Gewalt - LMU München · Gewalt Entstehung, Facetten, Auswege ... • Vergewaltigung, sexuelle...

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Gewalt Entstehung, Facetten, Auswege „Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein“ (F. Nietzsche) – Kriegsverbrechen Dr. Markus Fath, LMU München Wintersemester 2016/17 Montag, 18:00 20:00 Uhr c.t. Geschwister-Scholl-Platz 1, B101

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Gewalt Entstehung, Facetten, Auswege

„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der

Abgrund auch in dich hinein“ (F. Nietzsche) –

Kriegsverbrechen

Dr. Markus Fath, LMU München

Wintersemester 2016/17

Montag, 18:00 – 20:00 Uhr c.t.

Geschwister-Scholl-Platz 1, B101

Programm

31.10.2016 Erscheinungsformen von Gewalt und Ansätze zur Erklärung

07.11.2016 Denkmuster, Feindbilder und das Schuldprinzip

14.11.2016 Legitimierte Gewalt, Rechtsirrtümer und Justizopfer

21.11.2016 Radikalisierung, Pogrom und Genozid

28.11.2016 Wenn das Wohl von Menschen für Werte, Moral und Ideale geopfert wird

05.12.2016 Zum Zusammenhang von Mobbing und Amokläufen

12.12.2016 Amokläufe und Anschläge

19.12.2016 Warum Frieden trotz allem keine Illusion ist

09.01.2017 Kriegsverbrechen

16.01.2017 Endlichkeit, Sterben, Tod und die Relativierung von Werten

23.01.2017 Gewalt gegen Kinder

30.01.2017 Gewalt gegen zukünftige Generationen

06.02.2017 Auswege aus der Gewalt

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Aufzeichnung und Folien

Aufzeichnung frei verfügbar bei der UnterrichtsMitschau

VideoOnline der LMU:

https://videoonline.edu.lmu.de/de/wintersemester-2016-

2017/8202

Folien zum Download frei verfügbar im LSF unter der

Veranstaltungsnummer 11917 und unter der Homepage:

http://www.edu.lmu.de/apb/personen/dozent/fath/

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Agenda

1. Begriffsbestimmung

2. Beispiele

• Erschießungskommandos

• Kindersoldaten

• Vergewaltigungen als Waffe

• Napalm

• Massaker am Beispiel von My Lai 1968

3. Stanford-Prison-Experiment

Exkurs: Panoptisches Prinzip

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„Break the Silence!“

Ärzte ohne Grenzen

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1. BEGRIFFSBESTIMMUNG

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Kriegsverbrechen

• Verstöße einer kriegführenden Partei gegen Regeln des

Völkerrechts

• Gültig für Kriege zwischen Nationen und zwischen Parteien

innerhalb einer Nation (Bürgerkriege)

• Anwendung des Weltprinzips (bzw. Weltgrundsatzes bzw.

Universalitätsprinzips): d.h. Anwendung eines nationalen

Strafrechts auf Tatbestände, bei denen weder Tatort

(Territorialprinzip) noch Staatsangehörigkeit von Täter

und/oder Opfer (Personalitätsprinzip) der Zuständigkeit

einer Nation zuzuordnen sind

• In Deutschland festgehalten im § 6 StGB

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Römisches Statut des Internationalen

Strafgerichtshofes (1)

Art. 8 (2) a) Handlungen gegen geschützte Personen oder Güter

• Vorsätzliche Tötung

• Folter, unmenschliche Behandlung, biologische Versuche

• Vorsätzliche Verursachung großer Leiden, schwere Beeinträchtigung

der körperlichen Unversehrtheit oder Gesundheit

• Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß

• Nötigung von Kriegsgefangenen oder anderen geschützten Personen

zum Dienst in den feindlichen Streitkräften

• Vorsätzlicher Entzug des Rechts auf unparteiisches ordentliches

Gerichtsverfahren

• Rechtswidrige Vertreibung, Überführung oder Gefangenhaltung

• Geiselnahme

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Römisches Statut des Internationalen

Strafgerichtshofes (2)

Art. 8 (2) b) schwere Verstöße

• Vorsätzliche Angriffe auf Zivilbevölkerung

• Vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte

• Vorsätzliche Angriffe auf humanitäre Hilfsmissionen

• Vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser Verlust von

Menschenleben, Verwundung von Zivilbevölkerung, Beschädigung ziviler

Objekte oder langfristige, schwere Schäden an der natürlichen Umwelt

verursachen wird

• Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer etc.

