekte Darstellungen sind. Aber diese Nähe ist mehr-deutig: Auch wenn sich das Problem des Philologen - die Unmöglichkeit, das Räumliche darzustellen - in der Kabbala wiederfindet, deckt sich die Ironie, die seinem Unternehmen anhaftet, nicht mit der, die der Kabbala inhärent ist. Die Nähe ist ja nur möglich durch einen, wie immer ironischen, Bruch. Man könnte gleichnisweise sagen, daß der Mystiker eigentlich nicht von innen nach außen kommt - er ist im Wahren, kann aber nichts aussprechen -, der Philologe da-gegen nicht von außen nach innen - er kann alles sagen, erreicht aber den Be-reich des Wahren nicht. In beiden Fällen gibt es eine Dissonanz, ohne daß die eine auf die andere abgebildet werden könnte. Gemeinsam ist Philologie und Kabbala, daß sie ihren jeweiligen Ort nicht aussprechen können, gemeinsam ist ihnen damit ein »steter Wechsel zwischen Selbstschöpfung und Selbstvernich-tung«, als den Schlegel einmal die Ironie bezeichnet.521

2.9.3 Strategien der Selbstkanonisierung. In Scholems Äußerungen zum Ver-hältnis von Philologie und Kabbala entsteht so ein dichtes und ambiges Feld von Bedeutungen, das um die Idee einer indirekten Darstellung und den Namen der »Tradition« kreist. Weil »Tradition« einen Doppelsinn als religiöser und als profaner Begriff hat, kann Scholem seine Position fast unmerklich verschieben und Bedeutungsmomente von dem einen auf das andere übertragen. »Tradition« bleibt ihm ein emphatischer Begriff für »Geschichte«: Wenn Scholem früher davon sprach, daß das Judentum die Historie selbst sei, so ist das Judentum nun die »Tradition«, denn erst in ihr »konstituiert« sich das Judentum.522 In diesem Bedeutungsfeld vermischen sich theologische Sätze mit Reflexionen über die ei-gene Methodologie und über die Problematik der Philologie. Beide Satzarten können unentscheidbar miteinander verschränkt werden zu Sätzen, die selbst -mit Scholem gesprochen - »unendlich deutbar« sind. In den Unhistorischenzen erreicht Scholem daher auch die Form der These wieder, die die verschie-

gesprochen wird: Auch Pseudepigraphie ist legitim (dazu s. u. 3.3.4); vgl. dazu auch die Reflexionen über den legitimen Kommentar im Umkreis der Frühromantik s. o. Kap. 2.4.3.

521 Schlegel, Werke, Bd. II , 172 (Ath. Frag. Nr. 51). 522 Die Tradition sei zwar die »Schöpfung der Historie selber«, aber die Schöpfung einer

Historie, »in deren Zeit sich [...] die Offenbarung reflektiert« (Gb, 112).

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 287

denen Motive zusammenführt. Der neunte dieser Sätze faßt seine Theorie als Sentenz zusammen: »Ganzheiten sind nur okkult tradierbar. Der Name Gottes ist ansprechbar, aber nicht aussprechbar. Denn nur das Fragmentarische an ihr macht die Sprache sprechbar. Die »wahre« Sprache kann nicht gesprochen wer-den, sowenig wie das absolut Konkrete vollzogen werden kann.« (J III , 270f)

Es scheint mir nicht ungefährlich, solche Sätze einfach als deskriptive Aus-sage einer Sprachphilosophie oder Theologie Scholems zu lesen. Man muß dagegen stärker den rhetorischen und performativen Charakter solcher Äuße-rungen betonen; sie haben die Funktion, Scholems eigenen Standort - den »re-ligiösen Anarchismus« und den »Umweg« über die Philologie - selbst in die Überlieferung einzuschreiben und zu legitimieren. Das geschieht vor allem durch Mehrdeutigkeit, durch das Selbstzitat und durch die Verkürzung. Scho-lems Unhistorische Sätze zitieren ja nicht nur seine theologischen Äußerungen, sondern sind voller Anspielungen auf seine historischen Untersuchungen zur Kabbala, von denen wir hier nur den wenigen nachgegangen sind, die sich auf Offenbarung und Tradition beziehen.523 Diese Praxis des impliziten Selbstzita-tes haben wir bereits an Scholems Umgang mit seinen privaten Aufzeichnun-gen gesehen (s. o. Kap. 1.5): Scholem zitiert sich selbst und übernimmt einzelne Formulierungen wörtlich in andere Kontexte. Auch bei den späteren Selbstzi-taten handelt es sich weniger darum, an anderer Stelle entwickelte »Ideen« zu übernehmen, als um Zitate von Sätzen oder sogar einzelnen Ausdrücken, wie wir gerade am Begriff »Medium« gesehen haben. Durch diese Anspielungen ent-steht ein Netz von Bedeutungen und Querverweisen, das niemals explizit wird und auch niemals explizit zu werden braucht, denn die Deutungsarbeit kann getrost den Lesern überlassen werden. Diese Gleichzeitigkeit von Andeutung und Zurückhaltung ist wesentlich für Scholems Schreiben, dessen Besonderheit man übersieht, wenn man die Unhistorischen Sätze nur als verschlüsselt for-mulierte Aussagen betrachtet.

Es ist überhaupt ein Mißverständnis, wenn man sich die »esoterische« Seite von Scholems Schreiben so vorstellt, als würde er hier seine geheimen und »tiefen« Intentionen offenbaren. Scholem selbst hat jedenfalls ein präziseres Bild von Eso-terik als eines bestimmten Schreibstils bzw. eines bestimmten Stils der »Vertex-tung«, wie sie sich etwa im Selbstzitat ausdrückt. Diese Auffassung hat Scholem an anderer Stelle, angesichts von Benjamins Schreibstrategie, präzise beschrieben: Dessen »Gestus des Esoterikers« sei »der des Produzenten autoritärer, und das

Die intertextuellen Verweise untersucht Biale in »G. Scholem's Ten Unhistorical Aphorisms«; vgl. auch: »Scholem writes in German but often thinks in the technical language of the Kabbalah (either Hebrew of Zoharic Aramaic). Thus, a correct understanding of the text requires sensitivity to the Kabbalistic language lurking behind the text.« (Ebd., 102)

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288 DAS ESOTERISCHE SCHREIBEN

heißt freilich auch: von vornherein und ihrem Wesen nach zitierbarer und deut-

barer Sätze« (Eng, 35).524 Was aber bedeutet es für einen Satz, »wesensmäßig zi-

tierbar« zu sein? Wenn etwas zitieren bedeutet, etwas aus dem Kontext zu reißen,

so würde ein wesensmäßig zitierbarer Satz ein Satz sein, der nur eine lose Ver-

bindung mit seinem Kontext hat, im Extremfall ein kontextloser Satz.

Di e Zerstörung von Kontext ist aber eine zentrale Strategie der Kanonisie-

rung.5 25 Wir haben oben schon gesehen, daß der rabbinische Umgang mit der

Bibel wesentlich darin besteht, diese zu entkontextualisieren und damit zu einer

Ar t eigener Sprache von autoritativer Kraft zu transformieren. Zit ierbar Schrei-

ben heißt damit, Autorität verleihen; sich selbst zitieren heißt, die eigene Sprache

als eine autoritäre aufzufassen. Denn die Sprache der Zitate ist immer Sprache der

Autorität: »Il n 'y a pas ä interoger une citation sur sa verite. L'alternative du vrai

et du faux ne la concerne pas et le citateur aurait beau jeu de repondre: c'est ecrit.

[...] Et cela suffit ä deplacer la question de la verite. D 'oü le pouvoir extraordi-

naire de la citation.«526

Liest man Scholems anspielungsreiches Schreiben als Strategie der Selbstka-

nonisierung, so erkennt man, daß es auch eine negative Bedingung hat, nämlich

die Zerstörung bzw. das Verschweigen der »ursprünglichen« Bedeutung. Scho-

lem lehnt es stets ab, die Unhistorischen Sätze zu kommentieren, auf Adornos

Über Brecht schreibt Benjamin: »Das Geschriebene ist ihm nicht Werk, sondern Ap-parat, Instrument. Es ist, je höher es steht, desto mehr der Umformung, der Demon-tierung und Verwandlung fähig. Die Betrachtung der großen kanonischen Literaturen [...] hat ihm gezeigt, daß der oberste Anspruch, der dort an Geschriebenes gestellt wird, seine Zitierbarkeit ist.« (GS II/2, 666) An Scholem schreibt er über daß Trauerspiel-buch, daß »das Geschriebene fast ganz aus Zitaten besteht« (Benjamin, Briefe, 366). Vgl.: »Allen Prozessen der Kanonisierung ist gemeinsam, daß im besonderen der hi-storische Kontext der Kanonisierung nicht in die Tradition eingeht, ja gänzlich ver-schwiegen wird, und daß auch die übrigen Kontexte der Literatur aufgehoben werden: Die kanonisierte Literatur stimmt mit den ursprünglichen Funktionen (bzw. Intentionen) der Texte nicht mehr überein.« (Goldberg, »Die Zerstörung von Kontext«, 203) »Die Entkontextualisierung eines literarischen Werkes scheint im Ju-dentum eine Bedingung für die Kanonisierung zu sein. Jedenfalls ist es schwer vor-stellbar, wie Bibel, Mischna oder Talmud zusammen mit ihren jeweiligen Kontexten hätten kanonisch werden können. [...] Der umgekehrte Prozeß macht diese An-nahme wahrscheinlich: Die Auflösung des Kanons, der Verlust der kanonischen Re-levanz der Texte, beginnt mit der historischen Rekontextualisierung durch die Wissenschaft der Neuzeit, der Kanon wird durch die »historisch-kritische Methode« historisch relativiert.« (Ebd., 208f)

Compagnon, La seconde main, 88f. Compagnon entwickelt im Rahmen der Frege-schen Semantik von Sätzen, daß die Bedeutung des Zitates nicht mehr seine Wahr-heit oder Falschheit, sondern seine Authentizität sei, vgl. ebd., 83ff. Das Zitat eignet sich vor allem deshalb für ein anspielungsreiches Schreiben, weil es zwischen Ge-brauch und Erwähnung schwankt.

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TRADITION UND »PHILOLOGIE« 289

Wunsch nach einem solchen Kommentar antwortet Scholem: »Ja was denken Sie sich denn? So etwas gab es nur in den alten Zeiten, wo die Autoren die Kommentare gleich selber schrieben, und wenn sie klug waren, enthielten sie meistens das Gegenteil von dem, was im Text stand. Ich werde mich hüten, mich da in die Brennesseln zu setzen. Von meinen Sätzen gilt: rette sich wer kann.« (Br II , 91)527

Kommentierbar wären die Sätze nur in paradoxer Weise, denn jede andere Form des Kommentars, was »eigentlich« gemeint sei, würde die Sätze mit einem Kontext versehen, der ihre Zitierbarkeit blockieren würde. Nur in ihrer Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit bleiben seine eigenen Sätze transzendent gegenüber allen Deutungen, die von ihnen gegeben werden können; daher drängt es sich immer auf, sie nicht nur zu erwähnen, sondern auch zu zitieren. Die Häufigkeit, mit der gerade Scholems Unhistorische Sätze inzwischen zitiert werden, zeigt den Erfolg dieser Strategie.

Scholem hebt die »Ironie«, die der Philologie der Kabbala inhärent ist, nicht noch einmal auf und sagt nicht, was es »letztlich« mit der Kabbala auf sich habe. Von dem umfassenden Projekt, das Judentum zu »beweisen«, bleiben nur ein paar begriffliche Splitter, die zwar immer noch das Problem der Tradierbarkeit in den historischen Schriften präsent halten, aber jetzt in ein umfassendes Forschungsprojekt eingelassen sind. Scholem benutzt dieselben Worte wie in seiner Jugend, er kreist auch um dasselbe zentrale und unüberbietbare Problem der Tradierbarkeit, aber die Funktion der Reflexionen hat sich entscheidend gewandelt: Was vorher systematische Darstellung werden sollte, ist jetzt nur noch Rhetorik, die nicht ohne Ironie benutzt wird. Denn wie wir etwa im Aufsatz überrung und Tradition gesehen haben, ist sich Scholem der Grenze, die er hier verwischt, durchaus bewußt und hält sie andernorts auch durchaus ein. Nur aus der Gesamtkonstellation, wenn man die historischen und die ahistorischen Sätze liest, kann man die wirkliche Logik von Scholems Schreiben verstehen. Daher wird der letzte Teil der Arbeit das historische Schreiben Scholems untersuchen.

Vgl. auch den Brief an Weiss über die Unhistorischen Sätze: »Diesmal habe ich etwas gemacht, das man nicht von mir erwartet hat und Dinge geschrieben, die ich nicht hätte schreiben, und wenn ich sie schon geschrieben habe, nicht hätte veröffentlichen sollen (Der Grund der Veröffentlichung war, daß ich gebeten wurde, etwas beizutragen, das ich nicht vorhatte, jemals unter gewöhnlichen Umständen zu veröffentlichen!!). Wo es aber nun einmal so gekommen ist, wollte ich die Dinge auch drucken, aber ich wollte es niemandem gegenüber erwähnen und auch niemandem Sonderdrucke geben [...], und ich wollte abwarten, wer vom Rudel meiner Kabbalisten [d. h. seiner Schüler] dies von selbst entdecken würde!!« (Scholem an J. Weiss am 31.3.1960, zit. nach Schäfer, »»Die Philologie der Kabbala'«, 22f) Schäfer kommentiert: »Überdeutlich ist der Wunsch, das »Geheimnis« über seine wahren Absichten gleichzeitig für sich zu behalten und öffentlich zu machen.« (Ebd., 23)

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3. DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN: SCHOLEMS RELIGIONSGESCHICHTE DER KABBALA

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Einleitung: Geschichtsschreibung verstehen

Having given up philosophy in despair, I have turned to the writing of history, and I can only speak as a historian, with a certain philosophical memory.528

Der größte Teil von Scholems Werk ist historiographisch. Seit seiner Disserta-tion forscht Scholem mit großer Konsequenz, Geradlinigkeit und hartnäckigem Festhalten an seinem methodischen Zugang über die Kabbala. Wil l man die in-nere Dynamik von Scholems Schreiben verstehen, muß man auch diese Seite seines Werkes berücksichtigen; sie ist auch für Scholems Entwicklung von großer Bedeutung, wie wir gesehen haben, ist es kein Zufall, daß Scholem zum Historiker wird. Hier findet er schließlich das Projekt zur Verwirklichung sei-ner intellektuellen Identität, hier findet er auch den Raum, das Problem der An-eignung der jüdischen Tradition zu bearbeiten. Dieses spezifische Projekt wird zu oft für selbstverständlich genommen: Man stellt erfreut oder bedauernd fest, daß Scholem sich schließlich der »reinen Wissenschaft« zuwendet, um die man sich ja nicht weiter kümmern brauche; statt dessen sucht man lieber direkt nach seinen »eigentlichen« Interessen. Aber Wissenschaft ist nicht einfach eine Maske, und auch wenn Scholem außerhalb der Wissenschaft über die Kabbala spricht, insofern von seinem wissenschaftlichen Zugang bestimmt, als dieser die Kab-bala überhaupt erst lesbar, zitierbar, anwendbar auf die Gegenwart macht: ohne den Historiker Scholem auch kein »Kabbaiist« Scholem.

Es mag überraschen, daß hier ein so starkes Gewicht auf die Geschichte der Kabbala gelegt wird, scheint doch der Trend heute eher in die Richtung zu gehen, Scholems Kabbalaforschung von ihrer sprachtheoretischen Seite her zu begreifen. Scholem selbst hat angedeutet, daß ihn auch die imaginative Seite der Kabbala in-teressiert habe: »The pictures, images, and Symbols which grew upon this soil or which feil upon these fields with abundance seemed to me filled with a poetic and lyrical significance, of equal worth to the theoretical meaning which I had set my mind to resolve.« (PM, 48) Aber er warnt auch vor den Schwierigkeiten einer die-ser Fragestellung: »But the tools have not yet been created for understanding the lyri c plane within the language of the Kabbalists and the Hasidim. Without creating these tools, this question cannot be fully encompassed. My own secret longing to do so has not been fulfilled and remains unsatisfied.« (Ebd.) Es scheint daher nicht angeraten, direkt von einer Hermeneutik kabbalistischer Symbole aus-

Scholem, »Discussion«, 13 (Are 4° 1599/277-1, Nr.118).

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294 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

zugehen, um so mehr, als diese hermeneutische kaum dem Reichtum von Semio-tik, Rhetorik, Poetik und Intertextualität von Scholems Sprache gerecht wird, den wir im letzten Teil thematisiert haben. Viel von dem Sprachphilosophischen läßt sich aber umgekehrt von der Historiographie her verstehen. Ich begreife meine Arbeit daher weniger als anachronistisch denn als antizyklisch; die Betonung der Historiographie soll nicht zu einer vermeintlichen »Basis« der Geschichte zurück-führen, sondern zeigen, daß bereits auf der Ebene der Historisierung der Kabbala mehr geschieht als man dachte.

Man muß den Historiker Scholem zunächst als Historiker verstehen. Es geht dabei weder um Darstellung, noch um Kriti k von Scholems Ergebnissen - beides muß der sachlichen Forschung überlassen werden -, sondern darum, seinen Zu-gang selbst zu verstehen. Seine Historiographie ist nicht ein neutrales Medium, in welchem »die Sache selbst« erscheint, sondern sie transformiert - wie jede Historiographie - ihren Gegenstand auch. Sie ist nicht zu reduzieren auf eine (zio-nistische oder anarchistische) »Weltanschauung«, die, »hinter« der Geschichts-schreibung stehend, alles determiniert, oder auf eine »Geschichtsphilosophie«, verstanden als letzte denkerische Einheit seiner Geschichtsschreibung; beide haben bei Scholem eher den verstellenden Charakter einer Selbststilisierung.

3.1.1 Jüdische Geschichte und >Gegengeschichte>. Scholems Projekt der Ge-schichte der Kabbala steht im Zusammenhang mit der modernen jüdischen Hi-storiographie. Diese spielt eine besondere Rolle bei der Konstitution des modernen Judentums, nach Yerushalmi wird die Geschichte im 19. Jahrhun-dert, »zum Glauben ungläubiger Juden«.529 Yerushalmi betont dabei, daß diese Historiographie posttraditional ist: »Der moderne Versuch, die jüdische Ver-gangenheit zu rekonstruieren, beginnt zu einer Zeit, in der die Kontinuität jü-dischen Lebens einen tiefen Bruch erfährt, was auch einen immer stärkeren Verfall des jüdischen Gruppengedächtnisses bewirkt.«530 Die jüdische Histo-riographie ist also Reaktion auf eine Krise des Gedächtnisses, sie könne aber nach Yerushalmi dessen Verlust nicht kompensieren und behalte daher ein dau-erhaft gespanntes Verhältnis zum lebendigen Gedächtnis.531

Yerushalmi, Zacbor, 92. - Das gilt auch für Scholem selbst, dessen jüdische Selbstbe-sinnung mit der Lektüre von Heinrich Graetz' Geschichte der Juden beginnt, vgl. VBJ, 40. Yerushalmi, Zacbor, 94. - Diese These hat allerdings Vorgänger, so spricht der von Scho-lem zustimmend zitierte Wiener vom »Bruch mit der jüdischen Einheitskultur«, durch den erst das Problem einer historischen jüdischen Wissenschaft entstehe (Wiener,sche Religion im Zeitalter der Emanzipation, 3ff), auch die alte Wissenschaft des Ju-dentums steht im deutlichen Bewußtsein des Bruchs mit der Tradition (vgl. ebd., 175ff). Die moderne jüdische Historiographie müsse »zumindest funktional einige Prämis-sen verwerfen, die früher bei allen jüdischen Geschichtsvorstellungen eine grundle-

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EINLEITUNG: GESCHICHTSSCHREIBUNG VERSTEHEN 295

Scholem scheint der Geschichtsschreibung eine weitergehende Leistung zu-

zutrauen: Zentral für die historische Methode sei eine »Dialektik« zwischen

»Konstruktion« und »Destruktion«:

Es entspricht dem Wesen der historischen Kriti k als wissenschaftlicher Methode, daß sie sich dieser Dialektik ohnehin nicht entziehen kann. Ihre destruktive Auf-gabe - und zweifellos ist ihre natürliche und ins Auge stechende Aufgabe de-struktiv - kann sich auf der Stelle ins Gegenteil verkehren: in die Freilegung einer Masse von Fakten oder von Werten, die mit einem Mal die gesamte Perspektive verändern, die, ohne es zu wollen, Trümmer der Vergangenheit zu Symbolen eines verzauberten Lebens erhebt. Der kritisch arbeitende Historiker muß jeden Au-genblick mit der Möglichkeit rechnen, bei der nächsten Wendung seiner Vorge-hensweise auch als Restaurator in Erscheinung zu treten. (J VI , 19)

Diese Selbstbeschreibung beruht auf der zentralen Figur der Belebung: Der H i -

storiker »belebt« die »toten« Fakten der Vergangenheit, so daß sie wieder neue Be-

deutung gewinnen und ihrerseits lebendig die Gegenwart best immen. Es wird

sich allerdings auch immer wieder zeigen, daß Scholem nicht nur oft an der Lei-

stungsfähigkeit der eigenen Geschichte zweifelt, sondern daß diese Metapher für

Scholems tatsächliches Vorgehen wenig erhellend ist. Überhaupt scheint das ab-

strakte »Problem des Historismus« wenig erhellend für Scholems Histor iogra-

phie; die »kritische« Auffassung, daß Geschichtsschreibung letztlich dem »Leben«

nichts geben könne, weil sie nur »Fakten« erforsche, aber keine »Werte« schaffe,

ist nur das Spiegelbild jener Auffassung, nach der sie »Aufhebung« ihres Gegen-

standes sei. Sicherlich ist Scholem von Nietzsches Kriti k des Histor ismus vage

angeregt - wenn auch der Einfluß Nietzsches bei Scholem weit geringer ist als

bei seinen Zeitgenossen.532 Letztl ich kann aber Scholem Nietzsches Plädoyer,

gende Rolle spielten. Sie muß sich letzten Endes ihrem eigenen Gegenstand massiv entgegenstellen« (Yerushalmi, Zachor, 95). Tatsächlich ist Yerushalmi gleichzeitig zu bescheiden und zu unbescheiden: Einerseits verzichtet er vollkommen auf den An-spruch, »Arzt des Gedächtnisses« zu sein (ebd., 100), andererseits hat die Geschichts-schreibung (polemisch gegen »dialektische« Kontinuität wie bei Scholem) doch gerade die Aufgabe, endlich definitiv zu sagen, was es mit der jüdischen Geschichte auf sich habe (vgl. ebd., 107ff). - Yerushalmi ist dabei oft kritisiert worden, er würde Ge-dächtnis und Geschichte zu strikt auseinanderhalten, vgl. dazu Funkenstein, der den Begriff Geschichtsbewußtsein als vermittelnden Begriff einführen wil l (Funkenstein, Jüdische Geschichte, 19ff, 31 ff); allerdings ist gerade dieser Begriff durch seine dis-kursive Aufladung mißverständlich geworden.

532 Vor allem Robert Alter hat mehrfach nachdrücklich auf Nietzsches Einfluß hinge-wiesen, insbesondere dessen dionysisches Weltbild sei zentral auch für Scholem (Alter, »The Achievement of G. Scholem«, 75f); ähnlich sieht Biale in Nietzsche den entscheidenden Einfluß, hebt aber auch hervor, daß Scholem »never had any use for the Nietzschean language that became populär in the Germany of his youth« (Biale, Gershom Scholem, 37). - Diese Abstinenz ist für Scholem in der Tat bezeichnend, Kopp-Oberstebrink weist nur in der frühesten Schicht der Tagebücher Scholems, vor

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296 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

die »historische Krankheit« durch das Un- oder Überhistorische zu überwinden,

nichts abgewinnen; er steht der Verklärung der Kunst ebenso kritisch gegenüber

wie der Heraushebung der Einzelnen auf Kosten der Gesamtheit. Scholem bleibt

Historiker, und er bleibt ein Historiker für die Juden, wil l sich also die politische

Dimension historischen Schreibens nicht verschließen.

Weniger durch seine Krit i k des Histor ismus als durch seine eigenen histori-

schen Untersuchungen wie der Genealogie der Moral mag Nietzsche für Scho-

lem in anderer Weise wichtig gewesen sein: Hier läßt sich eine Mikropol i t i k des

Schreibens finden, die David Biale als »counter-history« bezeichnet hat. Diese

sei »the belief that the true history lies in a subterranean tradition that must be

brought into light, much as the apocalyptic thinker decoded an ancient prophecy

or as Walter Benjamin spoke of »brushing history against the grain«.«533 Der

Autor der Gegengeschichte - für Biale gehören nicht nur Scholem, sondern auch

Buber und Berdischewsky dazu - verändere also die Geschichte, indem er die

bekannten Ereignisse anders »wertet«; er ist wesentlich in Opposi t ion. Die Ge-

schichtsschreibung hat hier geradezu heroischen Charakter, der zugleich ihr

Wahrheitsanspruch ist. Denn eine Geschichte, die gegen herrschende Dogmen

ankämpft, scheint für Biale per se »wahrer« zu sein.534

dem Bruch mit Buber, eine Präsenz nietzscheanischer Gedanken nach (Kopp-Ober-stebrink, »Unzeitgemäße Betrachtungen«). Scholem leugnet mehrfach den Einfluß Nietzsches; er werde »amüsiert« durch die Behauptung, er stünde unter dem Einfluß des Ursprungs der Tragödie, »einer Schrift, die ich bis heute nicht gelesen habe« (Br II , 178, vgl. auch ebd., 75). Zwar hat Scholem die Unzeitgemäßen Betrachtungen Ende 1914 schon gelesen, allerdings ohne daß sie einen tieferen Eindruck hinterlas-sen hätten (T I, 51f). Es ist letztlich nicht besonders erkenntnisfördernd, eine diffuse Affinitä t zu Nietzsche nachzuweisen, wenn alle Zeitgenossen von Nietzsche beein-flußt sind. Zur Rezeption Nietzsches im Judentum vgl. auch Mattenklott, »Nietz-schcanismus und Judentum«, Krochmalnik, »Neue Tafeln«.

Biale, Gershom Scholem, 7. - Vgl. dazu meinen Artikel: »»Geschichte gegen den Strich bürsten««. Der Begriff des Wertes und der Wertung ist zentral für dieses Konzept der counter-history, vgl.: »Counter-history is a type of revisionist historiography, but where the revisionist proposes a new theory or finds new facts, the counter-historian transvalues old ones.« (Biale, Gershom Scholem 7) Der Wert-Begriff ist aber selber problematisch, neigt zur voluntarischen Reduktion der Geschichtsschreibung und müßte historisiert werden, dazu s. u. Kap. 3.7.3. - In der ersten Auflage von Gershom Scholem zieht Biale einen aufschlußreichen Vergleich von Scholems Geschichtsschreibung mit Gottfried Arnolds Unparteyischer Ketzergeschichte, beide setzen voraus »that an attack on dogmatism is a precondition for objeetive historiography.« (Biale, Gershom Scholem, 1. Aufl., 200) Bei Gottfried Arnold ist das allerdings von einer antihistorischen Theo-logie getragen: Das Heil ist verborgen, rein war es nur am Anfang, in die Geschichte geht es nicht ein und alle äußere Geschichte ist dementsprechend Verfall. Für Scho-lem stelle das Prinzip der Vitalität bzw. der Irrationalismus ein ähnliches Prinzip dar

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EINLEITUNG: GESCHICHTSSCHREIBUNG VERSTEHEN 297

Arnos Funkenstein hat Biales Begriff krit isch aufgenommen, aber sehr viel

stärker die politische Dimension betont: Gegengeschichten »erfüllen eine pole-

mische Funkt ion. Ihre Methode besteht darin, die bewährtesten Quel len des

Gegners systematisch entgegen ihrer Intent ion zu verwenden, »die Geschichte

gegen den Strich zu bürsten«. Sie wollen das Selbstbild, die Identität des Gegners

verzerren, indem sie seine Er innerung angreifen.«535 Gegengeschichten seien

daher weniger Befreiungen, sondern Spiegelungen, sie seien oft »nicht deshalb

unauthentisch und irreal, weil ihre Urheber bewusst lügen [...], sondern weil sie

durch und durch nachgeahmt sind, in jeder Einzelheit vollständig von dem Nar-

rativ abhängig, das sie umzustoßen trachten«. Damit eine Gegengeschichte

fruchtbar sei, »muß die Wirklichkeit, wie immer man sie definieren mag, »durch-

scheinen«, wie Heideggers »Sein«, ohne unmittelbar zu erscheinen«.536 Das macht

deutlich, daß eine fruchtbare Gegengeschichte sich nicht darin erschöpfen kann,

einfach die Wertvorzeichen zu verkehren. Soll etwas »durchscheinen«, so muß ein

neuer Sinn nicht nur sichtbar gemacht werden, sondern auch neu inszeniert wer-

den: Das alte Narrat iv muß anders gelesen werden, das neue Narrat iv anders er-

zählt werden; Gegengeschichte erschöpft sich daher nicht in der von Biale

betonten »Umwertung«, sondern sie setzt auch eine andere Weise der narrativen

Sinnbildung und eine andere Ar t der Lektüre voraus.537 Diese Voraussetzungen

methodischer Na tur muß man herausarbeiten, um den fruchtbaren Begriff der

Gegengeschichte zu konkretisieren.

(ebd., 201 ff), das übersieht aber doch, daß es bei Scholem keine solche Verklärung der Anfänge gibt und leitet Scholems Geschichtsschreibung überhaupt über Gebühr aus einer vorher feststehenden »Weltanschauung« ab statt aus dem konkreten historiogra-phischen Paradigma. Funkenstein, Jüdische Geschichte und ihre Deutungen, 39. Funkenstein, a.a.O., 51f. Funkenstein betont auch, dass Gegengeschichte ein be-stimmtes Konzept einer historischen »Tatsache« voraussetze: »Tatsachen« sind nicht das einfach Sichtbare, sondern erschließen sich erst der richtigen Deutung, sie haben eine besondere Dialektik von »Wesen« und »Erscheinung« (vgl. ebd., 42ff). Krochmalnik (»Neue Tafeln«) macht deutlich, daß Gegengeschichte Heterogenes bedeuten kann: Erstens kann sie Geschichte und Erinnerung überhaupt ablehnen zu-gunsten des »Lebens« oder anderer antihistorischer Prinzipien; zweitens richtet sie sich gegen die herrschende Art der Geschichtsschreibung, also gegen den Historismus; drittens stellt sie herrschende historische Urteile (etwa die Verurteilung der Kabbala) in Frage; viertens bedeute sie Mißtrauen gegen anerkannte Quellen: »Counter-History bedient sich hier der nietzscheanischen »Kunst des Mißtrauens«, der »Hermeneutik des Verdachts«« (ebd., 68), dazu s. u. Anm. 542. Schließlich kritisiert Gegengeschichte fünf-tens die angenommene Richtung der Geschichte: Der religiöse Fortschritt Israels wird zur Entfremdung von der Natur. Operativ sind bei Scholem vor allem die letzten drei Prinzipien.

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298 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.1.2 Geschichtsschreibung als Erzählung: Fabel und Historisierung. Die Kabbala historisch zu verstehen, heißt nicht einfach nur, sie »belebend« zu aktualisieren oder polemisch zu positionieren, es heißt zunächst einmal, sie überhaupt verständlich zu machen. Geschichtsschreibung hat ja eine doppelte Zeitlichkeit: Einerseits ver-gegenwärtigt sie die vergangene Zeit in der Gegenwart, andererseits »zeitigt« sie aber auch diese vergangene Zeit selbst als Ablauf aufeinander folgender Ereignisse in der Vergangenheit, als verständliche (»notwendige«) »Entwicklung« einer »Fabel«.538 Es ist dabei spezifisch für die neuzeitliche Historiographie, daß sie sich auf die Fabel konzentriert; das religiöse Gedächtnis und noch die exemplarische Geschichtsschreibung schreiben der Vergangenheit »direkt« eine Bedeutung zu, ohne den Umweg über die Zeitigung in ihrer Zeit. Demgegenüber stellt der Hi-storismus einen entscheidenden Wandel dar. Der Sinn von Rankes berüchtigtem Ziel, herauszufinden »wie es eigentlich gewesen sei«, ist ja nicht ein naiver Fakten-positivismus, sondern die Konzentration auf die Fabel und die Abwehr anderer Formen der Verständlichkeit, etwa spekulativer oder gesetzmäßiger Natur. Die beanspruchte Objektivität der Geschichtsschreibung ist weniger erkenntnistheo-retisch als (meta-)politisch begründet: Der Historiker beansprucht, »unparteiisch« zu sein, insofern er sich dem Verlauf der Geschichte nicht widersetzt und keine künstlichen Sonderideen etwa naturrechtlicher oder politischer Art in seiner Dar-stellung einmengt, sondern den »natürlichen« Standpunkt der Nation einnimmt.

Scholem ringt wie die anderen jüdischen Historiker seiner Zeit damit, die jü-dische Historiographie an das Vorbild des Historismus anzupassen.539 Auch er will die Kabbala »anschaulich« machen, indem er sie »erzählt«, auch er vermeidet dabei, Partei zu ergreifen und wil l »die Ereignisse selbst« sprechen lassen; auch er wil l vom »natürlichen« Standpunkt des »ganzen« Judentums aus sprechen. Wie wir sehen werden, benutzt Scholem auch immer wieder die historistische Metapho-rik, er spricht von »kontinuierlichen«, »organischen« usw. Entwicklungen, dabei wird die »Wohlgeformtheit« der Erzählung nicht immer ohne Mühe erzeugt.

538 Zum Begriff der Fabel, vgl. White, Metahistory, 19ff, sowie Veyne, Geschichtsschrei-bung, 36ff. Veyne unterscheidet die Fabel scharf von einer Erklärung: Geschichte »ist und bleibt grundsätzlich eine Erzählung, ein Bericht, und was man Erklärung nennt, ist kaum mehr als die Eigenschaft der Erzählung, sich in Form einer verständlichen Fabel zu organisieren« (ebd., 69). Der Begriff der »Erzählung« ersetzt dabei den älteren der »Entwicklung«, den etwa Troeltsch breit diskutiert (Ges. Schriften, Bd. III , 221ff).

539 Durch die Nationalisierung des historischen Denkens nach Ranke gerät die jüdische Historiographie des 19. Jahrhunderts in ein Dilemma, weil sie ihren Gegenstand nicht als nationales Individuum denken kann und will , vgl. dazu Liebeschütz, Das Juden-tum im deutschen Geschichtsbild, bes. 113ff, sowie Myers, Re-Inventing the Jewish Past, der Scholem insbesondere im Rahmen der »Jerusalemer Schule« diskutiert, wel-che als (verspäteter) nationaler Historismus die alte, stark philologisch ausgerichtete Wissenschaft des Judentums kritisiert und eine »organische« Sichtweise der jüdischen Geschichte fordert.

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EINLEITUNG: GESCHICHTSSCHREIBUNG VERSTEHEN 299

Allerdings wird diese Erzählung nicht frei gewählt. Generell bewegt sich der Historiker bereits in einem Feld der Phänomene, das anders als in der fiktiona-len Literatur - oder jedenfalls in wesentlich höherem Maße als dort - durchziplinare Standards bestimmt ist, die festlegen, was eigentlich als historisches Ereignis gelten kann.

3.1.3 Geschichtsschreibung als Lektüre: Das Paradigma und die Forschung. Die neuzeitliche Geschichtsschreibung entsteht nicht nur durch narrative Inszenie-rung, nicht weniger entscheidend ist die kritische Behandlung der Quellen, die mit dem Historismus aufkommt. Hierbei handelt es sich nicht um eine neutrale und »hilfswissenschaftliche« Voraussetzung, sondern in der Entscheidung, als was die Quellen überhaupt gelesen werden, liegt eine wesentliche Vorentscheidung über die Natur der Geschichte. Historiographie ist nicht erst dort am Werk, wo narrativ die historische Synthese vollzogen wird, sondern bereits in der For-schung.540 Diese richtet sich in der Regel nicht nach einer ausgeführten strengen Methodik, aber sie orientiert sich an den jeweils fach- bzw. schulspezifischen »disziplinaren Standards«, einem meist eher diffusen Gemenge von leitenden Fra-gestellungen, Grundbegriffen, als akzeptabel angesehenen methodischen Mitteln usw.; ich werde dies als das jeweils spezifische »Paradigma« der Geschichts-schreibung bezeichnen.541

Der wissenschaftliche Aspekt der Historiographie ist gerade durch die Emphase auf ihrer narrativen Dimension und ihrer damit einhergehenden Literarisierung in den Hintergrund getreten. So betont Veyne zwar die Rolle der »Topik« - der Fragen, die der Historiker an die Quellen stellt (Veyne, Geschichtsschreibung, 151 ff, 162ff) -, diese stellt aber für ihn kein Paradigma dar, sondern selbst wieder nur Erzählung: »Theo-rien, Typen und Begriffe sind ein und dasselbe: Resümees von Fabeln, die fertig zur Verfügung stehen.« (ebd., 88). Certeau hat mehrfach diese Verdrängung der histori-schen Forschung und Technik kritisiert, Geschichte sei Wissenschaft und Erzählung: »Sie schwankt zwischen »Geschichte konstruieren« und »Geschichten erzählen« hin und her, ohne daß sie sich auf das eine oder das andere reduzieren ließe.«(Certeau, Das Schreiben der Geschichte, 132) Der Historismus stellt menschliches Handeln auch deshalb ins Zentrum der Geschichte, weil das ermöglicht, individuelle Quellen als Ausdruck der (mehr oder weniger bewußten) Intentionen zu deuten. Politik ist ihm auch deshalb zentral, weil vor allem diplomatische Archive ausgewertet werden. Die für die Annales-Historiker so wichtigen statistischen Quellen würden für den Historisten gar keine Geschichte bedeuten, sie bleiben für ihn stumm. Kuhns Begriff des Paradigmas soll hier auch dazu dienen, die historische und soziale Konkretion der Wissenschaft zu verstehen. (Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 33ff, 60ff) Gerade in den »weichen« Wissenschaften spielt die »Schule« als legitimierende Institution eine entscheidende Rolle bei der Durchsetzung der dis-ziplinaren Standards. Das Paradigma ist hier weniger in (kaum vorhandenen) Lehr-büchern zu suchen als im »modus procedendi« der historischen Forschung selbst, vgl. dazu Rüsen, Rekonstruktion der Vergangenheit, 9ff und 87ff.

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300 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Der Blick auf das Paradigma macht auch eine wesentliche Verschiebung sicht-

bar, die im 19. Jahrhundert am Rande der historiographischen Forschung ent-

springt, in der politischen Ökonomie, der Al tertums- und der Religionswissen-

schaft. Hier entstehen die methodischen Voraussetzungen der counter-History:

Di e Quel len werden nicht mehr einfach als durchscheinender Ausdruck ihres

Urhebers, sondern als Monument, als Resultat eines Produkt ionsprozesses be-

trachtet.542 Wie wir insbesondere an der Bibelkritik sehen werden, konstituiert

das eine neue Ar t der Lektüre der Überl ieferung und eine andere Weise, Ge-

schichte zu schreiben. Diese »Lektüre gegen den Strich« gewinnt offensichtlich

an Bedeutung in dem Maße, in dem der Gegenstand der Geschichte bzw. die

Quellen Widerstand leisten: Die Quellen des Altertums zwingen zu besonderen

Formen der Interpretat ion, weil sie fremd und spärlich sind; die der Bibelwis-

senschaft sind im Gegenteil kulturell noch zu nah: Sie haben eine andere Ver-

ständlichkeit - eben die einer religiösen Überlieferung - , mit der die historische

Kriti k zuerst brechen muß.5 43

Bei der Erforschung der Kabbala verbinden sich die beiden gerade erwähnten

Probleme historischer Methode: Die Quellen sind für Scholem bereits »tot«, un-

lesbar und entfernt, charakteristischerweise spricht er immer von »Trümmern«, zu-

gleich ist die Kabbala ihrem Selbstverständnis nach eine religiöse Traditionslitera-

Vgl. zu dieser entstehenden »Hermeneutik des Verdachts« allgemein Foucault, »Nietzsche, Freud, Marx« und Ricoeur, Die Interpretation, 45ff. - Als einer von we-nigen Zeitgenossen hat Ernst Cassirer die epochale Bedeutung dieser Verschiebung hervorgehoben - allerdings unter Vergessen des Marxismus, der auch für Scholem keine zentrale Rolle spielt und auf die wir hier daher auch nicht eingehen. Es sei für die historische Erkenntnis entscheidend, daß bei D. F. Strauß »der Mythos unent-behrliches Organon der historischen Erkenntnis ist. Bis dahin sah man in den Schöp-fungen des Mythos nur eine Schranke dieser Erkenntnis; sie galten als der Schleier, der uns die eigentliche, die tatsächliche Geschichte verdeckt.« (Cassirer, Daskenntnisproblem, Bd. IV, 311) Hier könne man die Entstehung »einer besonderen Kunst der Deutung, einer historischen »Hermeneutik«« beobachten, »die um so schwieriger wird, je weiter der Gegenstand, um den es sich handelt, von uns entfernt ist und die ganz neuer Hilfsmittel bedarf, sobald wir uns der Grenze nähern, an der Historie und Prähistorie ineinander übergehen.« (Ebd., 326)

Dieser epistemische Bruch wird etwa an Rankes Ablehnung von Wellhausens Kriti k der biblischen Überlieferung und Hegels Ablehnung von Niebuhrs kritischer Be-handlung der altrömischen Geschichte deutlich. Macht nicht die Historisierung an sich den Unterschied aus - auch Hegel und Ranke denken ja historisch -, sondern das Verhältnis zur Optik der Quellen (vgl. dazu Liebeschütz, Das Judentum im deutschen Geschichtsbild, 60ff bzw. 82ff, vgl. auch Hegels Kriti k der »reflektierenden Ge-schichtsschreibung«). - Gegen Yerushalmis Konzept eines quasi natürlichen religiö-sen »Gedächtnisses« wäre zu betonen, daß es sich hier um ein reflektiertes System handelt, das seiner Aneignung in zahllosen Polemiken gegen die Historisierungderstand leistet und gerade die Problematik der historischen Kriti k zuspitzt.

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EINLEITUNG: GESCHICHTSSCHREIBUNG VERSTEHEN 301

tur, die - wie wir bereits im letzten Teil gesehen haben - wesensfremd gegenüber der historischen Fragestellung ist. Scholems Gegenstand ist daher in doppelter Hinsicht verschlossen; seine Lektüre kann insofern nicht einfach als Wieder-zum-Leben-Erwecken verstanden werden, als sie gerade darin besteht, den Gegenstand in einer ganz anderen Rationalität zu rekonstruieren als er sich ursprünglich selbst konstruiert hat und jahrhundertelang gelesen wurde. Anders als im Historismus ist es der kritischen Lektüre gerade nicht mehr möglich, in unmittelbarer histori-scher »Anschauung« den Sinn des Geschehens zu ermitteln, sie bedarf leitender Annahmen, um überhaupt »hinter« den Text ihrer Quellen zu kommen.544

Scholem leugnet in der Regel, ein solches Paradigma zu haben, er ist sparsam mit methodischen Reflexionen und bezeichnet sich am liebsten als »bloßer Phi-lologe«. Das ist nicht nur ironisches Maskenspiel, sondern liegt auch in der Natur der Sache, ist doch das Paradigma für den in ihm sozialisierten Wissen-schaftler selbstverständlich. Es bedarf daher des Vergleichs mit anderen Posi-tionen, in unserem Fall werden diese vor allem aus der »Religionsgeschichtlichen Schule« stammen, in der Scholem wissenschaftlich sozialisiert ist. Insbesondere die von Scholem verwendete Typologie (»Mystik«, »Mythos«, »Gnosis«, »Messia-nismus«, »Symbol«) stellt keine »weltanschaulichen« oder »philosophischen« Hin-tergrundannahmen Scholems dar, sondern läßt sich aus der Forschungslogik der »Religionsgeschichte« verstehen. Indem man so auf das verwendete Paradigma achtet, kann man die Vorstellung vermeiden, ein Historiker könne einfach nach Belieben und persönlicher Kreativität die »Wertungen« umkehren.

3.1.4 Geschichtsschreibung als Arbeit: >Grenzen< der Geschichte. Geschichts-schreibung ist nicht einfach ein freier Entwurf, sie bewegt sich in einem gemachten Feld und ist eine Arbeit, nicht eine Laune. Als Arbeit besteht Geschichtsschrei-bung nicht nur darin, Phänomene in einer Fabel anzuordnen, sondern setzt sich auch mit etwas Anderem auseinander, sie hat wesentliche Grenzen, und wenn wir Geschichte lesen, dann auch wegen dieser Grenzen.545

Allerdings sind diese methodischen Elemente nicht unbedingt explizit, bei Wellhau-sen spielt eine mehr oder weniger bewußte Vorstellung der Evolution eine Rolle. Ge-rade weil diese Anschauungen aber der vorliegenden religiösen Verständlichkeit der Texte widerstreiten, gibt es schon hier eine Tendenz, sie explizit zu machen, wie man etwa an den Vorbemerkungen zu Wellhausens Werken sehen kann. Noch deutlicher wird diese Tendenz in der Religionsgeschichtlichen Schule, die ihre Annahmen auch systematisch auszuarbeiten versucht. Hier stützte ich mich auf Certeau und seine Interpretation des historischen Diskurses als Diskurs der Grenze, er scheint mir den spezifischen Charakter der Historiographie besonders deutlich darzustellen, mit Rücksicht auch auf die historische Forschung und in angenehmer Weise unaufgeregt durch die neueren Debatten um den Charakter der Historiographie, vgl. dazu auch meine Rezension »Lesen im Land des Anderen«.

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302 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Zum einen setzt sich jede historische Forschung mit anderer Forschung aus-einander, das ist nicht nur wissenschaftliche Gründlichkeit, für uns Leser werden die Texte dadurch auch vielstimmig. Geschichtsschreibung präsentiert die Insti-tution »Historiographie«, das gibt ihr ein zusätzliches Gewicht und eine besondere Art von Referenz. Jede Fußnote bedeutet auch: Es ist mehr dabei als hier steht. Noch wichtiger ist jene Grenze, die sich im »Widerstand« der Quellen manifestiert, auch sie hängt eng mit der Geschichte als (paradigmengeleiteter) Lektüre zusam-men: Während im Idealfall einer historistischen Erzählung alle verständlichen Mo-mente aus den Quellen herausgegriffen werden und die Quellen selbst dabeischwinden (Geschichte wird »nacherzählt«), konzentriert sich die kritische Lek-türe auf die Quellen selbst. Als Zitat steht die Quelle neben der historischen Interpretation, das macht deutlich, daß die Interpretation des Historikers nicht dasselbe sagt wie die Quelle: Nicht alles ist lesbar geworden, der Historiker »be-herrscht« die Überlieferung nicht einfach, es ist mehr dabei als hier steht. Eine historistische Erzählung von der Kabbala würde die Geschichte der großen My-stiker erzählen und jeweils ihr Werk »verstehen«, sie würde uns die Vergangenheit nahebringen, so daß wir sie gleichsam mitleben. Anders Scholems religionsge-schichtliche Darstellung; die Repräsentation der Vergangenheit »spaltet« sich gleichsam: Auf der einen Seite soll der Gegenstand nicht nur »angeschaut«, son-dern in seiner inneren Logik verständlich gemacht werden, auf der anderen Seite erscheint, innerhalb dieser Logik, der Gegenstand selber in seiner radikalen Fremdheit. Wenn Geschichtsschreibung eine Auseinandersetzung mit dem »Rea-len« ist, dann weniger durch das, was sie als »wirkliche« Vergangenheit repräsen-tiert, als durch das, was sich ihr immer entzieht, was weder in ein (wissenschaftli-ches) Wissen aufgehoben, noch einfach (künstlerisch) frei gestaltet werden kann.

An dieser Grenze taucht auch das bisher ganz vernachlässigte Problem des Zeitabstands auf.546 Gerade in Gestalt der Unverständlichkeit, an den blinden Flecken der Interpretation, wird deutlich, daß das Interpretierte in eine andere

546 Der Zeitabstand wird in den narratologischen Theorien über Geschichte so gut ver-nachlässigt wie in den szientifischen. Für Veyne »braucht der Historiker den Begriff der Zeit nicht notwendigerweise. Er braucht nur den Begriff des intellegiblen Pro-zesses (wir würden sagen: den Begriff der Fabel)« (Veyne, Geschichtsschreibung, 56). Die szientifische Vorstellung kritisiert Certeau: »Die Objektivierung der Vergan-genheit hat drei Jahrhunderte hindurch die Zeit zum Ungedachten einer Disziplin werden lassen, die sie bis heute nur als taxonomisches Instrument benutzt.« (Cer-teau, Theoretische Fiktionen, 81) - Nicht zufällig taucht das Problem des Zeitab-standes im 19. Jahrhundert gerade in der Geschichte der Religion auf, denn hier prallt das außerordentlich starke Interesse an normativ relevanter Aktualisierung auf die fortschreitende Erkenntnis der Fremdheit der historischen Religion, paradigmatisch ausgesprochen von Overbeck: Historisches Verstehen sei nur »um den Preis gänzli-cher Lossagung« vom Gegenstand zu haben, »um den Preis der Erkenntnis, wie fern man einem Gegenstand steht« (Overbeck, Das Johannesevangelium, 391).

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EINLEITUNG: GESCHICHTSSCHREIBUNG VERSTEHEN 303

Zeit gehört, daß es für uns zunächst unverständlich ist und nur »mit Gewalt« wieder verständlich gemacht werden kann. Diese Entfremdung vom Gegen-stand macht die Historiker des »Späthistorismus« - Bruckhardt, Overbeck, Troeltsch, Weber - melancholisch, sie verlieren den Optimismus, alles verste-hen zu können und alles für die Gegenwart »lebendig« zu machen, ihre Arbeit bleibt zweideutig zwischen Tod und Leben.

Wir haben schon gesehen, daß das Problem der Aneignung bzw. das kom-plexe Verhältnis zwischen Historiographie und »Tradition« auch für Scholem wesentlich ist. Die asketisch betriebene »rein historische« Erforschung der Kab-bala fasziniert, sie erlaubt es, viel von der Kabbala selbst sichtbar zu machen, sie erlaubt auch den Ausdruck einer gewissen Melancholie, eines Zweifels ange-sichts des Gegenstandes, den vollständig zu beherrschen Scholem nicht bean-sprucht, der aber - gerade im so eröffneten Spielraum von Nähe und Distanz -, in seiner vollen Größe inszeniert werden kann.

Wie sich gezeigt hat, hat das historiographische Schreiben verschiedene Aspekte, deren Interaktion man im Blick behalten muß. Ich werde mich vor allem auf das Paradigma konzentrieren, da mir dieses Moment nicht nur bei Scholem, sondern insgesamt in der Intellektualgeschichte der Historiographie vernachlässigt scheint: Mich interessiert, wie Scholem mit einer bestimmten >Z.e/er«retechnik< die kabbalistische Überlieferung aufschließt und damit das Projekt der »Aneignung der Vergangenheit« fortsetzt, das wir schon im letzten Teil thematisiert haben. Dazu ist es m. E. nötig, weit in das Gebiet der Wissen-schaftsgeschichte, insbesondere der »Religionsgeschichte«, auszuholen, andere Aspekte wie Scholems Verhältnis zur »Wissenschaft des Judentums« und seine Stellung in der Forschungsgeschichte der Kabbala werden hier nur am Rande erörtert werden können.

Bevor ich mich Scholems Geschichte der Kabbala zuwende, werde ich daher den Horizont seines Projektes als Religionsgeschichte umreißen: Zunächst soll das Paradigma der Religionsgeschichte als solches dargestellt werden (3.2), dann das in ihm implizierte Verständnis von Mythos (3.3) und Mystik (3.4) auch bei Scholem aufgewiesen werden. Im vierten Kapitel dieses Teils werde ich vor allem die Rolle der Typologie in Scholems Darstellung der Kabbala untersuchen, das wird insbesondere am Problem des »Ursprungs« der Kabbala aus der »Gnosis« erörtert (3.5). Danach werde ich anhand des Höhepunkts von Scholems Kabbala-Darstellung, der Krise des Sabbatianismus im 17. Jahrhundert, die narrative Mo-dellierung darstellen, die Scholem hier den Ereignissen gibt (3.6). Schließlich wird anhand der Nachgeschichte des Sabbatianismus nach dem Verhältnis der Ge-schichte der Kabbala zur Gegenwart gefragt werden, damit kann auch der Ort umrissen werden, den Scholem für sein eigenes Schreiben sucht. (3.7).

Page 303: Gershom Scholem Politisches, Esoterisches Und Historiographisches Schreiben

304 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.2 Das Paradigma der Religionsgeschichte

Schon in seiner Dissertation kritisiert Scholem die jüdischen Historiker, welche

»die Entwicklung der Kabbala prinzipiell mehr in phi losophiegeschichtl ichen

als in religionsgeschichtl ichen Zusammenhängen suchten«5 4 7; 1921 betont er,

daß die Kabbala »erst von den Religionsgeschichtlern wieder als ein legitimer

Gegenstand der Forschung scheint bewiesen werden zu müssen« (T II , 659). In

seinem ersten Aufri ß seines Forschungsprogrammes von 1925 schreibt er, das

Ziel der Kabbala-Forschung müsse »die Kenntnis und Niederschrift der

wicklungsgeschichte der Kabbala« sein (J VI , 5). Zwar scheint diese geschicht-

liche Erkenntnis für Scholem hier noch Mittel zum Zweck der metaphysischen

Erkenntnis zu sein, aber er n immt doch wie selbstverständlich an, daß die

senschaftliche Erforschung der Kabbala (religions)/j?srorisc/7 sein muß. Tatsäch-

lich beschäftigt sich seine eigene Forschung dann auch zunächst vor allem

damit, die Entwicklungsgeschichte der Kabbala zu untersuchen, auch später

bleibt seine Beschäftigung mit der Kabbala historisch orientiert. Das ist nun -

es ist wichtig, sich das klarzumachen - , keineswegs die einzige Form, in der man

die Kabbala wissenschaftlich darstellen kann.548 U m Scholems Ansatz zu ver-

stehen, müssen wi r das von ihm implizi t vorausgesetzte wissenschaftl iche

Paradigma untersuchen, dabei drängt sich der Vergleich mit der »Religionsge-

schichtlichen Schule« auf.549 Es geht hier, der impliziten Na tur wissenschaftli-

Scholem, Das Buch Bahir, 20, Anm. So ist etwa Francks älteres Werk Die Kabbala am philosophischen Problem des Pant-heismus orientiert, Idels Kabbalah gliedert sich nach sachlichen Problemen und Mai-ers Die Kabbala folgt im Aufbau der Symbolik der zehn Scphiroth. - Insbesondere ist bemerkenswert, daß Scholem auch in der Zeit der Dominanz der Religionsphä-nomenologie immer an der historischen Orientierung festhält. Biale vergleicht Scholem und Hans Jonas als »heirs and dissenters from the Religi-onswissenschaftsschule« (Biale, Gershom Scholem, 66), im Vergleich zu Jonas scheint mir Scholem aber sehr viel näher an der klassischen Methode, dazu s. u. Kap. 3.5.3. -Hamacher diskutiert dieses Verhältnis zwar breit (Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, v. a. 73ff, 170ff, 296ff), arbeitet aber den Unterschied zwi-schen Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie (auf letztere konzentriert sie sich vor allem) nicht deutlich heraus und bringt sich dadurch um den wesentli-chen Gewinn ihrer Ausführungen, dazu s. u. Kap. 3.4. - Der Vergleich Scholems mit der Religionsgeschichtlichen Schule soll keineswegs dazu führen, ihn zu verchristli-chen; natürlich gibt es zahlreiche fundamentale Unterschiede, gerade was die Be-wertung des Judentums angeht (vgl. dazu etwa Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 99ff); entscheidend ist aber, daß Scholem mit den Religionsge-schichtlern einen impliziten Vorbegriff der Wissenschaft teilt.

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DAS PARADIGMA DER RELIGIONSGESCHICHTE 305

eher Paradigmen entsprechend, weniger um einzelne Ergebnisse, historische Werturteile oder eine »Philosophie«, die Scholem mit den »Religionsgeschicht-lern< teilt, sondern um das diffuse Gefüge von Themenwahl, leitenden Fra-gestellungen, Operationalisierungen, Begriffen und Methodenstandards, in dem er sich mehr oder weniger selbstverständlich bewegt. Da Scholem dies an keiner Stelle gesondert ausweist, erscheint es mir angebracht, zunächst das Paradigma der »Religionsgeschichte« als solches darzustellen, um dann in verschiedenen Schritten Scholems Auseinandersetzung damit zu thematisieren.

Al s »Religionsgeschichtliche Schule« im engeren Sinne bezeichnet man die Gruppe junger Theologen und Bibelwissenschaftler, die sich Ende des neun-zehnten Jahrhunderts im lockeren Zusammenschluß der Erforschung der Ge-schichte und Vorgeschichte des Christentums widmen; zu ihr zählen vor allem Hermann Gunkel, Wilhelm Bousset, William Wrede, Hugo Greßmann und Ernst Troeltsch.550 Hier werde ich auch den Literarkritiker Julius Wellhausen als wichtigen Vorgänger der »Religionsgeschichtliche Schule« betrachten und nur im Umriß seine Differenz zur eigentlichen »Religionsgeschichte« erwähnen.

