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GESCHICHTE DER WELT LITERATUR Antal Szerb

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GESCHICHTEDER

WELT LITERATUR

Antal Szerb

GESCHICHTEDER

WELT LITERATUR

Antal Szerb

Antal Szerb, 1901 in Budapest geboren, wuchs in einer zum Katholizismus konvertierten jüdischen Familie auf. Nachdem er an der Universität in Budapest zuerst ungarische und deutsche, danach auch englische Philologie studiert hatte (1924 Promotion, später Privatdozentur), hielt er sich zu Forschungszwecken längere Zeit in Frankreich, Italien und England auf. Neben mehreren literaturgeschichtlichen Werken schuf er ein umfangreiches episches und essayistisches Œuvre. Er gehört zu den meistgelesenen Autoren Ungarns. Trotz Taufe, einer christlichen Lebensweise und des Besuchs eines kirchlichen Gymnasiums musste er nach dem sogenannten Zweiten Ungarischen Judengesetz von 1939 den gelben Stern tragen. 1943 zog man ihn ein erstes, ein Jahr später ein zweites Mal zum Arbeitsdienst ein. Im Januar 1945, geschwächt und entkräftet von den Strapazen und von Pfeil- kreuzlern misshandelt und geschlagen, starb er im ungarischen Konzentrationslager Balf (Sopron) an den Folgen seiner Verletzungen.

András Horn, 1934 in Budapest geboren, war Professor für Komparatistik und Literaturtheorie an der Univer- sität Basel. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Literaturtheorie und -ästhetik sowie Übersetzer einer Auswahl von Essays aus Antal Szerbs Band Gedanken in der Bibliothek.

György Poszler (1931–2015) war Literaturwissenschaftler und Ästhetiker, Professor an der Eötvös-Loránd- Universität in Budapest und Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Er hat zahlreiche Publikationen zur Literaturtheorie, Ästhetik und über Antal Szerb verfasst und mehrere Auszeichnungen erhalten.

«Wenn wir strikt nur diejenigen Autoren und Werke in Betracht ziehen, die wirklich von weltliterarischer Bedeutung sind, schrumpft der unendlich scheinende Stoff in verblüffendem Maße zusammen. Die wirkliche Weltliteratur, könnte man sagen, findet Platz in einer sorgfältig ausgewählten Privatbibliothek, ihre Bände können entlang den Wänden eines größeren Studierzimmers aufgestellt werden. […]

Es kann nicht die Aufgabe eines zusammenfassenden und für den Allgemein-gebrauch bestimmten Werkes sein, neue Detailwahrheiten und Zusammenhänge zu entdecken; das muss Spezialstudien und Monographien vorbehalten bleiben. Ich wurde eher von einem praktischen als von einem theoretischen Ziel geleitet: jenen an die Hand zu gehen, die in Ungarn gerne lesen, ihnen behilflich zu sein bei der leichteren Orientierung im unendlichen und herrlichen Gedränge der Schriftsteller und Werke. Ich möchte, dass wer in meinem Buch herumblättert, Lust bekommt, möglichst viele wertvolle, wahrhaft weltliterarische Bücher zu lesen. Es gibt solche, die zum Zeitvertreib lesen, und solche, die mit ihrer Lektüre ihre Bildung erweitern wollen; ich denke jedoch an den dritten Leser, für den das Lesen lebensnotwendig und unwiderstehlicher Zwang ist – nur dieser ist der eigentliche Leser. Mein Wunsch ist es, die Leidenschaft des Lesens in jenen zu wecken und zu hegen, zu denen meine Zeilen ihren Weg finden.»

Antal Szerb im Vorwort zu seiner Geschichte der Weltliteratur von 1941.

Als Antal Szerb 1941 die – hier zum ersten Mal in deutscher Übertragung vorliegende – Geschichte der Weltliteratur herausgab, hatte er bereits 1934 seine Ungarische Literaturgeschichte publiziert sowie zahlreiche Essays, doch im Westen ist er heute in erster Linie als Belletrist bekannt. Dabei lag seine größte Begabung in der Essayistik und in der Literatur-geschichtsschreibung; beides verband er im vorliegenden Werk auf schöpferische Weise zu einem Großessay.

In seinem kleinen, 1936 auf Ungarisch erschienenen Essayband Alltag und Wunder schreibt Antal Szerb: «Ich schreibe lieber über wenige Autoren, aber viel-leicht gelingt es mir, von diesen ein plastisches Bild zu geben, weil dies – obschon das nur wenige wissen – doch die Aufgabe einer Literaturgeschichte wäre.» Und doch soll Literatur darüber hinaus – so Szerbs Credo – in exemplarischer Weise die Ewigkeit repräsen-tieren, sie soll von menschlicher, überhistorischer Relevanz sein. Sein Begriff der Weltliteratur umfasst daher nur das, was er für das Beste hielt, das heißt: ausschließlich jene Autorinnen und Autoren und jene Werke, die über die Jahrhunderte und alle Landes- grenzen hinweg Bestand hatten. Besonders bedeutend waren ihm in seinem Zugang zur Literatur Dilthey, Spengler und Freud. Neben Hermeneutik, Kulturtheorie und Literaturpsychologie berücksichtigte er auch die Literatursoziologie in seiner Methode der Literatur- betrachtung.

1965 schrieb Antal Szerbs Witwe Klára Szerb: «Der Gedanke an die Geschichte der Weltliteratur quält mich. Ich denke, es ist Tónis [Antal Szerbs] bedeu-tendstes Buch und es sollte übersetzt und in eine andere europäische Sprache gerettet werden. Inzwischen sind bereits mehr als zwanzig Jahre vergangen, seitdem er es schrieb. […] Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, dass die Geschichte der Weltliteratur nur auf Ungarisch erhältlich ist.»

Die Geschichte der Weltliteratur ist auch heute noch ein ausgezeichnetes Nachschlagewerk und Szerbs umfassende Belesenheit, sein originelles und kritisches Urteil, sein Humor sowie sein essayistischer Stil lassen die Lektüre zu einem bereichernden Leseerlebnis werden.Schwabe Verlag Basel

www.schwabeverlag.ch

ISBN 978-3-7965-3370-9

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Antal Szerb

Geschichte der WeltliteraturAus dem Ungarischen übertragen und mit Anmerkungen versehen von András HornMit einem Nachwort von György Poszler

Schwabe Verlag Basel

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Printausgabe gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel.

An den Publikationskosten haben sich dankenswerterweise die Freiwillige AkademischeGesellschaft Basel und die Max Geldner-Stiftung in Basel beteiligt.

Titel der ungarischen Originalausgabe: A világirodalom története

Die Übertragung ins Deutsche erfolgte anhand der Ausgabe von 1962:Szerb Antal: A világirodalom története, Budapest: Magveto könyvkiadó 1962.

Für die Übertragungen im Anhang dienten folgende Werke als Vorlage:Szerb Antal: A világirodalom története, Budapest: Révai 1941.Szerb Antal: Hétköznapok és csodák, Budapest: Révai [1936].

Copyright © 1936–2016 Szerb Antal örököseFür die deutsche Ausgabe: Copyright © 2016 Schwabe AG, Verlag, Basel, SchweizCopyright © 2016 Abbildungen vgl. BildlegendenDieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Das Werk einschließlich seiner Teiledarf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in keiner Form reproduziert oderelektronisch verarbeitet, vervielfältigt, zugänglich gemacht oder verbreitet werden.Lektorat: Erika Regös, SchwabeUmschlaggestaltung: icona baselGesamtherstellung: Schwabe AG, Muttenz/Basel, SchweizISBN Printausgabe 978-3-7965-3370-9ISBN E-Book (PDF) 978-3-7965-3529-1

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Antal Szerb um 1939. Foto © Literaturmuseum Petofi Budapest.

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Antal Szerb (rechts) und Károly Kerényi in Italien, Sommer 1935. Foto © Literaturmuseum Petofi Budapest.

