Gewalt - LMU München · Gewalt Entstehung, Facetten, Auswege ... • Vergewaltigung, sexuelle...
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Gewalt Entstehung, Facetten, Auswege
„Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der
Abgrund auch in dich hinein“ (F. Nietzsche) –
Kriegsverbrechen
Dr. Markus Fath, LMU München
Wintersemester 2016/17
Montag, 18:00 – 20:00 Uhr c.t.
Geschwister-Scholl-Platz 1, B101
Programm
31.10.2016 Erscheinungsformen von Gewalt und Ansätze zur Erklärung
07.11.2016 Denkmuster, Feindbilder und das Schuldprinzip
14.11.2016 Legitimierte Gewalt, Rechtsirrtümer und Justizopfer
21.11.2016 Radikalisierung, Pogrom und Genozid
28.11.2016 Wenn das Wohl von Menschen für Werte, Moral und Ideale geopfert wird
05.12.2016 Zum Zusammenhang von Mobbing und Amokläufen
12.12.2016 Amokläufe und Anschläge
19.12.2016 Warum Frieden trotz allem keine Illusion ist
09.01.2017 Kriegsverbrechen
16.01.2017 Endlichkeit, Sterben, Tod und die Relativierung von Werten
23.01.2017 Gewalt gegen Kinder
30.01.2017 Gewalt gegen zukünftige Generationen
06.02.2017 Auswege aus der Gewalt
Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 2 09.01.2017
Aufzeichnung und Folien
Aufzeichnung frei verfügbar bei der UnterrichtsMitschau
VideoOnline der LMU:
https://videoonline.edu.lmu.de/de/wintersemester-2016-
2017/8202
Folien zum Download frei verfügbar im LSF unter der
Veranstaltungsnummer 11917 und unter der Homepage:
http://www.edu.lmu.de/apb/personen/dozent/fath/
Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 3 09.01.2017
Agenda
1. Begriffsbestimmung
2. Beispiele
• Erschießungskommandos
• Kindersoldaten
• Vergewaltigungen als Waffe
• Napalm
• Massaker am Beispiel von My Lai 1968
3. Stanford-Prison-Experiment
Exkurs: Panoptisches Prinzip
Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 4 09.01.2017
„Break the Silence!“
Ärzte ohne Grenzen
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 5
Kriegsverbrechen
• Verstöße einer kriegführenden Partei gegen Regeln des
Völkerrechts
• Gültig für Kriege zwischen Nationen und zwischen Parteien
innerhalb einer Nation (Bürgerkriege)
• Anwendung des Weltprinzips (bzw. Weltgrundsatzes bzw.
Universalitätsprinzips): d.h. Anwendung eines nationalen
Strafrechts auf Tatbestände, bei denen weder Tatort
(Territorialprinzip) noch Staatsangehörigkeit von Täter
und/oder Opfer (Personalitätsprinzip) der Zuständigkeit
einer Nation zuzuordnen sind
• In Deutschland festgehalten im § 6 StGB
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Römisches Statut des Internationalen
Strafgerichtshofes (1)
Art. 8 (2) a) Handlungen gegen geschützte Personen oder Güter
• Vorsätzliche Tötung
• Folter, unmenschliche Behandlung, biologische Versuche
• Vorsätzliche Verursachung großer Leiden, schwere Beeinträchtigung
der körperlichen Unversehrtheit oder Gesundheit
• Zerstörung und Aneignung von Eigentum in großem Ausmaß
• Nötigung von Kriegsgefangenen oder anderen geschützten Personen
zum Dienst in den feindlichen Streitkräften
• Vorsätzlicher Entzug des Rechts auf unparteiisches ordentliches
Gerichtsverfahren
• Rechtswidrige Vertreibung, Überführung oder Gefangenhaltung
• Geiselnahme
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 8
Römisches Statut des Internationalen
Strafgerichtshofes (2)
Art. 8 (2) b) schwere Verstöße
• Vorsätzliche Angriffe auf Zivilbevölkerung
• Vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte
• Vorsätzliche Angriffe auf humanitäre Hilfsmissionen
• Vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser Verlust von
Menschenleben, Verwundung von Zivilbevölkerung, Beschädigung ziviler
Objekte oder langfristige, schwere Schäden an der natürlichen Umwelt
verursachen wird
• Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer etc.