Die Religionsgeschichtliche Schule bildet in gewisser Weise den Abschluß der historischen Theologie des neunzehnten Jahrhunderts, sie reagiert bereits auf deren Krise und wird wiederum ihrerseits abgelöst durch den antihistori-stischen Gegenschlag der dialektischen Theologie, findet jedoch innerhalb der Formgeschichte Rudolph Bultmanns und Martin Dibelius« eine Fortsetzung. Sie ist daher sowohl abzugrenzen gegen die ältere historische Theologie und vergleichende Religionswissenschaft als auch gegen die spätere allgemeine Re-ligionswissenschaft vor allem phänomenologischer Orientierung. Das Spezifi-sche der Religionsgeschichtler besteht dabei nicht in einer neuen Religions- oder Geschichtsphilosophie - diese wird selten ausgearbeitet und bleibt dann auch im wesentlichen konventionell -, sondern in einer neuen Operationalisierung der Frage nach der Geschichte der Religion.55' Diese Operationalisierung be-

Die Gruppenkennzeichnung »religionshistorische Schule« ist eine äußere (tatsächlich bestand hier nie ein Schulverhältnis) und ist heute umstritten, mag hier aber aufgrund ihrer Prägnanz gestattet sein. Von der umfangreichen Sekundärliteratur vgl. bes. zeit-genössisch, Gressmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, die Monographien von Drescher, Ernst Troeltsch, Verheule, Wilhelm Bousset, und Klatt, Hermann Gunkel sowie Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, der die Religionsgeschichtliche Schule explizit als Paradigma aufgrund ihrer Forschungs-praxis darstellt. Eine knappe Zusammenfassung gibt Lüdemann, »Die »Religionsge-schichtliche Schule««; bei Koch, Was ist Formgeschichte? findet sich eine prägnante Darstellung der Methoden. Beispielsweise übernimmt Bousset die Gewand-Metaphorik (die »einfache Botschaft« in »wechselnden Gewändern«) geradezu exzessiv, obwohl er methodisch über sie hin-aus ist, ähnliches gilt für einen diffusen Evolutionismus und den liberalen Religions-

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deutet nicht nur, daß die Religion konsequent einer historischen Fragestellung unterworfen wird, sondern verändert auch die historische Methode selbst.552

Das kann man schon in Wellhausens Weiterführung der Pentateuch-Kritik erkennen, deren wesentliche Innovation in der Gleichzeitigkeit von Geschicht-sentwurf und Quellenkritik liegt.553 Für ihn ist bekanntlich nicht nur das (leicht isolierbare) Deuteronomium, sondern auch eine Schicht der ersten vier Bücher des Pentateuch, die »Priesterschrift«, eine nachträgliche Hinzufügung. Sie spie-gelt eine viel spätere Entwicklung wider, daher sei die Vorstellung, das gesamte Gesetz habe seit dem Sinai bestanden, nichts weiter als eine zurückprojizierte Fiktion; von ihr aus sei aber die gesamte Überlieferung einer Überarbeitung un-terzogen worden, die Wellhausen immer wieder als »Schematisierung« und »Verstümmelung« bezeichnet.554

Wellhausen meint, durch Abtragen dieser Redaktion eine israelitische Urzeit freilegen zu können, in der Natur und Religion noch nicht im Widerspruch, hei-lig und profan noch nicht getrennt sind.555 Anders etwa als Herder geht Well-hausen dabei nicht von den idyllischen Patriarchengeschichten - für Herder »die vertraulichste, häuslichste, unschuldig wahrste Altväter- und Hirtengeschichte« -aus, sondern von den Erzählungen der alten kriegerischen Eidgenossenschaft.556

Charakteristisch für diese Urzeit ist daher weniger die (romantische) Einheit mit

begriff. Ich werde hier die methodischen Innovation herauskehren und dabei jene ideologischen Voreingenommenheiten ausblenden. Immer wieder wird betont, daß diese historische Methode dieselbe wie die der profa-nen Geschichtsschreibung sei. So hebt Bousset hervor daß es »keine verschwdenentel hüben und drüben [gibt], es gibt nur eine und dieselbe Wissenschaft mit demselben Verfahren und denselben Gesetzen. Die Behauptung einer spezifisch theologischen Wissenschaft, einer theologischen Philologie oder Historie oder Erkenntnistheorie be-ruht auf grober Selbsttäuschung.« (Bousset, »Religion und Theologie«, 30) Wir wer-den weiter unten (Kap. 3.7.1) auf Troeltschs Diskussion dieses Problems und damit auch auf die methodische Seite des Problems des Historismus eingehen. Über Wellhausen vgl. Perlitt, Vatke und Wellhausen, Smend, »Wellhausen und seine Prolegomena«, und vor allem die sehr luzide (und von Scholem übrigens gelobte, vgl. Br II , 24) Untersuchung von Boschwitz, Julius Wellhausen. Alle drei kritisieren das Mißverständnis von Wellhausens Hegelianismus oder Evolutionismus. Vgl. auch meinen Aufsatz »»Geschichte gegen den Strich bürsten««. Wellhausen, Prolegomena, 226, 217, passim. Das könne man etwa an der jehovistischen und der priesterschriftlichen Schöp-fungsgeschichte erkennen: »Dort ist [...] die Natur ein geweihtes Mysterienspiel, hier ist sie [...] Sache, Objekt.« (Wellhausen, Prolegomena, 306) Vgl. auch: »Man darf viel-leicht sagen, daß ohne diesen Dualismus des [nachexilischen] Judentums die mecha-nische Naturwissenschaft nicht vorhanden wäre.« (ebd., 315) J. G. Herder, Theologische Schriften (Werke Bd. 9/1), 170. - Für Wellhausen ist Her-ders Einstellung »sentimental«, vgl. dazu Boschwitz, Wellhausen, 22ff.

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der Natur als die »charismatische« Ordnung der Gesellschaft. Wellhausen spricht hier von einer ursprünglichen »Theokratie«, nicht als »Anstalt«, als separate hei-lige Ordnung (von der die Priesterschrift spricht), sondern als »Idee«, als »engste Durchdringung der Religion und des Volkslebens, des Heiligen und des Natio-nalen«, in der es noch »keine von der Gesellschaft losgetrennte hypostasierte Ordnung, keine Obrigkeit, keine Amtsgewalt« gibt.557

Aber schon in der Königszeit beginnt gleichzeitig ein Prozeß der Organisation und der De-Mythisierung, eine »Scheidung zwischen Natur und Gottesdienst, zwischen Weltlichem und Geistlichem [...], die das Altertum nicht kannte«.558 Die-ser Wandel ergreift alle Gebiete und führt zur »Entfärbung« der Sagenwelt und zur »Denaturierung« des Kultes, insbesondere der Feste, die ihre »Beziehung zur Ernte und zur Viehzucht« verlieren und zu »historischen Erinnerungsfiguren« werden.559 Diese Entwicklung gipfelt nach dem Untergang des Staates in der Her-ausbildung jener »Theokratie als Anstalt«, die in der Priesterschrift ihren Nieder-schlag findet: Infolge der politischen Machtlosigkeit entsteht das »unpolitische Kunstprodukt« der Hierokratie, welche der »Fremdherrschaft zur notwendigen Ergänzung« bedarf.560 Die »Schematisierung« durch die priesterschriftliche Re-daktion ist also kein isolierter »Priesterbetrug« sondern nur Ausdruck eines sehr viel grundsätzlicheren Wandlungsprozesses, einer andauernden Rationalisierung, welche die gesamte Religionsgeschichte Israels prägt.

Anders als seine Vorgänger wil l es Wellhausen nicht bei der »mechanischen Zergliederung« belassen, es komme vielmehr darauf an, »die ermittelten Einzel-schriften in gegenseitige Beziehung zu setzten, sie als Phasen eines lebendigen Processes begreiflich und auf die Weise eine stufenmäßige Entwicklung der Tra-

Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 20. Daher gibt es in Wellhausens Konstruktion auch einen starken anarchistischen Zug, den Boschwitz sehr klug her-ausarbeitet (vgl. Boschwitz, Julius Wellhausen, 52ff). Nicht umsonst stützt sich Bu-bers anarchistisch inspirierte Lektüre der israelischen Urgeschichte in Königtum Gottes stark auf Wellhausen (vgl. Buber, Werke, Bd. IL, 546f, 549ff). Vgl. dazu Scho-lems Brief an Buber am 29.6.1932, zitiert nach: Buber, Briefwechsel, Bd. II , 440f. Wellhausen, Israelitische und jüdische Geschichte, 172, 22. Wellhausen, Prolegomena, 315; Israelitische und jüdische Geschichte, 130;mena 422. - Vgl. auch über die Sage: »in der alten Zeit ist sie dem grünen Baume zu vergleichen, der aus dem Boden wächst, wie er will und kann, hinterher ist sie dür-res Holz, das mit Zirkel und Winkelmaß regelrecht zubehauen wird« (ebd., 359). Wellhausen, Prolegomena, 421. - Es gibt also eine genuin politische Dialektik der Lektüre, vgl. Boschwitz: »Das ständige Festhalten an dem komplementären Verhält-nis von Religion und politischer Freiheit ist der Nerv der historischen Kriti k und Konstruktion Wellhausens« und: »Von hier aus wird der Begriff der Heiligkeit in sei-ner Würde zersetzt, indem die reale politische »Voraussetzung seiner Möglichkeit« [Wellhausen, Prolegomena, 147f] aufgewiesen und immer wieder eingeprägt wird.« (Boschwitz, Wellhausen, 37)

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dition verfolgbar zu machen.«561 Die Kriti k muß also über das negative Ergebnis der Uneinheitlichkeit des Textes fortgetrieben werden zur Erkenntnis der inne-ren Entwicklung, möglich ist das nur durch eine zweite Lektüre, in der die un-tersuchten Schriften nicht mehr als (mehr oder weniger verläßliche) Quellen einer anderen Zeit fungieren, sondern selbst als historische Tatsachen der Zeit ihrer Ab-fassung. In dieser neuen Lektüre entwirft Wellhausen also vom selben Quellen-bestand ausgehend - es gibt ja keine unabhängigen Quellen - ein alternatives Bild der Geschichte, indem er auf die Brüche und Widersprüche im Text bzw. auf die Abweichungen der verschiedenen Quellenschichten achtet, die auf die Umarbei-tung hinweisen. Es handelt sich also um eine »symptomatische Lektüre«, die auf die Spuren des Ungesagten, des »Verdrängten«, im Text achtet: »Streng einheitlich ist diese Betrachtungsweise, die sich durch das ganze Alte Testament hindurch-zieht. Aber sie ist erst nachträglich gemacht und aufgetragen. Die neuere For-schung hat diese Einheit gesprengt. Unter der gleichförmigen Oberfläche zeigen sich disparate Reste von Unterschichten, die man hervorheben muß, um zur hi-storischen Wahrheit zu gelangen.«562 Wellhausen liest seine Quellen mit Inten-tion und Methode »gegen den Strich«, schon dadurch steht er im Gegensatz zur passiven »Anschauung« der klassischen Historisten. Indem der kritische Histori-ker seine Quellen selbst in seine Erklärung miteinbezieht, tritt außerdem deren Form in ganz anderer Weise in den Mittelpunkt, denn zunächst an formalen Ei-genarten kann die kritische Lektüre ansetzen, um den Text zu öffnen.

Wellhausens Rekonstruktion beschränkt sich allerdings auf die kanonischen Texte und die Entwicklung innerhalb des Judentums, die »Religionsgeschicht-liche Schule« im engeren Sinne gibt das auf und fragt über die innere Entwick-lung hinaus auch nach »Einflüssen« fremder Religionen. Solche Einflüsse werden in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zunehmend diskutiert, be-sonders in der babylonischen Religion wird oft der Ursprung zahlreicher israelitischer Vorstellungen gesucht. Die wesentliche Neuerung der »Religions-

Wellhausen, Prolegomena 293f. - Die verschiedenen Quellenschichten »sind aus einem geschichtlichen Prozeß erwachsen und bezeichnen dessen Stadien« (Wellhau-sen, Israelitische und Jüdische Geschichte, 15). Wellhausen, Grundrisse zum Alten Testament, 68. - Der Terminus der »symptomati-schen Lektüre« stammt von Althusser (Das Kapital lesen, insbes., 32ff). Boschwitz hat den strikt antithetischen Impuls Wellhausens deutlich herausgearbeitet; der »ihren Ge-genstand weitgehend im strikten Widerspruch zum Deutungswillen der gegebenen Überlieferung [deute], die ja ihrerseits bereits Historie, d. h. gedeutetes Geschehen darstellt«. »Gegner der Polemik Wellhausens sind weniger irgendwelche Zeitgenos-sen als vielmehr ein bestimmter Wille in den Urkunden selbst.« (Boschwitz,hausen, 28) Wir sehen also, daß die »counter-history« hier in der Logik der Methode liegt, vgl. dazu meinen Aufsatz »»Geschichte gegen den Strich bürsten«« über die Be-ziehung Wellhausens zur jüdischen »counter-history«.

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geschichtliche Schule« gegenüber diesen »Panbabylonisten« besteht allerdings darin, daß sie sich »nicht damit begnügt, den babylonischen Ursprung eines bib-lischen Stoffes zu behaupten, sondern überall daneben erörtert, in welchergentümlichen Weise der übernommene Stoff in Israel aufgefaßt und umgebildet sei«563. Erklärungsziel ist also nicht ein Ursprungsnachweis, sondern die Inter-pretation setzt gerade in der Spätphase ein und arbeitet von da aus die gesamte Entwicklung durch, um »den ursprünglichen Zusammenhang zu reconstruieren und die Gründe seiner Veränderung anzugeben, das heißt [um] die Geschichte der Tradition zu schreiben«.564 Durch dieses Interesse hat sich auch die Funk-tion des Rückgriffes auf außerbiblische Phänomene verändert; er dient jetzt weder dazu, eine »Urreligion« zu finden, noch wird damit ein einheitlicher Ge-genstand »Religion« angenommen, der allgemeinen Entwicklungsgesetzen folgt. Die Funktion des Vergleiches ist es vielmehr, den Kontext auszuleuchten, um die spezifische Abweichung der verglichenen Religionen prägnanter zur Dar-stellung zu bringen. »Denn erst diese Vergleiche ermöglichen dem Forscher, das Unterscheidende zu erfassen und das Originale scharf herauszuheben.«565

Die Erweiterung der Perspektive auf Außerbiblisches geht einher mit der Dif-ferenzierung der Methode gegenüber der älteren Literarkritik: Gegenstand der Erklärung sind jetzt nicht mehr die großen literarischen Einheiten der Quellen, sondern »Stoffe« bzw. »Motive«, d. h. die Verbindung bestimmter religiöser Vor-stellungen mit bestimmten Ausdrucksformen. Diese Stoffe sind dabei den ei-gentlichen Texten vorgängig, d. h. sie werden nicht vom Verfasser frei erfunden, sondern nur bearbeitet. Während etwa Wellhausen noch dazu neigte, die ange-nommenen Verfasser der Quellenschriften als bewußte Schriftstellerpersönlich-keiten aufzufassen, betonen die Religionsgeschichtler, daß die Verfasser an Gegebenes gebunden sind, sei es an vorgegebene Stoffe, sei es an Darstellungs-konventionen: »Die Literarkritiker bedenken in der Regel nicht, daß es auch eine ungeschriebene Geschichte gegeben hat, und daß man über die literarischen Texte hinausgehen muß, wenn man die treibenden Motive erfassen will . Wie oft

563 Gunkel, Schöpfung und Chaos, VI. - »Ich halte es für methodisch verwerflich, nur die Anfänge der Dinge zu untersuchen und die weitere, oft wichtigere und wertvol-lere Geschichte derselben zu ignorieren.« (ebd.)

564 Gunkel, a.a.O., 256. 565 Greßmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, 41. - »Der reli-

gionsgeschichtliche Vergleich bietet den allgemeinen historischen Rahmen, innerhalb dessen Analogien (Parallelentwicklungen) und kausale Dependenzen rekonstruiert werden können, ohne daß deswegen eine Auflösung der jeweils besonderen Religion in die allgemeine Religionsgeschichte impliziert wäre. Vielmehr verunmöglicht ge-rade die Annahme von Parallelentwicklungen innerhalb der positiven Religionen eine unilineare Entwicklungskonstruktion wie auch einen monokausalen Fehlschluß.« (Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, 331)

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ist das Ungeschriebene wichtiger als das Geschriebene!«566 Man muß daher hin-ter einen Text nicht nur auf frühere literarische Stufen zurückfragen, sondern auch auf die Vorgeschichte der einzelnen Elemente vor ihrer Verschriftung. Das geschieht nicht nur aus historischer Neugier, sondern um den Horizont der Texte selbst freizulegen, ohne den sie nicht adäquat verstanden werden können. So wil l Gunkel etwa den paulinischen Geistbegriff weder durch philosophische Überlegungen noch durch »Verstehen« der »Persönlichkeit« des Paulus aufklären, sondern er versucht, den populären Geisterglauben der Zeit herauszuarbeiten, vor deren Hintergrund Paulus« Äußerungen erst verständlich werden, ohne daß man ihm fremdes (modernes) Gedankengut unterschiebt. Immer wird es also wichtig, den unmittelbaren historischen Kontext zu kennen, wie wir noch sehen werden, erschließt das ganz neue Forschungsgebiete außerhalb des Kanons, ins-besondere den »Synkretismus«, das »Spätjudentum«, die Apokalyptik und die Gnosis. Diese Erweiterung des Gegenstandsfeldes führt auch dazu, daß Well-hausens scharfe Grenzen durchlässig werden und nicht nur die De-Mythisie-rung, sondern auch das Weiterleben mythischer Vorstellungen noch im späteren Judentum thematisch wird.567

Die Betonung der vorliterarischen Natur der Quellen impliziert, daß diese nicht nur verschiedene »Schichten« enthalten, sondern daß darüber hinaus jede einzelne Schicht ein komplexes Gewebe verschiedener Stoffe, Formen und Tra-ditionsstränge darstellt.568 Die religionsgeschichtliche Untersuchung läuft daher auch nicht darauf hinaus, die Schichten wieder in ihrer »natürlichen« Reihenfolge

Greßmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, 30. - Zum Un-terschied der Religionsgeschichte von der Literarkritik vgl. auch sehr schön: Koch, Was ist Formgeschichte?, 84-96. So gibt es etwa für Gunkel keine »einfache Religion [...], die sich ganz aus sich selbst entwickelt hätte. In Wirklichkeit ist sie schon in der für uns ältesten Zeit das Product einer Geschichte; sie hat entscheidende Motive aus der Religion Kannaans aufge-nommen; sie ist deshalb schon zu der Zeit, wo unsere Quellen einsetzen, eine com-plicierte Erscheinung.« (Gunkel, Schöpfung und Chaos, 157) Auch das Ende ist für Gunkel nicht einfach Erstarrung im Nomismus, sondern führt zu einem besonderen Reichtum: »Eben darauf aber, daß Israel die Mythologie im Prinzip zwar überwun-den, im einzelnen aber vielfach beibehalten hat, beruht die besondere Schönheit der biblischen Dichter: die höchsten Gedanken der Religion in der wundervollen Bil-derwelt der Mythologie.« (Gunkel, »Mythen und Mythologie in Israel«, Sp., 632) Daher ist Inkohärenz als solche auch noch kein Zeichen von klar zu scheidenden Quel-lenschichten, sondern beruht auf der Tatsache, daß hier verschiedene, traditionell schon vorgegebene Stoffe in einer Redaktion vereint werden. Das bedeutet auch, daß die Vor-stellungen einer bestimmten Stufe der literarischen Tradition sehr viel älter sein kön-nen als die Literarkritik annimmt, die das Alter einer Vorstellung mit deren erster Erwähnung gleichsetzt, die religionsgeschichtliche Exegese ist also in gewisser Weise konservativer als die der Literarkritik, dazu v. a. Klatt, Hermann Gunkel, 95f, 149f.

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zu rekonstruieren und die eine wahre Geschichte zu erzählen, sondern bedarf eines (virtuellen) Koordinatennetzes von Begriffen und Typologien wie etwa die typischen Formelemente oder Gattungen. Die Methode sprengt die einfache Kontinuität und Homogenität der alttestamentarischen Geschichte in die kom-plexe Zeitlichkeit verschiedener, untereinander ungleichzeitiger Geschichten, die nicht mehr einfach in einer erzählenden Form verknüpft werden können.569

Die Konstanz der Gattung ist dabei nicht nur ein formal-ästhetisches Fak-tum, sondern ist darin begründet, daß sie einen bestimmten »Sitz im Leben« hat, d. h. auf konstante Bedürfnisse antwortet bzw. auf wiederkehrende Situationen in der Gemeinschaft bezogen ist. Dadurch gewinnt die Methode auch eine »so-ziologische« Dimension. Statt die »Schriftstellerpersönlichkeiten« als eigentliche Akteure der Geschichte zu betrachten, wird jetzt die Haupttriebkraft in ano-nymen Prozessen einer veränderten Frömmigkeit gesehen.570 So interpretiert etwa Bousset die Entwicklung der Christologie im Laufe der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte nicht als singulare Tat des Paulus, sondern als Ausdruck und Folge des Kyrios-Äw/res: Hier bildet sich eine besondere Fröm-migkeit, erst vor ihrem Hintergrund wird die paulinische Christologie über-haupt verständlich. Bousset betont, »daß es sich bei den wesentlichen Her-übernahmen [...] um einen mehr unbewußten Vorgang im Gemeindeleben handelt, und daß Paulus auf dem Fundament dieses Gemeindeglaubens erst weiterbaut und dem hier unausgesprochen Vorliegenden den Ausdruck und die Sprache verleiht« bzw. daß die entscheidenden Entwicklungen »imten, in der unkontrollierbaren Tiefe der Gesamtpsyche einer Gemeinde« statt-finden.571 So löst sich die Religionsgeschichte von der historistischen Konzen-

Das wirkt sich auf die Darstellungsform aus, die jetzt stärker problemgeschichtlich orientiert ist: Während Wellhausen noch eine allgemeine Geschichte Israels schreiben konnte, treten jetzt die Untersuchungen zu Einzelproblemen in den Vordergrund. Für Murrmann-Kahl formulieren die Religionsgeschichtler »im Medium der Exegese die methodische Grundeinsicht M. Webers, daß historische Erkenntnis des Individuellen nur auf der Basis nomologischen Wissens (hier: um Gattungen, religionsgeschichtli-che Analogien) möglich sei. Die »schaffende Persönlichkeit« ist sonach im Gegensatz zum Historismus keine reine »Aseität«, sondern nur im Kontext ihrer Umweltbedin-gungen zu begreifen« (Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, 337). Vgl.: »In der formgeschichtlichen Arbeit berühren sich Literaturwissenschaft und So-ziologie, weil jede Gattung eine »soziologische Tatsache« darstellt. Diese Erkenntnis verwehrt eine allzu einfache Scheidung von Geistesgeschichte und wirtschaftlich-po-litischer Geschichte.« (Koch, Was ist Formgeschichte}, 35) Auch Murrmann-Kahl entwickelt sehr präzise die innere Zusammengehörigkeit der verschiedenen Momente der Methode (Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, 320-339). Bousset, Kyrios Christos, XV, 119. - Sehr gut ist das bei Bultmann charakterisiert: Für Bousset sei die Christologie »nicht (Harnack) aus einer Hellenisierung des Chri-stentums entstanden, d. h. aus dem spekulativen oder philosophischen Interesse der

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312 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

t rat ion auf das Selbstverständnis der handelnden Akteure zugunsten einer

neuen Einsicht in die anonymen Prozesse der longue duree?72

Damit kann aber die Überlieferungsgeschichte auch ein Analyseinstrument

werden, durch sie wird die Entwicklung der »Frömmigkeit« - modern gespro-

chen: der »Mentalität« - erschließbar, von der es ja sonst keine Quel len gibt.

Überlieferungsgeschichte und Mentalitätsgeschichte bedingen sich also gegen-

seitig: »Die Aufgabe der Forschung ist, dasjenige Stück des Volkslebens, zu dem

die betreffende Gat tung gehört, deutlich zu machen und so eins aus dem

ren zu verstehen.«573 Es gibt also immer ein Wechselverhältnis zwischen Litera-

tur und Leben, Religion und Theologie; die literarischen Ideen entwickeln sich

nicht autonom, aber sie sind auch nicht nur das »äußere Kleid« irgendwie funda-

mentalerer Vorgänge - seien diese nun materialistischer oder geistiger Ar t - , son-

dern beide Seiten stehen in einem spannungsvol len Verhältnis. Max Webers

prägnante Formulierung dieses Sachverhalts macht noch einmal deutlich, inwie-

fern eine so gefaßte Religionsgeschichte auch für die allgemeine Geschichte

griechischen Christen unter dem Einfluß der griechischen Wissenschaft; vielmehr ist die Christologie nur der Exponent der Kultusfrömmigkeit. [...] Ein wirkliches Phänomen, die kultische Frömmigkeit, ist sichtbar gemacht, als deren Ausdruck die Christologie verstanden werden kann.« (Bultmann, »Die Christologie des Neuen Te-staments«, 253f) Auch dieses Resultat ist damit »konservativer« als das Harnacks, denn für Bousset hat die Vergottung auch eine gewisse Berechtigung, (vgl. Murr-mann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte, 370ff) Gerade Bousset betont, daß die Entwicklung der anonymen Frömmigkeit »die Stim-mungen, die Leiden und Hoffnungen der breiten Masse des Volkes in den Zeiten grosser politischer Erregung und Umwälzung« widerspiegele. (Bousset, Diebarung Johannis, 142) »Gegenüber der vorangehenden quellenkritischen Forschung Julius Wellhausens u. a. wurden Bericht und Ereignis nicht mehr gleichgesetzt, son-dern radikale Unterscheidungen zwischen literarischer Form und historischem Er-eignis eingeführt. Im Gefolge der Entdeckung der Ticfendimension von Geschichte betrachtete man diese nicht mehr nur als Kette von Ereignissen und Taten, [...], son-dern als eine Konstellation von Zuständen, Sitten und Bräuchen, Normen und Insti-tutionen. [...] Man kann hier förmlich von einem Paradigmenwechsel gegenüber der literarischen Schule des älteren Historismus sprechen, da nun individuelle Struktu-ren und soziologische Bedingtheiten miteinander verknüpft wurden.« (Gerd Lüde-mann, »Die »Religionsgeschichtliche Schule'«, 11)

Gunkel, »Literaturgeschichte Israels«, Sp. 1193. - Wegen dieses Wechselverhältnis-ses führt die Hervorkehrung der Frömmigkeit nicht zu einer Hypostasierung einer gegenüber jeder Dogmatik fremden, zeitlosen Religiosität wie etwa bei Buber; dazu vgl. Boussets Aufsatz »Religion und Theologie«, der um Troeltschs Promotionsthese kreist: »Die Theologie ist für die Religion ebenso schwer zu ertragen wie zu entbeh-ren.« - Man muß also bei den Religionsgeschichtlern das Verhältnis zwischen Leben und Lehre als »spannungsvolle Einheit« auffassen, »die sich gegen jede einseitige Auf-lösung, sei es nur in Religion (R. Otto), sei es nur in Theologie (Harnack) wendet« (Murrmann-Kahl, Die Entzauberte Heilsgeschichte, 340).

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DAS PARADIGMA DER RELIGIONSGESCHICHTE 313

wichtig ist: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen un-mittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die »Weltbilder«, welche durch »Ideen« geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen be-stimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte. Nach dem Weltbild richtet es sich ja: »wovon« und »wozu« man »erlöst« sein wollte und - nicht zu vergessen: - konnte.«574

Das Paradigma der Religionsgeschichte ist für Scholems Historiographie der Kabbala in mehreren Hinsichten konstitutiv: Er übernimmt das Erkenntnisziel eines begriffsgeleiteten historischen Verstehens, er bedient sich dazu der stoff-geschichtlichen Methode, er zieht die religionsgeschichtliche Begrifflichkeit (Mythos, Mystik, Gnosis etc.) heran und zeigt auch ein Interesse an ähnlichen historischen Phänomenen (Gnosis, Apokalyptik, Synkretismus). Daß diese Nähe nicht auf den ersten Blick sichtbar ist, dürfte nicht nur der Neigung Scho-lems geschuldet sein, seine wissenschaftliche Herkunft zu verschleiern.

Tatsächlich liegt ja auch eine große Brisanz darin, daß er sich gerade von einer Forschungsrichtung inspirieren läßt, deren Antijudaismus nicht zu vernachläs-sigen ist.

Es entspricht auch der Natur wissenschaftlicher Paradigmen, die, einmal »an-sozialisiert«, nicht mehr als solche sichtbar werden. Um Scholems Verhältnis zur Religionsgeschichtlichen Schule zu untersuchen, empfiehlt es sich daher, zuerst den (spärlichen) Spuren seiner wissenschaftlichen Sozialisation nachzugehen. Danach werden wir einige seiner allgemeinen religionsgeschichtlichen Äuße-rungen zu »Mythos« und »Mystik« untersuchen, bevor wir im nächsten Kapitel beginnen, die eigentliche Historiographie der Kabbala zu untersuchen.

Weber, Ges. Schriften zur Religionssoztologie, Bd. I, 252.

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3.3 Religionsgeschichte des Judentums und >Mythos<

Scholems Aneignung der jüdischen Tradition ist immer mit einer Auseinander-setzung mit der modernen protestantischen Wissenschaft verbunden, die äußerst kritisch ist. 1914 schreibt Scholem noch, »die Wellhausensche Hypothese sei ein Erzeugnis wissenschaftlichen Antisemitismus und christlicher Überhebung, um ja das Judentum möglichst jung zu machen, andererseits in möglichst schlech-tem Licht dem Neuen Testament zu zeigen« (T I, 59). Ein Jahr später schwankt er jedoch zwischen Wellhausen und der orthodoxen Auffassung (ebd., 146) und 1916 bemerkt er mit »Vergnügen«, daß ein Bekannter »infiziert ist von Well-hausen« (ebd., 446). Ende 1917 liest er Wellhausen noch einmal, um »doch end-lich einer Auseinandersetzung näher zu kommen« (Br I, 129), diesmal liest er auch Gunkel und andere Alttestamentier.575 Anfangs ist Scholem dabei äußerst skeptisch gegenüber dem ganzen Verfahren Wellhausens: »Die Kriti k kann durch nichts, aber auch gar nichts im letzten Grunde begründet und bewiesen werden als durch eine geschichtsphilosophische Annahme über die Entwicklung Israels, die nicht aus der Forschung kommt, sondern vor ihr steht, sie einfach sogar hemmt, als eine verschlossene Tür.« (TI , 447) Später erkennt Scholem aber auch die Stärken Wellhausens, dieser könne »doch recht mit diesem Verfahren haben und es kein Zirkel sein, sondern ein inversives Annäherungsverfahren, indem er Dinge, die aus anderen Stellen wahrscheinlich sind [...] zur Textkritik benutzt, dadurch andererseits wieder die Theorie fester gründend« (TII , 83). Scholem er-kennt also die Doppelheit des Wellhausenschen Verfahrens, das gleichzeitig Ge-schichte und Geschichtsquelle erklären will . Immer noch bleibt er allerdings skeptisch gegenüber der positiven Leistung der Bibelkritik und der »ganzen heu-tigen »historischen« Auffassung«, die kaum imstande sei, die »Entstehung des Ju-dentums [...], historisch zu erklären und nicht jene Rätsel übrigzulassen, die die alte Auffassung unweigerlich mit sich bringt. Welchen Wert hätte aber diese [...] Auffassung, wenn sie das Ziel, aus dem heraus allein sie sinnvoll ist, verfehlt? Wenn das Judentum nachher noch genauso rätselhaft ist wie vorher.« (Ebd., 83f)

Scholem erwähnt Gunkels Genesis, Gunkel ist ihm dann auch »in jeder Hinsicht sym-pathischer als Wellhausen«, weil jener »über die Kriti k hinaus die Bibel nicht be-schmutzt, sondern sich ehrlich um eine Würdigung der Sache bemüht« (Br I, 129). Er liest ebenfalls De Wette (T I, 3250, Dtihm (Br 1,29), Marti (ebd., 184) Merx (ebd., 177); natürlich auch die jüdischen Bibelwissenschaftler, sowie Neutestamentier und Kir-chenhistoriker wie Marheineke (T I, 325). - Auch Hamacher nimmt an, »daß der spä-tere Kabbalaforscher in erster Linie von der christlichen Bibelwissenschaft her zu seiner philologischen Methode fand« (Hamacher, G. Scholem und die Religionsgeschichte, 82).

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RELIGIONSGESCHICHTE DES JUDENTUMS UND »MYTHOS« 315

Wir haben bereits gesehen, daß die theologische Reflexion Scholems sich spä-ter in ganz anderen Bahnen bewegt, die das Problem in gewisser Hinsicht »ge-genstandslos« (Br 1,183) machen sollen, daß die historische Kriti k aber auch ein wesentlicher Auslöser für den »religiösen Anarchismus« ist (s. o. Kap. 2.7). Auch später bleibt Scholem daher gegenüber den Verfahren und Fragestellungen der Bibelwissenschaft ambivalent: In einem Vortrag von 1952 schreibt er, für ihn seien die »Aufstellungen der Bibelwissenschaftler unserer Tage« nicht über-zeugend, weil hier allzuviel »auf mühselig aufgebauten und oft an einem Haare hängenden Hypothesen beruht« (MG, 135). Erst »im kabbalistischen Schrift-tum des mittelalterlichen Judentums, kommen diese Hypothesen erst so ei-gentlich »nach Hause« [...]. Wo es sich um das Fortleben oder die Repristination mythischer Vorstellungen handelt, um deren Klärung die moderne Bibelwis-senschaft sich abmüht, da erlauben seine Texte dem Kabbala-Forscher mit ganz anderer methodischer Sicherheit vorzugehen« (ebd., 135). Dieses Zitat zeigt, daß seine Skepsis Scholem nicht daran hindert, Methoden, Tendenzen und Fra-gestellungen aus der Bibelkritik zu übernehmen und »nach Hause« zu bringen. Wir wollen zunächst an einem Beispiel demonstrieren, wie Scholem die literar-kritische Methode verwendet (3.3.1), um uns dann der eigentlich religionsge-schichtlichen Problematik der De-Mythifizierung im Judentum zuzuwenden. Wir werden sehen, wie der religionsgeschichtliche Begriff des Mythos im zeit-genössischen Judentum rezipiert wird (3.3.2) und wie Scholem diesen Begriff zunächst eher dogmatisch (3.3.3), dann aber zunehmend historisiert gebraucht (3.3.4), um die Besonderheit der Kababla zu bestimmen.

3.3.1 Die kritische Methode. Scholems Handhabung der kritischen Methode kann man am besten an der Soharkritik verdeutlichen, die in Scholems wissenschaftli-cher Entwicklung bekanntlich eine wichtige Rolle einnimmt. Schon Graetz hatte die These aufgestellt, der Sohar sei nicht die Sammlung einer Tradition aus dem 2. Jahrhundert, als die er sich ausgab, sondern sei im 13. Jahrhundert von Moses de Leon als pseudepigraphisches Werk verfaßt worden. 1925, bei seiner Antrittsvor-lesung in Jerusalem, trat Scholem dieser These entgegen und behauptete, das rie-sige Korpus von Symbolen und Ideen könne unmöglich mittelalterlich sein und man müsse von sehr alten Quellen ausgehen, die sich auf geheimnisvolle Weise in mündlicher Tradition erhalten hätten.576 Erst im Laufe der dreißiger Jahre revi-

Vgl. zu diesem Wandel: Dan, »Gershom Scholem«, 38ff; Biale, Gershom Scholem, 38ff. - Scholem charakterisiert im Rückblick die von ihm damals vertretene »ro-mantische Geschichtsauffassung« folgendermaßen: »Der Sohar wäre also wirklich (und das ist es zweifellos, was diese Anschauung auch ohne jeden Beweis so an-nehmbar zu machen schien) auch seiner äußeren Entstehung nach ein Niederschlag des schöpferischen Volksgeistes, wie Bibel und Talmud das anonyme Werk von Jahr-

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316 DA S HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

dierte er diese These, denn der Versuch, sie »mit philologischen Mitteln zu be-

weisen«, habe ihn »allmählich vom Gegenteil überzeugt« (JM, 175). Es gibt also

auch keine authentische mündliche Überlieferung für den Text des Sohar, aller-

dings nimmt Scholem sehr wohl an, daß Stoffe und Symbole aus dem antiken jü-

dischen Synkretismus übernommen worden sind (dazu s. u. Kap. 3.5). Das fünfte

Kapitel von Scholems Hauptströmungen demonstriert, daß der Sohar in fast allen

Teilen einheitlich ist und es kaum möglich ist, hier verschiedene Schichten aus-

einanderzuhalten oder Spuren eines Traditionsprozesses festzumachen.577 Zwar

schließt Scholem sich jetzt Graetz« Auffassung an, aber die Pseudepigraphie ver-

liert für ihn »die Note des moralisch Verwerflichen«, im Gegenteil stellt sie für ihn

jetzt eine »legitime Kategorie des religiösen und auch moralisch höchststehenden

Schrifttums« dar (JM, 223).578 Diese Bewertung impliziert ein Verständnis von der

Natur des Textes und seiner Autorschaft, das von dem Graetz« deutlich abweicht.

Für Graetz ist nicht nur der Sohar eine Fälschung, sondern die ganze Kabbala

eine Fehlinterpretation des einfachen und ursprünglichen Sinnes der Bibel, sie ist

eine »Afterlehre [...], welche sich, obwohl jung, für eine uralte Weisheit, obwohl

unjüdisch, für die echte Lehre Israels und, obwohl auf Täuschung beruhend, für

die alleinige Wahrheit ausgab«.579 Aufgrund phantastischer Spekulationen ver-

bundenen.« (Scholem, Geheimnisse der Schöpfung, 13f) Methodisch wäre diese Auf-fassung natürlich kompatibel mit der Formgeschichte, man kann annehmen, daß Scholems späterer methodischer Konservativismus auch auf seine Revision in der So-harfrage zurückzuführen ist.

577 Auch Scholem treibt Sprach- und Stilkriti k (JM, 179ff), Formkritik (ebd., 185ff), Quellenkritik (ebd., 189ff), schließlich untersucht er die Ideenwelt (also Tendenz-kritik : ebd., 193ff). Im Unterschied zu Graetz, der die Annahme von verschiedenen Quellen als »kurios« abweist (Graetz, Geschichte der Juden, Bd. VII , 438), setzt sich Scholem aber vor allem mit den Versuchen einer Quellenscheidung auseinander, auch hier führt sein Versuch ad absurdum (JM, 188, 192).

578 Vgl. dazu schon Scholems Notiz vom Sommer 1918: »Die kabbalistische Literatur ist so gut wie ausnahmslos gefälscht. Die Idee der Fälschung gehört zu den tiefsten Pro-blemen der Geschichte. »Sie ist eine legitime historische Idee« (Benjamin).« (T II , 336)

579 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. VII , 59. - Die heftige Abneigung Graetz« gegen die Kabbala liegt dabei nicht nur in seinem Widerwillen gegen das »Irrationale« begrün-det, wie Scholem oft behauptet, denn auch die rationale jüdische Philosophie ist für Graetz eine, wenn auch sympathischere, Fehlinterpretation: »Alle Welt sah damals den Bibeltext durch die gefärbte Brill e seiner Lieblingstheorie.« (Ebd., 217) In der Kon-zeption seiner Geschichte des Mittelalters ist der Rationalismus ja auch Ursache der ganzen Tragödie, denn er habe »die naivgläubigen von den denkenden Juden getrennt« (ebd., 59). Auch Graetz erkennt also eine innere Spannung: die Kabbala sei »eine Tochter der Verlegenheit; ihr System war ein Ausweg, um aus der Klemme zwischen dem naiven, plumpen, anthropomorphistischen Buchstabenglauben und der maimu-nischen Verflachung herauszukommen« (ebd., 63). Vgl. dazu Roemer »Breaching the »Walls of Captivity'«, 27f.

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REIIGIONSGESCHICHTE DES JUDENTUMS UND »MYTHOS« 317

steige sich die Kabbala »in die Nebelregion [...], wo alles Denken aufhört und selbst die Phantasie ihre Flügel lassen muß. [...] Die Einheit verwandelte sich so unter der Hand in eine Vielheit, die Geistigkeit in plumpe Handgreiflichkeit, der geläuterte Glaube in wüsten Aberglauben.«580 Erfolg können diese Phantasien letztlich nur haben durch Pseudepigraphie: »Denn da sie ihren Lehrinhalt nicht durch einleuchtende Gründe beweisen kann, so muß sie sich auf Autoritäten be-rufen, und wenn sie solche nicht vorfindet, so erfindet sie sie.«581 Exemplarisch triff t das auf den Sohar und dessen mutmaßlichen Autor Moses de Leon zu: Als eigener Schriftsteller habe dieser »nach keiner Seite hin etwas Neues oder Ori-ginelles«, daher wählte er »ein wirksameres Mittel, sich die Herzen und Säckel weit zu öffnen. Er verlegte sich auf Schriftstellerei unter fremdem, geachtetem Namen.«582 Graetz versucht, diese Fälschung vor allem durch Sprachkritik und durch Dokumente über Moses de Leon nachzuweisen, und man hat fast den Eindruck, als ob für ihn damit die Frage nach dem Inhalt des Sohar bereits er-ledigt ist, jedenfalls kann er in diesem nichts anderes sehen als »Formlosigkeit« und »Wirrwarr«.583 Man könne »kaum eine Vorstellung davon geben, welchen Mißbrauch Moses de Leon mit der Schrifterklärung treibt und wie er den Wort-sinn verdreht«, immer wieder wirf t Graetz ihm vor, er würde »die Verse und Wörter des heiligen Buches [...] verdrehen und die Bibel zum Tummelplatz der wunderlichsten, tollsten Einfälle machen«.584

580 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. VII , 63. - Die Kabbalisten »haben ihre Zeit und die Nachwelt durch geflissentliches oder unabsichtliches Gaukelwerk in die Irre ge-führt«, sie setzten »an die Stelle eines geläuterten Gottesglaubens phantastische, ja gotteslästerliche Wahngebilde« (ebd., 190).

581 Graetz, a.a.O., Bd. VII , 71. 582 Graetz, a.a.O., Bd. VII , 200f. - Man könne im Zweifel sein, »ob er ein eigennütziger

oder ein frommer Betrüger war, aber täuschen wollte er sicher« (ebd., 199). 583 Graetz, a.a.O., Bd. VII , 204. - »Es gibt wohl schwerlich ein Schriftdenkmal, das so

viel Einfluß ausgeübt hätte, wie der Sohar, und das ihm an Wunderlichkeit des In-halts und der Form gleichkäme.« (Ebd., 204) »Hin und wieder macht der Sohar einen Ansatz zu einem Gedanken, aber ehe man sich's versieht, verläuft er sich in fieber-hitzige Phantasien oder löst sich in kindische Spielereien auf.« (Ebd., 205) Der ganze Sohar bestehe aus einem »Gemisch von Erhabenem und Albernem«, das »ebenso lä-sterlich, wie lächerlich« sei (ebd., 206, 207); gern spricht Graetz auch von »Gaukel-werk« und »Wahnwitz« (ebd., 190, 199).

584 Graetz, a.a.O., VII , 206, 214. - Durch diesen Widerwillen gewinnt Graetz auch kei-nen Zugang zur Idee der mystischen Gestalt der Thora, die er doch in gewissem Sinne als Grundgedanken ansieht (anders als etwa Franck, für den das nur die oberflächli-che Ausdrucksweise eines eigentlich anders konstituierten Systems ist, s. o. Kap. 2.3.2): Letztlich dient also auch dieser Graetz immerhin nicht ganz unsympathische Gedanke nur dazu, »alles und jedes zu deuteln und als höheren Sinn zu stempeln« (ebd., 205).

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318 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Für Graetz ist die Pseudepigraphie also eine »strategische« Tarnung, der Sohar daher eine Verkleidung phantastischer Ideen in ein nicht minder phantastisches Gewand. Graetz verwendet die Kriti k negativ: die kritische Aufgabe ist erledigt, wenn der Anspruch, den der Text erhebt, widerlegt werden kann. Dabei ist die Form des Textes für Graetz nur ein Mittel, um die Verläßlichkeit der Quelle nachzuweisen, sie wird kaum in ihrer Eigenbedeutung analysiert. Scholem hat demgegenüber offensichtlich ein anderes Ziel vor Augen, obwohl auch er sich auf die klassischen literarkritischen Verfahren beschränkt. Aber diese sollen nicht nur zum negativen Ergebnis der Quellenkritik - »Fälschung« - verwendet werden, sondern führen zur positiven Ansicht, es hier »mit einem sehr lebendi-gen und sonderbaren Menschen« (JM, 192) und einer »farbenreichen, wenn auch keineswegs unproblematischen Einheit« (ebd., 266) zu tun zu haben. Geflis-sentlich vermeidet es Scholem dabei, von »Fehlinterpretation« zu reden, denn für ihn muß auch die soharitische Form phantastischer Homilien/7os2rzt' als beson-dere Modifikation des Traditionsgedankens verstanden, und nicht nur negativ durch Täuschungsabsicht denunziert werden. Graetz« »Märchenfigur des abge-feimten Schwindlers« gehöre daher selbst ins »Kuriositätenkabinett der Phan-tasie« (ebd., 210).585

Scholem stellt die Graetzsche These offensichtlich auf den Kopf, aber es ist nur eine oberflächliche Erklärung, hier den Irrationalisten Scholem dem Ratio-nalisten Graetz entgegenzusetzen. Entscheidend ist vielmehr, daß ein neues Pa-

Bezeichnenderweise sieht sich Scholem gerade hier veranlaßt, sich explizit auf die Re-ligionsgeschichte als Legitimationsinstanz zu berufen: »Der Religionshistoriker hat keinen Grund, sich über Pseudepigraphie moralisch zu entrüsten« (JM, 223); an an-derer Stelle hebt er hervor, man habe sich »nicht umsonst [...] an das Fremdwort Pseu-depigraphie gehalten, um eine rechtmäßige Kategorie gerade des religiösen Schrifttums zu bezeichnen, bei welcher der moralische Unterton des Verwerflichen, der in dem deutschen Wort Fälschung mitschwingt, auszuschließen ist« (Scholem, Geheimnisse der Schöpfung, 17f). - In der Forschung wird Pseudepigraphie gerechtfertigt einerseits durch die Authentizität des religiösen Empfindens (So etwa Speyer, »Religiöse Pseu-depigraphie«), andererseits durch das Wesen der Traditionsliteratur, so der Sache nach schon Gunkel (vgl. dazu unten im Zusammenhang mit der Pseudepigraphie in der Apokalyptik Kap. 3.6.2), jetzt auch Hengel, der betont, daß Pseudepigraphen in der Regel gerade keine individuellen Züge tragen, sondern auch formal als »transsubjek-tive Tradition« erscheinen (Hengel, »Anonymität, Pseudepigraphie ...«, 284); Scholem steht offensichtlich dieser Auffassung näher. Brox kritisiert jene Forschung, die Pseu-depigraphie als vollkommen problemlose und den Zeitgenossen selbstverständliche Form ansieht, gerade in Bezug auf religiöse Schriften sei das eine typische Form der Apologetik. Zumindest in Bezug auf die Spätantike sei das unzureichend, insofern diese hier durchaus ein Problembewußtsein gehabt habe (Brox, »Zum Problemstand in der Erforschung...«, insbes. 322ff); auch bleibe die Pseudepigraphie für das religiöse Bewußtsein anstößig - wie ja auch Scholems Bestreitung der Authentizität des Sohars die moderne Kabbalaforschung zum Anathema orthodoxer Kabbalistik macht.

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RELIGIONSGESCHICHTE DES JUDENTUMS UND »MYTHOS« 319

radigma es Scholem ermöglicht, mit ganz ähnlichen Ergebnissen ganz anders umzugehen. Gerade für den Religionsgeschichtler ist Pseudepigraphie nicht nur ein negatives Faktum, sondern Aufgabe für weiteres Verständnis; daher beläßt es Scholem auch nicht bei der Literarkritik und der Anerkennung Moses de Leons als »originellem Menschen«, sondern versucht im folgenden Kapitel der Hauptströmungen, Form und Ideenwelt des Sohar religionsgeschichtlich aufzu-hellen: Hier werde »das Fortleben oder die Repristination mythischer Vorstel-lungen« innerhalb des Judentums deutlich (MG, 135), von dem oben die Rede war. Wir müssen also im nächsten Schritt die Kategorie des Mythos untersuchen.

3.3.2 Jüdische Wellhausen-Rezeption. Auch für diese Kategorie des Mythos ist Wellhausens oben dargestellte Revision des Geschichtsbildes von zentraler Be-deutung, vermittelt ist sie durch die jüdische Rezeption Wellhausens. Allgemein gilt, daß keine der Selbstinterpretationen des Judentums, die um die Jahrhun-dertwende außerhalb der Orthodoxie aufgestellt werden, von der protestanti-schen Bibelkritik unberührt geblieben sind.586 Dabei können sich verschiedene Strategien an Wellhausens Entwurf anschließen: Erstens können »Idealismus« und subjektive religiöse Gesinnung der Propheten als zentral für das Judentum gelten. Denn indem Wellhausen die Reihenfolge des Kanons auf den Kopf stellt und das Gesetz nach den Propheten ansetzt, verändert sich deren Rolle: Sie be-stätigen nicht nur das bereits gegebene Gesetz, sondern spielen eine entschei-dende Rolle als individualistische Reformatoren mit ethischer Gesinnung.

Was das bedeutet, kann man etwa an Hermann Cohen verdeutlichen, der auch immer wieder darauf hinweist, wie sehr ihn Wellhausen angeregt habe.587 Nach Cohen ist der »Prophetismus [...] der geistige Mittelpunkt des jüdischen Schaf-fens«, eigentlich ist er der »Schöpfer der Religion«, der sie aus dem »Mythos« löst.588 Auch Cohen bricht also mit dem (theologischen) Geschichtsbild seiner

586 Zur jüdischen Wellhausen-Rezeption vgl. Smend, »Wellhausen und das Judentum«; Krochmalnik, »Neue Tafeln« sowie meinen Aufsatz »»Geschichte gegen den Strich bürsten««.

587 Vgl. den Nachruf auf Wellhausen in Cohen jüdische Schriften, Bd. II , 463-468. Vgl. auch: »Die Bibelkritik der protestantischen Theologie ist das beste Gegengift gegen den Judenhaß.« (ebd., 167) - Zu Wellhausen und Cohen s. auch Liebeschütz, Von Simmel zu Rosenzweig, 36ff. - Vgl. auch Rosenzweigs Diktum: »Wellhausen beein-flußt Cohen, nicht umgekehrt.« (Rosenzweig, Briefe und Tagebücher, Bd. I, 264) Noch 1927 schreibt der längst »nachkritische« Rosenzweig: »Das Grundbuch der heu-tigen Wissenschaft ist noch immer Wellhausens israelitische und jüdische Geschichte, ein kurzes und prachtvoll zu lesendes Buch, eine der literarischen Leistungen der deutschen Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts.« (ebd., Bd. II , 1170)

'88 Cohen, Religion der Vernunft, 29, 288. - »Der Monotheismus wächst aus dem My-thos heraus.« (ebd., 84) Vgl. auch die ähnlichen Formulierungen in »Religion und Sittlichkeit« (in: Cohen, Jüdische Schriften, Bd. II , 123ff)

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320 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Quellen, die seit der Sinaioffenbarung eine ständige Folge von Abfall und Strafe sehen, und folgt dem neuen Bild, das die Kriti k von einem sittlichen Fortschritt und einer Entfernung von der Natur entwirft. Allerdings bewertet Cohen diese Bewegung anders als Wellhausen völlig unambivalent als positiv, zugleich enthi-storisiert Cohen das Bild der Prophetie auch wieder: »Was bei Wellhausen eine große Periode der biblischen Geschichte gewesen war, wurde für ihn [Cohen] das klassische Bild des Judentums in allen Zeiten.«589

Auch die ganz entgegengesetzte Interpretation des Judentums durch die jü-dischen Nietzscheaner und die »Lebensphilosophie« denkt im Rahmen des neuen Geschichtsbildes, allerdings knüpft sie weniger an die besondere Stellung der Propheten an als an die positive Bewertung der archaischen Geschichte Is-raels. Repräsentativ für diese Adaption der Bibelkritik ist etwa der junge Buber, der sich in Judentum und Mythos von 1916 gegen die »rationale« Interpretation des Judentums wendet und sich dabei auf die protestantische Bibelwissenschaft beruft. Die mythische Natur der israelischen Religion sei nur deshalb oft ver-kannt worden, weil »eine vom Geist des offiziellen spätjüdischen Priestertums inspirierte Körperschaft« versucht habe, alle Spuren dieser Mythen aus dem jü-dischen Erbe zu entfernen, freilich ohne vollständigen Erfolg, daher habe ge-rade die »neue Forschung« überall in der Bibel »versprengte Adern des edlen Erzes« der mythenbildenden Urzeit gefunden.590

Auch für Buber läßt sich also an den Quellen ein Antagonismus ablesen, auch für ihn ist die »Entwicklungsgeschichte der jüdischen Religion [...] in Wahrheit die Geschichte der Kämpfe zwischen dem natürlichen Gebilde der mythisch-monotheistischen Volksreligion und dem intellektualen Gebilde der rational-monotheistischen Rabbinenreligion«.591 Charakteristischerweise hat Buber die Zäsur verschoben: Sie liegt jetzt nicht mehr wie bei Wellhausen in-nerhalb der biblischen Geschichte, sondern erst im rabbinischen Judentum.592

589 Liebeschütz, Von Simmel zu Rosenzweig, 40. - Cohens Verhältnis zum historischen Denken sei gleichsam midrachisch: »Er benutzte Ergebnisse, die er sozusagen stück-weise herausnahm, und baute sie in eine Konstruktion ein, die dem Geist der histo-rischen Denkform durchaus fremd war. [...] Ich möchte annehmen, daß diese Nichtachtung der Zeit und der Periode nicht ohne unbewußten Einfluß der jüdischen Tradition zustande gekommen ist [...]. Die Kluft zwischen ihm und dem Historismus eines Wellhausen hatte ihren Ursprung in dieser Schicht.« (ebd., 41)

590 Buber, Der Jude und sein Judentum, 77. - Hier polemisiert Buber auch gegen die (re-ligionsgeschichtliche) Ableitung dieser mythischen Elemente aus Babylon: »Als sie durch die neue Forschung aufgedeckt wurden, konnte man die Existenz des jüdischen Mythos nicht länger leugnen; aber man bestritt nunmehr seine Selbständigkeit.« (Ebd.)

591 Buber, a.a.O., 74. 592 Buber ist allerdings schwankend und unpräzise, was die Datierung der Revision an-

betrifft: In der Regel zieht Buber die Priester und Rabbiner zusammen und redet all-gemein vom Rabbinismus (s. o. und etwa Buber, Der Jude und sein Judentum, 35);

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RELIGIONSGESCHICHTE DES JUDENTUMS UND »MYTHOS« 321

Wieder geht damit die für Wellhausen charakteristische Ambivalenz verloren,

und gar nicht unähnlich wie bei Cohen wird hier die als klassisch angesehen Zeit

ein dauerndes Urbild - den Mythos bezeichnet Buber als »ewige Funkt ion der

Seele« - , das auch für die Gegenwart noch bedeutsam sein soll.593

3.3.3 >Mythos und >Pantheismus< bei Scholem. An Scholems Gebrauch des My -

thos-Begriffes läßt sich ein äußerst aufschlußreicher Wandel von solchen eher

phi losophisch-dogmatischen Begriffsadaptionen zu einer religionshistorischen

Auffassung einer Geschichte mythischer Vorstel lungen zeigen.594 Wi r haben

oben bereits angedeutet, daß der junge Scholem teilweise mit Buber, teilweise

mit Cohen vom Spannungsverhältnis zwischen Mythos und Judentum spricht.

Ganz in diesem Sinne schreibt er 1937 an Schocken, hier sei auch sein ur-

sprüngliches Interesse für die Kabbala verankert gewesen: A n den »rationalisti-

schen« Phi losophen des Judentums - Saadia, Maimonides, Cohen - habe ihn

enttäuscht, »wie sie ihre Hauptaufgabe darin fanden, Antithesen gegen den My -

thos und den Pantheismus aufzustellen, sie zu »widerlegen«, während es sich

doch hätte darum handeln müssen, sie zu einer höheren Ordnung aufzuheben.

[...] Solch höhere Ordnung [...] ahnte ich in der Kabbala.« (Br I, 471)595

das ist bereits mehr oder weniger ideologisch, insofern es keine Beziehung mehr zur literarkritischen Fragestellung hat (es waren ja nicht die Rabbiner, die die Redaktion der Bibel vorgenommen haben). An anderer Stelle macht Buber allerdings bereits die Verschriftung als solche verantwortlich, hier wird auch dezidiert auf die Priester ver-wiesen (ebd., 72), wieder woanders ist die Einrichtung des Königtums die »eigentli-che Wende der jüdischen Geschichte« (ebd., 94). Buber, Der Jude und sein Judentum, 84. - Deutlich ist auch das aktuellpolitische In-teresse: »Und wenn es den Juden unserer Generation so schwer wird, ihre mensch-liche Religiosität mit ihrem Judentum zu einer Einheit zu verschmelzen, so ist dies die Schuld des Rabbinismus, der das jüdische Ideal entmannt hat.« (Ebd., 80) Scholems Konzept von Mythos ist einigermaßen vieldeutig: »So oft Scholem von Mythos oder mythischem Denken spricht, so selten erläutert er, was er eigentlich damit meint. Das zentrale Charakteristikum der romantischen Philosophie des My-thos, die Narrativität des sermo mythicus [...], erwähnt ausgerechnet der Sprachtheo-retiker Scholem nur beiläufig, ohne es näher auszuführen.« (Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 171) Biale sieht im Mythos bei Scholem die Ver-körperung irrationaler Kräfte, die Scholem in das Bild des Judentums integrieren möchte, er betont den Zusammenhang mit Buber und Berdichevsky (Biale, Gershom Scholem, 51 ff); ähnlich auch Alter, der bei Scholem ein dionysisches Weltbild dia-gnostiziert und den Mythos als Lebenskraft versteht (Alter, »The Achievement of Gershom Scholem«).

Vgl. auch: »Es gehörte ja nichts dazu zu zeigen, daß Mythos und Pantheismus »falsch« sind - viel wichtiger schien mir die Bemerkung, die mir zuerst ein frommer Jude machte, daß doch etwas dran ist.« (Br I, 471) Aus den Tagebüchern erhellt, daß die-ser fromme Jude Benjamin gewesen ist, vgl. T II , 322.

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322 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Es scheint zunächst, als ob Scholem diesen Gedanken der »Aufhebung« in das

wissenschaftliche Werk übern immt in Gestalt des Schemas von »Mythos«, »Re-

ligion« und »Mystik«, das Scholem in der Einleitung zu den Hauptströmungen

anführt. Dabei stellt die erste Periode des Mythos das Stadium der Unmit te l-

barkeit dar - hier hat sich »die Kluf t zwischen dem Menschlichen und Gött l i-

chen noch gar nicht als eine wirkl iche, an die Seele greifende Tatsache [...]

aufgetan« - , das Stadium der »Religion« wäre die Anti these - der Mensch wird

jetzt »zum Bewußtsein der Zweiheit gebracht, zum Bewußtsein eines Abgrunds

[zwischen Gott und Mensch], über den nur noch die Stimme dringt«, - das Sta-

dium der Mystik schließlich wäre die Synthese - Mystik »sucht die von der Re-

ligion zerstörte Einheit wiederherzustel len auf einer neuen Ebene, in der die

Welt des Mythos und die der Offenbarung sich in der Seele begegnen« (JM, 8f).

Sehr oft ist dieses Schema als der Schlüssel zur Interpretat ion von Scholems

Werk angesehen worden: hier sei seine »dialektische Geschichtsphilosophie« dar-

gelegt, aus der dann seine Behandlung der Myst ik folge, oft verweist man dabei

auf Hegel oder Graetz.596 Es ist allerdings fraglich, ob man damit den Status die-

ses Schemas angemessen versteht: Zum einen kommt es in Scholems Werk nur

an dieser Stelle vor, mit der Scholem Zeit seines Lebens unzufrieden war,597 zum

anderen hat es hier durchaus nicht die Funkt ion einer Geschichtsphi losophie,

sondern soll dazu dienen, eine Definit ion der Myst ik als »Gesamtheit be-

st immter konkreter historischer Phänomene« (ebd., 7) zu gewinnen. Die Un-

terscheidung der »Stadien« hat dabei wesentlich eine negative Funkt ion, sie soll

verdeutl ichen, daß »Mystik« ein sekundäres und spätes Phänomen ist und daß

Biale zieht die Parallele zu Graetz« an Hegel angelehnte Stufenkonzeption der jüdi-schen Geschichte (Biale, Gershom Scholem, 42ff), Weiner spricht gar von einem »evo-lutionary programm« (Weiner, 9 1/2 Mystics, 74), Hamacher sieht hier Scholems »grundlegende Theorie« (Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 6), die zentral durch die Differenzierung zwischen lebendiger und toter Religion bestimmt ist. (ebd., 225ff) Bei Schweid wird die Schwierigkeit deutlich, die biblische Religion in dieses Schema einzuordnen (Schweid, Judaism and Mysticism, 38ff, 61 ff), wozu es ja eben nicht gemacht worden ist. - Es würde eine interessante Untersuchung darstellen, einmal der Verwendung der Kategorie des »Hegelianismus« in der Historiographie der Ideen nachzugehen; man hat allzuoft den Eindruck, daß jeglicher Dreischritt, jegliche historische Erklärung und jegliche Vorstellung einer Wahrheit als Totalität ihrer Mo-mente unter diesem Titel subsumiert werden kann.