• Tötung oder Verwundung eines sich ergebenden Kombattanten

• Missbrauch von Schutzzeichen (Parlamentärflagge, UN-Uniformen etc.)

• Unmittelbare oder mittelbare Überführung eigener Zivilbevölkerung durch eine

Besatzungsmacht in ein besetztes Gebiet

• Vorsätzliche Angriffe auf Gebäude, die Religionsausübung, Erziehung, Kunst,

Wissenschaft, Wohltätigkeit gewidmet sind oder Denkmäler, Krankenhäuser,

Sammelplätze darstellen

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Römisches Statut des Internationalen

Strafgerichtshofes (3)

Art. 8 (2) b) schwere Verstöße

• Körperliche Verstümmelung gefangener Personen oder Vornahme

medizinischer oder wissenschaftlicher Versuche, die nicht auf das Wohl der

betroffenen Person abzielen

• Meuchlerische Tötung oder Verwundung

• Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird

• Zerstörung oder Beschlagnahme feindlichen Eigentums

• Erklärung, dass Rechte und Forderungen von Angehörigen der Gegenpartei

aufgehoben sind

• Zwang gegen Angehörige der Gegnerpartei, sich an Kriegshandlungen gegen

eigenes Land zu beteiligen, selbst wenn diese vor Ausbruch des Krieges schon

im Dienst der Kriegsführenden standen

• Plünderung einer Stadt oder Ansiedlung

• Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen

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Römisches Statut des Internationalen

Strafgerichtshofes (4)

Art. 8 (2) b) schwere Verstöße

• Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger Stoffe bzw. Vorrichtungen

• Verwendung von Geschossen, die sich im menschlichen Körper leicht

ausdehnen oder flachdrücken

• Verwendung von Waffen, Geschossen, Stoffen oder Methoden, die überflüssige

Verletzungen oder Leiden verursachen

• Beeinträchtigung persönlicher Würde, entwürdigende und erniedrigende

Behandlung

• Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene

Schwangerschaft

• Benutzung von Zivilpersonen, um gegnerische Streitkräfte fernzuhalten

• Vorsätzliche Angriffe gegen Schutzzeichen der Genfer Abkommen

• Vorsätzliches Aushungern von Zivilpersonen, vorsätzliche Behinderung von

Hilfslieferungen

• Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter fünfzehn Jahren in

die Streitkräfte

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2. BEISPIELE

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Erschießungskommandos (1)

• Auswahl der Beteiligten erfolgt ohne Kriterien

• Voraussetzung für die Kommandantur von einzelnen

Erschießungskommandos des NS-Regimes:

Promovierte Akademiker

• Tötungen erfolgen immer in der Gruppe

• Bereits erfahrene Mitglieder führen die ersten Tötungen durch

• Täter schildern Fokussierung auf extrem reduzierte Wahrnehmung

Blenden alles aus, außer dem kleinen Teil des Körpers, auf den

geschossen wird

• Opfer wehren sich fast nie

Kommandos statuieren Exempel und lassen keinen Zweifel daran,

dass es wesentlich Schlimmeres gibt, als einen schnellen Tod

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Erschießungskommandos (2)

Bsp.: Polizei-Reservebataillon 101 in Polen im Sommer 1942

• Etwa 500 Familienväter aus Hamburg

• Zu alt zum Kampfeinsatz

• Keinerlei Kampferfahrung oder Erfahrung im Polizeidienst

• Am Anfang weigern sich gut ein Drittel

• Später zeigen über 90% blinden Gehorsam

Überzeugung durch Gruppendruck, Vorbildfunktion und vor allem

Schuldbewusstsein gegenüber denjenigen, die Tötungen durchführen

In nur vier Monaten werden aus nächster Nähe mindestens 38 000 Juden

erschossen

Im selben Zeitraum werden mindestens weitere 45 000 Juden in das

Konzentrationslager Treblinka deportiert

Die Mitglieder des Kommandos waren „ganz normale Männer“

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Kindersoldaten (1)

