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Leseprobe aus: Vladimir Nabokov Gesammelte Werke. Band 13: Erzählungen 1921 - 1934 Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Leseprobe aus:

Vladimir Nabokov

Gesammelte Werke. Band 13: Erzählungen1921 - 1934

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Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Vladimir NabokovErzählungen1921–1934

Aus dem Englischen vonGisela Barker, Jochen Neuberger,

Blanche Schwappach, Rosemarie Tietze,Thomas Urban, Marianne Wiebe und

Dieter E. Zimmer

Rowohlt

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Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

1. Auflage Juni 2014Copyright © 1966, 1983, 1989, 2014 by

Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei HamburgCopyright © 1989, 2006 by Vladimir Nabokov

Veröffentlicht im Einvernehmen mitThe Estate of Vladimir Nabokov

Alle deutschen Rechte vorbehaltenSchutzumschlag- und Einbandgestaltung

von Walter HellmannSatz Janson PostScript, InDesign

Gesamtherstellung CPI books GmbH, LeckPrinted in Germany

ISBN 978 3 498 04651 4

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Inhalt

jugendwerke 1921–1924(In russischer Sprache)

Geisterwelt (1921) 11Das Wort (1923) 17Der Schlag des Flügels (1923) 24Klänge (1923) 59Hier wird Russisch gesprochen (1923) 78Götter (1923) 94Rache (1924) 108Güte (1924) 120Die Hafenstadt (1924) 129Der Kartoffelelf (1924) 140Zufall (1924) 178Einzelheiten eines Sonnenuntergangs (1924) 194Das Gewitter (1924) 206Natascha (1924) 212Die Venezianerin (1924) 231Der Drache (1924) 279Bachmann (1924) 289Weihnachten (1924) 305Ein Brief, der Russland nie erreichte (1924) 317

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erzählungen 1925–1934(In russischer Sprache)

Osterregen (1925) 327Die Schlägerei (1925) 339Tschorbs Rückkehr (1925) 350Berlin, ein Stadtführer (1925) 365Das Rasiermesser (1926) 375Ein Märchen (1926) 381Entsetzen (1926) 404Der Mitreisende (1927) 416Die Klingel (1927) 427Ein Ehrenhandel (1927) 445Eine Weihnachtserzählung (1928) 488Pilgram (1930) 498Kein guter Tag (1931) 520Ein beschäftigter Mann (1931) 538Terra incognita (1931) 558Das Wiedersehen (1931) 572Mund an Mund (1931) 587Meldekraut oder Unglück (1932) 611Musik (1932) 625Vollkommenheit (1932) 636Ein flotter Herr (1932) 656Die Nadel der Admiralität (1933) 673Der neue Nachbar (1933) 693Der Kreis (1934) 711Die Benachrichtigung (1934) 731Eine russische Schönheit 1934) 742L. I. Schigajew zum Gedenken (1934) 750

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anhang

Bibliographische Nachweise 767Einzelnachweise 771Sämtliche Erzählungen inchronologischer Reihenfolge 797

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JUGENDWERKE

1921–1924

(In russischer Sprache)

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Geisterwelt

Ich zog gedankenverloren mit der Feder den zittern-den runden Schatten des Tintenfasses nach. In einemfernen Zimmer schlug die Uhr, und mir Träumerwollte es scheinen, als klopfe wer an die Tür – erstleise, dann immer lauter; er klopfte zwölfmal hinter-einander und verharrte erwartungsvoll.

«Ja, ich bin da, treten Sie ein . . . »Die Türklinke knarrte schüchtern, die Flamme der

tränenden Kerze neigte sich, und seitwärts tauchte eraus dem Rechteck der Finsternis – grau, gebeugt, be-sät mit dem Blütenstaub einer frostigen Sternennacht.

Ich kannte sein Gesicht – oh, ich kannte es lange!Das rechte Auge lag noch im Schatten, das linke sah

scheu mich an, länglich und rauchgrün, und rot diePupille, ein rostiger Tupfer . . . Dies moosgrüne Haar-büschel an der Schläfe, die blässlich silbrige, kaumsichtbare Braue, und erst das lächerliche Fältchen amschnurrbartlosen Mund – wie rüttelte, wie wühlte dasalles mein Gedächtnis auf!