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Inhalt

Vorwort des Autors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Die Griechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Das Epos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Die Lyrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33Das Drama . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38Die Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59Die spätgriechische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Die römische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Die Zeit der Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Das Goldene Zeitalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91Der Niedergang Roms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Die Heilige Schrift und die christliche Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123Die Heilige Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126Die altchristliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

Byzanz und der Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151

Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165Heldendichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168Kirchliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177Ritterliche Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187Bürgerliche Literatur (1300–1500) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Die Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225Die italienische Renaissance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229Nördlicher Humanismus, Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256Die französische Literatur im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265Das Zeitalter Shakespeares . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

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8 Inhalt

Der Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297Der Manierismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300Die spanische Glanzzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317Das große Jahrhundert der Franzosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326Nördlicher Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 350

Die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363Englischer Klassizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367Das Ancien Régime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386Die deutsche Literatur im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404

Die Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409Die Präromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413Goethe und seine Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432Die englische Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470Die französische Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490Die kleineren romantischen Literaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

Der Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521Französischer Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525Englischer Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555Die nordamerikanische Literatur im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586Deutscher Realismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598Spanische und italienische Literatur in der Mitte des Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . 628Die große Zeit der russischen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 632Die Skandinavier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 668

Die Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683Französische Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689Englische und amerikanische Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 738Deutsche Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 764Spanische und italienische Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 791Skandinavische Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 798Polnische und russische Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 814

Die heutige Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823Heutige englische Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 828Deutsche Schriftsteller und Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 844Französische Schriftsteller zwischen den beiden Kriegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 866Heutige amerikanische Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 883Heutige europäische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 892

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9Inhalt

AnhangHeutige russische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 905Die kleineren europäischen Literaturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 914Drei Auszüge aus Antal Szerbs Essay Alltag und Wunder von 1936 . . . . . . . . . . . . . . . 925

Nachwort von György Poszler: Das Drama der Weltliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929

Anmerkungen von András Horn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 957

Nachwort von András Horn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 971

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 973

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Vorwort

Wenn hiermit mein Buch vor die Öffentlichkeit tritt, kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass auch ich mich wie frühere Autoren für meinen Wagemut entschuldigen muss. Für den Wagemut, die Geschichte der ganzen Weltliteratur allein zu Papier zu brin-gen. Ich bekenne, mein Unterfangen erfüllte auch mich selbst mit nicht geringer Bangnis; hauptsächlich am Anfang meiner Arbeit. Doch wie ich vorankam, bemächtigte sich mei-ner allmählich eine Art Beruhigung. Während des Schreibens machte ich nämlich die merkwürdige Entdeckung, dass die Weltliteratur eigentlich nicht einmal so groß ist. Wenn wir strikt nur diejenigen Autoren und Werke in Betracht ziehen, die wirklich von weltlite-rarischer Bedeutung sind, schrumpft der unendlich scheinende Stoff in verblüffendem Maße zusammen. Die wirkliche Weltliteratur, könnte man sagen, findet Platz in einer sorgfältig ausgewählten Privatbibliothek, ihre Bände können entlang den Wänden eines größeren Studierzimmers aufgestellt werden. Wenn jemand von seiner frühesten Jugend an regelmäßig und als Hauptbeschäftigung liest, dann hat er, nel mezzo,1 in der Hälfte des menschlichen Lebensweges angelangt, einen großen Teil der Weltliteratur bereits gelesen, ohne es gemerkt zu haben.

Alles hängt freilich davon ab, was man unter Weltliteratur versteht. Weltliteratur wird von vielen als das Gesamt der Nationalliteraturen verstanden, daher verwenden ungarische Gelehrte statt «Weltliteratur» lieber die Bezeichnung «Universalliteratur». Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, die Geschichte der Universalliteratur zu schreiben; ich gebrau-che das Wort «Weltliteratur» in seiner ursprünglichen Bedeutung. Das Wort wurde von Goethe ins Allgemeinbewusstsein eingeführt. Goethe sagte zu Eckermann Folgendes: «National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen.»2 Aus dem Zitat er-hellt, dass Goethe unter Weltliteratur eine Literatur verstand, die nicht nur für eine Na-tion, sondern für die ganze Welt etwas bedeutet. Weltliteratur verstand er also nicht im aktiven Sinn, als die Literatur, welche die ganze Welt schreibt, sondern im passiven Sinn, als die Literatur, die für die ganze Welt geschrieben wird. Die Weltliteratur ist das Gesamt jener Werke, die dank ihrem Wert oder ihrer Wirkung, zumindest virtualiter, jeder gebil-deten Nation etwas gesagt haben und ihren Weg zu jeder gebildeten Nation auch tatsäch-lich gefunden haben. Die Geschichte der Weltliteratur ist jener Vorgang, in dem übernatio-nal bedeutungsvolle Schriftsteller und Werke sich über Landesgrenzen und Jahrhunderte heraushebend einander befruchten und lenken. Die Geschichte der Welt literatur ist leben-diger Zusammenhang.

Aus der Definition ergibt sich, dass aus der Geschichte der Weltliteratur die mittelmäßi-gen Schriftsteller ausscheiden, selbst wenn sie in der Geschichte ihrer Nationalliteratur eine wichtige Rolle gespielt haben. «Man kann von der Menschheit nicht erwarten» – sagt der Autor der besten amerikanischen Literaturgeschichte –, «dass sie alle Zeiten hindurch die stets zunehmende Last mittelmäßiger Bücher mit sich schleppe, aufgrund des belusti-genden Arguments, wonach die Zeitgenossen der Verfasser dieser Bücher noch schlechtere

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Vorwort12

Bücher geschrieben hätten.»3 Die Weltliteratur soll nur die wahrhaft großen Schriftsteller umfassen und außer ihnen nur jene, die im Allgemeinen als groß angesehen werden.

Aus der Definition folgt auch eine gewisse unvermeidliche Ungerechtigkeit. Die Welt-literatur ist in erster Linie die Literatur der großen Nationen – beziehungsweise, da von Literatur die Rede ist – die Literatur der großen Sprachen. Nicht weil diese unbedingt wertvoller wären als die Literatur der kleineren Sprachen, sondern aus dem praktischen Grund, dass die Sprecher der großen Sprachen höchstens andere große Sprachen lernen; während die Sprecher der kleineren Sprachen ihrerseits außer der eigenen nur die großen Sprachen. Auf diese Weise kann in das gemeinsame literarische Bewusstsein, ins «welt-literarische Bewusstsein» nur die Literatur der großen Sprachen treten, aus den kleineren Sprachen aber nur jene privilegierten Wenigen, die in die großen Sprachen übersetzt wer-den. Der gebildete Ungar mag außer der ungarischen die deutsche, französische, englische, italienische, eventuell die spanische Literatur aufmerksam verfolgen, doch was die schwe-dische und finnische Literatur anbelangt, daraus wird er nur kennenlernen, was auf Ungarisch oder in einer der obigen Sprachen veröffentlicht wird. Die Weltliteratur ist demnach die Literatur der beiden klassischen Sprachen, der griechischen und der lateini-schen, des Weiteren die Heilige Schrift – das sind die gemeinsamen Grundlagen unserer Kultur –, sodann die Literatur der drei großen lateinischen Tochtersprachen, der franzö-sischen, italienischen und spanischen, sowie der beiden großen germanischen Sprachen, der deutschen und der englischen. Zu diesen gesellten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts, durch das Zusammenwirken der Durchschlagskraft außergewöhnlicher Genies und eigen-artiger geschichtlicher Konstellationen, die polnische, russische und skandinavische Lite-ratur; nur diese wirken auf die Universalliteratur, nur diese sind Glieder in dem lebendi-gen Zusammenhang, von dem wir sprachen. In Zukunft mögen die Literaturen weiterer Sprachen in die Weltliteratur eintreten; doch im gegenwärtigen geschichtlichen Augen-blick erstrecken sich die Grenzen der Weltliteratur nur so weit und nicht weiter.

