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13 Geschichte und Literatur im Unterricht der Oberstufe Auszüge aus einer Dokumentation am Tag der offenen Tür (Teil 2/1) Pädagogische Gesichtspunkte zur 10. Klasse Der Übergang zur 10. Klasse erscheint in der Regel als der eigentliche Schritt in die Oberstufe. Die Turbulenzen der 8. und 9. Klasse haben sich weitgehend gelegt, die Schülerinnen und Schüler wirken ausgeglichener, besonnener, überlegter, einfach „vernünftiger“. Rein äußerlich würdigen wir diese „Ankunft in der Oberstufe“ dadurch, dass wir beginnen die Jugendlichen mit „Sie“ anzureden. Im Klassenraum werden die Tische nun hufei- senförmig gestellt: Nachdem in der 9. Klasse die Schülerinnen und Schüler paarweise – oft mit ihren Freundinnen oder Freun- den zusammen – an Einzeltischen saßen, kehren wir jetzt wieder zur „Kreisform“ der ersten Schulzeit zurück, in einem Akt be- wusster Zuwendung gewissermaßen. Die Gesprächsbereitschaft in der Gruppe und die Fähigkeit einander zuzuhören sollen damit unterstützt werden. Die Klasse scheint im Unterricht auch einen länge- ren Atem zu haben, Auf- merksamkeit und Konzent- ration ermöglichen längere Phasen des Gesprächs und die Erörterung umfassende- rer Themenstellungen. In der Lehrplandarstellung von To- bias Richter heißt es: „Auf dieser Stufe soll ein vertieft- rationaler Zug in das Ge- schichtsverständnis kommen. Wichtig ist, dass die Schüler in wirkliche Denkprozesse eintreten und sich das Erle- ben erkennend erfasster Hufeisenform – die 10. Klasse in ihrem Raum

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Geschichte und Literatur imUnterricht der OberstufeAuszüge aus einer Dokumentation amTag der offenen Tür (Teil 2/1)

Pädagogische Gesichtspunkte zur 10. KlasseDer Übergang zur 10. Klasse erscheint in der Regel als der

eigentliche Schritt in die Oberstufe. Die Turbulenzen der 8. und9. Klasse haben sich weitgehend gelegt, die Schülerinnen undSchüler wirken ausgeglichener, besonnener, überlegter, einfach„vernünftiger“. Rein äußerlich würdigen wir diese „Ankunft inder Oberstufe“ dadurch, dass wir beginnen die Jugendlichen mit„Sie“ anzureden. Im Klassenraum werden die Tische nun hufei-senförmig gestellt: Nachdem in der 9. Klasse die Schülerinnenund Schüler paarweise – oft mit ihren Freundinnen oder Freun-den zusammen – an Einzeltischen saßen, kehren wir jetzt wiederzur „Kreisform“ der ersten Schulzeit zurück, in einem Akt be-wusster Zuwendung gewissermaßen. Die Gesprächsbereitschaftin der Gruppe und die Fähigkeit einander zuzuhören sollen damitunterstützt werden.

Die Klasse scheint imUnterricht auch einen länge-ren Atem zu haben, Auf-merksamkeit und Konzent-ration ermöglichen längerePhasen des Gesprächs unddie Erörterung umfassende-rer Themenstellungen. In derLehrplandarstellung von To-bias Richter heißt es: „Aufdieser Stufe soll ein vertieft-rationaler Zug in das Ge-schichtsverständnis kommen.Wichtig ist, dass die Schülerin wirkliche Denkprozesseeintreten und sich das Erle-ben erkennend erfasster

Hufeisenform –die 10. Klasse in ihrem Raum

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Zusammenhänge einstellt.“1 Die unmittelbare Wahrnehmungeinzelner Ideen weitet sich jetzt zur anfänglichen Erfahrungeines beziehungsreichen Ideen- und Gedankenkosmos. Damittreten auch verstärkt kulturelle, geistes- und bewusstseinsge-schichtliche Zusammenhänge ins Blickfeld. Die bisher nochmehr auf Einzelnes gerichtete Betrachtung weicht zunehmendder Anschauung bis ins Globale sich weitender kultureller, ge-sellschaftlicher und ökonomischer Beziehungen und Verknüp-fungen. Dabei wird die Qualität des Ideell-Gedanklichen an sicherfahren und zum Problem: Was ist Wahrheit? In welchem Ver-hältnis stehen Idee und äußere Wirklichkeit zueinander? Wieverwirklichen und offenbaren sich die großen Ideen und Impulseder Menschheit durch Einzelne und Gemeinschaften? Was prägtden Charakter einer Kultur, wie ergreift der Mensch in ihr dieErde?

In diesem Lebensalter ist die Neigung besonders ausgeprägt,die Erfahrung des Ideellen zu verabsolutieren, auf Kosten dervollen Wirklichkeit ein in sich schlüssig erscheinendes Gedan-kensystem zu übernehmen, das die Welt ganz zu erklärenscheint. Die Anfälligkeit für Ideologien und Heilslehren ist des-halb besonders groß. Die Vielfalt der Kulturen, die großen Be-wegungen, Entwicklungen, Errungenschaften der Kulturvölkermüssen jetzt thematisiert werden. Thema sollte dabei auch dasZusammenspiel und die Auseinandersetzung der Völker mit dengeographischen und klimatischen Bedingungen sein, schließlichdie mehr oder weniger vollzogene Emanzipation des Menschenvon den natürlichen Gegebenheiten, von ethnischen Bindungenund kulturellen Traditionen.

Die in den Kulturen beobachtbare Entwicklung vom my-thisch-bildhaften zum rational-logischen Denken kann aus der

Rund 15000 Jahre alte Wand-malereien in der Höhle vonLascaux

1 Vgl. zum „Lehrplan“ dieDarstellung in der vorigenAusgabe von KURSIV

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eigenen Lebenssituation des Jugendlichen heraus innerlich er-fahren und mitvollzogen werden. Indem die Wahrbilder derMärchen-, Mythen- und Sagenwelt aus der Kindheit jetzt mitneuer Verständnisfähigkeit in der Geschichte angeschaut, inter-pretiert und gewürdigt werden, wird der verständnislosen Dis-tanzierung und Entfremdung von den alten „Ammenmärchen“vorgebeugt und ein Bruch in der Entwicklung, eine Loslösungdes „Kopfes“ verhindert. Zugleich wird durch einen Neuansatzund eine bewusste Reflexion der historischen Betrachtung dereigene Standpunkt relativiert und die Weisheit früher Mensch-heitsstufen und fremder Kulturen gewürdigt. Zur Vergegenwär-tigung der eigenen Methoden und Betrachtungsweisen gehörennatürlich auch die grundsätzlichen Fragen nach dem Sinn deseigenen Tuns, etwa in der Weise: „Wozu bemühen wir uns ei-gentlich um Geschichtserkenntnis?“, oder auch: „Inwieweitkönnen Kunst und Literatur zum Verständnis der Geschichtebeitragen?“