Ich erhob mich – er schritt näher.Das dünne Mäntelchen war nicht nach rechts ge-

knöpft, sondern auf Frauenart; in der Hand hielt erdie Mütze – nein, ein dunkles, ungefüges Bündel, eineMütze hatte er überhaupt keine . . .

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Ja natürlich, ich kannte ihn, hatte ihn wohl gar ge-liebt – nur fiel mir einfach nicht ein, wo und wannwir uns begegnet waren, dabei waren wir uns sicheroft begegnet, sonst hätten sich diese preiselbeerro-ten Lippen mir nicht so fest eingeprägt, die spitzenOhren, der spaßige Adamsapfel . . .

Unter Willkommensgemurmel drückte ich seineleichte, kalte Hand, griff ich zur Lehne des alters-schwachen Sessels. Er ließ sich nieder wie eine Krä-he auf einen Baumstumpf und fing überstürzt an zusprechen.

«Grausig, draußen auf den Straßen. Darum kommich auch rein. Komm dich besuchen. Erkennst mich?Haben wir zwei doch so manchen lieben Tag herum-getollt, uns im Wald getummelt . . . Dort – in der Hei-mat . . . Hast es doch nicht vergessen?»

Seine Stimme blendete mich förmlich, mir flim-merte es vor den Augen, schwindelte der Kopf; ichentsann mich des Glücks – vibrierenden, maßlosen,unwiederbringlichen Glücks . . .

Nein, unmöglich! Ich bin allein. Alles nur ein bi-zarres Hirngespinst! Doch neben mir saß tatsächlichjemand – knochig, linkisch, an den Füßen deutscheStiefelchen, und seine Stimme tönte, rauschte, golden,saftig grün, vertraut, und was er sagte, war so schlicht,wie die Leute reden . . .

«Siehst du, entsinnst dich noch . . . Ja, ich bin’s, derWaldgeist von früher, der neckische Schalk. Auch ichhabe flüchten müssen . . . »

Er seufzte tief, und erneut war mir, als sähe ichziehende Wolken, hoch wogendes Laub, Birkenrin-

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de, schimmernd wie Schaumspritzer, und über allemein ewiges, wonniges Tosen . . . Er neigte sich zu mir,schaute mir sanft in die Augen.

«Weißt du noch, unser Wald, die schwarzen Tan-nen, weißen Birken? Alles haben sie abgeholzt . . . Einsolches Leid, unerträglich, vor meinen Augen krach-ten, stürzten die Birken – doch wie sollt ich helfen?In den Sumpf haben sie mich gescheucht, geheult habich, geplärrt, wie die Rohrdommel geröhrt – und dannHals über Kopf in den nächsten Forst.

Dort war mir so weh zumut, das Schluchzen nahmkein End . . . Gerade wollt ich mich eingewöhnen –schwupp! war der Forst weg, nur noch graue Asche.Musst ich also wieder auf Wanderschaft. Hab mir einschönes Wäldchen gesucht, ein dichtes, dunkles, fri-sches – aber irgendwas war nicht geheuer . . . Oft habich gespielt vom Abendrot zum Morgenrot, grimmiggepfiffen, in die Hände geklatscht, Leute erschreckt . . .Weißt ja selbst: In meinem Dickicht hast du dich einstverirrt, du und ein weißes Kleidchen, und ich habdie Pfade zu Knoten geschlungen, die BaumstämmeKarussell fahren lassen, hab durchs Laubwerk geirr-lichtert – die ganze Nacht dich gefoppt. Aber war jaalles nur Spaß, zu Unrecht haben die Leute mich an-geschwärzt . . . Nun jedoch wurd ich zahm, war keinefröhliche neue Heimstatt. Tag und Nacht ringsumein Knacken. Erst denk ich, einer von den Unsern,ein Bruder Waldgeist treibt sein Wesen, hab gerufen,gelauscht. Das knackt sich eins und rattert – nein,unsre Art ist das nicht. Eines Abends komm ich aufeine Lichtung gesprungen, seh, da liegen Menschen

