Geschichtliche Entwicklung der Psychotherapie Wo stehen ... · Psychiatrie-Enquete • 1978...
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Geschichtliche Entwicklungder Psychotherapie -Wo stehen wir heute?
Referat zur Eröffnung des Ausbildungskurses 3 im IVV
am 7. November 2003
Fritz Mattejat Philipps-Universität Marburg
Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin (IVV)
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Ausgehendes 18. Jahrhundert• 1774 F.A. Mesmer führt eine erfolgreiche
Behandlung mit einem Magneten an Fräulein Österlin durch (Mesmerismus).
• 1777 Goethe führt auf dem Straßburger Münster bei sich selbst eine Konfrontationsbehandlung durch.
• 1783 Karl Philipp Moritz: Magazin der Erfahrungsseelenkunde
• 1793 Pinel: Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten.
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19. Jahrhundert
• 1811: Heinroth – erster Lehrstuhl für psychische Therapie in Leipzig
• 1829: Beginn der non-restraint-Bewegung in England: Zwangs-maßnahmen von 2364 (1830) auf 3 (1837).
• 1865: Eröffnung des Burghölzliin Zürich
• 1879: Wilhelm Wundt gründet das erste „psychologische Labor“ in Leipzig –Psychologie
• 1883 Krankenversicherungsgesetz in Deutschland
• 1883: Emil Kraepelin: Kompendium der Psychiatrie
• 1886: Ludwig II König von Bayern wird für unmündig erklärt (Psychiater aus Werneck)
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Die Jahrhundertwende
• 1893 „Vorläufige Mitteilungen über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene “ von Freud und Breuer (1899: „Die Traumdeutung“)
• 1896 Gründung der ersten „psychologischen Klinik“ und Begründung der klinischen Psychologie durch Lightner Witmer
• 1897 Pawlow veröffentlicht seine Entdeckung von den bedingten Reflexen (1904: Erster Nobelpreis für Medizin)
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Die weitere Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Psychoanalyse
• 1909: Freuds „Analyse der Phobie eines fünfjährigen Jungen“ (der kleine Hans)
• 1912: Jones schlägt Freud die Gründung eines geheimen Komitees vor, um die Reinheit der Lehre und mögliche Dissidenten besser kontrollieren zu können.
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Die weitere Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts:
Verhaltenstherapie
• 1913: Watsons behavioristisches Manifest:Psychology as the behaviorist views it.
• 1920: Ethisch bedenkliche konditionierte Angstreaktion des kleinen 11 Monate alten Albert.
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Entwicklung der Psychiatrie
• 1911: Eugen Bleuler definiert den Schizophreniebegriff
• 1913: Karl Jaspers – Allgemeine Psychopathologie
• 1931: Kurt Schneider: Klinische Psychopathologie
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Die psychopharmakologische Revolution: 1952 Entdeckung der Neuroleptika
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Die psychopharmakologische Revolution: 1952 Entdeckung der Neuroleptika
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Die letzten 50 Jahre
• 1952 Entdeckung der Neuroleptika, seither wachsende Nutzung der psychopharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten
• 1958 Der Begriff Behaviour Therapy wird von Wolpe und von Eysenck unabhängig voneinander eingeführt.
• 1991 ICD-10-F (Psychisch): Konsens zur diagnostischen Klassifikation. Deskriptiv; störungs- statt krankheitsorientiert; Konzept der Komorbidität.
• Seit etwa 1960 – 1985 Entwicklung und Verbreitung von vielfältigen psychotherapeutischen Ansätzen
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Vielfalt der Therapierichtungen(n. Grawe et. al. 1994)
• Psychodynamische Therapien (z.B. Psychoanalyse; Psychanalyt. Kurztherapie; Individualtherapie; Katathymes Bilderleben)
• Humanistische Therapien (Klientzentr. Gesprächstherapie und Spielther.; Psychodrama; Gestaltther.; Bewegungs- und körperorient. Ther.)