Vom Sinn des GeschichtsunterrichtsDie erneute Hinwendung zur alten Geschichte in der Ober-

stufe mag zunächst fragwürdig erscheinen, zumal in den vergan-genen Jahrzehnten in den staatlichen Schulen eine zunehmendeVerengung des Blickfeldes auf die „neuere“ Geschichte,schließlich auf die „neueste“ und „Zeitgeschichte“ stattgefundenhat. Die gegenwärtigen Krisen haben zwar unüberhörbare Fra-gen umfassenderer kultur-, religions- und bewusstseinsge-schichtlicher Natur aufgeworfen, in den Lehrplänen und Bil-dungsplänen hat sich hiervon aber recht wenig niedergeschlagen,von den Prüfungsanforderungen ganz zu schweigen. Auch von

Großer Auerochse,Höhle von Lascaux

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Schülerseite liegt deshalb die Frage nahe, warum im Lehrplander Waldorfschule die alten Kulturen noch einmal einen solchenStellenwert beigemessen bekommen und den Unterricht der 10.und teilweise 11. Klasse füllen, nachdem man doch in der 9.Klasse schon in der neuesten Zeit angekommen ist. Man sollteauf diese Frage gründlich eingehen, auch wenn sie nicht lautgestellt wird. Am Ausgangspunkt des Geschichtsunterrichts inder 10. Klasse sollte deshalb vorzugsweise eine prinzipielleErörterung über Grundlagen und Aufgaben des Geschichtsunter-richts stehen.

Viele Einstiegsmöglichkeiten bieten sich an, die Frage nachdem Sinn des Geschichtsunterrichts zu diskutieren, wenn man anindividuelle Lebenssituationen anknüpft. Die Darstellung einerpartiellen oder totalen Amnesie etwa kann beispielhaft verdeutli-chen, welche Rolle die Erinnerung, das Bewusstsein des Ver-gangenen für den Handlungsspielraum, für die persönliche Au-tonomie und die Zukunftsgestaltung des Menschen hat. Mankann auch auf alte magische, oft grausame Rituale und Praktikenverweisen, Gefangenen das Gedächtnis zu rauben und damit ihrSelbstbewusstsein zu zerstören, um sie zu perfekten Sklaven zumachen. Ein besonders eindrückliches Bild schildert der kirgi-sisch-russische Schriftsteller Tschingis Aitmatow in seinemRoman „Ein Tag länger als ein Leben“2:

Gewöhnlich widerfuhr dieses Unglück jungen Burschen, diebei Kämpfen in Gefangenschaft gerieten. Zunächst schor manihnen die Schädel kahl, schabte sorgsam jedes Härchen bis zurWurzel ab. Wenn das Kopfscheren sich dem Ende näherte, tö-teten erfahrene Schlächter der Juan-juan in der Nähe ein ausge-wachsenes Kamel. Beim Häuten trennten sie als erstes dasschwerste und kompakteste Stück ab, den Hals. Sie schnitten dieHalshaut in Stücke und stülpten diese noch feuchtwarm über dengeschorenen Schädel der Gefangenen, wo sie im Nu festklebtenwie Pflaster – etwa so wie moderne Badekappen. Das hieß:einen Schiri anlegen… Waren allen dazu Verurteilten die Schiriangelegt, so umschloss man zusätzlich ihre Hälse mit Holzblö-cken, damit sie nicht mit den Köpfen die Erde erreichten. In die-sem Zustand brachte man sie an einen möglichst entlegenen Ort,von wo ihre herzzerreißenden Schreie nicht zu hören waren, undsetzte sie auf freiem Feld aus, an Armen und Beinen gefesselt, inglühender Sonne, ohne Wasser und ohne Nahrung. Die Folterwährte einige Tage und Nächte… Erst am fünften Tag erschie-nen die Juan-juan, um nachzusehen, ob einer der Gefangenenüberlebt habe. Hatte auch nur einer der Geschundenen überlebt,so war für sie das Ziel erreicht. Dem gaben sie dann Wasser zutrinken, nahmen ihm die Fesseln ab und ließen ihn allmählichwieder zu Kräften kommen, brachten ihn auf die Beine. Und daswar ein Mankurt-Sklave – seiner Erinnerung beraubt und darumunschätzbar, soviel wert wie Dutzende von gesunden Unfreien…

2 Vergleichbares beschreibtder Ethnologe E. Wade Davisüber den Voodoo-Kult Haitisin seinem Buch „Schlange undRegenbogen“

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Ein Mankurt wusste nicht, wer er war, woher er stammte, erkannte seinen Namen nicht, erinnerte sich nicht an die Kindheitund nicht an Vater und Mutter – kurz, ein Mankurt begriff sichselbst nicht als menschliches Wesen. Um das Bewusstsein sei-nes eigenen Ichs gebracht, besaß der Mankurt vom wirtschaftli-chen Standpunkt eine ganze Reihe Vorzüge. Er war faktischnichts anderes als eine stumme Kreatur und daher absolut erge-ben und ungefährlich. Nie kam ihm der Gedanke an Flucht…Gleich einem Hund gehorchte der Mankurt nur seinem Herrn. Mitanderen trat er nicht einmal in Verbindung. All sein Streben galtlediglich der Befriedigung des Leibes. Darin erschöpften sichseine Sorgen. Dafür erledigte er jeden Auftrag blind, eifrig, unbe-irrt…

Vom persönlichen zum kollektiven Ge-dächtnis kann man dann leicht übergehen,indem man in Anknüpfung an den Ge-schichtsunterricht der 9. Klasse zeigt, wiedie totalitären Diktaturen des 20. Jahrhun-derts der Geschichtsfälschung und der Ma-nipulation der Geschichtsbücher besondereAufmerksamkeit widmeten. So nähert mansich schließlich der aktuellen Fragestellung,inwieweit eine eingeschränkte, thematischund zeitlich verengte Geschichtsbetrachtungsich auf das Bewusstsein der Menschen, ihreZukunftsgestaltung und letztlich auf ihreFreiheit auswirken kann.

Im Hinblick auf unsere individuelleEntwicklung ist es nicht schwer einzusehen,dass die Bedeutung eines Ereignisses nichtmit der Entfernung von der Gegenwart ab-nimmt, und dass sich unser Selbstverständ-nis somit andere Kriterien für die Unter-scheidung zwischen „wesentlich“ und „un-wesentlich“ erarbeiten muss als die derzeitlichen Distanz. Das ist mit dem Ge-schichtsverständnis nicht anders. Im Rah-men eng definierter Bildungsziele, etwa zurHeranbildung „mündiger Staatsbürger“, mages genügen sich auf die politische Ge-schichte der letzten hundert bis zweihundert Jahre – mit etwasSozial- und Wirtschaftsgeschichte – zu beschränken. Für unsergrundlegendes Selbstverständnis als Menschen und für einesinnvolle Weltorientierung müssen wir uns aber schon um grö-ßere und umfassendere Entwicklungszusammenhänge bemühen.Die großen Krisen und Konflikte des 20. Jahrhunderts sind sonstnicht zu verstehen, die heutigen und kommenden ebenso wenig.