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– auf dem Rücken, auf dem Bauch. Oho, denk ich, dieweck ich auf, denen mach ich Beine. Also, die Zweigegeschüttelt, mit Zapfen geschmissen, geraschelt, ge-blökt . . . Eine volle Stunde hab ich mich abgeplagt –alles umsonst. Und wie ich näher hinseh, steh ich starrvor Schreck. Beim einen hängt der Kopf nur noch aneinem roten Fädchen, beim nächsten ist der Bauch einHaufen dicker Würmer . . . Das ging über meine Kraft.Mit Gebrüll bin ich auf und davon . . .

Lang hab ich die Wälder durchstreift, da und dort,doch nirgends war’s ein Leben. Mal Stille, alles aus-gestorben, todlangweilig, dann wieder solch ein Grau-en, ich denk lieber nicht dran zurück. Schließlich habich mich aufgerafft, in ein Bäuerlein mich verwandelt,einen Vagabunden mit Schnappsack, und bin fort fürimmer: Leb wohl, altes Russland! Mein Bruder, derWassergeist, kam mir da zu Hilfe. Hat sich auch in Si-cherheit gebracht, der arme Tropf. Nicht genug wun-dern konnt er sich: Was für Zeiten, sagt er, ein Elend!Schon wahr. Obwohl, er hat einiges ausgeheckt früher,Menschen angelockt, arg gastfrei war er, doch wie hater sie dafür gehätschelt, liebkost auf seinem güldenenGrund, mit was für Liedern eingelullt! Heutzutag,sagt er, kommen bloß noch Leichen geschwommen,schockweis, massenweis, und das Wasser im Fluss –wie flüssiges Erz, dick, warm und klebrig, den Atemverschlägt’s einem . . . Er hat mich dann mitgenom-men. Nun kümmert er in einem fernen Meer dahin,mich hat er unterwegs an einem neblichten Ufer abge-setzt: Geh, Bruder, such dir ein Strauchwerk. Nichtshab ich gefunden, und so kam ich hierher in diese

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fremde, schreckliche, steinerne Stadt. Siehst du, binnun ein Mensch worden – steife Kragen, Stiefelchen,alles, was dazugehört, sogar zu reden wie sie hab ichgelernt . . . »

Er verstummte. Seine Augen glänzten wie feuchteBlätter, die Arme hielt er verschränkt, und im schwan-kenden Widerschein der zerschmolzenen Kerze glim-merten aufs seltsamste die fahlen, nach links gekämm-ten Haare.

Die helle Stimme ertönte von neuem: «Ich weiß,auch dir ist weh zumut, deine Wehmut aber – gegenmeine unbändige, stürmische ist sie nichts als dasgleichmäßige Atemholen eines Schlafenden. Bedenkdoch: Aus unserm Stamm ist keiner mehr in Russland.Die einen stiegen auf als Nebelschwaden, die andernsind verstreut über die ganze Welt. Die heimischenFlüsse sind voll Trübsal, keines Necks schalkhafteHand verspritzt Mondenflitter, verwaist, verstummtsind die Glockenblumen, die noch nicht abgemähten,vordem des leichten Flurgeists, meines Nebenbuhlers,blaues Glockenspiel. Der struppige, gutmütige Haus-geist hat weinend dein entehrtes, besudeltes Haus ver-lassen, und es verdorren die Haine, die lieblich lich-ten, zauberisch düsteren Haine . . .

Doch wir, Russland, sind dein Schöpfergeist, deineunfassliche Schönheit, Zauber aus Jahrhunderten . . .Und sind nun alle fort, sind fort, vertrieben von demwahnsinnigen Landmesser.

Freund, ich sterbe bald, sag mir etwas, sag, dass dumich liebst, das heimatlose Gespenst, rück näher, gibmir deine Hand . . . »

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Zischend verlosch die Kerze. Kalte Finger berühr-ten die meinen, das traurige, vertraute Lachen klangauf und erstarb.

