Geschichte zum Advent Weihnachtsgewitter · 2017. 11. 27. · Reportagen für die Magazine...

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78 79 Weihnachtsgewitter V or dreissig Jahren verliess ich meinen Geburtsort, doch noch immer habe ich das Amtsblatt von Müntschisberg abonniert, weil ich wissen möchte, wie es mit den Menschen und Orten meiner Kindheit weitergeht. In der Rubrik Baubewilligungen las ich letzthin, am östlichen Dorfrand, im Gebiet Bünten, sei eine Wohnsiedlung geplant. Bünten … Da stand früher nur ein einziges Haus mit einer heidelbeerblau gestrichenen Holzfassade. Es gehörte einem Sonderling mit einer noch sonderbareren Geschichte. Einer Weihnachtsgeschichte. Jedes Dorf hat seinen Dorftrottel. Bei uns in Müntschis- berg hiess er Leonz. Alle nannten ihn einfach nur Lonzi. Einzig Pfarrer Köchli sprach ihn mit dem korrekten Taufnamen an, wohl aus der theologisch-pädagogischen Überlegung heraus, ein anklagendes «Leonz!» klinge tadelnder und erhöhe die Chance, das schwärzeste Schäfchen seiner Gemeinde zur Einsicht zu bringen. Lonzi war Mitte vierzig, sah aber älter aus, was an seinem unsteten Lebenswandel lag. Er war gross, hager, und sein dürrer Bart kaschierte die vom Saufen rotfleckigen Wangen nur dürftig. Sommers wie winters trug Lonzi Jeans, Jeanshemd und eine Jeansjacke mit Fellkragen, dazu einen Cowboyhut aus Stroh und – sein ganzer Stolz – echte Wildweststiefel aus den USA, über deren Herkunft er eine Geschichte zu erzählen wusste – doch dazu später. Lonzi trank zu viel, arbeitete zu wenig und war darum immer pleite. Dem halben Dorf schuldete er Geld, bei Handwerkern, Beizern und Ladenbesitzern hatte Lonzi offene Rechnungen. Lonzi war, was man gemeinhin als gescheiterte Existenz bezeichnet. Aber – er war unser Lonzi. Alle im Dorf, und wir Kinder ganz besonders, mochten ihn. Er hatte für jeden ein gutes Wort und immer ein Lächeln im verlebten Gesicht. Er war ein liebenswürdiger Kinds- kopf, weiss Gott nicht der Hellste, zu gutgläubig, zu naiv, aber immer fröhlich, wohlgemut, und wo er auftauchte, wurde es gesellig. Lonzi war en liebe Siech, der sein Leben lang Pech gehabt hatte. Bis zu dem Tag, an dem er verkündete, er sei jetzt Millionär. Es geschah in der Adventszeit. Seit Menschengedenken war der Dezember noch nie so warm gewesen. Lehrer Staublis Wetterstation registrierte am Sonntagmittag, dem 17. Dezember, unverschämte dreiundzwanzig Grad. In einigen Vorgärten, zwischen Plastikschneemännern und blinkenden Rentieren, sprossen Krokusse, Frau Notter vom Usego-Lädeli wollte einen Kuckucksruf gehört haben, und mein Schulkollege Gregor begleitete seinen Vater beim Weihnachtsbaumkauf demonstrativ in kurzen Hosen. Weisse Weihnachten – was für uns Kinder zwingend zum Fest gehörte – waren weit und breit nicht in Sicht. Ganz Müntschisberg sprach nur über das cheibe Wetter – bis Lonzi am späten Montag- morgen, dem 18. Dezember, nachdem er aus seinem Briefkasten einen Brief geangelt und gelesen hatte, johlend über den Dorfplatz tanzte, seinen Cowboyhut schwang und rief: «Ich bin reich, ich bin Millionär!» Sein Onkel Hugo aus Ohio war gestorben. Als Lonzi sechzehn Jahre alt war, verunglückten seine Eltern tödlich. Der halbwüchsige Vollwaise lebte vorübergehend bei Schreinerfamilie Käppeli. Im Nachhinein muss man wohl sagen, dass das Unglück den jungen Lonzi total aus der Bahn geworfen hatte. Anders ist es nicht zu erklären, dass er seine Lehre in der Dorfmetzg bei Stierlis abbrach; weitere Versuche als Stift bei Bäcker Müller und in der Molkerei Küng scheiterten ebenso. Da kamen Vormundschaftsbehörde und Gemeinderat zum Schluss, es sei wohl das Beste, wenn Lonzi vorerst als Hilfsarbeiter dem Strassenwärter Andermatt zur Hand gehe. Das schien ganz gut zu funk- tionieren: Lonzi wischte die Strassen, kraulte die Hunde, neckte uns Kinder und plauderte mit den Passanten. Dann tauchte sein Onkel Hugo aus Ohio auf. Hugo war Lonzis einziger Verwandter, der Bruder seines Vaters selig. Er war als Bursche in die USA aus- gewandert und hatte es mit allerlei halbseidenen Geschäften zum Millionär gebracht. Fünf Monate nach dem Unfalltod von Lonzis Eltern tauchte also dieser Onkel Hugo im Dorf auf, piekfein gewandet und mit einer wahnsinnig schweren Tasche im Gepäck, schloss seinen Neffen in die Arme und schenkte ihm ein Paar Wildweststiefel aus Büffelleder, Geschichte zum Advent Brandnacht statt stille Nacht! Lonzi, der Dorftrottel von Müntschisberg, erlebt turbulente Weihnachten. Marcel Huwyler erzählt von grossen Geschenken, Wünschen, die in Rauch aufgehen, und Cervelats an Heiligabend.