Vgl.: »Mrs. Fania Scholem repeatedly described Scholem's attitude to this chapter as one of deep dissatisfaction. He refused to allow its translation in Hebrew, and there are very few references to it in later works.« (Schäfer/Dan, »Introduction«, 9, Anm. 38) -Das Schema ist in Mysticism and Philosophy von 1937 noch nicht vorhanden, Scholem übernimmt es auch nicht in Kabbala und Mythos von 1949, was um so auffälliger ist, als er hier die Formulierungen vom gnostischen »Aufstand des Mythos« aus den Haupt-Strömungen wörtlich aufnimmt (vgl. KS, 274, Anm. 5).

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RELIGIONSGESCHICHTE DES JUDENTUMS UND »MYTHOS« 323

es daher etwa mißverständlich sei, die prophetische Erfahrung als »mystisch« zu

bezeichnen. Das Schema hat also sozusagen keine »konstitutive« Funkt ion -

ganz anders als das bei Graetz« Schema der Fall war - , sondern dient nur »regu-

lativ« dazu, den Begriffsgebrauch zu kontrol l ieren, d. h. zu verhindern, daß das

Konzept »Mystik« über seine Grenzen strapaziert wird.

Das Schema ist m. E. auch insofern irreführend für die Interpretat ion Scho-

lems, als es ausschließlich auf der Ebene der Welt- und Gottesbi lder argumen-

tiert, eine Ebene, die Scholem aber später mehr oder weniger bewußt verläßt.

I m Schema ist das Gemeinsame von Mythos und Mystik, daß sie beide die Di -

stanz zwischen Welt und Gott zu überbrücken versuchen, also beide »panthei-

stisch« sind. »Pantheismus« ist nun aber eine rein dogmatische Kategorie, von

der sich Scholem fortschreitend abwendet.598

I m zit ierten Brief an Schocken benutzt Scholem »Pantheismus« noch gleich-

bedeutend mit »Mythos«. In seinem Enzyklopädie-Ar t ikel von 1932 ist dem

Zusammenhang von Kabbala und Pantheismus noch ein eigener Abschnitt ge-

widmet, auch in den Hauptströmungen wird dieses Problem immer wieder dis-

kutiert, in beiden Fällen betont Scholem immer die spezifische Differenz der

Kabbala gegenüber dem »Pantheismus« als solchem.599 Später dagegen scheint

Scholem diesen Begriff zu meiden, er spricht jetzt eher von »Neuplatonismus«

Diese Kategorie ist ausgesprochen problematisch, insofern »der Begriff des Pant-heismus in der klassischen Forschung letztlich immer polemischen oder apologeti-schen Zwecken« dient (Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 267). Pantheismus wird mit »Materialismus« und »Weltvergötterung« identifiziert, ganz besonders die Mystiker seien von ihm gefährdet. Besonders Hermann Cohen, der Scholem hier wohl auch deutlich beeinflußt hat, betont immer wieder, daß Pant-heismus nicht Religion sei und daß der entscheidende Schritt der Propheten gerade gegen den mythischen Pantheismus gerichtet sei: »Der Pantheismus muß daher einen Widerspruch zum Rationalismus und Idealismus bilden: er kann immer nur aus My-stik erschlichen sein, und mit Mystik in Verschleierung bleiben. Mystik aber verträgt sich auch mit Materialismus« (Cohen, Der Begriff der Religion, 28). Scholem, Art. »Kabbala« , Sp. 699ff. - Man müsse in dieser Frage immer »unter-scheiden zwischen allgemeinen Formeln, die auch pantheistisch verstanden werden können und dem wirklichen Gehalt der betreffenden Systeme« (ebd., 699), der eben nicht pantheistisch sei. - In JM wird das Problem vor allem im Zusammenhang mit der Ekstase (JM, 132f) und in der Erörterung der Sephiroth-Lehre des Sohar (ebd., 236f) erörtert, auch hier kommt Scholem zum Ergebnis, daß die Kabbalisten den »Klippen des Pantheismus« (ebd., 236) nicht zum Opfer fallen. - Zu Scholems Ver-hältnis zum Pantheismus vgl. Ben-Shlomo, »Gershom Scholem on Pantheism in the Kabbalah«, der allerdings den dogmatischen Begriff des Pantheismus kaum hinter-fragt. Auch Hamacher sieht im Pantheismus das entscheidende Merkmal von Scho-lems Mythosbegriff (Hamacher, Gershom Scholem und die Religionsgeschichte, 176), bringt das aber m. E. mißleitend in Verbindung mit der phänomenologischen Beto-nung der »lebendigen« Religion und den Theorien über primitives Denken.

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und das Problem spielt auch insgesamt eine geringere Rolle.600 Das ist nun nicht einfach terminologische Vorsicht, sondern liegt wohl auch darin begründet, daß für Scholem inzwischen eine ganz andere Art von Mythos in den Vordergrund getreten ist. Dieser Wandel deutet sich schon in den Hauptströmungen an: Wenn Scholem hier von der Kabbala als »Rache des Mythos an seinen Über-windern« QM, 38) spricht, so ist dieser »Mythos« nicht pantheistisch, sondern gnostisch: »Die Gnosis, eine der letzten großen Manifestationen des Mythos im religiösen Denken, gerade im Kampf gegen dessen monotheistische Überwin-der konzipiert, hat den jüdischen Mystikern Sprachbilder verliehen. Die Be-deutung dieses Paradoxes ist nicht hoch genug zu veranschlagen.« (Ebd.) Paradox ist das nicht nur deshalb, weil die Gnosis dezidiert antijüdisch ist - wie Scholem einmal gesagt haben soll »der größte Fall von metaphysischem Anti-Semitismus« -,601 sondern weil die gnostischen Mythen auch das genaue Ge-genteil der mythischen Welt der »Unmittelbarkeit« oder »Allgegenwart Gottes« ausdrücken, sie sind Mythen der Weltfremdheit.

Wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, ist dieser gnostische Einfluß auf die Kabbala für Scholems Darstellung von deren Geschichte höchst zentral; das bedeutet auch, daß man zumindest beim späteren Scholem den Begriff des My-thos von der Gnosis her verstehen muß und nicht umgekehrt. »Mythos« meint bei Scholem weniger eine ursprüngliche und unmittelbare Stufe des religiösen Bewußtseins denn eine (meist gnostische) Bilderwelt. Mystik und Mythos sind nicht deshalb verwandt, weil sie beide denselben (»pantheistischen«) Gottes-begriff haben, sondern weil die Mystik sich mythischer »Bilder« bedient, um diese umzudeuten. Die Affinität von Mythos und Mystik hat daher auch nur im trivialen Sinne des conservare die Form der »Aufhebung«, auf diese Idee einer »Erbschaft« des Mythos werden wir im nächsten Kapitel noch eingehen.602 >My-

In »Devekut« (1950) erörtert Scholem das Fehlen einer «mo-Erfahrung unter völli-ger Umgehung des Begriffs »Pantheismus«. In »Das Ringen zwischen dem biblischen Gott und dem Gott Plotins in der alten Kabbala« (1964) spielt das neuplatonische Denken die Rolle des Pantheismus, der Gegensatz ist hier nicht Nähe und Distanz Gottes, sondern persönlicher vs. unpersönlicher Gott. Auch in »Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Gottes« (1956) kommt der Ausdruck nicht vor. -In Kabbalah betont Scholem, daß Francks und Joels Interpretationen der Kabbala als Pantheismus falsch seien, die Kabbala sei vielmehr durch den Neuplatonismus be-einflußt (KL, 96ff). Positiv benutzt Scholem diesen Ausdruck hier nicht mehr. So überliefert Jonas: »»The greatest case of metaphysical anti-Semitism!« exclaimed Scholem once when we talked about these matters soon after the appearance of my first Gnosis volume; that was in the thirties (and in Jerusalem) when one was very much alive to this aspect of things.« (Jonas, Gnosis und Spätantiker Geist, Bd. II , 354) Bezeichnend ist auch, daß Scholem in JM seine Formulierung gegenüber dem Brief von 1937 abwandelt und nicht mehr einfach von einer »Aufhebung« des Mythos spricht, sondern vom Versuch, »ohne die Grundlage des Monotheismus zu verlassen,

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thos« und »Religion« stellen damit keinen Gegensatz auf der Ebene von (theo-logisch-dogmatischen) Weltbildern und Gottesbegriffen mehr dar, sondern sind Kategorien zur Beschreibung religiöser Prozesse, die (mit der Stoff- und mo-tivgeschichtlichen Methode) historisch erforscht werden können.

3.3.4 De-Mythifizierung im Judentum bei Scholem. Dieser Begriff des Mythos be-stimmt auch Scholems spätere historische Ausführungen zum Wandel des Gott-esbildes und des Rituals in der Religionsgeschichte des Judentums, die mit einem ähnlichen flexiblen Gegensatz historischer Tendenzen der De- und Re-Mythisie-rung arbeiten wie die Religionsgeschichtliche Schule. Bereits das Bilderverbot im-pliziere einen besonderen Gottesbegriff durch »die Absage, ja die polemische Verwerfung der Welt der Bilder und Symbole, in denen die mythische Welt zur Sprache kommt« (KS, 118). Das gilt nicht nur für Abbilder im eigentlichen Sinne, sondern auch für die bildliche Rede von Gott, diese spiele im eigentlichen Juden-tum keine Rolle mehr bzw. »insofern sie in Rückständen oder Umdeutungen hier und da sich erhielt«, existiert sie doch »nur noch als poetische Metapher, nicht aber mehr mit der symbolischen Macht des ungebrochen mythischen Bildes« (ebd.).603

Wie die Parenthese deutlich macht, geht es Scholem hier nicht um das prädikative Problem, daß Gott notwendig mit menschlichen Attributen bezeichnet werden muß - also das von Scholem einmal als »steril« bezeichnete Problem des Anthro-pomorphismus604 -, sondern um die historische Tendenz der biblischen Religion. Daher kann Scholem auch sagen, diese »Tendenz der [...] klassischen jüdischen Tradition zur Liquidation des Mythos als einer zentralen geistigen Macht« werde

dennoch zu verstehen, daß irgendetwas an ihnen [an Mythos und Pantheismus] ist, und dieses Etwas exakter zu bestimmen« (JM, 41). Scholem verweist hier auf die »Erforscher der biblischen Literatur« (KS, 118), die dieses Thema herausgearbeitet haben, nicht ohne Ironie spielt er an anderer Stelle Gunkel und Benno Jacob in dieser Frage gegeneinander aus. Nach Gunkel erfordere der Gedanke eines unkörperlichen Gottes »eine Kraft der Abstraktion, die dem alten Israel unerschwinglich gewesen wäre« (vgl. dazu aber die nächste Anmerkung), Jacob dagegen betont, daß sich Geistigkeit Gottes und Anthropomorphismus keineswegs ausschließen. Für Scholem haben »beide Autoren [...] weitgehend recht, und beide haben durch falsche Verallgemeinerung ihre Grundthese überspielt«. (MG, 11) - Ein verwandtes Thema ist die Entmagisierung des Gottesnamens, auch hier spielt Scho-lem Jacob und von Rad in ähnlicher Weise gegeneinander aus (vgl. J III , 1 lff) . Vgl.: »The paradox necessarily engendered by investing God with human attributes is sterile.« (JJC, 281) Auch Gunkel deutet das Bilderverbot nicht dogmatisch; es sei »hervorgegangen nicht aus tiefem Nachdenken, sondern aus begeistertem Schauen und gewaltigem Wollen. Darum ist dieser Jahve auch keine blasse, unlebendige Ab-straktion, ein Wesen, nur für Denker zu erfassen, sondern er bleibt die realistisch vor-gestellte, charaktervolle Persönlichkeit, die er gewesen ist.« (Gunkel, »Gottesbegriff im AT«, Sp. 1541)

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»von solchen zur Metapher gewordenen quasi-mythischen Rückständen nicht berührt.« (Ebd.) Auch wenn die rabbinische Rede von Gott voller teilweise frap-panter Anthropomorphismen ist, werden diese durch den Rahmen der rabbini-schen Exegese und des Religionsgesetzes neutralisiert. Auch hier besteht daher kein apriorischer Gegensatz zwischen »Religion« und »Mythos«, denn eine un-bzw. antimythische Religion wie das Judentum kann sich sehr wohl einer mythi-schen Ausdrucksweise bedienen, ohne ihren Charakter zu verlieren. Das scheint sich für Scholem erst innerhalb der mittelalterlichen Theologie zu ändern, die auch diese Ausdrucksweise aufgibt zugunsten einer systematischen und reinen Begrif-flichkeit. Erst hier herrscht ein wirklicher Konflikt : »Die Reinheit, um es kurz zu sagen, wird mit der Gefährdung der Lebendigkeit erkauft. Der lebendige Gott geht nie im reinen Begriffe auf.« (Ebd., 119)605

Die jüdische »Tendenz zur Liquidierung des Mythos« macht Scholem noch deutlicher in gelegentlichen Äußerungen zur besonderen Rolle des Rituals bzw. der Begründung der Gebote im Judentum: Der »unmythische Charakter des Ge-setzes« (ebd., 127) im rabbinischen Judentum drücke sich vor allem aus in der »Ablösung des Gesetzes von allem kosmischen Vollzug« bzw. seiner »Abtren-nung [...] von seinen emotionalen Wurzeln« (ebd., 163f). Das Gesetz ist kein ei-gentlich kultischer Vorgang mehr, sondern nur noch »im rein historischen, dem Eingedenken begründet« (ebd., 127).606 Das rabbinische Judentum macht dabei für Scholem sogar einen Schritt über die Bibel hinaus, in der das Ritual durchaus noch eine »kultische Repräsentation eines mythischen Vorgangs« darstelle: »Die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, die eine solche Rolle in der Thora spielt, ist für das jüdische Bewußtsein kein mythischer Vorgang mehr« (ebd.), denn »die Urgeschichte, die hier erinnert wird, ist für das Bewußtsein der Feiernden nicht etwa mythische Urgeschichte, die in einer anderen Dimension der Zeit sich voll-zieht, sondern es ist die wirkliche Historie des Volkes« (ebd., 163).607

605 Erst auf dieser Ebene sind wohl auch die Aussagen zu verstehen, in denen Scholem hier ein prinzipielles Paradox der Rationalisierung annimmt (ähnlich dem »pytha-goreischen Komma« bei Weber, Ges. Schriften zur Religionssoziologie, Bd. I, 253, dazu Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. II, 70ff): »Die Reinheit des Gott-esbegriffes zu bewahren, ohne die Lebendigkeit dieses Gottes anzutasten - das ist die unendliche Aufgabe der Theologie, die immer wieder neu gestellt, nicht restlos lös-bar ist.« (KS, 119)

606 Wie Wellhausen nimmt Scholem etwa am Pessach-Ritual einen Wandel vom »Na-turritus« zum »Geschichtsritus« an, in dem der Bezug der rituellen Handlungen zum Ackerbau verloren geht (KS, 163): »Die Riten der Erinnerung wirken nicht, sie schaf-fen keinen unmittelbaren Zusammenhang des Juden mit seiner ihn umgebenden Welt und Natur« (ebd., 163).

607 Diese Differenzierung zwischen mythischer und historischer Zeit spielt in Scholems späterem Werk kaum eine Rolle (schließt jedoch an esoterische Äußerungen über den Gegensatz zwischen Mythos und Geschichte an), während sie sonst in der Mythen-

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Anders als für die Religionsgeschichte bedeutet das für Scholem aber nicht nur eine Lockerung des naturalen Zusammenhanges bzw. formalistische Erstarrung, sondern hat positiv eine eigene Wirkung des »Eingedenkens«. Was die Riten »so ganz ohne beschwörende Geste etwa »heraufbeschwören«, ist nur das Eingeden-ken, die Gemeinschaft der Geschlechter und die Identifikation des Frommen mit der gründenden Erfahrung der Generation, die die Offenbarung empfing.« (Ebd.) So konstituiert sich auch hier, im »Medium« des Rituals der jüdische Tra-ditionszusammenhang, die Kontinuität der Geschlechter und ruft dem Juden »seine historische Identität ins Bewußtsein« (ebd.).608 Wieder adaptiert Scholem hier seinen Traditionsgedanken - die entmagisierte historische Bindung an die Vergangenheit ersetzt die kultisch-mythische Bindung an die Natur. Allerdings hebt er auch hervor, es sei äußerst bemerkenswert, daß ein dergestalt de-mythi-fiziertes Ritual überhaupt so lange so wirksam sein konnte: »Die Frage, welcher Art eigentlich jene Mächte des Eingedenkens sind, die diese Kraft zuwege brach-ten, sowie die weitere Frage, ob nicht trotz allem im geheimen noch andere Mo-mente an dieser Kraft der Ausdauer teilgehabt haben, wäre von einer in die Tiefe dringenden, echten Phänomenologie des rabbinischen Judentums aufzuwerfen und zu beantworten.« (Ebd., 164)

Bekanntlich hat Scholem in der Kabbala und der von ihr vorgenommenen Re-Mythisierung des Rituals solche Kräfte gesehen, das bedeutet aber nicht, daß er die Lebendigkeit des rabbinischen Judentums und die Wirksamkeit des »Ein-gedenkens« abstreiten würde. Wie wir im letzten Teil gesehen haben, stellt die Tradition des Eingedenkens ja auch die konstitutive Bedingung der Kabbala dar. Auch bezüglich des Rituals setzt die Krise erst mit der mittelalterlichen Philo-sophie ein, denn diese kann keinen positiven Zugang zu Ritual und Gesetz mehr finden (vgl. JM, 30ff).609

forschung v.a. im Gefolge Eliades zentral ist (vgl. etwa: Eliade, Das Hedige und dasfane, 63ff). Schon Cassirer spricht von der »absoluten Vergangenheit« des Mythos: »Die Zeit nimmt für ihn [den Mythos] nicht die Form einer bloßen Relation an, in der die Momente des Gegenwärtigen, des Vergangenen und des Zukünftigen sich ständig ver-schieben und ineinander umsetzen, sondern eine feste Schranke trennt die empirische Gegenwart von dem mythischen Ursprung und gibt beiden je einen eigenen unver-tauschbaren »Charakter«.« (Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. II, 134f) Man mag darüber spekulieren, ob Scholem hier den Ausdruck »Eingedenken« mit Blick auf Benjamin benutzt. Er scheint ihn aber in einem anderen Sinn zu verstehen: Während bei Benjamin das Eingedenken dem bestimmten und isolierten Ereignis gilt, im Gegensatz zum diffusen und anonymen »Gedächtnis« (vgl. Benjamin, Ges.ten, Bd. II 453f, auch Bd. V, 588f), scheint »Eingedenken« bei Scholem ja gerade kein »Sprung« in die Vergangenheit, sondern ein medialer, kontinuierlicher Prozeß zu sein. Die Sekundärliteratur ist in der Frage, wie Scholem die rabbinische Religion bewer-tet, durchaus gespalten. So spricht etwa Idel von Scholems »deep reticence regarding the spiritual potentialities of Rabbinism, shared by generations of Christians and

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Auch Scholem scheint eine Tendenz der De-Mythisierung in der jüdischen Geschichte anzunehmen, die allerdings nicht mit einer De-Naturierung zu-sammenfällt, sondern erst die Kräfte der Tradition weckt. Auch sein Entwurf nimmt eine Krise der »Abstraktion« an, die bestimmend für die weitere Dyna-mik ist, aber er setzt sie erst später an: Wo Wellhausen von den Priestern und Buber von den Rabbinern sprach, sind es nun bei Scholem die Philosophen, die das lebendige Judentum bedrohen. Man kann insgesamt sagen, daß Scholem die ganze kritische Problematik von »Judentum« und »Mythos« auf eine spätere Epo-che zurückzieht; erst innerhalb des mittelalterlichen Judentums kann wirklich sinnvoll von mythischen Vorstellungen geredet werden, denn »es wäre voreilig, weil wir wissen, daß in der Historie solcher »Aufstand der Bilder« [...] sich voll-zogen hat, deswegen ihn in eine Zeit zurückzudatieren, in welcher er in Wirk-lichkeit noch nicht erfolgt ist« (MG, 142). Die kritischen Methoden scheinen für Scholem erst in der Behandlung der Kabbala zu greifen, während er sie für die biblische und rabbinische Geschichte für hypothetisch befindet, weshalb seine eigenen Aussagen auch wenig über die gerade entwickelten Andeutungen hinaus gehen.

some modern Jewish scholars« (Idel, »Rabbinism versus Kabbalism«, 290). Nach Biale ist für Scholem der Rabbinismus das Stadium der Entfremdung (Biale,hom Scholem, 44f), ähnlich negativ wirkt sich diese Orientierung am Schema bei Schweid (Judaism and Mysticism, 87ff) aus. Dagegen hebt Hamacher m. E. richtig hervor, daß der Rabbinismus für Scholem durchaus etwas Lebendiges gewesen sei (Hamacher, G. Scholem und die Religionsgeschichte, 218f).

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 329

3.4 >Mystik< und allgemeine Religionsgeschichte

Scholem zeigt sich auch in seinen späteren Essays meistens relativ spröde ge-genüber der allgemeinen Religionswissenschaft bzw. -geschichte, eine Aus-nahme stellt das Verhältnis von Kabbala und »Mystik« dar: Hier sieht er sich doch am ehesten veranlaßt, auf religionsgeschichtliche und religionsphänome-nologische Erkenntnisse zurückzugreifen. Dabei geschieht dieser Rückgriff gegen einen starken Widerstand, zunächst besteht eine deutliche Abneigung da-gegen, die Kabbala überhaupt als Mystik aufzufassen, auch später betont Scho-lem immer wieder die Besonderheit der Kabbala gegenüber der Mystik im allgemeinen. Das ist oft biographisch durch Scholems heftige Abwendung von Bubers Erlebnismystik bzw. weltanschaulich durch seine Sorge um das rechte Gottesbild erklärt worden.610 So berechtigt solche Erklärungen auch sein mögen, es gilt auch zu verstehen, wie es Scholem in seinem wissenschaftlichen Diskurs gelingt, diesen Impulsen gerecht zu werden. Dabei geht es von vorn-herein weniger darum, welche Definition für Mystik gewählt oder wie diese theologisch eingeordnet wird, sondern welches Paradigma in der Forschung verwendet wird. Gerade der Rückgriff auf die Religionsgeschichte ermöglicht Scholem, einen Zugang zur Mystik zu entwickeln, der sich von der Neumystik Buberscher Prägung und dem religionspsychologischen Diskurs mystischer Er-lebnisse absetzt. Dazu muß zunächst der zeitgenössische religionswissen-schaftliche Diskurs über Mystik untersucht werden (3.4.1), um die Erörterung des Verhältnisses von Kabbala und Mystik bei Scholem zu verstehen (3.4.2). Im Anschluß kann unter Rekurs auf die neueren Entwicklungen in der Kabbala-Forschung die spezifische Differenz von Scholems Ansatz gegenüber der Reli-gionswissenschaftlichen Schule angedeutet werden (3.4.3).

So wird in der Sekundärliteratur immer wieder argumentiert. Biale betont vor allem die Ablehnung Bubers und des Existentialismus (Biale, Gershom Scholem, 112ff), Ha-macher verbucht die geringe Rolle der Erfahrung unter Diskretion: »Scholems Vor-sicht ist nicht nur die des Historikers, der nicht wagt, die Erfahrung kühner zu interpretieren als die Quellen selbst. Hier spricht auch der Metaphysiker, der die Transzendenz der Gottheit gewahrt wissen will , der das monotheistische Gottesbild vor den pantheistischen Tendenzen einer Einigungsmystik zu schützen sucht.« (Ha-macher, G. Scholem und die Religionsgeschichte, 267) Auch Rotenstreich sieht hier vor allem eine Ablehnung des Pantheismus am Werk (Rotenstreich, »Symbolism and Transcendence«, v. a. 61 lff ) - Der ganze Zusammenhang von Scholems Verhältnis zur Mystik ist jüngst breit ausgearbeitet bei Hamacher, ebd., ich kann mich hier daher kurz fassen; zu meiner Kriti k an Hamacher s. u. Anm. 634.

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330 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.4.1 Mystik in der Diskussion. »Mystik« ist ein zentrales Thema in der Religions-wissenschaft und -philosophie der Jahrhundertwende. Man kann das gesamte Spannungsfeld des Diskurses an dem charakteristischen und für Scholem bedeut-samen Beispiel Ernst Troeltschs verdeutlichen. »Mystik« kommt in dessen Werk in zwei Funktionen vor, die keineswegs kohärent miteinander verbunden werden: Einerseits spielt sie eine Rolle in der formalen Religionsphilosophie, hier betont Troeltsch, »daß das Urphänomen aller Religion die Mystik, d. h. der Glaube an Präsenz und Wirkung übermenschlicher Mächte mit der Möglichkeit der inneren Verbindung mit ihnen ist«.611 Diese Überlegungen sind erstens gegen den Histo-rismus und Relativismus auf dem Feld der Religion gerichtet: Wenn hinter der ver-störenden Vielfalt religiöser Phänomene doch letztlich dasselbe Urphänomen steht, können diese aufeinander bezogen werden. Zweitens wird durch sie mög-lich, eine Entwicklungslinie zu konstruieren, in welcher der Individualismus der Mystik die höchste Stufe ist, auf der die Religion erst zu sich selbst kommt. Drit-tens erlaubt der Fokus auf die Mystik schließlich, eine auch unter modernen Be-dingungen akzeptable Religion zu konstruieren, die zugunsten eines Kerns persönlichster mystischer Erfahrung auf alle »äußerlichen« Rituale verzichtet.

All e drei Momente kann man auch am Begriff der »Erlösungsreligion« auf-zeigen, der Ende des 19. Jahrhunderts Konjunktur bekommt: »Erlösungsreli-gionen« werden nicht nur von der Natur- sondern auch von der sittlichen (oder Moralitäts-) Religion unterschieden als die »individualistische« Stufe der Reli-gion; dahinter steht die Annahme, daß erst die Erlösungsvorstellung die Aus-differenzierung des Individuums aus der moralischen Ordnung ermögliche. Die Religion ist daher nicht mehr der Gipfel der Kultur, sondern umgekehrt gilt jetzt, »daß in die Einheitlichkeit des Kulturlebens durch das Vorhandensein der Religion ein Zwiespalt kommt, der ohne sie nicht vorhanden wäre«.612 Damit reagiert die neue Begrifflichkeit auch auf das zunehmende Bewußtsein eines Wi-derstreits von Moral und Religion bzw. auf die Verschiebung des intellektuel-len Klimas in Richtung der Kulturkritik . Gerade die mystische Religiosität -aber auch, wie wir noch sehen werden, die eschatologische und gnostische -

611 Troeltsch, Ges. Schriften, Bd. II, 493. 612 Siebeck, Lehrbuch der Religionsgeschichte, 5. - Vgl.: »Mit Hilfe der Kategorie der

»Erlösungsreligion« distanzierten sich E. Troeltsch, W. Bousset und andere Religi-onshistoriker systematisch von der älteren liberalen protestantischen Theologie be-sonders A. Ritschis. Hatte die ältere liberale Theologie auf eine Harmonie zwischen Kultur und Religion gesetzt, so avancierte jetzt die Distanz zur Welt zum unter-scheidenden Merkmal des Christentums.« (Kippenberg, Die Entdeckung deronsgeschichte, 178) - Colpe weist auf das besondere Problem dieses Begriffes hin: nicht nur »Erlösung«, sondern auch »Religion« sei äußerst zweideutig, der Begriff daher zu vermeiden (Colpe, Art. »Erlösungsreligion«, 326f).

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 331

kann als Vorbild einer Individualreligion dienen, weil sie mit allen einengenden Formen bricht. Allerdings bleibt das nicht unambivalent, denn Troeltsch wil l gleichzeitig gut protestantisch das Christentum gegen »bloße Mystik« und Welt-flucht abgrenzen und das ethische Element keineswegs preisgeben; auch steht die Mystik, wie wir bereits gesehen haben, im permanenten Verdacht, zu »Pan-theismus« und Weltvergötterung zu führen.613

Besonders deutlich wird diese Spannung, wenn man auf die zweite Funktion des Begriffs »Mystik« eingeht, die sich in Troeltschs stärker historischen Schrif-ten findet. Entsprechend der religionsgeschichtlichen Methode versteht Troeltsch »Mystik« hier als historisches und soziales Phänomen mit ebenfalls historisch spezifizierten Voraussetzungen und Folgen. So betrachtet ist Mystik aber gerade kein »Urphänomen«, denn historisch sei Mystik »immer etwas Sekundäres«, sie setze »die Objektivierung des religiösen Lebens in Kulten, Riten oder Dogmen bereits voraus«, dagegen sei die »religiöse Urproduktion« selbst niemals my-stisch.614 Auch hier wird also die religionsgeschichtliche Frage nach der Vor-geschichte der religiösen Bildungen fruchtbar: Natürlich habe die Mystik ein subjektiv-psychologisches Element, aber mystische Visionen seien »selten schöp-ferische neue Erkenntnisse, sondern fast immer Ausmalungen, Ausdeutungen des gemeinsamen Besitzes, der hier nur eine Belebung und Fortsetzung erfährt«.615

Mystik sei aber auch deshalb nicht radikal privat, weil sie soziale Wirkungen aus-übe: Auch der Mystiker bleibe »ein Mensch und unterliegt dem Zwang der Selbstmitteilung und dem Bedürfnis der Aufnahme fremden Lebens in das ei-

3 Zur Abneigung der protestantischen Theologen gegen die Mystik, vgl. etwa den Li-teraturbericht von McGinn, Die Mystik im Abendland, Bd. I, 385ff; klassisch ist Harnacks Diktum »Ein Mystiker, der nicht katholisch wird, ist ein Dilettant.« (Harnack, Dogmengeschichte, Bd. III , 436) geworden. - Die stark wertende Unter-scheidung zwischen weltflüchtigen und weltzugewandten Religionen zieht sich durch die gesamte Theologie, Religionsgeschichte und Religionswissenschaft und stellt auch die spezifische Differenz zu den Neumystikern dar; man kann hier eine spezifisch protestantische Orientierung an einem positiven Weltbegriff vermuten. Immer sind dabei die weltflüchtigen Religionen zugleich die »orientalischen'; wir werden uns mit diesem Orientalismus der Religionsgeschichte im nächsten Kapitel am Beispiel der Gnosis auseinandersetzen.

14 Troeltsch, Ges. Schriften, Bd. I, 850. - Mystik »enthält dadurch immer ein Stück Paradoxie, eine Gegensätzlichkeit gegen die Massen und deren Durchschnitt, eine künstliche und doch ihre eigene Künstlichkeit im Unmittelbaren auslöschende Stei-gerung« (ebd.).

15 Troeltsch, a.a.O., Bd. I, 350. - In Troeltschs historischen Schriften gibt es, wie Mo-lendijk schreibt, »nicht eine mystische Kernerfahrung, die dann in einem späteren Moment im Rahmen einer bestimmten religiösen Sphäre institutionalisiert wird, son-dern die Erfahrung selbst ist erst möglich aufgrund von Traditionen und Institutio-nen« (Molendijk, Zwischen Theologie und Soziologie, 185).

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gene. Auch ist ihm das nicht bloß menschliche Schwäche, sondern ein christli-

ches Gebot.«6 16 Dabei erscheint die historisch konkrete Wirkung der Myst ik

durchaus ambivalent: Die der Religion wesentliche gemeinschaftsbildende Kraft

sei bei der Mystik - anders als in den anderen Typen »Kirche« und »Sekte« - nur

schwach ausgeprägt. Auch daher sei Myst ik »sekundär«: »Sie schafft keine Ge-

meinschaftsformen und formt weder den dazu nötigen Gemeinsinn und Au to-

ritätsglauben, [wi e die Kirche] noch den nicht minder nötigen Fanatismus und

Uniformitätsdrang [wie die Sekte]. Sie lebt in Gemeinschaften und von Gemein-

schaften, die andere, rücksichtslosere Kräfte gebaut haben«617. Daher ist auch die

Bewertung der Rolle der Mystik in der Gegenwart sehr viel weniger optimistisch

als in den systematischen Schriften: Mystik sei nicht nur »Verinnerlichung und

Verlebendigung der objektiven Religion« sondern löse diese auch von innen auf,

wenn sie heute die »heimliche Religion der Gebildeten« sei, so bedeute das nicht

nur eine Vertiefung religiöser Erfahrung, sondern auch eine Gefahr für Religion

überhaupt.618 Wir werden später noch sehen, wie diese ambivalente Figur der ge-

fährlichen Befreiung auch Troeltschs Interpretation der »Säkularisierung« prägt.

3.4.2 Kabbala und Mystik bei Scholem. Der von Troeltsch entwickelte Zugang

zur Myst ik als historische Bewegung bleibt auch für Scholem fundamental.619

Wie schon im Fall der krit ischen Methode und des Mythosbegriffes erreicht

616 Troeltsch, Ge5. Schriften, Bd. I, 866. - Sehr charakteristisch für die ideologische Un-wahrscheinlichkeit von Troeltschs Zugang zur Mystik ist eine Kriti k Bubers von 1910; dieser bezweifelt, ob die Mystik »überhaupt eine soziologische Kategorie ist«, denn die sozialen Wirkungen seien »bloß Verbindungsprodukte; der eigentliche Typus der Mystik hat damit nichts zu tun«, dieser sei vielmehr als »religiöser Solipsismus« zu bestimmen (zitiert nach Hamacher, G. Scholem und die Religionsgeschichte, 285).

617 Troeltsch, Ges. Schriften, Bd. I, 934. - Am Ausgang des Buches wird deutlich, daß Troeltsch sich auch deshalb auf die Mystik bezieht, weil er sowohl die supranatura-listische Kirche als auch die weit- und wissenschaftsfeindliche Sekte ablehnt. »Und so bleibt Troeltschs Denken über Religion im Zwiespalt zwischen (verabsolutierter) Innerlichkeit und (gemeinschaftsbildender) Geschichte befangen. Einerseits geht es um die (überhistorische) Wahrheit des Kerns der (christlichen) Religion, andererseits um die Beziehung zu Geschichte und Gemeinschaft, ohne welche es keine lebendige Religion gibt.« (Molendijk, Zwischen Theologie und Soziologie, 169)

618 Troeltsch, Ges. Schriften, Bd. I, 858, 931. 619 In »Mysticisme et Societe« bezeichnet Scholem Troeltschs Soziallehren als »extre-

mement interessante et feconde« (ebd., 4), sie stellten zusammen mit Arnolds Un-partheyischer Ketzergeschichte eine Ausnahme dar in der ganz von einer ahistorischen Psychologie dominierten Mystikforschung. - Bezeichnenderweise bezieht sich Scho-lem nur auf Troeltschs historisches Werk, nicht auf dessen Systematik. Er hört im Wintersemester 1915/16 Troeltschs Vorlesung »Religionsphilosophie auf religions-geschichtlicher Grundlage«, die ihm als »sehr leicht [...], aber eben im tiefsten nichts wert« erscheint (Br I, 104).

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 333

Scholem diese Posit ion in mehreren Schritten. Wi r haben schon gesehen, daß

der jugendliche Scholem heftig gegen Bubers Auffassung von Myst ik polemi-

siert: »Die jüdische Myst ik baut sich nicht [...] auf ein Erlebnis auf, sondern [...]

auf Tradition.« (Br I, 50) Das prägt auch seine ersten Veröffentlichungen über

die Kabbala; so polemisiert er etwa in Lyrik der Kabbala gegen Meir Wieners

Versuch, die Kabbala »nacherlebbar« zu machen.620 Für Wiener ist das Zentrum

der Kabbala das spontane und ekstatische Gebet, das allerdings von seiner Über-

formung zu befreien sei, denn »auch die Kabbala, die erst tiefste Innerl ichkeit

erstrebte, verfiel bald in Werktät igkeit und Ritual ismus, in Zauberei und

Magie«.621 Scholem polemisiert aufs heftigste gegen Wieners »anmaßenden My -

stizismus« (T II , 666), dessen »mißlungenen Erlebnis-Simmel« (ebd.) und »un-

begründeten Hochmut des Erlebniskundigen« (ebd.). Scholem behauptet sogar

allgemein, daß die »Anschauungsweise der Religionspsychologie [...] schließlich

nicht jene Dichte und Dignität [besitze], die sie für eine in das Innere der syste-

matischen Zusammenhänge der religiösen Phänomene strebende Untersuchung

[...] verwendbar scheinen ließe« (ebd., 667).622 Allerdings bleibt dies eine Be-

hauptung; in einer für den jungen Scholem typischen Weise besteht der Aufsatz

aus einem Gemisch von vagen Andeutungen, apodiktischen Behauptungen und

schärfster Kritik , das für den Leser kaum verständlich gewesen sein dürfte.623

Sachlicher erörtert Scholem das Verhältnis von Kabbala und »Mystik« in sei-

nem Enzyklopädie-Art ikel von 1932:

Die K[abbala] hat zwar alle mystischen Bewegungen im Judentum in sich aufge-nommen; nimmt man jedoch Mystik nur da an, wo eine unmittelbare Vereinigung

0 Scholems ebenfalls 1921 erschienene Rezension über die Sohar-Anthologie von Seid-mann ist in Tenor und Inhalt ganz ähnlich, auch hier verurteilt Scholem die »mysti-fizierende Übersetzung« (T II , 644), den »Mystizismus um jeden Preis« (ebd., 645) und die »ruchlose Mystagogie« (ebd., 646): »Das war früher einmal die Sprache des Prager Bar-Kochba und ist jetzt die des Berliner Blau-Weiß, niemals aber war es die Sprache des Sohar.« (ebd., 649) Recht unakademisch schlägt Scholem hier vor, »dem mystischen Präzisösentum den Schädel einzuschlagen« (ebd., 650).

1 Wiener, Lyrik der Kabbala, A7i. - Wieners Anthologie ist ein gutes Beispiel dafür, wie der Mystik-Begriff ein äußerst fremdes Phänomen aktualisierbar machen soll: Ihm geht es darum, das »ursprüngliche Erlebnis« der Autoren freizulegen, das »oft durch Formausschreitungen [...] fast unkenntlich gemacht wurde« (ebd., 52).

2 Scholem bezweifelt, »ob in dem Schema von lebendig-unanwendbarem Erlebnis und kultisch-praktisch gerichteter Verknöcherung des Dogmas sich taugliche und nicht nur gar zu modern schillernde Einsichten über die geistigen Grundbestände der Re-ligionsgeschichte erzielen lassen. Bei solchen Dingen hängt viel von der Terminolo-gie ab« (T II , 665).

3 So weist er auf die Theorie des Klageliedes hin, die »hier nicht dargelegt werden kann« (T II , 667); auch kritisiert er mit Andeutungen auf eine schwer verständliche Theolo-gie der Offenbarung Wieners Begriff der Religion als »bodenlos« (vgl. ebd.).

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des Menschen mit Gott unter Aufgabe der menschlichen Individualität erstrebt wird, so wäre die Kfabbala] dies nur zu einem sehr beschränkten Teil, da nur we-nige ihrer Vertreter ein solches Ziel erstrebt oder gar als erstrebenswert ausdrück-lich formuliert haben. Kfabbala] ist aber Mystik, insofern sie eine Welterkenntnis anstrebt, deren Grundlagen über das Rationale hinaus - das sie freilich nur selten direkt verschmäht hat - auf dem Weg der Kontemplation und Erleuchtung ge-wonnen werden [...].624

Deutl ich steht hier noch das Problem des Pantheismus und Scholems Abgren-

zungsbedürfnis gegen diesen im Vordergrund. Das Problem der »Mystik« wird

aber auch deshalb virulent, weil Scholem inzwischen sich mehr und mehr vom

Selbstbild der Kabbala als uralter Tradit ion entfernt hat - damit trit t auch das

»experimentelle« Moment, der individuelle Beitrag der Kabbalisten also, stärker

in den Vordergrund, ohne das Scholem freilich auf Kategorien der Religions-

psychologie rekurr ieren würde.6 25 In der Einleitung zu den Hauptströmungen

betont Scholem dann, daß er es für »unfruchtbar« halte, »hier in allgemeinen

Abstrakt ionen zu bleiben«, und »daß es Myst ik als solche, als ein Phänomen

oder eine Anschauung, die unabhängig von anderem in sich selber besteht, in

der Religionsgeschichte im Grunde gar nicht gibt. Es gibt nicht Myst ik an sich,

sondern Myst ik von etwas« QM, 6).626

Nicht in der Wesensdefinition von Myst ik und nicht in ihrer geschichtsphi-

losophischen Best immung durch ein Dreistadiengesetz liegt der springende

624 Scholem, Art. »Kabbala«, Sp. 630f. 625 Scholem betont, daß die Kabbala zwar behaupte, »keine eigene Entwicklung« zu

haben, daß aber die »Traditionsketten, die sich zur Bekräftigung der ununterbroche-nen Stetigkeit der K. in vielen Werken finden, willkürlic h und lückenhaft« seien (Scho-lem, Art. »Kabbala«, Sp. 631). Damit gibt Scholem allerdings den Bezug zur Tradition nicht auf, er betont jetzt das »Paradox des Zusammenfalls von Intuition und Tradi-tion« in der Kabbala. Die »schon im Namen gelegene Verbindung mit einer histori-schen Kategorie (K. = das durch Tradition Empfangene)« weise »auf konstitutionelle Unterschiede zu der in viel stärkerem Maße geschichtsfremden Mystik anderer Völ-ker und Religionen hin« (ebd., Sp. 631). - Vgl. Dan, der hervorhebt, daß Scholem erst ab 1941 mehr als sporadisch von Mystik spricht (Dan, »Gershom Scholem«, 43).

626 Es sei »erst der modernen Zeit vorbehalten geblieben, so etwas wie eine abstrakte Re-ligion der Mystik überhaupt zu erfinden« (JM, 6f). - An anderer Stelle erörtert er das Problem einer Wesensdefinition besonders deutlich: Auf den ersten Blick habe die Mystik überhaupt keinen Kontext, denn »quelle que soit la definition que Ton donne du mysticisme, il est indeniable que celui-ci tire le mystique hors des contextes so-ciaux traditionelles« (Scholem, »Mysticisme et societe«, 4). Gerade die Distanz des Mystikers zur Gesellschaft »se trouve si fortement souligne dans les ouvrages theore-tiques sur les mystiques et [...] dans les etudes contemporaines du mysticisme oü la Psychologie regne en maitresse« (ebd., 5). Vgl auch die allgemeine Kriti k des We-sensbegriffes in historischen Untersuchungen (SZ, 17) und die Kriti k des Konzeptes eines »Wesens des Judentums« in: Scholem, »Judaism«.

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 335

Punkt von Scholems Zugang zur Mystik, sondern in der Einsicht in die Dyna-mik zwischen Mystik und dem, von dem sie Mystik ist; im Falle der Kabbala be-triff t dies das Verhältnis von Kabbala und offiziellem Judentum. Scholem führt seine Gedanken dazu erstmals 1937 in Philosophy and Jewish Mysticism aus und übernimmt diese dann im wesentlichen in die Einleitung der Hauptströmungen. Es sind Reflexionen über das »Geheimnis des Erfolgs der Kabbala« (ebd., 25) im Kontrast zur relativen Wirkungslosigkeit der rationalen Philosophie: ein Erfolg, der laut Scholem letztlich darin begründet sei, daß das Verhältnis der Kabbala zum »geistigen Erbe des rabbinischen Judentums ein anderes ist als das der Phi-losophie, und zwar eines, das tiefer und positiver mit den Kräften zusammen-hängt, die in diesem Judentum wirken« (ebd., 25).627 Wir haben oben (Kap. 2.8) schon gesehen, daß die Erscheinung der Kabbala eine Bindung an »Offenbarung« und »Tradition« voraussetzt, das unterscheidet das seinerzeit sozial breitenwirk-same Phänomen ja gerade vom auch heute noch möglichen privaten Mystizis-mus. Gerade diese Bezogenheit auf die religiöse »Urproduktion« konstituiert die Wirksamkeit der Kabbala in einer traditionalen Gesellschaft, sie bedeutet aber auch, daß die Kabbala nicht losgelöst von der traditionellen und offiziellen Re-ligion betrachtet werden kann.

Einerseits ist der Mystiker von seinem Kontext abhängig: Er greift auf die re-ligiöse Sprache der Tradition zurück, um seinen Erlebnissen Ausdruck zu verlei-hen.628 Umgekehrt kann der Mystiker aber auch in verschiedenen Weisen sozial wirksam werden: Er kann die Tradition uminterpretieren oder bereichern, er kann neue Werte verkörpern und durchsetzen, er kann sich auch in einer Sekte organi-sieren. Diese Spannung, in welcher der Mystiker lebt, besteht daher keineswegs nur zwischen Erlebnis und Ausdruck überhaupt, sondern viel deutlicher zwischen dem Mystiker und dem je besonderen historischen Milieu. Zwar spricht Scholem auch vom Paradox des mystischen Erlebnisses überhaupt, das jede Sprache über-steigt und sich doch ausdrücken will (etwa JM, 5; KS, 15), aber dieses Problem,

Das setzt eine bestimmte Interpretation der mittelalterlichen Religionsphilosophie vor-aus, nämlich daß es sich hier um eine frühe und unvollkommene Art der Aufklärung gehandelt hat; diese Interpretation hat bekanntlich Leo Strauss in Frage gestellt. Nach Bouretz »erkennt Leo Strauss also die Grenze der Scholemschen These in der Tatsa-che, daß sie wider Willen teilweise Gefangene des Zirkels jenes Selbstverständnis ist, den die moderne Philosophie von ihrer Überlegenheit gegenüber der mittelalterlichen Philosophie hat« (Bouretz, »G. Scholem und das Schreiben der Geschichte«, 117). Vgl.: »Le mystique reste un etre humain apres son experience mystique. Cela signifie qu'il doit s'exprimer, et c'est lä un point fondamental [...] Il est simplement inexact de dire que l'on peut separer ce besoin de communiquer son experience de la totalite de son experience.« (Scholem, »Mysticisme et Societe«, 8) Mehrfach betont Scholem, es sei die fundamentale Schwäche psychologischer Erklärungen der Mystik, daß sie den Ausdruck von einer sprachlosen Ur-Erfahrung trenne (ebd., 8; KS 26f; MG, 156f)-

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336 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

das man das Paradox der Prädikation nennen kann - Wie kann ein endliches Prä-

dikat etwas Unendliches darstellen? Wie kann die alltägliche Sprache ein mysti-

sches Erlebnis beschreiben? - , ist hier nicht das entscheidende.629 Scholem betont

ja auch immer wieder, daß die Kabbalisten anders als andere Mystiker kaum ein-

mal über die prinzipielle Begrenztheit der Sprache (JM, 19f) klagen. Sie verfassen

auch in der Regel keine autobiographischen Berichte ekstatischer Erlebnisse (ebd.,

16ff), die notwendig an die Grenze der Sprache kommen müssen, sondern

mentare, die eben im Medium der Tradition und damit der Sprache bleiben und

sich nicht an ihren Grenzen stoßen. Aber Grenzen haben sie doch: Das »paradoxe

createur«630 der jüdischen Mystik liegt im Verhältnis zur besonderen Sprache der

Tradition, in der sie leben. Denn das Problem der Kabbala ist nicht, wie man über-

haupt von Gott reden kann, sondern wie man legitim von Gott reden kann, das

heißt, wie man mit seiner Rede von Gott im traditionell vorgegebenen Rahmen

bleiben kann. Daher gerät der Mystiker nicht in einen (einsamen) Konflik t mit der

Sprache, sondern in einen Konflik t mit seiner besonderen Tradition, der stets

auch einen politischen Aspekt hat: »Cependant, par le seul paradoxe de ce qu' il

proclame, le mystique a toujours remue la societe dans ses profondeurs«.631 In

sem Paradox - man kann es das Paradox der Legitimität nennen - liegt für Scho-

lem eine spezifische Bestimmung seines Gegenstandes »Kabbala«.632

Dieses Paradox ist verdeckt: Der Kabbaiist ist für Scholem kein Individualist,

der sich nur scheinbar oder aus taktischen Gründen mit traditionellen Mitteln

ausdrückt - das hatten Graetz und Franck angenommen - , sondern jemand, der

Als solches Problem der Prädikation als »UnVerhältnismäßigkeit zwischen Aussage-tendenz und -möglichkeit« behandelt Haas das mystische Paradox (Haas, Mystik als Aussage, 11 Off, zahlr. Literatur, hier 115), bei Luhmann/Fuchs steht die rhetorische Paradoxie auf der Ebene der Kommunikation im Vordergrund, auch sie führt aller-dings zu einer apophatischen Aussageweise hin (Luhmann/Fuchs, Reden undgen, bes. 7ff, 70ff)- Ruh (»Überlegungen und Betrachtungen«) kritisiert m. E. zu recht den leichtfertigen Gebrauch des Paradoxiebegriffs bei der Untersuchung der Mystik. -In einer an Scholem angelehnten Weise hat Weeks die deutsche Mystik dargestellt. Er erörtert einleitend sehr klar, warum seiner Ansicht nach die an der mystischention ausgerichtete Fragestellung die Mystik besser verständlich mache als die Frage nach dem »Erlebnis« (Weeks, German Mystüdsm, 1-23).

Scholem, »Mysticisme et Societe«, 7. Das Paradox der Prädikation wäre Scholem da-gegen wohl ebenso steril erschienen wie das des Anthropomorphismus. Scholem, »Mysticisme et Societe«, 28. Das Spezifische und zugleich Einheitsstiftende der jüdischen Mystik liege in ihrer Stel-lung zu den »großen und bestimmenden Mächten« der jüdischen Religion (JM, 20f)-1940 schreibt Scholem, »unique nature« und »specific character« der jüdischen My-stik ließen sich gerade von einem »historical viewpoint« aus erkennen, nämlich die Tatsache »that these were mystical movements which strove increasingly for influence in the social and national realism« (PM, 122).

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 337

tatsächlich innerhalb der Tradition sprechen wil l und die Konflikte, die er mit ihr hat, auch nicht als solche sieht. Lesbar wird das Paradox daher erst aus anderer Perspektive: »Denn in der Tat arbeitet der Mystiker in weitem Maße unbewußt, und er ist sich vielleicht über den Zusammenstoß des Alten und Neuen, den der Historiker mit so beflissenem Eifer herausstellt, durchaus nicht im Klaren.« (KS, 51) Wir werden noch sehen, daß diese Unbewußtheit ganz zentral nicht nur für die politische Wirkung, sondern auch für die interne Entwicklung der Kabbala ist.

Scholems betont später oft, daß die Bedeutung der Kabbalisten nicht in ihrer persönlichen Religiosität liege, sondern darin, »was sie zum Verständnis der »hi-storischen Psychologie« des Judentums beitragen« (ebd., 9). Ihm geht es um das ganze Judentum, nicht um einzelne Persönlichkeiten, die kabbalistischen Texte liest er daher als »Symbole [...], in denen sich die seelischen Erfahrungen der My-stiker mit den historischen Erfahrungen der jüdischen Gemeinschaft fast unlös-lich verschränkten oder in der Tat eine rätselhafte Einheit bildeten. Es ist dieses Ineinanderverwobensein zweier sonst in der Geschichte der religiösen Mystik oft so ganz getrennter Bereiche, das den spezifischen Charakter der jüdischen Kab-bala geprägt hat.« (ebd., 8) Die so beabsichtigte Einordnung in die jüdische Ge-schichte bzw. die Erkenntnis der Entwicklungsgeschichte kann aber die Religi-onsgeschichte offensichtlich besser herausarbeiten als eine Religionspsychologie oder -phänomenologie. Nur die historisch-kritische Methode, die das Alte und das Neue trennt und in seiner Verschiedenheit sichtbar macht, kann das eigentli-che Paradox der Kabbala sichtbar machen, vom Erlebnisbegriff und der Einfüh-lung wird sie dagegen wieder verwischt. Gerade aus der religionsgeschichtlichen Fragestellung wird also auch die zentrale Bedeutung der Philologie verständlich, denn sie ist jetzt nicht »nur« Arbeit an der »Oberfläche« der Ausdrucksform bzw. »nur« Vorbereitung auf die Beschäftigung mit dem mystischen Erlebnis »selbst«, sondern die Arbeit an dieser Ausdrucksschicht ist die Entschlüsselung.

Gerade am Beispiel der »Mystik« kann man sehen, wie nützlich es sein kann, auf das der Forschung zugrundeliegende »Paradigma« zu achten. Erstens folgt aus der systematischen Depotenzierung der Erfahrungsfrage keineswegs, daß Scholem nicht an die Existenz einer unmittelbaren Erfahrung in der Kabbala »glaubt'; die Debatte über diese Frage läuft daher auch weitgehend ins Leere. Be-zeichnenderweise wird er in dem Moment, in dem sein Paradigma feststeht, we-sentlich gelassener und leugnet nicht mehr vehement, daß es auch in der Kabbala eine Erfahrung der unio bzw. eine ahistorische Erfahrung gibt.633 Nur hat diese

Scholem kann einräumen, daß es durchaus eine »ahistorische Orientierung« des Mystikers geben möge, aber »in der Religionsgeschichte ist es sein Eindruck auf die geschichtliche Welt, sein Zusammenstoß mit dem religiösen Leben seiner Zeit und einer Gemeinschaft, die ins Gewicht fallen« (KS, 11). Es spiele daher auch letztlich keine besonders große Rolle, ob man die Erfahrung »als unio mystka oder als »bloße«

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338 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Frage jetzt ihre Bedeutung verloren: Wissenschaft besteht schließlich nicht darin, irgendwelchen Glaubenssätzen Ausdruck zu verleihen, sondern eben darin, manche lebensweltliche Fragen in Probleme umzuwandeln und dabei andere auszuschalten bzw. einzuklammern. »Erfahrung« ist innerhalb von Scholems Fra-gestellung aber kein Problem, sondern ein »Wort ohne Begriff« (Bachelard) und die Frage, ob es für Scholem eine unmittelbare mystische Erfahrung gibt oder nicht, läßt sich kaum beantworten: »I consider it mainly a matter of interpreta-tion whether it is seen as an immediate or a mediated experience.« (Br II , 35).634

Zweitens zeigt sich, daß man für Scholems Zurückhaltung hinsichtlich der mystischen Erfahrung nicht ausschließlich »persönliche« oder »weltanschauliche« Gründe suchen muß wie die vielberufene »Keuschheit« oder eine Sorge um das rechte Gottesbild. Sicher haben die Polemik gegen Bubers Erlebnislehre, die Re-zeption der - gegenüber der unio mystica feindlichen - jüdischen Theologie und die Beschäftigung mit der kabbalistischen Sprachtheorie hier Scholems Haltung motiviert. Ihre schlußendliche Form findet diese Haltung aber in einem spezifi-schen Paradigma, sie ist daher zumindest zum Teil auch auf dessen Eigenlogik zurückzuführen und nicht notwendig auf eine Sprachphilosophie oder gar einen religiösen Hintergrund. Wie wir sehen werden, ist seine ganze Theorie der sym-bolisch vermittelten Mystik nicht nur eine Konsequenz linguistischer Überle-gungen, sondern auch der Versuch, der religionsgeschichtlichen Dynamik der Kabbala gerecht zu werden.

Drittens ist es auch irreführend, Scholems Zurückhaltung einfach als »wis-senschaftliche Distanz« schlechthin zu verbuchen, denn in anderen Paradigmen ist diese Zurückhaltung keinesfalls in derselben Weise gegeben, wie das Beispiel der Religionsphänomenologie zeigt. Die Alternative besteht zunächst nicht zwi-schen einem gläubigen und einem wissenschaftlichen Zugang, sondern inner-

communio mit dem Göttlichen« deute (ebd., 20; vgl. auch Scholem, »Mysticisme et Societe, 19f). Das ist generell gegen Hamacher (G. Scholem und die Religionsgeschichte) einzuwen-den, die unter Heranziehung von reichem Material nachzuweisen versucht, daß Scho-lem keinesfalls, wie oft behauptet, das unmittelbare Erlebnis der Kabbalisten leugne und er eine »kontextualistische« Theorie der Mystik vertrete, d. h. die Theorie, daß alles an der Mystik Interpretation sei. Allerdings liegt ein seltsam apologetischer Zug über Hamachers Ausführungen, so etwa, wenn sie Scholems explizite Ausklammerung der Frage, was der Mystiker wirklich erlebt, doch wieder »weltanschaulich« erklärt durch Sorge um das rechte Gotteskonzept oder gar durch »»Keuschheit«, über die Erfahrung selbst zu sprechen« (ebd., 270). Es ist m. E. auch mehr als fraglich, ob die Annahme einer genuin religiösen Erfahrung »der verborgene tragende Pfeiler« von Scholems Werk sei (ebd., 329); selbst wenn man Hamacher darin folgt, daß man Scholem kei-nen konsequenten Kontextualismus unterschieben sollte, ist dieser Schluß wenig über-zeugend und weckt den Verdacht, daß hier ein bestimmtes Vorverständnis von Religion (und Religionswissenschaft) vorausgesetzt ist. Vgl. dazu meine Rezension.

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 339

halb von diesem zwischen einer Perspektive auf die Mystik als menschliches Ur-phänomen und einer auf ihre Funktion innerhalb einer bestimmten Tradition.

Wenn die Mystik allerdings nicht mehr »Urphänomen« ist, kann sie auch nicht mehr als normative Grundlage für eine Religionsphilosophie herangezogen wer-den, wie das etwa noch Troeltsch versucht hatte. Nur weil Scholem die Frage nach der Gültigkeit der religiösen Erfahrung gar nicht mehr stellt - bzw. nicht durch Rekurs auf religiöse »Erfahrung« für lösbar hält -, kann er die radikale Hi-storisierung der Mystik vornehmen. Wieder zeigt sich die Ironie der Erfor-schung der Kabbala: Erkennbar ist sie eigentlich nur aus einer Außenperspektive, denn nur der, der ihren eigenen Wahrheitsanspruch genauso einklammert wie die Frage, was der Mystiker »eigentlich« erlebt, kann überhaupt etwas von der inne-ren Dynamik der Kabbala erkennen.

3.4.3 Die Grenzen des Paradigmas. Es hat sich gezeigt, daß Scholems Zugang zum Judentum bzw. zur Kabbala wesentlich durch die religionsgeschichtlichen Kategorien geprägt ist, durch die er sie wahrnimmt. Allerdings unterscheiden sich Scholems Untersuchungen in einigen Punkten von der »Religionsge-schichte«, nicht selten ist er mehr an der älteren Kriti k orientiert: Scholem bleibt der Kommentator theologischer Schriften individueller Autoren, geht kaum einmal auf Kult und Ritual ein und macht selten den wirklichen Versuch, den »Volksglauben« zu rekonstruieren. Auch wenn seine Darstellung der Kabbala daher an der politischen Dynamik der »Mentalität« orientiert ist, bleibt Scholem gegenüber der eigentlich soziologischen Dimension der Methode fremd: Er tendiert dazu, die Frage nach dem »Sitz im Leben« nur ganz allgemein zu be-antworten und sich auf die Untersuchung rein theoretisch-spekulativer Quel-len zu beschränken.635 Teilweise liegt der methodische Konservativismus in der Natur der Texte begründet, die ein solches Verfahren schwer zulassen, wie wir schon an der Diskussion um den Sohar gesehen haben. Aber man geht wohl nicht fehl in der Annahme, daß es vor allem der emphatische Begriff von »Phi-lologie« ist, der eine gewisse Resistenz gegen die über den Text hinausgehenden Methoden nach sich zieht: Nur als Kommentator von Texten steht auch der Wissenschaftler noch in jener problematischen (oder gar illusorischen) Konti-nuität mit seinem Gegenstand, von der auch Scholem immer wieder spricht.