Definition von UNICEF, terre des hommes und amnesty international:

alle Kämpfer und Helfer, die unter 18 Jahre alt sind

„Liste der Schande“: weltweit über 50 Gruppierungen, die Kinder

systematisch entführen, trainieren, foltern, verstümmeln und

vergewaltigen, mit dem Ziel die Kinder als Kämpfer einzusetzen

• Besonders betroffen: Afghanistan, Demokratische Republik

Kongo, Irak, Jemen, Kolumbien, Mali, Myanmar, Philippinen,

Somalia, Sudan, Südsudan, Syrien, Tschad und

Zentralafrikanische Republik

• Saudi-Arabien wurde von der Liste gestrichen, nachdem mehrere

Koalitionen in der UNO mit der Einstellung der Finanzierung von

Hilfsorganisationen gedroht hatten

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Kindersoldaten (2)

Maßnahmen zur Rekrutierung von Minderjährigen:

• Mit Slogans, die „Spaß und Action“ garantieren, werden an Aktionstagen gezielt 14-

16-jährige Mädchen für das Militär begeistert

• Am „Girl‘s Day“ werden vereinzelt 11-jährige Mädchen auf die Sitze von

Marinehelikoptern gesetzt und „kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus“

• 13-jährigen Mädchen wird gezeigt, wie sich beim Sprint der Fallschirm von

Jägereinheiten aus dem Rucksack fädelt

• Sogar am 12. Februar 2016 – internationaler Tag gegen Kindersoldaten – fanden

offene Maßnahmen zur Rekrutierung Minderjähriger in einem Schulzentrum statt

• Mit 17 besteht die Möglichkeit, sich für bis zu 23 Monate zu verpflichten und ab

Vollendung des 18. Lebensjahres an Auslandseinsätzen und Wachdiensten

teilzunehmen

• Jährlich werden über 1000 Minderjährige in die Armee aufgenommen

Rekrutierungsstrategien der Deutschen Bundeswehr

Rüge durch die UNO wegen der Anwerbung von Kindersoldaten

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Vergewaltigungen als Waffe

• Vermutlich das häufigste und am stärksten verschwiegene Verbrechen in

Kriegsgebieten

• Basiert meist auf systematischer Planung und Anstachelung durch Propaganda

• Öffentliche Inszenierung von Massenvergewaltigungen zur maximalen

Demütigung

• Bestätigte Existenz von Vergewaltigungslagern mit dem Ziel, die Gene des

eigenen Volkes zu vermehren

wenn Frauen schwanger waren, wurden sie entlassen

• Frauen werden danach häufig von der Familie verstoßen

• Begründete Vermutung, dass Männer genauso oft unter den Opfern sind

Noch stärker verschwiegen

• Erwachsene Männer, jugendliche Jungen und sogar Kinder werden gezwungen,

Angehörige zu vergewaltigen (aufgrund mechanischer Stressreaktion des

Körpers bei gleichzeitiger Abwesenheit jeglicher sexueller Erregung möglich!)

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Napalm (1)

• Geliertes Benzin

• Hydrophob kann kaum mit Wasser gelöscht und kaum

von der Haut abgewaschen werden

• Erreicht Temperaturen zwischen 800 und 1200°C

• Häufigster Einsatz in Streubomben mit Flächenwirkung und

Flammenwerfern

• In Haager Landkriegsordnung 1899 wurde bereits Einsatz

von Brandwaffen geächtet

• Durch Vereinte Nationen als unmenschliche Waffe 1980

verboten

• 2009 von USA „unter Vorbehalt“ ratifiziert

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Napalm (2)

Bestätigte Bombardierungen:

• Großflächige Bombardierungen durch US-Armee im zweiten Weltkrieg in

Deutschland und Japan (1944-1945), im Koreakrieg (1950-1953) und im

Vietnamkrieg (1955-1975)

• Von französischem Militär während Indochinakrieg (1946-1954),

Algerienkrieg (1954-1962) und Westsaharakonflikt (1975-1979)

eingesetzt

• Einsatz gegen Dörfer und Städte in Zypern durch türkisches Militär (1964

& 1974)