Berühmte Geschichtsfälschungaus stalinistischen Schulbüchern.Lenin am 5. Mai 1920: oben dieechte Aufnahme mit Trotzkij ander Rampe, unten die offizielleVersion ohne Trotzkij.

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Es kommt letztlich darauf an zu erkennen, inwieweit die Ge-schichte in den Ereignissen der Gegenwart anwesend ist und inwelchen zeitlichen Rahmen diese Gegenwart somit einzuordnenist.

Die Quellen der GeschichtserkenntnisDie erneute Beschäftigung mit der geschichtlichen Frühzeit

erfordert nicht nur, dass wir uns den Gegenstand sowie Sinn undFolgen unseres Tuns bewusst vergegenwärtigen, sondern auchdass wir uns über die Möglichkeiten und Quellen unserer Er-kenntnis grundlegend Rechenschaft geben. Bei einer solchenBestandsaufnahme unserer Erkenntnismittel kann deutlich wer-den, wie sehr die frühe und alte Geschichte in unsere Gegenwarthineinreicht und wie mit zunehmender Hinwendung zum Inne-ren des Menschen die alte Welt näher rückt. Was gemeinhin alskonstituierend für unsere Vorstellung von der Geschichte ange-sehen wird, die archäologischen Funde nämlich, ist in Wirklich-keit nur ein Schatten von dem, was wir heranziehen um uns einlebendiges Bild der Entwicklung zu machen. Die folgende Dar-stellung aus dem Epochenheft einer Schülerin beschäftigt sichrückblickend mit unseren Erörterungen im Unterricht zu derFrage: Mit welchen Mitteln können wir uns ein Verständnis derFrühmenschen aneignen?

1. Äußere Funde – Damit sind Kno-chenfunde, Steinhandwerkszeug und ähnli-che Überbleibsel gemeint. Aus der Zeit bis10000 vor Christus, die wegen ihrer Stein-funde Altsteinzeit oder Paläolithikum ge-nannt wird, kommen teilweise noch sehr guterhaltene Funde zu Tage. Da in der Zeit desPaläolithikum Eiszeiten herrschten, wurdenKnochen, Werkzeuge oder andere Über-reste „konserviert“. Und doch kann sich einPaläanthropologe ganz leicht bei einemFund um einige tausend Jahre vertun.

Die Paläanthropologie, die Erforschungdieses Zeitalters, ist weit fortgeschritten. DieEntwicklung des Menschen von damals bisheute lässt sich rekonstruieren. Es wird eineArt „Urmensch“ angenommen, von dem aussich jedoch nicht nur eine Form des Men-schen immer weiter entwickelte, sondernauch Formen die ausstarben. – Die Palä-anthropologie stellte auch fest, dass sich deraufrechte Gang des Menschen vor der Ent-wicklung des Gehirns ausprägte. Doch alldiese Funde und die gesamte Art der For-

Oben: gebärende Wisentkuh,unten: Wisent tödlich getroffen

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schung sagen uns wenig über die Entwicklung des Bewusst-seins, die Art des Frühmenschen die Welt zu sehen!

2. Die Höhlenmalerei ist eine sehr wichtige Entdeckung ausder Vergangenheit. Sie sagt mehr über das Denken, die Art dieWelt zu sehen und die Bewusstseinsentwicklung des frühenMenschen aus als Knochenfunde und Steinwerkzeug. Die An-fänge der Höhlenmalerei tragen sehr kindliche Züge und sind ausder Bewegung heraus gemalt. Die Entwicklung eines Weltbe-wusstseins drückt sich in den Höhlenbildern aus. Die Menschenbeginnen gerade erst ihr bewusstes gegenständliches Denken,wie wir es haben, zu entdecken, aber auch ein Bewusstsein fürGeburt und Tod – also für die eigene Existenz – zu bekommen.Dadurch entwickelt sich auch ein bewusstes Verhältnis des Men-schen sich selbst und seiner Umwelt gegenüber…

3. Obwohl sich unsere Kultur sehr verbreitet hat, haben nichtalle Völker unser (von der Natur) distanziertes Bewusstsein. AlteVölker oder „Naturvölker“ besitzen ein „magisches Bewusstsein“,das heißt, sie machen die Dinge mehr aus dem Gefühl herausund versuchen nicht für alles eine logische Erklärung zu finden.Viele Ethnologen, Völkerkundler, versuchen diese Art die Welt zusehen zu verstehen. Wenn man diesem alten Bewusstsein Be-achtung schenkt, sieht man, dass außer unserer Weltanschau-ung eben auch noch andere existieren, doch vergessen wir dasoft oder erklären es für Humbug, weil es uns nicht geheuer istund wir es nicht durchschauen und erklären können.

Eben dies kann manam Beispiel der Indianersehr gut erkennen. DieSpaltung zwischen denIndianern mit ihren Ritenund Bräuchen und unse-rem Kulturkreis und dersogenannten Zivilisationist durch unsere Ignoranzund Unterdrückung ge-genüber ihrer Weltan-schauung fast unüber-brückbar. Entwederschaffen die Indianer essich unserer Kultur anzu-passen, müssen dafürjedoch ihre eigene verra-ten, oder sie schaffen esnicht und gehen meistdaran zugrunde, da unse-re Weltanschauung zumächtig ist.

4. Trotz unserer sehrrealistischen und rationalen Kultur bestehen immer noch Mythen.Wir hören sie in unserer Kindheit in Märchenform. Später werdensie oft vergessen, oder sogar verleugnet, da wir sie nicht logisch

Figur von Willendorf, Öster-reich, eine der ältesten Men-schendarstellungen, Symbolder Fruchtbarkeit und desLebens.

Etwa 50000 Jahre alteFingergravuren in der Höhlevon Altamira, Spanien.

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verstehen und in eine für uns erklärbare Vorstellung pressenkönnen. Zum Beispiel der Mythos von „Adam und Eva“ stammtaus dem Alten Testament und kommt auch im Judentum vor.Adam und Eva leben im „Paradies“, in Harmonie mit sich, ihrerUmwelt (der Natur) und Gott. Doch der Mensch entwickelt eineigenes Bewusstsein und durch den bildlichen „Biss in den ver-botenen Apfel“ erlangt er Erkenntnis. Mit der Erkenntnis seinerUmwelt kommt auch das Bewusstsein für den eigenen Körperund die Natur. Dies hat eine Distanzierung und Entfremdung zusich und seiner Umwelt zur Folge, ein Schamgefühl, das derMensch zuvor nicht kannte. – Bei solchen Mythen steht die äuße-re bildliche Erscheinung für einen philosophischen Kern. Es gibtMythen, die in allen Kulturen und Religionen vorkommen, z.B.der Mythos der Sintflut. Mythen sind uralte Überlieferungen, dieuns im Gegensatz zu äußeren Funden das Bewusstsein desfrühen Menschen näher bringen.