Das ist ungerecht, und wir, Söhne kleiner Nationen, empfinden das am stärksten; doch es gehört dies eben zu jenen grundlegenden Ungerechtigkeiten, gegen die anzukämpfen kindisch und Donquijotterie wäre.

Es bedarf keiner weiteren Erklärung, warum in meinem Buch auch die Literatur der alten und neuen östlichen Völker ausgespart wird. Mögen sie für die wenigen, die in der Lage sind, sie kennenzulernen, noch so wundervolle Schätze in sich bergen, sie haben auf die Literatur des westlichen Kulturkreises keine Wirkung ausgeübt, sie traten nicht in die Weltliteratur ein, ihre großen Schöpfungen gehören nicht zum gemeinsamen Besitz der Menschheit. Eine Ausnahme bildet die Literatur der Araber und der Perser, deren hervor-stechendsten Werke in zuverlässigen Übersetzungen jedem zur Verfügung stehen und mit ihrer Auswirkung zur Herausbildung der westlichen Literaturen das Ihrige beigetragen haben.

In meinem Buch kommt die ungarische Literatur nur in Form von Hinweisen und Ver-gleichen zur Sprache. Es wäre ungebührlich gewesen, sie so zu behandeln wie die Litera-tur der übrigen kleineren Sprachen, denn dass die ungarische Literatur einen viel höheren Wert besitzt, als die Größe ihres Platzes im weltliterarischen Bewusstsein anzeigt, dar über

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Vorwort 13

sind wir uns4 alle im Klaren. Andererseits habe ich all das, was ich über die ungarische Lite ratur zu sagen hatte, in meiner Ungarischen Literaturgeschichte5 bereits gesagt, und für einen Schriftsteller gibt es keine schwierigere und unergiebigere Aufgabe als die Neufor-mulierung dessen, was er schon einmal Wort werden ließ.

Ähnlich muss ich mich auf meine Ungarische Literaturgeschichte vor denjenigen berufen, die über die Methode des vorliegenden Buches Näheres erfahren möchten. Auch in diesem Buch habe ich die Prinzipien befolgt, die ich in der Einleitung zu jenem Buch dargelegt habe. Ich war also auch hier bemüht, den geistesgeschichtlichen, stilgeschichtlichen und literatursoziologischen Gesichtspunkt bis zum Schluss durchzuhalten, insbesondere den Letzteren: Ich bin den äußeren Erscheinungsformen der Literatur dicht auf der Spur ge-folgt, dem Weg vom mündlichen Vortrag über die von Hand geschriebenen Papyrusrollen und Pergamentkodizes bis zu den mit der Schnellpresse hergestellten Druckerzeugnissen sowie der Einwirkung all dieser Erscheinungsformen auf die literarische Produktion; ich habe versucht, in Betracht zu ziehen, dass in gewissen Epochen auch die Literatur einen Teil des Wirtschaftslebens bildet, dass das geschriebene Werk Ware ist und dass auch dies die Wandlungen der Literatur beeinflusst; ich machte den Versuch, die Geschichte des schriftstellerischen Selbstbewusstseins und die Geschichte des Standes der Schriftsteller als Gesellschaftsklasse darzustellen; aus der Definition der Weltliteratur folgt, dass ich die Aufmerksamkeit auch auf die «Nachwelt» der Schriftsteller lenken musste, auf ihre Aus-strahlung und ihr Weiterleben im literarischen Bewusstsein.

Vor allem anderen war es aber mein Wunsch, den Zusammenhang zwischen Schrift-steller und Gesellschaft deutlich zu machen, davon zu reden, inwiefern der jeweilige Schriftsteller Träger der Ideen seiner Klasse ist, dessen also, was sie zu sagen hat. Doch diesen wohl wichtigsten Gesichtspunkt habe ich nicht forciert; ich achtete darauf, den Ver-lockungen meiner eigenen Theorien nicht allzu sehr nachzugeben. Ich habe das Gefühl, in meinem Buch sind diese literatursoziologischen Passagen auch mit dieser Einschrän-kung die diskutabelsten; denn während ich mich sonst anhand der großen Standardwerke der Literaturgeschichte und Literaturkritik selbst zu kontrollieren vermochte, ist auf dem Gebiet der Literatursoziologie die Vorarbeit noch so spärlich,6 dass ich mich meistens nur auf meine eigenen Vorstellungen stützen konnte.

Da die Geschichte der Weltliteratur mehrere Jahrtausende im Leben der Mensch-heit umfasst, ist es nicht möglich, sich in dieser riesigen Zeitspanne ohne eine gewisse geschichtsphilosophische Informiertheit zu orientieren. Die Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts haben als stillschweigende Grundlage die Entwicklungslehre: Sie stel-len folglich dar, wie die Literatur immer vollkommener wurde, bis sie ihre heutige Form erreicht hat. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts mussten wir leider alle von der Idee der Entwicklung enttäuscht werden. Wohin wir auch blicken, müssen wir erleben, dass sich die Menschheit nicht vervollkommnet, sich ihren großen Idealen nicht annähert, weswe-gen auch das Mittel ihres Selbstausdrucks, die Literatur, nicht vollkommener werden kann. Die Denker kehrten zu jener alten romantischen Geschichtsphilosophie zurück, welche die Nationen und Kulturen als lebendige Organismen auffasste, und meinte, auch diese würden geboren, reiften aus, würden alt und stürben mit der Zeit, und dann finge alles

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Vorwort14

wieder von vorne an. Die Menschheit schreite nicht voran, sondern bewege sich im Kreis. Die kunstvollste und zugleich systematischste Entfaltung dieses heute allgemeinen Welt-gefühls ist Oswald Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes.7 Größtenteils bin ich ihm gefolgt, wenn sich die geschichtsphilosophische Einordnung der Erscheinungen auf-drängte. Aber ich war bestrebt, sowohl die Literatursoziologie als auch die Spengler’sche «Kulturmorphologie» ohne jeglichen Zwang anzuwenden. Ich bin mir darüber vollauf im Klaren, dass der unendliche Reichtum der Phänomene im Rahmen von keinerlei System Platz finden kann.

Eine der schwierigsten Fragen der Literaturgeschichte ist jene der Wertung. In frühe-ren Zeiten standen die Literaturhistoriker, ob bewusst oder unbewusst, noch unter dem Einfluss der klassischen, normativen Ästhetik, sie meinten also, die literarischen Werke könnten gegen den Maßstab gewisser ewig geltender Normen und Regeln gehalten und auf diese Weise könnte ihr Wert genau festgestellt werden; daher bestanden die älteren Lite raturgeschichten auch aus nichts anderem als der Biographie der Schriftsteller und der «Würdigung» ihrer Werke. Aber heute, in unserer relativistischen Zeit, glauben wir nicht mehr an ewig gültige Regeln; wir meinen zu wissen, dass jede literarische Wertung relativ und persönlich sei. Daher ist die moderne Literaturwissenschaft auch bestrebt gewesen, die Wertung aus ihrer Arbeit auszuschließen; statt ihrer hat sie die psychischen, geistigen und sozialen Ursachen der Entstehung der Werke untersucht, des Weiteren die Beziehung der Werke untereinander. Der Wertgesichtspunkt kann gleichwohl nicht vollständig ver-nachlässigt werden. Denn der Literaturhistoriker wertet schon dadurch, dass er entschei-det, wen er behandeln soll, wen nicht, über wen er mehr sagen soll und über wen weniger. Und wenn er nicht wertet, dann hat er seine Leserschaft im Stich gelassen, welche ja trotz allem in erster Linie von ihm erfahren will, was sie unbedingt lesen «muss» und was sie allenfalls lesen kann, und war um gerade dies und nicht jenes.