• Im zweiten Indisch-Pakistanischen-Krieg (1965) und im Konflikt von 1971

von beiden Militärs eingesetzt

• Einsatz durch indonesische Besatzungstruppen in Osttimor (1975-1999)

• Durch nigerianische Truppen im Biafrakrieg (1967-1970)

• Durch Irak und Iran während des ersten Golfkrieges (1980-1988)

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Massaker am Beispiel My Lai 1968 (1)

Auszug aus einem Interview mit einem beteiligten US-Soldaten:

- „Ich habe meine M 16 auf sie gehalten:“

- „Warum?“

- „Weil sie hätten angreifen können.“

- „Es handelte sich um Kinder und Babies?“

- „Ja.“

- „Und sie hätten angreifen können? Kinder und Babies?“

- „Sie hätten Handgranaten haben können. Die Mütter hätten sie auf uns werfen

können.“

- „Die Babies?“

- „Ja.“

- „Hatten die Mütter die Babies auf dem Arm?“

- „Ich glaube ja.“

- „Und die Babies wollten angreifen?“

- „Ich habe jeden Moment damit gerechnet, dass sie einen Gegenangriff

machen würden.“

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Massaker am Beispiel My Lai 1968 (2)

• Dorf in Vietnam mit 504 unbewaffneten Zivilisten

• Keine Vietcong anwesend

• Keine Bedrohungssituation

• Keine Gefechtsbedingungen

• Kein Befehl zum Töten

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Massaker am Beispiel My Lai 1968 (3)

„Wir haben fast das ganze Dorf, die ganze Gemeinschaft ausgelöscht. Ich

kann die Menge der Menschen, die wir töteten, nicht vergessen, genauso

wenig wie die Art, wie wir sie töteten. Wir töteten sie auf jede Weise. Haben

Sie eine Ahnung, wie es ist, 500 Menschen in vier oder fünf Stunden

umzubringen? Es war wie mit den Gaskammern – was Hitler gemacht hat. Du

stellst fünfzig Leute in eine Reihe, Frauen, alte Männer, Kinder, und mähst sie

einfach nieder. Und so haben wir‘s gemacht – 25, 50, 100. Einfach getötet.

Wir haben sie einfach aufgestellt, haben die M 16 auf automatisches Feuer

gestellt und sie einfach umgemäht.“ (Bericht eines beteiligten US-Soldaten)

mere gook rule: „If it‘s dead and it‘s Vietnamese, it‘s VC.“

Doktrin des „body count“: Je höher die Zahl der Toten, umso

erfolgreicher die Aktion

Parole eines Kommandanten: „Falls sie schwanger ist und ihr erschießt

sie, zählt sie doppelt.“

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Suche nach Täterprofilen

1974 wertet Molly Harrower psychologische Gutachten (inklusive Rohrschachtests) aus

und sendet dieses anonymisiert an die renommiertesten psychologischen Experten mit

der Bitte um ein Gutachten zu dem Personenkreis

Kein Gutachter hat eine Vorstellung davon, um welchen Personenkreis es sich

handelt bzw. kann Rückschlüsse darauf ziehen

Keine Auffälligkeiten

Etwas geringere Empathiefähigkeit, aber ohne klinische Relevanz

höchst intelligente, kreative, fantasievolle und tatkräftige Persönlichkeiten

In Rohrschachtests wurde überdurchschnittlich häufig das Bild eines Chamäleons

identifiziert (Agens-Spektrum; Einfärbung!)

Vermutungen:

Evtl. Bürgerrechtler

Wahrscheinlich handelt es sich um Psychologen

Es waren Gutachten von 1947 aus der Gruppe der Hauptkriegsverbrecher

der Nürnberger Prozesse

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3. STANFORD PRISON EXPERIMENT

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Vorgeschichte

• Philip Zimbardo besucht 1949 High School in der Bronx in

New York

• Befreundet mit einem „kleinen, schlauen, schmächtigen,

jüdischen Schüler“, der einen Lehrer besorgt fragt, ob die

Gräuel der Nazidiktatur auch in den USA denkbar wären

Lehrer antwortet, dass „gottesfürchtige und moralisch

integere“ Amerikaner niemals dazu in der Lage wären,

solche Verbrechen zu verüben

Schüler ist nicht beruhigt und widerlegt 1961 die These

des Lehrers

Stanley Milgram (Milgram-Experimente, siehe 5.VL vom

28.11.16)

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Design

• Forschungsfrage: Wie wirkt sich die Dynamik einer

Gefängnissituation auf die Psyche „normaler, gesunder

Männer“ aus?