• Tötung oder Verwundung eines sich ergebenden Kombattanten
• Missbrauch von Schutzzeichen (Parlamentärflagge, UN-Uniformen etc.)
• Unmittelbare oder mittelbare Überführung eigener Zivilbevölkerung durch eine
Besatzungsmacht in ein besetztes Gebiet
• Vorsätzliche Angriffe auf Gebäude, die Religionsausübung, Erziehung, Kunst,
Wissenschaft, Wohltätigkeit gewidmet sind oder Denkmäler, Krankenhäuser,
Sammelplätze darstellen
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 9
Römisches Statut des Internationalen
Strafgerichtshofes (3)
Art. 8 (2) b) schwere Verstöße
• Körperliche Verstümmelung gefangener Personen oder Vornahme
medizinischer oder wissenschaftlicher Versuche, die nicht auf das Wohl der
betroffenen Person abzielen
• Meuchlerische Tötung oder Verwundung
• Erklärung, dass kein Pardon gegeben wird
• Zerstörung oder Beschlagnahme feindlichen Eigentums
• Erklärung, dass Rechte und Forderungen von Angehörigen der Gegenpartei
aufgehoben sind
• Zwang gegen Angehörige der Gegnerpartei, sich an Kriegshandlungen gegen
eigenes Land zu beteiligen, selbst wenn diese vor Ausbruch des Krieges schon
im Dienst der Kriegsführenden standen
• Plünderung einer Stadt oder Ansiedlung
• Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 10
Römisches Statut des Internationalen
Strafgerichtshofes (4)
Art. 8 (2) b) schwere Verstöße
• Verwendung erstickender, giftiger oder gleichartiger Stoffe bzw. Vorrichtungen
• Verwendung von Geschossen, die sich im menschlichen Körper leicht
ausdehnen oder flachdrücken
• Verwendung von Waffen, Geschossen, Stoffen oder Methoden, die überflüssige
Verletzungen oder Leiden verursachen
• Beeinträchtigung persönlicher Würde, entwürdigende und erniedrigende
Behandlung
• Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Nötigung zur Prostitution, erzwungene
Schwangerschaft
• Benutzung von Zivilpersonen, um gegnerische Streitkräfte fernzuhalten
• Vorsätzliche Angriffe gegen Schutzzeichen der Genfer Abkommen
• Vorsätzliches Aushungern von Zivilpersonen, vorsätzliche Behinderung von
Hilfslieferungen
• Zwangsverpflichtung oder Eingliederung von Kindern unter fünfzehn Jahren in
die Streitkräfte
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 11
Erschießungskommandos (1)
• Auswahl der Beteiligten erfolgt ohne Kriterien
• Voraussetzung für die Kommandantur von einzelnen
Erschießungskommandos des NS-Regimes:
Promovierte Akademiker
• Tötungen erfolgen immer in der Gruppe
• Bereits erfahrene Mitglieder führen die ersten Tötungen durch
• Täter schildern Fokussierung auf extrem reduzierte Wahrnehmung
Blenden alles aus, außer dem kleinen Teil des Körpers, auf den
geschossen wird
• Opfer wehren sich fast nie
Kommandos statuieren Exempel und lassen keinen Zweifel daran,
dass es wesentlich Schlimmeres gibt, als einen schnellen Tod
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 13
Erschießungskommandos (2)
Bsp.: Polizei-Reservebataillon 101 in Polen im Sommer 1942
• Etwa 500 Familienväter aus Hamburg
• Zu alt zum Kampfeinsatz
• Keinerlei Kampferfahrung oder Erfahrung im Polizeidienst
• Am Anfang weigern sich gut ein Drittel
• Später zeigen über 90% blinden Gehorsam
Überzeugung durch Gruppendruck, Vorbildfunktion und vor allem
Schuldbewusstsein gegenüber denjenigen, die Tötungen durchführen
In nur vier Monaten werden aus nächster Nähe mindestens 38 000 Juden
erschossen
Im selben Zeitraum werden mindestens weitere 45 000 Juden in das
Konzentrationslager Treblinka deportiert
Die Mitglieder des Kommandos waren „ganz normale Männer“
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 14
Kindersoldaten (1)
Definition von UNICEF, terre des hommes und amnesty international:
