Gezeitenwechsel, Imraan Coovadia

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AFRIK A W UNDERHORN Reihe für zeitgenössische afrikanische Literatur Herausgegeben von Indra Wussow

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Gezeitenwechsel, von Imraan Coovadia, 2011, Verlag Das Wunderhorn.

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A f r i k A W u n de rhorn

Reihe für zeitgenössische afrikanische LiteraturHerausgegeben von Indra Wussow

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A f r i k AW u n de rhorn

Aus dem englischen mit einem glossAr und nAchwortvon indrA wussow

imrAAn coovAdiAgezeitenwechselromAn

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Titel der Originalausgabe:High Low In-Between, Umuzi/Random House SA.© 2009 Imraan Coovadia© 2011 Verlag Das Wunderhorn GmbHRohrbacherstraße 18D-69115 Heidelbergwww.wunderhorn.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmi-gung des Verlags reproduziert werden oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Gesamtgestaltung: 5 sans serif, BerlinDruck: Fuldaer Verlagsanstalt, FuldaUmschlagabbildung: © Ketan N, flickrFoto Seite 2: © Imraan CoovadiaISBN 978-3-88423-371-9

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Britta

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Tu se’ ombra e ombra vedi(wir sind ja Schatten beid und nicht zu fassen) Dante

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ein zerbrochenes Fenster

In Erwartung der Besucher wurde das ganze Haus auf den Kopf ge-stellt. Alle waren angespannt.

Der Professor war angespannt, weil er sich nicht konzentrieren konnte, solange Matratzen auf die Veranda geschleppt, ausgeklopft und in die Sonne gelegt wurden. Seit der Operation war seine Kon-zentrationsfähigkeit noch nicht vollständig wiederhergestellt.

Er überflog rasch den Lancet, um sich auf seinen Gerichtstermin vorzubereiten und blickte dann zur Vorderseite des Hauses hinüber. Dort sah er die Glasscherben, die auf dem Pflaster der Einfahrt lagen. Estella hatte es fertiggebracht, eine Fensterscheibe zu zerschlagen, als sie die Matratzen auf die Veranda geschleppt hatte.

Estella, die Hausangestellte, war angespannt wegen Nafisa, ihrer Arbeitgeberin. War eine der beiden unglücklich, dann zog sie die an-dere mit herunter. In diesem einen Punkt, sagte man, waren Estella und Nafisa wie Mutter und Tochter.

Nafisa war angespannt wegen der bevorstehenden Ankunft ih-res Sohns Shakeer aus San Francisco. Er sollte auf der Verabschie-dungsparty seines Vaters die Fotos machen. Es war als würde eine ganze Generation zurücktreten.

Nafisa reagierte empfindlich auf die Meinung ihres Sohnes. Er war ihr einziges Kind. Sie wollte nicht, dass sich das Haus bei seiner An-kunft in einem schlechten Zustand befand, auch wenn Shakeer den Unterschied wahrscheinlich gar nicht bemerken würde. Es gab nur diesen einen Morgen, um alles perfekt zu machen, und weder Estel-la noch ihr Ehemann waren gewillt, ihr dabei zu helfen. Sie waren nur im Weg!

Der Zustand in den häuslichen vier Wänden war besorgniserre-gend genug. Außerhalb davon war er allerdings noch viel schlimmer. Aus unerfindlichen Gründen reichte Nafisas Autorität nicht, um das

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gesamte Grundstück bis hin zur Garage unter ihre Kontrolle zu brin-gen. Sie hatte keine Ahnung, was in der Garage vor sich ging. Seit sie in das Haus in Westville eingezogen waren, stellten dort ständig ir-gendwelche Leute ihre Sachen ab. Und Estella konnte einfach nicht davon überzeugt werden, dort gründlich sauberzumachen.

Nafisa war ein Nervenbündel. Ihre Hände zitterten. Wie lange konnten sie noch so weiterleben, wie sie es gewohnt waren? Immer-hin hatten sie trotz aller Widrigkeiten der letzten Jahre bis heute an ihrem Leben festhalten können. Wahrscheinlich brach sie gleich zu-sammen.