Als ich das Licht anzündete, saß niemand mehr imSessel . . . niemand . . . Doch im Zimmer roch es wun-dervoll zart nach Birkenrinde, nach feuchtem Moos . . .

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Das Wort

Von einem inspirierten Traumwind aus der Nachtdes Tales getragen, stand ich unter einem klaren Him-mel aus reinem Gold am Rand einer Straße in einemaußerordentlich bergigen Land. Ohne hinzusehen,ahnte ich den Glanz, die Ecken und Facetten einesungeheuren Klippenmosaiks, blendende Abgründeund das spiegelgleiche Glitzern einer großen Mengevon Seen, die irgendwo unter, hinter mir lagen. Mei-ne Seele war ergriffen von dem Gefühl eines himm-lischen Irisierens, der Freiheit, der Erhabenheit: Ichwusste, ich war im Paradies. Dennoch erhob sich indieser Erdenseele ein einziger Erdengedanke wie einestechende Flamme – und wie eifersüchtig, wie finsterschirmte ich ihn ab gegen die Aura der gewaltigenSchönheit um mich her. Dieser Gedanke, diese nackteLeidensflamme, war der Gedanke an meine irdischeHeimat. Barfuß und ohne einen Pfennig erwartete icham Rand dieser Bergstraße die gütigen, leuchtendenHimmelsbewohner, indes ein Wind wie das Vorgefühleines Wunders in meinem Haar spielte, die Schluch-ten mit einem kristallenen Summen füllte und in dersagenhaften Seide der Bäume raschelte, die zwischenden Felsklippen entlang der Straße in Blüte standen.Hohes Gras leckte an den Baumstämmen empor wie

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die Zungen eines Feuers; große Blüten lösten sich ge-räuschlos von ihren glitzernden Zweigen, schwebtenwie bis zum Rand mit Sonnenschein gefüllte fliegendePokale durch die Luft und blähten ihre durchschei-nenden konvexen Blätter. Ihr süßes, feuchtes Aromaerinnerte mich an die besten Dinge, die ich in meinemLeben erfahren hatte.

Plötzlich füllte sich die Straße, an der ich atemlosvon all dem Schimmer stand, mit einem Sturm vonFlügeln. Aus den blendenden Tiefen strömten die En-gel herbei, die ich erwartete, und ihre zusammenge-legten Flügel wiesen scharf nach oben. Ihr Schritt warätherisch; sie waren wie farbige Wolken in Bewegung,und bis auf das verzückte Zittern ihrer strahlendenWimpern waren ihre transparenten Gesichter unbe-wegt. Zwischen ihnen flogen türkisfarbene Vögel miteinem glücklichen Mädchenlachen, und mit ihnen desWegs kamen mit federnden Sprüngen geschmeidige,orangefarbene, phantastisch schwarz getüpfelte Tiere.Die Wesen wanden sich durch die Luft und strecktenlautlos ihre Seidenpfoten nach den fliegenden Blütenaus, während sie sich mit blitzenden Augen an mirvorbeidrängten.

Flügel, Flügel, Flügel! Wie kann ich ihre Windun-gen und ihre Farben beschreiben? Sie waren ohne Ma-ßen stark und weich – gelbbraun, violett, samtschwarz,mit feurigem Staub an den abgerundeten Enden ihrergebogenen Federn. Wie steile Wolken standen sie ge-bieterisch über den leuchtenden Schultern des Engels;gelegentlich entfaltete einer in einer Art wunderbarerVerzückung, als könne er sein Glück nicht länger zu-

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rückhalten, plötzlich einen einzigen Augenblick langseine geflügelte Schönheit, und es war, als bräche dieSonne hervor, wie das Funkeln von Millionen Augen.