Ich bin also der Wertung nicht ausgewichen; aber wie kann ich dann vermeiden, dass meine Urteile bloß den Ausdruck meiner persönlichen Neigungen darstellen? Auf die Weise, dass ich mich bemühte, meine Meinung mit dem Urteil der Sachkundigen in Ein-klang zu bringen, mich dem herausgebildeten literarischen Einverständnis anzupassen. Das fiel mir auch nicht schwer, denn die innere Reifung des Menschen im Hinblick auf seinen literarischen Geschmack besteht ohnehin darin, dass er allmählich herausfindet, jene Schriftsteller seien tatsächlich groß, welche die Tradition dafür hält. Ich habe kaum eine Meinung niedergeschrieben, die diesem allgemeinen Einverständnis widerspricht – aber damit mein Buch gleichwohl nicht kritiklos literaturwissenschaftliche Gemeinplätze wie-derhole, hielt ich besagtes Einverständnis gegen das, was ich selbst bei meiner Lektüre erlebt hatte, und war bemüht, jenes mit diesem zu ergänzen.

Bei der Diskussion über den Wert einzelner Werke zog ich sehr oft in Betracht, wie sehr das fragliche Werk noch lebendig ist, welchen Eindruck es auf den «heutigen Leser» macht. Dieser Gesichtspunkt ist im Grunde keine Wertung; der heutige Leser ist nicht klüger als der frühere, und wenn ein Werk den heutigen Leser nicht ergreift, so ist daran häufig nicht das Werk schuld, sondern der heutige Mensch. Es ist dies auch kein nachhal-tiger Gesichtspunkt, denn was heute gefällt, wird morgen vielleicht nicht mehr gefallen,

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der Geschmack schwankt in unseren Tagen besonders stark; der heutige Leser ist nicht identisch mit der «Nachwelt», er ist nur ein Augenblick der Nachwelt. Ich habe es aber trotzdem als sehr wichtig erachtet, diesem Gesichtspunkt Nachdruck zu verleihen. Eines-teils, weil auch dieses Buch vom heutigen Leser gelesen wird und er von ihm in Bezug dar-auf Orientierung erwartet, welches Buch wohl seinem Herzen lieb werden könnte. Ande-renteils, weil die Literaturgeschichte, wie alles Geschriebene, ein Gemeinschaftswerk ist und es zu ihren Zielen gehört, der Gemeinschaft, der sie entspross, Ausdruck zu verleihen; die Literaturgeschichte soll nicht nur über die literarische Vergangenheit Zeugnis ablegen, sondern auch über die Gegenwart, deren Produkt sie ist. Dies erreicht sie, indem sie von Zeit zu Zeit über die Literatur als Stoff eine Bestandsaufnahme macht und feststellt, was von ihr im gegebenen geschichtlichen Augenblick lebendig und wirksam ist. In fünfzig Jahren8 wird den Sachverständigen in meinem Buch nicht das interessieren, was ich darin über alte und neue Schriftsteller sage, denn das wird er ohnehin wissen, sondern daran, was ich über den heutigen Leser sage; denn bis zu jenem Zeitpunkt wird bereits Teil der Literaturgeschichte sein, was heute gefallen hat und was nicht. In meinem Buch wird in fünfzig Jahren gerade das von Interesse sein, was bis dahin überholt sein wird, das, was die heutige Auffassung kennzeichnet.

Es kann nicht die Aufgabe eines zusammenfassenden und für den Allgemeingebrauch bestimmten Werkes sein, neue Detailwahrheiten und Zusammenhänge zu entdecken; das muss Spezialstudien und Monographien vorbehalten bleiben. Ich wurde eher von einem praktischen als von einem theoretischen Ziel geleitet: jenen an die Hand zu gehen, die in Ungarn gerne lesen, ihnen behilflich zu sein bei der leichteren Orientierung im unend-lichen und herrlichen Gedränge der Schriftsteller und Werke. Ich möchte, dass wer in mei-nem Buch herumblättert, Lust bekommt, möglichst viele wertvolle, wahrhaft weltlitera-rische Bücher zu lesen. Es gibt solche, die zum Zeitvertreib lesen, und solche, die mit ihrer Lektüre ihre Bildung vergrößern wollen; ich denke jedoch an den dritten Leser, für den das Lesen lebensnotwendig und unwiderstehlicher Zwang ist – nur dieser ist der eigent-liche Leser. Mein Wunsch ist es, die Leidenschaft des Lesens in jenen zu wecken und zu hegen, zu denen meine Zeilen ihren Weg finden. Denn auch ich glaube an das, was John Cowper Powys sagt:

Ein Mensch kann ohne Bücher «Erfolg haben», er kann reich werden ohne Bücher, seine Mitmenschen kann er ohne Bücher tyrannisieren, doch er kann «Gott nicht sehen», kann nicht in unserer Gegenwart leben, die von der Vergangenheit schwanger ist und in ihrem Schoß die Zukunft trägt, wenn er keine Kenntnis von den wundervollen Tagebüchern der Menschheit hat.9

Ich wäre froh, wenn ich etwas vermitteln könnte von der Entzückung, der Erschütterung, der Besessenheit, die ich bei der Lektüre bestimmter Werke empfand, und davon, was mir die Tatsache bedeutet, dass es auf der Welt Literatur gibt. Daher bestand ich nicht auf der kühl wissenschaftlichen, mitteilenden Vortragsweise, machte ich kein Geheimnis aus mei-ner Erschütterung, war auch dem Pathos nicht abgeneigt; es gibt Dinge, über die es sich nicht ziemt, ohne Ergriffenheit zu reden. Wenn nur mein Buch dazu beitrüge, dass die

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winzige Konfraternität der wirklichen Leser sich vergrößerte und erstarkte, in unseren Tagen, da die Musen schweigen und diejenigen beieinander Geborgenheit suchen, welche die Musen verehren. Denn die Welt braucht brennend ein bisschen Güte – und wer die Bü-cher liebt, kann kein schlechter Mensch sein.10

Ich bedanke mich bei meinen gelehrten Meistern beziehungsweise Freunden, die mir mit der Durchsicht einzelner Details und ihren fachgerechten Ratschlägen unschätzbare Hilfe leisteten, so in erster Linie bei den Herren Endre Angyal, Albert Gyergyai, Endre Illés, Tibor Kardos, Károly Kerényi, Elek Máthé, György Rónay, Sándor Sík, József Túróczi- Trostler und Béla Zolnai.11

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Erster TeilDie Griechen

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Jeder Epoche der Geschichte ist etliches vorausgegangen, nichts ist wahrhafter Anfang. Die orientalischen Kulturen haben den griechischen Geist vorbereitet. Doch die Kontinui-tät der europäischen Literatur, der Weltliteratur, der für die ganze Welt bestimmten Lite-ratur fängt gleichwohl erst bei den Griechen an, mit der Neuigkeit, welche sie ins mensch-liche Bewusstsein brachten: Sie haben den Menschen entdeckt.

In den Religionen der östlichen Völker vermischen sich Götter und Tiere miteinander in erschreckendem Durcheinander und in unmenschlich gigantischen Proportionen. Die Griechen stellten ihre Götter in menschlicher Gestalt dar – und wie ihre Götter ist ihre ganze Kultur dem Menschen angemessen. Sie haben die richtigen Proportionen des menschlichen Körpers entdeckt, auch ihre Bauten und Statuen sind von einer Größe, wel-che an den Menschen angepasste Bauten und Statuen besitzen müssen; auch ihre Gefühle, Sehnsüchte und ihre diesen Ausdruck verleihenden dichterischen Bilder gehen nicht in un-menschlicher Monumentalität über die menschlichen Proportionen hinaus. Die Sphinx und die Pyramide wurden nicht von ihnen gebaut, und die hundertarmige Gottheit spielt in ihrer Mythologie nur als barbarisches urweltliches Ungeheuer eine Rolle. Sie haben als Erste den Ausspruch getan, der Mensch sei das Maß aller Dinge, und sie maßen als Erste die menschlichen Dinge aus.