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Weihnachtsgewitter

Vor dreissig Jahren verliess ich meinen Geburtsort, doch noch immer habe ich das Amtsblatt von Müntschisberg abonniert, weil ich wissen möchte, wie es mit den Menschen und Orten meiner Kindheit

weitergeht. In der Rubrik Baubewilligungen las ich letzthin, am östlichen Dorfrand, im Gebiet Bünten, sei eine Wohnsiedlung geplant. Bünten … Da stand früher nur ein einziges Haus mit einer heidelbeerblau gestrichenen Holzfassade. Es gehörte einem Sonderling mit einer noch sonderbareren Geschichte.Einer Weihnachtsgeschichte.

Jedes Dorf hat seinen Dorftrottel. Bei uns in Müntschis-berg hiess er Leonz. Alle nannten ihn einfach nur Lonzi. Einzig Pfarrer Köchli sprach ihn mit dem korrekten Taufnamen an, wohl aus der theologisch-pädagogischen Überlegung heraus, ein anklagendes «Leonz!» klinge tadelnder und erhöhe die Chance, das schwärzeste Schäfchen seiner Gemeinde zur Einsicht zu bringen.Lonzi war Mitte vierzig, sah aber älter aus, was an seinem unsteten Lebenswandel lag. Er war gross, hager, und sein dürrer Bart kaschierte die vom Saufen rot fleckigen Wangen nur dürftig. Sommers wie winters trug Lonzi Jeans, Jeanshemd und eine Jeansjacke mit Fellkragen, dazu einen Cowboyhut aus Stroh und – sein ganzer Stolz – echte Wildweststiefel aus den USA, über deren Herkunft er eine Geschichte zu erzählen wusste – doch dazu später. Lonzi trank zu viel, arbeitete zu wenig und war darum immer pleite. Dem halben Dorf schuldete er Geld, bei Handwerkern, Beizern und Ladenbesitzern hatte Lonzi offene Rechnungen. Lonzi war, was man gemeinhin als gescheiterte Existenz bezeichnet. Aber – er war unser Lonzi. Alle im Dorf, und wir Kinder ganz besonders, mochten ihn. Er hatte für jeden ein gutes Wort und immer ein Lächeln im verlebten Gesicht. Er war ein liebenswürdiger Kinds-kopf, weiss Gott nicht der Hellste, zu gutgläubig, zu naiv, aber immer fröhlich, wohlgemut, und wo er auftauchte, wurde es gesellig. Lonzi war en liebe Siech, der sein Leben lang Pech gehabt hatte.Bis zu dem Tag, an dem er verkündete, er sei jetzt Millionär.