• Vorauswahl von 21 Versuchspersonen (plus

Ersatzpersonen): keine Affinität zu Gewalt, psychische

Stabilität und moralische Integrität

• Zufallsaufteilung: 11 „Wärter“ und 10 „Häftlinge“

Niemand wollte Wärter sein

• Zimbardo und Mitarbeiter übernehmen „Gefängnisleitung“

• Geplante Versuchsdauer: 14 Tage

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Ablauf (1)

• Versuchspersonen, die Rolle der Häftlinge übernehmen sollen, werden

instruiert, sich am Morgen des 14. August 1971 an bestimmten Orten

bereit zu halten

• Sie werden mit Hilfe der örtlichen Polizei verhaftet und zur Stanford

University gebracht

• Angehörige glaubten meist an Echtheit der Verhaftungen

• Verhaftungsroutinen werden durchgeführt (von Wärter-

Versuchspersonen): Entkleidung, Leibesvisitation, Entlausung, Nehmen

von Fingerabdrücken etc.

• Deindividuation

Häftlinge: weißes Gewand mit Nummer, Haarnetz

Wärter: Uniform, Sonnenbrille

Leitung: Anzüge, Sonnenbrille

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Ablauf (2)

• Zellenaufbau im Keller der Stanford University

• „Wärter“ werden instruiert, dass es ihre Aufgabe ist, die

Regeln umzusetzen

• Verbot physischer Gewalt

• Alle Personen sind informiert, dass sie jederzeit auf eigenen

Wunsch aus dem Experiment entlassen werden können und

trotzdem ihren bis dahin verdienten Lohn (14$ pro Tag)

behalten können

• Besuchsabend, Bewährungsausschuss

• „Loch“ (kleine Kammer zur Simulation von Isolationshaft)

• Ständige Überwachung durch Kameras

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Exkurs: Panoptisches Prinzip

• Architektonisches Konzept

• Meist als Rundbau entworfen

• Prototypisch ist ein runder Wachturm im Zentrum, umgeben von

einem Kreis aus offenen Zellen

• Vom Turm aus können alle Zellen komplett eingesehen werden

• Zeitgleich ist es von keiner Zelle aus möglich, in den Turm hinein zu

sehen

Größtmögliches Maß an Kontrolle mit kleinstnötigem Aufwand

Bewusstsein, IMMER beobachtet werden zu können, während man

NIE wissen kann, ob man jetzt gerade beobachtet wird oder nicht

Entscheidend ist das Bewusstsein von Potentialität

„Dieser Platz wird zu ihrer Sicherheit videoüberwacht!“

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Auswirkungen

„Verdammte Scheiße, ich verbrenne von innen, versteht ihr das nicht? Ich

will hier raus! Hier drin ist alles upgefuckt! Noch eine Nacht halte ich

nicht aus! Ich hab keinen Bock mehr! Ich will einen Anwalt! Hab ich das

Recht auf einen Anwalt? Ruft meine Mutter an! Mann, ihr macht

Psychospielchen mit mir, mit meinem Kopf! Das hier ist ein Experiment,

unser Vertrag ist keine Leibeigenschaft! Ihr habt kein Recht, meinen

Kopf, meinen Verstand zu manipulieren! Ich tu alles, um rauszukommen!

Ich werde eure Kameras demolieren und die Wärter fertig machen!“

Massive psychosomatische Stresssymptome

Entlassung wegen Gesundheitsgefährdung und Suizidankündigung

Nach 36 Stunden

Trotz Ersatzpersonen am Ende nur noch 5 „Häftlinge“ übrig

Abbruch am 6. Tag

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Maßnahmen der „Wärter“ gegen „Häftlinge“