Eigentlich spielte der Zustand der Garage keine Rolle. Der Hund schlief zwischen den Autos in seinem Körbchen. Kaum jemand sonst ging hinein. Aber Arifs Verabschiedung würde ein großes Fest wer-den, rauschend, wie so ein Abend nur sein konnte. Bestimmt würden sich einige Gäste auf ihrer Suche nach Privatsphäre in die Garage zu-rückziehen.

Nafisa konnte nach dem Wechsel aus der hellen Morgensonne in das kühle Dunkel hinter der Garagentür nichts sehen. Sie stolper-te über einen Werkzeugkasten mit all seinen Schraubenziehern und Schraubschlüsseln. Sie brauchte wirklich eine Brille. Seit fünf Jah-ren hielt Shakeer ihr das vor und fand dabei ganz die Zustimmung seines Vaters.

Nafisa hob eine Fahrradkette auf, die unter der Werkbank lag. Sie musste zu einem Fahrrad gehören, an das sie sich nicht mehr erin-nern konnte. Der Ölfilm auf der Kette färbte ihre Hände schwarz. Sie ließ die Kette so abrupt fallen, als hätte sie sich daran verbrannt.

Ach, es war hoffnungslos! Nafisa ging zurück zur Tür. Hier wur-den die Dinge zu lange schleifen gelassen. Sie hatte sie nicht mehr unter ihrer Kontrolle. Das Haus war ein hoffnungsloser Fall!

Als sie auf den Stufen stand, fiel ihr die Unordnung auf der Veran-da auf. Nachdem sie eben erst eine Fensterscheibe zerschlagen hat-te, brachte Estella nun die Betten zum Lüften hinaus. Beim Anblick dieser vier orthopädischen Matratzen, die dort an der Wand lehnten und ihre ausgeblichene Unterseite offenbarten, füllten sich Nafisas Augen mit Tränen.

Es war eigenartig, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, als junge Frau geweint zu haben. Andere Leute hatten ganz andere Erin-nerungen. Dr. Jadwat, Jadwat war der älteste Freund ihres Mannes,

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bemerkte an ihrem Hochzeitstag, dass sich Sonnenschein und Regen in ihrem Wesen abwechselten.

Jadwat war eine unzuverlässige Quelle. Es stimmte damals ein-fach nicht. An ihrem Hochzeitstag gab es keinen Regen.

Heute gab es keinen Sonnenschein. Ein Speicher in ihrem Inne-ren hatte sich im Laufe dieses schwierigen Jahres mit Tränen gefüllt. Wenn sie während des Fahrens abgelenkt wurde, zwei Zahlen falsch addierte oder den Schlüssel zu ihrer Praxis verlegte, bahnten sie sich den Weg an die Oberfläche. Das machte sie verlegen.

Nafisa glaubte, dass ihre häufigen Tränenausbrüche einer diffusen Ahnung geschuldet waren. Sie waren ein Vorzeichen von etwas, das sie noch nicht benennen konnte. Seit der Operation ihres Eheman-nes spürte sie, dass sich eine Katastrophe anbahnte. Selbstverständ-lich kritisierte Arif sie für ihre Abergläubigkeit und schimpfte über den Hokuspokus, der das Land beherrschte. Er urteilte, und fertig. Deshalb konnte sie ihm unmöglich von ihren negativen Vorahnun-gen erzählen.

Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen, als müsse sie ihren seeli-schen Zustand vor jemandem verbergen, doch sie war allein. In die-sem Moment trat Estella aus dem Haus. Nafisa schloss rasch die Ga-ragentür und hastete die Stufen hinunter.

»Wo willst Du hin?«»Wie Sie sehen, habe ich die letzte Matratze nach draußen ge-

bracht. Sie brauchen ihre Zeit an der Luft. Ich bin gleich wieder zu-rück im Haus, um die Glasscherben wegzufegen, Nafisa. Ich hole nur schnell mein Telefon aus dem Zimmer«, sagte Estella.