Es geschah in der Adventszeit. Seit Menschengedenken war der Dezember noch nie so warm gewesen. Lehrer Staublis Wetterstation registrierte am Sonntagmittag, dem 17. Dezember, unverschämte dreiundzwanzig Grad. In einigen Vorgärten, zwischen Plastikschneemännern und blinkenden Rentieren, sprossen Krokusse, Frau Notter vom Usego-Lädeli wollte einen Kuckucksruf gehört haben, und mein Schulkollege Gregor begleitete seinen Vater beim Weihnachtsbaumkauf demonstrativ in kurzen Hosen. Weisse Weihnachten – was für uns Kinder zwingend zum Fest gehörte – waren weit und breit nicht in Sicht. Ganz Müntschisberg sprach nur über das cheibe Wetter – bis Lonzi am späten Montag-morgen, dem 18. Dezember, nachdem er aus seinem Briefkasten einen Brief geangelt und gelesen hatte, johlend über den Dorfplatz tanzte, seinen Cowboyhut schwang und rief: «Ich bin reich, ich bin Millionär!» Sein Onkel Hugo aus Ohio war gestorben.

Als Lonzi sechzehn Jahre alt war, verunglückten seine Eltern tödlich. Der halbwüchsige Vollwaise lebte vorübergehend bei Schreinerfamilie Käppeli. Im Nachhinein muss man wohl sagen, dass das Unglück den jungen Lonzi total aus der Bahn geworfen hatte. Anders ist es nicht zu erklären, dass er seine Lehre in der Dorfmetzg bei Stierlis abbrach; weitere Versuche als Stift bei Bäcker Müller und in der Molkerei Küng scheiterten ebenso. Da kamen Vormundschaftsbehörde und Gemeinderat zum Schluss, es sei wohl das Beste, wenn Lonzi vorerst als Hilfsarbeiter dem Strassenwärter Andermatt zur Hand gehe. Das schien ganz gut zu funk-tionieren: Lonzi wischte die Strassen, kraulte die Hunde, neckte uns Kinder und plauderte mit den Passanten. Dann tauchte sein Onkel Hugo aus Ohio auf.

Hugo war Lonzis einziger Verwandter, der Bruder seines Vaters selig. Er war als Bursche in die USA aus-gewandert und hatte es mit allerlei halbseidenen Geschäften zum Millionär gebracht.Fünf Monate nach dem Unfalltod von Lonzis Eltern tauchte also dieser Onkel Hugo im Dorf auf, piekfein gewandet und mit einer wahnsinnig schweren Tasche im Gepäck, schloss seinen Neffen in die Arme und schenkte ihm ein Paar Wildweststiefel aus Büffelleder,

Geschichte zum Advent

Brandnacht statt stille Nacht! Lonzi, der Dorftrottel von Müntschisberg, erlebt turbulente Weihnachten. Marcel Huwyler erzählt von grossen

Geschenken, Wünschen, die in Rauch aufgehen, und Cervelats an Heiligabend.

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verziert mit Stickereien der Hopi-Indianer. Am Dorfrand, im Gebiet Bünten, kaufte Hugo ein altes Haus, liess das Dach neu decken, die Holz-fassade heidelbeerblau streichen und richtete es als neues Zuhause für Lonzi ein. Von da an kam Onkel Hugo aus Ohio jeden Sommer nach Müntschisberg. Immer piekfein gewandet und mit einer wahnsinnig schweren Tasche im Gepäck, logierte für eine Woche bei Lonzi und reiste dann wieder ab. Seinem Neffen drückte er zum Abschied jeweils ein Couvert, gefüllt mit Geldnoten, in die Hand («damit du einigermassen durchs Jahr kommst»), verbunden mit dem klug klingenden, aber kryptischen Rat: «Wer wahren Reich-tum will, Lonzi, muss allem auf den Grund gehen.»In den ersten sieben Jahren kam Onkel Hugo regel-mässig vorbei, dann wurden seine Besuche seltener. Vor sieben Jahren war er das letzte Mal nach Müntschisberg gereist, merklich älter und grauer geworden, doch noch immer piekfein gewandet und diesmal sogar mit zwei wahnsinnig schweren Taschen im Gepäck. Und wieder gabs für seinen Neffen zum Abschied einen schönen Zustupf und diesen Rat, den Lonzi in all den Jahren nie auch nur ansatzweise begriff: «Wer wahren Reichtum will, Lonzi, muss allem auf den Grund gehen.»Und jetzt war der reiche Onkel Hugo aus Ohio tot.