• Kognitiv-behaviorale Therapien (Syst. Desensibilisierung, Konfront.-behandl.; Biofeedback; Kogn. Therapien; Problemlösungstherapie; Selbstmanagement-Therapie; soziales Kompetenztraining)
• Systemische und interpersonale Therapien (Familientherapiemodelle z.B. Mailänder Modell; LösungsorientíerteKurztherapie; Reflecting Team; narrative Ansätze; Interpersonale Therapie)
• Entspannungsverfahren und trancetherapeutische Verfahren (Autogenes Training; Progressive Muskelentspannung; Meditation; Hypnose/Trancetherapie)
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Die letzten 50 Jahre
• 1952 Entdeckung der Neuroleptika, seither wachsende Nutzung der psychopharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten
• 1958 Der Begriff Behaviour Therapy wird von Wolpe und von Eysenck unabhängig voneinander eingeführt.
• 1991 ICD-10-F (Psychisch): Konsens zur diagnostischen Klassifikation. Deskriptiv; störungs- statt krankheitsorientiert; Konzept der Komorbidität.
• Seit etwa 1960 – 1985 Entwicklung und Verbreitung von vielfältigen psychotherapeutischen Ansätzen
• Seit den 50iger Jahren bis heute: Systematische Entwicklung einer erfahrungswissenschaftlich fundierten Psychotherapie.
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Leitthemen der Psychotherapieforschung
vor 1955
„Vorempirisches“ Stadium Keine systematisch betriebene empirische Psychotherapie-Forschung
a) Wirksamkeit wurde unterstellt, anstatt sie zu überprüfen b) Verbreitete Vorstellung, daß die Wirksamkeit der Psychotherapie nicht
experimentell überprüft werden kann
1955-1995
Allgemeine Wirksamkeit der Psychotherapie: a) Ist Psychotherapie überhaupt wirksam? b) Welche Art der Psychotherapie (welche Grundansatz / Schule) ist wirksam(er) ?
1980-heute
Spezifische Wirksamkeit: a) Welche Art der Psychotherapie (welche Methode) hilft bei welcher
Störung? („What works for whom?“ ) !!!!!!!! STÖRUNGSSPEZIFISCHE BEHANDLUNG (EBM, EST, pract. par./ Leitlinien)
b) Was sind die Komponenten (Wirkkomponenten) einer effektiven Pychotherapie !!!!!!!!GENERISCHE / ALLGEMEINE PSYCHOTHERAPIE.
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Leitthemen der Psychotherapieforschung: Literaturhinweise
vor 1955
„Vorempirisches“ Stadium Keine systematisch betriebene empirische Psychotherapie-Forschung
!!!! Eysenck (1952): The effects of psychotherapy („Does psychotherapy work?“) Kinder: !!!! Levitt, E. (1957): The results of psychotherapy with children
1955-1995
Allgemeine Wirksamkeit
!!!! Smith, M. & Glass, C. (1977): Meta-analysis of psychotherapy outcome studies. !!!! Smith, M., Glass, C. & Miller,T. (1980): The benefits of psychotherapy. !!!! Grawe, K., Donati, R. & Bernauer, F. (1994): Psychotherapie im Wandel. Kinder: !!!! Weisz, J. & Weiss, B. (1993). The effects of psychotherapy with children and adolescents.
1980-heute
Spezifische Wirksamkeit
!!!! Roth & Fonagy (1996): What works for whom? Kinder: !!!! Journal of Clinical Child Psychology (1998) Special issue !!!! Carr (2000): What works with Children and Adolescents? !!!! Baving & Schmidt (2001): Evaluierte Behandlungsansätze in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
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Aktueller Ergebnisstand:
• Quantitatives Wachstum und qualitative Verbesserung der Psychotherapieforschung im Kindes- und Jugendalter
• Ergebnisse: Hohe Wirksamkeit. Vergleichbar mit den Ergebnissen bei Erwachsenen. Beste Werte bei kognitiv-behavioralen Verfahren. Wirksamkeitsnachweise auf neurobiologischer Ebene („Change the mind and you change the brain“; Paquette et al. 2003) .
• Zunehmende Evidenz bezüglich effektiver Behandlungen für einzelne Störungsbilder (Evidenzbasierte Psychotherapie; EST); Sehr starke Erweiterung des Behandlungsspektrums mit Publikation von Manualen.