»Wieso? Das verstehe ich nicht.«»Ich weiß, dass Sie es nicht mögen, wenn ich das Haustelefon

für Privatgespräche nutze.« Estella hielt inne und bemerkte, dass sie eine bessere Rechtfertigung brauchte. Es war eine heikle Sache, die Anordnungen ihrer Chefin in eigener Sache zu verwenden. »Ich muss Peter Dlamini, meinen Nachbar, bitten, diesen Nachmittag auf meine Tochter aufzupassen. Nafisa, ich habe Ihnen doch erzählt, dass sie in dieser Nacht wieder einen Anfall hatte. Es muss jemand bei ihr sein.«

Nafisa zeigte kein Mitgefühl. Sie hatte sich angewöhnt, misstrau-isch zu sein, wenn es um Estella ging, besonders wenn die Angestell-te ausufernde Erklärungen vorbrachte. Es ärgerte Nafisa, wenn sich

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Estella ihrer Worte und ihrer Sprechweise bediente. Sie konnte es nicht ausstehen, auf diese Weise beobachtet zu werden. Hier handel-te es sich allerdings um ein echtes Problem. Estellas Tochter war bei ihr in Behandlung. Ihre Epilepsie war ernstzunehmen.

»Willst Du wissen, was ich denke? Ich denke, dass das nichts mit Deiner Tochter zu tun hat. Du hast bestimmt wieder einen neuen Freund, den Du stündlich auf die Minute genau anrufen musst. Und das ausgerechnet jetzt! Bald kommen die ersten Gäste. Nimm nur Shakeer, er wird schon am Nachmittag hier sein. Also halte mich nicht zum Narren, Estella. Ich weiß genau, wie Du Dich verhältst, sobald ein neuer Mann auftaucht. Und Du riechst nach Parfüm.«

»Ich habe nicht…«»Also, Dein Privatleben geht mich natürlich nichts an. Doch ich

erwarte von Dir, dass Du Deine Arbeit erledigst. Aber da wir nun mal beim Thema sind … Du kannst als afrikanische Frau nicht vor-sichtig genug sein. Du musst Dich testen lassen und Deine Freunde müssen sich ebenfalls testen lassen, bevor Ihr miteinander schlaft. Das wird Dich noch einmal den Kopf kosten. Du bist verrückt nach Männern.«

»Das stimmt nicht, Nafisa. Seitdem ich meine Tochter habe, habe ich das Interesse an Männern verloren. Ich habe meine Lektion ge-lernt.«

Nafisa suchte im Gesicht der anderen Frau nach Anzeichen eines schlechten Gewissens. Denn sie log. Doch sie konnte nichts entdecken.

Es gab nicht viel Vertrauenswürdiges in diesem Gesicht. Die Schwächen spiegelten sich auf der Oberfläche. Man konnte nicht leugnen, dass Estella eine Schönheit war. Sie hatte einen hellen und gleichmäßigen Teint, ihre Haut schimmerte wie ein Kupfergefäß. Nase und Wangenknochen waren so ebenmäßig, dass sie Nafisa an ein Origami erinnerten.

Schönheitsideale veränderten sich im Laufe der Zeit. Im Gegen-satz zu den Frauen der vorherigen Generation, die in Dörfern und auf Farmen aufgewachsen waren, war Estella ein Kind des nahe ge-legenen Townships. Ihr Aussehen war ihr sehr wichtig. Es war ihr Kapital. Ihr Haar hatte sie zu straffen Zöpfen geflochten, mit Perlen verziert und zu einem Dutt zusammengebunden.

Nafisa ahnte, welch ein Aufwand in diese Unternehmung ge-steckt wurde. Wer schön sein wollte, musste leiden. Sie wusste um

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das Paar hochhackiger Schuhe von Cuthberths, das in einen Bogen Geschenkpapier mit Rosendekor eingewickelt in Estellas Betonregal neben ihrem Bett aufbewahrt wurde. Sie hatte beobachtet, wie Estel-la sie in ihrer Handtasche verstaute und mit zum Bus nahm. Sie wa-ren der Lohn von zwei Wochen Arbeit.