Sie schritten in Scharen an mir vorüber, den Blickhimmelwärts gerichtet. Ihre Augen waren wie jubeln-de Abgründe, und in diesen Augen sah ich die Synkopedes Flugs. Sie kamen mit gleitenden Schritten, über-schüttet mit Blumen. Die Blumen verloren im Flugihren feuchten Schimmer; die glatten, strahlendenTiere spielten, während sie wirbelten und kletterten;die Vögel tönten vor Glück, während sie hochstiegenund niedertauchten. Ich, ein geblendeter zitternderBettler, stand am Rand der Straße, und in meinerBettlerseele plapperte immer wieder der gleiche Ge-danke: Rufe ihnen zu, ach, sag ihnen doch, dass es aufdiesem herrlichsten von Gottes Sternen ein Land gibt– mein Land –, das in qualvoller Dunkelheit zugrundegeht. Ich hatte das Gefühl, wenn ich mit der Hand nureinen zitternden Schimmer zu fassen bekäme, würdeich meinem Land eine solche Freude bringen, dass dieMenschenseelen auf der Stelle erleuchtet wären undsich unter dem Plätschern und Knistern des wieder-geborenen Frühlings zum goldenen Donner wieder-erwachter Tempel zu drehen begännen.

In dem Wunsch, den Engeln den Weg zu verlegen,streckte ich meine bebenden Hände aus, klammertemich an die Säume ihrer hellen Messgewänder, andie sich wellenden, sengend heißen Ränder ihrer ge-bogenen Flügel, die mir wie daunenweiche Blumendurch die Hände schlüpften. Ich keuchte, ich stürztehierhin und dorthin, ich bat sie, außer mir, um Nach-

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sicht, aber die Engel schritten immer nur voran, ohneNotiz von mir zu nehmen, die scharfgeschnittenenGesichter nach oben gewandt. In Scharen strömtensie zu einem himmlischen Fest, zu einem unerträglichherrlichen Versammlungsplatz, wo eine Gottheit wü-tete und atmete, an die ich nicht zu denken wagte. Ichsah feurige Spinngewebe, Spritzer, Muster auf riesi-gen karminroten, rostbraunen, lila Flügeln, und übermich zog in Wellen ein flaumiges Rascheln dahin. Dieregenbogengekrönten Vögel pickten, die Blüten lös-ten sich von schimmernden Ästen und entschwebten.«Warte, hör mich zu Ende an», rief ich und versuchte,die dunstigen Beine eines Engels zu umarmen, aberdie Füße glitten ungreifbar und unaufhaltsam durchmeine ausgestreckten Hände, und im Vorbeirauschenversengten die Ränder der breiten Flügel nur meineLippen. In der Ferne füllte sich eine goldene Lichtungzwischen üppigen, farbig leuchtenden Felsen mit demaufziehenden Gewitter; die Engel entschwanden, dashohe, aufgeregte Gelächter der Vögel versiegte, dieBlüten schwebten nicht mehr von den Bäumen; ichwurde schwach, ich verstummte . . .

Dann geschah ein Wunder. Einer der letzten Engelhielt inne, wandte sich um und kam langsam zu mirherüber. Ich sah seine ausgehöhlten, starrenden, dia-mantenen Augen unter den imposanten Bögen seinerAugenbrauen. Auf den Rippen seiner ausgebreitetenFlügel glänzte etwas, das wie Reif wirkte. Die Flügelselbst waren grau, ein unbeschreiblicher Grauton, undjede Feder endete in einer silbrigen Sichel. Sein Ge-sicht, der leicht lächelnde Umriss seiner Lippen und

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seine gerade klare Stirn, erinnerte mich an Züge, dieich auf Erden gesehen hatte. Es war, als verschmölzendie Rundungen, das Strahlen, der Zauber aller Ge-sichter, die ich geliebt hatte – die Züge der Menschen,die ich seit langem verloren hatte –, zu einem wun-derbaren Antlitz. Als vereinten sich all die vertrautenTöne, die einzeln an mein Gehör drangen, zu einereinzigen vollkommenen Melodie.

Er trat zu mir heran. Er lächelte. Ich brachte esnicht fertig, ihn anzusehen. Aber als ich zu seinen Bei-nen hinspähte, bemerkte ich ein Netz blauer Adernund ein bleiches Muttermal auf seinen Füßen. DieseAdern, dieser kleine Fleck machten mir klar, dass erdie Erde noch nicht ganz verlassen hatte, dass er mei-ne Bitten vielleicht verstünde.