Lonzi zeigte jedem im Dorf den Brief mit der Todes-nachricht. Er stammte von einem Anwalt aus Basel, der, auf Geheiss von Hugos US-Anwalt in Ohio, die Nachlassregelung in der Schweiz betreute. Ein gewisser Dr. lic. iur. Balthasar G. Steif, Advokatur & Notariat, schrieb, er werde nächste Woche Müntschisberg aufsuchen, um das Testament zu vollstrecken. Was nur eines bedeuten konnte: Lonzi erbte die Millionen seines Onkels.Ganz Müntschisberg war aus dem Häuschen. Ausgerechnet Lonzi, unser liebenswürdiger Trottel und Pechvogel, hatte jetzt doch einmal Glück im Leben. Und dann gleich so viel! Insgeheim erhoffte sich jeder im Dorf, auch ein Stück von Lonzis Kuchen zu bekommen. Was auch ganz in Lonzis Sinn war: Er würde sich spendabel zeigen, das nahm er sich fest vor. Jeder sollte vom Geldsegen profitieren, «denn wer sein Glück teilt, der verdoppelt es», palaverte er neunmal-klug. Also begann er schon mal mit dem Geldverteilen oder wenigstens mit der Ankündigung, wer denn demnächst von «mine Milliönli», wie er sie nannte, etwas bekommen sollte.

Zuerst besuchte Lonzi jene, denen er Geld schuldete – was das halbe Dorf war. Handwerkern und Laden-besitzern versprach er, in ein paar Tagen alle Schulden zu begleichen, und stellte ihnen überdies – als Zeichen der Wiedergutmachung – ein grösseres Geldgeschenk in Aussicht. Und alle begannen zu träumen: Beck Müller bestellte im Geiste schon mal eine neue Teigknet-maschine, Maler Businger holte eiligst einen Kosten-voranschlag für ein Spritzwerk ein, Metzger Stierli wünschte sich schon lange ein moderneres Kühlhaus, und der Gemeinderat schwärmte von einer Dreifach-turnhalle samt Rasenplatz und Flutlichtanlage. Sogar Pfarrer Köchli hegte plötzlich Gefühle für den schnöden Mammon: So eine neue, grössere, weitherum hörbare Kirchenglocke wäre halt schon schön … Auch bei meinen Eltern, wir wirteten im «Tapferen Gaul», schaute Lonzi vorbei. Er trank drei Bier und drei Schnäpsli auf Pump, kündigte eine grosszügige Schenkung an und bescherte damit meinen Eltern eine schlaflose Nacht, weil sie sich nicht einig waren, ob sie die Küche renovieren oder eine Kegelbahn bauen wollten. Müntschisberg war im totalen Weihnachtsgeschenke-Fieber.

Genau einen Tag vor Heiligabend traf der Geldbote ein. Es war ein sonniger, noch immer viel zu warmer Samstag-morgen, als ein Mercedes mit Stadtbasler Kennzeichen ins Dorf einfuhr. Im Schritttempo, wie das sonst nur Leichen-wagen und Staatskarossen tun, glitt die Limousine über die weihnächtlich dekorierte Hauptgasse. Vorbei am Zwölf-Meter-Christbaum auf dem Marktplatz, an Seppis Glühweinbar und Roccos Mar roni stand, vorbei am Primarschulhaus mit seinen aus farbigem Laternen-papier gebastelten Adventsfenstern und dem Kirchen-vorplatz mit der heiligen Krippe in Holz und in Echt-grösse – und hielt schliesslich vor Lonzis Haus. Dr. lic. iur. Balthasar G. Steif, Advokatur & Notariat, stieg aus (er sah genau so aus, wie er hiess), klopfte an die Haustür, und Lonzi, gekämmt und rasiert und ausnahmsweise ohne Cowboyhut, bat den Überbringer der Millionen herein.Keine halbe Stunde später trat der Testamentsvollstrecker wieder aus dem Haus und fuhr davon. Die Müntschis-berger trauten sich näher, einige klatschten und pfiffen durch die Finger. Das fröhliche Geldverteilen konnte beginnen, Volksfeststimmung kam auf. Dann trat er vor die Tür, der reichste Mann von Müntschisberg. Schlagartig verstummte die Menge. Lonzi sprach mit gesenktem Kopf und brüchiger Stimme: «Leute, es gibt keine Millionen. Ich erbe nur dieses Haus hier, sonst nichts. Seid mir nicht böse. Tschuldigung!»Was passiert war? Onkel Hugo aus Ohio besass tatsächlich Millionen von Dollar. Es gab da aber, und davon hatte keiner gewusst, eine uneheliche, volljährige Tochter namens Amber-Anne aus Dallas, Texas. Mit deren Mutter hatte Onkel Hugo eine amouröse Verbindung unterhalten, nur sehr kurz zwar – aber umso nachhaltiger.