Eine wirklich soziologisch orientierte Untersuchung der Kabbala hat neuerdings Sharot vorgelegt (Sharot, Messianism, Mysticism, and Magic), hier kann man aber auch erkennen, wie schwierig es ist, diesen Anspruch einzulösen. Denn die allge-meine Darstellung der sozialen Verhältnisse zur Zeit der Ereignisse eröffnet ja noch keine Einsicht in die Entwicklung der Kabbala und kann eine Analyse der theologi-schen Doktrinen kaum ersetzen, tatsächlich paraphrasiert Sharot über weite Strecken Scholems Analysen und illustriert sie lediglich.

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340 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Scholem unterscheidet sich von den Religionsgeschichtlern auch in seiner fast ausschließlichen Konzentration auf die innerjüdischen Traditionen. Das metho-dische Postulat, zuerst aus der eigenen Tradition zu erklären, wird von ihm mit großer Konsequenz durchgeführt - so räumt er etwa der katharischen Bewegung keinen Einfluß auf die Gnosis der Kabbala ein (vgl. etwa UA, llff ) -; das ver-hindert in der Regel auch, daß es zu wirklich ausgeführten Vergleichen kommt. Wir werden an seiner Gegenüberstellung von sabbatianischem und paulinischem Antinomismus noch sehen, wie der implizite Vergleich bei Scholem eine gewisse Rolle spielt (s. u. Kap. 3.6.7).

Schließlich ist Scholem äußerst zurückhaltend, was die explizite Formulie-rung seiner leitenden Annahmen angeht, das erschwert das Verständnis und die Bewertung seiner Aussagen außerordentlich. Auch diese Beschränkung mag mit dem Selbstverständnis des »bloßen Philologen« zusammenhängen, der sich nur im Text ausspricht und nicht zu allgemeinen Aussagen erhebt, es ist wohl aber auch in einer Unzufriedenheit mit den zeitgenössischen Theorien über Religion begründet, die ja auch bei den Religionsgeschichtlern oft weit hinter ihren ei-gentlichen Forschungsergebnissen zurückbleiben. Scholems Zurückhaltung schützt seine Texte vor solchen rhetorischen und zeitgebundenen Formulie-rungen, aber sie macht sie auch oft mißdeutbar, wie wir bereits an seinen Aus-sagen über biblische und rabbinische Religion gesehen haben.

Trotz dieser Abweichungen hat Scholem seine religionsgeschichliche Fra-gestellung immer beibehalten, auch als in den fünfziger Jahren die Religions-phänomenologie dominant wird, seine Methode hat die ganze Scholem-Schule geprägt und prägt auch noch die Versuche, in den gerade erwähnten Aspekten über Scholem hinaus zu gehen.636 Erst jüngst wird das Paradigma als solches durch Moshe Idel in Frage gestellt, der kritisiert, daß Scholems oft fragliche Er-gebnisse von der nachfolgenden Forschung als selbstverständlich genommen würden und damit weitere Fragen blockierten. Neben der von Scholem er-forschten gnostisch-theosophischen Kabbala gebe es auch eine ekstatische Kab-bala, die Scholem vernachlässige; hier sei die Kabbala weniger ein geheimes Wissen von Symbolen als ein praktisches Tun, und die unio mystica, die Scho-lem der Kabbala tendenziell abspricht, sei hier in vielen Formen vorhanden. Idel fordert daher eine komplette Revision von Scholems historischem Bild der Kab-bala und der dahinterstehenden »ideology of textology«637 Vieles von Idels Kri -tik ist sicherlich berechtigt, allerdings kann man mit Alter vermuten, daß der Anspruch, Scholem ersetzen zu wollen, ihn über sein Ziel hinausführt, sein

636 S. dazu die Darstellung der neueren Forschung bei Dan, Gershom Scholem. V. a. in der Erforschung der ältesten Stufen der jüdischen Mystik hat sich die Perspektive stark verschoben, vgl. dazu das nächste Kapitel.

637 Idel, Kabbalah, 23.

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»MYSTIK« UND ALLGEMEINE RELIGIONSGESCHICHTE 341

eigener weiter »phänomenologischer« komparativer Zugang hat daher eine Ten-

denz zur methodischen Unkontrol l ierbarkeit.638 Auch neigt Idels Umakzentu-

ierung auf die ekstatische Kabbala dagegen dazu, die Kabbala wieder zu

enthistorisieren und zu individualisieren. Wie immer man diesen Methodenstreit

auffaßt - seine Wertung überschreitet den Hor i zont meiner Arbeit - , er zeigt

doch zweierlei. Zum einen wird gerade in diesem Kontrast noch einmal Scho-

lems Nähe zur Religionsgeschichte und sein Desinteresse am individuellen My -

stiker deutlich: Sein Hor izont ist immer die mystische Tradition, die auch eine

kollektive Bedeutung hat.639 Zweitens wirf t Idels Krit i k ein Licht auf die Nach-

geschichte des von Scholem installierten Paradigmas in der Kabbalaforschung.

Man kann sagen, daß sowohl die von Idel inkrimierte fraglose Fortschreibung

der Scholemschen Prämissen als auch Idels eigener Entwurf Zeichen dafür sind,

daß die Religionsgeschichte der Kabbala zur »Normalwissenschaft« geworden ist.

Wenn es für Scholem noch eine große Anstrengung bedeutete, die Kabbala über-

haupt lesbar, verständlich und bedeutsam zu machen, so ist das heute nicht mehr

nötig - die Kabbala ist in ihrer Bedeutung fraglos anerkannt, jeder weiß etwas

über sie, sie kann jetzt um ihrer selbst willen erforscht werden.

Idel versteht unter »phenomenology« scheinbar v. a. einen »comparative approach«, wobei er sich gegen Eliade allerdings schon wieder abgrenzt (ebd.). Ähnlich fordert er eine psychologische Untersuchung, grenzt sich aber gegen Jung ab (ebd., 24f). - Man kann hier mit Alter einen Fall von »Einflußangst« vermuten: Idels »scorched-earth strategy carries him too far, leading him [...] to base much of his argument on strained reading of the Jewish sources, on counter-inferences from scant historical data, on quibbles ovcr terminology, on false either-or aiteratives, on misinterpretations of Scholem, and on rehashings of Scholems trickcd out as new positions.« (Alter, »Jewish Mysticism in Dispute«, 54) Vgl. auch Bouretz Kommentar dazu: »Vielleicht ist es das Schicksal einer Interpretationstradition, in einer ständigen Revolte der Söhne gegen die Väter zu leben« (Bouretz, »G. Scholem und das Schreiben der Geschichte«, 121). So wieder Alter: »Scholem's greatness lies precisely in his ability to see in the Jewish mystics something more that a collection of bizarre types who did stränge things to their own heads [...]. On some Level, Moshe Idel must know this perfectly well [...]. But in his zeal to make a place for himself by overturning the founding figure of the modern field ofjewish mysticism, he reduces his subject to a chain of ecstatic fits and Starts and theurgic manipulations, detached from the larger realm of historical expe-rience and conceptual creativity to which it belongs.« (Alter, »Jewish Mysticism in Dispute«, 59) Nach Wohlfahrt führt Idels Verfahren zur zentralen Spannung von Er-fahrung und Wissenschaft: »Stellt Scholems Lebenswerk ein einzigartiges Zusam-menspiel von historischer Erfahrung und philologischer Forschung dar, so wird Kabbalaforschung bei Idel zu einer bloß innerwissenschaftlichen Disziplin. [...] Scho-lems Dilemma wird damit aufgelöst: Wissenschaft liegt diesseits, Religion jenseits der Grenze.« (Wohlfahrt, »»Haarscharf auf der Grenze««, 246)

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342 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.5 Kabbala und >Gnosis<

Das Feld, in dem sich Scholems Darstellung der Kabbala entfaltet, ist also durch das religionsgeschichtliche Paradigma bestimmt. Das betrifft aber zunächst nur die allgemeinen Voraussetzungen seiner Darstellung, deren konkrete Durch-führung wir in diesem und dem folgenden Kapitel untersuchen werden. Scholem entwickelt die Fabel seiner Darstellung schrittweise; zum besseren Verständnis empfiehlt es sich, dieser Entwicklung zu folgen. An erster Stelle steht dabei ein Brief, in dem Scholem schon 1925 seine Forschungsabsichten erläutert. In den folgenden Jahren veröffentlicht er einige philologische Arbeiten, auf die wir nur ausnahmsweise eingehen werden, 1928 erscheint gleichzeitig ein entscheidender Aufsatz Zur Frage der Entstehung der Kabbala und Scholems erster Aufsatz über den »falschen Messias« Sabbatai Zwi und die Theologie des Sabbatianismus. Ende 1933 veröffentlicht Scholem einen wichtigen Text Nach der Vertreibung ausnien, 1937 dann den großen Essay Erlösung durch Sünde auf hebräisch, der sich wieder mit dem Sabbatianismus befaßt, allerdings gegenüber dem Aufsatz von 1928 auf aufschlußreiche Weise abweicht. Erst 1938 erscheinen die Überlegun-gen zum Zusammenhang jüdischer Mystik zur jüdischen Philosophie und zur Mystik im allgemeinen. All e diese Ansätze werden in das 1938 geschriebene und 1941 erstmals veröffentlichte Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen übernommen und zusammengefaßt, die hier erreichte Struktur wird in den fol-genden Jahren nur geringen Veränderungen unterworfen, im wesentlichen zieht Scholem die Linien weiter aus.640

Das entscheidende Jahr in dieser Entwicklung scheint 1928 zu sein, als Scho-lem seine beiden Schlüssel zur Kabbala findet: Der Terminus ab quo der jüdischen Gnosis und der Terminus ad quem des Sabbatianismus. Dieser doppelte Zugang -die Kabbala als Erbin der Gnosis und als Vorbereitung des Sabbatianismus -schlägt sich noch in den Hauptströmungen sehr deutlich nieder in einer Zäsur nach etwa zwei Dritteln des Buches. Vor dieser Zäsur beruht die Darstellung vor allem auf der Abfolge typologisch gegeneinander kontrastierten Phasen. Die spätantike Merkabah- und Hechaloth-Mystik werden dem ashkenazischen Chas-sidismus als geschlossene Epochen dargestellt; die klassische spanische Kabbala

Allerdings gibt es später Gewichtsverlagerungen: Nach Scholems intensiven Sohar-Forschung in den zwanziger und dreißiger Jahren gibt Scholem diesen Bereich ganz an Tishby ab, er konzentriert sich seit den dreißiger Jahren stärker auf den Sabbatia-nismus, auf die Frühphase der Kabbala und am Ende seines Lebens auch auf das Ver-hältnis zwischen Frankismus und Aufklärung. Wie wir schon oben gesehen haben, verändert sich auch seine Auffassung des Chassidismus (s. o. Kap. 1.3.5).

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KABBALA UND »GNOSIS« 343

des 13. Jahrhunderts erläutert Scholem anhand einer Gegenüberstellung des theo-sophischen Sohars und der mehr praktisch ausgerichteten Kabbala Abulafias. Die gesamte Darstellung dieser ersten Epoche ist narrativ schwach strukturiert, wo Entwicklungstrends auftauchen, geschieht das nur keimhaft und als Vorausweis auf Bewegungen nach 1492. Mit diesem Jahr, der Vertreibung der Juden aus Spa-nien, tauchen relativ unvermittelt entwicklungslogische Kategorien auf, von jetzt an gliedert eine einheitliche Abfolge die Darstellung von lurianischer Kabbala, der messianischen Erhebung des Sabbatianismus und des Chassidismus.641 Zwar hat Scholem seinen spezifischen Zugang zur Kabbala vor allem von dieser zweiten Phase aus gewonnen, es empfiehlt sich aber schon aus Gründen der Übersicht, sich zunächst mit der ersten Epoche der Kabbala beschäftigen; das nächste Kapi-tel wird dann die späteren Entwicklungen untersuchen.

Für die erste Epoche der Kabbala hat das Problem ihres »Ursprungs« eine be-sondere Bedeutung, insbesondere deshalb, weil diese Frage die »romantische Auffassung« der Kabbala als authentische uralte Überlieferung berührt. Im Fol-genden soll zunächst der Status der Ursprungsbeschreibung untersucht werden (3.5.1), um ihn dann in Bezug zur Diskussion über die Gnosis zu setzen (3.5.2). Im Anschluß daran soll Scholems These einer jüdischen Gnosis diskutiert wer-den, die gerade aufgrund ihrer Fragwürdigkeit äußerst aufschlußreich für seine Darstellung ist (3.5.3). Wir werden uns dann der Weiterentwicklung der gno-stischen Prä-Kabbala zur eigentlichen Kabbala widmen (3.5.4) und schließlich Scholems Begriff des Symbols diskutieren (3.5.5).

3.5.1 Der Ursprung der Kabbala. Die Frage nach dem Ursprung der Kabbala spielt vor allem am Beginn von Scholems Beschäftigung mit der Kabbala eine ent-scheidende Rolle, wie Scholem etwa 1925 betont: »Nur wenn es uns gelingt, in unserer Forschung einen festen Anhaltspunkt für die Herkunft der Kabbala zu finden [...], werden wir auch in der Lage sein, den Verlauf ihrer Entwicklung ge-nauer und zuverlässiger zu erklären, sonst wäre die ganze Sache ein Luftschloß.« (J VI , 57) Scholem betont auch die Bedeutung dieser Frage in bezug auf die all-gemeine Religionsgeschichte, insbesondere für die Erforschung der Gnosis.642

In »The Historical Developement ofjewish Mysticism« (1944): betont Scholem diese Zäsur besonders deutlich, ausschlaggebend ist hier die für die Kabbala spezifische politische Wirksamkeit: »This tendency is not yet discernible during the first period. It began to be feit with varying degrees of clarity during the second and third period [aschkenasischer Chassidismus und span. Kabbala], while in the last three periods it became manifested with a sharp dialectic.« (PM, 122) Die Kabbala-Forschung müsse nachweisen, ob die Gnosis-Forscher »eine philologi-sche Berechtigung haben, die Kabbala als Quelle von hohem Stellenwert für die Ge-schichte der Gnosis zu interpretieren, oder ob man es bei dieser Kabbala nur mit entfernten und zeitlich nach der Gnosis anzusetzenden Ablegern zu tun hat, weshalb

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344 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Später, nach der Selbstkorrektur in der Sohar-Frage, ist er zurückhaltender bei

der Suche nach dem »Ausgangspunkt«. Zentral für diesen Wandel ist der 1928 ver-

öffentlichte Aufsatz Zur Frage der Entstehung der Kabbala, die hier entworfenen

Grundlinien werden in späteren Arbeiten weitgehend übernommen. Auch wenn

Scholem 1928 die Frage nach dem Alter des Sohar noch offen läßt, lehnt er die di-

rekte Herleitung der Kabbala aus spätantiker Überlieferung bereits explizit ab.643

Entscheidend ist, daß sich das Ziel der Erklärung und die Fragestellung verwan-

deln: Aus der undifferenzierten Frage nach der Herkunft der Kabbala als Ganzes

wird das spezifische Problem des Auftretens der Kabbala im engeren Sinne - also

der mittelalterlichen jüdischen Mystik, die im 13. Jahrhundert relativ plötzlich in

der Provence und in Spanien erscheint. Die vorhergehenden Strömungen jüdischer

Mystik, Merkaba- und Hechaloth-Mystik genauso wie ashkenasischer Chassidis-

mus, werden nur als Vorgeschichte einer gegebenen Erscheinung thematisiert.

Scholem setzt sich zunächst mit den Erklärungen von Graetz und Neumark

auseinander, die die Entstehung der Kabbala in Bezug zur Geschichte der mit-

telalterlichen jüdischen Phi losophie verstehen wollen. Demgegenüber fordert

Scholem nicht nur eine andere Wertung, sondern auch eine andere Methode,

nämlich die religionsgeschichtliche:

Die einfache und doch sich sehr erfolgreich auswirkende methodische Vorausset-zung der hier vertretenen Anschauungen ist die, daß die kabbalistische Bewegung adäquat nicht in den Kategorien der Philosophiegeschichte dargestellt werden kann, sondern nur in denen der Religionsgeschichte. [...] Der Versuch, eine mehr oder weniger unmittelbar erfahrene religiöse Wirklichkeit zur Sprache zubringen [...], gehört rechtmäßig allein dem Bereich der Religionsgeschichte an und ist mit ihren Methoden zu beschreiben.«644

Anhand einer Analyse der ältesten Quelle der eigentlichen Kabbala, dem zuerst

im 13. Jahrhundert gedruckten Buch Bahir, verdeutl icht Scholem, was er damit

meint. Die ältere Forschung habe oft versucht, in diesem Buch »ein spekulati-

ves System nachzuweisen, ein bestimmtes einheitliches Weltbild philosophisch-

mystischer Natur, das nur künstlich in einer mythologischen und homiletischen

Form verschleiert worden sei«.645 Das beruhe aber auf einem völligen Mißver-

sie auch nicht berücksichtigt zu werden brauchen« (J VI , 57). Zur Bedeutung des spätantiken Synkretismus vgl. auch Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 6; Art.: »Kabbala«, Sp. 634; JM 43; PM, 124ff. Wenn sich das Alter des Sohars nachweisen ließe »so würde das natürlich unsere Auf-gabe sehr erleichtern. Wie die Dinge stehen, müssen wir aber auf diesen »Königs-weg« verzichten und uns mit dem dornigeren Pfad historischer Analyse der den Anfängen der Kabbala näher stehenden Texte bescheiden.« (Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 4) Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 6f. Scholem, a.a.O., 13.

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KABBAL A UND »GNOSIS« 345

ständnis, mit was für einer Art von Literatur man es hier zu tun habe. In Wirk-lichkeit handele es sich hier um ein naturgemäß uneinheitliches Kompilat verschiedener Schichten, in dem auch »nicht wenige Rudimente älterer Ent-wicklungsstadien und Quellen der Kabbala erhalten geblieben« seien: 646 Scho-lem versucht also auch hier, mit den Mitteln der Religions- und Formgeschichte, die Kabbala in ihrer Besonderheit zu verstehen, d. h. sie nicht auf ein philoso-phisches System abzubilden, sondern auf eine religiöse Entwicklung, die nur im historischen Wandel gegeben ist. Daher müsse die Geschichte »allgemeiner Ideen« ersetzt werden durch eine »Geschichte der mystischen Terminologie«, die das konkrete Material der »Ideen« und »Motive« untersuchen soll.647 Das könne aber nur geschehen, indem man zugleich ihre Vorgeschichte und das spe-zifisch Neue an ihnen kenne.

Die Kabbala kann also nicht synchron, in Relation zur Philosophie oder zur gleichzeitigen katharischen Bewegung verstanden werden, sondern nur durch Rekurs auf ihre Vorgeschichte, die »prähistorische Kabbala«.648 Scholem äußert sich in der Regel nur äußerst zurückhaltend über die Weise, in der sich die alten Ideen erhalten haben, er scheint eine mündliche Tradition oder jedenfalls ano-nyme Tradition einzelner Motive anzunehmen, die eine Kontinuität zur ältesten Schicht jüdischer Mystik herstellt, zur Merkabah und Hechaloth-Mystik aus der talmudischen Zeit.649 Diese ältesten Texte bezeugten nun »einwandfrei eine Gno-

Scholem, a.a.O., 13 - »Die Literaturform des Midrasch ist nicht etwa künstlich von einem »Autor« dem Buch gegeben worden, der in ihr seine Spekulationen theoreti-scher Art verstecken wollte«, sondern es handele sich wirklich um mystische Dicta und »alte Mythologeme« (ebd.). Scholem schließt daher aus, daß das Buch erst kurz vor seiner Erscheinen im 13. Jahrhundert entstanden sein könne: »Es setzt schon in-nerhalb der kabbalistischen Bewegung eine längere Entwicklung voraus, die sich so-wohl an die uns bekannten älteren, wie auch an selbständig nicht mehr bezeugte Quellen jüdischer Gnosis angeschlossen hat - nicht aber an philosophische Bewe-gungen.« (Ebd., 16) In UA arbeitet Scholem das differenzierter, aber in der Sache gleich heraus, er betont allerdings stärker den Redaktionsprozeß; er sieht im Bahir keine isolierbare gnostische Quellenschicht, sondern nur »dunkle Überreste solcher Quellen, nicht ein System, sondern Bruchstücke eines Systems, kein fester Rahmen von Symbolen, sondern Symbol-Fragmente« (UA, 80). Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 7. - Gerade der technische Ausdruck der »Terminologie« soll wohl betonen, daß es hier weder um bloßes Phantasiewerk (Graetz) noch um ein geheimes »Wissen« (Franck, Molitor) handelt, eine »Geschichte der my-stischen Terminologie« (J VI, 66) fordert Scholem schon 1925; dazu s. u. Kap. 3.5.5. Den Einfluß katharischen und albigenischen Gedankengutes auf die Kabbala schätzt Scholem gering ein. dazu vgl. Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 23f; UA, 1 lff ; J III , 79. »In vielen Fällen bildete ein dunkles Flüstern, in geheimnisvolle Symbole gekleidet, die einzige Art der Überlieferung.« (JM, 129). An anderer Stelle spricht Scholem von »Resten einer unartikulierten Tradition [...], die in Form von alten Heften und frag-

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346 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

sis, die freilich hier, auf dem Boden des Judentums, ihres sonst so hervortreten-

den dualistisch-häretischen Charakters entkleidet worden ist«.650 Damit schließt

Scholem die Untersuchung der Kabbala an die Untersuchung der Gnosis an, die

ein prominentes Thema zeitgenössischer religionsgeschichtlicher Forschung ist.

3.5.2 Gnosis in der Diskussion. Eine umfassende Gedächtn is- und Faszinati-

onsgeschichte der Gnosis ist noch zu schreiben, hier wol len wi r uns bewußt

weniger mit den großen Weltdeutungen auseinandersetzen, die ein Thema für

sich wären, sondern den Diskurs über Gnosis exemplarisch für die Konstruk-

t ion einer rel igionshistorischen Kategorie betrachten.6 51 Verschiedene For-

schungsmethoden »schematisieren« das Quellenmaterial in jeweils verschiedener

Weise, sie erzeugen andere Typologien, sehen andere Ursprünge und bestim-

men das eigentlich »Gnostische« auch jeweils anders.652

Di e ältere dogmengeschichtliche Forschung, vertreten etwa durch Adolf von

Harnack, sieht in der Gnosis die Hellenisierung des Chr istentums: Für sie sind

die Gnost iker die ersten Theologen und Rel igionsphi losophen des Chr isten-

mentarischen Blättern von weither oder aber aus unterirdischen Schichten der jüdi-schen Gesellschaft, wo sie ans Licht traten, herkamen« (UA, 39). Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 8. - Es ist bemerkenswert, wie nachdrück-lich Scholem auf der »Berechtigung« (ebd.) des Religionshistorikers beharrt, hier von Gnosis zu reden. Natürlich ist es richtig, daß es auch die Brückenschläge in die Gegenwart sind, wel-che die Gnosis auch für Scholem so faszinierend machen: die in der Gnosis betonte Realität des Bösen, der Anarchismus und Nihilismus der Gnostiker, der gnostische Aufstand gegen die Väter und nicht zuletzt der »metaphysische Antisemitismus« von dem Scholem einmal spricht (s. o. Anm. 601). Zu so einer Faszinationsgeschichte vgl. Michael Pauen, Dithyrambiker des Untergangs sowie den Sammelband Macho/Slo-terdijk (Hg), Wellrevolulion der Seele, insbcs. 20ff. Vgl. dazu Haardt, »Bemerkungen zu den Methoden ...«; Puech, »Das Problem des Gnostizismus«. Besonders Colpes Warnungen vor dem selbst gnostischen Schematis-mus einer gnostischen »Weltanschauung«: Die innere Vielfalt »der« Gnosis sei »ebenso ernst zu nehmen wie die Tatsache, daß sie in der Gnosis selbst durch Identifikation wieder rückgängig gemacht werden kann. [...] Als moderner Forscher aber muß man sich fragen, was man tut, wenn man solche Identifikationen nachvollzieht oder selbst neu vornimmt.f...] Entweder stößt man damit als Historiker in verschiedenen Texten zur Grundstruktur durch und erkennt daraus ihre Verwandtschaft; oder aber man wird in gewisser Hinsicht selbst zum Gnostiker, indem man die der Gnosis wichtigen Be-griffe aufeinander zurückführt. Stellt man aber die Begriffe, die man so gewinnt, als in den Texten eigentlich gemeinte hin, dann hat man einen ersten Schritt in die Irre getan [...]. Einen zweiten Schritt in die Irre tut man, wenn man für eine solche durch Identi-fikationen gewonnene Hypostase dann einen Vorläufer findet und damit die Gnosis in einer Weise in älteren Überlieferungen verankert, wie sie es sich selbst nicht besser hätte wünschen können.« (Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule, 205)

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KABBAL A UND »GNOSIS« 347

tums, sie spiritualisieren die christl iche Lehre.6 53 Spezifisch für die Gnost iker

sei der emphatische Begriff der Erkenntnis, eben der gnosis, für den Harnack

vor allem griechische und neuplatonische Quel len sieht, dagegen spielt der ei-

gentliche Dual ismus in seiner Darstel lung keine große Rolle. Daraus folgt er-

stens, daß die Gnosis per definit ionem nachchristlich ist und daß zweitens ihre

mythologischen Elemente nur als späte Entartungen betrachtet werden. Paral-

lel dazu gibt es auch eine philosophische Interpretation der Gnosis, etwa bei Lei-

segang, der ebenfalls im Erkenntnisbegri ff das Spezif ikum der Gnosis sieht.

Allerdings verändert sich die Kontrastbest immung: Abgesetzt wird die Gnosis

nicht mehr gegen das Chr is ten tum wie bei Harnack, sondern gegen die mo-

derne wissenschaftliche Weltanschauung.654 Für Leisegang ist die Gnosis Ver-

senkung in das eigene Selbst und intutitives Denken - die Philosophie Piatons

bezieht er hier explizit mit ein - , das allerdings »weiterwuchert« und in ihrer

Dekadenz komplizierte Systeme bildet.655

Di e Vertreter der religionsgeschichtlichen Auffassung der Gnosis sehen ge-

rade in dieser mythischen und magischen »Vulgärgnosis« die älteste Stufe der

Überlieferung. Der Logik der stoffgeschichtlichen Methode folgend, suchen sie

die Ursprünge von einzelnen Motiven und finden sie im »Orient«, in iranischen,

babylonischen oder ägyptischen Vorstellungen. Bousset, der klassische Vertre-

ter dieser Richtung, betont, »daß »Gnosis« nicht Erkenntnis in unserem Sinne

»Sie sind kurzweg die Theologen des ersten Jahrhunderts gewesen; sie haben zuerst das Christentum in ein System von Lehren (Dogmen) verwandelt; [...] sie haben das Christentum als die absolute Religion darzustellen unternommen [...]; aber die ab-solute Religion war ihnen, inhaltlich betrachtet, identisch mit dem Ergebnis der Re-ligionsphilosophie« (Harnack, Dogmengeschichte, Bd. I, 250f). Daher hätten sie auch die allegorische Lektüre entwickelt, deren Anwendung auf das Alte Testament er durchaus gutheißt, die er aber gegenüber dem Neuen Testament für gefährlich hält (ebd., 245ff). Für Harnack ist die gnostische Exegese bezeichnenderweise »Spiritua-lisierung«, den Charakter als Protestexegese erkennt er nicht.

Das moderne Denken beruhe auf »dem Erlebnis einer unübersteigbaren Kluft , die das Ich von der Welt, das Subjekt vom Objekt trennt« (Leisegang, Die Gnosis, 14), dagegen zeichne sich die Gnosis aus durch eine »mythisch mystische Art des Ich-und Weltlebens«: »Der Mensch stellt sich hier nicht der Welt als dem gänzlich von ihm geschiedenen Ding an sich gegenüber [...], sondern mitten in sie hinein.« (ebd., 18) Leisegang, Die Gnosis, 9. - »Je weiter sich die Gnosis von ihrem Ursprung entfernt [...], um so mehr tritt an die Stelle des visionär geschauten Gottesgeistes und der in-tuitiv erfaßten Idee der immer hohler werdende Begriff, mit dem aber immer noch so umgegangen wird, als ob er erschaubar wäre und ihm eine unter Umständen sicht-bare Realität entspricht.« (ebd., 13) »Das mythisch-mystische Denken wird hier ge-waltsam rationalisiert und auf eine Ebene des Bewußtseins gezerrt, auf der es nicht gedeihen, sondern nur entstellt und mißverstanden werden kann.« (ebd., 51)

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348 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

bedeutet, und daß die Gnost iker keine Erkenntnistheoret iker und Religions-

phi losophen gewesen sind. Gnosis ist vielmehr auf geheimnisvoller Offenba-

rung beruhende, mysteriöse Wahrheit, am liebsten möchte man die Gnost iker

Theosophen nennen.«656

Di e Gnosis ist jetzt nicht mehr Phi losophie, sondern Religion, sie ist sogar

»Erlösungsreligion im schärfsten und einseitigsten Sinne des Wortes«, die »nicht

auf dem genuinen Boden des Chr is tentums gewachsen« sei und eine andere

Entwicklungsdynamik habe.657 Ihr Grundzug ist für Bousset nicht Spirituali-

sierung, sondern eine spezifische Form von Dual ismus, den er erklärt durch

eine »Vermischung der genuin persischen Annahme zweier feindlicher, wider

einander streitender Gotthei ten (Prinzipien) und der griechischen Anschauung

von der Überlegenheit der geistig idealen gegenüber der sinnlichen materiellen

Welt [...]. Erst durch das Zusammenfluten zweier pessimistischer Weltanschau-

ungen entstand der gesteigerte, absolut trostlose Dual ismus und Pessimismus

der Gnosis.«6 58 Den Nachweis einer solchen Vermischung führt Bousset

vor allem für einzelne mythologische Elemente durch: So resultiert die Vor-

stellung der Äonen nach Bousset etwa aus dem »Zusammenpral l« der persi-

schen Religion mit der babylonischen, jene »degradierte« die babylonischen

Gestirnsgötter zu Dämonen, »ähnlich etwa, wie die jüdische Religion die ba-

bylonischen Göttergestal ten in die sieben Erzengel ummodel te und diese um

Jahwehs Thron stellte.«659

Dadurch, daß die Gnosis als vorchristl ich aufgefaßt wird, kann sie auch als

H in tergrund für das Verständnis des Chr is tentums, insbesondere der paul i-

nischen und johanneischen Anthropolog ie und Soterologie dienen. In dieser

Richtung arbeiten dann andere Forscher weiter - vor allem Reitzenstein und

* Bousset, Kyrios Christos, 190. - Vgl. auch ebd., 202f. - Auch Scholem spricht immer wieder gerne von Theosophie zur Charakterisierung der Kabbala - Bousset betont mehrfach, daß der Supranaturalismus der Gnosis sie von der Philosophie deutlich un-terscheide vgl. ebd., 190, 203.

,57 Bousset, a.a.O., 187, Art. »Gnosis, Gnostiker«, 49. - Sie ist daher für Bousset auch nicht kirchengeschichtlich interessant, sondern religionsgeschichtlich, denn sie ent-halte »ganze Schichten untergegangener religiöser Vorstellungen und Anschauungen in der Versteinerung und Erstarrung« (Bousset, Hauptprobleme, 7i).

,58 Bousset, Art. »Gnosis, Gnostiker«, 53. -Vgl . auch Bousset, Kyrios Christos, 183ff; Hauptprobleme, 118f. Hier betont Bousset gerade den ungriechischen Charakter des gnostischen Pessimismus, der Dämonisierung der Gestirne und der Verkehrung der

* Heimarmene zum Schicksal. Schon Bousset stellt dabei das »Schlagwort der Fremd-heit« (Bousset, Kyrios Christos, 187) in den Mittelpunkt seiner Interpretation: »Dem Grundgefühle der »Fremdheit« des Gnostikers entspricht die Verkündigung des frem-den, unbekannten Gottes.« (Ebd., 188)

,59 Bousset, Hauptprobleme, 55.

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KABBAL A UND »GNOSIS« 349

Bul tmann - , sie stellen Harnacks Lösung insofern auf den Kopf, als sie nicht

mehr die Gnosis als spiritualisiertes Chr istentum, sondern das Chr istentum als

»entmythologisierte« Gnosis betrachten.660

Eine methodische Neuor ient ie rung br ingt Hans Jonas« hermeneutische

Annäherung an die Gnosis. Jonas setzt sich dezidiert von der stoffgeschichtli-

chen Methode seiner Vorgänger ab, deren Rückgang auf die Vorgeschichte er

als objektivistisch und reduzierend kritisiert. Das spezifisch Neue der Gnosis

lasse sich aber mit den Metaphern der »Mischung« oder »Verschmelzung« nicht

verstehen: »Irgendwie scheint bei dieser wie ähnl ichen Ablei tungen die Vor-

stellung mitzuspielen, daß ein ideeller Prozeß »unversehens« über sein Ziel hin-

ausschießen und etwas ganz anderes erzeugen konnte, als was sinngemäß in

seiner eigenen Reichweite war. Alchemie der Ideen.«661 Tatsächlich neigt die re-

ligionsgeschichtliche Forschung dazu, die »Ideen« als Agenten der Entwicklung

zu hypostasieren; allerdings haben wi r bereits gesehen, daß eine Analyse der

»Ideen« auch ermögl icht, »ideelle« Prozesse nicht nur nach ihrer »Eigenlogik«,

sondern auch nach Nebenwirkungen zu beschreiben.662

3 Sehr schön stellt Puech den Weg der Gnosisforschung bis Jonas dar: »Wir sind vom traditionellen Verständnis des Gnostizismus als eines häretischen Zweigs vom vor-christlichen Stamm ausgegangen. Dann kam die Vorstellung von einem Gnostizismus, der nahezu nichts mit dem Christentum zu tun hat: Die Gnosis ist eine unabhängige Strömung, die sich mit dem Wasser der Christentums erst spät und dazu zufällig ver-mischt hat. Was man uns jetzt vorschlägt, ist im Grunde, im Gnostizismus die Quelle des Christentums zu sehen, den Zweig zum Stamm zu machen. Schließlich, um die Sache zu Ende zu denken, wäre das Christentum eine Art häretischer Gnostizismus. Wiederum, wie bei den Häresiologen, sieht sich der Gnostizismus mit dem Chri-stentum verknüpft, allerdings mit totalem Rollentausch.« (Puech, »Das Problem des Gnostizismus«, 349) Zur Kriti k der neueren Forschung vgl. auch Colpe, Dieonsgeschichtliche Schule. - Auch Bousset hatte sich schon mit dem Verhältnis von Paulus zur Gnosis auseinandergesetzt, vgl. Kyrios Christos 191 ff.

' Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. I, 32. - Vgl. auch: »Ich bekenne, daß ich mir von dem Prozeß keine rechte Vorstellung machen kann. Eine solche müßte die hier metaphorisch auftretenden Vollzugsbegriffe wie: »sich verbinden«, »zusammen erzeugen« usw. mit sachgerechter Anschauung erfüllen [...], mit solchen Bildbe-griffen können wir uns nicht zufrieden geben, müssen vielmehr fragen: was geht dabei wirklich vor.« (Ebd., 36f) Jonas spricht auch von der »o&;e&rgeschichtlichen, Awggeschichtlichen Einstellung« (ebd., 11), »Erkenntnis der Geschichte« werde hier »gleichbedeutend mit Rückführung auf Vergangenes, Erklärung aus der Vergan-genheit« (ebd., 24).

2 Jonas räumt diese Möglichkeit selbst ein: »Die produktive Rolle des Mißverständ-nisses in der Geschichte ist uns bekannt. Vielleicht ist jede Übernahme im ideenge-schichtlichen Prozeß nur auf dem Wege eines solchen fruchtbaren »Mißverstehens« möglich. [...] Aber der positive Grund für das neu Gezeitigte liegt dann nicht im Übernommenen, sondern im Übernehmenden, Mißverstehenden - eben dadurch ist

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350 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Sachlich folgt Jonas der Religionsgeschichtlichen Schule, er arbeitet dabei den Dualismus der Weltfremdheit besonders markant heraus und betont den orien-talischen Charakter der Gnosis, ohne allerdings konkretere Untersuchungen anzustreben: Hier wirke sich »das metaphysische Dogma absoluter Rätselhaf-tigkeit des Ursprungs und der entsprechende Verzicht zum Vorteil der Sache aus«.663 Gerade durch diesen Verzicht auf Herkunftsbestimmung kann Jonas einen einheitlichen Gegenstand »Gnosis« annehmen, dessen verschiedene Mani-festationen bestimmt sind durch ein »erkennbar und verstehbar Eines, nämlich ein bestimmtes Welt- und Selbst-Erlebnis - das Erlebnis der Welt als eines ent-götterten und darum widergöttlichen Zwangssystems, des Selbst als eines nicht zum Kosmos, sondern zu einem akosmischen Zusammenhang gehörigen Seins.«664 Dieses selbst nicht weiter erklärbare Daseinsverständnis »objektiviere« sich in sehr verschiedener Weise, letztlich bestimme es weite Teile des »spätan-tiken Geistes« auch dort, wo es keine mythologischen Formen mehr annehme. Allerdings ist sich Jonas der Zirkularität dieser Argumentation durchaus be-wußt und betreibt die Suche nach dem einheitlichen Prinzip der Gnosis »mit Überzeugung und »Ironie« zugleich«; tatsächlich untersucht er weniger ein ein-faches Urprinzip als die Sprache der Gnosis.665

Andere gehen hier viel weiter: So betont etwa Gilles Quispel ebenfalls das spezifische »gnostische Weltgefühl«, aber der hermeneutische Umweg wird auf-gegeben zugunsten eines direkten Einfühlens, die historische Fragestellung wird diesem Verstehen der Gnosis als »Projektion der Selbsterfahrung« vollkommen untergeordnet, in phänomenologischer Betrachtung wird die Gnosis zur »Welt-religion«, die schon immer bestanden haben soll.666 Der methodische Irratio-

es produktives Mißverständnis - und der motivgeschichtlichen Feststellung muß lo-gisch die Frage folgen: was das Gleichlautende nunmehr bedeutet, was in der »Wie-derholung' aus ihm gemacht wurde?« (Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. I, 45). Genau das ist aber bereits Gunkels Forschungsprogramm. Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. I, 73. -Jonas Orientalismus ist besonders ausgeprägt, weil ihm der Orient nicht eine Quelle von bestimmten Ideen ist, sondern eher (mit Spengler) die Verkörperung der Lebenskraft schlechthin. Das sei »der ei-gentliche Sinn aller Einsichten der neueren Forschung in den orientalischen Charak-ter der Gnosis, die (entgegen dieser Forschung selbst!) nur dann richtig verstanden sind, wenn man sie nicht auf den mengenmäßigen Anteil orientalischen Traditions-gutes, überhaupt auf alt-orientalisches Denken, sondern auf neue orientalische Le-benskräfte bezieht.« (Ebd., 70f) Jonas, a.a.O., Bd. I, 47. Jonas, a.a.O., Bd. I, 90. - Gerade die Untersuchung der Sprache hebt die Vielfalt der Gnosis hervor, Colpe hält sie gegenüber der Schematisierung der späteren Forschung für überlegen (Colpe, Die Religionsgeschichtliche Schule, 186ff). Für Quispel kommt es darauf an, »die Forschung von den falschen Prinzipien der re-ligionsgeschichtlichen Schule zu reinigen«, denn es »sollte heute klar sein, dass die

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KABBAL A UND »GNOSIS« 351

nal ismus, der alle histor ischen Probleme als Pseudoprob leme des modernen

Geistes denunziert, zieht hier also auch in die Gnosisforschung ein.667

3.5.3 Die jüdische Gnosis. Scholems Begriff der Gnosis ist im dargestellten Kon-

text der Gnosisforschung zu sehen, wobei er eine eigentümliche Zwischenstel-

lung zwischen den verschiedenen Schulen einnimmt.6 68 Wi r haben schon

gesehen, daß Scholem 1928 den Ursp rung und die Entwick lung der Kabbala

nicht mit phi losophischen, sondern mit rel igionsgeschichtl ichen Kategorien

verstehen will . Allerdings greift er nicht auf die Gnosis-Best immungen Bous-

sets zurück, sondern rekurr iert auf ältere Defini t ionen und charakterisiert

Gnosis durch esoterische Erkenntnis.6 69 Gerade diese Best immung erlaubt es

ihm, die Hechaloth- und Merkabah-Überl ieferung als gnostisch zu bezeichnen,

obwohl diese weder Dual ismus noch gnostische Anthropolog ie enthalten.

Ähnlichkeit wichtiger ist als die Abhängigkeit, und dass die erste ohne die letztere bestehen kann. Diese Einsicht verdanken wir nicht zuletzt der Phänomenologie der Religion, die uns gelehrt hat, Zusammengehörendes zu verbinden und die Religion auf ihre Eigenart zu befragen. Wenn wir dann auch die gnostischen Dokumente in phänomenologischer »Epoche« belauschen und ihr Wesensgefüge schauen wollen, so dürfte die Antwort nicht unklar sein: Gnosis ist mythische Projektion derfahrung.« (Quispel, Gnosis als Weltreligion, 17) Bezeichnend hierfür ist eine Auseinandersetzung mit der Helenagestalt, sie habe für Simon zugleich Dirne, Mond, Göttin und Frau Idee bedeutet: »Das ist nun ein Pseudoproblem der wissenschaftlichen Forschung, das für die damaligen Menschen gar nicht bestand, weil sie nun einmal anders dachten als wir es, wenigstens bei der wissenschaftlichen Arbeit, zu tun pflegen. Es gehört zu den großen Handicaps des akademischen Trainings, dass sie [sie] gerade die Bezirke der Seele, die zu den syn-kretistischen Texten eine gewisse Beziehung haben könnten, nicht entwickelt oder gar verkümmern lässt.« (Quispel, a.a.O., 63)

Bei Biale findet sich ein Hinweis auf Jonas-Gnosis Forschung (G. Scholem, 66f), tatsächlich bildet sich Scholems Konzept der Gnosis eher in Auseinandersetzung mit der älteren Forschung aus. Hamacher diskutiert Scholems Bild von Gnosis und be-tont den Unterschied gegenüber Jonas (G. Scholem und die Religionsgeschichte, 184ff), sie sieht v. a. eine Affinität Scholems zu Leisegangs Auffassung der Gnosis als spezifisch religiöser, intuitiver Erkenntnis (ebd., 191f), tatsächlich ist Scholems For-schung aber mehr an der Suche nach gnostischen Motiven als nach gnostischer Welt-anschauung bestimmt. Vgl. auch die Kriti k an der Anwendbarkeit der Kategorie der Gnosis bei Idel, »Subversive Katalysatoren«, 83ff.

Die »Charakteristika der Gnosis«, die auch auf die Hechaloth-Mystik zutreffen sind: »der Besitz einer Erkenntnis, die nicht durch gewöhnliche intellektuelle Mittel, son-dern nur auf dem Wege einer Offenbarung und mystischen Erleuchtung zu gewin-nen ist, der Besitz einer Geheimlehre von der Ordnung der oberen Welten und die Kenntnis der magischen und liturgischen Mittel, die den Zugang zu ihnen eröffnen« (Scholem »Zur Frage der Entstehung ...«, 8). Vgl. die ganz ähnliche Bestimmung in: Scholem, Jewish Gnosticism, 1.

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352 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Scheinbar vertr i tt Scholem hier eine ganz weite Defini t ion von Gnosis, for-

schungsprakt isch beruht der Nachweis der Gnosis aber vor allem auf dem

Nachweis von einzelnen gnostischen Motiven bzw. von gnostischer Termino-

logie wie etwa die Seelenwanderungslehre oder die Äonenterminologie. Wie

selbstverständlich versteht Scholem die Gnosis dabei auch als historisches Phä-

nomen, er ist nicht auf der Suche nach einer Daseinshal tung wie Jonas, ge-

schweige denn auf der Suche nach einer zeitlosen gnostischen Religion.670

Ausgearbeitet wird der Gedanke einer jüdischen Gnosis in Jewish Gnosticism,

Merkabah Mysticism and Talmudic Tradition von 1960; hier versucht Scholem

nicht nur, die Existenz einer orthodox jüdischen Gnosis nachzuweisen, sondern

nimmt auch an, diese habe die Entstehung des außerjüdischen Gnostizismus be-

einflußt.671 Der Rückgriff der Gnostiker auf biblisches Material sei nicht immer

nachträglich und von außen erfolgt, denn bereits in der jüdischen Überlieferung

seien durch interne Prozesse Konzeptionen entstanden, die an die Gnosis grenz-

ten, daher seien auch nicht alle gnostischen Elemente im Judentum als fremder

Einfluß zu bewerten: »It is equally understandable that Gnostics frequently

borrowed such material and deliberately changed it.«672 Allerdings ist in der

Forschung stark bezweifelt worden, ob jene esoterischen jüdischen Spekulatio-

nen zu recht als Gnosis bezeichnet werden können, geht ihnen doch gerade das

antinomische und dualistische Moment ab.673 Insbesondere Hans Jonas hat die

Vgl. aber auch die m. E. mißverständlichen und abwehrenden Sätze an Jonas: »Ihre Definition der Gnosis ist nicht die meine, und darüber zu diskutieren, hätte gar kei-nen Sinn. Für mich ist Gnosis eine sich immer wieder reproduzierende Struktur im religiösen Denken, für Sie ist es ein einmaliges geschichtsphilosophisch bestimmtes Phänomen, dessen damit nicht übereinstimmende Strukturparallelen als Pseudo-morphose aufgefaßt werden.« (Br III , 160) Zwar habe, so Scholem, die religionsgeschichtliche Forschung ganz zu recht eine vor-christliche Gnosis angenommen, aber sie habe sich dabei zu »far fetched explanati-ons« der Gnosis aus iranischen Quellen verstiegen, die »on closer inspection [...] have been found disappointing and highly speculative«. Man müsse eher auf die doch na-heliegenden jüdischen Quellen eingehen. (Scholem, Jewish Gnosticism, lf) . Scholem, Jewish Gnosticism, 7. - »The theory of the two principles could have been the result of an internal development, a mythological reaction within Judaism itself, just as easily as a reflection of Iranian influence.« (Kl , 22) - Damit wird wieder die Entwicklung umgekehrt: Es frage sich, ob die »orthodoxe Schi'ur Koma-Gnosis nicht der dualistischen Aufspaltung der späteren Gnosis des frühen 2. Jahrhunderts voran-ging, und wir so eine ganz andere Entwicklungslinie der Gnosis vom Monotheismus zum Dualismus wahrnehmen können, als sie uns bisher angeboten wird.« (MG, 27) Vgl. die bei Dan (Gershom Scholem, 42, 68f) referierte Kritik ; vgl. insbes. die her-vorragende Studie von Deutsch über die Frage einer jüdischen Gnosis (Deutsch, The Gnostk Imagination, insbes. 25ff): »Scholem »read« Gnosticism through the prism of Jewish mysticism, as much as he read Jewish mysticism through the prism of Gnosticism. [...] Scholem explicitly defined Merkabah mysticism as a form of

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KABBAL A UND »GNOSIS« 353

Behauptung eines scheinbar bruchlosen Übergangs von einer monotheistischen

zu einer dualistischen Gnosis scharf kritisiert als besonders deutliche Ausprägung

der Alchemie der Ideen.674

Es ist aufschlußreich, warum Scholem diese fragwürdige These vertritt bzw.

warum er den Ursprung der Kabbala gerade von der Gnosis her gewinnen will .

Erstens n immt er damit eine These der älteren Wissenschaft des Judentums auf.

Auch Graetz nimmt an, daß sich eine undualistische Gnosis an den Rändern des

rabbinischen Judentums unbemerkt entfaltet habe. Sie habe das authentische Ju-

dentum gefährdet, insbesondere, indem sie die Lehre von der Schöpfung aus

nicht durch Spekulationen über den Urstoff aufgeweicht habe.675 Letztlich habe

das rabbinische Judentum sich aber erfolgreich verteidigt, das Buch Jezira deu-

tet Graetz schon als antignostische Polemik, die Geschichte vom Aufstieg der

vier ins Paradies ist für ihn eine Allegorie auf die Erhaltung der reinen Lehre.676

Gnosticism. What is less obvious, perhaps, is that he implicitly characterized Gnosticism as a form of mysticism.« (Ebd., 33) Auch Gruenwald kritisiert die Termino-logie Scholems, die darauf beruhe, die gnostischen Ideen späterer Texte in die jüdischen Texte hineinzulesen (Gruenwald, From Apocalyptiasm to Gnosticism, 190ff, bes. 223). Scholems Terminologie verschleiere einen entscheidenden Unterschied; »it encoura-ges the view of a smooth »transition« instead of a decisive break, a mere mutation in the same genus. [...] But Jewish-orthodox »Gnosis« of itself just cannot lead to something basically different from it. Somebody must have taken it and made it into something new, turned it upside down. Who did so? Gnostics (»properly speaking«) to be sure. (Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. II , 356f) - Gerade daß Scholem keine Belege einer dualistischen Gnosis gefunden habe, weise darauf hin, daß die entscheidenden Entwicklungen außerhalb des Judentums stattgefunden hätten. -Jonas gibt auch eine Art Ideologiekritik von Scholems These: »In the spirit of generosity after the holocaust, our (the Jews«) credit for creativity has been vastly extended; and Jewish vanity, which of course is not lacking, might be pleased to welcome into the record even the disreputablc, which in the present climate [...] cnjoys its own paradoxical prestige.« (Ebd., 357)

Die Gnostiker sind für Graetz sozusagen Materialisten, die sich unbemerkt ins Ju-dentum einschleichen können, weil »den strengen Monotheisten der Widerspruch, in dem diese Vorstellung mit der göttlichen Einheit steht, nicht sogleich zum klaren Begriffe kam« (Graetz, Gnosticismus und Judentum, 46f, vgl. auch 34f), gegen den manifesten Dualismus hätten sich die Juden dagegen immer zur Wehr gesetzt (ebd., 40). Graetz sieht durchaus eine Parallele in der Gegenwart: Auch heute sei das Ju-dentum durch einen scheinbar jüdischen »modernen Pantheismus« gefährdet (ebd., VII) . - Ähnlich ist auch die Auffassung von Moritz Friedländer, dieser betont aller-dings weniger das spekulative als das antinomische Moment, immer wieder verweist er auf Philo und dessen Vorwegnahme der paulinischen Gesetzesfreiheit, vgl. etwa Friedländer, Der vorchristliche jüdische Gnosticismus, 122f. Scholem kritisiert diese Auffassungen später als unfundiert, vgl. etwa JM, 393, KL 22. Deutlich ist das häresiologische Schema: Das Judentum wird von außen gefährdet, aber sein positiver Inhalt setzt sich letztlich durch. Vor allem R Akiba erscheint als

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354 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Mehrfach deutet Graetz dabei an, daß es Verbindungslinien dieser Gnosis zur

Kabbala gebe, die »eine entscheidende physiognomische Ähnlichkeit und ge-

meinsame Abstammung mit dem Gnostizismus« habe.677

Scholem stellt dieses Bil d auf den Kopf, dabei interessiert er sich nicht für die

dogmatische Unterscheidung in der Schöpfungslehre (pantheistischer »Materia-

lismus« vs. jüdischer »Idealismus«), sondern für eine mythische Strömung in der

rabbinischen Frömmigkeit. Die Geschichte vom Aufstieg ins Paradies sei keine

Allegorie, sondern eine selber gnostisierende Darstellung einer Himmelsreise und

das Buch Jezira enthalte ebenfalls gnostische Züge.678 Das bedeutet auch, daß die

»jüdische Gnosis« der Hechaloth-Myst ik durchaus einer innerjüdischen Ent-

wicklung entspricht. Damit ist aber auch die Kabbala, die aus jenen gnostischen

Motiven hervorgeht, legitim zurückgebunden an die jüdische Überlieferung.679

Hierin liegt wohl auch der zweite Grund von Scholems gnostischem Zugang

zur Kabbala: Das religionsgeschichtliche Gnosis-Konzept erlaubt es, die Kab-

bala weder als »Philosophie« zu verstehen (wie in der romantischen Auffassung),

noch als »Mystik« (wie in der Erlebnislehre, etwa bei Wiener). Gerade in seiner

Frühzeit betont Scholem immer wieder, daß die Gnosis vol lkommen unphi lo-

sophisch ist: »Was dieser hier besprochenen Form jüdischer Gnosis fehlt, ist das

theoret isch-spekulat ive Interesse.«680 Ähnl ich wie Bousset hebt Scholem die

der »jüdische Heros« (Graetz, Gnosticismus und Judentum, 83), er verfaßt das Buch Jezria (ebd., 118) und darf ins Paradies schauen: »R Akiba verfiel nicht in diesen bo-denlosen Irrthum, er entkam glücklich, er wurde würdig befunden, würdige Vor-stellungen von der substantiellen Einheit Gottes zu haben.« (Ebd., 90) Graetz, Gnosticismus und Judentum, 5. - »Nur auf diese Weise kann meines Erach-tens sowohl für die Entstehung und den Inhalt der Kabbala einerseits, welche von talmudischem Einflüsse nicht gut abgelöst werden kann, andererseits aber auf für die Bedeutung und den Geist des Gnostizismus außerhalb des christlichen Lehrbegriffs [...] etwas gewonnen werden.« (Ebd., 6) Zum Aufstieg der vier ins Paradies vgl. Scholem, Jewish Gnosticism, 14ff; Kl 13ff. Zum Buch Jezira insbes. UA, 20ff; Kl 23ff. Vgl.: »[T]he theology presented, or rather implied, here does not conflict with the biblical concept of God, even though it may conflict with some later philosophical coneepts of medieval Judaism.« (Scholem, Jewish Gnosticism, 10) - Anekdotisch und nicht verläßlich berichtet Bloom von einem Gespräch mit Scholem über den jüdischen Ursprung des Gnostizismus: »Als ich einzuwenden versuchte, der Gnostizismus scheine doch ebenso sehr eine Fehllektüre Piatos wie der hebräischen Bibel zu sein, so daß in einem etwas seltsamen Sinn Gnostizismus und Neuplatonismus beide von Plato abstammen, antwortete Scholem triumphierend: »Genau. Und wo hat Plato alles her? Von Ägypten, und die haben alles von uns!« (Bloom, Kafka - Freud - Scholem, 72) Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 10. - Der unphilosophische Charakter gelte noch für Isaak Jacob Cohens Traktate aus dem 13. Jahrhundert, «die von philoso-phischer Gedankenbildung schlechterdings gar nichts, von bloßer philosophischer Terminologie nur ein Minimum enthält, deren rein gnostischen Charakter aber der

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KABBAL A UND »GNOSIS« 355

primitiven, magischen und »orientalischen« Züge hervor, gerade sie seien, »wie die Religionsgeschichte des Synkretismus uns lehrt, nicht später Zusatz, »Ver-fallserscheinungen«, wie der rationalistische Betrachter leicht annehmen könnte, sondern gehören vielmehr zum ursprünglichen Besitz dieser Bewegung«.681

Um zu verstehen, warum Scholem von »jüdischer Gnosis« spricht, muß man drittens auf den Terminus ad quem seiner historiographischen Fabel achten. Be-reits 1928, also gleichzeitig mit Zur Entstehung der Kabbala, hebt er die gno-stische Natur der sabbatianischen Theologie des 17. Jahrhunderts hervor, bei dieser handelt es sich aber nicht mehr nur um eine Gnosis im weiten Sinne einer esoterischen Erlösungslehre, sondern um einen wirklichen Dualismus, um eine gnostische Anthropologie und um eine antinomistische Häresie.682 Noch stär-ker ist das bei Jacob Frank und dem Frankismus der Fall, einer sabbatianischen Sekte, die zum Christentum konvertiert, allerdings im geheimen mit dem Ju-dentum verbunden bleibt. Schon bei seiner ersten Darstellung des Frankismus in Erlösung durch Sünde betont Scholem den gnostischen Charakter des Fran-kismus: »Wer in der Religionsgeschichte bewandert ist, könnte ohne weiteres vermuten, daß es sich hier um einen torafeindlichen Mythos aus dem zweiten Jahrhundert handle, aus der Zeit solcher Gnostiker und Nihilisten wie Karpo-krates und seiner Genossen.« (J V, 100)

Gerade Scholems Äußerungen zum Frankismus zeigen, daß seine Wahrneh-mung der Gnosis implizit sehr wohl durch die Kriterien von Dualismus und Synkretismus bestimmt ist, auch wenn sie nicht Bestandteil der Definition sind. Die Bezeichnung »Gnosis« dient jetzt auch dazu, historische Kontinuität her-zustellen zwischen den Ursprüngen (der Gnosis im weiteren Sinne) und ihren Auswirkungen (der antinomischen Gnosis): Auch die Sabbatianische Bewegung und deren akute Gnosis kommen nichts aus dem Nichts, umgekehrt zeigt sich gerade in der Fortentwicklung die in den Ursprüngen angelegte Tendenz. Die

Leser mit Ueberraschung konstatiert« (ebd., 22). - Im Artikel der Enzyklopedia Ju-daica von 1932 hebt Scholem einerseits hervor, daß die Kabbala unter keine gängige Definition der Mystik falle, und betont andererseits ihren gnostischen Charakter (Scholem, Art. »Kabbala«, Sp. 631).

1 Scholem, »Zur Frage der Entstehung«, 9. - Scholem vertritt daher auch eher einen Orientalismus, eine »Entstehung der Kabbala im Abendland ist nach all dem höchst unwahrscheinlich« (ebd., 23).

2 Im Essay über Cardoso spricht Scholem immer wieder von Gnosis, Cardosos Theo-logie bezeichnet Scholem als »Konstruktion eines virtuellen gnostischen Antinomis-mus innerhalb der Welt des Judentums« (J I, 122), Scholem spricht hier auch vom »urgnosischen Zentralgedanken« (ebd., 129) des Antinomismus. Vgl. auch die schon im letzten Kapitel zitierte Stelle von der »Rache des Mythos an seinen Überwindern«, wo Scholem schreibt, das »Ziel« der Gnosis sei »schließlich und eigentlich die Zer-störung des Gesetzes« gewesen. (JM, 38)

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gnostische Natur der Kabbala wird also erst vor dem Hintergrund der gesam-ten Geschichte verständlich, umgekehrt wird diese Geschichte verständlich, wenn man die gnostische »Erbschaft« bedenkt, die an ihrem Anfang steht. Die vielfältigen Verwandlungen, welche die »Gnosis« in dieser Entwicklung erleidet, ermöglichen eine reiche Gestaltung der Entwicklung der Kabbala, ohne daß dabei die Einheit des Gegenstandes verloren geht. Ihre eigentliche Dynamik enthält diese Entwicklungsgeschichte aber erst dort, wo sich die Gnosis mit ganz anders gearteten Überlieferungen »mischt«.

3.5.4 Gnosis, Neuplatonismus und Kabbala. In seiner Suche nach dem »Ur-sprung« der Kabbala führt Scholem schon 1928 die Kabbala des 13. Jahrhun-derts nicht einfach auf die prähistorische gnostische Kabbala zurück, sondern kontrastiert die beiden auch gegeneinander: Die jüngeren Texte hätten eine »ganz andere Physiognomie« und in ihnen ließen sich »die Einbruchsstellen neuplatonischen Denkens in die ältere, prähistorische Kabbala mit Sicherheit nachweisen«.683 Kabbala im eigentlichen Sinne entsteht für Scholem erst aus einem Zusammentreffen; an seiner Darstellung dieses Zusammentreffens kann man seine historische Logik besonders deutlich herausarbeiten.