Diese roten Schuhe blieben aus vielerlei Gründen in Nafisas Be-wusstsein hängen. Sie erklärten so einiges über Estellas Wesen.

Wenn sie von der Arbeit nach Hause fuhr, sah Nafisa ihre Haus-angestellte an der Bushaltestelle auf der Forester Avenue warten. Manchmal hielt Nafisa an und stellte Estella Fragen zum Haushalt. Sie könnte schwören, dass sie durch das Autofenster den Geruch ihres Lacoste Parfüms wahrnahm, das eigentlich in ihrem Badezim-merschrank eingeschlossen sein sollte. Sie konnte sich nicht erklä-ren, wie Estella den Schlüssel gefunden haben sollte und ob sie das Parfüm überhaupt mit Hilfe des Schlüssels an sich genommen hatte.

Nafisa hatte ihrem Mann von dem Diebstahl erzählt. Doch der hatte darüber nur gelacht. Arifs Reaktionen waren unvorhersehbar. Er lehnte es ab, sich auf ihre Seite zu stellen und nahm für sich in Anspruch, objektiv zu sein. Arif besaß diesen Hang zum Spott, und der war in diesem Fall gegen sie gerichtet. Dieser Spott wurde von ihr genauso wahrgenommen wie der Geruch ihres verdünnten Lacoste Parfüms.

Die Erinnerung an dieses Ereignis verunsicherte Nafisa und sie ließ Estella in ihr Zimmer gehen. Sie spürte, dass ihre Hausange-stellte ihr wieder einmal entkommen war. Aber irgendwann einmal würde das Schicksal sich wenden und dieser rote Prachtschuh von Cuthberths würde am richtigen Fuß getragen.

Der erste Gast, Jadwat, kam schon einen Tag vor der Feier. Er und ihr Mann waren schon ewig befreundet. Jadwat war geschieden und hatte deshalb Zeit im Überfluss. Er wollte bei ihnen im Haus in Dur-ban übernachten, was er auch sonst an langen Wochenenden und Feiertagen tat.

Dieser Jadwat war überall nur unter seinem Nachnamen bekannt. Seinen Vornamen schien er im Laufe der Jahre eingebüßt zu haben. Er war früher stellvertretender Bürgermeister von Richmond gewe-sen, einem Städtchen im Landesinneren, eine Autostunde von Dur-ban entfernt.

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Kürzlich teilte Jadwat jedem mit, dass er sich nicht länger mit der Tagespolitik beschäftigen werde. Die Befreiung hatte seinen Idealen leider nicht zum Sieg verholfen. Seine Stadträte in Richmond hat-ten sich von der Agrarwirtschaft für begünstigende Entscheidungen Geld zustecken lassen. Sie alle standen auf der Gehaltsliste der gro-ßen Unternehmen der Provinz und verdienten an Zucker, Mais und Hühnermast kräftig mit. Es war unmöglich, die Jaguars und Land Rovers zu ignorieren, die wie Riesenlibellen um die Behörden her-umschwirrten. Die Männer, die in ihnen saßen, waren frühere Kom-munisten und Sozialisten. Und die meisten von ihnen waren immer noch treue Mitglieder der Partei.

Jadwat tröstete sich mit der Lektüre von Trotzkis Schriften. Seine Ausgaben von »Das Zimmerwalder Manifest«, »Plattform der lin-ken Opposition« und der Verratenen Revolution waren in Golders Green gedruckt worden. Einige dieser Bücher lagen auf dem Beifah-rersitz seines Autos, eines Mercedes. Nahm er jemanden mit, packte er die Bücher auf den Rücksitz.

Vielleicht schleppte Jadwat alle diese Bücher immer noch mit sich herum, weil sie ihn an seine Studententage erinnerten. Er hatte als Statist in einem Film mit der Nargis mitgewirkt und am Set Trotzki gelesen. Seine Versuche, Nafisa für seine sozialistischen Ideen zu be-geistern, waren ohne nennenswerten Erfolg geblieben. Sie schaffte gerade einmal drei Absätze eines Matritzendrucks der »Plattform der linken Opposition« und gab danach auf. Sie hatte sich nie viel aus Lesen gemacht.