• Endlose Zählappelle, Liegestützen, Kniebeugen, Situps

• Verbale Beschimpfungen und Zwang, andere „Häftlinge“ zu

beschimpfen

• Entzug von Decken, Betten und Kleidung

• Decken werden durch Büsche gezogen und mit Kletten übersät

zurückgegeben

• Schlafunterbrechungen durch lauten Krach

• Besprühen mit Feuerlöschern

• Zwang, Toiletten mit bloßen Händen zu säubern

• Blinder Gang zur Toilette mit absichtsvollem Manövrieren gegen

schmerzhafte Gegenstände

• Zwang zur Simulierung homosexueller Handlungen

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Besonderheiten (1)

• Am Besuchsabend verlangt die Mutter eines „Häftlings“ mit

Zimbardo zu sprechen

• Sie macht sich große Sorgen um ihren Sohn und bittet

Zimbardo, diesen zu entlassen

• Zimbardo verbündet sich durch Appell an

Männlichkeitsideale mit Ehemann der Frau gegen sie und

die beiden setzen sich gegen die Mutter durch (siehe auch

5. VL vom 28.11.16)

• Kurz darauf muss dieser „Häftling“ nach einem

Zusammenbruch entlassen werden

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Besonderheiten (2)

• Einige „Häftlinge“ beginnen sehr schnell, sich schuldig zu fühlen

und das Gefühl zu haben, dass sie ihre Behandlung verdienen

• Einige „Häftlinge“ verlangen, einen Geistlichen zu sehen

Schildert, dass es keinerlei Unterschied zu echten Häftlingen

gibt

• Einige „Häftlinge“ verlangen einen Anwalt

Um Kaution zu stellen

• Beim simulierten Bewährungsausschuss sind fast alle „Häftlinge“

bereit, auf ihren Lohn zu verzichten, wenn sie vorzeitig entlassen

werden können (Tag 5)

• Vereinzelt sogar Bereitschaft, Verbrechen zu gestehen, die gar

nicht begangen wurden

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Besonderheiten (3)

Tag 3:

• Verdacht, dass ein aus dem Experiment entlassener Teilnehmer einen Angriff zur

Befreiung der anderen versucht

Person war auf dem Campus gesichtet worden

Zimbardo gab Befehl an „Wärter“, diesen bei Sichtung mit Gewalt zu verhaften

und wieder einzusperren

• Zimbardo telefoniert mit den Behörden, um „seine Gefangenen“ in ein echtes,

stillgelegtes Gefängnis zu verlegen

Wird abgelehnt

Aus Versicherungsgründen

• Simulierter Abbruch

„Häftlinge“ werden außerhalb des Kellers untergebracht, Zellenaufbau

abgebaut

Befreundeter Wissenschaftler besucht Zimbardo und fragt ihn, was seine

unabhängige Variable ist

Zimbardo jagt ihn vom Gelände, um bei den Vorbereitungen auf den Angriff

nicht weiter gestört zu werden

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Besonderheiten (4)

„Es stand ein Häftlingsaufstand unmittelbar bevor. Die Sicherheit meiner

Männer und die Ordnung in meinem Gefängnis waren bedroht, und ich

musste mich mit diesem zartfühlenden, liberalen, akademischen Softie

von einem Professor herumschlagen, dessen einzige Sorge so etwas

Lächerliches wie eine unabhängige Variable war! Ich dachte im Stillen:

Als nächstes fragst du mich, ob ich ein Rehabilitationsprogramm

vorgesehen habe! Dieser Trottel. Ich komplimentiere ihn hinaus und

widme mich wieder meiner Aufgabe, darauf zu warten, dass der Angriff

passiert.“ (P. Zimbardo)

Überzeugung von alternativloser Notwendigkeit!

Zimbardo geht vollständig in seiner Rolle auf („Chamäleon“,

Agens-Spektrum; Einfärbung)

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Besonderheiten (5)

„John Wayne“-Schicht (Abendschicht, bei der sadistisches

Verhalten besonders auftritt):

• „John Wayne“ ist Spitzname für einen besonders gemeinen

und harten „Wärter“

• Auf die Frage, was ihn auszeichnet: „Meine Intoleranz für

Dummheit und meine völlige Missachtung von Menschen,

mit deren Lebensstil ich nicht einverstanden bin.“

• Nennt sich „Wissenschaftler aus Neigung“

• „Ich habe eigene kleine Experimente durchgeführt.“

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Besonderheiten (6)