5. In unserem Unterbewussten sind noch immer Reste vommagischen und mythischen Bewusstsein vorhanden. Wir träu-men mehrmals pro Nacht, meistens dann, wenn wir aus derTiefschlafphase in den leichteren Schlaf übergehen. Im Träumenverarbeiten wir oft Tagesereignisse oder auch das Unterbe-wusste. In Träume werden jedoch auch äußere Geräusche mit-einbezogen, z.B. ein Wecker, der umfällt. Wir bauen auf diesesGeräusch vielleicht einen Traum auf, wobei es uns jedoch imWachzustand so vorkommt, wenn wir uns an den Traum erin-nern, als wäre das Geräusch erst am Ende gekommen. Wir ver-drehen praktisch die Zeit, damit es logisch erscheint.

Während wir träumen haben wir aber keinen bewussten Ein-fluss darauf. Naturgesetze treten außer Kraft, Zeitverhältnissesind nicht real und die gesamte Logik, auf die wir teilweise unserLeben im Wachzustand aufbauen, verändert sich oder spieltkeine Rolle mehr. In unserer täglichen Wirklichkeit versuchen wirallen Dingen auf den Grund zu gehen, doch im Traum ist diesgleichgültig. In unseren westlichen Kulturkreisen stehen wirselbst im Mittelpunkt, unser Ich-Bewusstsein ist sehr stark aus-geprägt. Im Traum treten solche Dinge genauso wie Gesetzmä-ßigkeiten unserer gewohnten Welt außer Kraft…

Die einzelnen hier aufgeführten Kategorien wird man miteinschlägigen Beispielen konkretisieren. So kann man auf dieerhellenden Feldforschungen von Anthropologen und Ethnolo-gen verweisen, die erstaunliche Erkenntnisse über Bewusstseins-und Lebensformen der sogenannten „Naturvölker“ zutage geför-dert haben. Auch die Sprachforschung kann uns Einblick in dieWeltanschauung und Bewusstseinskonfiguration dieser Völkervermitteln. So lässt sich zeigen, dass die Sprachen dieser Völkermehr dazu geeignet sind, differenzierte Nuancen der Naturer-scheinungen wiederzugeben, weniger hingegen zur begrifflichenAbstraktion. Oft fehlen Worte für Allgemeinbegriffe, wie etwa„Zeit“ oder „Farbe“, dafür finden sich differenzierteste Bezeich-

Marc Chagall,oben: „Schöpfung“unten: „Paradies“

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nungen für bestimmte Aktionen oder etwa die Farbe Grün. Ex-emplarisch kann man die Untersuchungen des amerikanischenLinguisten Benjamin Lee Whorf besprechen, der in den 30erJahren seine später berühmt gewordenen Untersuchungen annordamerikanischen Indianersprachen durchführte und derengrundsätzliche Verschiedenheit von den indoeuropäischen Spra-chen beschrieb – ohne dass man seine als „linguistischen Deter-minismus“ bezeichneten philosophischen Schlussfolgerungenunbedingt teilen muss.

In den indoeuropäischen Sprachen und in vielen anderenspielt ein Satztypus mit zwei Teilen die Hauptrolle. Jeder derbeiden Teile wird um eine Wortklasse herumgebaut, um die Sub-stantive und um die Verben, die von diesen Sprachen grammati-kalisch verschieden behandelt werden… Die Griechen und ganzbesonders Aristoteles haben den Gegensatz „Substantiv – Verb“noch hervorgehoben und ein Gesetz der Vernunft daraus ge-macht. Seitdem hat er in der Logik viele verschiedene Fassun-gen gefunden: Subjekt und Prädikat, Täter und Tätigkeit, Dingeund Relationen zwischen ihnen, Objekte und ihre Attribute,Quantitäten und Operationen. Ebenfalls unter dem Einfluss unse-rer Grammatik wurzelte sich die Auffassung ein, die eine derbeiden Klassen, die der Substantive, bezeichne selbständige, ansich existierende Dinge, während die Klasse der Verben sich aufGegenstände beziehe, die nicht allein für sich existieren können,sondern eines „Dinges“ (aus der erstenKlasse) bedürfen, an dem sie hängenwie an einen Pflock…

Kommen wir zum Nootka, so ist dieeinzige Satzart eine solche ohne Subjektund Prädikat… Im Nootka gibt es keineSatzglieder; die einfachste Äußerung istein Satz, der von irgendeinem Ereignisoder Ereigniskomplex handelt… DieÜbersetzung „Er lädt Leute zu einemFestessen“ vollzieht eine Spaltung inSubjekt und Prädikat. Der Originalsatztut das nicht. Er beginnt mit dem Ereignistl’imsh = „kochen“; dann kommt -ya („Re-sultat“) = „gekocht“, dann -’is „essen“ =„essen Gekochtes“, dann -ita („Agens“) =„Gekochtes-Essende“, dann -’itl „holen“,dann -ma, das Zeichen für die drittePerson Indikativ. So erhalten wirtl’imshya’isi-ta’itlma und die grobe Para-phrase „Er oder jemand holt (lädt ein)Esser von Gekochtem“.

Die englische Technik der Aussagestützt sich auf die zwei künstlichen Klas-sen der Substantive und Verben… Die-

Peruanischer Schamane; ein„curandero“ (Heiler) mitseiner „mesa“, einem „Ar-beitstisch“ mit magischenGegenständen

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sem Erfordernis entspricht die philosophische wie auch die all-tägliche Auffassung von einem Täter, der eine Tätigkeit ausübt…Wir lesen dauernd fiktive Täterwesen in die Natur hinein… Wirmüssen sagen, „Es blitzt“ oder „Ein Licht blitzt“ und damit einenTäter, „Es“ oder „Ein Licht“, konstruieren, der ausführt, was wireine Tätigkeit nennen: „blitzen“. Das Blitzen und das Licht abersind ein und dasselbe! Die Hopisprache beachtet das Blitzen miteinem einfachen Verb, rephi: „blitzen“. Da gibt es keine Teilung inSubjekt und Prädikat, nicht einmal ein Suffix wie -t im lateini-schen tona-t „es donnert“. Im Hopi gibt es Verben ohne Subjekte,eine Tatsache, die dieser Sprache als einem logischen Systemvielleicht große Möglichkeiten zum Verständnis gewisser Aspektedes Universums gibt… Whorf kommt dann zu der interessantenÜberlegung: Die moderne Naturwissenschaft ist auf dem Bodenunserer westlichen indoeuropäischen Sprachen entstanden…Vielleicht wäre es besser, wenn wir, statt von den „Zuständen“eines Atoms oder einer in Teilung befindlichen Zelle zu reden,einen mehr verbalen Begriff mit gleicher Leichtigkeit benutzenkönnten – jedoch ohne den verborgenen Hintergrund von Täterund Tätigkeit… –