Jadwats zweiter Trost waren seine Affären. Nafisa konnte sich das Lachen nicht verkneifen, wenn sie sich diesen stämmigen, kurzbei-nigen Jadwat vorstellte, wie er seinen orangefarbenen Mercedes her-umchauffierte und sich dabei ganz als Casanova fühlte. Er hatte eine Glatze, trug eine Brille, und war insgesamt eher eine lächerliche Ge-stalt. Seine dünnen und wurmförmigen Lippen erinnerten sie an eine Aubergine.

Dass Nafisa sich über ihn lustig machte, gründete aber noch auf etwas anderem als nur der Absurdität dieses ältesten Freundes ihres Mannes. Sie war wütend, weil er sich so unverschämt benahm. Und sie war nicht schuldlos daran. Seit Jahren schon ging Jadwat unbeirrt mit Frauen aus, die sie ihm vorstellte.

Jetzt schien es, als wäre es endlich so weit und er würde einer die-

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ser Frauen endlich einen Antrag machen. Jadwat hatte Feuer gefan-gen. Er war auf Diät, schlief nicht mehr und kaufte sich neue Anzüge bei Rex TrueForm. Er flirtete, machte Komplimente, rief Nafisa aus Richmond an und pries seine neueste Eroberung in den höchsten Tönen.

Und dann? Jadwat machte wieder keinen Antrag. Nafisa hatte sich für ihn eingesetzt und deshalb war ihr das Ganze peinlich. Sie hatte sich der unglücklichen Dame gegenüber für Jadwats ernste Ab-sichten verbürgt. Trotzdem half sie Jadwat immer wieder, obwohl sie doch wusste, wie er sich benahm. Hatte sie denn nichts aus ihren er-folglosen guten Diensten gelernt? In Zukunft würde sie sich jeden-falls anders verhalten.

Es gab einen geschmacklosen Aspekt in Jadwats Liebschaften. Wann immer er hörte, dass gerade ein Ehemann verstorben war, machte er sich auf den Weg, um dem trauernden Haushalt einen Be-such abzustatten. Wenn er vom Tod eines Ehemanns hörte, war ihm kein Weg zu weit, um die Witwe zu besuchen. Er fuhr beispielswei-se bis nach Athlone in Kapstadt und einmal sogar bis in Nafisas Ge-burtsort Gabarone, die Hauptstadt Botswanas. Er brachte Blumen, Videos, Kassetten mit Qawwali-Musik, Ohrringe und gelbe Rosen mit. Bargeld hinterließ er im Briefumschlag einer Elektrizitätsfirma.

Wenn Blumen und Geld geschätzt wurden, nötigte er die Witwe zu Abendessen am Meer oder in indische Musicals ins Playhouse-Theatre in Durban. Kein Weg war ihm zu weit. Und dann? Nichts! Es war, als ob seine kurzen Beine auf halbem Wege kapitulierten. Ein Abenteuer dauerte sechs Wochen oder sechs Monate, dann brach Jadwat den Kontakt mit der Zukünftigen wieder ab.

Danach entschuldigte er sich niemals, er gab nie eine Erklärung für sein Verhalten, noch sprach er wohlwollend über eine seiner ver-lassenen Frauen.

Nafisa bemühte sich, sein Verhalten zu verstehen. Es schien, als wäre Jadwat stolz darauf, eine Vergangenheit zu entwickeln, eine Vergangenheit mit Frauengeschichten, stolz darauf mit jeder weite-ren Witwe ein neues Kapitel zu schreiben. Der Gedanke, dass sie ihm bei seinen Eroberungen geholfen hatte und auch in Zukunft hel-fen würde, erfüllte sie mit Entsetzen.

Noch schlimmer war, dass dieser Mann nichts aus seinen Fehlern lernte. Wenn einer kein Schamgefühl hat, dachte Nafisa, kann auch

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Erfahrung nichts ausrichten. Und so würde Jadwat weiterhin genau hinhören, wenn vom Tod eines Mannes gesprochen wird, würde sei-nen großen, nach Moschus riechenden, braunen Kopf zur Seite nei-gen, an der Haut seines Halses zupfen und darauf warten, dass von einer überlebenden Ehefrau die Rede ist.