alle Kämpfer und Helfer, die unter 18 Jahre alt sind
„Liste der Schande“: weltweit über 50 Gruppierungen, die Kinder
systematisch entführen, trainieren, foltern, verstümmeln und
vergewaltigen, mit dem Ziel die Kinder als Kämpfer einzusetzen
• Besonders betroffen: Afghanistan, Demokratische Republik
Kongo, Irak, Jemen, Kolumbien, Mali, Myanmar, Philippinen,
Somalia, Sudan, Südsudan, Syrien, Tschad und
Zentralafrikanische Republik
• Saudi-Arabien wurde von der Liste gestrichen, nachdem mehrere
Koalitionen in der UNO mit der Einstellung der Finanzierung von
Hilfsorganisationen gedroht hatten
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 15
Kindersoldaten (2)
Maßnahmen zur Rekrutierung von Minderjährigen:
• Mit Slogans, die „Spaß und Action“ garantieren, werden an Aktionstagen gezielt 14-
16-jährige Mädchen für das Militär begeistert
• Am „Girl‘s Day“ werden vereinzelt 11-jährige Mädchen auf die Sitze von
Marinehelikoptern gesetzt und „kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus“
• 13-jährigen Mädchen wird gezeigt, wie sich beim Sprint der Fallschirm von
Jägereinheiten aus dem Rucksack fädelt
• Sogar am 12. Februar 2016 – internationaler Tag gegen Kindersoldaten – fanden
offene Maßnahmen zur Rekrutierung Minderjähriger in einem Schulzentrum statt
• Mit 17 besteht die Möglichkeit, sich für bis zu 23 Monate zu verpflichten und ab
Vollendung des 18. Lebensjahres an Auslandseinsätzen und Wachdiensten
teilzunehmen
• Jährlich werden über 1000 Minderjährige in die Armee aufgenommen
Rekrutierungsstrategien der Deutschen Bundeswehr
Rüge durch die UNO wegen der Anwerbung von Kindersoldaten
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 16
Vergewaltigungen als Waffe
• Vermutlich das häufigste und am stärksten verschwiegene Verbrechen in
Kriegsgebieten
• Basiert meist auf systematischer Planung und Anstachelung durch Propaganda
• Öffentliche Inszenierung von Massenvergewaltigungen zur maximalen
Demütigung
• Bestätigte Existenz von Vergewaltigungslagern mit dem Ziel, die Gene des
eigenen Volkes zu vermehren
wenn Frauen schwanger waren, wurden sie entlassen
• Frauen werden danach häufig von der Familie verstoßen
• Begründete Vermutung, dass Männer genauso oft unter den Opfern sind
Noch stärker verschwiegen
• Erwachsene Männer, jugendliche Jungen und sogar Kinder werden gezwungen,
Angehörige zu vergewaltigen (aufgrund mechanischer Stressreaktion des
Körpers bei gleichzeitiger Abwesenheit jeglicher sexueller Erregung möglich!)
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 17
Napalm (1)
• Geliertes Benzin
• Hydrophob kann kaum mit Wasser gelöscht und kaum
von der Haut abgewaschen werden
• Erreicht Temperaturen zwischen 800 und 1200°C
• Häufigster Einsatz in Streubomben mit Flächenwirkung und
Flammenwerfern
• In Haager Landkriegsordnung 1899 wurde bereits Einsatz
von Brandwaffen geächtet
• Durch Vereinte Nationen als unmenschliche Waffe 1980
verboten
• 2009 von USA „unter Vorbehalt“ ratifiziert
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 18
Napalm (2)
Bestätigte Bombardierungen:
• Großflächige Bombardierungen durch US-Armee im zweiten Weltkrieg in
Deutschland und Japan (1944-1945), im Koreakrieg (1950-1953) und im
Vietnamkrieg (1955-1975)
• Von französischem Militär während Indochinakrieg (1946-1954),
Algerienkrieg (1954-1962) und Westsaharakonflikt (1975-1979)
eingesetzt
• Einsatz gegen Dörfer und Städte in Zypern durch türkisches Militär (1964
& 1974)
• Im zweiten Indisch-Pakistanischen-Krieg (1965) und im Konflikt von 1971
von beiden Militärs eingesetzt
• Einsatz durch indonesische Besatzungstruppen in Osttimor (1975-1999)