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweitdenn die Entwicklung hin zu den neueren, das rationale Urteilbegünstigenden Sprachformen überhaupt als Fortschritt, alsGewinn zu betrachten ist. Eine vereinfachte, aber leicht nach-vollziehbare Überlegung hierzu wäre die folgende: Wenn wireinen grünen Baum wahrnehmen, so erleben wir zunächst eineGanzheit. Urteilen wir dann „Der Baum ist grün“, setzt diesvoraus, dass wir zuerst die Einheit zerlegen und so eine Tren-nung vollziehen zwischen Subjekt (Wesen: der Baum) und Prä-dikat (erscheinende Eigenschaft: grün), dann dieses Getrenntewieder zusammenfügen und mit der Kopula „ist“ als Einheitbestätigen. Was ist dadurch gewonnen, wozu das Ganze? DerGewinn besteht in der Tatsache, dass wir nach diesem Prozessder Natur, dem „Gegenstand“ völlig anders gegenüber stehen alsvorher. Die vorab schon vorhandene Beziehung zwischen denElementen unseres Urteils wird jetzt bewusst, weil ich michdamit begrifflich verbunden habe. Wir sind durch eine Phase derDistanzierung hindurch gegangen und haben uns auf neuer,wacherer Ebene wieder mit der Natur verbunden.

Man wird solche gedanklichen Reflexionen vielleicht außenvor lassen oder davon abhängig machen, welche Ideen aus demUnterrichtsgespräch hervorgehen. Wichtig ist in jedem Falleauch hier die Erkenntnis, dass die Geschichte nicht im Dunkeldes Gewesenen versunken ist, sondern, wie am Beispiel der„Naturvölker“ gezeigt, gegenwärtig anwesend ist, dass die Ent-wicklung der Menschheit in unserer Gegenwart gewissermaßen„zusammengeschoben“ ist. Gerade Sprachbetrachtungen können

Trotz beißender Polemikbleibt der SPIEGEL seinenThemen treu.

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solche Einsichten fördern. So kann es, um ein anderes Beispielzu nennen, erhellend sein, wenn man im Zusammenhang mit derBehandlung des Nibelungenlieds im Literaturunterricht die eu-ropäische Sprachentwicklung bespricht und dabei die Herausbil-dung des persönlichen Fürworts und ähnliches erarbeitet.

Ex oriente luxDie Krisen der letzten Jahre haben die Problematik

eines neu aufbrechenden Ost-West-Gegensatzes insöffentliche Bewusstsein gerückt, in dem sich ein ganzauf das Irdisch-Materielle gerichteter Machtwille undein fanatisch-erdflüchtiger Jenseitsglaube erbittertbekämpfen. In diesem Zusammenhang ist immer wie-der vom Orient als von der „Wiege der Menschheit“die Rede, wobei der Begriff „Orient“ allerdings zurZeit überwiegend islamisch besetzt ist. In der Tat istdie kulturelle Entwicklung in ihren Hauptströmungenvon Osten nach Westen fortgeschritten, und die stu-fenweise Ergreifung und Kultivierung der Erde brachtezugleich einen fortschreitenden Verlust der geistig-spirituellen Dimension des Lebens und des Bewusst-seins des Menschen mit sich – lange vor der Entste-hung des Islam, den man als einen späten, nachchrist-lichen Gegenentwurf gegen diese Tendenz verstehenkönnte. Die Sprachforschung legt uns den Gedankennahe, dass wir es im Kern dieser Entwicklung miteiner gemeinsamen Völker- und Sprachfamilie zu tun haben, dieman nach ihren entferntesten Lokalisierungen als „indogerma-nisch“, neuerdings als „indoeuropäisch“ bezeichnet. In der kul-turgeschichtlichen Entwicklung waren jedoch auch noch andereEinflüsse prägend, so dass wir besser von einer orientalisch-europäischen Kulturentwicklung sprechen.

Wenn wir nun die Entwicklung der Kulturen behandelnwollen, quasi als einen Prozess fortschreitender Verwandlungder Erde, werden wir, wenn die Klasse wach ist, bald mit einer„latenten Frage“ konfrontiert: Was haben, so fragen die Schülerzu Recht, die Geschichten aus dem Alten Testament, die manuns noch vor einigen Jahren erzählt hat, mit alledem zu tun, waswir jetzt lernen? Haben „Adam und Eva“, „Kain und Abel“angesichts der wissenschaftlichen Forschungsergebnisse über-haupt eine Daseinsberechtigung in unserem Bewusstsein, warumhat man uns das erzählt? Die Fragenden hier auf den Religions-unterricht zu verweisen, steht dem Geschichtslehrer schlecht zuGesicht. Statt dessen sollte man, parallel zu der fortschreitendenEntwicklung von Mensch und Erde, auch den kultisch-

Katari Baba, einer derMillionen Heiligen Indiens,zur Zeit der Aufnahme rund150 Jahre alt, schweigt seit60 Jahren und lebt in einemLattenverschlag, damit ihndie Gläubigen nicht in derMeditation stören.

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spirituellen Aspekt der „Kultivierung“ behandeln, der in derBilderwelt der Mythen im Mittelpunkt steht. Diese Seite derMenschheitsgeschichte, die in den alten mündlichen und schrift-lichen Überlieferungen und in den heiligen Schriften der Völkerdargestellt wird, lässt sich eher als „Abstieg“, als Inkarnationvon einem geistigen Urzustand darstellen. Das Bestreben, denGeschichtsunterricht nicht zum „Religionsunterricht“ werden zulassen, darf nicht dazu verleiten, diesen inneren Aspekt der E-volution unter den Tisch fallen zu lassen.

Es gibt großartige Gedichte, beispielsweise von Nelly Sachs,mit denen man diese Seite der Geschichte veranschaulichen undaktualisieren kann. So etwa das folgende, in dem das Thema derspirituellen Entfremdung in ein christliches Auferstehungsmotivverwandelt wird.

Lange haben wir das Lauschen verlernt!Hatte Er uns gepflanzt einst zu lauschenWie Dünengras gepflanzt, am ewigen Meer,Wollten wir wachsen auf feisten Triften,Wie Salat im Hausgarten stehn.Wenn wir auch Geschäfte haben,Die weit fort führenVon Seinem Licht,Wenn wir auch das Wasser aus Röhren trinken,Und es erst sterbend nahtUnserem ewig dürstenden Mund –Wenn wir auch auf einer Straße schreiten,Darunter die Erde zum Schweigen gebracht wurdeVon einem Pflaster,Verkaufen dürfen wir nicht unser Ohr,O, nicht unser Ohr dürfen wir verkaufen.Auch auf dem Markte,Im Errechnen des Staubes,Tat manch einer schnell einen SprungAuf der Sehnsucht Seil,Weil er etwas hörte,Aus dem Staube heraus tat er den SprungUnd sättigte sein Ohr.Presst, o presst an der Zerstörung TagAn die Erde das lauschende Ohr,Und ihr werdet hören, durch den Schlaf hindurchWerdet ihr hörenWie im TodeDas Leben beginnt.

In den Heiligen Schriften des Orients, insbesondere der In-der, finden wir eine auf uralte mündliche Tradition zurückge-hende Spiritualität, in der das irdisch-materielle Leben noch

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weniger als Eigenwert gesehen wird, sondern ganz eingebettetist in das Bewusstsein von einem geistigen Ursprung des – nachheutigem Verständnis – „inneren“ Menschen. Die Sehnsucht derwestlichen, im Materiellen erstarrenden Zivilisation nach spiri-tueller Entfaltung dieses inneren Menschen hat in den vergange-nen Jahrzehnten zu einem Siegeszug östlicher, vornehmlichindischer Weisheitslehren und Meditationspraktiken geführt. DieAttraktivität von Gurus und Sekten, die Faszination, die diesevermeintlichen Alternativen zum bürgerlichen Erwerbsstrebenbesonders auf junge Menschen ausübt, ist weiterhin durchausbesorgniserregend, wenngleich Medien und Öffentlichkeit kaumnoch Notiz davon nehmen.

Im Geschichtsunterricht bietet sich immer wieder die Chan-ce, solche Zeitfragen im historischen Zusammenhang zu be-leuchten und so einer klaren, besonnenen Betrachtung zu unter-ziehen, ohne dabei in religiöse Dogmatik oder Katechisierungabzugleiten. Man wird gerade aus einer sachlichen Betrachtungden nötigen Ernst holen, der zu einem Verständnis der altorien-talischen Spiritualität nötig ist. Die Elemente der indischen Reli-giosität, wie der Gedanke der Seelenwanderung, die Kastenord-nung, die Traditionen der spirituellen Übung (Yoga) und dergeistigen Führung (acht Millionen Gurus) sind Symptome einerGeisteshaltung, die das eigene Dasein ganz in der geistigen Weltverwurzelt erlebt.3

Aus den Upanishaden: Uddâlaka Aruni belehrt seinen SohnShvetaketu: „Bringe mir eine Frucht von dem Feigenbaum dort.“– „Hier ist sie, Erhabener.“ – „Spalte sie.“ – „Sie ist gespalten,Erhabener.“ – „Was siehst du darin?“ – „Diese fast atomgroßenKerne.“ – „Spalte einen von diesen.“ – „Er ist gespalten, Erhabe-ner.“ – „Was siehst du darin?“ – „Gar nichts, Erhabener.“ Dasagte der Vater weiter zu ihm: „Dieses ganz Feine, das du nichtmehr wahrnimmst, mein Lieber, aus diesem erwachsen stehtdieser große Feigenbaum da. Glaube mir, mein Lieber, aus die-sem Feinen besteht diese ganze Welt. Dies ist das Wahre, diesist der âtman, das bist du (tat tvam asi), o Shetaketu.“

An großen historischen Persönlichkeiten wie Buddha oderGandhi lässt sich zeigen, wie diese Spiritualität in ihrer jeweili-gen Zeit verwandelt und für die Menschheit fruchtbar werdenkann. Kritiklos übertragen auf das westliche Lebensgefühl hin-gegen mit seinem Genuss-, Erfolgs- und Glücksstreben (pursuitof happiness) verwandelt sie sich allzu schnell in einen wirklich-keitsfremden, oft rauschhaft gesteigerten Hedonismus. Für dieSchüler erhellend und unmittelbar einsichtig ist es deshalb, wennman einen Vergleich anstellt zwischen einem Text aus BuddhasReden – mit ihren hohen Anforderungen an die innere Disziplin

Odilon Redon: Buddha(Ausschnitt)

3 Im Hinduismus ist esdeshalb nicht möglich zukonvertieren oder auch nurdie Kaste zu wechseln. DieseOrdnung wird eben aus dergeistigen Welt durch dieGeburt bestimmt.Vgl. Heimo Rau: IndiensErbe – Illusion und Wirk-lichkeit. Stuttgart 1982

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und Selbstkontrolle des einzelnen – und einer Rede Bhagwansmit ihren luftigen Glückseligkeitsversprechungen.

Buddha: Dies, ihr Mönche, ist die heilige Wahrheit von derEntstehung des Leidens: es ist der Durst, der von Wiedergeburtzu Wiedergeburt führt, samt Freude und Begier, der hier und dortseine Freude findet: der Lüstedurst, der Werdedurst, der Ver-gänglichkeitsdurst.

Dies, ihr Mönche, ist die heilige Wahrheit von der Aufhebungdes Leidens: die Aufhebung dieses Durstes durch gänzlicheVernichtung des Begehrens, ihn fahren lassen, sich seiner ent-äußern, sich von ihm lösen, ihm keine Stätte gewähren.

Dies, ihr Mönche, ist die heilige Wahrheit von dem Wege zurAufhebung des Leidens: es ist dieser heilige, achtteilige Pfad, derda heißt: rechtes Glauben, rechtes Entschließen, rechtes Wort,rechte Tat, rechtes Leben, rechtes Streben, rechtes Gedenken,rechtes Sichversenken.

Bhagwan: Und dies ist die Verhaltensweise eines Sannyasin:so bleiben, wie ein Himmel, ungefärbt von dem, was immer auchkommt und geschieht… Gut oder schlecht, Tag oder Nacht, alles,was kommt und geht, betrachtet er nur. Jahreszeiten wechselnsich ab und er betrachtet: Jugend wird Alter und er betrachtet –er bleibt ungefärbt… Ein Sannyasin ist genau wie der Himmel: erlebt in der Welt – Hunger kommt und Sattheit; Sommer kommtund Winter; gute Tage, schlechte Tage; gute Stimmung, sehrgehobene, verzückte, glücklich; schlechte Stimmung, bedrückt,im Tal, dunkel, belastet – alles kommt und geht, er bleibt derBetrachter. Er schaut einfach zu, er weiß, dass alles vorüberge-hen wird, viele Dinge werden kommen und gehen Er ist nichtlänger mit irgend etwas identifiziert… Sei ein Beobachter vomHintergrund aus, fahre fort zu schauen. Und gerade beim Zu-schauen, ohne nach irgend etwas zu sehen, ohne von irgendetwas besessen zu werden, wenn deine Wahrnehmung klar wird,

links: Maharishi Mahesh Yogi, Yoga-Lehrer der Beatles; rechts: Bhagwan Shree Rajneesh

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plötzlich, in einem Augenblick, tatsächlich in keiner Zeit, passiertes. Plötzlich, ohne Zeit, wachst du vollkommen auf: Du bist einBuddha, du wirst der Erleuchtete, Erwachte.