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Smith & Glass(1980)
Shapiro &Shapiro (1982)
Casey &Berman (1985)
Weisz et al.(1987)
Kazdin et al.(1990)
Weisz et al.(1995)
KLEIN
GROSS METAMW
KlinikMW
MITTEL
Erwachsene Kinder
Durchschnittliche Effektstärken in den wichtigsten Metaanalysen: Vergleich von Kindern und Erwachsenen
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Aktuelle Grundmodelle:
Der Abschied von den Therapieschulen:
• Generische Therapiekonzepte / Allgemeine Psychotherapie / Effektive Wirkkomponenten
• Störungsspezifische Behandlungsmodelle / EBM / EST / Practice Parameters / Leitlinien
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Generische TherapiekonzepteGemeinsamkeiten
Multifaktoriell und multimodal (MehrereFaktoren, Ebenen etc.); empirisch geleiteteTheorienbildung jenseits der Therapieschulen:• Einflußfaktoren auf den Therapieerfolg• Wirkfaktoren der Therapie• Therapiephasen („stages of change“)• Effektive Strategien der Verhaltensänderung
(„processes of change“; „mechanisms of change“)
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Generische TherapiekonzepteBeispiele
• Generic model of psychotherapy (Orlinsky& Howard, 1986; Orlinsky et al., 1994)
• Allgemeine Psychotherapie (Grawe et al., 1994)
• Transtheoretisches Phasenmodell (Prochaska et al., 1994)
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Störungsspezifische Behandlungsmodelle:
Gemeinsamkeiten
• Evidenzbasiert • In der Regel mehrere Komponenten
(Komponentenmodell)• Hohe Bedeutung psychoedukativer und kognitiv-
behavioraler Methoden• Standardisiert und manualisiert• Mit expliziter Evaluation/Qualitätssicherung
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Multidimensionale Diagnostik und Therapiebei psychischen Störungen von Kindern und Jugendlichen
Variablen somatisch psychisch sozial
Inter-ventions-Schwer-
punkt
Individuumzentriert: Kontextzentriert: Auf das Kind bzw. Auf die Familie den Jugendlichen und das sonstige bezogene Umfeld bezogene Maßnahmen bezogene
Maßnahmen
Maß-nahmen
Medik.Behandl. u.
andereärztliche
FunktionelleÜbungs-behandl.und heil-
PsychotherapeutischeInterventionen
Maßnahmender
Jugend- undSozialhilfe
SonstigeUmfeld-
bezogeneMaßn.
Maßnahmen päd. Maßn. Bezogen aufd. Patienten
Bezogen aufdie Familie
(z.B. Schule,Peers)
Behandlungskomponenten
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Prinzipien der Verhaltenstherapie Teil 1 (nach Margraf, 1996)
• VT orientiert sich an der empirischen Psychologie• VT ist problemorientiert (aktuelle Problematik des
Patienten)• VT setzt an an prädisponierenden, auslösenden
und aufrechterhaltenden Bedingungen• VT ist zielorientiert (geplantes Vorgehen gemäß
Problemlösungsmodell; geplante Beendigung der Ther.)
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Prinzipien der Verhaltenstherapie Teil 2 (nach Margraf, 1996)
• VT ist handlungsorientiert (aktive Beteiligung des Patienten)
• VT ist nicht auf das therapeutische Setting begrenzt (Übernahme in den Alltag)
• VT ist transparent• VT soll „Hilfe zur Selbsthilfe“ sein• VT bemüht sich um ständige Weiterentwicklung
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Prinzipien der Kinderverhaltenstherapie
(nach Quaschner, 2003)
• KVT betont Eigenverantwortlichkeit, Autonomie und Selbständigkeit der Patienten
• Das Lebensumfeld der Kinder hat zentrale Bedeutung: KVT eignet sich sehr gut – für den Einsatz von Mediatoren– für den Einsatz in Institutionen
• Die KVT ist eine psychotherapeutische Grundorientierung mit einem geplanten Vorgehen, in das die einzelnen Methoden eingebettet sind.