• Durch nigerianische Truppen im Biafrakrieg (1967-1970)
• Durch Irak und Iran während des ersten Golfkrieges (1980-1988)
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 19
Massaker am Beispiel My Lai 1968 (1)
Auszug aus einem Interview mit einem beteiligten US-Soldaten:
- „Ich habe meine M 16 auf sie gehalten:“
- „Warum?“
- „Weil sie hätten angreifen können.“
- „Es handelte sich um Kinder und Babies?“
- „Ja.“
- „Und sie hätten angreifen können? Kinder und Babies?“
- „Sie hätten Handgranaten haben können. Die Mütter hätten sie auf uns werfen
können.“
- „Die Babies?“
- „Ja.“
- „Hatten die Mütter die Babies auf dem Arm?“
- „Ich glaube ja.“
- „Und die Babies wollten angreifen?“
- „Ich habe jeden Moment damit gerechnet, dass sie einen Gegenangriff
machen würden.“
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 20
Massaker am Beispiel My Lai 1968 (2)
• Dorf in Vietnam mit 504 unbewaffneten Zivilisten
• Keine Vietcong anwesend
• Keine Bedrohungssituation
• Keine Gefechtsbedingungen
• Kein Befehl zum Töten
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 21
Massaker am Beispiel My Lai 1968 (3)
„Wir haben fast das ganze Dorf, die ganze Gemeinschaft ausgelöscht. Ich
kann die Menge der Menschen, die wir töteten, nicht vergessen, genauso
wenig wie die Art, wie wir sie töteten. Wir töteten sie auf jede Weise. Haben
Sie eine Ahnung, wie es ist, 500 Menschen in vier oder fünf Stunden
umzubringen? Es war wie mit den Gaskammern – was Hitler gemacht hat. Du
stellst fünfzig Leute in eine Reihe, Frauen, alte Männer, Kinder, und mähst sie
einfach nieder. Und so haben wir‘s gemacht – 25, 50, 100. Einfach getötet.
Wir haben sie einfach aufgestellt, haben die M 16 auf automatisches Feuer
gestellt und sie einfach umgemäht.“ (Bericht eines beteiligten US-Soldaten)
mere gook rule: „If it‘s dead and it‘s Vietnamese, it‘s VC.“
Doktrin des „body count“: Je höher die Zahl der Toten, umso
erfolgreicher die Aktion
Parole eines Kommandanten: „Falls sie schwanger ist und ihr erschießt
sie, zählt sie doppelt.“
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 22
Suche nach Täterprofilen
1974 wertet Molly Harrower psychologische Gutachten (inklusive Rohrschachtests) aus
und sendet dieses anonymisiert an die renommiertesten psychologischen Experten mit
der Bitte um ein Gutachten zu dem Personenkreis
Kein Gutachter hat eine Vorstellung davon, um welchen Personenkreis es sich
handelt bzw. kann Rückschlüsse darauf ziehen
Keine Auffälligkeiten
Etwas geringere Empathiefähigkeit, aber ohne klinische Relevanz
höchst intelligente, kreative, fantasievolle und tatkräftige Persönlichkeiten
In Rohrschachtests wurde überdurchschnittlich häufig das Bild eines Chamäleons
identifiziert (Agens-Spektrum; Einfärbung!)
Vermutungen:
Evtl. Bürgerrechtler
Wahrscheinlich handelt es sich um Psychologen
Es waren Gutachten von 1947 aus der Gruppe der Hauptkriegsverbrecher
der Nürnberger Prozesse
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 23
Vorgeschichte
• Philip Zimbardo besucht 1949 High School in der Bronx in
New York
• Befreundet mit einem „kleinen, schlauen, schmächtigen,
jüdischen Schüler“, der einen Lehrer besorgt fragt, ob die
Gräuel der Nazidiktatur auch in den USA denkbar wären
Lehrer antwortet, dass „gottesfürchtige und moralisch
integere“ Amerikaner niemals dazu in der Lage wären,
solche Verbrechen zu verüben
Schüler ist nicht beruhigt und widerlegt 1961 die These
des Lehrers
Stanley Milgram (Milgram-Experimente, siehe 5.VL vom
28.11.16)
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 25
Design
• Forschungsfrage: Wie wirkt sich die Dynamik einer
Gefängnissituation auf die Psyche „normaler, gesunder
Männer“ aus?
• Vorauswahl von 21 Versuchspersonen (plus
Ersatzpersonen): keine Affinität zu Gewalt, psychische
Stabilität und moralische Integrität
• Zufallsaufteilung: 11 „Wärter“ und 10 „Häftlinge“
Niemand wollte Wärter sein
• Zimbardo und Mitarbeiter übernehmen „Gefängnisleitung“
• Geplante Versuchsdauer: 14 Tage
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 26
Ablauf (1)
• Versuchspersonen, die Rolle der Häftlinge übernehmen sollen, werden
instruiert, sich am Morgen des 14. August 1971 an bestimmten Orten
bereit zu halten
• Sie werden mit Hilfe der örtlichen Polizei verhaftet und zur Stanford
University gebracht
• Angehörige glaubten meist an Echtheit der Verhaftungen
• Verhaftungsroutinen werden durchgeführt (von Wärter-
Versuchspersonen): Entkleidung, Leibesvisitation, Entlausung, Nehmen
von Fingerabdrücken etc.
• Deindividuation
Häftlinge: weißes Gewand mit Nummer, Haarnetz
Wärter: Uniform, Sonnenbrille
Leitung: Anzüge, Sonnenbrille
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 27
Ablauf (2)
• Zellenaufbau im Keller der Stanford University
• „Wärter“ werden instruiert, dass es ihre Aufgabe ist, die
Regeln umzusetzen
• Verbot physischer Gewalt
• Alle Personen sind informiert, dass sie jederzeit auf eigenen
Wunsch aus dem Experiment entlassen werden können und
trotzdem ihren bis dahin verdienten Lohn (14$ pro Tag)
behalten können
• Besuchsabend, Bewährungsausschuss
• „Loch“ (kleine Kammer zur Simulation von Isolationshaft)
• Ständige Überwachung durch Kameras
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 28
Exkurs: Panoptisches Prinzip
• Architektonisches Konzept
• Meist als Rundbau entworfen
• Prototypisch ist ein runder Wachturm im Zentrum, umgeben von
einem Kreis aus offenen Zellen
• Vom Turm aus können alle Zellen komplett eingesehen werden
• Zeitgleich ist es von keiner Zelle aus möglich, in den Turm hinein zu
sehen
Größtmögliches Maß an Kontrolle mit kleinstnötigem Aufwand
Bewusstsein, IMMER beobachtet werden zu können, während man
NIE wissen kann, ob man jetzt gerade beobachtet wird oder nicht
Entscheidend ist das Bewusstsein von Potentialität
„Dieser Platz wird zu ihrer Sicherheit videoüberwacht!“
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 29
Auswirkungen
„Verdammte Scheiße, ich verbrenne von innen, versteht ihr das nicht? Ich
will hier raus! Hier drin ist alles upgefuckt! Noch eine Nacht halte ich
nicht aus! Ich hab keinen Bock mehr! Ich will einen Anwalt! Hab ich das
Recht auf einen Anwalt? Ruft meine Mutter an! Mann, ihr macht
Psychospielchen mit mir, mit meinem Kopf! Das hier ist ein Experiment,
unser Vertrag ist keine Leibeigenschaft! Ihr habt kein Recht, meinen
Kopf, meinen Verstand zu manipulieren! Ich tu alles, um rauszukommen!
Ich werde eure Kameras demolieren und die Wärter fertig machen!“
Massive psychosomatische Stresssymptome
Entlassung wegen Gesundheitsgefährdung und Suizidankündigung
Nach 36 Stunden
Trotz Ersatzpersonen am Ende nur noch 5 „Häftlinge“ übrig
Abbruch am 6. Tag
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 30
Maßnahmen der „Wärter“ gegen „Häftlinge“
• Endlose Zählappelle, Liegestützen, Kniebeugen, Situps
• Verbale Beschimpfungen und Zwang, andere „Häftlinge“ zu
beschimpfen
• Entzug von Decken, Betten und Kleidung
• Decken werden durch Büsche gezogen und mit Kletten übersät
zurückgegeben
• Schlafunterbrechungen durch lauten Krach
• Besprühen mit Feuerlöschern
• Zwang, Toiletten mit bloßen Händen zu säubern
• Blinder Gang zur Toilette mit absichtsvollem Manövrieren gegen
schmerzhafte Gegenstände
• Zwang zur Simulierung homosexueller Handlungen
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 31
Besonderheiten (1)
• Am Besuchsabend verlangt die Mutter eines „Häftlings“ mit
Zimbardo zu sprechen
• Sie macht sich große Sorgen um ihren Sohn und bittet
Zimbardo, diesen zu entlassen
• Zimbardo verbündet sich durch Appell an
Männlichkeitsideale mit Ehemann der Frau gegen sie und
die beiden setzen sich gegen die Mutter durch (siehe auch
5. VL vom 28.11.16)
• Kurz darauf muss dieser „Häftling“ nach einem
Zusammenbruch entlassen werden
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 32
Besonderheiten (2)
• Einige „Häftlinge“ beginnen sehr schnell, sich schuldig zu fühlen
und das Gefühl zu haben, dass sie ihre Behandlung verdienen
• Einige „Häftlinge“ verlangen, einen Geistlichen zu sehen
Schildert, dass es keinerlei Unterschied zu echten Häftlingen
gibt
• Einige „Häftlinge“ verlangen einen Anwalt
Um Kaution zu stellen
• Beim simulierten Bewährungsausschuss sind fast alle „Häftlinge“
bereit, auf ihren Lohn zu verzichten, wenn sie vorzeitig entlassen
werden können (Tag 5)
• Vereinzelt sogar Bereitschaft, Verbrechen zu gestehen, die gar
nicht begangen wurden
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 33
Besonderheiten (3)
Tag 3:
• Verdacht, dass ein aus dem Experiment entlassener Teilnehmer einen Angriff zur
Befreiung der anderen versucht
Person war auf dem Campus gesichtet worden
Zimbardo gab Befehl an „Wärter“, diesen bei Sichtung mit Gewalt zu verhaften
und wieder einzusperren
• Zimbardo telefoniert mit den Behörden, um „seine Gefangenen“ in ein echtes,
stillgelegtes Gefängnis zu verlegen
Wird abgelehnt
Aus Versicherungsgründen
• Simulierter Abbruch
„Häftlinge“ werden außerhalb des Kellers untergebracht, Zellenaufbau
abgebaut
Befreundeter Wissenschaftler besucht Zimbardo und fragt ihn, was seine
unabhängige Variable ist
Zimbardo jagt ihn vom Gelände, um bei den Vorbereitungen auf den Angriff
nicht weiter gestört zu werden
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 34
Besonderheiten (4)
„Es stand ein Häftlingsaufstand unmittelbar bevor. Die Sicherheit meiner
Männer und die Ordnung in meinem Gefängnis waren bedroht, und ich
musste mich mit diesem zartfühlenden, liberalen, akademischen Softie
von einem Professor herumschlagen, dessen einzige Sorge so etwas
Lächerliches wie eine unabhängige Variable war! Ich dachte im Stillen:
Als nächstes fragst du mich, ob ich ein Rehabilitationsprogramm
vorgesehen habe! Dieser Trottel. Ich komplimentiere ihn hinaus und
widme mich wieder meiner Aufgabe, darauf zu warten, dass der Angriff
passiert.“ (P. Zimbardo)
Überzeugung von alternativloser Notwendigkeit!
Zimbardo geht vollständig in seiner Rolle auf („Chamäleon“,
Agens-Spektrum; Einfärbung)
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 35
Besonderheiten (5)
„John Wayne“-Schicht (Abendschicht, bei der sadistisches
Verhalten besonders auftritt):
• „John Wayne“ ist Spitzname für einen besonders gemeinen
und harten „Wärter“
• Auf die Frage, was ihn auszeichnet: „Meine Intoleranz für
Dummheit und meine völlige Missachtung von Menschen,
mit deren Lebensstil ich nicht einverstanden bin.“
• Nennt sich „Wissenschaftler aus Neigung“
• „Ich habe eigene kleine Experimente durchgeführt.“
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 36
Besonderheiten (6)
„Ich sprach mit einem der Wärter, der dort auf seinen
Dienstbeginn wartete. Er war sehr angenehm, höflich und
freundlich […]. Als ich durch das Beobachtungsfenster sah,
war ich sehr überrascht festzustellen, dass dieser John Wayne