Die „neolithische Revolution“Abel steh auf……steh aufdamit Kain sagtdamit er es sagen kannIch bin dein HüterBruderwie sollte ich nicht dein Hüter seinTäglich steh aufdamit wir es vor uns habendies Ja ich bin hierichdein Bruder…

Hilde Domin

„Bis heute weiß man nicht genau, warum die Menschen, dieüber Jahrtausende vom Jagen und Sammeln gelebt haben, sess-haft wurden.“ So oder ähnlich werden gewöhnlich die Darstel-lungen zur Sesshaftwerdung in den Schulbüchern eingeleitet.Versuche eine Kausalverbindung herzustellen verfangen sich oftin Widersprüchen: „Die Menschen blieben nun lange Zeit aneinem Platz und wurden sesshaft. Sie bauten Häuser und betrie-ben Ackerbau und Viehzucht“ deutet an, dass das Ausharren aneinem Ort die Voraussetzung für Ackerbau und Viehzucht sei,wenn es aber heißt „Der Übergang von der Jagd zur Viehzuchtund von der Sammeltätigkeit zum Ackerbau führt zur Sesshaft-werdung des Menschen“,werden Ursache und Wir-kung umgekehrt. Fest stehtjedenfalls, dass sich inbestimmten Gebieten, vor-nehmlich im irakisch-ira-nischen Gebiet des „frucht-baren Halbmonds“ Men-schengruppen niederließen,die eine über zahlreicheGenerationen sich erstre-ckende Züchtungsarbeitbegannen. Dieser Vorgangwird, auch wenn er sichnicht schlagartig vollzog,zu Recht als größte Revo-lution der Menschheitsge-schichte bezeichnet. Sie

Der „fruchtbare Halbmond“

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war nicht nur der Beginn alles dessen, was wir heute als Kultur-güter und Kulturtechniken kennen, sondern ging auch mit einerinneren Revolution in der seelisch-geistigen Konfiguration desMenschen und entsprechend grundlegenden Wandlungen dermenschlichen Sozialität einher.

Das Ereignis der Grenzziehung, die Abgrenzung zum andernund das Bewusstsein des „Besitzes“, in den mein Eigenes durchmeiner Hände Arbeit eingeflossen ist, markiert die eine Seite desVorgangs. Im Mythos von Kain und Abel wird sie als Folge derSonderung („Sünde“) vom göttlichen Ursprung und als „Bru-dermord“ verbildlicht. Die andere Seite hingegen ist die derschöpferischen Umgestaltung und Verwandlung der Erde unddie damit verbundene Verantwortung, die der Mensch über-nimmt. Sie finden wir beispielsweise in den mythischen Schrif-ten des alten Iran, wie dem über die Parsen auf uns gekommenenZend-Avesta aus der altpersischen Zarathustra-Religion.

„O Schöpfer der Welt, ashaehrwürdiger! Wer befriedigt mitgrößter Zufriedenstellung die Erde hier?“ Da sagte Ahura Maz-dao: „Wahrlich, wo man am meisten, o Spitama Zarathustra,durch Aussäen anbaut Getreide und Gräser und Gräser mit ess-baren Früchten, indem man zur Wüste hin Wasser schafft; dennnicht ist diese Erde froh, die lange ungepflügt dalag, die vomPflüger zu pflügen ist, Gutes darum heischend beim Bewohner;ebenso wenig die schöngewachsene Frau, die lange kinderlosist, Gutes darum heischend vom Mann.“

„O Schöpfer der Welt, ashaehrwürdiger! Was ist der Kern dermazdayanischen Religion?“ Da sagte Ahura Mazdao: „Wennman tüchtig Getreide baut, o Spitama Zarathustra! Wer Getreidedurch Aussäen anbaut, der baut das Asha [geistige Ordnung] an,der führt die mazdayanische Religion vorwärts, der bringt diesemazdayanische Religion zum Gedeihen, hundert Wohnstätten,tausend Aufenthaltsorte… schafft er.

Wenn das Getreide zum Ausdreschen zurechtgelegt wird,dann fangen die Daevas [Dämonen Ahrimans, der Finsternis] vorAngst zu schwitzen an; wenn die Mühle zum Mahlen des Getrei-des zurechtgelegt wird, dann verlieren die Daevas die Fassung;wenn das Mehl zum Teigmachen zurechtgelegt wird, dann heu-len die Daevas; wenn der Teig zum Backen zurechtgelegt wird,dann schwitzen die Daevas vor Angst. Hier soll dauernd im Hausvon diesem Mehlteig vorhanden sein, um auf die Daevas einzu-schlagen, im Maul soll es ihnen durch ihn gar heiß werden, mansieht sie sich zur Flucht wenden. Damit das Getreide reichlichwachse, darum soll man den Manthra aufsagen.

Keiner von denen, die nicht essen, ist tüchtig die kräftigenWerke des Asha zu verrichten, noch den kräftigen Landbau zutreiben, noch in den kräftigen Besitz von Söhnen zu gelangen.Durch Essen lebt die ganze stoffliche Welt, durch Nichtessenstirbt sie.“

Marc Chagall: „Kain und Abel“

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Ein Bewusstsein, das über viele Generationen hinweg in dieZukunft gerichtet ist, lässt sich kaum vorstellen, ohne dass manzugleich eine tiefgehende religiöse Impulsierung und eine weit-blickende geistige Führerschaft voraussetzt. Man kann es durch-aus als Krankheitssymptom unserer „kainshaften“ Gottesferneansehen, dass der Blick in die Zukunft unserer modernen, mora-lisch weitgehend führungslos gewordenen Konsumgesellschaftnicht einmal soweit reicht, die kommende Generation vor denSchäden unserer Lebensweise zu bewahren, oder, was vielleichtnoch zerstörender ist, dass die „Sorge für die folgenden Genera-tionen“ als „bioethisches“ Alibi für einen schrankenlosenMachtanspruch über die Natur vorgeschoben wird.

So eröffnet das Thema „Sesshaftwerdung“ zahlreiche Mög-lichkeiten, in der Klasse über geschichtliche Verantwortung zusprechen, und wenn die Unterrichtsepoche unmittelbar vorWeihnachten liegt, was nicht selten vorkommt, kann man erle-ben, wie die Themen der Weihnachtsspiele wie selbstverständ-lich in das Unterrichtsgespräch mit einfließen. Als Einstieg inein solches Vertiefungsgespräch kann auch ein Gedicht dienen,etwa von Nelly Sachs oder Hilde Domin, das zum Unterrichts-beginn gesprochen wird, oder auch eine Erzählung, die man indie Geschichtsbetrachtung einschiebt. So kann beispielsweiseeine wunderschöne, auf Tatsachen beruhende Erzählung desfranzösischen Schriftstellers Jean Giono eine Anregung sein,sich in die innere Verfassung eines Menschen zu versetzen, derin großen Entwicklungszeiträumen denkt und empfindet. „DerMann mit den Bäumen“ erzählt die erstaunliche Lebensge-schichte Elzeard Bouffiers, eines südfranzösischen Hirten undBauern, der in der verkarsteten Einöde jahrzehnte lang mit un-ermüdlichem Gleichmut Bäume pflanzte.