Die Primitiven und die Orientalen erlebten die Welt als das gefährliche Chaos von Göt-tern und Tieren, ihr Grundgefühl ist das Grauen. Die Griechen sahen auch den Kosmos, das «geschmückte» Weltall,1 als etwas dem Menschen Angemessenes an und sie fühlten sich wohl in ihm, dermaßen wohl, dass die Nachwelt fast bis in unsere Tage hinein dem Zauber dieser Euphorie erlegen ist und auch nicht gewillt war, in den großen Schöpfungen des Griechentums etwas anderes wahrzunehmen als die klassische Harmonie und die Hei-terkeit. Edle Einfalt und stille Größe, so wurde die griechische Seele vom Neuhumanisten Winckelmann Mitte des 18. Jahrhunderts bestimmt, als das tiefere Verständnis der grie-chischen Hinterlassenschaft seinen Anfang nimmt. Und erst hundert Jahre später erken-nen Nietzsche, Rohde und ihre Anhänger, dass die «edle Einfalt und stille Größe» nur die eine, die sonnige, apollinische Seite des Griechentums ist – doch ihr gegenüber steht die an-dere, die dionysische, die erst aus dunklen archaischen Schichten ekstatisch aufbricht und deren echter Ausdruck die griechische Tragödie ist.

Winckelmann und seine Zeit sahen damals in den Griechen noch nicht mehr als das Künstlervolk, durch das jede Manifestation des Lebens zur Schönheit, zum Kunstwerk verzaubert worden war. Seit Nietzsche meint man jedoch, auch die griechische Kunst sei nur der Ausdruck von etwas anderem, wie ja alle Kunst überhaupt. Die griechischen Göt-ter waren zunächst immerhin Götter und sie wurden erst nachher zu homerischen Gestal-ten, wie viel auch Homer an ihnen umgeformt haben mag. Im Mittelpunkt der neueren Al-tertumswissenschaft steht die religionsgeschichtliche Forschung, und die durch diese ins Spiel gebrachten neuen Gesichtspunkte haben auch unsere Anschauung der Literatur in mancher Hinsicht verändert.

Die Nachwelt hat von den Griechen unendlich viel gelernt; teils direkt von ihnen selbst, indirekt aber sogar noch viel mehr durch die römische, die urchristliche und in geringe-rem Ausmaß auch durch die byzantinische und die arabische Kultur. Die Nachwelt lernte

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Die Griechen20

von ihnen viel mehr, als man gemeinhin denken würde, ja wahrscheinlich sogar viel mehr als das, wovon uns die Wissenschaftler bis heute Rechenschaft ablegen können. Alles, was Formulierung ist, alles, was Form ist, stammt in seinen letzten Wurzeln von den Griechen. Wenn wir schreiben, wenn wir reden, selbst wenn wir empfinden und unsere Empfindung aus dem Chaos hervortretend in uns Form annimmt – erinnern wir uns stets, ohne darum zu wissen, der Griechen.

Der Wert der griechischen Schöpfungen wird folglich außer durch deren formale Voll-kommenheit auch dadurch gesteigert, dass diese Quellen sind: Die griechischen Tragödien sind nicht nur vollendete Tragödien, sondern auch die ersten Tragödien überhaupt, Ahnen und zugleich Urbilder jeder späteren Tragödie. Und als eine dritte Art von Wert gesellt sich zu den vorigen beiden der Enthusiasmus der Nachwelt, den die griechische Literatur in sich aufgesogen hat. Sollte heute jemand ein Werk verfassen, das den Epen Homers in jeder Hinsicht das Wasser reichen könnte, würde es trotzdem hinter Homer zurückblei-ben: denn es würden ihm die Jahrtausende abgehen, welche Homer mit Erschütterung zu-hörten und ihn lasen. Dieses «Aufgesogen-Sein» gilt in noch gesteigertem Maße für die römische als selbst für die griechische Literatur. Die stärkste Anziehungskraft der großen Schöpfungen der antiken Welt für uns Spätgeborene geht vielleicht davon aus, dass diese die ununterbrochene Bewunderung der Jahrhunderte aufgesogen haben, wobei auch etwas von dieser Begeisterung sie selbst überzogen hat, ihr Funkeln noch weiter steigernd, so dass sie nunmehr nicht nur die Denkmäler eines Zeitalters und eines Volkes sind, sondern die der gesamten menschlichen Vergangenheit.

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Erstes Kapitel

Das Epos

Homer

Wie die Welt mit einem Wunder, der Erschaffung der Welt, ihren Anfang nimmt, so ist auf ähnliche Weise auch die erste Tatsache der Literaturge-schichte ein Wunder (und zugleich die Erschaffung einer Welt). Die Epen Homers, die ältesten literarischen Denkmäler,2 gehören sofort zu den voll-kommensten Werken und dienten den kommenden Jahrtausenden als Mus-ter für die Dichtung überhaupt.

Schon in der Antike fanden sich Philologen, die in Zweifel zogen, dass die homerische Epik das Werk eines Menschen sei. Der Gedanke wurde dann im 17. Jahrhundert erneuert und am Ende des 18. Jahrhunderts von einem großen klassischen Philologen, Friedrich August Wolf, im Detail ausgearbeitet; so ent-stand die sogenannte homerische Frage. Das Bild, das sich die Gelehrten von Homer machten, passte sich ebenfalls der im 19. Jahrhundert in der Wissen-schaft allgemein herrschenden Idee der Entwicklung an. Homer habe keines-wegs gelebt – sagten sie –, eine erdichtete Gestalt sei er, sein Name bedeute so viel wie «der Zusammenklebende»; selbst wenn er gelebt habe, seine Rolle habe sich darin erschöpft, die kurzen, balladesken Lieder zusammenzukleben, welche die Rhapsoden, die Sänger, über die Helden des Trojanischen Krieges gesungen hätten. Oder es habe vielleicht irgendeinen eposartigen Kern gege-ben, und darum herum hätten sich die Ilias und die Odyssee auskristallisiert. Wunder gibt es nicht. Wenn etwas so groß angelegt ist, dass wir uns nicht vor-stellen können, wie es das Werk eines einzigen Menschen hätte sein können, dann muss klargestellt werden, dass es in der Tat nicht das Werk eines Men-schen ist. (Als ob es wahrscheinlicher wäre, dass in der homerischen Zeit nicht ein genialer Dichter gelebt hätte, sondern deren vierundzwanzig!)

Die Dichter haben von allem Anfang an gegen diese Auffassung Protest eingelegt. Sie protestierten nicht, indem sie sich auf philologische und ge-schichtliche Gegebenheiten beriefen, wie die Gelehrten, sondern auf jene für sie erlebniserfüllte Wahrheit, dass ein einheitliches Werk nur von einem Schöpfer hervorgebracht werden kann, denn Einheit bedeutet gerade dies, dass im Ganzen eine Seele widergespiegelt ist. Die englischen und die fran-zösischen Gelehrten ergriffen eher für die Dichter Partei, und heute, nach dem Tod des letzten Verteidigers der Wolf’schen Theorie, Ulrich von Wila-mowitz-Moellendorff, gibt es auch unter den Deutschen keinen ernst zu neh-menden Wissenschaftler, der behaupten würde, dass die beiden homerischen Epen sich langsam bis zu ihrer heutigen Gestalt entwickelt hätten.

Homerische Frage

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Die Griechen22

Doch auch der kompromisslose «unitaristische» Standpunkt ließ sich nicht aufrechterhalten. Es musste eingeräumt werden, dass ein anderer die Ilias und wieder ein anderer die Odyssee geschrieben hatte. Die Odyssee ent-stand später, vielleicht hundert oder zweihundert Jahre später, und zwar be-reits unter dem Einfluss der Ilias, dieser wie einem schulmäßigen Muster fol-gend, ohne dass es ihr gelungen wäre, sich zur erhabenen Höhe der Ilias zu erheben. Es lässt sich auch nicht bezweifeln, dass die Griechen bereits vor Homers Gedichten die in diesen großen Epen figurierenden Gottheiten, Helden und Sagen gekannt hatten; die Rhapsoden hatten diese schon vor Homer besungen. Es ist sogar anzunehmen, dass es auch vor Homer nicht nur Heldenlieder gegeben hatte, sondern auch der Ilias ähnliche, in Hexame-tern verfasste, also nicht zum Vorsingen, sondern zum Rezitieren bestimmte epische Dichtungen. Es ist nicht auszuschließen, dass ihr Verfasser oder je-mand anderer diese auch niedergeschrieben hat, wie ja auch angenommen werden darf, dass Homer sein Gedicht bereits schriftlich formulierte. Die Ilias hatte sehr viele Vorläufer: Ein langer Weg, eine lange «Entwicklung» führte bis zu ihr; der Weg erreichte mit Homer seinen Höhepunkt, aber er endete keineswegs mit ihm. All das ist so; aber das Wunder bleibt trotzdem ein Wunder.

Die vorausgegangenen Dichtungen gingen allesamt verloren, ja das ge-schah sogar auch mit ihrem Nachhall: Die Griechen sowie die Hüter und Verschwender ihrer Hinterlassenschaft, die Byzantiner, kannten die Idee der Entwicklung noch nicht, sie hielten die primitiveren Werke nicht für eben-falls aufbewahrungswürdig, ihnen war das Vollkommene gerade genug. Doch selbst wenn das Vorausgegangene uns überliefert wäre, das Wunder wäre auch in diesem Fall nicht weniger bewundernswert. Das Wunder ist, dass aus diesem Vorausgegangenen die Ilias wurde. Vorausgegangenes war auch bei anderen Völkern zusammengekommen, und diese schufen trotzdem keine zweite Ilias: denn Homer gab es nur einmal. Ein ähnliches Phänomen ist der Auftritt Shakespeares, doch der ist weniger geheimnisvoll, da hier die «Vorausgegangenen» uns erhalten geblieben sind – sie wären doch so über-aus wenig sagend, hätten sie nicht zu Shakespeare geführt! Das Wunder ist, dass unter den Menschen ein schöpferisches Genie wandelte – und dass so-gleich der erste Dichter, dessen Name uns überliefert ist, zu den welterschaf-fenden Genies gehört, wie sie im Laufe der universellen Literaturgeschichte allenfalls drei- oder viermal in Erscheinung getreten sind.

Vom Leben dieses wundervollen Schöpfers wissen wir sozusagen nichts. Bekannt ist, dass in der Antike «sieben Städte miteinander darum wetteifer-ten», welche von ihnen ihm das Leben geschenkt hatte; die Gelehrten sagen, die erste unter ihnen mochte recht haben, das kleinasiatische Smyrna. Auch seine Lebenszeit kennen wir nur höchst annähernd: Irgendwann im neun-ten, achten oder siebten Jahrhundert v. Chr. mag er gelebt haben.

Ihr Entstehen

Sein Leben

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Das Epos 23

Von den beiden großen Epen handelt das ältere und größer angelegte, die Ilias, vom Trojanischen Krieg. Die gewaltige Heldensage des Trojanischen Krieges hat wahrscheinlich eine geschichtliche Grundlage: den Kampf der in Kleinasien kolonisierenden Griechen gegen die ortsansässige barbarische Urbevölkerung; dies ist dadurch erwiesen, dass der Name einiger trojani-scher Helden einen barbarischen Klang hat. Im Mittelpunkt des Heldenge-dichts steht Achill, Achills Groll. Achill ist aufgebracht gegen Agamemnon, den Anführer der Troja belagernden Griechen, und zieht sich vom Kampf zurück. Die Trojaner kommen daraufhin zu neuen Kräften; Achill erlaubt es seinem besten Freund Patroklos, den Kampf gegen die Trojaner mit sei-ner (Achills) eigenen Bewaffnung aufzunehmen. Hektor, der heldenhafteste unter den Verteidigern Trojas, tötet Patroklos. Achill tobt vor Schmerz, dann zieht er gegen Hektor ins Feld. Es gelingt ihm, diesen zu töten; seine Leiche lässt er nicht bestatten, bis König Priamos, Hektors weißhaariger Va-ter, ihn aus Troja holen kommt. Achill erbarmt sich seiner und gibt Hektors Leichnam frei; den des Patroklos begraben die Griechen mit großen Ehren.

Es ist dies ein echtes «Helden»-Gedicht: Sein Thema ist ein großer Krieg, mit Königen, Schlachten, Zweikämpfen; doch im «Hinterland» brei-tet sich vor uns der ganze Reichtum des menschlichen Lebens aus. Wir se-hen das tägliche Leben des hunderttorigen Troja, wie es ungestört weiter-geht, obwohl vor seinen Toren die Helden dabei sind, einander zu töten; die Frauen arbeiten, führen ihre Kinder spazieren und bringen der Göttin Opfer dar; die Ältesten sitzen vor ihren Häusern und betrachten anerkennend die Schönheit der Schönen Helena; auf Erden beraten sich die Anführer und lie-gen einander in den Haaren, da sie auf die Macht der jeweils anderen unend-lich eifersüchtig sind; und oben auf dem tausendgipfligen Olymp leben die unsterblichen Götter mit großer Freude ihr menschlich-übermenschliches Leben, schmausend, hadernd, sich liebend und höchlich amüsiert überein-ander. Götter, Frauen und Helden reden gleichermaßen viel und andauernd. Es strömt nur so aus ihnen, das wunderschöne und reichliche, durch nichts zur Eile gedrängte griechische Wort, sie wissen allesamt, dass ihre Rede schön ist, und sie freuen sich über ihre eigenen Worte und jene der anderen.

Die Odyssee ist an Menschen und an menschlichen Angelegenheiten ärmer als die Ilias – aber räumlich viel reicher – an Meer, an Ländern, an Himmel. Die Ilias ist das Gedicht der Gegenwärtigkeit; das Epos jener Menschen, die sich auf der Erde dermaßen wohl fühlten, dass sich die Menschheit bis heute danach sehnt, einer von ihnen zu sein. Die Odyssee ist das Epos der Entfer-nung, des Reisens. Sie ist, könnte man sagen, das erste romantische Werk, denn in ihr erscheint zum ersten Mal die Nostalgie. Ihr Held, der «erfin-dungsreiche» Odysseus, ist nicht mehr nur Held und Mensch, sondern ein typischer Grieche. Die Züge der griechischen Nation verklären sich in ihm: die Liebe zur Rede wird zum diplomatischen Geschick, die Schärfe des Ver-

Ilias

Odyssee

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Die Griechen24

standes zu einer jeden überlistenden Schlauheit, die große griechische Neu-gier, das thaumázein, das «Staunen» (nach Platon der Beweggrund aller Phi-losophie) zur verzehrenden, Welten bereisenden Leidenschaft, zur nach Übersee jagenden Ruhelosigkeit.

Nach der Zerstörung Trojas bricht Odysseus auf, um zu seiner treuen Gattin Penelope nach Ithaka zurückzukehren. Doch das Meer ist ein großer Irrgarten, besonders wenn ein Gott einem nicht wohlwill; Odysseus begeg-net jedem Ungeheuer und macht die Bekanntschaft eines jeden entfernten und mysteriösen Volkes, mit denen die Fantasie der ersten griechischen See-fahrer die Gestade des Mittelmeers bevölkerte. Seine Gefährten versinken im Land der Lotos-Esser in träge Träumerei, fallen dem Zorn des einäugi-gen Riesen Polyphem zum Opfer, werden von Kirke in Schweine verwan-delt. Odysseus besucht die Gefilde der Unterwelt, an einen Mastbaum ge-bunden hört er dem Zaubergesang der Sirenen zu; die Seefahrer stehlen die Kühe der Sonne, im darauffolgenden schrecklichen Sturm gehen alle zu-grunde, nur Odysseus selbst wird auf die Insel der Nymphe Kalypso ver-schlagen, dann nach neunjährigem Schmachten ins Land der Phäaken. Am Schluss gelangt er nach Hause und metzelt die Freier nieder, welche in sei-ner Abwesenheit Penelope bestürmten und das Vermögen des Odysseus verprassten.

Lebte er wohl danach in aller Ruhe in der Heimat seiner Vorfahren? Man erwartet fast die Fortsetzung, die zweitausend Jahre später Dante zu Papier brachte: Odysseus bricht mit seinem Schiff von neuem auf, in einem fort gen Westen, bis er von der Himmlischen Macht versenkt wird, als in der Ferne bereits das Vorgebirge des Purgatoriums am Horizont erscheint. Der ewige Wanderer, der mit den Entfernungen verlobte Mensch, findet sein Heim auch daheim nicht, denn gegen seine Nostalgie ist kein Kraut gewachsen, außer dem Tod, der auf dem Grund aller Nostalgie lauert. Odysseus begeg-net unterwegs verschleierten Todesdämonen und Todesländern (Károly Ke-rényi), und die nach dem Tod lechzende keltische Sage des Mittelalters, die Dante inspirierte, konnte sich leicht an ihn anschließen (siehe dort.)

Eine der verblüffendsten Eigentümlichkeiten der homerischen Epen ist die, dass der Laie sie in einer Übersetzung beinahe so liest, als ob sie von ei-nem heutigen Schriftsteller geschrieben worden wären. Diese ewige Aktuali-tät ist die gemeinsame Eigenschaft der größten Dichter der Weltliteratur: Ho-mers, Dantes, Shakespeares, Goethes. Ihre Schriften wirken heute weniger veraltet als zum Beispiel selbst die vor dem Weltkrieg3 modischen Romane. Doch in Homer ist dieser Zug am verblüffendsten, denn hier löst sich die Di-stanz von fast dreitausend Jahren in nichts auf. Sándor Baksays volkstümliche und János Aranys gelehrte Ilias-Übersetzung lesen kleine Gymnasiasten mit dem gleichen Genuss wie die Toldi-Trilogie oder Sterne von Eger.4 Um sie zu genießen, bedarf es keines vorgängigen Studiums, wir müssen uns nicht in die

Ihre Aktualität

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Das Epos 25

Seele vergangener Zeiten «einfühlen». Homers Menschen sind Menschen. Sie könnten genauso gut heute leben.

Doch in den homerischen Epen figurieren nicht nur Menschen, sondern auch Götter. Das ist fremdartig für den Laien, und letzten Endes kann nicht einmal ein Gelehrter von größter Gelehrsamkeit den Glauben Homers er-schöpfend erklären, wenn dieses Wort im Zusammenhang mit Homer über-haupt gebraucht werden darf.

Dies ist jedoch die Achse des Epos. Je tiefer die Altertumswissenschaft in die großen Werke der antiken Welt eindringt, umso klarer wird es für sie, dass die antike Literatur auch nicht für einen Augenblick von der antiken Religion, die antiken Menschen nicht von den antiken Göttern getrennt werden können.

Die homerische Welt ist völlig durchtränkt mit Göttern. Die Götter er-scheinen häufig vor den Sterblichen, unterhalten sich mit ihnen, mitunter auch über gleichgültige Themen; sie nehmen in den Angelegenheiten der Menschen leidenschaftlich Stellung. Selbst wenn ein «daímon» nicht persön-lich erscheint, ist die göttliche Präsenz doch immer fühlbar. Auch Homers Stil ist von Göttlichkeit durchwirkt. Theoeíkelos, «Göttern ähnlich», gehört zu den verhältnismäßig weniger erhabenen homerischen Attributen, von ei-nem Gott abzustammen bedeutet noch nicht viel, und «göttlich», «ambro-sisch», «gottgegeben» ist auch die Nacht, die große Einheit, welche die Le-benden täglich in eins verhüllt. Im Sittenkodex von Homers Menschen fehlt denn auch nicht, was zu tun sei, wenn man einem Gott begegnet. Als Odys-seus von den Wellen nackt ans Ufer, auf die Insel der Phäaken gespült wird und Nausikaa, die Tochter des Königs, ihm entgegenkommt, fragt Odysseus sie in aller Höflichkeit: «Bist du etwa eine Sterbliche oder eine Göttin? Denn nach deinem Äußeren zu urteilen, würde ich dich eher für eine Göt-tin halten.» Odysseus weiß sehr wohl, dass Nausikaa keine Göttin ist, er will ihr nur ein Kompliment machen, aber Nausikaa hält sein Kompliment nicht für dumm und übertrieben, denn genauso gut könnte auch eine Göttin die-ses Weges kommen, oder eine Göttin könnte die Gestalt Nausikaas anneh-men. Denn die Götter erscheinen gewöhnlich in jemandes Gestalt, wobei ihre Gestalt dann mit geheimnisvoller Doppelheit sowohl göttliche als auch menschliche Züge aufweist.

Bereits Herodot behauptete, dass die griechischen Götter von Homer und Hesiod geschaffen worden seien. Da der Grieche nur die geformte Wirklich-keit als seiend empfindet, muss Herodots Wort so verstanden werden, dass Homer und in seinen Fußstapfen Hesiod den griechischen Göttern Form verliehen hätten: Die bis dahin formlosen Urdämonen, welche von den ar-chaischen Griechen in Gestalt von Schlangen, Steinen, Feuern angebetet worden waren, wurden von ihnen mit plastischer, ihrem Charakter und Machtgebiet entsprechender menschlicher Gestalt versehen, und diese von

Homer und die Götter

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Die Griechen26

ihnen erschaffene Gestalt blieb in ihren Augen nachher die jeweils gültige; Phidias zum Beispiel schuf die Statue des Olympischen Zeus aufgrund eini-ger Verse in der Ilias.

Aber glaubte Homer wohl an die Götter, die er selbst schuf? Für einen im monotheistischen Glauben aufgewachsenen Menschen ist diese Frage unver-meidbar. Viele haben sie negativ beantwortet; am Ende des 19. Jahrhunderts herrschte allgemein die Auffassung vor, Homer sei der Spross einer dekaden-ten Kultur und habe an seine Götter nur insoweit geglaubt, als ein Dichter an seine Gestalten glaubt. Doch die Frage darf nicht in dieser Form aufge-worfen werden. Homer «glaubte» nicht an die Götter wie ein gläubiger Christ, für den die Erkenntnis von Gottes Dasein der grundlegendste Akt der Religiosität ist. Der vom christlichen Gläubigen erkannte Gott ist un-endlich, neben ihm wird der Gläubige in seiner Endlichkeit beinahe zu nichts. Dieser Glaube ist für den Hellenen völlig unbekannt, doch auch des-sen Gegenteil, die Ungläubigkeit, tritt erst viel später auf. Die homerische Religion ist kein Glaube. Homers Götter sind nicht unendlich, sind nicht viel größere Herren als die Menschen; aufrührerische Sterbliche wagen es sogar, ihnen mitunter zu trotzen. Aber dass sie für Homer wirklich sind, dar über besteht kein Zweifel.