Heute war es wieder soweit. Als er sie in die Stadt fuhr, konnte Nafisa an seinem Gesicht erkennen, dass er so aufgeregt war wie ein Schuljunge.

Jadwat streckte seine kurzen Beine unter dem Lenkrad aus. Als sie an der Ampel an der Kreuzung der Brickfield Road warteten, drehte er sich leichthin zu ihr hinüber. Nafisa wusste genau, was jetzt kommen würde. Dieses eine Mal würde sie nicht mitspielen.

»Ach, Nafisa. Nafisa, meine liebe, ich hörte die schlechten Nach-richten über deinen Cousin Goolam …«

Er kurbelte das Autofenster herunter und platzierte seinen Ellbo-gen auf der Tür, um seine kranke Schulter zu entlasten. Es war be-reits sehr heiß.

»Vor ziemlich genau zwei Wochen habe ich davon gehört. Diese Nachricht hatte mich schwer erschüttert. Ich kann mich noch ge-nau daran erinnern, wie ich ihn und seine Frau auf Shakeers Hoch-zeitsfeier kennengelernt hatte. Goolam war Dein Großcousin, nicht wahr? Ein Mann in der Blüte seines Lebens. Meine Güte, als hätten wir in der letzten Zeit nicht mehr als genug schlechte Nachrichten bekommen.« Mit seiner Hand massierte er über seine schmerzende Schulter. Nafisa hatte ihm eine Spritze verabreicht, um die Entzün-dung zu hemmen. »Goolams Familie muss am Boden zerstört sein.«

»Mit dieser Annahme triffst Du ins Schwarze.«»Das ist doch selbstverständlich. In meinem Herzen bin ich bei ih-

nen. Meinst Du nicht, ich sollte sie meiner Anteilnahme versichern?«Dieser Vorschlag blieb unkommentiert, denn die Ampel schaltete

auf grün um. Dann sagte Nafisa: »Jadwat, wenn Du nichts dagegen hast, würde ich vorschlagen, dass Du Dich auf den Verkehr konzen-trierst.«

Das Catering für die Verabschiedungsparty ihres Mannes machte ein Restaurant, das sich im alten Stadtzentrum befand. Und zwar dort, wo früher Greenacres ansässig war. Es hieß Karachi Delights und wurde von Pakistanis bewirtschaftet wie eine ganze Reihe anderer

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Cafés und Fast-Food-Imbisse auch. Die Pakistani hatten viele der hiesigen Läden übernommen, weil sie sich nicht scheuten, in Gegen-den von Durban zu arbeiten, in die bessergestellte Inder, von Weißen gar nicht zu reden, keinen Fuß setzen würden.

Diese Pakistani waren hartgesottene Charaktere, die erst vor kur-zem vom Subkontinent hierhergekommen waren. Nafisa wusste, dass sie sich gewöhnlich ohne gültige Papiere im Land aufhielten. Erst im letzten Jahr waren ihr diese Neuankömmlinge richtig auf-gefallen.

Seit die neue Regierung im Amt war kümmerte sich niemand mehr um die Einhaltung der Einwanderungsgesetze. In Johannesburg be-wohnten die Nigerianer endlose Häuserblocks und verschoben von dort aus Heroin und Morphium von Lagos nach Los Angeles. Die Senegalesen und Kongolesen waren vornehmlich in Kapstadt zu fin-den. Zimbabwer, Mozambikaner und andere Volksgruppen, die vom Horn Afrikas stammten und in den Infanterieregimentern in Eri trea gedient hatten, waren ebenso unter den Einwanderern. Doch die pa-kistanischen Paschtunen waren bekanntermaßen besonders hart-gesotten.

Nafisa bewunderte sie dafür. Sie waren aus einem anderen Holz geschnitzt als die einheimischen Inder und ihnen eilte der Ruf vor-aus, leidenschaftliche Kämpfer zu sein. In ihren Jacken versteckt tru-gen sie Schnappmesser, und Nafisa hatte schon einmal gesehen, wie sie diese im Fall einer Bedrohung gezückt hatten.