„Ich sprach mit einem der Wärter, der dort auf seinen

Dienstbeginn wartete. Er war sehr angenehm, höflich und

freundlich […]. Als ich durch das Beobachtungsfenster sah,

war ich sehr überrascht festzustellen, dass dieser John Wayne

niemand anderer war als der ‚sehr nette Kerl‘, mit dem ich

kurz zuvor geplaudert hatte; doch jetzt hatte er sich in einen

völlig anderen Menschen verwandelt. Es war eine erstaunliche

Verwandlung der Person, mit der ich gerade gesprochen hatte

– eine Verwandlung, die innerhalb von Minuten stattgefunden

hatte, […] dieser Bursche [war] ein eiskalter, nicht zu Späßen

aufgelegter, furchteinflößender Gefängniswärter.“ (Christina

Maslach)

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Besonderheiten (7)

Christina Maslach (Doktorandin und Freundin von Zimbardo) besucht

das Experiment und wird zum entscheidenden Faktor für den

Abbruch:

Sie ist entsetzt über das, was den Versuchspersonen angetan

wird

Zimbardo und seine Mitarbeiter beschimpfen sie und zweifeln

ihre Fähigkeit an, wissenschaftlich arbeiten zu können

„Das war besonders beängstigend für mich, da Phil so anders zu

sein schien, als der Mann den ich lieben gelernt habe […]. Dies

war nicht der Mann, den ich lieben gelernt hatte, der Mann, der

sanftmütig und sensibel für die Bedürfnisse anderer Menschen

war – und natürlich auch für meine eigenen Bedürfnisse“

Konfrontation führt zur Entscheidung abzubrechen

09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 38

Analyse

• Erste Auswertung nach dem Experiment fokussiert strikt auf die

architektonische Gefängnisumgebung und sich entwickelnde

Dynamiken

• Neuauswertung während der Aufarbeitung (2004-2006) der Vorfälle

in Abu Ghuraib (Zimbardo als Gutachter in Prozess gegen die

beteiligten Soldat*innen involviert)

• Neuauswertung berücksichtigt auch verstärkt die Rolle der

Versuchsleitung, insbesondere die Rolle von Zimbardo als

„Gefängnisdirektor“

Systemische Besonderheiten bestimmter Situationen in Kopplung mit

Rollenerwartungen bzw. Skripten erzeugen „kreative Boshaftigkeit

und Grausamkeit“

Luzifer-Effekt

09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 39

Luzifer-Effekt

Sinnbild eines Fasses, in dem Äpfel gelagert sind und verfaulen

gängige Erklärung: ein fauler Apfel verdirbt die anderen

entspricht der Suche nach charakteristischen

Täterprofilen, die andere anstiften (Personalisierung,

Vermischung von Handlung und Handelndem)

„DER fundamentale Attributionsfehler“

Alternativerklärung: kein Apfel ist von Anfang an faul, erst die

Charakteristika der Fasskonstruktion bewirken das Verfaulen

Küfer können nicht aus der Verantwortung entlassen

werden

Niemand ist immun dagegen, zum Täter zu werden!

Zimbardos Lösung: Gesellschaft braucht mehr Helden!

09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 40

Helden in der Gesellschaft

Eine Gesellschaft, die Helden

hat, kann sich glücklich

schätzen.

Und diese Gesellschaft muss

sich schämen, dass sie Helden

braucht.

09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 41

Literatur (1)

Arendt, H. (2008). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München:

Piper.

Brecht, B. (1998). Leben des Galilei. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Browning, C. R. (2007). Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die

„Endlösung“ in Polen. Reinbek: Rowohlt.

Fath, M. (2011). Gewalt und Gewaltlosigkeit. Entwicklung eines Theorie-Modells. Münster: Lit.

Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.:

Suhrkamp.

Klee, E. (2004). „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt

a. M.: Fischer.

Michaelis-Arntzen, E. (1994). Die Vergewaltigung aus kriminologischer, viktimologischer und

aussagepsychologischer Sicht. München: C. H. Beck.

Milgram, S. (2007). Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.

Reinbek: Rowohlt.

Nawratil, H. (2007). Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel

unbewältigter Vergangenheit. München: Universitas.

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