Amber-Anne erbte das Geld, so wollte es das US- Gesetz, Neffe Lonzi bekam das Haus in Müntschisberg. In einem dem Testament beiliegenden Brief, dem Datum nach zwei Jahre alt, schrieb Onkel Hugo seinem Neffen, er sei schwer erkrankt, werde ihn aber noch ein letztes Mal besuchen und Hugo persönlich zeigen, wie viel Wert in seinem Eigenheim stecke. Diesen letzten Besuch hatte der Onkel dann nicht mehr geschafft. Der Brief endete mit Hugos üblicher Floskel: «Wer wahren Reichtum will, Lonzi, muss allem auf den Grund gehen.»Wir alle waren schockiert. Da hatte uns das Christkind einen schönen Tiefschlag versetzt. Das würden traurige Weihnachten werden.Aber es kam noch schlimmer.

Am frühen Abend des 23. Dezember geschah über unserem Land etwas so Aussergewöhnliches, dass es gar in den Statistiken der Meteorologen als «Jahr-hundertphänomen» verzeichnet wurde. Sturmtief Violetta über Grönland peitschte Kaltluft nach Süden, wo diese auf unser warmes Adventswetter stiess. Die Folge war ein klimatischer Schock, der mit einem Wintergewitter begann: Es blitzte und donnerte so furios, als feiere das Christkind 1. August. Es kam uns Müntschisbergern vor, als entlade sich unser ganzer Frust über die verpassten Millionen dort oben am Himmel. Um 19.13 Uhr ging bei Feuerwehrkommandant Fleischli der telefonische Alarm ein, der Blitz habe eingeschlagen, ein Haus brenne. Sofort rückte der erste Löschzug samt Spritzenwagen zum Schadensplatz aus. Es war aussichtslos, das Gebäude stand im Vollbrand, die heidelbeerblaue Holzfassade brannte wie ein dürrer Weihnachtsbaum. Auf dem Gartenmäuerchen vor dem Grundstück sass Lonzi, den angekohlten Cowboy-hut auf dem Kopf, und schaute zu, wie sein eh schon kümmerliches Erbe zu Schutt und Asche wurde.Kaum war das Wintergewitter vorbei, sank die Tempe-ratur schlagartig. Innert einer Stunde um rekordmässige

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Marcel Huwyler, 49, schreibt Geschichten und Reportagen für die Magazine LandLiebe und «Schweizer Illustrierte». Er ist im Freiamt im Kanton Aargau aufgewachsen. marcelhuwyler.wordpress.com

dreizehn Grad. Es wurde kalt, dann eiskalt. Kurz nach zweiundzwanzig Uhr begann es zu schneien.Da war es endlich, unser sehnlichst erwartetes Winterweihnachtswetter. Leise rieselte der Schnee auf die Erde – und die Brandruine. Immer mehr Müntschisberger pilgerten zum Schadensplatz. Es wurde andächtig geflüstert, anstelle von Wut und Frust waren Mitleid und Anteilnahme getreten. Wir alle trösteten den armen Lonzi. Konnte ein Mensch so viel Unglück an einem Tag ertragen?