Die Interpretation der Kabbala als neuplatonisches Emanationssystem ist nicht neu. So behauptet etwa Adolphe Franck, in der Kabbala würden der Dua-lismus und der mythologische Realismus überwunden und in eine Philosophie der Einheit verwandelt.684 Typisch für die philosophisch orientierte Forschung

683 Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 18. - »Mit ihnen beginnt der tiefe und für die innere Geschichte des Judentums so folgenreiche Prozeß, der als das zweite Sta-dium der Entwicklung der Kabbala angesprochen werden muß: die Überführung der Kabbala aus der Welt der Gnosis in die des Neuplatonismus, der Versuch einer Syn-these der alten, so stark in mythologischen Formen verlaufenden Strömungen mit den so grundverschiedenen der Scholastik, als dessen Resultat die Bildung einer ei-gentlichen mystischen Theologie des Judentums anzusehen ist.« (Ebd.) Vgl. die ähn-lichen Formulierungen in JM, 192 und Gb, 15; vgl. auch: »Kabbalah, in its historical significance, can be defined as the produet of the interpenetration ofjewish Gnosti-cism and neoplatonism.« (Kl 45, Hervorhebung von mir)

684 Vgl. etwa über das Sefer Jezira: »Das letzte Wort dieses Systems ist die Entfernung jeder Art des Dualismus durch die Setzung der absoluten Einheit: sowohl des Dua-lismus der heidnischen Philosophie, welche die Materie für eine heilige Substanz hielt [...], als auch desjenigen der Bibel, die [...] jene zwei Wesen, das Weltall und Gott, als zwei absolut unterschiedene Substanzen betrachtet.« (Franck, Die Kabbala, 115f) Der Dualismus sei hier »bloß formell vorhanden« (ebd., 284), deutlich ist dabei der Einfluß Hegels. - Vgl. Scholems Kriti k dieser Interpretationen in Kl, 96ff; gegen diese der Kabbala gegenüber positiv eingestellten Lektüre gibt er der Sache nach Graetz und dessen These vom gnostischen Ursprung der Kabbala recht. - Bloom weist auf die Ablehnung der Emantationstheorie im 7. unhistorischen Aphorismus hin: »Scho-lems Abneigung gegen die Emanantionstheorie ist seine eigene, ganz überraschende

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KABBAL A UND »GNOSIS« 357

fließen dabei Gnosis, Neuplatonismus und Kabbala ineinander. Scholem dage-gen unterscheidet alle drei scharf: Der Neuplatonismus ist für ihn die jüdische Philosophie bzw. Theologie des jüdischen Mittelalters, seine Entwicklung ist gegenüber jener der Gnosis ganz selbständig. Er ist dabei keineswegs für Scho-lem einfach »abstrakt«, sondern hat eine Affinität zur Mystik und stellt eine wichtige Quelle negativer Theologie für die Kabbala dar. Sie unterscheidet sich von der Gnosis vor allem in der Interpretation der göttlichen Eigenschaften: Für den Neuplatoniker sind diese nur »Emanationen« Gottes, die auf ihn zurückführen, letztendlich bloß bezeichnende Attribute. Für den theosophi-schen Gnostiker handelt es sich um wirkliche Wesen, um Äonen mit eventuell widergöttlicher Natur. Von da aus interpretiert Scholem nun die Sephiroth-Lehre der prähistorischen Kabbala: Die Sephiroth bilden einen wirklich exi-stierenden Bereich von mythologischer Selbständigkeit, auch wenn sie nicht widergöttlich seien - auch hier handelt es sich also um eine undualistische Gno-sis (vgl. etwa JM, 227ff; KS, 135ff; MG, 32ff). Die Kabbala im eigentlichen Sinne entsteht durch ein Zusammentreffen und »Verschmelzen« dieser beiden Ten-denzen: »indem die mythologische Kabbala platonisiert und der Neuplatonis-mus kabbalisiert wird, entsteht ein neues Gebilde kabbalistischer Theologie«.685

Die Kabbala hat also kein einheitliches und selbständiges »Prinzip« oder »Welt-erlebnis«, sie ist auch keine konstante und authentische »Unterströmung«, son-dern ein hybrides »Gebilde« aus heterogenen Elementen. Verständlich wird sie daher für Scholem durch Kenntnis des Prozesses dieser Mischung; sie kann also weder durch ein immanentes Gesetz des Fortschritts der Idee noch durch ein allgemeines Bedürfnis der lebendigen Religiosität zureichend erkannt werden, sondern nur historisch, durch Rückgang auf die spezifischen Vorgeschichten.

Entscheidend für diese Art von Verständlichkeit ist dabei, wie »Vermischung« vorgestellt wird. 1928 schreibt Scholem, das »Eindringen« des Neuplatonismus in die prähistorische Kabbala habe sich »nicht ohne manche intellektuelle Gewaltsamkeiten« vollzogen und betont, daß es auch einen »Widerstand« dage-gen gegeben habe, er scheint hier noch von einer authentischen gnostischen Be-wegung auszugehen, die sich gegen ihre Überformung durch die Philosophie gewehrt habe.686 In einem späteren Aufsatz betont er dagegen, daß jene Ver-

Abweichung von der Kabbala, und ich halte sie für das technische Zentrum seines uns hinterlassenen theosophischen Erbes.« (Bloom, Kafka - Freud - Scholem, 72) Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 20f. - Scholem schwankt, wer hier der ak-tive, wer der passive Part ist: Mal bricht der Neuplatonismus in die Welt der gnosti-schen Mystik ein, mal aber auch umgekehrt bricht der Mythos ein - die Rede von »Einbruchsstellen des neuplatonischen Denkens« (ebd.) und vom »Einbruch unver-stellt mythischer Rede von Gott« (KS, 122) erscheinen austauschbar. Scholem, »Zur Frage der Entstehung ...«, 20,19.

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Schmelzung »unpolemisch« erfolgt sei (Gb, 21) und weniger den Charakter des

Kampfes als eines Ineinanderfließens gehabt habe:

Das Instrument der dabei auftretenden Umdeutung, in der sich eine ganz neue Auffassung durchsetzt, ist das, was ich das produktive Mißverständnis nennen möchte. Was dem Mystiker eine tiefe Intuition, ein großes Symbol ist, erscheint unter dem nüchternen Blick des Historikers der Begriffe - oder gar des Philoso-phen - als ein Mißverständnis philosophischer Konzeptionen. Aber gerade im Mißverständnis erweisen solche Konzeptionen in der Religionsgeschichte ihr pro-duktives Wesen und sichern, freilich um den Preis ihrer Fragwürdigkeit, die Kon-tinuität der religiösen Sprachwelt. (Gb, 67f)687

Das »produktive Mißverstehen« ist eine entscheidende Kategorie von Scholems

historischer Logik, mit ihm soll nicht nur die Bildung von Neuem erklärt wer-

den, sondern vor allem die Latenz einer solchen Neuerung, ohne die eine Neue-

rung in einer traditionalen Gesellschaft wie dem Judentum nicht zu historischer

Wirkung kommen könnte. Das produkt ive Mißverständnis spielt sich »im U n-

bewußten« ab, insofern es als Mißverstehen nicht bemerkt wird.688 Diese Logik

des Mißverstehens fordert ein spezifisches Verstehen seitens der Forschung: Das

»produktive Mißverständnis« als solches zu verstehen bedeutet weder, es einfach

»aufzulösen« bzw. als Mißverständnis zu denunzieren, es bedeutet aber auch

nicht einfach, den tieferen Sinn »dahinter« freizulegen. Um zu verstehen, was die

Kabbala ist, muß man den Prozeß des Mißverstehens selber nachvollziehen;

wenn das Mißverständnis oft die »paradoxe Abbreviatur eines originellen Ge-

dankengangs« ist QM, 27), so muß das Verständnis diesen (niemals gedachten)

Gedankengang reproduzieren. Es handelt sich also um eine diskursive Aufgabe,

Vgl. auch ähnliche Formulierungen in: KS, 137, JM, 27. - Für Scholem ist das »pro-duktive Mißverständnis« nicht einfach eine Chiffre für unendliche Proliferation in der Rezeption, es sollte auch nicht zu dem bei Kilcher (Die Sprachtheorie der Kabbala, 25ff) nahegelegten Schluß verführen, daß die metaphorische Kabbala die eigentliche Kabbala sei. Für Scholems Kategorie des Mißverständnisses scheint mir wesentlich zu sein, daß es eine Latenz beschreibt: Nur scheinbar wird etwas verbunden, später trit t es wieder auseinander. Insofern handelt es sich hier eher um die bei Bloom (etwa Eine Topographie des Fehllesens, lOf, Kabbala, 28ff), angedeutete Logik des gewalt-samen Mißverstehens und der noch gewaltsameren Wiederkehr des Verdrängten als um eine unendliche Vervielfältigung. Scholems gelegentliche Rede vom »Unbewußten« muß also von dieser Entwick-lungsdynamik her verstanden werden und nicht von archetypischen und irrationa-len Kräften, deren Ausdruck die Kabbala sein soll: »Es gibt keinen Grund, Scholems wiederholte Zweifel an Jungs Theorien zu relativieren oder weniger ernst zu nehmen als seine Ablehnung der Freudschen Psychoanalyse und des dialektischen Materia-lismus, erscheinen doch vor dem Hintergrund der älteren Religionswissenschaft Scholems Psychologismen weder ungewöhnlich noch erklärungsbedürftig.« (Hama-cher, G. Scholem und die allgemeine Religionsgeschichte, 312f)

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KABBAL A UND »GNOSIS« 359

um eine Lektüre, die notwendigerweise gegen die Intention der Autoren ge-richtet ist, die ja hier gerade kein Mißverstehen sehen.689

Die Rede vom »produktiven Mißverständnis« ermöglicht es Scholem auch, einen langen Entwicklungsbogen der historischen Dynamik zu konstruieren, denn mittels der latenten Wirkung des produktiven Mißverstehens werden ja auch die alten Begriffe überliefert. Die der »Kompromißbildung« zwischen Gno-sis und Neuplatonismus inhärente Spannung bestimmt den weiteren Verlauf von Scholems Darstellung, in der die Kabbala niemals als eine wirkliche »Synthese« zwischen Gnosis und Neuplatonismus oder zwischen Theologie und Mytholo-gie erscheint - von einer solchen Synthese aus wäre die historische Dynamik der Kabbala gerade nicht verständlich und könnte nur als Dekadenz verstanden werden. Als wirkliche Entwicklung wird die Kabbala verständlich durch die in ihr verdeckt mittradierte Spannung disparater Elemente. Diese Spannung ma-nifestiert sich im Konflik t zwischen der gnostischen realistischen Terminologie und dem neuplatonischen Impuls, jede bestimmte Terminologie zu überschrei-ten. Sie zeigt sich in der Gotteslehre, die immer von der (neuplatonischen) Auf-lösung Gottes in ein formloses Prinzip einerseits, vom Auseinanderfallen der Einheit Gottes in seine (gnostisch-realistischen) Prädikate andererseits bedroht ist. Dabei nimmt innerhalb der Entwicklung der Kabbala die Spannung ständig zu: Beim Sohar spricht Scholem noch von einer »farbenreichen, wenn auch kei-neswegs unproblematischen Einheit« QM, 266), dagegen ist in der lurianischen Kabbala des 16. Jahrhunderts »der innere Konflik t zwischen theistischen und pantheistischen Tendenzen [...] besonders deutlich geworden« (ebd., 277). Wie bereits erwähnt, charakterisiert er den Sabbatianismus und Frankismus beson-ders vehement als Gnosis. Vor allem bei Frank zeigt sich das, und zwar bereits an der Ausdrucksform, denn Frank benutze nicht mehr die versponnene, pseu-depigraphische und indirekte Kunstterminologie der Kabbalisten, sondern spre-che sich direkt mythologisch aus: »Die kabbalistische Symbolsprache wurde abgeschafft und durch sinnlich einprägsame Bilder ersetzt« Q IV, 176).

Scholem zitiert die »Herrenworte« Franks seitenlang und mit sichtlicher Fas-zination. Er wil l hier mehr als eine exzentrische Person oder einen Charismati-ker sehen und wirf t seinen Vorgängern vor, sie hätten den Frankismus nicht verstanden, weil sie dachten »eine frankistische »Lehre« gebe es nicht und das »Buch der Worte des Herrn« [...] sei nichts als leeres Gerede, aberwitziges Phan-tasieren ohne Sinn - und also gewiß auch ohne System« Q V, 17f). Tatsächlich

Trotz Scholems Vorbehalt gegen Freud kann man das Verstehen des produktiven Mißverständnisses mit der psychoanalytischen Symptomdeutung vergleichen: Um das Symptom zu verstehen, muß die Arbeit verstanden werden, die es produziert hat (vgl. dazu das oben zur symptomatischen Lektüre Gesagte). Das bedeutet immer auch, in den Konflikt mit dem Symptom zu gehen.

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360 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

könne man das Denken Franks aber sehr wohl als »typisch gnostisch« verstehen. Das bedeutet zum einen, daß es einer gewissen Logik folgt, die man in Parallele zur historischen Gnosis der Spätantike sehen kann: Die Ähnlichkeiten seien »nicht ganz so erstaunlich, wenn man bedenkt, daß letztendlich auch jene frühen religiösen Nihilisten in tannaitischer Zeit ihre Vorstellungen innerhalb der biblischen Welt entwickelten, obwohl sie diese pervertierten« (ebd., 100; vgl. auch J IV, 185). Zum andern kann Scholem den Frankismus damit aber auch in die Entwicklung der Kabbala einbeziehen: Die latente Gnosis der Kabbala kommt hier gerade durch die »Vulgarisierung« wieder an die Oberfläche; da-durch daß das neuplatonische Element ausgeschieden wird, taucht das gnosti-sche Erbe wieder auf. Die Kabbala kulminiert bzw. kollabiert im Frankismus. Ihre kunstvolle Symbolik löst sich wieder in die Motive auf, aus denen die kab-balistischen Symbole ursprünglich gebildet wurden: An ihrem Ende steht, wie schon an ihrem Anfang, eine unverstellt mythische Gnosis.690

3.5.5 Der Begriff des Symbols. Die Logik des Miß verstehens wird von Scholem oft mit dem Begriff des »Symbols« ausgedrückt, den er recht eigenwillig und nicht unmißverständlich benutzt. In der Einleitung zu den Hauptströmungen unter-scheidet Scholem zwischen der philosophischen und der kabbalistischen Exe-gese: Die Philosophen fassen die biblischen Darstellungen als »Allegorien« für andere, philosophische Konzeptionen auf, die Mystiker sehen in ihnen »Sym-bole« theosophischer Geheimnisse.691 Im Unterschied zu dieser »Immanenz der

690 Es scheint dabei, daß Scholem in späteren Aufsätzen eher die Kontinuität betont und hervorhebt, der Frankismus stellt für ihn hier »die äußerste Konsequenz dar, zu der eine im Herzen des Judentums selber aufbrechende messianische Krise der Tradition führen konnte« (J III , 197). Der Frankismus ist also noch Kabbala und Judentum, denn trotz allem bleibe »der Bruch mit der Tradition, der hier erfolgt, auf verwegene Weise noch in Rudimenten dieser Tradition begründet« (ebd., 204). In den früheren Aufsätzen und auch in den Hauptströmungen betont Frank dagegen stärker, daß der Frankismus das Ende der Kabbala bedeutet, dazu s.u. Kap. 3.7.

691 Vgl. auch J III , 82f. - In »Philosophy and Jewish Mysticism« von 1937 formuliert Scholem den Unterschied noch weniger abstrakt-sprachphilosophisch und näher zu den konkreten exegetischen Vollzügen: Die der Philosophen betrachtet die Überlie-ferung als »simplified description of the relations which exist among the ideas of philosophy«, sie löse daher die biblischen Erzählungen auch auf. »By contrast, the mystic refrains from destroying the living texture of religious narrative« (ebd., 396). -Scholems Rede vom Symbol wird von den Interpreten verschieden interpretiert, ohne seinen Status als Werkzeug religionsgeschichtlicher Analyse zu berücksichtigen. Ro-tenstreich (»Symbolism and Transcendence«) sieht in ihm Ausdruck einer philoso-phischen Anschauung von der Sprachvermitteltheit der Welt; Hamacher (G. Scholem und die Religionsgeschichte, 141ff) betont den dogmatischen Gegensatz der symboli-schen und der philosophischen Weltanschauung. Auch Idel geht von einem ontologi-schen Symbolbegriff bei Scholem aus (Idel, Kabbalah, 218ff; jetzt auch: ders., »Zur

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KABBAL A UND »GNOSIS« 361

Allegorie« zeige das Symbol noch etwas anderes, es sei »zwar auch Zeichen, aber nicht Zeichen allein«: »Im mystischen Symbol wird eine Wirklichkeit, die in sich selbst, vom Menschen her gesehen, keinen Ausdruck hat, unmittelbar in einer anderen Wirklichkeit transparent.« QM, 29) Entscheidend an Scholems Bestim-mung des »Symbols« ist weniger, was bezeichnet wird, sondern wie das geschieht: Der Unterschied zwischen Philosophie und Kabbala besteht daher auch nicht darin, daß nur diese sich mit wirklicher Transzendenz beschäftigt, sondern daß die philosophische Allegorie auf etwas verweist, das kabbalistische Symbol aber »unmittelbar transparent« ist; daher könne bei der Allegorie auch das Aus-drucksmaterial wechseln, nicht aber beim Symbol.

Scholems Symbolkonzeption scheint sich an einer besonderen Bezeich-nungsweise zu orientieren, man sollte ihn daher nicht mit dem Symbolbegriff vergleichen, der in den fünfziger und sechziger Jahren innerhalb der Religions-wissenschaft Konjuktur hat. So ist etwa für Eliade das Symbol durch seinen In-halt bestimmt, es wird dadurch definiert, daß es Transzendenz zeigt.692 Auch sollte man die »Unmittelbarkeit« des Symbols nicht zu stark betonen. Zwar re-kurriert Scholem auf das Konzept des plastischen Kunstsymbols und seiner »momentanen Totalität«, aber diese Charakterisierung beschreibt nur bedingt, wie Scholem die kabbalistischen Begriffe auffaßt. Charakteristisch für diese ist gerade, daß sie nicht in sich ruhend und frei von Widerstreit ihren Gegenstand repräsentieren, sondern in ihnen taucht immer auch ein Rest auf, der nicht auf-geht zu einem harmonischen Ganzen, wie wir schon an der der Kabbala in-härenten Spannung von Gnosis und Neuplatonismus gesehen haben.693 Sie sind

Funktion von Symbolen«), er sieht (m. E. in polemischer Verzerrung) eine Nähe zur christlichen Kabbala (ebd., 57ff) und zum Pansymbolismus Eliades (ebd., 59). Religiöse Symbole sind für Eliade die Manifestationen des Heiligen in der Welt des Menschen, letztlich symbolisieren sie alle dasselbe, nur in verschiedener Form. Zur Kriti k Eliades vgl. etwa Rudolph, Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, 38ff. - Über Scholems Verhältnis zu dieser Schule vgl. Dan, »Gerschom Scholem ...«. Scholem rekurriert hier auf den Symbolbegriff Goethes und Creuzers, das Symbol sei »um mit Creuzer zu sprechen, »ein Strahl, der unmittelbar aus dem dunkeln Grunde des Seins und Denkens in unser Auge fällt und durch unser ganzes Wesen fährt«, eine »momentane Totalität«, die in der Intuition, im mystischen Augenblick, als der dem Symbol gemäßen Zeitdimension erfaßt wird« (JM, 30). Die kabbalistischen Begriffe entsprechen aber gerade nicht Creuzers Bestimmung des Symbols, daß in ihm näm-lich der »Widerstreit zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen [...] also aufge-löset [ist] dadurch daß jenes, sich selbst begrenzend, ein Menschliches ward« (zit. nach Benjamin, Ges. Schriften, Bd. 1/1, 341). - Das Verständnis dieser Argumentation wird wohl wesentlich dadurch erschwert, daß man hier automatisch dazu neigt, den Sym-bolbegriff mit Benjamin (auf den Scholem auch verweist) im Gegensatz zur Allegorie zu lesen. Das übersieht, daß für Benjamin der kritisierte Begriff des Kunstsymbols nur »Mißbrauch« eines legitim theologischen Symbolbegriffes ist: »Die Einheit von sinn-

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362 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

aber noch fundamentaler gebrochen durch ihren Status: Die kabbalistischen Symbole erscheinen nicht als einzelne, sondern sind immer Teil eines exegetisch begründeten Verweisungssystems auf andere Texte und Symbole; daher kann auch kein einzelnes Symbol >angeschaut< werden, sondern sie müssen in ihrem inneren Zusammenhang gelesen werden. Das gilt bereits für die Kabbalisten selbst, die ja nicht nur einzelne Symbole »schöpferisch« entwerfen, sondern auch permanent versuchen, diese exegetisch und denkerisch zu bewältigen und in den Überlieferungsbestand zu integrieren. »Die Kabbalisten schufen Bilder und Symbole, ja vielleicht erweckten sie uralte Erbschaft darin wieder - aber sie haben nur selten den Mut gehabt, jene Bilder [...] auch rückhaltlos und sans phrase zu vertreten.« (KS, 129) Das führe zu »tiefen Zweideutigkeiten und er-klärt den Widerspruch, der uns in vielen Symbolen und Bildern der jüdischen Mystiker zu liegen scheint« QM, 37).694 Aber auch der religionsgeschichtliche Forscher »schaut« nicht einfach den Gehalt der Symbole, sondern interpretiert sie in Beziehung zu anderen Symbolen, insbesondere zu ihrer spezifischen Vor-geschichte. Die »Unmittelbarkeit«, die Scholem den Symbolen zuschreiben will , wird also sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption gebrochen, man muß sie vielleicht eher als eine Grenzbestimmung auffassen.695

Die Entgegensetzung von Symbol und Allegorie ist daher wohl weniger von sprachphilosophischen Erwägungen her zu verstehen als von der Forschungs-geschichte her. Wenn Scholem die kabbalistischen Begriffe nicht als Allegorien bezeichnen will , so bedeutet das, daß er die Kabbala nicht als bloß allegorische

lichem und übersinnlichem Gegenstand, die Paradoxie des theologischen Symbols, wird zu einer Beziehung von Erscheinung und Wesen verzerrt.« (Benjamin, Ges.ten, Bd. 1/1, 336) Offensichtlich will Scholems Begriff des Symbols genau von dieser Paradoxie her verstanden werden, nicht als Vermittlung von Wesen und Erscheinung. Die Kabbala entwerfe nicht eigentlich gestalthaftc Bilder, bzw. in diesen Bildern »wohnt noch - ich hätte fast gesagt: in den Ritzen der Gestalt - das Ausdruckslose, das immer jeden Ausdruck begleitet, in ihn eintritt und sich aus ihm zurückzieht. Das Wissen um dieses Doppelspiel, diese Dialektik der Gestalt, ist für das Wissen des Kabbalisten von den göttlichen Dingen charakteristisch.« (MG, 33f; vgl. ebd., 47) Scholem spricht an anderer Stelle von einem »Kampf zwischen dem begrifflich-dis-kursiven und dem bildhaft-symbolischen Denken innerhalb der Kabbala« (KS, 128). Liebes kritisiert generell die Anwendung des Symbol-Begriffes auf die Kabbala: »It is [...] a convenient explanation, for it permits one to have one's cake and eat it, too: both to assert the mythic character of the Kabbala and to deny it in the same breath, thus preserving Judaism's »pristine« absence of myth. Everything can be turned, in this way, into a »symbol« a term that serves academic scholars the same way the qualifier >as-it-were« once served the Kabbalists.« (Liebes, »Myth vs. Symbol«, 213). Tatsächlich gebe es aber im Sohar und bei Luria ganz unäquivoke mythische Elemente, d. h. »piain and direct speech, without rhetorical self-consciousness, describing a higher objeetive reality« (ebd., 225).

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KABBAL A UND »GNOSIS« 363

Verkleidung eigentlich philosophischer Konzeptionen verstehen will , wie das die romantische Kabbala und auch Franck getan hatte. Die kabbalistischen Kon-zepte haben für ihn ein Eigengewicht, daß sich gegen eine solche Übersetzung sperrt; sie religionsgeschichtlich zu analysieren, bedeutet ja gerade, zugleich In-halt und Form zu untersuchen. Scholem wil l die kabbalistischen Symbole nicht als Ausdruck für etwas lesen, sondern als Terminologie, d. h. zuallererst selbst-bezüglich. Das betont gerade die Materialität der Ausdrucksseite und deren Un-durchsichtigkeit auf einen einfachen »Sinn«.696

In Scholems Darstellung erscheint die Kabbala nicht als eine zeitlose Welt der Symbole, sondern als Bewegung, die unter ständiger Spannung steht. Das ist keineswegs selbstverständlich: Etwa die Sephiroth-Symbolik drängt sich ge-radezu auf als Schema zu einer ganz anders gearteten Darstellung der klassi-schen Kabbala: Die zehn Sephiroth können die zehn Aspekte sein, unter denen die Kabbala Gott sieht, sie können zehn Symbole von Urerfahrungen sein, sie können auch zehn verschiedene rhetorische Tropen sein. Bei Scholem dagegen spielen die Sephiroth für die Struktur der Darstellung keine große Rolle, in sehr viel höherem Maße liegt die »Verständlichkeit« in der historischen Entwicklung der Kabbala und in der religionsgeschichtlichen Begrifflichkeit, die diese be-schreibt. Wie wir gesehen haben, spielt gerade das Konzept der Gnosis dabei eine wichtige Rolle: Als latente Gnosis ist die Kabbala weder eine bloß abge-sunkene Philosophie, noch eine unhistorische zeitlose Mystik oder Magie. Als Gnosis betrachtet, kann die Kabbala »dynamisiert« werden, ihre verschiedenen Phasen werden miteinander verknüpft und ihre Symbole werden nicht nur in ihrer theologischen, sondern auch in ihrer politischen Bedeutung lesbar. Damit sind bereits die Voraussetzungen für den Höhepunkt von Scholems Darstellung der Kabbala gegeben.

Die kabbalistische Symbolik besteht ja gerade, wie Scholem an anderer Stelle deut-lich macht, »in einer auf die Spitze geschriebenen Wörtlichkeit, in einem radikalen Ernstnehmen nicht des etwa gemeinten »Sinnes«, sondern eben des gleichsam auf sich selbst gestellten Wortes. In dieser extremen Wörtlichkeit schlagen die Worte um, sie treten aus dem Sinnzusammenhang des nüchternen Schriftverständnisses in einen neuen heiliger Namen, in denen sie eine für uns entrückte und verschlossene, also ei-gentlich namenlose geheime Wirklichkeit göttlichen Lichts bezeichnen, mit einem Wort: sie werden zu Symbolen.« (Scholem, Geheimnisse der Schöpfung, 28)

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364 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.6 Die Krise des Sabbatianismus als Höhepunkt von Scholems >Fabel<

Aktualisiert wird diese Struktur in Scholems Darstellung der zweiten Phase der Kabbala. Diese »historische« Phase der Kabbala beginnt für Scholem 1492 mit der Vertreibung der Juden aus Spanien, die ein traumatisches Erlebnis für die Juden in der gesamten Diaspora darstellte, sie setzt sich fort mit der Entstehung der lurianischen Kabbala des Isaak Luria, die Scholem als Interpretation dieses Ereignisses, als »Mythos des Exils« interpretiert. Darauf folgt die von ihm mit großer polemischer Energie immer wieder als bedeutsam betonte sabbatiani-sche Bewegung: Im 17. Jahrhundert entsteht in der ganzen Diaspora eine außer-ordentlich starke Bewegung um den Messiasprätendenten Sabbatai Zwi, sie nimmt 1666 eine tragische Wendung, als Zwi von Sultan gezwungen wird, zum Islam zu konvertieren und damit die schlimmste für einen Juden überhaupt vor-stellbare Sünde begeht. Davon erholt sich das Judentum nur bedingt: Auf der einen Seite bleiben die große Enttäuschung und diverse antimessianische Ge-genbewegungen, zu denen Scholem auch den Chassidismus rechnet. Auf der anderen, für Scholem interessanteren Seite, gibt es auch Gruppen, die am Glau-ben festhalten, daß Zwi der Messias sei. Gerade diese Nachgeschichte unter-scheide den Sabbatianismus von anderen messianischen Bewegungen innerhalb des Judentums, die in der Regel mit der Enttäuschung erlöschen: »Daß dieser Glaube mehrere Generationen lang überlebte, deutet darauf hin, daß in ihm ein dialektischer Prozeß der jüdischen Geschichte zum Ausdruck kam.« (SZ, 785; vgl. ebd., 24f) Scholem sieht hier eine einheitliche Entwicklung:

Eine einzige kontinuierliche, klare, fortschreitende Bewegung führt vom Messia-nismus, der sich im Anschluß an die Vertreibung aus Spanien herausbildete, zur sabbatianischen Bewegung [...] und vom Glauben an Sabbatai Zwi zum religiö-sen Nihilismus [...]. Und vom Nihilismus als religiöser Haltung [...] führt sie zur neuen Welt der Haskala. Dies ist nichts anderes als die dialektische Bewegung der messianischen Idee und der Erlösungssehnsucht im jüdischen Menschen [...]. (JV.130)

In dieser Bewegung spielt die Kabbala eine entscheidende Rolle, sie wird damit in doppeltem Sinne historisch: Sie gewinnt historische Bedeutung, insofern sie einen wichtigen Einfluß auf die allgemeine jüdische Geschichte hat, und sie wird historisch, insofern sie jetzt eine einheitliche Entwicklung hat, deren zwingende Logik Scholem in wesentlich höherem Maße betont, als er es in der Darstellung der älteren Kabbala tut. Die einheitliche Entwicklung dieser Phase ist wesent-lich für Scholems Geschichte der Kabbala insgesamt, denn mit der Entdeckung

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DI E KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 365

des Sabbatianismus gewinnt Scholem den terminus ad quem seiner Entwick-

lungsgeschichte, auf den hin auch die ältere Kabbala gelesen werden kann.

Das wird in dem Maße wichtiger, als sich der Terminus ab quo der Spätantike

als problematisch erweist. Ende der zwanziger Jahre, kurz bevor er beginnt, auf

die Annahme zu verzichten, der Sohar gehe auf authentische Tradit ionen der

Spätantike zurück, findet Scholem die neue Rationalität für die Darstellung der

Kabbala; im nächsten Jahrzehnt entwickelt er die Grundlagen seines Verständ-

nisses des Sabbatianismus, die im wesentlichen später beibehalten werden.697

Ich werde mich hier vor allem auf die früheren Äußerungen beschränken;

zunächst werde ich kurz auf die Forschungsgeschichte des Sabbatianismus (3.6.1)

und des Chiliasmus bzw. der Apokalypt ik eingehen (3.6.2), in einem Exkurs wil l

ich auf Scholems Thesen zum Messianismus als solchem eingehen (3.6.3). Da-

nach werde ich Scholems Auffassung des Sabbatianismus beschreiben, wobei

versucht werden soll, zugleich der stufenweisen Ausbi ldung seines Verständnis-

ses in den zwanziger und dreißiger Jahren und dem Ablauf der Bewegung zu fol-

gen: Eine erste Annäherung findet sich in einem Essay über Cardoso von 1928

(3.6.4), 1933 entwirft Scholem sein Bil d von der Wirkung der Vertreibung aus

Spanien (3.6.5), 1937 wird dann die Idee des historischen Mißverständnisses auch

auf den Sabbatianismus angewandt (3.6.6), ein Vergleich mit dem Paulinismus

verdeutl icht, wie Scholem sich die Dynamik einer Glaubensrel igion vorstellt

(3.6.7). abschließend kann erörtert werden, in welchem Sinne Scholem »Dialek-

tik« in der Historiographie verwendet (3.6.8).

3.6.1 Die Erforschung des Sabbatianismus. Gerade in seinen Studien zum Sab-

batianismus polemisiert Scholem scharf gegen die vorhergehende Forschung,

welche die Ereignisse nur verurteilt, aber nicht positiv verstanden habe. Wieder

kann hier Graetz als Ausgangspunkt dienen, in dessen Geschichte der Juden der

Sabbatianismus den Niedergang des mittelalterlichen Judentums repräsentiert.

Auch bei Graetz spielt die Kabbala dabei eine wesentliche Rolle: Nach den Lei-

den der Vertreibung von 1492 wird die »Geheimlehre mit ihren Träumereien und

Spielereien, die bisher nur in den Köpfen weniger Adepten spukte, allgemein

unter der Judenheit verbreitet und bedrückte den gesunden Sinn«.698 »Raserei«

697 Entscheidend sind dabei die Aufsätze »Die Theologie des Sabbatianismus im Lichte Abraham Cardosos« von 1928; »Nach der Vertreibung aus Spanien« von 1933/34 und »Erlösung durch Sünde« von 1937; schließlich die Hauptströmungen (hier schreibt Scholem das erste Mal umfassender über Zwi selbst und auch über dessen antinomische Handlungen) und das große Buch über Sabbatai Zwi (hebr. 1957).

698 Graetz, Geschichte der Juden, Bd. IX , 203. - Auch Graetz stellt also einen Zusam-menhang zwischen Vertreibung und Konjunktur der Kabbala her. - Schon die Vorge-schichte des Sabbatianismus, betitelt »Die Wühler«, beginnt mit einem bezeichnendem Bild: der edle Kern sei von vielen Schichten überzogen kaum noch sichtbar, »und diese

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366 DA S HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

und »Schwindel« sind Graetz« Schlüsselworte bei der Darstellung der folgenden

Ereignisse; besonders aufschlußreich ist hier Graetz« Erklärung der Ereignisse

nach der Apostasie Zwis: Für ihn handelt es sich hier vor allem um eine Ratio-

nalisierung der Enttäuschung, er erklärt die Ereignisse also »zeitgeschichtlich«, d.

h. aus den Bedürfnissen der Gegenwart, wobei er immer wieder suggeriert, hier

habe ein Betrug stattgefunden.699 So kann auch die Sabbatianische Lehre ver-

standen werden, die Apostasie des Messias sei heilsgeschichtlich notwendig:

»Dieses Stichwort [von der Notwendigke it der Apostasie] machte Glück, es

zündete von neuem und fachte den Schwindel wieder an. Es wurde ein Zugwort

für sämtliche Sabbatianer, sich mit Anstand und mit einem Scheingrunde als sol-

che bekennen und sammeln zu können.«7 00 Bei Graetz erscheint der Sabbatia-

nismus daher auch weniger als Volksbewegung, sondern als Verschwörung der

Kabbalisten, dabei stehen die Entwicklungen vor und nach der Apostasie Zwis

durchaus in Kontinuität.

Ganz anders erscheint der Sabbatianismus bei einigen zionistischen Histor i-

kern. So sieht etwa Scholems Berliner Kollege Ben-Zion Dinur im Sabbatianis-

mus einen der zahlreichen Versuche des jüdischen Volkes zur Selbstbefreiung,

ähnlich wie beim Makkabäeraufstand im 2. Jh. v.u.Z. handele es sich hier um

einen verfrühten Ausdruck nationaler Erhebung, als Verkörperung der ewigen

Sehnsucht des jüdischen Volkes nach Zion. Der Sabbatianismus ist damit in ge-

wisser Hinsicht auch Vorläufer des Zionismus, jedenfalls setzt Dinaburg hier den

Beginn der jüdischen Neuzeit an, weil seitdem die Juden wieder kontinuierl ich

nach Palästina wandern.701 In dieser Interpretation trit t gerade das volkstümli-

Lagen und Schichten wurden von einer häßlichen Kruste, von einem pilzartigen Ge-bilde, einem Schimmelüberzug umschlossen, von der Kabbala, die sich nach und nach in Ritzen und Lücken einnistete, dort wucherte und sich verästelte« (Graetz, Ge-schichte der Juden, Bd. X, 114). Die Kabbala habe dann auch »den wirren Kopf des Jünglings von Smyrna [d. i. Zwi] mit solchem Taumel geblendet, daß er diese geistige Erlösung mit Leichtigkeit herbeiführen zu können meinte, der die leibliche sofort nachfolgen müßte. Auf welche Weise dieses Gefühl der Überhebung, eine Messias-rolle spielen zu wollen, in schwärmerischen Gemütern keimt und zum Ausdruck kommt, ist ein undurchdringliches Rätsel der Seele.« (Ebd., 191) »Nachdem die erste Betäubung über das Unerwartete seiner Bekehrung vorüber war, besannen sich seine eifrigen Anhänger, namentlich in Smyrna, und konnten sich nicht überreden, daß sie wirklich einem Schatten nachgelaufen sein sollten. [...] Die Kab-balisten kamen leicht über das Anstößige hinweg. [...] Wie zur Zeit der Entstehung des Christentums mystische Gläubige Jesu Kreuzestod als einen bloßen Schein aus-legten (Doketen), ebenso erklärten in dieser Zeit eingefleischte Mystiker Sabbatais Abfall vom Judentum.« (Graetz, Geschichte der Juden, Bd. X, 224f) Graetz, Geschichte der Juden, Bd. X, 226.

Vgl. zur Darstellung dieser Position insges. Myers, Re-Inventing the Jewish Past> 140ff. Auch im Sabbatianismus zeige sich für die Historiker der Jerusalemer Schule die kon-

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DI E KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 367

che Element des Sabbatianismus in den Vordergrund, die theologische Ent-

wicklung der Kabbala ist dagegen von geringerem Interesse. Interessant ist dabei

nur die Entwick lung bis zur Konversion Zwis, die darauf folgende Nachge-

schichte ist kein zukunftsweisendes Ereignis mehr, denn nur in seiner öffentli-

chen Geschichte ist der Sabbatianismus eine tragisch-heroische Epoche jüdischer

Geschichte, nur als offen heroische Bewegung kann er Vorgänger des Zionismus

sein. Scholem betont aber, wie wi r bereits gesehen haben, gerade die Nachge-

schichte und gerade die Verbindung zur Kabbala, darin steht er eher Graetz nah.

Wie schon im Fall der jüdischen Gnosis kann man Scholems Interpretation auch

als Revision der Graetzschen lesen, wieder besteht diese Revision dabei nicht

einfach in einem Vorzeichenwandel, sondern in einer anderen historischen

Logik, die v. a. mit einem neuen Verständnis der Apokalypt ik verbunden ist.

3.6.2 Apokalyptik in der Forschung. Der entscheidende Impuls für das neue Ver-

ständnis der Apokalypt ik kommt dabei nicht aus der neutestamentl ichen Wis-

senschaft, der schon Ende des 19. Jahrhunderts immer deutlicher wird, daß Jesu

Predigt vom Reich Gottes keinen spirituellen oder moralischen Sachverhalt und

kein inneres Reich meint, sondern nur von der eschatologischen Naherwartung

her verstanden werden kann, d. h. von der Vorstellung des unmittelbar bevor-

stehenden Weltendes.702 Die Geschichte des Chr is tentums erscheint jetzt als

Folge der »Parusieverzögerung«, das verändert insbesondere die Stellung des Apo-

stel Paulus, der jetzt weder - wie in der traditionellen Auffassung - in unmittel-

stante Triebkraft der jüdischen Geschichte, »the primary agent in preserving Jewish national identity« bzw. »the unceasing desire to return to the land of Israel« (ebd., 143). »Sabbatianism concluded the Jewish Middle Ages by challenging the passivity of communal and rabbinic leaders vis-ä-vis exile.« (Ebd., 147) Nach dem Scheitern gehen diese Kräfte in der Einwanderung auf, letztlich leiten sie zum Zionismus und können auch nur von dort verständlich gemacht werden: »Zionism reflected not one among several possible Solutions to an unsatisfactory diaspora existence, but rather a singular historically mandated movement that produced utter clarity in apprehending the past.« (Ebd., 142)

702 So paraphrasiert etwa Weiß das Selbstverständnis Jesu: »Die größte Krise der Weltge-schichte steht vor der Tür. Das seligste Heil und das furchtbarste Verderben liegen im Dunkel der nächsten Zukunft verborgen. Noch einmal, in elfter Stunde, ist jedem die Entscheidung über sein ewiges Geschick in die Hand gegeben.« (Weiß, Die Predigt Jesu, 138) Das Reich Gottes ist damit keine sittliche Größe mehr, denn »bei solchem Ausgangspunkt können wir eine systematische ethische Gesetzgebung, welche das Leben einer sittlichen Gemeinschaft auf Jahrhunderte hinaus in allen Einzelheiten zu regeln imstande wäre, nicht erwarten, denn an der Fortdauer eines solchen Gemein-wesens wird eben bei Nähe des Weltendes gar nicht gedacht« (ebd.). Schweitzer hat dafür den treffenden Ausdruck »Interimsethik« geprägt, er gibt den klassischen For-schungsbericht (Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung), vgl. jetzt auch Koch, Ratlos vor der Apokalyptik.

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barer Kontinuität zu Jesu Predigt steht, noch - wie in der romantisierenden Kri -

ti k - nur »Epigone« oder »Rationalisierer« der »menschlichen« Botschaft Jesu dar-

stelle - denn diese Botschaft selbst erweist sich als alles andere als einfach und

menschlich.703 Paulus wird zum zweiten Stifter des Christentums, zum Theolo-

gen, der aus der Niederlage in dieser Welt einen Sieg in der anderen macht.

Di e Theologie reagiert in verschiedener Weise auf diese Ergebnisse: Die dia-

lektische Theologie transformiert die Eschatologie des Urchr istentums zu einer

Rhetor ik der Krise (s. o. Kap. 2.6.1), die religionsgeschichtl ich orientierten

Theologen Versuchen dagegen, jene Eschatologie nicht zu aktualisieren, son-

dern besser zu verstehen, indem sie nach deren Kontext fragen, nämlich nach

der spätjüdischen Apokalypt ik.7 04 Das verändert erstens das Bil d des »Spätju-

dentums« in der Forschung, das jetzt nicht mehr nur »pharisäische« Erstarrung

ist wie bei Wellhausen, sondern auch eine eigentlich volkstümliche apokalypti-

sche Strömung hat, der die Religionsgeschichtler deutlich den Vorzug geben.705

Dabei werden gerade die apokryphen, vom offiziellen Gesetzesjudentum un-

terdrückten Überl ieferungen zum Schlüssel des historischen Verständnisses.706

703 Schweitzer hat dieses Paradox in ein schönes Bild gefaßt: Die Leben Jesu Forschung »zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück.« (Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 620) - Zur Parusieverzögerung vgl. v. a. Schweitzer (ebd., 402ff, 416ff), diese These ist heute allerdings umstritten, weil sich in der urchristli-chen Literatur kaum eine Spur von einer Krise der Parusieverzögerung finden lasse, vgl. dazu Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, 66ff.

704 Eine Forschungsgeschichte der Apokalyptik findet sich bei Schmidt, Die jüdische Apo-kalyptik; allgemeiner, pointiert und polemischer: Koch, Ratlos vor der Apokalyptik.

705 Für Bousset zeigt sich das Judentum in dieser »Hoffnungsfrömmigkeit [...] von sei-ner feineren und innerlicheren Seite« (Bousset, Religion des Judentums, 242). Die Apokalyptik ist ihm »Literatur der aufsteigenden, ungebildeten Schicht des Volkes, eine Literatur von stark laienhaftem Charakter« (Die jüdische Apokalyptik, 9). Vgl. auch Gressmann: »Das offizielle Judentum wandte sich von der hellenistischen Re-ligion ab und wurde zur Starren Gesetzesreligion [...]. Nebenher aber ging eine an-dere Strömung, die man als das inoffizielle Judentum bezeichnen kann, die in gerader Linie zu Jesus führte« (Gressmann, Der Messias, 363).

706 w/e[] Bousset die apokalyptische Tradition als die eigentlich volkstümliche ansieht, sieht er sich berechtigt, die »offiziellen« Quellen, also die rabbinische Tradition ganz zu vernachlässigen. Gerade das kritisiert Moore: »Whoever derives the Jewish idea of God chiefly from apocalypses wil l get the picture of a God enthroned in the highest heaven, remote from the world, a mighty monarch surrounded by a celestial courts.« (Moore, »Christian Writers on Judaism«, 247) Erkenntnisinteresse, Quellenauswahl und Ergebnis stehen also in enger Konstellation.

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Zweitens entdecken sie den mythischen Charakter der Apokalyptik, die nicht mehr wie die Prophetie konkreten Hoffnungen Ausdruck verleiht, sondern den Endzustand mit mythischen Bildern ausmalt. Gunkel versucht etwa zu zeigen, daß dabei kosmogonische Mythen, wie der vom Chaosdrachen, auf die Endzeit übertragen und zum Motiv des eschatologischen Drachenkampfes verarbeitet werden. Das bedeutet drittens, daß es eine Tradition apokalyptischen Gedan-kengutes gibt. Gunkel kritisiert die »zeitgeschichtliche« Erklärung seiner Vor-gänger, die davon ausgehen, die Apokalypsen seien literarische Entwürfe, deren »Autoren« ihre Meinung über ihre Gegenwart ausdrücken wollten; tatsächlich müsse man auch hier gemäß der traditionsgeschichtlichen Methode von einer Vorgeprägtheit des Materials ausgehen. Um die Apokalypsen zu verstehen, muß man auf ihre Vorgeschichte zurückgehen.707

3.6.3 Exkurs: Die messianische Idee. Scholem knüpft in wesentlichen Punkten an die religionsgeschichtlichen Forschungen an, sowohl, was die Bedeutung der Nah-erwartung und der eschatologischen Dynamik, als auch, was die Auffassung der Apokalyptik als Traditionsliteratur mit starken mythischen Elementen angeht.708

Diese Übereinstimmungen wollen wir kurz an einem späteren Text Scholems zei-gen, bevor wir auf die Herausbildung seiner Position angesichts des Sabbatianis-mus eingehen.

Scholems Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum ist ein außerordentlich wirksamer Text gewesen, dem es wohl vor allem zu verdanken ist, daß Scholem auch über die Kabbala hinaus als wesentlicher Interpret des Ju-dentums angesehen wird; umgekehrt gilt der Text oft als die Auskunftsquelle für »den« jüdischen Messianismus und fungiert nicht selten als Grundtext für ein jüdisches »Prinzip Hoffnung«. Solche weitreichenden, aber oft auch mißverste-

Vgl. die Kriti k Gunkels an der zeitgeschichtlichen Methode in: Gunkel, Schöpfung und Chaos, 202ff, insbes. 208f, auch die Rede von der dichterischen Phantasie sei ge-fährlich: »Denn wie soll man es sich psychologisch begreiflich machen, dass ein Mann, der ein Stück wie [Apk. Joh.] 12 »gedichtet« hat, sich selbst habe einreden kön-nen, der Messias werde so und nicht anders geboren [...]. So würde als ein völlig un-ausweichlicher Schluß folgen, der Apokalyptiker habe eigentlich an die Wahrheit seiner Worte selbst nicht geglaubt.« (Gunkel, Schöpfung und Chaos, 252f) Da man auch nicht immer echte Visionen annehmen könne, »muss man sich nach einer an-dern Autorität umsehen, die den Apokalyptiker der Wahrheit seiner Bilder versi-cherte. Diese Autorität kann keine andere sein als - die Tradition« (ebd., 255). Vor allem Davies (»From Schweitzer to Scholem«) ist Scholems Verbindung zur christlichen Forschung zu Apokalyptik und Eschatologie nachgegangen, er versucht allerdings eher, diese Forschung durch Scholems Beiträge, insbesondere durch SZ, zu erhellen als umgekehrt. Auch konzentriert er sich fast ausschließlich auf die Dyna-mik des akuten Messianismus, die Vorgeschichte der mythischen Apokalyptik spielt bei ihm kaum eine Rolle.

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370 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

henden Interpretationen wollen wir hier dahingestellt lassen - insbesondere die schwierige Abgrenzung zum christlichen Messianismus und Scholems Äuße-rungen zum »Preis« des Messianismus werden hier ausgeklammert709 -, und uns statt dessen vergegenwärtigen, wie Scholem den Messianismus als historisches Phänomen auffaßt.

Scholem wil l in seinem Aufsatz die »besonderen Spannungen in der messia-nischen Idee« herausarbeiten, Ziel ist eine »schärfere Analyse dessen, was die spezifische Lebendigkeit dieses Phänomens in der Religionsgeschichte des Ju-dentums ausmacht« (Gb, 122). Scholem stellt also nicht die Frage nach dem »Wesen« des Messianismus (»Idealismus«, »Universalismus«, »Nationalismus«) oder nach seinem »Realgrund« (»Kompensation«, »Ressentiment«). Er stellt nicht einmal die Frage nach seinem »Ursprung«, sondern nach der Nachgeschichte: »Nicht das Werden der messianischen Idee bildet den Gegenstand dieser Aus-führungen, sondern die verschiedenen Perspektiven, unter denen sie nach ihrer Kristallisierung im historischen Judentum wirksam geworden ist.« (Ebd., 123)

Scholem beschreibt den Messianismus als Amalgam verschiedener Tenden-zen: der »restaurativen«, die sich auf Wiederherstellung der Urzeit richten und der »utopischen«, die auf das schlechthin Neue zielen, in ihm werden »alte my-thische Bilder mit utopischem Inhalt erfüllt« (ebd., 127) bzw. die »Schrecken der realen historischen Erfahrungen [...] verbinden sich mit Bildern aus mythischem Erbe oder mythischer Phantasie« (ebd., 133).710 Nur deshalb ist der Messianis-mus wirksam, nur deshalb kann man auch von einer >Geschichte< der messiani-schen Idee sprechen, denn nicht die reine Erwartung der Zukunft entwickelt

Zur Kriti k der Gegenüberstellung von öffentlicher jüdischer und innerlicher christli-cher Erlösungsvorstellung vgl. die Kriti k von Taubes (Vom Kult zur Kultur, 43ff) und neuerdings Machos Metakritik, der zeigt, daß Taubes die Alternative von Anthropo-logie bzw. Gcschichtsphilosophie oder Historiographie auf Scholem projiziert, für den diese so nicht besteht (Macho, »Zur Frage nach dem Preis des Messianismus«, 141 ff). Wie beim »Dreistadiengesetz« kann man sich fragen, ob Scholems jüdisch-christliche Unterscheidung einfach um eine »Prämisse« darstellt, aus der dann die weitere Argu-mentation folgt, oder nicht eher um eine vorläufige Bestimmung des Phänomenberei-ches mit sehr viel geringerem systematischen Gewicht. -Die gefährliche Seite des Messianismus betont Scholem schon in seinen frühesten Äußerungen, explizit in Gb, 166f. Auch im Vorwort zu SZ hebt Scholem hervor, »daß die jüdische Historiographie sich allgemein dazu entschlossen hat, die Tatsache zu ignorieren, daß das jüdische Volk einen sehr hohen Preis für die messianische Idee gezahlt hat« (SZ, 18). Vgl. auch: »Beide Tendenzen sind tief ineinander verschlungen und zugleich gegen-sätzlicher Natur, und nur aus beiden heraus kristallisiert sich die messianische Idee.« (Gb, 124) - »Indeed, this mixture - the controversy, the living contradiction, the back and forth, I would almost say the living debate between utopia and restoration in messianism - was that which established the living history, the heart ofjewish messianism.« (PM, 107)

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sich, sondern die jeweilige Ausmalung der Zukunft und die konkrete Gestaltung

der Idee, also die Ar t und Weise, wie Bilder und Erwartungen zusammengesetzt

werden bzw. in welcher Weise sich Utopie und Restaurat ion miteinander ver-

binden. Wenn es daher eine »Dialektik« der messianischen Idee gibt, besteht diese

nicht in dem ständigen Widerstreit der Kräfte der Erneuerung gegen die der Be-

harrung, sondern in einem inneren Widerstreit der messianischen Idee.

A m deutlichsten ist der »mythische« Charakters der Apokalypt ik in der Aus-

malung der Schrecken der messianischen Zeit, die nach Scholem von besonderer

Bedeutung sind: »Der jüdische Messianismus ist in seinem Ursprung und Wesen,

und das kann gar nicht stark genug betont werden, eine Katastrophentheorie«

(ebd., 130):

Die Paradoxie dieser Vorstellung besteht darin, daß die Erlösung [...] gar nicht in irgendeinem kausalen Sinn eine Folge aus der vorangegangenen Historie ist. Es ist gerade die Übergangslosigkeit zwischen der Historie und der Erlösung, die bei den Propheten und Apokalyptikern stets betont wird. Die Bibel und die Apokalypti-ker kennen keinen Fortschritt der Geschichte zur Erlösung hin. Die Erlösung ist kein Ergebnis innerweltlicher Entwicklungen, wie etwa in den modernen abend-ländischen Umdeutungen des Messianismus seit der Aufklärung, wo noch in sei-ner Säkularisierung im Fortschrittsglauben eine ungebrochene und ungeheure Macht beweist. (Gb, 133)711

Scholems Messianismus ist auch deshalb nicht ein reines Prinzip der Zukunft wie

etwa in der Cohenschen Interpretation. Die entscheidende Rolle spielt die

erwartung, denn in »seiner Erscheinung als lebendige Macht in der Welt des Ju-

dentums [...] tr i t t der messianische Gedanke stets in engster Verbindung mit

Apokalypt ik auf. [...] Die Apokalypt ik erscheint dabei als notwendig sich bil -

dende Gestalt des akuten Messianismus« (ebd., 126). Konsequenterweise steht

für Scholem, anders als für den Großteil der jüdischen Interpreten, daher auch

Tatsächlich ist es ziemlich problematisch, die ganz anders konstituierte Fortschrittsi-dee als »Umdeutung« der messianischen Idee zu bezeichnen: Die Apokalyptiker sind nicht einfach weniger »optimistisch« als die modernen Verfechter des Fortschrittes, sondern sie haben ein ganz anderes Bild von Geschichte, die für sie kein einheitlicher Zusammenhang von menschlichen Handlungen ist, sondern offen für einen göttlichen Eingriff; die apokalyptische Zeit hat also eine andere Struktur: «[G]erade in den bib-lischen Texten, an denen die messianische Idee sich kristallisiert hat, ist sie [die Erlö-sung] nirgends von menschlicher Aktivität abhängig gemacht. [...] Es ist wirklich alles hier auf Gott gestellt, und dies verleiht dem Gegensatz von jetzt und dereinst gerade seine besondere Note.« (Gb, 138) -Vgl . dazu Koselleck, Vergangene Zukunft, bes. 300ff; Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 35ff. »Es ist ein formaler, aber gerade darum manifester Unterschied, daß eine Eschatologie von einem in die Geschichte einbrechenden, dieser selbst transzendenten und heterogenen Ereignis spricht, während die Fortschrittsidee von einer jeder Gegenwart präsenten Struktur auf eine der Geschichte immanenten Zukunft extrapoliert.« (Ebd., 39)

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nicht der prophetische Messianismus im Zentrum, sondern die Apokalyptik. Auch sie ist nicht einfach die unterirdische, »revolutionäre« Seite des Judentums; die wirkliche Lebendigkeit des Messianismus kann erst durch die Interaktion des Messianismus mit seiner Gegenposition verstanden werden. Die »konservative« Haltung des »offiziellen« Judentums, die sich in der Warnung niederschlägt, das Ende nicht zu bedrängen, erscheint bei Scholem - anders als etwa beim jungen Buber - nicht einfach als interessengeleitete Unterdrückung der Lebenskräfte, sondern entspricht durchaus dem Sinn der messianischen Idee. Die Warnung »entspricht und entspringt jener Vorstellung von der wesentlichen Beziehungs-losigkeit zwischen der menschlichen Geschichte und der Erlösung. Aber es ist verständlich, daß solche Haltung immer wieder in Gefahr stand, von der apoka-lyptischen Gewißheit, daß das Ende angebrochen sei und nur noch den Ruf zur Sammlung verlange, überrannt zu werden.« (Ebd., 139)712 Wesentlich ist also die Beziehungslosigkeit, verständlich die in-eins-Setzung von Gegenwart und Erlö-sung- auch die Apokalyptik wirkt durch ein (»verständliches«) »Mißverständnis«.

Für Scholem wird der Messianismus erst in der Naherwartung und erst durch ein Mißverständnis wirklich »lebendig«. Zwar enthält er schon an sich die ge-gensätzlichen Elemente von Utopie und Restauration, aber diese Gegensätze können »ohne reale Macht bleiben [...] solange der Messianismus nur als ab-strakte Hoffnung auftrat, als rein in die Zukunft verlegtes Element [...]. Im rei-nen Denken ließen sich diese Dinge vereinigen oder wenigstens nebeneinander aufbewahren, in ihrem Vollzuge nicht.« (Ebd., 148) Die messianische Idee, von der Scholem redet, ist nicht als konstante Kraft der Erneuerung gedacht, nicht als die ewige Gegenwart der Zukunft - sei diese nun »universal« oder »partikular« -, sondern als der »große Katalysator im Judentum« (JIII , 199), der explosive che-mische Reaktionen beschleunigt, ohne sie eigentlich zu verursachen. Diese Re-aktionen sind auch gefährlich, wie Scholem in einem Brief betont: »Bestand doch der Witz der Sache daran, dass die Idee jeden konkreten Vollzug historischer Handlung entwertete, wo sie aber über die Idee hinaus in einen messianischen Vollzug selber eintrat, sie an eben diesem Vollzug explodierte« (Br II , 67).713

2 Vgl. auch »Man darf vielleicht die Frage, die hier die Gemüter teilte, schärfer poin-tieren: Kann der Mensch seine eigene Zukunft bewältigen? Und die Antwort des Apokalyptikers lautete hier: nein. Aber dieser Projektion des Besten im Menschen auf seine Zukunft [...] wohnt die Verführung zur Aktion, der Aufruf zum Vollzuge, inne« (Gb, 139). An anderer Stelle schreibt Scholem, es sei »kein Wunder«, daß der Zionismus »von Obertönen des Messianismus begleitet ist, ohne doch, der Geschi-chte selber und nicht der Metageschichte verschworen - sich ihm verschreiben zu können« (ebd., 167).

3 Das schreibt Scholem als Antwort auf Lichtheims aktivistische Interpretation des Messianismus: »Aber wenn die Juden den Messianismus ernst genommen hätten, [...] hätten sie ja sozusagen auch ihr Projekt verwirklicht. Das wirklich Fatale am Mes-

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DI E KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 373

Di e messianische Idee ist für Scholem eine Idee im Vollzug, die er in histo-

risch-polit ischen Zusammenhängen denkt. Eine theologische oder phi losophi-

sche Wiederaneignung von Scholems Interpretation muß daher verzerrend sein:

Der Messianismus ist für Scholem nicht das »Trachten nach dem Unmöglichen«

oder die »stets neue Sehnsucht nach dem Hereinbrechen des völli g Neuen« wie

Stephane Moses schreibt.714 Aus der Außenperspekt ive des Geschichtsphiloso-

phen erscheint der Messianismus in der Tat als »aporetisch«, insofern das völ-

li g Neue doch in der Geschichte nicht erscheinen kann.7 15 Scholem spricht

dagegen charakteristischerweise niemals von »Aporien«, sondern stets von »Pa-

radoxen'; sein Ho r i zont ist gar nicht jener der Hei lsgeschichte bzw. der G e-

schichtsphilosophie, sondern jener der Wirkung der messianischen Idee. Den

entscheidenden Zugang zur messianischen Idee gewinnt Scholem daher auch

nicht aus geschichtsphilosophischen Überlegungen, sondern aus der politischen

und historischen Erfahrung mit der Verwirkl ichung des Zionismus, die wir be-

reits im ersten Teil dargestellt haben. In diesem Kontext beschäftigt er sich auch

erstmals mit dem Sabbatianismus, worauf wi r nun zurückkommen wollen.

3.6.4 Die >Explosion< der Theologie. 1927 macht Scholem die »sehr überraschende

Entdeckung der sabbatianischen Theologie«, als er in Oxford ein Manuskr ipt

von Abraham Cardoso entdeckt (WB, 171), 1928 veröffentlicht Scholem einen

weit ausholenden Aufsatz über diesen Text.716 Die dort vertretene Theologie soll

siasglauben dürfte doch wohl darin bestanden haben, dass er bloss Kompensation für aktuelle Hilflosigkeit war.« (Lichtheim, zitiert nach Br II , 66) Gerade in Scholems Reaktion wird auch deutlich, daß der Messianismus einen doppelten Preis hat: als la-tenter Messianismus führt er zum Quietismus, als akuter zerstört er sich selbst und führt in Widersprüche.