Dann hob ich an, den Kopf gesenkt und meine mithellem Lehm beschmierten verbrannten Handflächenan meine halbgeblendeten Augen pressend, mein Leidnoch einmal zu schildern. Ich wollte erklären, wiewunderbar meine Heimat war und wie schrecklich sei-ne schwarze Synkope, aber ich fand die Worte nicht,die ich brauchte. Hastig und mich wiederholend plap-perte ich über Bagatellen, über irgendein abgebrann-tes Haus, wo einst ein schräger Spiegel den sonnigenGlanz des Parketts reflektiert hatte. Ich plapperte überalte Bücher und alte Linden, über Nippes, über mei-ne ersten Gedichte in einem kobaltblauen Schulheft,über einen grauen, von wilden Himbeeren überwach-senen Feldstein mitten in einem Feld voller Skabiosenund Gänseblümchen – aber das Wichtigste vermochteich einfach nicht auszudrücken. Ich verhaspelte mich,

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hörte auf, begann von vorn, und in meiner hilflosenhastigen Rede sprach ich von Zimmern in einem küh-len und hallenden Landhaus, von Linden, von meinerersten Liebe, von Hummeln, die auf den Skabiosenschliefen. Es kam mir vor, als würde ich jeden Augen-blick – jeden Augenblick! – zum Wichtigsten kommenund das ganze Leid meiner Heimat darlegen. Aberaus irgendeinem Grund kamen mir nur winzige, all-tägliche Dinge in den Sinn, die außerstande waren zusprechen oder jene dicken, brennenden, schrecklichenTränen zu weinen, von denen ich sprechen wollte undnicht konnte . . .

Ich verstummte, hob den Kopf. Der Engel lächelteein stilles, aufmerksames Lächeln, sah mich unver-wandt mit seinen länglichen Diamantaugen an. Ichhatte das Gefühl, er verstehe mich.

«Verzeih», rief ich und küsste demütig das Mutter-mal auf seinem hellen Fuß. «Verzeih, dass ich nur vontrivialen Nebensachen sprechen kann. Du verstehsttrotzdem, mein gutherziger, mein grauer Engel. Ant-worte mir, hilf mir, sag mir, was meine Heimat rettenkann.»

Der Engel umfasste meine Schultern einen Augen-blick lang mit seinen taubenartigen Flügeln, sprachein einziges Wort, und in seiner Stimme erkannte ichalle jene geliebten, jene zum Schweigen gebrachtenStimmen. Das Wort, das er aussprach, war so wunder-bar, dass ich seufzend die Augen schloss und meinenKopf noch tiefer senkte. Der Duft des Wortes undseine Melodie breiteten sich durch mein Geäder aus,gingen in meinem Gehirn auf wie die Sonne; die

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zahllosen Höhlen in meinem Bewusstsein griffen sieauf und wiederholten sein leuchtendes paradiesischesLied. Es füllte mich aus. Wie ein fester Knoten pochtees in meiner Schläfe, seine Feuchte bebte auf meinenWimpern, sein süßer Frostschauer fächelte mein Haar,und himmlische Wärme schüttete es in mein Herz.

Ich rief es, ich schwelgte in jeder seiner Silben, ichhob ungestüm die Augen, die sich mit den strahlendenRegenbogen von Freudentränen füllten . . .

O Gott – grünlich glüht die Winterdämmerung imFenster, und ich kann mich nicht erinnern, welchesdas Wort war, das ich rief.

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Der Schlag des Flügels

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Wenn eine Skispitze über die andere fährt, fällt manvornüber. Schnee dringt brennend in die Ärmel, unddas Aufstehen fällt einem schwer. Kern, der langenicht auf Skiern gestanden hatte, geriet sofort insSchwitzen. Er spürte einen leichten Schwindel, risssich die Wollmütze vom Kopf, die ihn an den Ohrenjuckte, und schlug sich die feuchten Funken von denWimpern.