Die Veränderung ging so langsam vor sich, dass man sich ansie gewöhnte, ohne erstaunt zu sein. Die Jäger, die in dieseneinsamen Gegenden nach Hasen oder Wildschweinen jagten,hatten wohl das Sprießen junger Bäume beobachtet, aber siehatten es irgendeiner Laune der Natur zugeschrieben. So ist eszu erklären, dass niemand das Werk dieses Mannes störte.Wenn jemand eine Ahnung davon gehabt hätte, wäre es viel-leicht verhindert worden. Aber niemand hatte eine Ahnung. Wel-cher Mensch in den Dörfern unten und in den Verwaltungen hättesich eine solche Ausdauer in schönster Selbstlosigkeit vorstellenkönnen?

Von 1920 an habe ich mindestens einmal jedes Jahr ElzeardBouffier besucht. Ich habe ihn nie wanken oder zweifeln sehen.Freilich wer weiß: Vielleicht stand Gott dahinter! Ich habe ElzeardBouffiers Verdruss nicht nachgerechnet. Man kann sich vorstel-len, dass es bis zu einem solchen Gelingen viel Widrigkeit zuüberwinden galt. Um eine solche Leidenschaft zum Erfolg zu

Aus der Handschrift des Avesta

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bringen, musste er verzweifelt kämpfen. Er hatte ein Jahr langmehr als zehntausend Ahorne gepflanzt. Sie gingen alle ein. Imnächsten Jahr gab er die Ahorne auf, um auf die Buchen zurück-zukommen, die noch besser gediehen als die Eichen…

Im Jahre 1933 bekam er den Besuch eines staunendenForstaufsehers. Dieser Beamte gab ihm die Weisung, doch jadraußen kein Feuer zu machen, um das Gedeihen dieses natür-lichen Waldes nicht zu gefährden. Es sei nämlich das erste Mal –so sagte ihm der ahnungslose Mensch, dass man einen Waldganz von selber hervorsprießen sehe… Im Jahre 1935 kam eineganze Delegation, um den „natürlichen Wald“ zu besichtigen. Einhoher Beamter des Wasser- und Forstwesens war dabei, einAbgeordneter, etliche Techniker. Man redete viele unnütze Wor-te. Man beschloss, etwas zu unternehmen. Glücklicherweisewurde nichts unternommen außer dem einzig Vernünftigen: Manstellte den Wald unter Staatsschutz und verbot, hier Kohle zubrennen. Denn es war unmöglich, nicht überwältigt zu sein vonder Schönheit dieser jungen Bäume in voller Kraft…

Ich habe Elzeard Bouffier zum letzten Mal im Juni 1945 ge-sehen. Er war damals siebenundachtzig Jahre alt… Ich stieg inVergons aus dem Bus. Im Jahre 1913 hatte dieser Weiler vonzehn bis zwölf Häusern nur noch drei Einwohner gehabt. Diewaren Halbwilde gewesen, die sich hassten, von der Jagd mitFallen lebten, in ihrer physischen und moralischen Verfassungfast den Menschen der Vorgeschichte vergleichbar… Das alleshatte sich verändert. Sogar die Luft. Statt der trockenen undheftigen Winde, die mich früher empfingen, wehte ein leichtesLüftchen voller Wohlgerüche. Ein Murmeln, ähnlich dem desWassers, kam von den Höhen: es war der Wind in den Wäldern.Und das Erstaunlichste: Ich hörte, wie Wasser in ein Beckenplätscherte. Ich sah, man hatte einen Brunnen gebaut, der reich-lich floss. Und, was mich am meisten rührte: Man hatte vor etwavier Jahren daneben eine Linde gepflanzt; sie war schon rechtstattlich. Das war ein untrügliches Symbol neuen Lebens… Ich

verließ Vergons und wanderte zu Fuß weiter. Der Kriegwar eben erst zu Ende gegangen und hatte noch nichtwieder das volle Aufblühen des Landes erlaubt. AberLazarus war dem Grab entstiegen. In den unteren Be-reichen der Bergabhänge sah ich kleine Felder mitauflaufender Gersten- und Roggensaat und am Grundeder engen Täler grünende Wiesen…

Wenn ich bedenke, dass ein einziger Mann, alleinauf seine physischen und moralischen Kräfte gestellt,genügte, um aus der Wüste dieses Gelobte Land erste-hen zu lassen, dann finde ich, trotz allem, das mensch-liche Dasein etwas Wunderbares. Und wenn ich aus-rechne, wieviel Beständigkeit, Seelengröße, Eifer undSelbstlosigkeit nötig war, um bis ans Ziel zu kommen,dann erfüllt mich eine unendliche Hochachtung vor demalten Bauern ohne Bildung, der ein Werk zu schaffenwusste, das Gottes würdig ist.

7000 Eichen –Beitrag vonJoseph Beuys im Rahmender documenta 7 1982

Landschaft am Mt. Ventoux,Südfrankreich

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Wir können hier noch etwas von der Ehrfurcht spüren ge-genüber der „Mutter Erde“, die von den Menschen der altenWelt als beseeltes Wesen erlebt wurde (lat. mater Materie).Die „Hirten auf dem Felde“ haben noch etwas von der Auradieses Wesens wahrnehmen können, worauf auch Rudolf Steinerin verschiedenen Weihnachtsvorträgen verweist. „Die armenHirten auf dem Felde empfanden eigentlich die Offenbarung derErde aus ihrem Leibe, indem sie in einem traumhaften Zustandedasjenige, was geschah, als die Stimme des Engels wahrnah-men.”4 –

Mit der zunächst durchaus liebevollen Hinwendung zur„Mutter Erde“ entstand vor Jahrtausenden die Voraussetzung fürdie Herausbildung der großen Hochkulturen, über die wir dankder dann beginnenden schriftlichen Überlieferung und der zahl-reichen uns erhalten gebliebenen Kunstwerke ein reichhaltigesWissen besitzen. Im zweiten Teil der Darstellung zum Ge-schichtsunterricht der 10. Klasse soll daher im folgenden Heftdie Entwicklung über die Hochkulturen bis hin zur griechischenAntike thematisiert werden, die zugleich die Entwicklung desmenschlichen Bewusstseins „vom Mythos zum Logos“ ist.

Heinz Mosmann (L), Gustav Meck (L)

Rembrandt: Verkündigungder Hirten

4 Vortrag vom 1.1.1921