714 Moses, Der Engel der Geschichte, 166, 167. 715 Moses interpretiert Scholems Auffassung des Messianismus als durch theologische

Aporien bestimmt: Laut Scholem strebe der Messianismus »nach einem solchen Maß von Absolutheit, daß keine historische Wirklichkeit ihm jemals genug sein kann. Gleichzeitig aber ist die endgültige Erlösung, auf die er ausgeht, nur dann echt, wenn sie sich vor aller Augen, auf dem Schauplatz der Geschichte abspielt« (Moses, Der Engel der Geschichte, 166f). - Moses sieht in Scholems Gedanken zum Messianismus »den Bruch mit dem Hegeischen Geschichtsmodell« (ebd., 175). Wenn der Messia-nismus aus dieser stark von Rosenzweig geprägten Perspektive gesehen wird (vgl. auch die Trennung von Geschichte und Metageschichte, ebd., 177), müssen Scholems Charakterisierungen freilich »aporetisch« ausfallen und können leicht in einer »kom-plexere[n] Sicht der Geschichte« »überwunden« werden, »welche sowohl das Modell der Kontinuität als auch das der Diskontinuität [...] umfaßt« (ebd., 178f).

716 Bei dem Fund handelt es sich um Cardosos Magen Abraham, vgl. dazu SZ, 893. Der Aufsatz spiegelt sichtlich die Faszination des Entdeckers wider, Scholem spricht hier von »Schriften, die kein Jude [...] ohne Erschütterung sollte lesen können« (J 1,122).

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374 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Scholem den Schlüssel zur sabbatianischen Bewegung liefern, denn man kenne

zwar deren äußeren Verlauf,

aber über das eigentlich Entscheidende: die tiefgreifende religiöse Bewegung, die innerhalb des Judentums nach seinem [Zwis] Übertritt [zum Islam] vor sich ging, weiß man nur wenig. [...] Nirgends tritt es sichtbarer hervor als am Sabbatianismus, daß mehr als der historische Schauplatz einer Bewegung, wie er in historischen Daten zu beschreiben ist, ihr metaphysischer Schauplatz, der sich in ihren theologischen Voraussetzungen eröffnet, den Schlüssel zu ihrem Verständnis liefert. G l, 119)

Di e emphatische Rede vom »metaphysischen Schauplatz« ist für diesen Aufsatz

charakterist isch, Scholem argument iert hier noch relativ unbefangen auf der

Ebene der »Ideen«, um eine »geschichtsphilosophische Würdigung« (ebd., 120)

des Sabbatianismus zu entwerfen; die Rede vom Schauplatz betont aber bereits

das dramatische Moment.7 17

U m die Entwicklung »im Herzen des Judentums« (ebd.) zu verstehen, geht

Scholem auf die theologische Vorgeschichte des Sabbatianismus in der Kabbala

ein und zeichnet die Entwick lung der latenten Gnosis nach, die wi r schon im

letzten Kapitel dargestellt haben. Aus dieser Entwicklung »mußten mit dialek

tischer Notwendigkeit religiöse Prozesse entspringen, welche die Rettung des

lebendigen Zusammenhangs mit Gott aus solchen mythologischen Verstrickun

gen versuchten« (ebd., 127f).718 Al s einen solchen Versuch interpretiert Scholem

nun die Theologie Cardosos: Für diesen sei der wahre Gott nur durch den Glau

ben zu erfassen, nicht durch Theosophie oder Spekulation, die immer nur das

Innerweltliche beträfen. Für Scholem wird damit zwar die Überwindung der un

heilvollen lurianischen Spekulation erreicht, paradoxerweise geschieht das aber

gerade durch einen Dualismus, denn die Welt der Sephiroth kann nur dadurch

depotenziert werden, indem ihr der unbekannte Gott entgegengesetzt wird.719

717 Man hat den Eindruck, daß hier auch noch ein starkes theologisches Interesse vorhanden ist, jedenfalls stellt er an einigen Stellen Cardosos Theologie auch als positive Lösung theologischer Probleme dar, etwa als Rettung des lebendigen Gottes aus mythologischer Verquickung. Allerdings betont er schon hier auch die destruktiven Konsequenzen des Sabbatianismus.

718 Die zunehmende Verkomplizierung der Kabbala im lurianischen System zerstöre aber diese Einfachheit, eine Tendenz, die Scholem hier schon dezidiert als »unheilvolle Tendenz zur Gnosis zur reflektiven Verselbständigung und damit zur unendlichen Komplikation auch der ursprünglichsten Intentionen« bezeichnet (J 1,127).

719 In Cardosos Theologie werde versucht, die »ganze Welt der mystisch mythologischen Wesenheiten radikal aus dem Bezirk der Gottheit auszuschließen und von ihr abzutrennen« (J I, 128), das sei allerdings nur möglich um den Preis einer »echt gnostischen Theorie mit ihrer Umbiegung, um nicht zu sagen Preisgabe des Monotheismus« (ebd., 131).

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DIE KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 375

Nicht weniger wichtig ist die Lurianische Lehre vom Tikkun als Vorberei-tung der Erlösung: Nach dieser Lehre - Scholem spricht ausdrücklich von einer »lurianisch-gnostischen Kosmogonie« (ebd., 138) - hat die ganze Schöpfung durch eine ursprüngliche Katastrophe ihre Vollkommenheit verloren. Zur Wie-derherstellung dieser Vollkommenheit leisten auch die Menschen ihren Beitrag: jeder Vollzug der Gebote restituiert einen Teil der Natur und befreit einen Teil der in der schlechten Schöpfung gefangenen »Funken« des Göttlichen (vgl. JM, 300ff). Von dieser Vorgeschichte aus wil l Scholem nun auch die Geschichte des Sabbatianismus verstehen, insbesondere die Entwicklung nach 1666 und die Lehre von der Notwendigkeit der Apostasie: »Die jüdischen Geschichtsschrei-ber haben die verführerische Gewalt dieser neuen Lehre merkwürdig unter-schätzt: sie sahen den historisch-aktuellen Anlaß allein und erkannten in ihr nur die verlegene Ausrede« (J 1,136). Man müsse aber, so Scholem, auch denven Gehalt dieser Lehre sehen, deren Wirkung sonst unverständlich bleibe: Nur weil die Lehre schon vor dem Auftreten Zwis durch die lurianische Kabbala vorbereitet gewesen sei, habe sie in breiten Kreisen akzeptiert werden können.720

Wieder gilt es also, nach der Vorgeschichte zurückzufragen; diese Rückfrage zeige, daß noch die Apostasie des Messias als - wenn auch extremer - Akt des Tikkun, nämlich der Befreiung der Funken aus dem Bereich des Bösen verstan-den werden konnte. Im Aufsatz von 1928 scheint diese Entwicklung ganz von selbst aus der Theologie zu folgen, konsequenterweise ist die Leitmetapher hier die »Explosion«: Lurias« messianische Kabbala bezeichnet Scholem als »histori-sches Dynamit« (ebd., 137), in ihr seien »alle Elemente [...] schon gegeben, als sie vom galvanischen Funken eines historischen Aktes vereinigt wurden«, die-ser Akt selbst, und zwar sowohl das Auftreten als auch die Konversion Zwis er-scheinen daher nur als »kleiner Anstoß« (ebd., 138). Der Sabbatianismus stelle nur das Ende einer der Kabbala immanenten Bewegung dar, »wo sich alle Be-griffe der jüdischen Mystik nur zusammengefunden haben, um an ihrer eigenen Dialektik zu explodieren oder - trauriger gesagt, zu verpuffen« (ebd., 132).721

Vgl. auch: »Nie hätte ja diese »Ausrede« solche noch heute den Leser Cardososcher Schriften erschütternde Macht gewinnen können [...], hätte sie nicht noch in ihrer Übersteigerung ein echtes Gefühl in der Seele des Juden: das Gefühl der Berufung an-gesprochen.« (J I, 137) Scholem ist sich durchaus bewußt, daß er damit Graetz« zeit-geschichtliche Erklärung verläßt: »Graetz und andere betrachteten diese Suche und die neuen Lehren nur als Ausreden und Vorwände [...] und das Wissen um den Anlaß dieser neuen Lehre hinderte sie daran, ihre wahre Kraft zu erkennen. Zwar ist es rich-tig, daß diese Lehre auch Ausflucht war, doch war sie noch weit mehr. Nie wäre sie derart erfolgreich und wirkungsvoll gewesen, hätte sie nicht (und gerade aufgrund ihrer Paradoxien) ein starkes Gefühl in der Seele des Juden angesprochen« (J V, 40). Schon hier hebt Scholem hervor, daß diese Explosion der Kabbala auch das mittelal-terliche Judentum zerstört habe: »Im Sabbatianismus ist jene Krisis, welche die Re-

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376 DA S HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Durch diese Betrachtung erscheint der Sabbatianismus also nicht mehr als iso-lierte irrationale Krise, sondern hat sowohl eine Vorgeschichte in der luriani-schen Kabbala als auch eine Nachgeschichte nach der Apostasie. In den folgenden Jahren zieht Scholem diese beiden Dimensionen weiter aus, zugleich wird auch der rein auf der Ebene der Theologie angesiedelte, »idealistische« An-satz der Erklärung relativiert.

3.6.5 Die Synchronisierung von Kabbala und Frömmigkeit. Auf die Grundlage der kabbalistischen Theologie in der »Mentalität« geht Scholem im 1933/34 ver-öffentlichten Aufsatz Nach der Vertreibung aus Spanien ein, dessen Formulie-rungen später fast wörtlich in die Hauptströmungen übernommen werden, um die entscheidende Zäsur von 1492 zu charakterisieren.722 Scholem wil l hier zunächst die außerordentliche Verbreitung und Wirkung der Kabbala innerhalb des Judentums im 16. und 17. Jahrhundert erklären, die der Cardoso-Aufsatz voraussetzte. Sie sei eine Folge der Vertreibung von 1492, nach der sich gezeigt habe, »daß die Kabbala jene Macht war, die in dieser entscheidenden Epoche über die größte Lebenskraft verfügte und sich rasch aus einer esoterischen Lehre für Wenige in eine populäre Bewegung verwandelte« (JM, 267).

Dabei ist die indirekte Natur dieser Verwandlung von zentraler Bedeutung. Nach 1492 entsteht eine starke apokalyptische Bewegung, die zunächst mit der Kabbala nicht viel zu tun hat und nichts spezifisch Neues beinhaltet, sondern nur die klassische Reaktion des Judentums auf Katastrophen ist. Diese akute Apokalyptik bleibt aber nach Scholem an der »Oberfläche«, denn »eben die un-mittelbare Erwartung der Erlösung verhinderte, daß die so drastisch zum Be-wußtsein gebrachte Erfahrung des Exils sich in der Verwandlung der letzten religiösen Begriffe durchsetzte und bestätigte« (ebd., 271). Erst indem sich diese Bewegung mit der ganz anders konstituierten Kabbala verbindet, entsteht etwas Neues, ein Prozeß, den Scholem als latentes Geschehen, als Verschmelzung in der »Tiefe« des jüdischen Bewußtseins beschreibt. »Erst allmählich [...] schlug das Feuer, das aus dem Abgrund der Apokalypse brach, in immer tiefere Schich-ten des Judentums, bis es die mystische Theologie der Kabbala selber ergriff und umschmolz.« (Ebd.)723 Messianismus und Kabbala finden also nur indirekt zu-

form nach außen dokumentiert hat, schon 150 Jahre früher im innersten Herzen des Judentums in Permanenz gesetzt worden.« (J I, 132) Die Fassung in JM, nach der ich hier zitiere, unterscheidet sich wesentlich nur im letzten Absatz (JM, 275), hier betont Scholem die Propagierung und Verbreitung der Kabbala. Scholem spricht davon, daß »die Versenkung des Mystikers in einer großartigen Re-volution des Gefühls als religiöse Aktivität der gesamten Gemeinde gleichsam nach außen gestülpt wird« (JM, 269). - Dieser Prozeß habe »mehrere Generationen, ja fast ein ganzes Jahrhundert gebraucht, um zu seiner vollständigsten und sichtbarsten Em-

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DI E KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 377

einander, nur mit Verzögerung und nur in der »Tiefe«. Gerade durch diese kom-

plizierte Genese, die Bi ldung aus entgegengesetzten Kräften, erkläre sich die

außerordentl iche Wirkung und »Sprengkraft« des hier entstehenden mystischen

Messianismus.

Dieser Messianismus habe einem neuen Lebensgefühl Ausdruck verliehen, das

nicht mehr von den »intellektualistischen« Werten der rationalen Religionsphilo-

sophie, sondern von rein religiösen Werten bestimmt ist.724 So werden gerade die

Kabbalisten, obwohl an sich elitistisch, zu Repräsentanten der »Volksreligion«, die

vorher gerade im spanischen Judentum sehr stark »verweltlichte« Religion wird

wieder zu einer zentralen Triebkraft und der Status quo des Mittelalters geht zu-

ende.725 Scholem scheint hier mit seinem Kollegen Yizchak Fritz Baer von einer

Spannung zwischen intellektualistischer und assimilierter Elite und frommer Un-

terschicht auszugehen, welche die Geschichte der Juden im mittelalterlichen Spa-

nien bestimmt; allerdings ist Scholem hier in der Regel zurückhaltend.726

I n einer anderen Argumentat ion bezeichnet Scholem schon 1928 den Sab-

batianismus als »Reakt ion des Marranentums auf die Kabbala« (J I, 122). Die

Marranen - jene spanischen Juden, die im 15. Jahrhundert zwangsweise zum

Christentum konvertierten, aber doch heimlich Juden blieben und nach der Ver-

faltung zu gelangen. Stufenweise sank das Bewußtsein von der Gewalt des Ereignis-ses in immer tiefere Schichten.« (Ebd., 269f). Durch die Katastrophe der Vertreibung werde innerhalb des Judentums wieder ein-mal das »Gefühl für die religiöse Bedeutung des Katastrophalen« geweckt (JM, 272). »Es spricht sich dies Gefühl in einer starken Hervorhebung der Bruchstellen der jü-dischen Existenz aus [...]. Leben überhaupt wird immer mehr als Leben in der Ver-bannung und im Widerspruch begriffen.« (Ebd., 269) Die Kabbala ermögliche es, daß dieses Gefühl nicht mit dem Abklingen der akuten Apokalyptik erlösche, sondern sich auf »essentiellere und dauerhaftere Bezirke« zurückziehe (ebd., 272). Vgl.: »Die Zweideutigkeit und Widerspruchsfülle des unerlösten Lebens [...] führen zur Aufstellung letzter Werte. Diese entfernen sich von der rationalen Theologie des Mittelalters schon durch die Entschlossenheit, mit der hier wieder rein religiöse Ideale, ohne Bindung an eine von intellektualistischen Gesichtspunkten bestimmte Wertskala [...] bejaht werden. Diesem Geschlecht mußte zum erstenmal auch in der Kabbala die Stimme des Aristoteles [...] hohl und gespenstisch klingen.« (JM, 273). Zu Baers Konstruktion vgl. Myers, Re-Inventing the Jewish Fast, 122ff. -Scholem spricht 1944 von einer Spannung zwischen assimilierter Oberschicht - » the small of wealthy court Jews« (PM, 139) - und frommer Unterschicht - »poor talmudic scholars and pious householders« (ebd.); die Kabbalisten sind dabei »representatives of the religious forces and beliefs, which were active among the masses of the people« (ebd., 123) bzw. »not only [...] mystics and esoteric devotees but also [...] ideologists defending the folk religion« (ebd., 138). Später erklärt er, daß »soziale Schichtung [...] das tatsächliche Kräfteverhältnis nicht erklären« könne, denn das »messianische Er-wachen überstieg deutlich alle Klassen, sofern dieser Begriff überhaupt auf die jüdische Gesellschaft angewandt werden kann« (SZ, 28; vgl. überhaupt SZ, 25ff, 86).

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378 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

treibung zum Judentum zurückfanden - haben bereits das Erlebnis einer Spal-tung gemacht, denn, wie Scholem später schreibt, die »Religion, die sie äußerlich bekannten, war nicht mit der identisch, zu der ihr Gefühl sie hinzog. Dieser Dualismus mußte die Einheit des jüdischen Fühlens und Bewußtseins in ihnen gefährden, wenn nicht ganz zerstören.« QM, 339) Die Marranen sind besonders anfällig für den Antinomismus und neigen daher zum Sabbatianismus, dessen »Psychologie« Scholem als »ganz und gar »marranisch'« bezeichnet: »Und der große Grundsatz der radikalen Lehren, ebenso paradox wie marranisch, lautet: Wessen Inneres seinem Äußern gleicht, ist nicht als echter »Gläubiger« anzuse-hen.« (J V, 60) Wir werden im nächsten Kapitel sehen, daß dieser Zwiespalt nach Scholem nicht nur den Frankismus nach sich zieht, sondern auch zum »Zerfall der moralischen Substanz« des Judentums führt.

Jedenfalls wird die Kabbala durch ihre Verbreitung »zum gültigen Ausdruck der durch die Vertreibung aus Spanien geschaffenen produktiven Krise des jüdi-schen Volkstums« (JM, 274). Daher verlaufen nach Ende der »Latenzzeit« - also für Scholem seit der Entstehung der lurianischen Kabbala Mitte des 16. Jahr-hunderts - die Entwicklung der Volksreligion und die der Kabbala synchron: »Darf die Kabbala als der legitime Ausdruck des Lebensgefühls dieser Genera-tionen angesehen werden, so ist es kein Wunder, daß zwischen den historischen Bedingungen [...] und der inneren Entwicklung des religiösen Denkens und sei-ner neuen Aspekte weitgehende Übereinstimmung besteht.« (Ebd., 315)727

Durch Scholems Ausführungen wird auch die Rede vom »metaphysischen Schauplatz« zumindest etwas verständlicher: Die sabbatianische Krise folgt nicht einfach aufgrund einer metaphysischen Kausalität aus der latenten Gnosis der Kabbala, sondern aus einem neuen »Lebensgefühl«. Dabei ist das Datum von Scholems Erstveröffentlichung alles andere als Zufall, in verschiedenen Briefen vergleicht Scholem schon 1933 die gegenwärtige Katastrophe des deutschen Judentums mit der von 1492.728 Diese Mentalität des radikalen Exils findet in der Kabbala zugleich Ausdruck und wird durch sie beeinflußt. Denn die »Ab-gründe und Ängste« dieses Lebensgefühls werden durch die Kabbala »weniger

Diese Synchronizität spielt auch eine wichtige Rolle bei Scholems Interpretation von Lurias Kabbala als »Mythos des Exils«, vgl. dazu JM, 285ff; KS, 148f. - Scholem ent-wickelt diese Deutung in den dreißiger Jahren in engem Kontakt zu Tishby, nach dem Krieg arbeitet er kaum noch über die lurianische Kabbala, das Bild bleibt aber beste-hen, obwohl es sich keineswegs selbstverständlich aus den Quellen ergibt, vgl. etwa Liebes, »Myth vs. Symbol«, Idel, »Zur Funktion von Symbolen«, 72ff. Im April 1933 schreibt Scholem, die Katastrophe sei »von welthistorischem Ausmaß, und wir können nun einmal 1492 verstehen lernen, aber nur eben ist ja die Substanz, von der aus widerstanden werden kann, im deutschen Judentum auf einen sehr ge-ringen Bruchteil der damals vorhandenen reduziert« (Brw, 55, vgl. ähnlich Br 1,252f).

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DI E KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 379

überbrückt und beruhigt als vielmehr immer bewußter aufgerissen und aufge-

peitscht« (ebd., 273). Nach 1492 hat die Kabbala also, mit einer späteren For-

mul ierung, die »doppelte Funkt ion als Interpretat ion der Geschichte und als

Faktor in der Geschichte« (SZ, 64). Diese indirekte und unbewußte Rückwir-

kung der Kabbala auf die historische Entwicklung beschäftigt Scholem in den

folgenden Jahren.

3.6.6 Verschmelzung und historische Probe. Für die weitere Entwick lung von

Scholems Interpretat ion des Sabbatianismus scheint besonders seine Beschäfti-

gung mit dem Frankismus eine wichtige Rolle gespielt zu haben, diese findet

1937 ihren Niederschlag in Erlösung durch Sünde, Scholems wohl umstr i t ten-

stem Aufsatz.729 Scholem spricht jetzt nicht mehr vom »metaphysischen Schau-

platz«, sondern von der »Ideologie« bzw. »Theologie« des Sabbatianismus, deren

Wirkung es zu verstehen gelte. Auch wird diese Wirkung nicht einfach in eins

gesetzt mit der Volksreligion, sondern Scholem hebt jetzt hervor, daß es einen

latenten Widerspruch gebe zwischen den kabbalistischen Formul ierungen und

der Frömmigkeit, der sie Ausdruck verleihen. Damit entfaltet Scholem hier den

Gedanken des »Aufbrechens der Widersprüche im Vollzug«, der nicht nur für

seine Interpretation des Messianismus, sondern auch für seine historische Logik

der Ideen überhaupt zentral ist.730

Scholem hebt jetzt die Zweideutigkeit der Kabbala hervor, um die spezifi-

sche Wirkung der Kabbala zu erklären: Gerade der Prozeß des Tikkun, von dem

Luri a spricht, kann als äußeres Geschehen oder als mystisches Gleichnis für

einen inneren Prozeß verstanden werden. Diese Zweideutigkeit bleibt für die

Kabbalisten selber unbemerkt, denn die »Kabbalisten kamen niemals auf den

Gedanken, es könnte ein Konfl ik t entstehen zwischen dem Symbol und der

Scholem war sich bewußt, daß er hier an einem äußerst brisanten Thema arbeitete: daher könne man, wie er an Walter Benjamin schreibt, darüber auch »nur hebräisch schreiben, wenn man von apologetischen Hemmungen frei bleiben will « (Brw, 213). -Auf deutsch veröffentlicht er gleichzeitig »Zum Verständnis des Sabbatianismus. Zu-gleich ein Beitrag zur Geschichte der »Aufklärung««, dieser Aufsatz ist wesentlich knapper und zurückhaltender als die hebräische Fassung, weicht aber sachlich kaum von ihr ab. Andeutungen finden sich schon früher, so schreibt Scholem schon 1921, die Kabba-listen hätten »dem Volke gleichsam eine Provinz zu scheinbarem Besitz überlassen wollen, die eigentlich ihnen angehörte, die aber nun gleichsam rebellisch sich selbst-ändig gemacht hat. Denn in der Tat: in Wahrheit sind die Kabbalisten hier doch vom Volke besiegt worden.« (T II , 672) Auch im Cardoso-Aufsatz ist das angedeutet: In der Kabbala wurden »jene hohen historischen Wechsel ausgestellt, für deren Einlö-sung die Geschichte nicht mehr die engen Konventikel der Mystiker, sondern das jü-dische Volk haftbar gemacht hat« (J I, 127).

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380 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Wirklichkeit, die es zu symbolisieren bestimmt war. Niemand spürte die Ge-fahr, die in solcher Verlagerung des Schwerpunktes der Erlösungsidee auf eine Ebene innerer Wirklichkeit lag, solange nicht diese messianische Agitation in einer großen historischen Stunde auf die Probe gestellt wurde.« (J V, 24f).

Gerade die Tatsache, daß die Erneuerung sich latent vollzieht, ermöglicht den Erfolg der Kabbala in der traditionsbestimmten jüdischen Gesellschaft. Wie Scholem später in Sabbatai Zwi genauer ausführt, ermögliche diese Zweideu-tigkeit auch die Integration des gesamten Judentums: Scheinbar bedeuten die realistischen Vorstellungen der Massen und die vergeistigte Lehre der geistigen Elite dasselbe: »Solange die messianische Idee nicht im Schmelztiegel der hi-storischen Erfahrung geprüft worden war, konnten die verschiedenen Konzep-tionen nebeneinander bestehen [...].Der politische Messianismus der Massen und der mystische Messianismus der Kabbalisten schienen einen zusammen-gehörigen Ideenkomplex zu bilden.« (SZ, 80)731

Die Rede von einem scheinbar zusammengehörigen Ideenkomplex setzt vor-aus, das man jenseits von ihm steht, überspitzt könnte man sagen, daß nicht nur die sabbatianische Theologie, sondern auch ihre Vorgeschichte gar nicht ver-ständlich wären, wenn die sabbatianische Katastrophe nicht den latenten Ge-halt sichtbar gemacht hätte. Für Scholem wird die Kabbala - zumindest was ihre zweite, historische Phase nach 1492 angeht - nicht als »geistiges« Phänomen ver-ständlich, sondern erschließt sich gerade von ihrer öffentlichen »Nebenwir-kung«, von dem »Mißverständnis« her, die das Verbundene wieder auflöst.

Durch diese Auffassung gewinnt auch die Krise selbst eine besondere Be-deutung: Während sie 1928 noch als bloßer Auslöser rein theologisch ver-ständlicher Prozesse aufgefaßt wurde, erscheint sie jetzt als »historische Probe«, der die Kabbala ausgesetzt wird und bekommt dadurch einen ungleich größe-ren Stellenwert. Erst durch das Auftreten Zwis und die darauf folgende Mas-senbewegung »wurde jenes Erlebnis der inneren Freiheit, jenes Erlebnis einer

Die Kabbalisten konnten immer noch von »ihrer höheren theologischen Warte aus [...] argumentieren, die materiale Interpretation ihrer Symbole sei ein Mißverständnis, und doch hat gerade das kreative Mißverständnis die öffentliche Bedeutung der kabbalisti-schen Symbolik bestimmt.« (SZ, 48) Letztlich gehöre »einige Kühnheit dazu, in solchen Fragen die Grenze zwischen Verstehen und Mißverstehen zu ziehen« (ebd.). - »Die Unterscheidung zwischen der wörtlichen und der mystischen Bedeutung religiöser Symbole verbarg die Tatsache, daß sich in der Verkleidung einer mystischen Symbolik eine grundlegend neue Konzeption gebildet hatte.« (Ebd., 80) Für die Kabbalisten bleibt das unbemerkt, denn die »Struktur ihres Denkens hätte nie einen Gegensatz zwischen dem Symbol und der symbolisierten Realität zugelassen« (ebd., 784). Aber die »Vor-würfe an die häretischen Theologen der sabbatianischen Kabbala, sie hätten die geisti-gen Mysterien materialistisch mißverstanden, zeigen, wohin die Reise gehen konnte, wenn man einmal versuchte, nach der inneren Logik der Bilder zu denken.« (J III , 266)

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DI E KRISE DES SABBATIANISMUS ALS HÖHEPUNKT VON SCHOLEMS »FABEL« 381

»reinen Welt«, die in der Seele schon Wirklichkeit geworden war, zum Gemein-

gut vieler. Selbstverständlich erwarteten sie auch die volle Erfüllung der mes-

sianischen Verheißung in ihrem exoterischen und polit ischen Teil, doch was in

ihrer Seele geschehen, war bereits unwiderrufl ich.« (J V, 25)732

Dieser latente Verschiebung der messianischen Erwartung ist möglich, weil

der Begriff der Er lösung in der lurianischen Kabbala bereits eine verinnerlichte

Dimension erhalten hat; erst dadurch kann Zwi überhaupt als Messias aner-

kannt werden. Denn Zwi widerspricht schon vor der Apostasie aufs Schärfste

dem Bil d des erwarteten Erlösers, vor allem deshalb, weil er gelegentlich ritu-

elle Gesetzesübertretungen begeht. Scholem erklärt das später mit der manisch-

depressiven Kondi t ion Zwis QM, 317ff) und räumt diesem Faktor ein nicht

unwesentliches Gewicht ein für die Entstehung des späteren Ant inomismus.7 33

Aber Scholems Verständnis der Krise ist schon in Erlösung durch Sünde ent-

wickelt, wo Scholem gar nicht auf Zwis Handlungen vor der Konversion ein-

geht; letztlich sind nicht Zwis Handlungen entscheidend, sondern die Tatsache,

daß sie durch die kabbalistische Theologie Nathan von Gazas als die eigentlich

messianischen beurteilt werden können.

Das entscheidende äußere Ereignis sind daher auch nicht Zwis Handlungen,

sondern seine Konversion: »Der »häretische« Sabbatianismus entstand, als durch

die Apostasie Sabbatai Zwis, die ja ein durchaus unvorhergesehenes Ereignis

war, sich eine Kluf t auftat zwischen jenen beiden Schauplätzen des Dramas der

Er lösung, ein Konfl ik t zwischen Erfahrung und Geschichte, zwischen dem

inneren und dem äußeren Aspekt der Er lösung hervorbrach.« Q V, 25) Der

Konflik t zwischen esoterischer und exoterischer Er lösung, der vorher in der

Tikkun-hehre scheinbar gelöst war, bricht damit wieder auf. »Jetzt mußte

gewählt und entschieden werden: ob Gottes Wort aus dem Urtei lsspruch der

Geschichte zu vernehmen sei oder aus der Wirklichkeit, die sich in den Tiefen

der Seele offenbart hatte.« (Ebd., 25f)734

Wie im Messianismus-Aufsatz ist die akute Naherwartung, nicht einfach die stärker werdende Hoffnung auf Erlösung in der Zukunft, der entscheidende Faktor für den weiteren Ablauf: »In den Gemütern der Anhänger vermengte sich die unmittelbar bevorstehende mit der verwirklichten Erlösung. [...] Schon vor Sabbatais Apostasie war die kabbalistische »Welt des Tikkun< zu einer emotionalen Realität geworden, die nichts aus der Sphäre »äußerer« Ereignisse erschüttern konnte.« (SZ, 782f) Vgl. dazu das oben über Scholems Interpretation des Messianismus Gesagte. Vgl. etwa über Zwi: »Aus seiner Persönlichkeit stammt also das Gesetz der Bewegung, das freilich erst Nathan von Gaza an ihm entdeckt und formuliert hat.« (JM, 321) Allerdings betont Scholem aber auch, daß Zwi als Persönlichkeit ganz schemenhaft wirke (vgl. JM 337f, SZ 878).

Vgl. auch: »Die beiden Vorstellungen, die bis dahin als Aspekte ein und derselben Realität gegolten hatten, fielen nun auseinander und jede begann, ihr eigenes selb-

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382 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.6.7 Die Dynamik des >Glaubens<. Die »historische Probe« besteht also in der

messianischen Ent täuschung, gerade sie führt zu einer vo l lkommenen Ver-

wandlung der Tradit ion. In den Hauptströmungen und noch ausführlicher in

Sabbatai Zwi zieht Scholem einen äußerst erhellenden Vergleich mit der Ent-

wicklung des Urchr is tentums und der Bildung der paulinischen Theologie.735

Beide Phänomene beruhen auf einer Ent täuschung - dem Kreuzestod Christi

bzw. der Apostasie Sabbatai Zwis - , die erklärt werden muß; beide tun das,

indem sie auf das Paradox des leidenden Gottesknechtes zurückgreifen, »das sie

jedoch mit einer solchen Radikalität betonten, daß sie es praktisch auf den Kopf

stellten« (SZ, 875).736 Dieses Paradox - daß der Leidende der Gerechte ist - gibt

ständiges Leben zu führen.« (SZ, 872) Mi t dem historischen Ereignis »tauchte der la-tente Widerspruch mit ganzer Kraft auf« (ebd., 784), der den Kabbalisten verborgen bleiben mußte. Auch hier läßt der akute Versuch der Realisierung die Widersprüche hervortreten. Es handelt sich hier um einen der seltenen, explizit religionsgeschichtlichen Verglei-che, die Scholem durchführt. Auch hier geht es nicht um »Einflüsse«, aber »Ähnlich-keiten in den historischen Situationen [...] und die innere Logik ihrer jeweiligen Lehrvorstellungen führt zu ähnlichen Ergebnissen« (SZ, 877). - Scholems Verhältnis zu Paulus ist ausgesprochen ambivalent: Einerseits bezeichnet er ihn als das »hervor-ragendste [...] Beispiel eines revolutionären jüdischen Mystikers« (KS, 24). Allerdings scheint die »unglaubliche Gewaltsamkeit, mit der Paulus das Alte Testament, wenn man so sagen dürfte, »gegen den Strich« liest«, für ihn nur bedingt zu legitimen Er-gebnissen zu führen: »Der Preis ist jenes Paradox des restlos aufgesprengten heiligen Textes, das den Leser der Paulinischen Briefe immer wieder erstaunt.« (Ebd., 25) Auf der anderen Seite spricht Scholem von der »Religionsstrategie des Paulus«, der »im Interesse der christlichen Propaganda [...] darauf verzichtete, von den Heidenchristen die Einhaltung des Gesetzes oder die Verpflichtung aufs Gesetz zu verlangen. Dieser Anstoß von außen, der nicht aus einer immanenten Logik kam, die Paulus selber etwa gezwungen hätte, nach seiner Aufnahme Christi als Erlöser in seinem eigenen Leben mit dem Gesetz und seiner Tradition zu brechen, erhielt dann aber [...] eine weitrei-chende dialektische und geradezu antinomistische Begründung« (J III , 165f). Hier ist der Antinomismus nicht Teil einer inneren Dynamik, sondern nur interessenmoti-vierte Begründung, Scholem stellt es hier explizit der inneren Dynamik des Sabbatia-nismus gegenüber. Diese Auffassung von Paulus ist wohl einigermaßen polemisch, vgl. dazu Taubes, Die politische Theologie des Paulus, 14ff.

Wie wir schon an Scholems Äußerungen zu Hiob gesehen haben (s. o. Kap. 2.5.3), ist nach ihm die Theodizee innerhalb des klassischen Judentums kein Problem. »Die Einheit und Konsistenz des rabbinischen Judentums berührte eine Paradoxie nicht, die ihm innewohnte, und die im Grunde jeder Religion und in der menschlichen Er-fahrung an sich liegt: die Paradoxie der Theodizee und der Leiden des Gerechten. [...] Hier war zweifellos ein Mysterium, aber eines, dem sich ein reiner und naiver Glaube in Unterwerfung und Hoffnung ergeben konnte.« (SZ, 784f) Anders dagegen im Sabbatianismus: »Das sabbatianische Paradox jedoch war nicht das eines Heiligen, der leidet und dessen Leiden ein bei Gott verborgenes Mysterium war, sondern das eines Heiligen, der sündigt. Ein Glaube, der auf dieser destruktiven Paradoxie grün-

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ihnen selbst eine paradoxe Stärke: zuerst die Stärke der Parusie-Erwartung, die mit der unmittelbaren Wiederkehr des Erlösers rechnet. Denn seine Niederlage war nur eine scheinbare, eigentlich ist sie die Niederlage der Welt. Dieser Glaube ist seinem Wesen nach paradox, denn er richtet sich ja gerade gegen die sichtbar erlittenen Demütigungen und gegen die sichtbare Verzögerung der Parusie: »Nicht Glaube an die unmittelbar bevorstehende Erlösung, sondern Glaube an das Paradox der messianischen Aufgabe [des descendus ad infemos] wurde zur entscheidenden Frage erklärt. Das Grundparadox des neuen Glaubens führte unausweichlich zu weiteren und nicht weniger kühnen Paradoxien.« (Ebd., 876) Sowohl im Paulinismus als auch im Sabbatianismus kommt es daher zu einer Abwertung der Welt und des alten Gesetzes, also zum Antinomismus. »In bei-den Fällen kam ein neuer religiöser Wert zum Vorschein. Die sabbatianische Vorstellung vom reinen Glauben [...] hat ihren Vorgänger in der Glaubenslehre des Paulus.« (Ebd., 875)

Allerdings hebt Scholem hier auch den Unterschied zwischen den Bewe-gungen hervor: Erstens unterscheide sich die begründende Paradoxie des Kreu-zestodes von jener der Apostasie, die zwar radikaler, aber auch destruktiver sei.737 Zweitens beruhe das »Urchristentum« nicht nur auf dem paradoxen Wert des Glaubens, sondern auch auf jenem der Liebe, der nicht aus der Logik der Parusie-Verzögerung bzw. der Theologie des Paulus stamme, sondern aus der Lehre Jesu.738 Drittens verläßt Paulus das Judentum schnell und entschlossen, während der Sabbatianismus innerhalb des Judentums bleibt, er versucht, »in-nerhalb des Ghettos eine spirituelle Welt zu verteidigen, die bereits aus den Ghettomauern hervorgebrochen war«. (Ebd., 877).

Der für Scholem eigentlich entscheidende Unterschied wird in seinem Ver-gleich nicht erwähnt: Der Sabbatianismus bleibt nicht zufällig innerhalb des Ju-dentums, sondern weil er auf einer unbemerkten Verschiebung der jüdischen Tradition selbst beruht, insbesondere auf der Transformation des Erlösungs-begriffes in der Kabbala. Solange die Erlösung noch als ungeheimnisvoller Vor-

det, hat seine Unschuld verloren. Seine dialektische Voraussetzung erzeugt notwen-dig Schlußfolgerungen, die ebenfalls durch die paradoxe Dialektik gekennzeichnet sind.« (Ebd., 785) »Zweifellos stellt ein abtrünniger Messias ein noch größeres Paradox als ein ge-kreuzigter Messias dar, aber das Paradox hat keinen konstruktiven Wert.« (SZ, 878) Es ist »im Grunde nihilistisch« (ebd.) und »führt hoffnungslos ins Bodenlose« UM, 338). »Anders als der Tod Jesu übermittelt Sabbatai Zwi in seiner entscheidenden Tat keine neuen, nun revolutionär beglaubigten Werte. Sein Verrat baut nur die alten ab. Und so ist es begreiflich, daß die tiefe Faszination, die von dem Bild des sich den Dämo-nen ausliefernden, hilflosen Erlösers im Sabbatianismus ausgeht, direkt zum Nihi-lismus führte.« (JM, 338)

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gang verstanden wird und das Kriterium für den wahren Messias sein sichtbarer Erfolg ist, hat es zwar immer wieder messianische Ausbrüche und auch Enttäuschungen gegeben, aber sie enden entweder mit der resignierten Rückkehr zur traditionellen Form des Judentums oder mit der völligen Abkehr von ihm, sei es durch Bildung einer neuen Religion wie im Urchristentum, sei es durch Konversion. »Nur eine mystische Deutung der Grundkategorien, des Gesetzes und der Erlösung, konnte den Boden für antinomistische Tendenzen vorbereiten, die versuchten, sich innerhalb des gesetzlichen Rahmens zu halten.« QM, 345) Die Entwicklungen nach der Konversion, die für Scholem das Spezifische und eigentlich zu Erklärende des Sabbatianismus sind, können daher nur durch die Vorgeschichte des Sabbatianismus in der Kabbala verstanden werden.

Gerade an diesen Überlegungen kann man sich noch einmal den Status von Scholems Erklärungsansatz klarmachen: Gegen den Anschein geht es ihm nicht um die Behauptung, die Kabbala habe den Sabbatianismus »verursacht«. Aber die Kabbala ist zum einen notwendiger Faktor, zum anderen ist sie aber auch der »Schlüssel« Q V, 129) bzw. der »central and unifying factor« (Kl , 244) der Entwicklung. Damit scheint Scholem erstens zu meinen, daß sie ein vielleicht nicht starker, aber entscheidender Faktor ist, insofern sie die Weichen stellt für andere Triebkräfte und Motive. Zweitens ermöglicht die Rücksicht auf die Kabbala eine einheitliche Erklärung des Sabbatianismus, die alle seine Phasen in ihrer Verbindung und in ihren positiven Triebkräften verständlich macht.739

Drittens erlaubt dieser Gesichtspunkt eine komplexe Darstellung, denn seit 1492 hat die Kabbala die »doppelte Funktion als Interpretation der Geschichte und als Faktor in der Geschichte« (SZ, 64). Kabbala und Sabbatianismus können zu einer Erklärung miteinander verschränkt werden. Viertens schließlich macht dieser wechselseitige Bezug auch die Kabbala zu einer historischen Erscheinung. Weil der Sabbatianismus die historische Stunde der Kabbala ist, wird die Geschichte der Kabbala von Scholem als unwiederholbare erzählt: Die Kabbala geht in der Dämonie des Sabbatianismus unter und erhält dadurch ihr historisches Sigel, das macht sie zu mehr als einer mystischen Frömmigkeit, die irgendwann auftaucht und irgendwann erlischt.

Die »offenkundige Einheit der sabbatianischen Bewegung« könne angesichts seiner allgemeinen Verbreitung in der ökonomisch und sozial äußerst vielfältigen Diaspora nur durch einen »wesentlich religiöse[n]« Faktor erklärt werden, »der seinen eigenen Gesetzen gehorchte« (SZ, 28). Vgl. Scholems Kriti k anderer Erklärungen in SZ, 23ff. Es wäre »ein schwerer Fehler, wollten wir den Lurianismus, für sich allein und isoliert, als aktiven historischen Faktor beschreiben«, aber gerade »im Kontext der jüdischen Diasporaexistenz konnte der gnostische Mythos der kabbalistischen Mystik zu einem nationalen Mythos von großer Triebkraft werden« (ebd., 87).

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3.6.8 Scholems »Historische Dialektik'. Scholem bezeichnet die Geschichte des Sabbatianismus einmal als »ein Musterbeispiel für die Dialektik historischer Entwicklung« Q III , 200). Diese »historische Dialektik« ist keine Geschichts-philosophie von einander folgenden Epochen, die man etwa auf den Dreischritt von Mythos, Religion und Mystik bringen könnte. Es handelt sich hier auch nicht um ein allgemeines Gesetz verschiedener Schichten (»Basis« und »Überbau« oder »Leben« und »Form«) des historischen Geschehens. »Dialektik« herrscht in Scholems Historiographie überhaupt niemals in der Totalität einer Epoche, eines Gegenstandsgebietes oder ähnlichem - eine solche Dialektik wäre für ihn, wie wir schon gesehen haben, im schlechten Sinne »spekulativ« (s. o. Kap. 2.2). »Dialektisch« ist vielmehr das besondere historische Phänomen, »dialektisch« ist die innere Geschichte von Individuellem.

Eine frühe Fassung der Einleitung zu Sabbatai Zwi - der Text Scholems, der einer »historischen Ideenlehre« wohl am nächsten steht - versucht, diesen Ge-danken zu entwickeln. Auf engstem Raum finden sich hier die beiden grundle-genden Metaphernreihen verknüpft, mit denen Scholem den historischen Gegenstand charakterisiert, »Dialektik« und »Leben«: »Nichts wäre irriger als zu denken, die Wahrheit sei einfach. [...] »Einfach« ist wohl manchmal die Wahr-heit, die sich noch nicht im Schmelztiegel der Geschichte behauptet und um ihre Bewährung noch nicht gekämpft hat, die abstrakte Wahrheit.« Q V, 119)740 Die »Dialektik der Wahrheit« betreffe nicht nur den inneren Bestimmungsreichtum einer Idee, sondern ihre Wirkung, die Idee geht nicht selbständig in ihr Gegen-teil über, sondern wird »dialektisch« in ihrer Wirkung: »Eine streitbare Wahr-heit, eine Wahrheit, die das zu wecken und aufzustören vermag, was in unseren Tiefen schlummert [...], kurz: eine Wahrheit, die lebt und bereit ist, unter die Lebenden hinauszutreten - bewahrt nicht lange ihre vornehme Einfachheit. Ihre innere Vitalität wird das Einfache sprengen« (ebd.). Das »Leben« ist hier nicht lebensphilosophisch als identischer Grund gedacht, der die »Wahrheit« (oder Wahrheiten) aus sich entläßt; »Leben« und »Wahrheit« stehen sich nicht gegen-über, sondern sind ineinander verschränkt. Das »Leben« der Wahrheiten besteht darüber hinaus auch nicht in einer organischen Entfaltung oder Entwicklung, sondern in der Zerstörung der ursprünglichen Einfachheit, wie wir sie bereits in der Entwicklung der Kabbala und insbesondere im »Aufbrechen der Parado-xien« im Sabbatianismus gesehen haben: »Die verborgene Seite der Wahrheit ist

Das ist hier in einem Offenbarungsszenario dargestellt: »Einfach war die Wahrheit zur Stunde ihrer ersten Offenbarung, als sie auf den »Bergen des Herzens« entsprang. Und vielleicht auch noch zur Stunde ihres Abstiegs in Rede und Ausdruck der menschli-chen Sprache.« (J V, 119) Aber auch die propagandistische Wahrheit ist einfach: »Die Wahrheit, die zur Parole wird, um die Menschen und die Menge aufzurütteln und zu begeistern - ist einfach, wie Parolen es sind.« (ebd.)

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das Hervor t reten ihrer inneren Widersprüche - dieses große und grundlegende

»Geheimnis« nennen wi r in der Sprache der Phi losophen die »Dialektik der

Wahrheit*.« (Ebd., 120)

Scholems Dialektik ist eine der Krise, er spricht oft von einer Dialektik des

Zerfalls, aber nie von dialektischem Aufbau.741 »Dialektisch« ist die Entwick-

lung insofern, als es sich ständig darum handelt, eine Grenze zu überschreiten:

die Grenze zwischen Esoterischem und Exoterischem, Oberfläche und Tiefe,

Konsequenz und Mißverständnis usw. Das Paradox, das so stark im Mittel -

punkt von Scholems Texten steht, ist auch Stellvertreter dieser Grenzen, denn

von Paradoxen zu reden, heißt, auf Grenzen hinzuweisen, ohne sie ausschalten

und endgültig überschreiten zu können, heißt, Getrenntes aufeinander zu be-

ziehen. H u go Bergmann überliefert in seinen Tagebüchern, daß Scholem ein-

mal das »Schweigen über seine Geschichtsanschauung« gebrochen habe:

Er sagte: das Wahre sei an sich historisch vollkommen unwirksam. Darauf komme es in der Geschichte überhaupt nicht an. Das Wahre enthält an sich überhaupt keine Forderung, wirksam aber sei die Forderung. Die Forderung aber sei aus dem Wahren nirgends herzuleiten, sie entspringt ihm nur durch eine virtuelle Ver-schiebung, und diese sei das eigentlich historische Wirksame. Wer historisch wir-ken will , muß an die niederen Instinkte der Völker appellieren. Die das nicht tun wollen, wirken nicht. [...] Das Vernünftige, Rationale ist ein in sich geschlossenes System, es ruht in sich. Das habe der Taoismus erkannt, der deswegen auf die Ge-schichte Verzicht leistet, nicht wirken will . Es wirkt immer das Apokalyptische. Das Christentum als Religion der Liebe usw. hätte niemals gewirkt, es wirkte die Erwartung der Wiederkunft Christi. Ebenso im Sozialismus der Zukunftsstaat. Nur die Problematik wirkt.742

Di e Äußerung ist zwar nur indirekt überliefert, aber m. E. äußerst charakteri-

stisch für Scholems Geschichtsauffassung. Wir haben schon im ersten Teil gese-

hen, wie Scholem den Zusammenhang zwischen kanonischem und politischem

Wort in ganz ähnlicher Weise als »Entfaltung« zur Phrase denkt. Auch hier ist we-

niger die von Scholem getroffene Unterscheidung interessant (daß das Wahre

nicht wirke) als der von ihm hergestellte Bezug (daß die Wirkung aus dem Wah-

ren »entspringe«). Denn »Wahrheit« und »Wirksamkeit« stellen nicht einfach zwei

vol lkommen verschiedene Sphären dar, sondern müssen vom Historiker in Be-

ziehung gesetzt werden. Die »historische Dialektik« Scholems besteht darin, diese

Wirkung verständlich zu machen, wie es schon in der »doppelten Lektüre« des

741 Vgl. auch eine andere Aufzeichnung: »Hegel sagt grossartig: >Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heisst Wirklichkeit zerstören.« Er meint: unentwickelte, in ihrer Dialektik nicht lebendig entfaltete Begriffe als solche, nicht als konkrete Ge-bilde dialektischer Gestaltung müssen historisch zerstörende Funktion (nicht: ver-wandelnde) haben.« (Are 4° 1599/277-88, lf )

742 Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. I, 242.

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»produktiven Mißverständnisses« geschah. Sie muß drei Elemente denken: den geschlossenen Zusammenhang der Wahrheit, die vulgarisierte Wirkung und schließlich den Sprung, der beide verbindet. Eine Geschichte des Sabbatianismus muß daher zugleich theologisch und politisch orientiert sein: »Ein Verständnis der sabbatianischen Bewegung hängt meiner Ansicht nach davon ab, ob der Ver-such gelingt, das irdische Reich - das Gebiet der Geschichte - mit dem himmli-schen Reich - dem Gebiet der Kabbala - zu verbinden und das eine im Licht der anderen zu deuten.« Q V, 130)743 Die äußere Entwicklung kann verstanden wer-den durch die Kabbala, umgekehrt deckt sie auch den Gehalt der Kabbala, ihr inneres Leben selber, auf. Gerade um die Krise des Sabbatianismus herum läßt sich eine wirkliche Geschichte der Kabbala entfalten, erst hier erhält sie eine we-sentliche Zeitlichkeit und eine wesentliche Verbindung mit ihrer Umwelt.

In diesem historischen Verständnis sieht Scholem seine eigentliche Leistung, die ihn von seinen Vorgängern unterscheidet.744 Einsichten in die metaphysisch-theologischen Probleme der Kabbala haben ja auch viele seiner Vorgänger gehabt. »But the actual substance of this phenomena as historical entities, or even more, as one living chain, as a continuous unit possessing historical significance - all this has remained hidden and obscured« (PM, 78). Auch die Vorgänger haben natür-lich historisch über die Kabbala geforscht, aber sie haben historische »Substanz« übersehen, die nicht in Datierungen und Autoren liegt: Eine >Idee< der Kabbala in ihrer Substanz zu verstehen, setzt immer voraus, sie einerseits in die »lebendige Kette« der kabbalistischen Überlieferung einzuordnen, sie andererseits auf seine »historische Bedeutung« hin zu befragen.

Diese Wechselbeziehung von Theologie und Historie wird auch im Vorwort zu SZ deutlich: »Dieses Buch wurde [...] nicht als Traktat über Theologie, sondern als Beitrag zum Verständnis der Geschichte des jüdischen Volkes geschrieben. Insofern Theologie behandelt wird [...], dient sie der historischen Einsicht. Eine Bewegung, die das Haus Israel bis auf seine Grundmauern erschütterte, die nicht allein die Vitalität des jüdischen Volkes zum Vorschein kommen ließ, sondern auch die tiefe, gefährliche und destruktive Dialektik in der messianischen Idee, kann ohne die Be-handlung von Fragen, die bis hinab zu den Grundfesten reichen, nicht verstanden werden.« (SZ, 18) Rückblickend hat Scholem einmal gesagt, sein ursprüngliches Interesse an der Kab-bala habe auf zwei Problemen basiert: »»historiosophy« - the dialectic manifesting itself in spiritual processes - and the philosophical-metaphysical one« (JJC, 20). Seine Vorgänger (etwa Molitor und Franck) haben in der Regel gerade philoso-phisch-metaphysische Interessen, die historische Dynamik und die Wirkung auf die jüdische Geschichte war für sie unwichtig oder gar im letzten inexistent, weil in der heilsgeschichtlichen Tradition aufgehoben (so bei Molitor, s. o. Kap. 2.3.2). Nur der polemische Graetz interessiert sich für die Wirkung der Kabbala auf die allgemeine jüdische Geschichte, allerdings kommt er wesentlich zu einem negati-vem Ergebnis.

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Scholems »Dialektik« ist also keine philosophische Basistheorie, sie ist eine Art der Darstellung, die nicht mehr in der direkten Anschauung des Gegenstandes besteht, sondern ihn mit »theoretischen« Fragen wie der Theorie des Symbols, des Verhältnisses zum Mythos usw. durchdringt. Dabei spielen diese Modelle selbst eine »dialektische« Rolle: Sie produzieren eine gebrochene Darstellung, indem der Gegenstand immer wieder »durchbricht«, sei es als Zitat, sei es als Einwand. Erst durch die von außen herangetragenen Fragestellungen werden die Texte für uns lesbar und verständlich. Zugleich frustrieren uns diese Fragestellungen, denn sie antworten doch auch nie auf alle unsere Fragen. Selbst unsere wissenschaftlichen Interessen bleiben unbefriedigt, denn Scholem ist ja doch so konsequent nicht, daß er die gestellten Probleme wirklich beantwortet um den Preis einer gewaltsamen Lektüre der Texte, vieles bleibt offen. Scholems Zurückhaltung führt den Leser in ein seltsames Wechselspiel, man wird von der Verständlichkeit zur Unverständlichkeit getrieben und zurück. Dieser Schwebezustand suggeriert immer auch, daß es letztendlich um »mehr« geht; das »Paradox«, das zwischen Historie und Theologie schillernd zweideutig bleibt, markiert diesen Platz.

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 389

3.7 Der Historiker und die jüdische Moderne

Als religionsgeschichtliche Bewegung betrachtet, erscheint die Kabbala als ein-heitliche Entwicklung von ihrem Ursprung aus der latenten Gnosis bis zum mystischen Nihilismus der Sabbatianischen Bewegung. Mi t ihr findet die Kab-bala zugleich ihr Ende - ihre latenten Spannungen haben sich entladen, das La-tente ist manifest geworden und die große Entwicklungslinie, mit der Scholem die Entwicklung der Kabbala gestaltet hatte, findet ihren Abschluß. Die kab-balistische Synthese zerfällt, und der Versuch, sie weiterhin aufrecht zu erhal-ten, »konnte keine historische Macht mehr besitzen. Das messianische Element in Lurias Ideen war zur Explosion gekommen, und das ließ sich nicht gut ver-leugnen.« QM, 359) Entweder kann die Kabbala vollkommen esoterisch wer-den, wie dies etwa in der Kabbala von Bet El geschieht, hier wird sie »am Ende ihres Weges wieder, was sie am Anfang gewesen war: eine wirkliche Esoterik, eine Mysterienreligion, die das profane Volk um Armeslänge von sich fernzu-halten sucht.« (Ebd., 360) Oder sie geht den Weg des Chassidismus, der den kabbalistischen Messianismus neutralisiert. Aber auch hier schließt sich für Scholem der Kreis, insofern mehr und mehr die magischen Qualitäten des Zad-dik und der mystische Enthusiasmus im Vordergrund stehen: »Am Ende des langen Weges der jüdischen Mystik steht hier dieselbe Verschlingung beider Tendenzen wie an ihrem Anfang«. (Ebd., 383)

Aber dieses Ende ist nicht eindeutig, die geschlossene Geschichte weist in mehreren Dimensionen über sich hinaus.745 Das in ihr erschlossene Material ist verfügbar geworden als Zitat, die Geschichte kann insgesamt ein Spiegel für die Gegenwart sein als Metapher, sie kann als unmittelbare Vorgeschichte in die Ge-genwart hineinführen als Metonymie. All e drei Anschlußmöglichkeiten sind bei Scholem mehr oder weniger stark präsent. Wie wir im zweiten Teil dieser Ar-beit bereits gesehen haben, benutzt Scholem kabbalistische Konzepte wie das

743 Kilcher hat neuerdings herausgearbeitet, wie das Ende der Kabbala bei Scholem immer ein ambivalentes Unterfangen bleibt, denn der »Sprechakt der Beendigung und des zu-Ende-Erklärens streicht das Ende durch, sowie er es benennt« (Kilcher, »Figuren des Endes«, 155f). Das Ende nimmt bei Scholem verschiedene Formen an: Die Esoterik der romantischen Kabbala und des Goldberg-Kreises, die psychologi-sche Interpretation der Kabbala bei Jung, die philosophische Allegorisierung, die Li-terarische Episierung und schließlich Philologie der Kabbala sieht Kilcher als die (in wertmäßig aufsteigender Reihenfolge angeordnete) Figuren des Endes der Kabbala bei Scholem: »Die literarische, figurale und konstruktivistische Qualität der Histo-riographie zeigt sich vielmehr genau dort, wo Scholems Texte auf das Ende zu spre-chen kommen und zugleich selber - als Texte - an ihr Ende kommen.« (Ebd., 157)

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Zimzum zur Deutung der Gegenwart. Die Geschichte des Sabbatianismus ist für ihn Exempel für die Gefahren des Zionismus. Angedeutet war bereits, daß Scholem auch eine Nachgeschichte der Kabbala annimmt, die bis in die Auf-klärung reiche; diese Öffnung, die in gewissem Sinne mit der geschlossenen Fabel der Entwicklungsgeschichte der Kabbala im Konflik t steht, wird uns in diesem Kapitel beschäftigen.

Scholem hat den Zusammenhang zwischen mystischer Häresie und Auf-klärung allerdings eher angedeutet als ausgesprochen, er erhebt damit kaum denselben Anspruch wie mit der religionsgeschichtlichen Erklärung der ei-gentlichen Kabbala und ist hier auch oft kritisiert worden.746 Er ist aber deshalb interessant, weil er den Ort des Historikers selbst betrifft: Wenn die Geschichte der Kabbala bis in die Aufklärung reichen würde, könnte noch die eigene Her-kunft und der eigene methodische Ort einer »aufgeklärten« Geschichtsschrei-bung in die Kabbala integriert werden. Wir werden zunächst das parallele Unternehmen einer Vorgeschichte der Aufklärung in der Sektengeschichte des Protestantismus darstellen (3.7.1), dann Scholems Konzept des Nihilismus erör-tern (3.7.2) und schließlich den methodischen Ort seiner Geschichtsschreibung im Kontext des Späthistorismus bestimmen (3.7.3).

3.7.1 Sektengeschichte der Aufklärung. Schon 1937 kritisiert Scholem die ratio-nalistischen und apologetischen Historiker des 19. Jahrhunderts: »Niemand kam in der von der Assimilation dominierten Epoche auf den Gedanken, daß religiöse Reform und die rationalistische Aufklärung historisch und geistig nicht nur der Welt rationaler Kräfte, sondern auch einer ganz anderen Welt verwandt sein könnten: der Welt der Kabbala und der sabbatianischen Krisis; der Welt jener »an-archischen Ketzer« also, die jeder bereitwillig anprangerte.« Q V, 30) Gegen seine Gewohnheit verweist Scholem hier explizit auf Vorbilder für seine Fragestellung,

Die These vom Zusammenhang zwischen Sabbatianismus und Aufklärung ist schon 1928 angedeutet, vor allem in »Erlösung durch Sünde« wird sie breiter ausgeführt, vgl. auch in JM, bes. 327 ff. Insgesamt handelt es sich vor allem um ein Thema des späten Scholem, der hier verschiedene vor allem biographische Aufsätze bzw. Bücher publiziert, insbes. »Ein verschollener jüdischer Mystiker« (1962) und Du Frankisme au Jacobinisme - (1981); kurz vor seinem Tod arbeitete Scholem an einem Buch über Hirschfeld und kündigt einen Vortrag auf dem World Congress for Jewish Studies 1981 an, zu dem es aus Gesundheitsgründen nicht mehr kommt (vgl. Dan, «Jewish Studies after G. Scholem«, 142). - Zur Kriti k von Scholems These vgl. etwa Biale, G. Scholem, 82ff; Schweid kritisiert Scholems These sehr viel schärfer (Schweid, Judaism and Mysticism, 133ff), für ihn handelt es sich hier um den schwächsten Teil von Scho-lems Werk, der letztlich selbst auf einer kabbalistischen Interpretation beruhe. Tau-bes spricht von einer »eigenartigen und verblüffenden These, die jedoch jeder historischen Grundlage entbehrt« (Taubes, Vom Kult zur Kultur, 47).

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 391

nämlich auf die protestantische Forschung über den Zusammenhang »zwischen

spiritualistischen Sekten und christl ichen Strömungen einerseits und der Ge-

schichte der »Toleranz« und der Aufklärungsbewegung im 17. und 18. Jahrhun-

dert andrerseits« (ebd.).747 Tatsächlich gibt es hier seit der zweiten Hälfte des 19.