Die Pakistani gingen, wohin sie wollten und taten, was sie wollten und waren somit die freiesten Einwohner des Landes.

Als Nafisa abends die Marine Parade entlangfuhr, bemerkte sie verwundert, dass sie auf dem Gelände hinter der Jugendherberge Cricket spielten. Das Wasser lag schwer und dunkel im Hafen und entlang der Docks. Ansonsten waren die Straßen verlassen. Jeder, der es sich leisten konnte, verschanzte sich hinter Zäunen und Mau-ern. Die Spieler in ihren fadenscheinigen weißen Pullovern wirkten in der Abendstimmung wie Moskitos. Klar, Cricket war in Pakistan eine Religion.

Die Pakistani waren nicht nur ausgezeichnete Cricketspieler, son-dern auch vortreffliche Köche. Arif lobpreiste sie, da sie die alten Traditionen bewahrten. Er war der festen Ansicht, dass die indische Küche in ihrer höchsten Kunst reine Männersache war. Die Pakis-

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tani machten in ihren Gerichten großzügigen Gebrauch von Ghee. Die Gerichte köchelten in den Degchi, riesigen Eisentöpfen, in einer Ecke hinter dem Karachi Delights auf Kohlen vor sich hin.

»Bleib ruhig im Auto sitzen, Jadwat«, bat sie ihn. »Und bitte lass die Klimaanlage an. Sonst wird alles zum zweiten Mal gekocht sein bis wir zuhause ankommen. Es bleibt vielleicht nicht genug Zeit zum Auspacken, bevor ich zum Flughafen fahren muss. Und Estella kann nicht beim Auspacken helfen, da sie mich begleiten wird. Ich kann sie schlecht darum bitten, zwei Dinge gleichzeitig zu tun.«

»Hat Arif denn nicht vor, Shakeer mit Euch am Flughafen abzu-holen?«

»Das möchte er, Du kennst ihn ja, aber er erwartet einen wich ti-gen Telefonanruf von den Amerikanern, irgendeiner Anwaltskanzlei in Baltimore, die mit dem Fall zu tun hat. Ich kann ihn im Moment sowieso kaum aus dem Haus bewegen. Um die Wahrheit zu sagen, Jadwat, er ist in der letzten Zeit sehr niedergeschlagen, mehr als je zuvor seit seiner Operation. Er hat das Gefühl, dass die neue Regie-rung seine Arbeit, den Virus zu isolieren, komplett boykottiert. Du kannst Dir ja vorstellen, wie er sich fühlt, seit er aus der Uni versität herausgedrängt wurde. Er zeigt das natürlich nicht so deutlich.«

»Du musst ihn aus dem Haus zwingen, Nafisa,« sagte Jadwat. »Zwing ihn nach draußen. Ansonsten wird er noch Depressionen bekommen. Wie oft haben wir es als Ärzte mit Depressionen zu tun? Erleben das von der anderen Seite. Und nach einer so schwerwiegen-den Operation …«

»Was soll ich bloß tun, Jadwat? Ich weiß nicht mehr weiter. Ich weiß einfach nicht mehr weiter. Wenigstens macht jetzt das Karachi Delights auf Deine Empfehlung hin das Catering für die Feier. Das wird seine Stimmung gehörig verbessern. Ich glaube, Du bist der ein-zige von uns, der Arif wirklich versteht.«

Nafisa nahm den süßlichen Geruch vom Kohlenfeuer wahr, wäh-rend sie am Auto stand und das Einladen der Speisen überwachte. Die Kellner luden Reis und Linsen, gebratene Kartoffeln und Ham-melfleisch aus den Degchis in die hellgrünen Tupperdosen, die sie mit zum Auto gebracht hatten. Jadwat hatte vorher den Kofferraum ausgeräumt.

Nafisa fiel auf, dass er ihren Cousin Goolam nicht weiter erwähnt hatte. Vielleicht würde er in diesem besonderen Fall einfach seinen