Vor dem sechsstöckigen Hotel ging es fröhlich undazurblau zu. In all dem leuchtenden Glanz wirkten dieBäume schwerelos. Von den Schultern der schneebe-deckten Hügel fielen unzählige Skispuren wie Schat-tenhaare. Und ringsum jagte die gigantische, weißeWeite in den Himmel und loderte dort immer wiederauf.

Mit knirschenden Skiern erklomm Kern den Hang.Als sie seine breiten Schultern, sein Pferdeprofil undden kräftigen Glanz auf seinen Backenknochen be-merkte, hatte jene Engländerin, die er gestern, amdritten Tag seines Hierseins kennengelernt hatte, ihnfür einen Landsmann gehalten. Isabel – die fliegendeIsabel, so nannte sie die Meute von glatten und matt-

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häutigen jungen Leuten argentinischen Einschlags,die ihr überall nachliefen, im Ballsaal des Hotels, aufden weichen Treppen und auf den schneebedecktenHängen im Spiel des funkelnden Gestiebes . . . In ihrerErscheinung lag etwas Schwebendes und Ungestü-mes; ihr Mund war so leuchtend, dass man meinte,der Schöpfer habe heißes Karmesin genommen und esihr mit der hohlen Hand in die untere Hälfte des Ge-sichts gedrückt . . . In ihren flauschigen Augen spielteein spöttisches Lächeln. Wie ein Flügel ragte der spa-nische Kamm aus den dichten Wellen ihrer schwar-zen, seidig glänzenden Haare. So hatte Kern sie ges-tern gesehen, als das dumpfe Dröhnen des Gongs sieaus ihrem Zimmer mit der Nummer 35 zum Dinnerrief. Dass sie Zimmernachbarn waren – ihre Zimmer-nummer entsprach dabei der Zahl seiner Jahre –, dasssie ihm an der Table d’hôte gegenübersaß – hoch-gewachsen, fröhlich, in einem tief ausgeschnittenenschwarzen Kleid mit einem schwarzen Seidenband umden bloßen Hals –, all das erschien Kern so bedeut-sam, dass sich die düstere Schwermut, die ihn nunschon ein halbes Jahr lang bedrückte, vorübergehendetwas hob.

Isabel sprach als Erste, und das verwunderte ihnnicht: Das Leben in diesem großen Hotel, das ein-sam in einem Gebirgstal in hellem Licht erstrahlte,sprudelte rauschhaft und unbeschwert nach den totenKriegsjahren; außerdem war ihr, Isabel, alles erlaubt– der schräge Wimpernaufschlag und auch das La-chen, das in ihrer Stimme mitklang, als sie Kern denAschenbecher zuschob und sagte: «Wir beide schei-

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nen die einzigen Engländer hier zu sein . . . », und dievon einem schwarzen Bändchen umfasste zarte Schul-ter über den Tisch beugend, fügte sie hinzu:

«. . . das halbe Dutzend alter Weiber natürlich nichtmitgezählt . . . und den da, der den Kragen verkehrtherum trägt.»

Kern antwortete:«Sie irren sich. Ich habe keine Heimat. Es stimmt

schon, ich habe viele Jahre in London gelebt. Aberdarüber hinaus . . . »

Am Morgen des folgenden Tages spürte er plötz-lich – nach der ihm so vertrauten Gleichgültigkeit desvergangenen halben Jahres –, wie wohltuend es war,unter den betäubenden Kegel der eiskalten Dusche zutreten. Um neun Uhr, nach einem kräftigen und aus-giebigen Frühstück, knirschten seine Skier über denroten Sand, der über das nackte Funkeln des Wegesvor dem Hoteleingang gestreut war. Als er den ver-schneiten Hang erklommen hatte – im Grätschen-schritt, wie es sich für einen Skiläufer gehörte –,erblickte er zwischen den karierten Breeches und er-hitzten Gesichtern Isabel.