niemand anderer war als der ‚sehr nette Kerl‘, mit dem ich
kurz zuvor geplaudert hatte; doch jetzt hatte er sich in einen
völlig anderen Menschen verwandelt. Es war eine erstaunliche
Verwandlung der Person, mit der ich gerade gesprochen hatte
– eine Verwandlung, die innerhalb von Minuten stattgefunden
hatte, […] dieser Bursche [war] ein eiskalter, nicht zu Späßen
aufgelegter, furchteinflößender Gefängniswärter.“ (Christina
Maslach)
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 37
Besonderheiten (7)
Christina Maslach (Doktorandin und Freundin von Zimbardo) besucht
das Experiment und wird zum entscheidenden Faktor für den
Abbruch:
Sie ist entsetzt über das, was den Versuchspersonen angetan
wird
Zimbardo und seine Mitarbeiter beschimpfen sie und zweifeln
ihre Fähigkeit an, wissenschaftlich arbeiten zu können
„Das war besonders beängstigend für mich, da Phil so anders zu
sein schien, als der Mann den ich lieben gelernt habe […]. Dies
war nicht der Mann, den ich lieben gelernt hatte, der Mann, der
sanftmütig und sensibel für die Bedürfnisse anderer Menschen
war – und natürlich auch für meine eigenen Bedürfnisse“
Konfrontation führt zur Entscheidung abzubrechen
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 38
Analyse
• Erste Auswertung nach dem Experiment fokussiert strikt auf die
architektonische Gefängnisumgebung und sich entwickelnde
Dynamiken
• Neuauswertung während der Aufarbeitung (2004-2006) der Vorfälle
in Abu Ghuraib (Zimbardo als Gutachter in Prozess gegen die
beteiligten Soldat*innen involviert)
• Neuauswertung berücksichtigt auch verstärkt die Rolle der
Versuchsleitung, insbesondere die Rolle von Zimbardo als
„Gefängnisdirektor“
Systemische Besonderheiten bestimmter Situationen in Kopplung mit
Rollenerwartungen bzw. Skripten erzeugen „kreative Boshaftigkeit
und Grausamkeit“
Luzifer-Effekt
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 39
Luzifer-Effekt
Sinnbild eines Fasses, in dem Äpfel gelagert sind und verfaulen
gängige Erklärung: ein fauler Apfel verdirbt die anderen
entspricht der Suche nach charakteristischen
Täterprofilen, die andere anstiften (Personalisierung,
Vermischung von Handlung und Handelndem)
„DER fundamentale Attributionsfehler“
Alternativerklärung: kein Apfel ist von Anfang an faul, erst die
Charakteristika der Fasskonstruktion bewirken das Verfaulen
Küfer können nicht aus der Verantwortung entlassen
werden
Niemand ist immun dagegen, zum Täter zu werden!
Zimbardos Lösung: Gesellschaft braucht mehr Helden!
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 40
Helden in der Gesellschaft
Eine Gesellschaft, die Helden
hat, kann sich glücklich
schätzen.
Und diese Gesellschaft muss
sich schämen, dass sie Helden
braucht.
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 41
Literatur (1)
Arendt, H. (2008). Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München:
Piper.
Brecht, B. (1998). Leben des Galilei. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Browning, C. R. (2007). Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die
„Endlösung“ in Polen. Reinbek: Rowohlt.
Fath, M. (2011). Gewalt und Gewaltlosigkeit. Entwicklung eines Theorie-Modells. Münster: Lit.
Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Klee, E. (2004). „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Frankfurt
a. M.: Fischer.
Michaelis-Arntzen, E. (1994). Die Vergewaltigung aus kriminologischer, viktimologischer und
aussagepsychologischer Sicht. München: C. H. Beck.
Milgram, S. (2007). Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.
Reinbek: Rowohlt.
Nawratil, H. (2007). Schwarzbuch der Vertreibung 1945 bis 1948. Das letzte Kapitel
unbewältigter Vergangenheit. München: Universitas.
09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 42
Literatur (2)
Neubacher, F. & Walter, M. (Hrsg.) (2005). Sozialpsychologische Experimente in der
Kriminologie. Milgram, Zimbardo und Rosenhan kriminologisch gedeutet, mit einem
Seitenblick auf Dürrenmatt. Münster: Lit.
Nietzsche, F. (2005). Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.
Stuttgart: Reclam.
Sander, H. & Johr, B. (Hrsg.) (2006). BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder.
Frankfurt a. M.: Fischer.
Sommer, G. & Fuchs, A. (Hrsg.) (2004). Krieg und Frieden. Handbuch der Konflikt- und
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09.01.2017 Dr. Markus Fath: Gewalt – Entstehung, Facetten, Auswege 43