Jahrhunder ts eine breite Forschung, deren Relevanz weit über die Kirchenge-

schichte hinaus geht; besonders Ernst Troeltsch spielt in ihr eine Schlüsselrolle.

Troeltsch ist vor allem an der historischen Genese des modernen Individua-

lismus interessiert, Anregungen Hegels und Dil theys aufgreifend, sieht er hier

eine Verbindung zwischen der »altliberalen Theor ie von der Unantastbarkeit

des persönl ich- inneren Lebens durch den Staat« und der reformator ischen

Religion: »Es ist zunächst ein rein religiöser Gedanke. Er ist dann säkularisiert

und von der rationalist ischen, skeptischen und uti l i tarist ischen Toleranzidee

überwuchert worden.«7 48 Auch Troeltsch betont, daß die Religion hier nur ein

Faktor unter vielen und daß ihre Wi rkung »großenteils in indirekten und in

unbewußt hervorgebrachten Folgen, ja geradezu in zufälligen Nebenwi rkun-

gen oder auch in wider willen hervorgebrachten Einflüssen« bestehe.749 Auch

folgen diese Entwick lungen keineswegs aus den Klassikern der Reformation,

aus Luthers Denken, sondern gehen vor allem von deren »linkem Flügel« aus;

dort, bei den täuferischen Sekten und myst ischen Spiritualen habe der Ge-

danke der inneren Freiheit erstmals seine Formul ierung erhalten. Gegen die

an Höhepunk ten und dogmat isch Gül t igem orient ierte Geschichte entwirft

Im Protestantismus sei der »wichtige Anteil, den gerade religiöse und mystische Be-wegungen an der Ausbildung der Aufklärung im 18. Jahrhundert gehabt haben [...] heute allgemein zugestanden [...]« (JM, 330). Scholem betont hier auch, daß für ihn der Chassidismus nicht als ein solcher Vorläufer in Frage komme, das sei nur eine »romantische Umdeutung« dieser Bewegung (ebd.). Er gibt allerdings keine genaue-ren Hinweise darauf, auf welche Forschung er sich damit bezieht. - Eine Übersicht über den zeitgenössischen Forschungsstand zu diesem Thema gibt Bornkamm,stik, Spiritualismus und die Anfänge des Pietismus. Über die Häretisierung der Ver-nunft und die Auflösung der Kultursynthese vgl. jetzt auch Schmidt, Der häretische Imperativ: »Im Kontext der liberalen kulturwissenschaftlichen Selbstbesinnung der Jahre vor und nach dem ersten Weltkrieg bricht die Harmonie des Innen/Außen der Kultur wieder auseinander, es ereignet sich eine neue Dichotomie zwischen beiden Hemisphären, die allgemein als Tiefengrund für eine radikale Krise von Aufklärung, Liberalismus und Kultur empfunden wird und die zur Vorgeschichte der Wieder-entdeckung des Häretikers gehört.« (Ebd., 8)

Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 63. - Die »Metaphysik des absoluten Personalismus« bilde den »metaphysischen Untergrund« der Moderne, sie sei durch Christentum und »israelitischen Prophetismus« begründet worden (ebd., 21). Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 45. Auch seine Gesamtbewertung ist nicht eindeutig, er kommt zum »Doppelergebnis, daß er [der Protestantismus] die Entstehung der modernen Welt oft großartig und entscheidend gefördert hat, daß er aber auf keinem dieser Gebiete einfach ihr Schöpfer ist« (ebd., 85).

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392 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Troeltsch eine Gegengeschichte, die von einer großen Sympathie mit den »Stief-kindern der Reformation« getragen ist.750

Diese Genese bedeutet für Troeltsch nicht, daß deshalb die Gegenwart als christlich zu bezeichnen sei oder sich direkt auf das Christentum beziehen könne: Wenn der linke Flügel der Reformation auch indirekt, durch jenen Geist der Freiheit, an der Entstehung der modernen Welt beteiligt gewesen sei, so müsse das nicht so bleiben.751 Deutlich sind seine Überlegungen von der Sorge durchzogen, die moderne Freiheit könne ohne jene Grundlage in ihr Gegenteil umschlagen: »Bewahren wir uns das religiös-metaphysische Prinzip der Frei-heit, sonst möchte es um Freiheit und Persönlichkeit in dem Augenblick ge-schehen sein, wo wir uns ihrer und des Fortschritts am lautesten rühmen.«752

Troeltsch bezeichnet diesen Prozeß auch als »Säkularisierung«, ein Begriff, der bekanntlich eine entscheidende Bedeutung für ein sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausbildendes Gegenwartsverständnis hat. Es ist post-aufklärerisch, aber noch nicht anti-aufklärerisch, und mit dem Wegfall der aufklärerischen Denkverbote bekommt auch die Religion wieder eine wichtige Rolle. Dieser Prozeß beginnt schon bei Hegel, der bekanntlich der Reformation eine wesent-liche Rolle in der Genese der modernen Welt einräumt. Aber während Hegel noch die optimistische Vision einer Synthese zwischen Religion und Moderne vorschwebt, tritt im weiteren Verlauf immer mehr das Spannungsverhältnis her-vor: Die Gegenwart erfüllt nicht mehr einfach die Tendenzen der Vergangenheit, sondern tritt ihr auch entgegen. Entscheidend in dieser Entwicklung ist also nicht nur die bereits bei Hegel vorhandene Historisierung der Vernunft, sondern die Tatsache, daß in dieser Historisierung eine Differenz bewußt wird zwischen Vergangenheit und Gegenwart.753

Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 62. Vgl.: »Es ist die Frage, ob jene Konstellation der Umstände und damit der von ihnen gegebene fruchtbare Boden des Freiheitsgedankens dauernd sich behaupten wird. Das ist schwerlich der Fall. Unsere wirtschaftliche Entwicklung steuert eher einer neuen Hörigkeit zu, und unsere großen Militär- und Verwaltungsstaaten sind trotz aller Parlamente dem Geist der Freiheit nicht lediglich günstig.« (Troeltsch, Diedeutung des Protestantismus, 102) Troeltsch, a.a.O., 103. Eine ähnliche Bedrohung des Umschlagens von Rationalität in Irrationalität bzw. des Absterbens der religiösen Wurzel des modernen Geistes prägen bekanntlich auch den abschließenden Ausblick in Webers Protestantismus-Studie, vgl. Weber; Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1,197f, 203f. Der Säkularisierungsbegriff hat diskursgeschichtlich einige Vorbedingungen: »Er-stens mußten, anders als bei Hegel, die moderne Kultur einerseits und ihre christli-che Herkunft und Vergangenheit andererseits als gegenwärtig sich ausschließende, miteinander kämpfende Gegensätze erfahren werden. Zweitens mußte, anders als bei Marx, die Überzeugung herrschen, daß die Entscheidung im Kampf dieser Ge-

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I n dieser Konstel lat ion verliert der eigene Standpunkt seinen absoluten Cha-

rakter, zugleich wird das, was diesen Standpunkt »vorbereitete«, in seiner Ver-

schiedenheit und historischen Besonderheit erkannt. Die Figur »Säkularisierung«

drückt beides aus: Einerseits lassen sich Vergangenheit und Gegenwart in der

Erzählung verbinden, andererseits wird gerade dadurch auch ihr Kontrast sicht-

bar. Damit wird eine indirekte Darstellung der eigenen Gegenwart möglich, die

nicht mehr als philosophische Konstrukt ion und nicht mehr als politisches oder

wissenschaftliches Programm konsti tuiert ist, sondern als kulturpolit ische Er-

innerung, wie sie Troeltschs Besinnung auf die religiöse Vorgeschichte der M o-

derne darstellt.754

Scholems Untersuchungen zur Vorgeschichte der jüdischen Aufklärung lassen

sich als Parallele zum Projekt Troeltschs verstehen: Auch er sucht nach einer Vor-

geschichte und einem »Geist« der Aufklärung, auch bei ihm spielen dabei Mysti-

ker und häretische Sekten eine entscheidende Rolle.755 Dabei trägt Scholem das

gensätze geistiger Art sein werde.« (Lübbe, Säkularisierung, 40) Er verweist auch auf die entscheidende Bedeutung der »Neutralisierung des Säkularisierungs-Begriffs zu einer deskriptiven Prozeß-Kategorie« (ebd., 59) in der deutschen Soziologie, ent-scheidend sei dabei die gerade hier spezifisch ausgeprägte Fortschrittsskepsis: »Diese Zweifel, diese Ambivalenz in der Stellungnahme zum Prozeß der Verweltlichung, welche die soziologische Neutralisierung vom kulturpolitischen Programmpunkt zur analytischen Kategorie überhaupt erst möglich gemacht hat, sind von nun an auch dem Säkularisierungs-Begriff mindestens virtuell immanent.« (Ebd., 67) Laut Fischer sieht Troeltsch »sich nicht in der Lage, die leitenden Tendenzen und we-sentlichen Gehalte der neuzeitlichen Lebenswelt in direktem Zugriff freizulegen. Das Instrumentarium historischer Rückblende bedeutet ohnehin schon eine vermittelte Weise des Zugangs; sie wird noch einmal verschärft, wenn die als neuzeitlich anzu-sprechenden Phänomene mittels einer förmlichen Gegensatz-Konstruktion erschlos-sen werden. Das ist ein kompliziertes methodisches Verfahren, und dem entspricht das Ergebnis.« (Fischer, »Die Ambivalenz der Moderne«, 54) Auch nach Lübbe »blieb auch der Begriff der Säkularisierung, den er [Troeltsch] gelegentlich gebrauchte, eine historische Kategorie; er war nicht mehr Parole eines kämpferischen Fortschritts und noch nicht Name einer zivilisationskritisch beklagten Verfallsgeschichte, sondern ein neutralisierter Begriff wissenschaftlicher Deskription, der in seiner durchscheinenden Ambivalenz zwischen Verfalls- und Fortschrittsdeutung der modernen Welt eine die Radikalen befriedigende Entscheidung nicht zuließ.« (Lübbe, Säkularisierung, 84) Das ist bisher kaum thematisiert, vgl. den kurzen Hinweis über diese Verbindung bei Biale, Gershom Scholem, 87, hier auch Angaben zu den (weniger prominenten) jüdischen Vorgängern für Scholems These. Twardella umreißt kurz die strukturelle Parallele von Scholems Argumentation zu der Webers (Twardella, »Soziologische Überlegungen zur jüdischen Mystik ...«). Auf den m. E. sehr viel näherliegenden Troeltsch geht er nicht ein; auch betrachtet er beide Thesen nur als historische Er-klärungen und reflektiert nicht ihren Charakter als indirekte Darstellungen der Ge-genwart. Neuerdings hat Schmidt die Häresie ins Zentrum seiner Interpretation der politischen Theologie Scholems gestellt. »Scholems Häretisierung der Aufklärungs-

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394 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Argument in zwei Varianten vor: In den meisten Fällen erklärt Scholem den

durchschlagenden Erfolg der Aufklärung negativ dadurch, daß der Sabbatianis-

mus das traditionelle Judentum zerstört habe. Insbesondere der Antinomismus

habe »das kostbarste Gut des Judentums, nämlich seine moralische Substanz, [...]

tief von innen her gefährdet« QM, 346); durch ihn »zerfiel der Felsengrund, auf

dem das moralische Bewußtsein des Judentums gegründet ist [...], zu Staub« Q I,

144f). Scholem betont dabei oft, daß es sich um einen inneren Prozeß gehandelt

habe, da er ja von der ganz jüdischen Kabbala selbst ausgegangen sei.756 »Anders

als die Kriti k der Aufklärung [...], die Ideen und Umstände beeinflußten, die von

außen her eindrangen, war die sabbatianische Kriti k am rabbinischen Judentum

ein inneres Phänomen: Es war die Kriti k der »Geistigen«, deren paradoxe Werte

nicht mehr in die traditionelle Form paßten und die nach neuen Ausdruckswei-

sen für ihr utopisches Judentum suchten.« (SZ, 873) Wieder einmal wird dabei die

Auffassung von Graetz »umgekehrt«: Die Aufklärung ist nicht das Selbstbewußt-

werden des Judentums nach der Befreiung von ihrer »äußerlichen« Überformung

durch die Kabbala, sondern aus der Kabbala folgt die Selbst/eriri/e, die das Ein-

dringen der Aufklärung von »außen« ermöglicht. Die »Kriti k der Geistigen« von

innen stellt dabei zugleich auch ein positives Prinzip dar, einen spezifischen Geist,

den der Sabbatianismus der Aufklärung vermacht. Es ist der Geist der Freiheit

und der Spiritualisierung der Religion, der dann in der jüdischen Reform wirk-

sam wird. Die Sabbatianer gehen über »zur Haskala und zur Assimilation, die

ohne Paradox, ja ohne Religion das tat, was die Anhänger jener »verfluchten Sekte«

leidenschaftlich und redlich ringend, aus dem Elan eines Glaubens voller Wider-

sprüche getan« Q V, 115f). Bevor wi r diesen »Geist« näher beschreiben, muß

zunächst der Status des Arguments näher ins Auge gefaßt werden.

geschichte hat also einen doppelten Sinn: 1) Sie vermag den Aufklärungsprozeß aus einer innerjüdischen Tendenz heraus zu erklären. [...] 2) Mi t der Amnesie an die kab-balistisch-häretischen Ursprünge von Aufklärung braucht Scholem deren Prinzipien nicht aufzugeben. Vielmehr liegt in ihnen das Potential zur Konstruktion einer ge-nuin jüdischen Moderne.« (Schmidt, Der häretische Imperativ, 118) Scholem habe aber in Israel die Gefahr dieser theologisch aufgeladenen Kriti k gesehen und sie aus-zugleichen versucht durch eine »Ästhetik des Skeptizismus« und eine »Metaphorik der Unentscheidbarkeit« (ebd., 158). Vgl. auch zum Interesse der jüdischen Zeitge-nossen an den Häretikern ebd., 4ff, 116ff. Vgl. bereits 1928: »So wurde, noch bevor die Mächte der Weltgeschichte das Juden-tum im 19. Jahrhundert aufwühlten, seine Wirklichkeit von innen her mit Zerfall bedroht.« (J I, 146) - 1937 behauptet Scholem, »daß die Krise des Judentums in den Generationen nach der Öffnung des Ghettos sich schon im Inneren, in verborgenen Winkeln der jüdischen Seele und im Allerheiligsten von Mystik und Kabbala selbst, vorbereitet hatte« (J V, 19). »Die Welt des rabbinischen Judentums wurde hier von innen heraus zerstört, unabhängig von jeder »aufgeklärten« Kritik , und das bis auf den Grund.« (Ebd., 115)

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 395

Scholems Argumentat ion wird man kaum als zureichende »Erklärung« der jü-

dischen Aufklärung verstehen können. Sie ist nicht nur wegen ihrer schmalen

Basis unbefriedigend - es handelt sich ja nur um vereinzelte biographische Stu-

dien - , sondern auch deshalb, weil Scholem die Unterschiede zwischen dem »pa-

radoxen Glauben« und den »nüchternen Ideen« kaum reflektiert oder jedenfalls

nicht expliziert. Damit weicht Scholem auch der Spannung aus, die der Katego-

rie »Säkularisierung« inhärent ist, und fällt in die einfache ideengeschichtl iche

Suche nach Einflüssen religiösen Gedankenguts zurück. Hans Blumenberg hat

eine solche Untersuchungsweise und die ihr implizite Säkularisierungstheorie

bekanntl ich scharf kritisiert: Der pure Nachweis, daß eine »Idee« eine mögliche

Herkunft aus der religiösen Sphäre habe, berücksichtige zu wenig, daß sich In-

halt und Logik der Begriffe vol lkommen verschieben können.757 Der Begriff »Sä-

kularisierung« habe aber immer die (diskurs-)politische Tendenz, das Säkularisat

als illegitime Verwandlung einer ursprüngl ich und rechtmäßig religiösen Sub-

stanz zu betrachten. Noch deutlicher ist eine modernitätskrit ische Tendenz dem

Begriff des »Säkularismus« eingeschrieben, mit dem Scholem gelegentlich seine

Gegenwart bezeichnet.758 Dieser Begriff scheint nichts weiter als ein theologi-

Blumenberg arbeitet heraus, daß man zwischen einer allgemeinen Verwendung von Säkularisierung als Bedeutungsverlust der Religion und der Säkularisierung als Ver-wandlung bestimmter religiöser in weltliche Gehalte unterscheiden müsse, seine Kri -tik richtet sich gegen den zweiten Begriff einer Verwandlung. Er zeigt dann, »daß durch den Begriff der Säkularisierung das Selbstverständnis der Neuzeit als Welt-lichkeit zur vordergründigen Oberfläche erklärt werden muß. [...] Er [der Begriff S.] gestattet dem Resultat der Säkularisierung nicht, sich von ihrem Prozeß abzulösen und zu autonomisieren.« (Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 24f) Gegen die-sen Substantialismus vertritt Blumenberg eher ein funktionales Modell, das von der Priorität der Fragen ausgeht: Säkularisierungsphänomene ließen »sich nicht alssetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, son-dern als Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten« (ebd., 75). Blumenbergs Kriti k triff t freilich vor allem den geschichtsphilosophischen Säkularisierungsbegriff, auch wäre zu fragen, ob sein funktionales Geschichtsmodell nicht immer noch als freilich abgewogeneres Konzept der Säkularisierung lesen läßt, in welchem der Über-hang von Fragen ein religiöses Erbe darstellt.

In Reflections on Jewish Theology bezeichnet Scholem die Gegenwart als »secularized and technologized« (JJC, 261), die religiösen Konzepte und insbesondere die religiöse Ethik seien etwas Fremdes in dieser Welt, welche nur noch eine Welt der reinen Imma-nenz sei, die nichts Transzendentes und Absolutes enthalten könne. Wissenschaft, Technik, säkulare Moral und aufgeklärte Politik könnten niemals Werte etablieren, son-dern nur instrumentell die Welt der Fakten beherrschen: »I confess that in this respect I am what would be called a reactionary, for I believe that Morality as a constructive force is impossible without religion, without some Power beyond Pure Reason. Secular morality is a morality built on Reason alone. I do not believe in this possibility.«

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396 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

sches Interpretament zu sein, aus dem die Ambivalenz der Prozeßkategorie »Sä-kularisierung« verschwunden ist. Diese wird damit zu einer reinen »Unrechtska-tegorie« im Sinne Blumenbergs: Wenn die Moderne negativ bestimmt wird als Transzendenzverlust, folgt selbstverständlich, daß alles Werthafte und Absolute in ihr nur religiöses »Säkularisat« sein kann. Scholems Äußerungen über den »Sä-kularismus« stellen m. E. eher die schwachen Seiten seines Werkes dar, ähnlich schematisch und ideologisch wie die allgemeinen Aussagen zum Zionismus aus seiner Spätzeit. Seine konkrete historische Analyse der Säkularisierung des fran-kistischen Geistes ist zugleich komplexer und ambivalenter als eine einfache »Ab-leitung« des modernen Geistes aus der Vergangenheit. Hier handelt es sich tatsächlich um eine, wenn auch nur teilweise ausgeführte, indirekte Darstellung der eigenen Gegenwart, die es Scholem auch erlaubt, die Fabel der Kabbala noch einmal auszudehnen und auf höherer Ebene zu integrieren.

Den weitesten Bogen spannt er im sechsten der Unhistorischen Sätze, hier wird die gesamte Kabbala in die Geschichte des »Nihilismus« integriert: Die tra-ditionelle Lebensform der Juden habe im »Schatten des Gesetzes« gestanden.

Aber die steinerne Mauer des Gesetzes wird in der Kabbala allmählich transpa-rent, ein Schimmer der von ihm umschlossenen und indizierten Wirklichkeit bricht hindurch. Aber im Maße der immer steigenden, wenn auch immer unbestimmter werdenden Transparenz des Gesetzes lösen sich auch die Schatten auf, die es auf das jüdische Leben wirft. So mußte am Ende dieses Prozesses logischerweise die jüdische »Reform« stehen: die schattenlose, unhintergründige, aber nun auch nicht mehr unvernünftige, rein abstrakte Humanität des Gesetzes als Rudiment seiner mystischen Zersetzung. (J III , 269)

Diese Fabel ist ironisch, denn die Kabbalisten hatten das Gesetz zwar durch-sichtig machen, aber doch zugleich strikt beibehalten wollen; ironischerweise löst nicht der anarchische Wille, sondern der Gehorsam der Kabbalisten das Gesetz auf. Sie ist auch deshalb ironisch, weil sich in dieser Entwicklung die Vorausset-zungen der Kabbala selbst auflösen. Wie wir im letzten Teil gesehen haben, setzt die Kabbala als historisches Phänomen eine Bindung an das »harte« Wort der Of-fenbarung bzw. an das »undurchsichtige« Gesetz voraus; dort findet die unendli-che Interpretation ihren Halt, durch die Offenbarung wird die Tradition »erfüllt-. Wenn die fundierende Offenbarung ihren harten Charakter verliert und nur noch diffuse »Stimme« ist, verliert auch die Kabbala jenen Referenzrahmen, der sie zu einem kollektiv bedeutsamen Phänomen macht, und es entsteht das, was Scho-lem in seiner Jugend »Mystizismus« nennt: Die mystische Erfahrung einzelner In-

(JJC, 32) Hier und in manchen anderen Interviews legt Scholem nahe, daß der Säkula-rismus der modernen Welt nur ein Übergangsstadium sein könnte, dem ein Wiederer-wachen der Religion folgen würde: »Secularism is no more than a narrow transition from one religious dogma to another.« (PM, 164; JJC 33ff, 45ff)

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 397

dividuen abseits von kollektiver Verbindlichkeit und sozialen Folgen. Im Ver-laufe dieses Prozesses werden auch die alten Bücher unlesbar, sie werden zu jenen »Abbreviaturen«, von denen Scholem in seinen Jugendaufzeichnungen spricht: Nach dem Verlust ihrer historischen Bedeutsamkeit wird die Kabbala zu einer Sammlung von rätselhaften Chiffren. Während der »Geist« in die Aufklärung übergeht, werden die »Bücher« vollends unlesbar, die kabbalistische Tradition kann daher nicht fortgeschrieben werden, sondern muß auf ganz andere Weise sichtbar gemacht werden: durch kritische Philologie und religionshistorische Un-tersuchung. Dieses Auseinanderbrechen von »Geist« und »Büchern« bzw. von »Stimme« und »Schrift« bestimmt nicht nur das Selbstverständnis des Historikers Scholem, sondern auch sein Verständnis der jüdischen Moderne.759

Man wird hier nicht mehr von einer historischen Erklärung sprechen. Die zi-tierten Sätze umkreisen eine grandiose Metapher - das »Durchsichtigmachen« des Gesetzes. Als »Theorie« betrachtet ist diese Metapher schwach und unbestimmt, als Metapher beschreibt sie nicht nur den Gesamtprozeß, sondern vereint auch alle Agenten, die Religion wie den Nihilismus, zu einem einheitlichen Gesche-hen. Der Nihilismus, der die letzte Phase der Kabbala bestimmte, ist hier über-all, er ist nicht mehr eine besondere Phase der Entwicklung, sondern die Logik des Zerfalls. Diese Logik steht nicht außerhalb der Geschichte - und könnte als solche in einer Theorie des »nihilistischen Säkularismus« allgemein formuliert werden -, sondern kann nur selbst als Geschichte entwickelt werden.760 Gerade die indirekte Darstellung in einer historischen Rückbesinnung erlaubt es, eine Ambivalenz gegenüber der eigenen Gegenwart zum Ausdruck zu bringen, und das eigene Urteil in der Schwebe zu lassen. Daher kann Scholem hier, in derschichte des religiösen Nihilismus, artikulieren, was in der Theorie des »Säkula-rismus« nur leer und ideologisch erscheint.

Zur »Säkularisierung« der Kabbala in die Literatur vgl. Kilcher: »Im Status als Lite-ratur also ist Kabbala nicht mehr als positivum oder »Wirklichkeit« erfahrbar, wie es ihre esoterischen Re-mythisierungen und meta-symbolischen Psychologisierungen wollen. Dagegen versetzte schon die Umsetzung in philosophische Begriffe die Kab-bala in einen kontemplativen, entsubstantialisierten und insofern negativierten Zu-stand, in dem sie förmlich ex negativa, also dialektisch, erkennbar wird. Im Zustand der Literatur nun ist die dialektische Negativität der Kabbala radikalisiert und - iro-nisch - zur Positivität geworden.« (Kilcher, »Figuren des Endes«, 192) Vgl. dazu Heideggers Interpretation von Nietzsches Nihilismus: »Der Nihilismus ist eine Geschichte. Damit meinen wir nicht nur, daß das, was wir Nihilismus nennen, eine »Geschichte« hat, sofern es in seinem zeitlichen Verlauf historisch verfolgt wer-den kann. Der Nihilismus ist Geschichte. [...] Wenn man diese Geschichte, von der Entwertung der obersten Werte her rechnend, als »Verfall« begreifen will , dann ist der Nihilismus nicht die Ursache dieses Verfalls, sondern seine innere Logik: jene Ge-setzlichkeit des Geschehens, die über einen bloßen Verfall hinaustreibt und deshalb auch schon hinausweist.« (Heidegger, Nietzsche, Bd. II, 78f)

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398 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

3.7.2 Dämonie des Nihilismus. Durch die Historisierung wird der Nihil ismus der

Gegenwart in die Geschichte eingeschrieben; das hat nicht nur eine Umschreibung

der Geschichte zur Folge, sondern verändert auch die Struktur des Nihi l ismus

selbst. Der Geist des Nihil ismus ist für Scholem zugleich radikal und mehrdeutig,

gerade als solcher kann er auch ein Geist des eigenen Schreibens werden. In dem

späten Aufsatz Der Nihilismus als religiöses Phänomen betont Scholem, es sei

»keineswegs so, daß der Nihil ismus erst mit der umgreifenden Säkularisation des

gesellschaftlichen und geistigen Lebens eingesetzt hat. Er hat in der Religionsge-

schichte schon von jeher eine Rolle gespielt« QIV, 133).761 Unter »Nihilismus« ver-

steht Scholem hier weniger theoretische Skepsis oder Atheismus, spezifisch sei

vielmehr die Leugnung bestimmter »Werte« und Autoritäten. Ideengeschichtlich

beruft sich hier Scholem weniger auf Nietzsche als auf die russischen Nihilisten

(vgl. ebd., 129ff); religionsgeschichtlich sind nicht Atheisten oder negative Theo-

logen die Paradigmen für den Nihil ismus, sondern Gnostiker und pantheistische

Spirituale, bei denen es einen »religiösen Nihilismus« gebe:

Unter diesem Begriff verstehe ich nicht einen Nihilismus, der sich auf die Religion erstreckt, sondern einen Nihilismus, der im Namen religiöser Ansprüche und mit religiösem Anspruch auftritt. Er erkennt die religiöse Sphäre an, aber er verneint radikal die Autorität, die sich anmaßt, sie zu kontrollieren. Er geht nicht auf Ver-festigung neuer Strukturen an Stelle der alten aus, sondern auf ihren Abbau. Nicht immer, aber oft geschieht das im Namen mystischer Erfahrung. (J IV, 134f)

Scholems »religiöser Nihilismus« ist wie der offensichtlich verwandte »religiöse

Anarchismus« ein ambivalentes Phänomen: Einerseits kann es sich um die Rei-

nigung der Religion von allerlei Über formungen handeln, andererseits kann

eine Sphäre ohne Autorität sich selbst zersetzen. Daher ist auch die Freiheit, der

zentrale »Wert« des religiösen Nihi l ismus, nur abstrakt, und zwar gerade weil

sie nur innere, verborgene Freiheit ist.762

761 Scholem setzt sich hier relativ stark mit Literatur zur Religionsgeschichte des Mit -telalters auseinander, diskutiert sie aber meistens nur in Details bzw. kritisiert ihre materialistische Methode. An allgemeiner Literatur wird nur Hans Jonas länger zi-tiert, schon dieser hatte den Gnostizismus als »Nihilismus zwischen den Zeiten« be-zeichnet (Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Bd. I, 234). Bereits Jonas hatte darauf hingewiesen, daß der Nihilismus sehr viel älter als seine moderne Form ist und nichts mit dem Zweifel an der Existenz Gottes zu tun hat, vgl. v. a. Jonas, »Gnosis, Exi-stentialismus, Nihilismus«. Diesen Aufsatz hat Scholem - möglicherweise aufgrund seiner Abneigung gegen den modernen Existentialismus - nicht rezipiert, so geht ihm die hermeneutische und methodische Reflektiertheit von Jonas ab.

762 Die fehlende Freiheit bestimmt für Scholem das Schicksal des Sabbatianismus. »Das Scheitern in der Formulierung eines postmessianischen Judentums war unvermeid-lich, denn eine positive Definition der Freiheit ist nicht möglich, solange die gemeinte Freiheit abstrakt bleibt und nicht tatsächlich und völlig verwirklicht ist. Nur wer ein Leben in Freiheit lebt, kann sagen, welchen Inhalt die Freiheit hat.« (SZ, 874)

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 399

Die abstrakte Freiheit kann sich nur in der Zerstörung und Entwertung äußern, daher ist die frankistische Beschwörung der Gewalt für Scholem die notwendige Konsequenz: »Hundert Jahre vor Bakunin hat Frank die erlösende Macht der Zerstörung ins Zentrum seiner Utopie gestellt.« (ebd., 178f) Frank ist aber nicht nur deshalb das Ende dieser Bewegung, weil von der abstrakten Freiheit nur noch die Zerstörung übrigbleibt. Die innere Freiheit schlägt hier auch in ihr Gegenteil um: »Das Ziel ist die fessellose Freiheit, der Weg aber verlangt strengste Disziplin. So wird Frank, paradox genug, zum ersten Fürsprecher und Lobredner des Soldatentums unter den Juden.« (ebd., 180) Dem wahren Glaubenskämpfer bleibt keine »Religion« und keine sichtbare Praxis mehr, sondern nur noch ein ganz unsichtbarer »Glaube« und die Praktiken, die diesen in seiner Verborgenheit schützen: »Soldaten nämlich, sagt er [Frank] mit einem merkwürdigen Epigramm, dürfen keine Religion haben. Ihre Sache ist es, dem General zu folgen.« Q III , 213)

Der Nihilismus führt hier also nicht zur Freiheit, sondern zu Disziplin und neuer Herrschaft: »Frank hat diesen Geschmack der Herrschaft, den letzten Wert, der dem Nihilismus verbleibt, zu genießen und auszukosten gesucht. Die große Geste des Herrschens ist ihm alles.« QM, 369) Tatsächlich bleibt es bei einer Geste, einer imaginären Macht, die sich aus realer Machtlosigkeit speist. Frank bleibt nur der virtuelle Hofstaat von Offenbach und der Traum von einer gewaltsamen Umwälzung der Welt aus dem Untergrund.

Wenn Scholem über den Zerfall der Moral, über die weltentwertende Kraft des Glaubens oder überhaupt über den Nihilismus der Religion spricht, kann man einen Einfluß Nietzsches heraushören. Doch Scholem distanziert sich zugleich: Herrschaft ist für ihn kein »natürlicher« Wert, er stellt vielmehr die letzte Steigerung des Nihilismus dar.763 Der exemplarische Nihilist ist für Scholem nicht der freie Geist, nicht der heiter Schaffende, sondern der von seinen Widersprüchen und Ressentiments zerfressene, nur imaginär freie Jakob Frank, den

Scholems Beschreibung arbeitet selbst mit einer Umwertung des »Natürlichen«, am deutlichsten am Begriff des Lebens: »Dies »Leben« bedeutet aber hier [im mystischen Nihilismus] nicht die harmonische Fülle des sich in seinen eigenen Gesetzen erfüllenden Zusammenhangs aller Dinge mit Gott [...]. Nicht das von Gesetzen Geordnete, sondern im Gegenteil das anarchische Element des Eintauchens in die Freiheit von aller Bindung und in die Promiskuität alles Seienden stellt sich in jenem Leben dar, das in dem »Abgrund« brodelt [...]. Leben als Inhalt letzter menschlicher, das heißt mystischer Erfahrung ist ein Kontinuum der Zerstörung, in dem und aus dem Gestalten nur hervortauchen, um ergriffen und aufgelöst zu werden.« (KS, 45) Auch Schmidt betont die Bedeutung des »Lebens«, beim späten Scholem werde »der anarchische Begriff des Lebens mit seiner messianischen Sprengkraft allerdings durch den begriff des mystischen Symbols zugleich ausbalanciert« (Schmidt, Der häretische Imperativ, 141).

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Scholem nicht weniger böse als großartig darstellt.764 N icht Künstler oder Krie-

ger ist für Scholem der moderne Nihil ist , sondern der Terrorist - eher als an

Nietzsche wird man hier wohl an Dostojewski denken müssen. Auch dessen N i -

hilisten wollen herrschen und zerstören, aber nicht aus gesundem Instinkt, son-

dern aus Langeweile und Verzweiflung, letztlich aus Gottverlassenheit. Auch

ihre Macht ist nur Pose, sie wird nur in der terroristischen Gruppe oder noch ra-

dikaler in der völligen Isolation ausgeübt - die Begeisterung für die Kraft er-

scheint hier als Kehrseite realer Schwäche. Bei Dostojewski wird der Nihi l ismus

»dämonisiert«, d. h. seine anti-religiöse Intention wird noch einmal religiös und

psychologisch interpretiert.765

Tatsächlich scheint Scholem nicht nur in Entsprechung zu Troeltsch einen

spiritualistischen jüdischen Geist als Grundlage der Aufklärung anzunehmen,

sondern spezifischer den konspirativen Geist der Frankisten als genuin religiö-

ses Erbe zu betrachten. Jedenfalls steht gerade das Moment der Verstellung in

seinen biographischen Untersuchungen im Vordergrund: An Hirschfeld und

Dobruschka interessiert ihn gerade das »Durcheinander reaktionärer und p ro-

gressiver Tendenzen«, die Zwischenstel lung zwischen frankistischer Kabbala

und radikaler Aufklärung.766 »Nous voyons que, malgre la contradiction appa-

Frank, »der wirklich Person ist in jeder Faser seines Wesens, stellt zugleich auch die unheimlichste und schauerlichste Gestalt dar, die in der Geschichte des jüdischen Messianismus überhaupt je aufgetreten ist« (JM, 337). »In dieser despotischen Seele wirkte trotz allem ein verborgener poetischer Trieb« (J V, 91), ihm kann »ein gewis-ser Schwung, ein Sinn für bildkräftige Worte nicht abgesprochen werden« QM, 348). - »Frank war ein Nihilist, und sein Nihilismus besaß ein seltenes Maß an Aut-hentizität. Seine primitive Wildheit hat etwas erschreckendes.« (J IV, 171) Einmal in einem Interview auf Dostojewski angesprochen, stimmt er dessen »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt« explizit zu: »Without God there is no such thing as values or morality that carry any real, binding forcc.« (JJC, 35) - Insbesondere die Gestalt Stawrogins in Die Dämonen ist Exempel für diesen »dämonischen« Nihilis-mus, hier finden sich auch die Figuren des religiösen Nihilisten Schatoff und des »Gottesmörders« Kiriloff , vgl. dazu Fuchs, Die Herausforderung des Nihilismus. Vgl. Riedel: »Dostojewkijs »Dämonisierung des Nihilismus ist von Turgenjews ironisch-distanzierter Beschreibung ebenso weit entfernt wie von der historischen Situation, entspricht aber auf ihre Weise der öffentlichen Meinung Rußlands und bald auch Eu-ropas über die sozial-revolutionäre Bewegung der siebziger und frühen achtziger Jahre«. (Riedel, »Nihilismus«, 401) - Zur Dämonisierung als Operation zwischen Ästhetik, Kriti k und Politik vgl. auch meinen Aufsatz »Das Dämonische«. Scholem, »Ein verschollener jüdischer Mystiker«, 247. - Esoterisches und Politisches produzieren »une etrange et etonnante ambigui'te« (Scholem, Du Frankisme au Jacobinisme, 9). - Vgl. dazu Kilcher: »In der Figur einer allegorischen Doppeldeu-tigkeit, Hintergründigkeit und Überlagerung, die Scholem hier wiederum als »merk-würdig und erstaunlich« beschreibt, traf die Kabbala des Frankismus mit der säkularen Religionsphilosophie der Aufklärung zusammen. Die Logik und Poetik

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 401

rente, les tendances mystiques [...] et les orientations polit iques [...] ne sont pas

incompatibles. Certes, il fallait etre frankiste pour cultiver ces deux tendances a

la fois; en cela Schöneid [alias Dobruschka] ne faisait que mettre en prat ique les

prophet ies de [...] Jacob Frank.«7 67 Die radikalen jüdischen Aufklärer sind ge-

rade aufgrund ihrer frankistischen Vergangenheit disponiert für die Arbeit im

revolutionären Untergrund, zugleich verschwindet damit der Widerspruch zwi-

schen ihren radikalen Ideen und ihrer Bindung an das Judentum: Wie die Fran-

kisten, so legt Scholem nahe, könnten auch sie das Judentum nur zum Schein

verlassen haben, in Wirkl ichkeit sind sie immer noch mit ihm verbunden und

von ihm her verständlich, gerade wo sie sich am weitesten von ihm entfernen.768

Hier entsteht eine Zone des Übergangs und der Zweideutigkeiten, eine Tiefen-

dimension, die eine andere Erzählung der Aufklärung erlaubt.

Bezeichnenderweise schreibt sich Scholem selbst gerade in diese häretisch-

dämonische Lini e ein, wenn er auf die jüdische Geschichtsschreibung zu spre-

chen kommt. In einem Vortrag von 1944 kritisiert er das >destruktive< Moment

der älteren »Wissenschaft des Judentums«, die rein antiquarisch ausgerichtet ge-

wesen sei und keine neuen Werte geschaffen habe. Interessanter als diese so ver-

breitete wie fragwürdige Kriti k ist ein Subtext des Aufsatzes, der quer steht zum

Gegensatz von abtötender und belebender Wissenschaft.769 Gerade von der »fa-

aber dieses Zusammentreffens ist die eines dialektischen Endes, einer allegorischen Bildüberlagerung von Kabbala und Aufklärung also, in deren Vollzug Kabbala zu-gleich annulliert und gerettet wird.« (Kilcher, »Figuren des Endes«, 184) Scholem, Du Frankisme au Jacobimsme, 41. - Scholem bezeichnet Dobruschka auch als »homme revetant plusieurs masques ä la fois, et les reniant tous, selon les circon-stances, sans qu'il soit possible de determiner sa position reelle: c'est la position du vrai frankiste selon la conception prönee par Jacob Frank« (ebd., 65f). Die frankistische »Psychologie« ähnele jener der »revolutionären Illuminaten« (J III , 211). -Vgl . auch über Hirschfelds Schriften: »Das Jüdische ist nach Möglichkeit ab-gestreift und das Allgemein-Universelle daran ist für eine christliche Hörerschaft be-arbeitet. Andererseits darf man sagen: er schreibt weitgehend als ein Kabbaiist, der versucht, sich innerhalb der deutschen Sprache und mit deren Begriffsmitteln auszu-drücken (Scholem, »Ein verschollener jüdischer Mystiker...«; 251). Auch bei Dob-ruschka sei das christliche Bekenntnis nur scheinbar (Scholem, Du Frankisme au Jacobinisme, 18), auch sein Patriotismus - Scholem spricht von einem »teutonisme exagere et surfait« (ebd., 25) - habe frankistische Quellen. Die politische Theorie, die Dobruschka 1793 publiziert, »est anime, dans les passages relativs ä la religion, par un radicalisme eclaire qui, aux yeux des frankistes, ne contradit nullement la mystique esoterique, mais au contraire la complete« (ebd., 73).

Scholems sehr einflußreiches Bild der Wissenschaft des Judentums als apologetisches Unternehmen kann kaum aufrechterhalten werden, vgl. etwa die hervorragende Un-tersuchung über Ludwig Geigers durchaus aktivem Angriff auf die christliche Wis-senschaft bei Heschel, Der jüdische Jesus. Scholems sollte weniger als objektive Kriti k denn als Selbstinstituierung durch polemische Abgrenzung verstanden werden, vgl.

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402 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

natischen »Sachlichkeit««, der »Kälte«, dem »Haß und Zynismus« Q VI , 26) der frühesten und am stärksten destruktiv arbeitenden Gelehrten Zunz und Stein-schneider fühlt Scholem sich offensichtlich angezogen, fasziniert spricht er von ihrer »>chontischen< Seite« und von ihrem »daimon« Q VI , 24): »Diese beiden haben die liquidatorische Tendenz ganz verinnerlicht, ihr verborgener Nihilis-mus hat etwas Vornehmes, und sie wirkt bei ihnen in Form einer kreativen Ver-zweiflung Ebd., 28). Offensichtlich herrscht hier eine Affinität: Auch bei den trockenen und destruktiven Gelehrten Zunz und Steinschneider sieht Scholem den »dämonischen« verinnerlichten Nihilismus und die kreative Verzweiflung, mit denen wir im ersten Teil Scholems eigenen Ethos bestimmt haben.770

Dieser dämonische Zug zeigt sich auch an der folgenden Kriti k Scholems an der Wissenschaft seiner Zeitgenossen. Dieser geht der daimon ab, obwohl - man ist versucht zu sagen: weil - sie sich einem positiven Ziel, der Wiederherstellung nationaler Identität verschrieben hat. Jedenfalls blieben in ihr »die wirklichen Kräfte, die in unserer Welt wirksam sind, das wahrhaft »Dämonische« außerhalb des Bildes, das wir geschaffen haben« (ebd., 50). In der »natürlichen« und »kon-struktiven« Wissenschaft ist das »Dämonische« verschwunden, das in der de-struktiven Wissenschaft am Werk war. Es scheint jetzt gar kein natürliches Verhältnis zum Erbe mehr zu geben, keinen beruhigten Standort. Wir haben ja bereits oben gesehen, daß auch der Zionismus für Scholem keinen »natürlichen« Standort darstellt, sondern das Erbe gerade erst problematisch macht, wir haben ebenfalls gesehen, daß er die Grenze zwischen jüdischer Tradition und histori-schem Erinnern zwar verdeckt aber nichtsdestoweniger deutlich hervorhebt.

dazu meinen Aufsatz, »G. Scholem, die Wissenschaft des Judentums ...« - Das zen-trale Bild des Spuks entwirft Scholem schon 1919: »Die jüdische Wissenschaft ist in der besonders paradoxen und eigentlich sehr beneidenswerten Lage: nicht daß sie Geister beschwört, die nicht kommen, sondern im Gegenteil, sie bemüht sich nach Kräften, diese Geister abzubeschwören, gleich wie sie auch abschwört, aber diese Geister kommen doch, sie sind immer und immer da und wollen von einsichtigeren Forschern erlöst werden.« (T II , 479) Es sind gerade die Philologen Zunz und Steinschneider, die ihn »seit jeher angezo-gen haben« (J VI, 24f), nicht dagegen Graetz, »der den Grundlagen der romantischen Wissenschaft treu blieb und aus ihr auch im Hinblick auf ihre konstruktive Seite die natürliche Konsequenz zog« (ebd., 24) oder David Kaufmann, bei dem die Wissen-schaft »in ihrer vollen, bewahrenden Kraft zu Tage [tritt] (aber Gott behüte, nicht als konstruktive Kraft), als ob sie schon das Liebäugeln mit der Liquidation abgeschüt-telt hätte« (ebd., 39). Graetz und bedingt auch Geiger besäßen »jene souveräne Kraft, die den großen Historiker ausmacht, im Namen der Konstruktion die Tatsachen zu vergewaltigen und die Zusammenhänge aus einer historischen Intuition heraus zu er-klären, eine gefährliche und schöpferische Kraft« (ebd., 28), also gerade das roman-tisch-konstruktive Element, eine Kraft, die wiederum »Zunz und Steinschneider völlig abging« (ebd.).

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 403

»Geschichte« kann keine Fabel jüdischer Ganzheit werden, sie kann die Tradi-tion nicht aufheben in einen Bereich »jenseits der Säkularität und der Heiligkeit«: »Und ich bin wirklich zerrieben zwischen den zwei Möglichkeiten: das Joch »der Rebellen, die sich als Nachfolger entpuppten«, auf mich zu nehmen oder mich dagegen aufzulehnen. Und hier ist der Ursprung einer großen Schwäche wie auch zugleich einer Stärke.« (Br I, 297)

3.7.3 Späthistorismus. Scholem bleibt Historiker und alle ahistorischen oder exi-stentialen Aktualisierungen des Erbes bleiben ihm verdächtig. Aber seine Ge-schichte ist vom Zweifeln an ihrer eigenen Relevanz und synthetischen Kraft durchzogen, die dem eigentlichen Historismus noch fremd waren.771 Seine Po-sition ähnelt eher der von Max Weber und Ernst Troeltsch, aber auch von Jacob Burckhardt und Franz Overbeck, die alle unter dem Eindruck von Nietzsches Kriti k stehen, sich zugleich aber auch von dieser distanzieren. Allen kommt das hohe Selbstvertrauen des historischen Denkens abhanden, ohne daß sie sich prin-zipiell von diesem abwenden wie die Denker der antihistoristischen Revolution der zwanziger Jahren. Man kann hier von >Späthistorismus< sprechen, er zeich-net sich durch eine doppelte Krise aus: Zum einen wird die »Anschaulichkeit« des Historismus bzw. die in ihm selbstverständliche divinatorische Hermeneutik problematisch. Für die Späthistoristen erzählt sich Geschichte nicht mehr von selbst, sie wird indirekter und stützt sich mehr und mehr auf Theorien und ver-wickelt sich dabei auch in politische Kämpfe. Zugleich kommt es zu einer Krise der Funktion: Die Geschichte verliert ihren selbstverständlichen Bildungswert und gilt nicht mehr fraglos als Aufhebung des Vergangenen, sie reflektiert sich selbst und entdeckt damit auch den Unterschied von ihrem Gegenstand

Für diese Historiker ist der spannungsreiche Begriff des »Wertes« charakteri-stisch: »Fakten« und »Werte« treten in dem Moment auseinander, weil sowohl der Versuch, die Einheit von Sein und »Wert« begrifflich-systematisch zu formulieren, als auch das Programm des klassischen Historismus, die Werte als historische Ideen »anschaulich« zu machen, gescheitert sind. Der Historiker des Späthistoris-mus spricht weder von der »Wahrheit« oder »Moral« der Geschichte, noch aber auch einfach von in ihr wirksamen »Kräften«, sondern von in ihr verwirklichten »Werten«. Einerseits soll damit ausgedrückt werden, daß es etwas Transhistori-sches gibt, daß aus der Geschichte mehr macht als eine Anhäufung von Fakten. Andererseits impliziert die Rede von den »Werten« auch, daß es sich um etwas Ge-

Der Glaube an die Relevanz seiner Forschung spricht etwa aus dem Vorwort zu den Hauptströmungen: »Ich jedenfalls bin überzeugt, daß solche Diskussion unserer Ver-gangenheit etwas mit unser Zukunft zu tun hat.« (JM, XI). Wie aus verschiedenen Briefen hervorgeht, war er über das Echo auf JM eher enttäuscht (vgl. Br I, 283, 291, 292, 299).

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404 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

machtes und damit selbst Historisches handelt. Die Rede von »Werten« ist daher

immer auf die Geschichte bezogen: »Personally, as I believe in God, I believe in

the existence of absolute values.« (PM, 88) Aber diese Werte können nur in der

Geschichte erkannt werden: »To the degree that absolute values have been

embodied in history, it is a history wor thy of the name. We call that a legitimate,

creative phenomenon. [...] I cannot discover the values themselves in history but

only the struggle over supreme values« (ebd., 88).772 Die Spannung zwischen den

beiden Zitaten läßt sich nicht in einen Gegensatz auflösen, so als käme etwa nach

der empirischen Erhebung der Fakten noch eine philosophische oder politische

Wertung dazu. »Werte« erscheinen dabei weniger als Überhöhungen der Ge-

schichte oder als ihre Gegenstände denn als die Hinsichten, unter denen über-

haupt relevante Geschichte geschrieben werden kann; als »Werte« werden diese

Hinsichten zugleich objektiviert und problematisiert.773

Man kann sich die dieser Posit ion inhärenten Spannung wohl am besten an

Max Webers Theorie der Wertbeziehung vergegenwärtigen, diese impliziert nicht

nur ein bestimmtes Ethos intellektueller Redlichkeit und wissenschaftlicher As-

kese, das auch für Scholem charakteristisch ist, sondern wird auch nicht zufällig

vor allem an der Religion entwickelt. Webers kantianischer Ansatz spricht vom

»Polytheismus« der Werte, denn zwischen den vorhandenen disparaten Wert-

systemen sei keine rationale Entscheidung und nicht einmal ein Kompromiß mög-

lich, es handele sich hier »nicht nur um Alternativen, sondern um unüberbrückbar

tödlichen Kampf«.774 Jeder Versuch, diesen Kampf »wissenschaftlich« zu schlich-

ten, sei illusionär, der Wissenschaftler könne und solle nur die von ihm vorausge-

setzte »Wertbeziehung« ausweisen, unbedingt jedenfalls die Mischung von Wert-

und Faktendarstellung meiden.

Deutl ich spürt man in dieser Theor ie den Einfluß Nietzsches in der Beto-

nung des Kampfes und der modernen Entwertung der Werte. Allerdings geht

Weber einen entscheidenden Schritt über den vulgären Nietzscheanismus hin-

aus, wenn er zugleich die »illusionslose« Sicht der Dinge kritisiert, die nicht mehr

um »Werte«, sondern nur noch um »Macht« kämpft. Dieser Schritt liegt, wie Leo

Strauss betont, durchaus in der Konsequenz von Webers Gedanken:

Scholem scheint »Werte« und »Ideen« dabei austauschbar zu behandeln, vgl. etwa: »Our history is a mighty struggle over these demands, and this struggle has many worthy manifestations. [...] Jewish history has been a struggle over great ideas.« (PM, 89) Vgl. Heideggers Kriti k des philosophischen Wertbegriffes (Heidegger, Nietzsche, Bd. II , 38ff), er betont etwas einseitig die Bedeutung Nietzsches (ebd., 84ff). Weiter ausgreifend stellt Schnädelbach das dar, vgl. Schnädelbach, Philosophie inland, 198ff.

Weber, Ges. Schriften zur Wissenschaftslehre, 507. - Zum Polytheismus der Werte vgl. etwa Weber, ebd., 507,603f; Ges. politische Schriften, 142, auch Schluchter, Religion und Lebensführung, Bd. I, 281 ff; Löwith, »Max Webers Stellung zur Wissenschaft«, 436ff.

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 405

Die kampfzerissene Welt verlangt ein kampfzerissenes Individuum. Der Kampf würde nicht völlig vorherrschen, wenn man der Schuld ausweichen könnte. [...] Er [Weber] mußte die durch den Atheismus erzeugte Angst (das Fehlen jeglicher Er-lösung, jeglichen Trostes) mit der durch die offenbarte Religion erzeugten Angst (das erdrückende Schuldgefühl) verbinden. Ohne jene Verbindung würde das Leben aufhören, tragisch zu sein, und so seine Tiefe verlieren.775

Anders gesagt, ist Webers Urbi l d der menschlichen Situation nicht das Ringen

der (griechischen) Heroen, sondern der innere Kampf der modernen, zweifeln-

den und gespaltenen Individuen, die nicht nur die (christliche) Unschuld der

»Werte«, sondern auch die Unschuld der »Natur« verloren haben.776

Wi e Karl Löwi t h herausgearbeitet hat, interessiert Weber weniger, wie der

Mensch die Entfremdung zugunsten einer neuen Harmonie überwinden könne,

als »wie sich der Mensch als solcher inmitten seiner unentr innbar »parzellierten«

Menschlichkeit dennoch die Freiheit zur Eigenverantwortung des Individuums

im Ganzen bewahren könne«.7 77 Man hat den Eindruck, daß die Erinnerung an

die Religion dabei eine wichtige Rolle spielt, denn die Religion ist das Exempel

für die Verwirkl ichung von Werten, auch da, wo man ihren Inhalt nicht mehr

teilt. Der Mensch soll Ideale haben, er soll leidenschaftlich handeln, nicht aus

einer harmonischen Persönlichkeit heraus, sondern aus selbstvergessener »Sach-

lichkeit«.778 Die religiöse Überl ieferung hat dabei eine wichtige rhetor ische

Strauss, Naturrecht und Geschichte, 67i. »Der Kampf würde das Individuum nicht bis in die Wurzeln erfassen, wenn dieses nicht zur Negation sogar des Prinzips des Krieges gezwungen wäre: das Individuum muß den Krieg, dem es nicht ausweichen kann und dem es sich hingeben muß, als Übel oder Sünde negieren.« (ebd., 68) -Strauss entwickelt diesen Gedanken im Rahmen einer Kriti k an Weber, vgl. dazu aber die scharfsinnigen Bemerkungen von Löwith in »Max Webers Stellung zur Wissen-schaft«, 431, Anm. Ähnlich wie Troeltsch bleibt Weber daher skeptisch hinsichtlich der Zukunft, das Ende des christlichen Wertsystems läßt für ihn nicht die Renaissance einer neuen Natürlichkeit oder eine Existenz jenseits von Gut und Böse erwarten, sondern, daß andere, »nicht-werthafte« Mächte wie Kapitalismus und Demokratie die Geschichte bestimmen. Daher auch die ausgeprägte Kriti k der ästhetischen Existenz und der »Persönlichkeit«, vgl. etwa Weber, Ges. Aufs, zur Wissenschaftslehre, 591 f. Löwith, »Max Weber und Karl Marx«, 366. Wertfreiheit ist daher eine Arbeit: »Was Weber verlangt, ist keine Ausmerzung der maßgebenden »Wertideen«, sondern deren Vergegenständlichung als Voraussetzung einer möglichen Abstandnahme von ihnen. Es ist eine »haarfeine« Linie, welche die Wis-senschaft vom Glauben an letzte Werte scheidet, und eigentlich ist das wissenschaftli-che Urteil von der bewertenden Beurteilung überhaupt nicht zu scheiden, sondern beides ist nur auseinanderzuhalten.« (Löwith, »Max Webers Stellung zur Wissen-schaft«, 433) Vgl. auch: »Mit diesem »Dämon« seiner Leidenschaft - man könnte ihn auch den Abgott einer entgötterten Menschheit nennen - als dem grundlosen Grund seiner Zwecksetzung hat Weber inmitten seiner Bestrebungen um wissenschaftliche

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406 DA S HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

Funkt ion: gerade die Warnung vor der »Kathederprophetie«, vor der Vermi-

schung von prophet ischer und professoraler Rede eines Zitates der Propheten:

»Schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit« zeige,

daß heute für alle jenen vielen, die auf neue Propheten und Heilande harren, die Lage die gleiche ist, wie sie aus jenem schönen, unter die Jesaja Orakel aufgenom-menen Wächterlied in der Exilszeit klingt: »Es kommt ein Ruf aus Se'ir in Edom: Wächter wie lang noch die Nacht? Der Wächter spricht, es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein anderes Mal wieder.779

Wi r haben schon am Anfang dieser Arbeit gesehen, wie Scholem auf diese U n-

terscheidung zwischen Propheten und Professoren zurückgreift, auch an ande-

ren Stellen verweigert sich Scholem aus intellektueller Redlichkeit gegenüber

der Rolle des »Kathederpropheten«: Seine professionelle Zurückhaltung sei kein

Unverständnis für das Geheimnisvolle der Kabbala und keine Taubheit gegen-

über dem »»Lauschen stiller Musik der Mystik '«, wie er einmal an einen Kritiker

schreibt:

Es hat sich mir jedoch gezeigt, daß solch ein Lauschen etwas Geheimnisvolles an sich hat und nicht Sache des akademischen Studiums im Hörsaal ist. Wir alle haben diese Lehre des Lauschens nicht richtig überliefert bekommen. So ist sie sehr sub-jektiv geblieben und für alle Irrtümer und Mißverständnisse offen. Deshalb bin ich sehr vorsichtig, sie nicht mit den Gegenständen der Forschung zu vermischen. (Br II , 38)780

Hier ist nicht einfache wissenschaftliche Distanz bestimmend, sondern eher die

Überzeugung, daß man dem Gegenstand »Kabbala« besser gerecht werden

könne, wenn man ihn in seiner Fremdheit und Unvermitteltheit zur Gegenwart

darstellt: »Die Entdeckung der historischen Dimension annull iert keineswegs

die Nicht-histor ische, wohl aber verstärkt sie nicht selten die Spannung dieser

anderen Dimension.« (Ebd.)

Um Scholems Hal tung der Distanz richtig einzuschätzen, muß man betonen,

daß sie unter den zeitgenössischen Religionswissenschaftlern äußerst uncha-

und politische Objektivität den Glauben an objektiv wertvolle Zwecke, Einrichtungen und Begriffe als einen Götzendienst und Aberglauben bekämpft.« (Löwith, »Max Weber und Karl Marx«, 368) Weber, Ges. Schriften zur Wissenschaftslehre, 613. - Man beachte, daß auch die Be-tonung des wissenschaftlichen Berufs bei Weber durchaus auch die Funktion eines Zitates der (calvinistischen) Berufsethik hat. Vgl. auch: »Ich neige nicht dazu, Grenzen zu überschreiten und Bereiche zu vermi-schen. Ich behaupte auch nicht, daß ich den nicht-historischen - religiösen und mysti-schen - Inhalt erklären kann, indem ich die geschichtliche Bedeutung von Phänomenen durch die Forschung offenlege. Die Symbole haben sowohl diese Dimension als auch historische Bedeutung. Wenn die Kabbalisten selbst vor dieser Bedeutung die Augen verschlossen haben, sind wir dazu nicht verpflichtet.« (Br II , 37)

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 407

rakterist isch ist. Die Religionsgeschichtl iche Schule wird schon in der Zwi -

schenkriegszeit von einer allgemeinen Religionswissenschaft und besonders von

der Religionsphänomenologie abgelöst, die dabei in der Regel als kontemplative

und intuitive »Wesensschau« begriffen wird. Das führt nicht nur dazu, die Selbst-

ändigkeit der Religion als Seinsbereich eines universalen und transhistorischen

»Heiligen« gegen alle »reduktiven« historischen und soziologischen Fragestellun-

gen abzusichern, sondern läßt nicht selten auch die Erforschung dieses Heiligen

als ein quasi religiöses Tun erscheinen.781 Exemplarisch verwirklicht sich dieses

Projekt etwa in den Eranos-Tagungen, an denen auch Scholem seit 1949 teil-

n immt und in dessen Rahmen viele seiner späteren Essays vorgelesen werden.

Eranos wil l immer mehr sein als bloße Wissenschaft, permanent wird hier ein

doppel ter Diskurs geführt, in dem die vorgetragenen historischen Daten und

wissenschaftlichen Fragen nur der Vordergrund für das sich in ihnen zeigende

»Eigentliche« sein sollen.782 Daher sprechen die Vortragenden immer zugleich in-

nerhalb und jenseits der Wissenschaft oder werden jedenfalls im »Vortragser-

lebnis« in dieser Weise rezipiert.783 Wi r haben schon mehrfach gesehen, daß

Scholem sich durchaus so einer doppelten Sprechweise bedient. Aber in seinem

Zur Kriti k der Phänomenologie vgl. etwa Rudolph (Geschichte und Probleme der Religionswissenschaft, 57ff) und Flasche, der diese Entwicklungen treffend als »Irra-tionalismus« analysiert, darunter ist weniger die Betonung des irrationalen Ursprungs der Religion gemeint als die Hypostasierung des Irrationalen zum Eigentlichen in der Religion und der Religionswissenschaft, die damit zu einer Art esoterischer Teilhabe an der Religion wird (Flasche, »Der Irrationalismus in der Religionswissenschaft«, bes. 248ff). Holz (»ERANOS«) untersucht in m. E. überzeugender Weise den Diskurs der ERA-NOS-Tagungen, d. h. die dem Großteil der Partizipienten gemeinsamen methodischen Voraussetzungen (Konzentration auf Psychologie und Deutung von Mythen, Abwe-senheit von religionssoziologischen Fragestellungen), metaphysischen Orientierungen (Vorstellung einer grundlegenden Entfremdung zwischen Selbst und Welt), kommuni-kativen Strukturen (Trennung zwischen Vortragenden und Zuhörern, initiatorsichere Charaktere) und sozialen Ort (Zuhörer sind politisch enttäuschte bürgerliche Schich-ten). Vgl. dazu: »Insofar Eranos fully removed itself from social reality, it operated by intentional contrast as a paradise of texts, as a veritable world-navel of spiritual herme-neutics. [...] By escaping present society to leap into textual boundlessness, they found themselves at the end of history, free from history's bonds.« (Wasserstrom, »Defeating Evil from within«, 51)

Vgl.: »Die ERANOS-Tagungen sind sozusagen das Reagenzglas, in dem die Substan-zen historischer Forschung zum Elixier einer quasi-religiösen Heilspraxis transfor-miert werden.« (Holz, »ERANOS«, 262) Konstitutiv sei die Atmosphäre der Tagung, die Trennung zwischen »Wissenden« und »Geführten« (ebd., 356) gleichermaßen wie ihr »sakraler« Ort abseits von Städten und Universitäten (ebd., 249ff). Holz interpre-tiert diese Struktur als gnostisch, problematisiert zugleich aber den Sinn einer solchen Parallele (ebd., 260ff).

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408 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

zum Abschied von Eranos gehaltenen Grußwort distanziert Scholem sich: Die Veranstalter hätten »ergriffene Redner« gesucht, »keine Professoren, obwohl sie alle Professoren heißen. Es war sozusagen ein bißchen Schwindel dabei.«784 Of-fensichtlich ist sich Scholem der Zweideutigkeit von Eranos bewußt; er selbst macht von ihr wenig Gebrauch, bleibt distanzierter Professor und bedient sich auch der religionsphänomenologischen Kategorien nur selten.785

Scholem hält die Spannung zwischen historischer und nicht-historischer Di-mension in der Geschichtsschreibung aufrecht, auch wo sein Verhältnis zur Zu-kunft gebrochen ist. Bereits am Ende des ersten Teiles haben wir kurz den Text Memory and Utopia in Jewish History diskutiert, ein Vortrag, den Scholem 1946 noch unmittelbar unter dem Eindruck des Holocaust hält. Der revolutionäre und radikale Gestus seiner Jugend ist hier zurückgenommen, an seine Stelle tritt die Sorge um das jüdische Erbe, damit auch die Frage der Zukunft. Auch Ge-schichte werde in der Gegenwart geschrieben, führt Scholem hier aus, zwischen Vergangenheit und Zukunft. »It is made through a certain mixture of memory and hope.« (PM, 156) Scholem spricht nicht vom »Willen« zur Zukunft oder we-nigstens vom »Glauben« an sie, sondern von »Hoffnung« - ein schwaches Wort und eine schwache »Kraft« zur Gestaltung der Geschichte.786 Aber gerade die Juden haben diese Kraft nötig, denn ihre Geschichte habe etwas Bitteres und Enttäuschendes: »in our consciousness of the past, history constitutes a symbol of constant failure« (ebd., 158). Die Geschichte einer Niederlage müsse man mit Hoffnung, nicht mit Willen schreiben, eine Hoffnung, die das in der Geschichte befreit, was aus der Perspektive des Sieges nicht sichtbar sei: »We are interested in History because therein are hidden the small experiences of human race [...].

Scholem, »Identifizierung und Distanz«, 466. - »Die Identifizierung [...] beruhte viel-leicht - nicht selten - auf einem Irrtum, denn viele von uns - ich muß mich selber dazu zahlen - sprachen gerade aus der Spannung zwischen diesen beiden Polen, also auch aus jener Distanz, die erst wissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht. Tatsächlich bin ich der Meinung, daß jemand, der sich mit seinem Gegenstand völlig identifiziert, ein gewisses wissenschaftliches Maß verliert, ohne daß es Forschung nicht gibt. Ein Gelehrter ist kein Priester; es ist ein Irrtum, danach zu streben, aus einem Gelehrten einen Priester zu machen.« (Ebd.) Dan bezeichnet Scholems Teilnahme an den ERANOS-Tagungen als eine der »schwie-rigsten Fragen seiner Biographie«, Scholem habe hier letztlich »dem Bedürfnis nicht wi-derstehen können, nach den Verheerungen des Krieges wieder eine Art Verbindung zu einem Rest der Kultur seiner Kindheit herzustellen« (Dan, »Gershom Scholem«, 53). Selbst die Hoffnung ist nicht ungefährlich: Gerade die messianische Idee, die größte Verwirklichung der Hoffnung, habe die Juden vergeßlich gemacht, was ihre eigene Geschichte angehe: »that utopia - that concentration upon future action - makes us obliterate the concrete things from our memory. People are in the habit of saying that we remember well. This is not true. We forget more than any other eultured nation.« (PM, 158) Keinesfalls sind für Scholem also die Juden einfach das Volk der Erinnerung!

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DER HISTORIKER UND DIE JÜDISCHE MODERNE 409

Within the historical failures, there is still concealed a power that can seek its cor-rection.« (ebd., 157) Es sei immer möglich, eine andere Geschichte zu erzählen und der Vergangenheit noch einmal anders gerecht zu werden, keine Geschichte könne die letzte sein. Gerade daher sei es auch verkehrt, über den Chronisten zu spotten, der nur die bloßen Tatsachen, bar jeder Erklärung überliefere,

for that chronicler was the only person with a true historical intuition. It is he who holds that, in principle, it is forbidden that anything be lost to the future. And in truth, these petty, insignificant details which he recorded and to which no one paid attention for thousands of years will have or will become at some point significant facts. (PM, 156)

Geschichtsschreibung, die immer fremd ist, kann keinen stabilen Ort finden. Scholem ist skeptisch gegenüber der »Normalisierung« der Erinnerung, die in den religiösen Urkunden nur noch eine nationale Überlieferung sieht; genauso wie eine vollkommene »Normalisierung« des jüdischen Volkes zu seinem Ver-schwinden führen müsse, so würde auch die Normalisierung des Gedächtnis-ses dieses schließlich bedeutungslos machen: »Without its religious problematic, our past wil l be forgotten, would need to be forgotten. Indeed, it is not worthy of being remembered, because the heroism of the Jew is very questionable from an historical viewpoint. The moment the question of religion is not present to the Jewish historian [...] our history wil l become sterile.« (ebd., 161)787

Geschichtsschreibung kann nicht mehr einfach religiös sein oder die Religion ersetzen wollen, aber sie kann sich auch nicht vollkommen von der Religion trennen - sie bleibt von einem religiösen Gedächtnis abhängig. Schreiben über Theologie ist für Scholem wohl eine Möglichkeit, die theologische Dimension in der jüdischen Geschichte präsent zu halten, nicht durch ein halbes Vertrauen oder Schielen nach der »wirklichen« Religion, sondern gerade durch das Ernst-nehmen der Spannung selbst. Gerade 1946 sieht Scholem dieses Problem ver-schärft durch die Katastrophe des Holocaust: Es sei kaum möglich, diesen den kommenden Generationen zu überliefern, ohne auf die religiöse Dimension we-nigstens einzugehen, »without asking the question: Why did such a large part of our people allow itself to be killed? Why did they »sanctify the Name«, as it is called?« Vielleicht, so Scholem gegenüber den Pädagogen, denen er Memory

Vgl.: »The Jewish memory of history is a religious memory. There is no avoiding this; it is an elementary fact of our tradition, and we ask ourselves: Can the historical consciousness of the past alter this fundamental fact? Can everything which Jewish history encompasses in its principal values, all that which it teaches, be stripped of its religious form and Contents? The issue is clear: we are in a far more radical Situation than other nations, as not even the revolutionaries among them denied their past as we have. [...] In this respect, we have entered into a dead end and we cannot but State it explicitly.« (PM, 159)

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410 DAS HISTORIOGRAPHISCHE SCHREIBEN

and Utopia vorträgt, ist es möglich, die offenen Fragen als Fragen zu überlie-fern, sie ernst zu nehmen und die zu einfachen Antworten und zu leichten Ver-mittlungen zu hinterfragen: »Do not avoid, but ask it. I think that this is the only possible way to create a historical connection between ourselves and the previous generations - to deal seriously with the questions that were raised here« (ebd., 162). Wo sie tradiert, schreibt Geschichte Fragen.

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Schluß

Im Frankfurt der sechziger Jahre, erinnert sich Rolf Tiedemann, eilte Scholem ein seltsamer Ruf voraus: »Es war der uneingeschränkter Autorität, ohne daß man so recht hätte sagen können: Autorität wofür.«788 Scholem zu widerspre-chen ist offensichtlich schwierig. »Autorität«, »Charisma«, >Aura< - mit ver-schiedenen Ausdrücken charakterisieren die Interpreten Person und Werk Scholems.789 Er ist ein ausgesprochen »starker« Autor, ohne daß er mit starken Mitteln arbeiten müßte: Nachdem er seine spezifische Schreibweise gefunden hat, bedarf Scholem nicht mehr des Pathos' oder des Appells, und seine Auto-rität muß er explizit gar nicht mehr einsetzen. Scholem muß sich auf nichts mehr berufen, er schreibt jetzt ganz sachlich und einfach, einen lesbaren und überzeugenden, ja geradezu evidenten Stil, ganz objektiv und doch ganz per-sönlich, aber so, daß man die Person dahinter nicht ganz genau zu fassen be-kommt. Tatsächlich haben viele, die ihm begegnet sind, bemerkt, daß man sich mit Scholem oft nicht ausgekannt habe: »Er selbst, sonst keineswegs ver-schlossen, pflegt von seinen wahren Intentionen mit äußerster Zurückhaltung, allenfalls ein wenig geheimnisvoll zu reden« schreibt etwa Adorno über Scho-lem.790 Scholems Taktiken der Selbstverbergung haben wir auf allen Ebenen gesehen: Die Klarheit der Aussagen ist mit einer gewissen Dunkelheit über ihren Autor verbunden. Das gilt für seine Essays, es gilt auch für die Ge-schichtsschreibung, in der die Sachlichkeit geradezu ein methodisches Prinzip

Tiedemann, »Erinnerung an Scholem«, 212. Vgl. Shapira: »A certain Aura enveloped Gershom Scholem, one that inspired distance and awe (though he himself seemed unaware of this).« (Shapira, »The Dialectics of Continuity and Revolt«, XV) Er betont auch Scholems Einsamkeit: »From childhood he became accustomed to live estranged in spiritual detachment from his family. Later in life he found it difficult to locate someone after his own heart, and so he maintai-ned the secret patterns of solitude he had cultivated as a child. [...] On rare occasions this solitude cries out in personal letters. Typically, such letters have not been inclu-ded in his published correspondence.« (Ebd., XVf) Funkenstein sieht das Charisma Scholems im Kairos von Sabbatianismus und Zionismus begründet (Funkenstein, »G. Scholem: Charisma, Kairos ..., 21ff), auch für spätere Generationen »beschwor Scholem das willkommene Bild eines nicht-nur-halachischen, kreativen und dennoch durch-und-durch-authentischen Judentums« (ebd., 27). Adorno, »Gruß an Scholem«, 483. - Nach Gesprächen mit Scholem seien dem Zuhö-rer »hinterher zwar einige historische Fakten klarer, Scholems Meinung aber etwa zur Entwicklung des Staates Israel von der idealistischen Vision zur heutigen Wirk-lichkeit durchaus nicht deutlicher » gewesen (Drews, »Nachwort«, 157).

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412 SCHLUSS

ist, denn als Historiker läßt Scholem die anderen, zitierten Stimmen darstellen, was er sagen will .

Scholems Autorität birgt die Gefahr in sich, daß sein Werk zur bloßen Zita-tenquelle verkommt, die Dunkelheit in der Klarheit führt umgekehrt dazu, hin-ter seinen Texten Geheimnisse der Person zu suchen. Beides bedeutet nicht, Scholem zu lesen. Ich bin der Meinung, daß gerade die esoterischen Thesen Scho-lems nur lesbar gemacht werden können, wenn die Interpretation den Raum eröff-net, in dem sie funktionieren, als punktuelle Aphorismen bleiben sie steril. Diesen Raum - es ist nicht nur ein textueller, sondern auch ein historisch konkreter Hand-lungsraum - hat meine Arbeit nach verschiedenen Seiten ausgeleuchtet.

Rückblick

Im ersten Teil haben wir die »politische Erziehung« analysiert und an den Tage-büchern gezeigt, wie stark und krisenhaft das Streben nach Legitimität beim jungen Scholem ist. Er beginnt als jugendlicher Rebell mit der zeittypischen Sprache, aber spätestens in der Auseinandersetzung mit Martin Buber wird ihm diese vehemente Position und ihr Bekenntnisstil fragwürdig. Die »Askese«, der Scholem seine Äußerungen unterwirft, stabilisiert seine eigene Position und macht auch sein Schreiben breiter und unaufgeregter: Noch die »Altersweisheit« Scholems bleibt von Spannungen und Schärfen durchzogen und enthält einen Grund von Verzweiflung, aber diese werden jetzt im Verborgenen bewahrt. Ich habe mich bei der Darstellung von Scholems Entwicklung vor allem auf die Zeit bis zur Einwanderung konzentriert, eine Untersuchung der späteren Jahre in Palästina und Israel bleibt ein Desiderat; sie hätte auch Scholems Tagespublizi-stik und weitere, noch unveröffentlichte Aufzeichnungen in Betracht zu ziehen. Insgesamt scheint mir Scholems intellektueller »Ethos« von besonderem Inter-esse, weil sich hier nicht nur der Übergang von jugendlicher Radikalität zu einer komplexeren Position beobachten läßt, sondern weil sich hier auch die für die deutsche Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts entscheidende Krise der Vor-stellung einer »geistigen Führerschaft« demonstrieren läßt. Wenn man Scholems Schreiben als »modern« empfindet, so liegt das m. E. wesentlich an dieser Tatsa-che, die eine vergleichende Untersuchung mit anderen politischen Diskursen der Weimarer Zeit verdient.

Im zweiten Teil haben wir vor allem die frühen theroetischen Texte Scholems untersucht, dabei ließ sich ein deutlicher Trend von allgemeinen Problemen (etwa der neukantianisch orientierten Erkenntnistheorie) zu spezielleren Re-flexionen über das Judentum, schließlich über einzelne Bereiche der jüdischen Überlieferung feststellen. Dieser Trend kann als Enttäuschung von der Philo-sophie und von einer sich direkt aussprechenden Theologie verstanden werden.

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SCHLUSS 413

Ich habe nicht versucht, diese Enttäuschung rückgängig zu machen, indem ich nach der Philosophie Scholems »hinter« seiner Historiographie suchte, sondern umgekehrt die esoterischen Aufzeichnungen als Theorie einer exegetischen Pra-xis gelesen habe, die sich vom Theologischen langsam ins Historische verschiebt. Scholem reflektiert über die jüdische Überlieferung, die er sich in derselben Zeit aneignet; dabei ist seine Reflexion zugleich auch der Versuch, sich in die »Tradi-tion« einzuschreiben. Die einflußreichen Thesen über die Tradition werden so als Poetik des eigenen theoretischen Schreibens lesbar. Geistesgeschichtlich be-trachtet steht Scholem dabei zwischen der liberalen Theologie und den antili-beralen Gegenbewegungen der zwanziger Jahre: Zwar betrachtet er jene als fundamental unzureichend, aber er lehnt auch die Versuche ab, sie durch ein »neues Denken« zu überwinden. Der zweite Teil konnte nur der Spur der »Tra-dition« folgen und Scholems außerordentlich reiche Jugendaufzeichnungen damit keineswegs ausschöpfen.791 Hier wäre eine Fülle weiterer Untersuchung zur Geschichts- und Sprachphilosophie, aber auch über Scholems Rezeption der verschiedensten Autoren und Richtungen möglich und nötig. Besonders vielversprechend erschiene es mir, das zentrale Problem der Aneignung der Tra-dition zu vertiefen durch Untersuchung von Scholems Übersetzungs- und Kommentierungspraktiken an konkreten Texten der Tradition.

Wir haben im dritten Teil gesehen, wie Scholem ein Bild der Kabbala als reli-gionsgeschichtlicher Bewegung entwirft; dabei wurde versucht, zugleich die in-nere Struktur von Scholems Projekt aufzuzeigen und dieses Projekt in den wissenschaftsgeschichtlichen Kontext zu stellen. Konstitutiv für Scholems For-schung ist eine bestimmte Art der Lektüre, die eng mit seinem wissenschaftlichen Paradigma verbunden ist: Die Kabbala wird, anders als Scholem selbst das oft suggeriert, nicht einfach »erzählt«, sondern durch ein bestimmtes Set von Fragen und Methoden gelesen, diese Fragen und Methoden folgen dabei weniger aus ge-schichtsphilosophischen Hintergrundannahmen als aus einer bestimmten Logik der Forschung. Dabei habe ich meine Untersuchung auf das methodisch ent-scheidende religionshistorische Paradigma begrenzt und habe den in anderen Hinsichten nicht weniger wichtigen Kontext der jüdischen Geschichtsschreibung ausgeblendet. Auch bleibt es eine Aufgabe, Scholem im Rahmen der For-schungsgeschichte der Kabbala, einschließlich seiner eigenen Schule, zu inter-pretieren; überhaupt bleibt eine problemorientierte Forschungsgeschichte der Kabbala ein dringendes Desiderat. Zugleich wären die Untersuchungen zur kri-tischen Hermeneutik der Bibelwissenschaft und ihrer paradigmatischen Funk-tion für eine »Hermeneutik des Verdachts« auf breiterer Ebene durchzuführen.

In die Forschung einzubeziehen wäre ein mir nicht zugängliches Konvolut »Esote-rica Metaphysica« im Nachlaß, daß vor allem aus Scholems frühesten Aufzeichnun-gen zur Kabbala besteht (vgl. Schäfer, »»Die Philologie der Kabbala««).

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Das Verhältnis von Religion und Geschichte ist dabei an der Wende zum 20. Jahrhunderts einem allgemeinen und bedeutsamen epistemologischen Wandel unterworfen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ist durch die Bibelkri-tik die religiöse Überlieferung historisiert worden, damit verändert sich die Bedeutung von »Religion« radikal. Nichts von dem, was im 20. Jahrhun-dert über Religion gesagt wird, läßt sich verstehen, ohne diese Veränderung zu reflektieren. Zugleich tauchen gegen Ende des Jahrhunderts exegetische Prob-leme und Verfahren auf, die »Die Geschichte«, den Mythos des 19. Jahrhun-derts, untergraben. Wir haben hier nur das relativ isolierte und überschaubare Paradigma der Religionsgeschichte dargestellt, das mit einigen Annahmen des klassischen Historismus bricht. Aber auch bei der Konstitution anderer neuer Disziplinen - Ethnologie, Soziologie, Psychoanalyse - spielt die Beschäftigung mit der Religion eine wichtige Rolle, die zum Symptom der Moderne und zum Supplement des wissenschaftlichen Diskurses wird.

Zugleich wird »Religion« von der anderen Seite der Relation neu bestimmt: Der theologische Epochenbruch löst sie aus dem liberalen, erbaulichen Kontext und macht sie gegen »Kultur« und »Geschichte« stark. Dabei nimmt die antihi-storische Revolution von Dialektischer Theologie, Existentialismus oder »Neuem Denken« die Historisierung nicht einfach zurück - die meisten Ergeb-nisse der historischen Exegese bleiben vorausgesetzt -, macht sie aber durch die andauernde Polemik gegen den Historismus tendenziell unsichtbar. Das trägt entscheidend bei zur Überdeterminierung des Konzepts »Religion«, an dem sich jetzt verschiedene antagonistische Diskurse kreuzen.

Schweigen und Schreiben

Scholem schreibt in verschiedenen Diskurszusammenhängen, die Spannungen innerhalb dieser Zusammenhänge wie auch die Spannungen der Diskurse un-tereinander machen aus dem an der Oberfläche klaren und einfachen Schreiben Scholems ein Kraftfeld, daß gerade deshalb so faszinierend ist, weil es weder in sich einheitlich ist, noch eine klare Position hat gegenüber dem, worüber und wogegen es schreibt. Hugo Bergmann erzählt, Scholems Schüler Jesahjah Tish-by habe seinen Lehrer zu dessen sechzigsten Geburtstag aufgefordert, nach Jah-ren der historischen Analyse eine »Synthese« zu schreiben. Scholem antwortete, »er habe eine Synthese gemacht, als er anfing und nichts wußte. Von Walter Benjamin habe er gelernt, was es heißt zu denken. Er habe gelernt: »Wenn du etwas nicht vollkommen sagen kannst, ist es besser zu schweigen«.«792 Scholems Schreiben entfaltet sich nicht kontinuierlich wie die Fülle einer Rede, sondern wird immer wieder unterbrochen durch Momente des Schweigens. Diese Un-

Bergmann, Tagebücher und Briefe, Bd. II , 264f.

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terbrechung konstituiert die Prägnanz von Scholems Texten - wir haben sie an Scholems frühen Thesensammlungen, an seinen politischen Äußerungen, an sei-nen Unhistorischen Sätzen untersucht -, sie isoliert diese von ihren Kontexten und macht sie zu jenen vollkommen-zitierbaren Sätzen, in denen Scholems Schreibweise zu gipfeln scheint. Sie zerstört die Übergänge zwischen den ver-schiedenen Texten Scholems - über deren Zusammenhang sich Scholem eben ausschweigt -, sie spaltet sein Schreiben in verschiedene Genres, Typen und Schauplätze. Deren Unterschiede sind dem, was Scholem sagen will , nicht äußerlich, sondern produzieren wesentliche Bedeutungseffekte: Im Modus der Andeutung scheinen Scholems Texte über sich hinaus zu bedeuten, und zwar gerade, weil sie an etwas erinnern, was Scholem in einem ganz anderen Kontext »so ähnlich« gesagt hatte. Durch diese Verweise bilden Scholems Texte in ihrer formalen Verschiedenheit einen »intratextuellen« Raum überdeterminierter Äußerungen, seine Thesen werden »dialogisch«, weil sich in ihnen die Stimmen überschneiden, die Scholem zitiert.

Scholems Schreiben ist also ein Spiel von Grenzziehungen und Überschrei-tungen. Beide Momente sind wichtig, denn die Überschreitungen setzen die Grenzen ja auch voraus und bestätigen sie auch immer wieder. Das scheint auch der Schlüssel zu Scholems »Ironie« zu sein, die ja gerade deshalb funktioniert -es ist entscheidend, sich das klarzumachen -, weil sie in ein weitgespanntes und materialreiches Forschungsprojekt eingelassen ist. Seine Kunst ist eine des lan-gen Atems, die nicht auf das aphoristische Paradox hinaus will ; das Essayistisch-Ästhetische ist Scholem genauso fremd wie das emphatische Beschwören des negativen »Anderen«. Scholems Ironie ist daher keine »negative Mystik der gott-losen Zeiten«793 und kein Versuch, alles Gesagte noch einmal ironisch zu über-winden. Sie ist auch nicht »spekulativ«, sie konstruiert keine Systeme, sondern besteht aus einem Taktieren in verschiedenen Registern. Scholems Ironie scheint insgesamt weniger ein Mittel der Darstellung der Welt als eine Positionierung der eigenen Äußerung und eine spezifische Form der Adressierung: Sie ermög-licht es ihm, die tiefe Bedeutung seiner Forschungen zugleich anzudeuten und zu verbergen. Die Behauptung, er sei »eigentlich« ein Kabbaiist, kann Scholem getrost seinen Kommentatoren überlassen, er selbst bleibt immer noch so weit distanziert, daß er entgegnen kann, so habe er das nicht gemeint. Damit wird etwas ausdrückbar, ohne das komplizierte Gefüge von Grenzen und Unter-scheidungen zu zerstören, welches das eigene Schreiben erst möglich macht.

Man kann sich hier an die chassidische Geschichte erinnern, die ich ganz am Anfang dieser Arbeit zitiert habe: Auch dort erzeugt das Schreiben einen Be-deutungsüberschuß und überläßt doch dem Leser die Aufgabe, die Deutung zu vollziehen. Nicht zufällig stellt dieses Zitat den Schluß der Hauptströmungen

Georg Lukäcs, Die Theorie des Romans, 87.

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dar, also den Punkt, an dem Scholem seine Vorlesungen schließt und das Buch seinen Lesern übergibt. Hier hört das direkte Sprechen auf, daher wird die Iro-nie der chassidischen Geschichte - vom Wunder bleibt die Erzählung - bei Scholem nur angedeutet und nicht einfach übernommen. Ironie ist hier also nicht einfach Selbststeigerung oder Potenzierung - das Eintreten des Forschers in das von ihm geschaffene Bild -, sondern zugleich Distanzierung gegenüber jener Reflexion. Sie stellt Relationen zwischen Autor und Text her, aber keine Identitäten, sie ermöglicht Übertragungen, konstituiert aber keinen festen Ort. Daher gibt es auch keinen geheimnisvollen Ironiker, der »hinter« Scholems Tex-ten die Fäden zieht und dem die Interpretation auf die Schliche kommen müßte. Auf die Versuche, die »Geheimnisse seiner Seele« zu enthüllen, antwortet Scho-lem einmal: »Ich bin mir bewußt, daß ich meine eigenen Tiefen nicht verstehe, und ich bin klug genug, das zu akzeptieren« (Br II , 43).

Scholems Schreiben wil l keine Ganzheit bilden, zugleich wil l es mehr sein als nur Schreiben. Seine erste Transzendenz ist dabei eine politische. Scholem be-ansprucht Autorität ja nicht nur für sich selbst, sondern er wil l für die Juden und als Zionist sprechen. Immer wieder betont er, daß sein eigenes Werk ohne die zionistische Selbstbesinnung nicht möglich gewesen wäre.794 Man muß die politische Intention Scholems ernst nehmen, denn sie hat eine konstitutive Funktion für seine Metaphysik des Judentums und für seine Geschichte der Kabbala, die für ihn ja nur als religionsgeschichtliche Bewegung nationaler Be-deutung verständlich wird. Zionismus ist für Scholem nicht ein Denkinhalt, sondern der Ort, von dem aus überhaupt gedacht werden kann. Auch als sich zeigt, daß dieser Ort nicht leicht zu erreichen ist, daß er vielleicht gar kein fester Ort, sondern ein Problem ist, bleibt die politische Situierung für Scholems Schreiben doch wesentlich; sie hat zur Folge, daß in Scholems Texten das Wort »jüdisch« immer mitgedacht ist, ohne daß es ausgesprochen werden muß oder auch könnte: Wenn Scholem »Tradition« sagt, so meint er »jüdische Tradition«, was dabei das »Jüdische« ist, bleibt offen und unbestimmt, aber nichtsdestowe-niger präsent. Es ist zunächst eben der Ort der Äußerung, der Punkt, an den sich das Schreiben stellt und von dem man es nicht vorschnell lösen sollte.

Die zweite Transzendenz ist die der Tradition. Scholem schreibt die jüdische Tradition nicht einfach fort, sondern er kommentiert sie in einem sehr präzisen Sinn: Er schreibt einen Text über einen anderen Text, der ebenfalls präsent ist.

Vgl. etwa: »But one factor was central to the great turnabout that took place in the historical evaluation of those phenomena which are the content of my life's work; more than I brought about this turnabout through my own work, my own work was caused by it. What is this factor? I would define it as our willingness to acknowledge and to recognize all of those forces which vitalized and sustained the Jewish people as a living body throughout the peregrinations of our history.« (PM, 77f)

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Diese Differenz ist wesentlich für Scholems Historiographie, die sich ja nicht damit begnügt, die Kabbala »aufzuwerten« - das hätte auch einfacher geschehen können -, sondern sie verständlich macht gerade durch den Bruch mit ihr. Zu-gleich löst sich die Lektüre nicht völlig vom Text ab, der Kommentar bildet keine stabile Metasprache aus, sondern nimmt den interpretierten Text, teils als Zitat, teils in der Terminologie, wieder auf. Daher weiß man nicht, »was die Kabbala eigentlich ist«, aber man kann sie lesen, d. h. in ihre Sinnproduktion eintreten. Der Kommentar schreibt immer in zwei Texte zugleich, im Text der Quellen und im eigenen Text. Die Überschneidung dieser beiden Texte produ-ziert stets neue Bedeutungen und konstituiert einen »intertextuellen« Raum, der den Diskurs der Tradition ebenso enthält wie den des modernen Kommentars, ohne sie zu identifizieren. Die Rede von »Kommentar« und »Tradition« institu-iert auch ein Schuldverhältnis: Als Kommentar ist das ganze Schreiben ge-bunden an einen anderen »Text«, den es aber niemals erreicht. Scholem stellt das als »Paradox« v o r- in seinen Thesen von 1918 schreibt er: »Geschriebene Tra-dition ist die Paradoxie, in der die jüdische Literatur sich essentiell entfaltet.« (T II , 302) -, das auch sein eigenes Schreiben charakterisiert. Scholem erreicht niemals das erfüllte Medium des göttlichen Wortes, als das die »Tradition« ihm erscheint; in das unendliche und allumfassende Sprechen tritt Scholem nicht ein. Er schreibt nur Texte. Nicht mehr problemlos in der Tradition stehend, bleiben ihm nur noch Fragmente der »Schrift«, die vom Schreiben in Beziehung gesetzt werden, ohne daß die Bruchstellen dabei verschwinden würden. Weil diese Bruchstücke aber doch noch als »Schrift« im emphatischen Sinne zitiert werden, reißt sich das Schreiben auch nicht vollkommen los und bildet keinen eigenen Ort. Scholems Schreiben bleibt immer gebunden an etwas anderes außerhalb seiner selbst, das es doch niemals klar artikulieren kann.

Figuren der Säkularisierung

Handelt es sich um eine »Säkularisierung« jüdischer Tradition? Wenn man dar-unter einfach eine quasi alchemistische »Verwandlung« von etwas Religiösem in etwas Profanes versteht (aus der Kabbala »wird« Kommentar), lassen sich Scho-lems eigenartige Position und seine komplexen Konzepte wie »Tradition« kaum als »Säkularisierung« verstehen. Aber man kann diesen Ausdruck auch komple-xer verstehen. Wir haben am Ende des letzten Teils schon gesehen, daß das Kon-zept einer »Säkularisierung« selber einer bestimmten historischen Konstellation entstammt und nicht ohne weiteres als neutraler Begriff verwendet werden sollte. Der Säkularisierungsbegriff hat eine bestimmte Rhetorik, die man positiv als eine bestimmte Weise »indirekter Darstellung« denken kann: Was sich direkt nicht sagen läßt, läßt sich über den Umweg von »Säkularisierungsfiguren« sichtbar ma-

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chen. Im Zentrum der Diskurse über Säkularisierung stehen »Säkularisierungs-sätze« - »eigentlich« ist die Fortschrittsidee (säkularisierte) Heilsgeschichte, »ei-gentlich« ist der Geist des Kapitalismus (säkularisierte) puritanische Ethik -, die man als Ersetzungsfiguren interpretieren kann. Denn die »Ähnlichkeit« zwischen diesen Ausdrücken bleibt in den Texten meist vage, tatsächlich vollziehen die Texte eine »Übertragung«, ganz wie eine Metapher eine Verbindung zwischen zwei sinnverschiedenen Termini herstellt.795 Diese Figuren werden in den histo-rischen Säkularisierungsdiskursen narrativ entfaltet - so untersucht etwa Max Weber, in welchen konkreten Schritten (»und dann ...<) Richard Baxter die calvi-nistische Moral zur Begründung der Berufsethik verwendet -, umgekehrt ist die Erzählung selbst vielfältig figural gegliedert und verständlich gemacht - wenn Weber etwa betont, daß Baxter »noch« ganz religiös ist, weiß der Leser, was ihn (»schon bald ....<) zu erwarten hat.796 Die »große Erzählung« der Entzauberung der Welt verdankt einen wesentlichen Teil ihrer Plausibilität solchen Figuren (Protestantismus - Kapitalismus, Eschatologie - Geschichtsphilosophie, all-mächtiger Gott - allmächtiger Herrscher...), die als feste Topoi eine erstaunliche Resistenz haben. Als zweigliedrige Figuren leben sie von der Spannung zwischen ihren Termini, daher wird in ihnen nicht einfach das Profane auf das Sakrale re-duziert oder umgekehrt, sondern ein Transfer zwischen beiden Bereichen ein-gerichtet. Von »Säkularisierung« zu reden, impliziert immer, daß ein erster Sinn überschrieben wird durch einen zweiten, aber so, daß der erste noch sichtbar ist. Die Behauptung, die Kunst sei eine Säkularisierung des Heiligen, bedeutet ja nicht nur, daß die Kunst heute das Heilige abgelöst habe, sondern dass man in

Präzise handelt es sich hier weniger um Metaphern als um Vergleiche, das Wort »ei-gentlich« erfüllt dabei aber die Funktion der Differenz von Norm und Abweichung. Diese Differenz hat zur Folge, daß der Figur eine Assymmetrie inhärent ist, in der der ursprüngliche Sinn der eigentliche, der abgeleitete schwächere, uncigentliche ist; so daß »Säkularisierung« doch zur Unrechtskategorie im Sinne Blumenbergs zu wer-den scheint. Das beruht aber nicht nur auf einer primitiven Metapherntheorie, son-dern beschreibt die Dynamik der historischen Diskurse über Säkularisierung nur unzureichend (vgl. nächste Anm.). Die Überlegungen zur »Rhetorik der Säkulari-sierung« beabsichtige ich, an anderem Ort auszuarbeiten. Dieses Zusammenspiel von Figur und Erzählung ist ein wesentliches, fehlt es - gibt es also keine historische Entfaltung -, wird der Säkularisierungsdiskurs formalistisch oder ideologisch: Als bloßer Vergleich bleibt die behauptete »Säkularisierung« belie-big, umgekehrt muß sich der entscheidende Schritt vom Sakralen zum Profanen der Erzählung entziehen, was sich bei Weber als gewaltige Beschleunigung des Erzähl-tempos in dem Moment niederschlägt, wo der Übergang von der noch religiös mo-tivierten Arbeitsethik zum profanen Kapitalismus dargestellt wird. Zumindest bei Weber reicht die Prolepsis über die eigentliche Erzählung in die eigene Gegenwart (»wir«) und drohende Zukunft, der (typologisch) die asketischen Puritaner gegen-übergestellt werden.

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der Kunst noch etwas vom Heiligen sieht. Anders gesagt, ist die Erkenntnis, die diese Diskurse vermitteln, weniger ein »sehen daß ...< - ob die Berufsethik »säku-larisierter Protestantismus« ist, bleibt wohl ewig kontrovers -, sondern ein »sehen als«; ausgesagt wird etwas Neues, das vorher nicht sichtbar war und anders nicht sichtbar gemacht werden kann als durch jene »Übertragung«.

Wir haben am Ende des letzten Teils gesehen, daß Scholem die Rhetorik der Säkularisierung ebenfalls heranzieht, um die eigene Situation darzustellen: Noch die jüdische Reform erscheint als »Rudiment« der »mystischen Zersetzung« des Gesetzes Q III , 269). Auch Konzepte wie »Kommentar« und »Tradition« stehen im Spannungsfeld der »Säkularisierung«, insofern ihre Bedeutung sich aus der Weite und Gegensätzlichkeit ihrer Kontexte speist. Auch hier handelt es sich nicht einfach um einen Nachhall der »wirklichen« religiösen Tradition, die sich in Philologie »verwandelt«, sondern um eine Bedeutung ganz eigener Art. Sie ermöglichen nicht nur, die Kabbala religionsgeschichtlich lesbar zu machen und das Problem des Historismus zu »überwinden«, sie erlauben es Scholem auch, den eigenen Ort und seine Legitimität zu behaupten. So sind diese Konzepte in doppeltem Sinne rhetorisch: Sie sind Tropen, die etwas nicht »eigentlich« Sag-bares durch Verschiebungen, Ersetzungen, Überschreibungen ausdrücken, und sie sind persuasiv, sie wollen für sich einnehmen und Evidenz produzieren.

»Das Erstaunliche jeder vernünftigen Form von Mystik« , belehrt Scholem 1939 Adorno, besteht ja eben in dem rätselhaften Zusammenhang von Tradition und Erfahrung [...]. Daß die jüdische Tradition schon ihrer Benennung nach auf diesen Zusammenhang weist, scheint ihnen entgangen zu sein. Kabbala hießt nämlich auf Deutsch Tradition« (Br I, 275). Auch in dieser Aussage verbinden sich verschiedene Sinnbereiche: Tradition und Erfahrung, Mystik und Geschichte. Denn »Tradition« steht hier auch für Geschichte, Scholem findet es an anderer Stelle »sehr bemerkenswert, daß der Name »Kabbala« [...] von einer historischen Kategorie hergekommen ist. Kabbala bedeutet wörtlich: Tradition.« QM, 22) »Tra-dition« ist hier Geschichte, gesehen als Geschichte der Offenbarung. Auch hier kann man von einer »Säkularisierungsfigur« sprechen, aber sie ist aufs äußerste ver-dichtet in einer Art Formel, die, als Name, das äußerste Maß an Evidenz hat.

»Kabbala heißt Tradition« ist gar keine These mehr, es steht als eine Art Motto an der Schwelle von Scholems Texten, als eine Art Rahmen, der den Leser in die richtige Richtung leitet.797 Alles was gesagt werden wird, suggeriert dieses

In »Lyrik der Kabbala« betont Scholem die »Affinität« der Philologie mit der Kab-bala » die nicht ganz ohne Grund »Überlieferung« heißt« (Tz, 684). Scholem qualifi-ziert die Formel oft, manchmal heißt die Kabbala »wörtlich verstanden: Tradition, nämlich esoterische Tradition« (KS, 120), manchmal »wörtlich »Überlieferung«, näm-lich Überlieferung von den göttlichen Dingen« (KS, 7). Er betont oft, daß Tradition eine historische Kategorie ist, Scholem spricht von der »schon im Namen gelegenen

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Mot to, liegt schon im Namen »Kabbala«. Die Kabbala selbst wäre die Setzung

der Tradit ion, die »wörtlich« das bedeutet, was Scholems Umsetzung in die Ge-

schichte einer myst ischen Tradit ion aus ihr macht. Aber auch »Kabbala heißt

Tradition« ist nicht so einfach, wie es scheint: Nicht nur kann »Tradition« vieles

und disparates bedeuten, die Formel ist auch eine Übersetzung und hat ihre

Evidenz nur als solche.798 Die Rhetor ik der Evidenz findet ihre höchste Steige-

rung und ihren Halt in der Übersetzung, der Unterschied zwischen den Sinn-

bereichen ist hier die Differenz zweier Sprachen, die wiederum die Figuration

der Säkularisierung auf den Plan ruft: »Eigentlich« ist die (jüdische) Tradit ion

Kabbala, »eigentlich« ist die Kabbala Tradit ion. So öffnet der Spalt zwischen

zwei Sprachen einen Raum für die Geschichte der Kabbala - die Tradition wird

Kabbala, die Kabbala wird Tradit ion - , einen Raum auch für die polit ischen,

theologischen und histor ischen Diskurse, von denen wi r in dieser Arbeit ge-

sprochen haben, und einen Raum, in dem sich Scholems Schreiben entfalten

kann.

Verbindung mit einer historischem Kategorie (K. = das durch Tradition Empfan-gene)« (Sholem, »Kabbala«, 631) vgl. ähnlich: Sholcm, »Philosophy and Jewish My-sticism«, 391; »Kabbala«, 631, hier wird definiert »(Kfabbala] = das durch Tradition empfangene)« (ebd.), vgl. ähnlich: Es »bedeutet ja das hebräische Wort Kabbala eben »Empfangen der Tradition«« (Gb, 106), der Ausdruck Kabbala bedeute »something handed down by tradition« (KL, 3), breiter zur Terminologie vgl. ebd., 6f, hier gibt es diese »wörtliche« Eindeutigkeit nicht mehr.

798 Nur anmerken kann ich, daß die Formel daher auch nicht ohne weiteres rücküber-setzbar ist. In der hebräischen Ausgabe seiner Aufsätze übersetzt Scholem »die Kab-bala, wörtlich »Überlieferung«, nämlich Überlieferung von den göttlichen Dingen« (KS, 7) mit BTTOO! WtrhKl DWJK1 rtop I3"n rfrnpn, was rückzuübersetzen wäre »die Kabbala, das heißt der Empfang (kabbalath) der göttlichen und überlieferten (ume-sirtim) Dinge«. Wie oben erwähnt (Kap. 2.1.), hat das Hebräische zwei Termini für Tradition, Kabbalah und Massorah; in der Übersetzung muß Scholem den Begriff der Tradition als Gegebenes (mesirtim) ergänzend hinzuziehen. - Zur Mehrsprachigkeit Scholems vgl. die Antwort auf Georges Lichtheims Bemerkung, Scholem würde auf Englisch viel verständlicher sein, antwortet Scholem: »Im übrigen würde ich sagen, dass meine Meinungen in allen Sprachen viel rationaler klingen, als sie in Wirklich-keit sind.« (Br II , 193)

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Literaturverzeichnis

1. Scholems Werke nach Sigeln 421 2. Sonstige Werke Scholems 422 3. Unveröffentlichte Quellen 423 4. Literatur zu Scholem 423 5. Allgemeine Literatur 431

1. Nach Sigeln zitierte Werke Scholems

Br Briefe, 3 Bde, hg. von I. Shedletzky und T. Sparr, München 1994,1995,1999. Brw Walter Benjamin, Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-40, hg. von G. Scholem,

Frankfurt/M. 1980. Eng Walter Benjamin und sein Engel. Vierzehn Aufsätze und kleinere Beiträge, hg.

von R. Tiedemann, Frankfurt/M. 1983. Gb Über einige Grundbegriffe des Judentums, Frankfurt/M. 1970. J Judaica (Bd. I-VI )

Bd. I, Frankfurt/M. 1963. Bd. II , Frankfurt/M. 1970. Bd. II I (Studien zur jüdischen Mystik), Frankfurt/M. 1970. Bd. IV, hg. v. R. Tiedemann, Frankfurt/M. 1984. Bd. V (Erlösung durch Sünde), hg. und aus dem Hebr. von M. Brocke, Frank-furt/M. 1992. Bd. VI (Die Wissenschaft vom Judentum), hg. und aus dem Hebr. von P. Schäfer, Frankfurt/M. 1997.

JJC Onjews and Judaism in Crisis, hg. von W Dannhauser, New York 1990. JM Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M. 1967. Kl Kabbalah, Jerusalem 1974. KS Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt/M. 1973. MG Von der Mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der Kab-

bala, Frankfurt/M. (3. Aufl.) 1991. MI The Messianic Idea in Judaism and Other Essays on Jewish Spirituality, New

York 1972. PM On the Possibility ofjewish Mysticism in our Time and other Essays, hg. von A.

Shapira, Philadelphia 1997. SZ Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, aus dem Hebr. von A. Schweikhart, Frank-

furt/M. 1992. T Tagebücher nebst Aufsätzen und Entwürfen bis 1923 (Bd. I-II )

Bd. I, hg. von K. Gründer und F. Niewöhner, Frankfurt/M. 1995. Bd. II , hg. von K. Gründer, H. Kopp-Oberstebrink und F. Niewöhner, Frank-furt/M. 2000.

UA Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962. VBJ Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Ausgabe, aus dem

Hebr. von M. Brocke und A. Schatz, Frankfurt/M. 1994. WB Walter Benjamin - Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt/M. 1975.

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422 LITERATURVERZEICHNIS

2. Sonstige Werke Scholems

»Bekenntnis über unsere Sprache«, Brief an F. Rosenzweig vom 26.12. 1926, zitiert nach: S. Moses, Der Engel der Geschichte. Franz Rosenzweig - Walter Benjamin - Gers-hom Scholem, Frankfurt/M. 1994, 215-217.

Das Buch Bahir. Em Schriftdenkmal aus der Frühzeit der Kabbala auf Grund der Kriti-schen Neuausgabe von Gerhard Scholem, Leipzig 1923 (Nachdruck Darmstadt 1980).

Die Geheimnisse der Schöpfung. Em Kapitel aus dem kabbalistischen Buch Sohar, Frank-furt/M. 1992.

Du frankisme au jacobinisme. La vie de Moses Dobrushka alias Franz Thomas von Schönfeld alias Junius Frey, Paris 1981.

»Ein verschollener jüdischer Mystiker in der Aufklärungszeit: E. J. Hirschfeld«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 7 (1962), 247-278.

»Franz Rosenzweig und sein Buch »Der Stern der Erlösung«. Worte des Gedenkens, ge-sprochen am dreißigsten Tag nach seinem Tode an der Hebräischen Universität zu Je-rusalem«, aus dem Hebr. von M. Brocke, in: F. Rosenzweig, Der Stern der Erlösung, Frankfurt/M. 1993, 525-549.

»Identifizierung und Distanz. Ein Rückblick«, in: Eranos-Jahrbuch 48 (1979), 463-467. Jewish Gnosticism, Merkabah Mysticism and Talmudic Tradition, New York (2. verb.

Aufl.) 1965. »Judaism«, in: A. Cohen/P. Mendes-Flohr (ed.), Contemporary Jewish Religious

Thought, New York-London 1987, 505-508. »Kabbala-Forschung und jüdische Geschichtsschreibung in der Universität Jerusalem«,

in: Der Morgen 13 (1937/38), 26-31. Art . »Molitor«, in: Encyclopedia Judaica, Bd. XII , Sp. 227f. »Mysticisme et societe: un paradoxe createur«, in: Diogene 58 (1967), 3-28. »Nach der Vertreibung aus Spanien. Zur Geschichte der Kabbala«, in: Almanach des

Schocken Verlags auf das Jahr 5694 (1933/34), 55-70. »Philosophy and Jewish Mysticism«, in: The Review of Religion 2 (1938), 385-402. »Politik der Mystik. Zu Isaac Breuers »Neuem Kusari««, in: Jüdische Rundschau 57

(17.7.1934), lf . »Quelques Remarques sur le mythe de la peine dans le judaisme«, in: Le mythe de la

petne (Actes du colloque organise par le Centre International d'Etudes Phdosophique de Rome 7.1.1967), Paris 1967, 135-64.

Rezension von Ysander, Studien zum Bestschen Hasidismus, in: OLZ 38 (1935), 441-443. Und alles ist Kabbala. Gershom Scholem im Gespräch mit Jörg Drews, München 1980. »Über einen Roman von S. J. Agnon«, in: Neue Rundschau 76 (1965), 327-333. »Zionism - Dialectic of Continuity and Rebellion. Interview with Gershom G. Scho-

lem«, in: E. Ben-Ezer (Hg.), Unease in Zion, New York 1974, 263-296. »Zum Verständnis des Sabbatianismus. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der »Auf-

klärung««, in: Almanach des Schocken Verlags auf das Jahr 5697 (1936/37), 30-42. »Zur Frage der Entstehung der Kabbala«, in: Korrespondenzblatt des Vereins zur

Gründung und Erhaltung einer Akademie für die Wissenschaft des Judentums 9 (1928), 4-26.

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LITERATURVERZEICHNIS 423

3. Unveröffentlichte Texte Scholems aus der Handschriftensammlung der

National- und Universitätsbibliothek der Hebrew University Jerusalem

»Die 3 Teile des Systems der Lehre der Philosophie des Judentums oder über das Wesen des Messianismus« (1918) »Bemerkungen über Hebräisch und Hebräischlernen« »Der Zionismus wird seine Katastrophe überleben« (1924) »Dasselbe wie stets« (1925) »Die Verzweiflung der Siegenden« (1926) »Der Prozess von Kafka« (1926) »Heute, vor 3 Jahren ...« (1926) »Konsolidierung« (1928) »Nach fünfzehn Jahren: Selbstbetrug?« (1930-31) »Um was geht der Streit?« (1930) »Schwindel der Revolutionen« (1938). »Discussion« (1974)

Are 4° 1599/277-1, Nr. 22 - 2 S. Hand schrift.

Are 4° 1599/277-1, Nr. 25 - 3 S. Typoskript. Are 4° 1599/277-1, Nr. 52 - 2 S. Typoskript.

- Are 4° 1599/277-1, Nr. 54 - 2 S. Typoskript. - Are 4° 1599/277-1, Nr. 57 - 2 S. Typoskript.

- Are 4° 1599/277-1, Nr. 58- 1 S. Typoskript. - Are 4° 1599/277-1, Nr. 60 - 1 S. Typoskript. - Are 4° 1599/277-1, Nr. 69 - 1 S. Typoskript. - Are 4° 1599/277-1, Nr. 72 - 7 S. Typoskript.

- Are 4° 1599/277-1, Nr. 73- 8 S. Matrize - Are 4° 1599/277-1, Nr. 88 - 3 S. Typoskript

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PERSONENREGISTER

Achad Ha'am, 48f Adorno, Theodor W, 172, 411, 419 Agnon, Shmuel J., 140ff Alter, Robert, 15f, 80,126ff, 131f, 139f,

197,226,295,341 Althusser, Louis, 13,18,151 Altmann, Alexander, 252, 255f Arendt, Hannah, 43f, 54,116f

Baioni, Guiliano, 34, 63, 239 Barth, Karl, 233ff, 252 Benjamin, Walter, 18ff, 29, 61, 72, 79ff,

89,109ff, 149,166,170f, 173,191f, 198ff, 206ff, 211, 217f, 257ff, 279f, 287f, 327, 361f, 379

Bergmann, Hugo, 76, 78, 113,148, 243, 259, 386

Bernfeld, Siegfried, 89 Biale, David, 13f, 46, 57, 104f, 108f, 163,

197, 251, 268, 281, 287, 295ff, 304, 315, 321f, 328f, 351,390,393

Bialik, Chaim Nachman, 127ff Bloch, Ernst, 98, 173, 187f, 231 Bloom, Harold, 20, 24, 73, 272, 356f,

358 Blumenberg, Hans, 150, 371, 395 Bourdieu, Pierre, 24, 35ff, 61 Bousset, Wilhelm, 305f, 31 lf, 347ff, 368 Brocke, Michael, 100, 239, 249 Buber, Martin, 63ff, 73ff, 232, 250, 256f,

320f

Cassirer, Ernst, 300, 326f Certeau, Michel de, 299, 301f Cohen, Hermann, 163ff, 198f, 219,

232f, 250, 319f, 323 Colpe, Carsten, 330, 346

Dan, Joseph, 14f, 315, 340, 352, 361 Dostojewski, Fjodor, 400

Eliade, Mircea, 326f, 341, 361

Franck, Adolphe, 185f, 304, 324, 356 Frege, Gottlob, 177 Funkenstein, Arnos, 295, 297, 411

Goetschel, Willi , 13, 31, 59, 148,175 Goldberg, Arnold, 157ff, 288 Graetz, Heinrich, 315ff, 322, 353f, 365f,

402 Gressmann, Hugo, 305, 309f, 368 Gunkel, Hermann, 305, 309ff, 325, 369

Hamacher, Elisabeth, 13,16, 73f, 148, 262, 268, 280f, 304, 314, 321ff, 328, 338, 358, 360

Handelman, Susan, 19f, 80, 272 Harnack, Adolf v., 236f, 331, 346f Harshav, Benjamin, 34,125ff, 131ff Hirsch, Samson Raphael, 188ff, 212,

232f, 243ff

Idel, Moshe, 15, 116, 186, 191,260,274, 304, 327f,340f,351,360f

Jabotinski, Vladimir, 106ff Jonas, Hans, 304, 324, 349ff, 398

Kafka, Franz, 34, 226, 257ff Kant, Immanuel, 163ff, 197ff, 204, 248 Kierkegaard, Sören, 86f, 199, 227, 239ff Kilcher, Andreas, 17f, 148, 174, 178ff,

183, 358, 397, 389, 400f Klausner,Joseph, 105, 108

Löwy Michael, 35, 63 Lübbe, Hermann, 235, 393

Mattenklott, Gert, 56, 89f, 150, 235, 296 Mauthner, Fritz, 67, 177 Mendes-Flohr, Paul, 35, 63ff, 257, 262 Menninghaus, Winfried, 174, 191, 197ff Molitor, Franz J,180ff, 271

Page 443: Gershom Scholem Politisches, Esoterisches Und Historiographisches Schreiben

444 PERSONENREGISTER

Moses, Stephane, 16f, 56, 136, 257, 261f, 268, 373

Myers, David, 104, 108, 128, 298, 366f, 377

Neusner, Jacob, 156ff, 272 Nietzsche, Friedrich, 25, 59f, 65f, 295f,

397, 400, 404 Novalis, 178f

Ricoeur, Paul, 154, 240, 300 Rosenzweig, Franz, 99f, 173, 233f, 238f,

249f, 256f, 259, 319 Rotenstreich, Nathan, 128f, 158, 174f,

248, 329

Schäfer, Peter, 280, 289 Schlegel, Friedrich, 203ff, 277 Schmidt, Christoph, 16f, 391, 393f, 399 Schoeps, Hans-Joachim, 251 ff Schulte, Christoph, 180f, 184, 259 Schweid, Eliezer, 14, 51f, 243f, 250, 264,

328f, 390 Schweitzer, Albert, 367f, 369

Shapira, Avraham, 16f, 74, 411 Simon, Ernst, 65, 113, 243, 268f Steinheim, Salomon L., 247ff, 252 Strauss, Leo, 43ff, 49, 335, 404f

Tal, Uriel, 43f, 232 Taubes, Jacob, 231, 370,382, 390 Troeltsch, Ernst, 298, 305, 330ff, 391ff,

403ff

Volkov, Shulamit, 33, 43f, 51,117

Weber, Max, 63, 172, 312f, 326, 403ff, 418f

Weigel, Sigrid, 22,116,122, 148,192, 200 Wellhausen, Julius, 300, 305ff, 314,

319ff, 326 White, Hayden, 298 Wiener, Max, 158,244,246 Wiener, Meir, 333 Wohlfahrt, Irving, 15, 18f, 80,110,114,

136f, 259,262, 341

Yerushalmi, Joseph H., 294

Page 444: Gershom Scholem Politisches, Esoterisches Und Historiographisches Schreiben

SACHREGISTER

absolute Begriffe, 70f, 150 Anarchismus, Scholems, 59f, 93f, 262f,

267f Apokalyptik, 256f, 367ff, 376ff Askese, 89ff, 99f,121f, 404ff Assimilation, 41ff, 112,119f Atheismus, Scholems, 67f, 242f Aufschub, 216ff Autobiographie, 30f

Bibel, Scholem über die B., 187f, 262ff, 262f,314f

Brit Shalom, 104f, 108f

Chassidismus, 77ff

Dämonisches, 75t, 87, 242, 399f, 405f Deutbarkeit, 253f, 286f Dialektik, 167, 240ff

historische D., 47f, 218f, 295f, 321ff, 364, 370ff, 385ff,

Dichtungstheorie, 128ff, 140ff, 195f

Eranos, 407f Erfahrung, 152f, 166f, 172f, 189f, 198

mystische E., 334ff, 419 Erfüllung, 199f, 209, 254f, 273, 396 Erkenntnistheorie, 165ff, 190f, 198ff Esoterik, 22, 94f, 98ff, 113f, 148ff,

183ff, 205, 287ff, 379ff, 400f, 411 Ethos, 23f, 59f, 66ff, 404ff Exil,51f,259f,376ff

Fabel, 298, 342f, 355f, 364ff Fragment, 203ff Frankismus, 355, 359ff,

Gedächtnis, 53f, 408ff Geschichtsschreibung, 281 ff, 292ff Gnosis, 324, 346ff, 351ff, 374f

Halacha, 129ff, 156, 246f, 325ff

Haskalah, 393f Hebräische Sprache, 124ff

Scholem über H. S., 105f, 183f, 133ff, 140ff, 219ff

Hermeneutik, historische, 227, 295f, 306ff,318ff,333, 337, 358f

Historismus, 295ff, 403ff

Identität, jüdische, 29f, 33ff, 41ff, 49ff, 115ff

Ironie, 141f, 167, 205, 215, 227f, 241ff, 283,289, 396, 415f

Jugendbewegung, 56ff, 61 ff, 72f, 88ff

Kabbala Bestimmung der K., 322f, 355f, 333ff, 357f Entwicklung der K , 174f, 342f, 355f, 360, 364ff, 389f, 396 K. und Gnosis, 324, 345f, 354f K. und Neuplatonismus, 356ff K. und Tradition, 180ff, 419f, 335ff Wirkung der K , 375ff, 386f

Kanaaniter, 118f Kommentar, 156ff, 185, 201ff, 209,

271ff,278f, 339,417

Marxismus, Sozialismus, 59, 92f, 97f, 172f

Mathematik, 165f, 176ff Medium, 198ff, 206ff, 22f, 253f, 260,

265, 284f, 327, 336 Messianismus (s.a. Apokalyptik), 97ff,

150, 108f, 120f, 149f, 217ff, 369ff Methode, historisch-kritische, 306ff,

314ff,337,339f Mißverständnis, produktives, 358f, 372,

379ff Mystik, 64f, 74f, 203ff, 322ff, 330ff Mythos, 66f, 150,188, 216, 306ff, 319ff

Nichts der Offenbarung, 254, 257ff, 378

Page 445: Gershom Scholem Politisches, Esoterisches Und Historiographisches Schreiben

446 SACHREGISTER

Nihilismus, 85, 242f, 398ff

Offenbarung, 212, 226, 238, 247ff, 262ff, 266ff, 322

Orthodoxie, 188f, 243ff, 262f

Pädagogik, 61 ff, 133f, 206ff Pantheismus, 323f, 334f Paradigma, 299ff, 304, 337ff Paradox, 204f, 240f, 335ff, 382f Philologie, 275, 277ff, 337 Politik, 34ff, 44ff, 92ff, 106ff, 296f, 336,

373, 400f Potenzierung, 167ff, 87f, 202

Religionsgeschichte Paradigma der R., 304ff, 347ff, 367ff Scholem und die R., 304, 314f, 325f, 339ff, 344f

Revision, 24, 77ff, 122f, 296f, 353f, 394 Rhetorik, 66f, 89f, 154,158f, 285ff,

396f, 407f, 414ff

Sabbatianismus, 108, 121 f, 137, 364ff, 380ff

Säkularisierung, 136ff, 174, 391ff, 417ff Schreiben, 21ff, 36ff, lOlff , 121ff, 158ff,

286ff, 414ff Schrift, 159f, 179f, 208f, 264f, 272f, 397 Schweigen, 76, 87ff, 179f, 193f, 207f,

414f

Skepsis, 67f, 77f, 85f Sprachtheorie, 95ff, 127ff, 133ff, 174f,

177ff, 192ff,250 Symbol, Symbolik, 174ff, 203f, 244f,

293f, 360ff

Tagebücher, 31 ff, 147ff Theologie

Scholems Konzept von T, 173, 230ff, 238f dialektische T, 213ff, 252f, 368 mystische T, 260f, 265f, 268 negative T, 268f, 374ff

Tradition rabbinische T, 154ff, 270ff Scholems Theorie der T, 47f, 123f, 142f, 152ff, 180ff, 204ff, 221ff, 241, 256, 262, 286, 416f

Ursprung, 167f, 192, 195, 343ff

Wert, 296,400f, 404ff Wissenschaft des Judentums, 294ff,

353f, 402f

Zionismus, 46ff, 69ff, 91ff, 105ff, 11 Off, 115ff Messianismus und Z., 92, 97ff, 120f, 137f

Zitat, zitieren, 160ff, 284, 287ff, 302