Sie begrüßte ihn auf englische Art: mit einemSchwingen ihres Lächelns. Ihre Skier schillerten oliv-grün-golden. Schnee klebte an dem Riemengeflechtum ihre Füße; ihre unweiblich kräftigen, aber wohl-geformten Beine steckten in festen Stiefeln und enganliegenden Gamaschen. Ein violetter Schatten folgteihr auf der Schneedecke, als sie, die Hände lässig in dieTaschen ihrer Lederjacke vergraben und den linkenSki leicht vorgeschoben, den Abhang hinunterglitt,

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immer schneller, mit flatterndem Schal, in Wolkenvon aufwirbelndem Schnee. Dann machte sie in vol-lem Lauf einen scharfen Bogen, beugte gewandt einKnie, richtete sich wieder auf und jagte weiter, vorbeian den Tannen, vorbei an der türkisfarben schim-mernden Eisbahn. Zwei Jünglinge in bunten Sweaternund ein bekannter schwedischer Sportler mit Terra-kottagesicht und farblosen, nach hinten gekämmtenHaaren jagten hinter ihr her.

Wenig später traf Kern sie wieder, in der Nähe desblauen Weges, auf dem mit leisem Gepolter Menschenvorüberhuschten – wollige Frösche, die bäuchlings aufniedrigen Schlitten lagen. Isabel war mit aufblitzendenSkiern hinter einer Schneewehe verschwunden, undals Kern, der sich seiner ungeschickten Bewegungenschämte, sie in einer kleinen Mulde einholte, inmittenvon silbrig umwobenen Zweigen, machte sie mit denFingern Zeichen in der Luft, stampfte mit den Skiernauf und glitt weiter. Kern blieb einen Moment lang imvioletten Schatten stehen, als plötzlich die Stille mitwohlbekanntem Grauen über ihm zusammenschlug.Die Spitzengebilde der Zweige erstarrten in der Email-luft wie in einem unheimlichen Märchen. Wie selt-sames Spielzeug erschienen ihm die Bäume, die Schat-tenmuster und seine Skier. Er spürte auf einmal, dass ermüde war, dass er sich eine Ferse aufgescheuert hatte;und die ihm in den Weg ragenden Zweige streifend,machte er kehrt. Über das glatte Türkis schwebten me-chanisch die Läufer. Weiter oben auf dem Schneehanghalf der terrakottagesichtige Schwede einem langen,dünnen Herrn mit Hornbrille, der ganz voller Schnee

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war, wieder auf die Beine. Der zappelte im glitzerndenSchnee gleich einem plumpen Vogel. Wie ein abge-brochener Flügel glitt ein Ski, der sich von seinem Fußgelöst hatte, schnell den Abhang hinunter.

In sein Zimmer zurückgekehrt, zog Kern sich um,und als die dumpfen Schläge des Gongs ertönten, be-stellte er sich kaltes Roastbeef, Weintrauben und eineFlasche Chianti aufs Zimmer.

Er spürte in Schultern und Hüften einen bohren-den Schmerz.

«Warum musste ich auch hinter ihr herlaufen»,dachte er und lächelte sarkastisch. «Ein Menschschnallt sich ein Paar Bretter unter die Füße und ge-nießt das Gesetz der Schwerkraft. Lächerlich.»

Gegen vier begab er sich in den geräumigen Le-sesaal, wo der Rachen des Kamins orangefarbeneHitze atmete und unsichtbare Menschen in tiefenLedersesseln ihre Beine hinter einem Vorhang vonaufgeschlagenen Zeitungen hervorstreckten. Auf demlangen Eichentisch lag ein Berg Zeitschriften, vollvon Modeanzeigen, Photos von Ballettmädchen undAbgeordneten in Zylindern. Kern fand eine völlig zer-lesene Nummer des Tatler vom Juni des vergangenenJahres und betrachtete darin lange das Lächeln jenerFrau, die sieben Jahre lang seine Frau gewesen war.Er dachte an ihr lebloses Gesicht, das so kalt und hartgeworden war – und an die Briefe, die er in dem Käst-chen gefunden hatte.

Er legte die Zeitschrift mit einer heftigen Bewe-gung weg, nachdem er die glänzende Seite mit demFingernagel zerkratzt hatte.

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