Die Tatsache, dass er seine Götter manchmal unzweifelhaft mit leichtem Spott behandelt, dass er aus ihnen manchmal fast Operettenfiguren macht, über sie pikante Intimitäten erzählt, dass sich seine Götter im Allgemeinen weniger edel benehmen als seine Menschen, dass die Götter selbst einander ständig auslachen – beweist überhaupt nicht, dass sie für ihn keine Wirklich-keit darstellten. Man klatscht und scherzt ja am liebsten über diejenigen, die man achtet und deren Nähe man ständig spürt. Und jener grundlegende Mangel an Ernsthaftigkeit, der die am meisten ins Auge stechende Eigen-schaft der homerischen Götter darstellt – ergibt sich paradoxerweise gerade aus ihrer Göttlichkeit. Bedenken wir doch: Auch die Götter nehmen ja teil an den Gefechten unterhalb der Mauern Trojas, sie kämpfen mit der Waffe in der Hand gegeneinander und gegen die Menschen, doch ihrem Kampf fehlt die große Perspektive des heldischen Lebens, der Heldentod. Sie em-pören sich ab und zu gegen Zeus, dieser stößt mit griechischer Großspreche-rei Drohungen gegen sie aus, doch ihre Empörung ermangelt des höchsten Einsatzes: Sie setzen nicht, sie können auch gar nicht ihr Leben einsetzen, da sie unsterblich sind. Die Unsterblichkeit macht die Götter den kurzlebi-gen Menschen überlegen, doch die Sterblichkeit macht die Menschen den Göttern überlegen, denn sie verleiht ihren Taten tragisches Gewicht, Ernst-haftigkeit, Licht und Schatten. Die Götter sind unsterblich und eben darum gewichtslos. (Károly Kerényi)

Kehren wir nun zu den Menschen zurück. Wer sind sie, wohin gehören sie, welchen Platz nehmen sie in der Gesellschaft ein, in der Ordnung der

Homerische Religion

Gesellschaftlicher Hintergrund

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Das Epos 27

menschlichen Welt? Die Helden der Ilias sind Mitglieder eines kämpferi-schen, Land besitzenden feudalen Hochadels, samt ihren Schildträgern und Lehnsmännern. Von Menschen «aus dem Volk» kommt nur einer vor, der freche und für seine Frechheit büßende Thersites. Die später entstandene Odyssee ist etwas demokratischer, in ihr werden wir auch mit dem Gesinde, mit den Ziegenhirten des Odysseus bekannt gemacht, doch deren Wert misst sich an ihrer Anhänglichkeit ihrem Herrn gegenüber, der treue Be-dienstete wird am Schluss belohnt, der untreue gebüßt. Die Anschauungs-weise ist auch hier noch gänzlich aristokratisch.

Heute halten es die Gelehrten beinahe für unverständlich, wieso der An-fang des 19. Jahrhunderts, die Zeit der Romantik, in der Ilias ein Volksepos, ein naives Epos erblicken konnte. Bei Homer gibt es nichts Volkstümliches, nichts von den «Sprüngen und Hüpfern» der Volksdichtung, von der sorgen-vollen Einfalt des ackerbauenden Menschen.

Ein ackerbauendes Volk hätte nicht die Gottheiten des Ackers aus seinem Ge-dächtnis verloren, die freilich auch keine Zeit dazu haben, auf den Olymp hin-aufzugehen. Wie primitiv ein Kult auch sei, die Natur zwingt ihm das Kir-chenjahr und die Feste auf. Davon gibt es bei Homer keine Spur; die Ilias kennt überhaupt keine Jahreszeit und kein Wetter.

(Wilamowitz-Moellendorff)

Es gibt nichts Naives an Homer, sein Weltbild ist überlegen, elegant. Im produktionspsychologischen Sinn ist er ebenfalls nicht naiv: Homer ist be-wusster Schöpfer. Auch der Hexameter ist eine äußerst komplizierte, späte Versform, also auch Homers Sprache ist Kunstsprache, literarische Sprache, ein Dialekt, wie er wahrscheinlich nirgends gesprochen, nur von Dichtern verwendet wurde.

Die homerische Epik ist Hofdichtung, Ritterdichtung, wie die Epik des hohen Mittelalters. Was in ihr zu großer Manifestation gelangt, ist nicht das archaische mediterrane Agrarvolk, nicht die Urbevölkerung, sondern sind die Eroberer, welche die griechische Kultur erschufen. Diese berittenen Er-oberer brachen vom Norden her in die griechische Halbinsel ein, unterwar-fen die dort ansässigen frommen Ackerbauern und organisierten sich in lehnsrechtlichen Fürstentümern.

Gerade deswegen sind die homerischen Epen im Spengler’schen Sinn «gleichzeitig» mit den Ritterepen des Mittelalters. Sie geben uns kein Bild der griechischen Urzeit – von der griechischen Urzeit ist kein literarisches Denkmal auf uns gekommen von der Art, wie von der Urzeit der westlichen Völker die Edda. Die Edda-Lieder sind im Spengler’schen Sinn viel «frü-here» Werke als jene Homers, da sie eine viel primitivere Stufe der Kultur widerspiegeln. Homers Werke sind die Projektion seiner eigenen Zeit, als sich die Eroberer bereits friedlich niedergelassen und ihr aristokratisches

Kein Volksepos

Ritterdichtung

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Die Griechen28

Gesellschaftssystem ausgebaut hatten, es einstweilen noch ungestört ge-nießend, genau wie die westlichen Ritter im 12. und 13. Jahrhundert. Inner-halb der einzelnen Kulturkreise ist dies der Moment – der Mittagspunkt des Lehnswesens –, da die großen epischen Werke geboren werden.

Diese literatursoziologische Lage bestimmt eine der wertvollsten Eigen-schaften des homerischen epischen Stils: seine vornehme Zurückhaltung ge-genüber bestimmten Dingen. Wenn er von den physischen Aspekten der Liebe spricht, ist Homer, mit uns verglichen, ziemlich freimütig, wie jeder an-tike Mensch, doch gewisse Grenzen überschreitet er nie. Trotz seinem boden-ständigen Realismus kann über ihn nie behauptet werden, er sei gewöhnlich; etwas hält ihn zurück: das Gesetz der Vornehmheit, die Klassendisziplin des Adels. Alle adlige Dichtung ist züchtig, denken wir an die ungarischen Dich-ter des 19. Jahrhunderts. Das Drastische wird vom Bürger favorisiert, und nur der Bürger empört sich auch darüber. Der Aristokrat sieht darüber hinweg.

Dieses gleiche adlige Maßhalten protestiert auch gegen alles, was dem finsteren untermenschlichen Reich entstammt: die Magie, die Hexerei (ob-wohl sie in der Antike eine große Rolle spielten) fehlen in der Ilias; es fehlen das makabre Element, das Ausmalen der Schrecken und der Süße des Todes, es fehlt alle urweltliche Angst, es fehlen die thériomorphen, tiergestaltigen Gottheiten und Menschen, mit einem Wort: die unaristokratische, dunklere Seite der Seele. Die Odyssee, mit ihren Ungeheuern und ihrem verkappten Todeskult, ist auch in dieser Hinsicht demokratischer.

Die zentral bewegende Leidenschaft der Ilias ist die Freundschaft: Achills leidenschaftliche Freundschaft für Patroklos, seine Rache für Patroklos’ Tod. Die Leidenschaft der Freundschaft spielt auch in der späteren griechi-schen Literatur eine größere Rolle als in der Literatur gleich welchen ande-ren Volkes – jedenfalls immer dann, wenn die erwählten Wenigen, die grie-chische Aristokratie, nach ihrem literarischen Ausdruck suchen.

Obwohl die aristokratische Weltordnung das Sich-Versenken in den To-desgedanken verbietet, ist der Tod trotzdem in jeder Szene Homers genauso sehr präsent, wie es die unsterblichen Götter sind. Seine Helden empfinden die Götter immer als unsterblich, sich selbst immer als sterblich; die griechi-sche Dichtung redet eher von Sterblichen als von Menschen. Homers Hel-den wissen nicht nur, dass sie sterben müssen, sondern auch, dass sie alsbald, jung und blutüberströmt, vergehen werden. Über die sonnenbeschienene trojanische Ebene gleitet ununterbrochen der dunkle Schatten dahin. Zum homerischen Helden gehört, so gut wie sein Panzer, wie seine Arme auch das über ihn Verhängte. Das Bewusstsein des Verhängnisses, der Vorklang der späteren großen griechischen Tragödien, durchbricht hie und da die offen-bar schwer aufrechtzuerhaltende homerische Harmonie, in der sich die noch nicht angegriffene Zufriedenheit der adligen Gesellschaft widerspiegelt. Das urweltliche Grauen bricht einmal trotz allem durch, ein einziges Mal, aber

Homers Vornehmheit

Verhängnis