Wir wollten ihn in diesen bitteren Stunden nicht allein lassen. Unsere Mütter brachten Picknickkörbe, warme Militärwolldecken wurden verteilt, Brotlaibe, Cervelats und Christ stollen herumgereicht, Tee, Kaffee und Glühwein aus-geschenkt: Das ganze Dorf sass in einem Halbkreis um die Brand-ruine herum, als wäre es ein grosses Lagerfeuer. Wir Kinder steckten Würste an Hasel- stecken und brieten sie über den glühenden Holzbalken von Lonzis zerstörtem Daheim. Pfarrer Köchli sprach vor versammelter Gemeinde über Mitgefühl, Solidarität und christliche Nächstenliebe. Dann schlugen die Kirchenglocken Mitternacht, der 24. Dezember begann, Heiligabend war angebrochen. Lehrer Staubli stimmte das Lied «Stille Nacht» an, und alle sangen mit. Es war das kurioseste, aber auch ergreifendste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe. Unser lieber Dorftrottel hatte alles verloren, und nun sass das ganze Dorf beisammen, traurig und fröhlich zugleich, ass und trank und sang im Schneegestöber – und feierte feurige Weihnachten.Gegen zwei Uhr morgens erlosch das Feuer. Feuerwehr-männer stocherten mit langen Eisenstangen in den Trümmern herum, und die Müntschisberger brachen auf, um nach Hause und ins Bett zu gehen. Meine Eltern boten Lonzi ein Gästezimmer im «Tapferen Gaul» an, als Feuerwehrkommandant Fleischli angestampft kam und Lonzi bat, mitzukommen. Man hatte etwas gefunden.Beim Stochern in den Trümmern kam im Lehmboden, der wegen der Hitze bröselig geworden war, ein Hohl-raum zum Vorschein. Die hölzerne Falltür darüber war verbrannt, genauso wie der Teppich, der die Falltür in all den Jahren verborgen hatte. Da unten im Loch lag eine grosse, wahnsinnig schwere, feuerfeste Metallkiste. Sie wurde mit Lonzis Zustimmung aufgebrochen. Sie war randvoll mit Goldbarren. Und auf einmal verstand Lonzi Onkel Hugos Spruch: «Wer wahren Reichtum will, Lonzi, muss allem auf den Grund gehen.»

So wurde unser Dorftrottel Lonzi, Alleinerbe dieses Hauses samt Grund (und Untergrund!) und Boden, doch noch Millionär.

Wie sich erst Wochen später nach Recherchen von Dr. lic. iur. Balthasar G. Steif, Advo-katur & Notariat, herausstellte, hatte Onkel Hugo aus Ohio einige seiner Dollar-Millionen in Goldbarren angelegt und, weil ihm die US-Steuerbehörde zu gierig schien, das Gold bei jedem seiner Besuche

in Müntschisberg in einer Tasche mit-gebracht und im geheimen Depot

unter Lonzis Haus versteckt. Man ging davon aus, dass er das Gold seinem Neffen irgend-

wann hatte zeigen und übergeben wollen. Doch sein plötzlicher Tod hatte diesen Plan zunichtegemacht.

Als Erstes kaufte Lonzi einen neuen Cowboyhut. Als Zwei-tes einen Weihnachtsbaum, den er trotzig mit feuerroten Kerzen und glutroten Kugeln schmückte und zuoberst auf die verkohlten, mit frischem

Pulverschnee eingepuderten Reste seines Hauses platzierte.

Dann war Bescherung. Für uns alle: Lonzi beschenkte Bäcker, Malermeister,

Metzger, Käser und alle Lädelibesitzer. Uns Kindern wurde von Lonzis kiloweise spendiertem Schleckzeug schlecht, und auch die Weihnachtswünsche des Pfarrers und des Gemeinderates wurden erhört. Übrigens: Der «Tapfere Gaul» meiner Eltern bekam eine vollautomatische Kegelbahn.

Das alles ist viele Jahre her. Lonzi ist längst tot, sein Geld in gemeinnützige Stiftungen geflossen, und im Büntenquartier steht jetzt eine Wohnsiedlung. Ich habe sie mir angeschaut, am ersten Adventssonntag bin ich nach Müntschisberg zurückgekehrt. Das Dorf ist gewachsen, im Büntenquartier wohnen jetzt viele Familien. Es gibt dort einen Platz, wo man sich trifft, wo Eltern miteinander plaudern und Kinder spielen, exakt an der Stelle, wo einmal ein Haus abgebrannt ist. In der Mitte dieses Platzes steht ein grosser, kreisrunder Brunnen mit einer Steinfigur, die einen Cowboyhut trägt. Im Dorf nennen sie ihn Lonzibrunnen.

Achilles Greminger, 35, ist Illustrator und Grafiker. Seine Arbeiten erscheinen in verschiedenen Druck sachen wie auch im Internet. Er lebt im Kanton Zürich und in Japan. www.ashi.ch