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Prinzipien der Kinderverhaltenstherapie
(nach Quaschner, 2003)
• Die KVT zielt auf umfassende Berücksichtigung des Lebenszusammenhanges eines Kindes oder Jugendlichen
• Die KVT berücksichtigt entwicklungs-psychopathologisches und störungsspezifisches Wissen sowie Veränderungswissen
• Die KVT ist offen für Entwicklungen und Veränderungen im Sinne von Korrekturen, Erweiterungen, Ergänzungen, Revisionen und Kritik.
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Die letzten 50 Jahre in Deutschland
• 1946 Gründung des Berufsverbandes Deutscher Psychologen• 1964 „Neurosen-Urteil“ des Bundessozialgerichts: „Seelische
Störungen – neurotische Hemmungen, die der Versicherte ... aus eigener Kraft nicht überwinden kann, sind eine Krankheit (BSGE 21, 189).
• 1967 Erste Psychotherapie-Richtlinien: Psychoanalyse/Tiefenpsychologie werden krankenkassen-abrechenbar.
• 1968 Gründung der heutigen „Deutschen Gesellschaaft für Verhaltenstherapie“
• 1970 Gründung der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie
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Die letzten 50 Jahre in Deutschland
• 1973 Vorlage des Zwischenberichtes der Psychiatrie-Enquete
• 1978 Referentenentwurf für ein Psychotherapiegesetz
• 1978 Bundesgerichtshof: „Übersieht der Arzt veröffentlichte neue Behandlungsmethoden und hält er an Überholtem fest, so handelt er pflichtwidrig“ (BGH NJW 1978,587)
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Die letzten 50 Jahre in Deutschland
• 1980 Einbeziehung der Verhaltenstherapie in die Leistungen der Ersatzkassen. Im Jahr 1986 wird die Verhaltenstherapie auch als Leistung in die übrigen gesetzlichen Kassen aufgenommen.
• 1980 Erster Kongress „KLIPS“ (Klinische Psychologinnen und Psychologen)
• 1989 Ausschreibung des „Forschungsgutachtens zur Frage eines Psychotherapeutengesetzes“. Das Gutachten (Grawe) wird 1991 veröffentlicht.
• 1998 Das Psychotherapeutengesetz wird verabschiedet. Es tritt am 1.1.1999 in Kraft.
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Das IVV-Marburg
• 1981: Am 06.07.1981 wird der Verein für Kinder-und Familientherapie e.V. gegründet. Er ist Träger des „Weiterbildungsseminars für Kinder-Jugendlichen- und Familientherapie“, das im Herbst 1981 die Ausbildung beginnt.
• 1999: Um den durch das Psychotherapeutengesetz geschaffenen neuen Bedingungen gerecht zu werden, wird am 12.04.1999 das Institut für Verhaltenstherapie und Verhaltensmedizin an der Philipps-Universität Marburg e.V. gegründet; der erste Ausbildungskurs beginnt im Herbst 1999.
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Verhaltenstherapie am IVV
• Breite Definition von Verhaltenstherapie
• Wissenschaftliche Fundierung
• Offenheit für Neuentwicklungen
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Ausbildungskonzept des IVV
• Akademisches Niveau und Praxistauglichkeit: Universität/Praxis; Forschungs- und Anwendungsbezug.
• Interprofessionelle Zusammenarbeit: Ärzte/Psychologen/Pädagogen und andere
• Aktive Beteiligung der Kursteilnehmer (Referate, Fallvorstellungen) und persönlicher Kontakt zwischen Dozenten und Kursteilnehmern (Rückmeldung)
• Qualitätssicherung der Lehrveranstaltungen und der Therapien
• Enge Kooperation mit Partnerinstituten
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Persönliche Überzeugungen
(1) Keine Einengung auf eine therapeutische Konfession
(2) Bewahrung guter verhaltenstherapeutischer Traditionen
(3) Begrenztheit psychotherapeutischer Konzepte
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Psychotherapieausbildung =Entscheidung für einen sehr hohen Einsatz,ein sehr hohes Engagement.
• Sehr viel Wissen, Erfahrung und praktisches Können
• Gefühl für die eigene Leistung und Kompetenz
Falls sie dabei bleiben: