Gianluca Magi Der verborgene Schatz - bilder.buecher.de · Jerrahi-Halveti in Italien...

Gianluca Magi

Der verborgene Schatz

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GIANLUCA MAGI

DER

VERBORGENE

SCHATZWeisheitsgeschichten der Sufis

Aus dem Ital ienischen von

Elisabeth Liebl


Meinem Sohn Cristoforo, der – nachdem er erst einmal vorsichtig an die Pforten dieser Welt geklopft hat –

nun in Raum und Zeit recht fühlbare Spuren hinterlässt

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100 Das FSC-zertifi zierte Papier EOS für dieses Buch

liefert Salzer, St. Pölten.

Die italienische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »Il dito e la luna« bei Edizioni Il Punto d’Incontro, Vicenza

1. Aufl ageDeutsche Erstausgabe

© 2009 der deutschsprachigen AusgabeKailash Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH© 2002 Edizioni Il Punto d’Incontro, Vicenza

Lektorat: Julia Eisele, MünchenUmschlaggestaltung: Weiss|Zembsch|Partner: WERKSTATT|MÜNCHEN

unter Verwendung eines Motivs von © corbis. All rights reserved.

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, GermeringDruck und Bindung: CPI Moravia, Pohorelice

Printed in Czech RepublicISBN 978-3-424-63009-1

www.kailash-verlag.de

Mixed SourcesProduct group from well-managed

forests and other controlled sources

Cert no. SA-COC-001819www.fsc.org

© 1996 Forest Stewardship Council


Inhalt

Vorwort von Scheich Gabriel Mandel Khan 9Der Sufi smus 15Einladung zur Reise auf den Flügeln

der Sufi geschichten 19

Der Elefant im Dunkeln 27Geben, was man besitzt 29Der verborgene Schatz 30Wenn es nur ein Ja oder Nein gibt 33Die Welt als Illusion 34Wer Geld braucht 38Überzeugungen und ihre Auswirkung 39Die Bedeutung von Geduld 40Glück 41Identifi kation 43Die Liebe zum Geld 45Die Vielfalt des Seins 47Das seltsame Schicksal des Begehrens 48Was man verlacht 49Der Meditationsmeister 50Hindernisse im Denken 51


Die Macht des Wortes 52Das Geheimnis des langen Lebens 54Ursache und Wirkung 55Alles hat seine Zeit 57Wie man das eigene Tun sieht 58Der Mann mit den guten Absichten 59Die Bedeutung des Fastens 62Der Sufi , der unbemerkt vorübergeht 64Vom Nutzen des Betrugs 65Sorgfalt 67Der Wert der Dinge 69Der Tag der Predigt 71Selbstbild und Selbstbetrug 72Vertane Gelegenheit 73Das Hindernis 75Die Maske der Demut 77Die persönliche Konstruktion der Wirklichkeit 79Die Rede der Vögel 80Das Erbe 82Mystik 84Der Wert des Wunders 85Die Einheit hinter der Vielfalt 86Eine alte Legende 88Euer Gott liegt unter meiner Schuhsohle 90Mein Meister 93


Wer in sich ruht, gerät nicht in Streit mit anderen 96Die gute Absicht 97Schlichte Tat, große Wirkung 99Meditation 101Was man sieht 103Was man nicht sieht 109Die Belehrung 111Die Macht der Konditionierung 112Lieber ein intelligenter Feind als ein dummer Freund 114Unzufriedenheit 116Die Brücke 117Viele Straßen führen zu Gott 118Dem eigenen Schicksal entgegengehen 119Jenseits der Erscheinungen 121Sich an sich selbst erinnern 124Der Wert echter Demut 126Wenn die Wahrnehmung nicht der Wirklichkeit

entspricht 128Off ene Hand, geschlossene Hand 129Die Illusion der Gefühle 130Das Rätsel der Flussüberquerung 132Die Liebe zur Welt als Weg zu Gott 134Bereit sein 135Woher das Licht kommt 137Der Name Gottes und das Vertrauen 138


Der Name Gottes und der Wunsch nach Rache 141Die zwei Ebenen der Wirklichkeit 144Meister und Schüler 146Methoden des Lernens 147Personenkult 149Die Wahrheit 151Steine essen verboten! 152Die nichtreale Welt 153Wer fürchtet Gott? 155Geheimwissen 157In dieser Welt, aber nicht von dieser Welt sein 158Auf das Wort hören 159Gott 160Macht über sich selbst 161Das rechte Verhalten 162Die Teilung der Religionen 164Den Spiegel des Herzens zum Leuchten bringen 165Was ist wahr? 166Klugheit 167Der Weg des Flusses steht im Sand geschrieben 168

Anmerkungen 171Literatur 175


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Vorwort

Wir haben im Andenken an den GeliebtenWein getrunken, der uns trunken machte,

noch bevor wir den Weinberg anlegten.Umar ben al Faridh

Mit diesem Vers beginnt das mystische Gedicht Khamri-ya, verfasst vom Begründer der Bruderschaft Faridhiyya-Qadiryya. Es besagt, dass das Verlangen des Sufi nach Weisheit und der Erkenntnis Gottes schon existierten, ehe der Islam als Religion entstand. »Wir tranken von diesem Wein, noch bevor der Weinberg angelegt wurde.« Ein Glas Wein kann vieles sein. Für den, der ihn zu trin-ken versteht, ist der Wein zunächst eine Quelle des Ge-nusses, doch im Übermaß wird er ihm zur Qual, zur Hölle. Lässt man den Wein jedoch unberührt, wird er zu Essig und ist nicht mehr zu trinken. Dafür kann man ihn zum Würzen verwenden. Man kann mit Wein ein Aqua-rell malen oder ihn zu Schnaps destillieren. Dann wird er zur Medizin, und auf ärztliche Verordnung darf selbst


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der frömmste Muslim ihn zu sich nehmen. Was können wir noch vom Wein sagen? Wir können ihn einschenken, fl ambieren, können ihn Freunden anbieten … Doch für Omar Khayyam, der in seine Verse immer wieder das Bild des Weines einfl ießen lässt, war Wein kein Getränk und keine »verbotene Frucht«. Für ihn war er das Symbol des Mystikerdaseins schlechthin. Der Wein steht ihm für das Denken, das – letztlich nicht fassbar – in der der-gah, dem Zentrum der Sufi -Bruderschaft, alle Sufi s mit-einander verbindet. Wie die zahllosen Geschichten und Gleichnisse der Sufi s: Sie sprengen die Regeln, ohne dies zu beabsichti-gen. Sie alle transportieren einen Sinn, der über die er-zählten Fakten und die erzählenden Worte hinausgeht. Wie die Worte eines Gedichts, die Takte einer Sinfonie, die in uns plötzlich ein namenloses Gefühl erwecken, in anderem Zusammenhang und anderer Anordnung aber keinerlei Wirkung zeitigen. Und so gingen diese Geschichten von Mund zu Mund, wurden von Meister zu Meister überliefert, ohne je das Schicksal jener Münzen zu erleiden, die durch allzu viele Hände wandern und davon dünn und abgegriff en wer-den. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Jede Sufi ge-schichte hat ihre eigene Moral, die über die Wortebene der Erzählung, über deren scheinbaren Widersinn hin-


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ausreicht und das Erstaunen des Kindes in uns zu wecken vermag. Und diese Moral nährt sich aus dersel-ben Quelle wie die Spiritualität jedes reinen Herzens, wie das Gottesempfi nden des Mystikers. Aus derselben Quelle, aus der alle menschlichen Wesen, ja alle Tiere trinken … Einige der hier vorgestellten Anekdoten haben Khoja Nasr alDin zur Hauptperson, den wir auch als Nasrud-din oder Nasreddin kennen. In der Türkei heißt es, er sei im türkischen Beyshehir geboren. Zumindest können wir dort sein Grabmal bewundern und ein Bronzestand-bild, das den großen Weisen rückwärts auf seinem Esel reitend zeigt. Dieses Standbild erinnert an eine der be-kanntesten Sufi geschichten. Der Weise begegnet uns in allen möglichen Kulturkreisen und trägt überall einen anderen Namen: Die Juden nennen ihn Juha, die Sizilia-ner Giufà, in der Toskana hat man ihn Bertoldo getauft. Ist letztlich nicht auch der facettenreiche Nasruddin – der nie existiert hat, dessen Bild aber trotzdem in Bronze gegossen wurde – nichts weiter als ein Symbol? Ein Sym-bol für die Eitelkeit der Welt, die Nichtigkeit der Wech-selfälle des Lebens, die uns so sehr beschäftigen und fas-zinieren, weil wir sie so unglaublich wichtig nehmen? Und kommen die Sufi geschichten am Ende nicht den höchsten psychoanalytischen Lehren gleich, die wir mit


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unserem kindischen und kranken Gemüt zu verstehen versuchen? Eines jedenfalls steht fest: Uns Sufi s, die wir Muslime sind, ist der Wein verboten! Von welchem Wein ist dann überhaupt die Rede? Oder ist auch der Wein nichts wei-ter als eine Sufi geschichte? Am besten schenken wir uns ein Glas ein und erzählen uns eine Geschichte dazu. Denn wie könnte ein Sufi eine Sammlung von Sufi ge-schichten besser vorstellen als mit einer Sufi geschichte: »Zwei junge Leute verließen ihr Dorf, um sich nach einem gastfreundlicheren und fruchtbareren Landstrich aufzumachen. Der Erste war der Sohn eines reichen Mannes und hängte sich daher einen Beutel mit Gold-stücken um. Der Zweite aber war der Sohn eines armen Bauern. In seinem Beutel fanden sich nur Samenkörner. Er besaß ja nichts anderes. Als sie nun in das ›gelobte Land‹ kamen, das sie beide zu fi nden gehoff t hatten, ge-rieten sie in die Gewalt einer Räuberbande. Die Räuber bemächtigten sich der Börse des Ersten, als sie jedoch den Beutel des Zweiten öff neten, fanden sie darin nichts außer Samenkörnern. Diese warfen sie dem Jüngling verächtlich ins Gesicht und gingen ihrer Wege. Die bei-den jungen Männer aber rappelten sich auf und suchten nach Arbeit und Unterkunft. Schon bald erkannte der Sohn des reichen Mannes: Gold gab es in diesem Land


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im Überfl uss, und so musste er sich eingestehen, dass ihm sein Gold nicht viel genützt hätte, selbst wenn es ihm nicht gestohlen worden wäre. Der Sohn des armen Mannes aber las seine Samen wieder auf und säte sie auf sein Feld. Er fuhr eine reiche Ernte ein, die sich im dar-auff olgenden Jahr noch verdoppelte. In diesem Jahr tru-gen auch die Obstbäume und -sträucher zum ersten Mal Frucht. Und so ging dies fort, bis er reich und bei allen beliebt war.« Betrachten Sie dieses Buch einmal von diesem Stand-punkt aus: Der Beutel von Gianluca Magi enthält eine reiche Auswahl an Samenkörnern, die alle gute Frucht bringen. Und so wünsche ich Ihnen, dass aufmerksame Lektüre und gründliches Nachdenken Ihnen ebenfalls reiche Ernte bringen werden.

Scheich Gabriel Mandel KhanGeneralvikar der Sufi brüderschaft

Jerrahi-Halveti in Italien


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Der Sufi smus

Wer kostet, erkennt.Leitspruch der Sufi s

Der Sufi smus ist einer der wertvollsten Beiträge, die der Orient zur Entwicklung des menschlichen Denkens ge-leistet hat. Letztlich aber ist und bleibt er – trotz all der schönen Begriff serklärungen, die wir zurzeit in der Lite-ratur fi nden – undefi nierbar: Der Sufi smus lässt sich einfach nicht in eine feste Kategorie zwängen. Auf die Frage: »Was ist Sufi smus?« würde ein Sufi -Meister viel-leicht mit der Geschichte vom Elefanten im Dunkeln antworten (siehe Seite 27). Der Sufi smus ist weder eine Religion noch ein abs-traktes Denkgebäude, die sich der Alltagswirklichkeit entziehen. Er ist auch nicht »mystisch«, zumindest nicht in dem Sinne, in dem man diesen Begriff gewöhnlich ge-braucht. Er versucht erst gar nicht, sich in eine erkennt-nistheoretische Systematik einzugliedern oder andere philosophische Vorstellungen zu widerlegen. Es geht im


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Sufi smus weder um Bücher noch um Glauben, sondern einfach nur um die Erfahrung, die jeder Mensch Tag für Tag macht. Aus diesem Grund sagt man vom Sufi smus, dass er zwar »in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt« sei. Er wendet sich an all jene, die zwar mit beiden Bei-nen im Leben stehen, deren Blick aber weitergeht. Der Sufi smus richtet seinen Blick gleichsam auf das Herz jeder Religion und entkleidet sie dann ihrer äußer-lichen und unwesentlichen Anteile. Das ist eine sehr konkrete Art, das Leben zu sehen. Die Wirklichkeit als Ort des Erwachens. Es geht um eine Form der Geistes-schulung, die den Alltag zum Ausgangspunkt einer spi-rituellen Reise macht und sich zum Ziel die vollkomme-ne Harmonie und Einheit mit dem Universum setzt, mit dem Absoluten, dem Einzigen, der Wahrheit (die einer der 99 Gottesnamen ist). Ob der Sufi smus nun – wie einige denken – eine uni-verselle Wirklichkeit darstellt, die schon vor der Nieder-legung des Koran durch den Propheten Mohammed existierte, oder ob er als Herzstück des Islam zu be-trachten sei, der Kern des Sufi smus ist, dass er dem Su-chenden erlaubt, das Göttliche zu erfahren, das er im Herzen trägt. Der Sufi weg basiert auf Prüfung, Studium und Beob-achtung der menschlichen Natur sowie der unmittelba-


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ren, praktischen Erfahrung. Dabei ist die praktische Umsetzung der wichtigste Punkt, denn das Denken lässt sich letztlich nicht vom Alltagsleben trennen. Wenn wir dies tun, reißen wir gleichsam die Pfl anze mit der Wurzel aus dem Erdreich. Finden die Wurzeln keine Nahrung mehr, geht die Pfl anze ein. Im Sufi smus dreht sich alles um Wandlung: darum, die Welt der Erscheinungen in einen außergewöhnlichen Ort umzuwandeln, der vom Erlebnis des Göttlichen er-füllt ist. Dabei setzt er auf die Sprache des Herzens: Denn ist nicht das Herz Sitz des Gefühls ebenso wie der intuiti-ven Erkenntnis? Dies ist der Weg des Sufi . Keine forma-le Beachtung von Riten und Dogmen. Keine Erstarrung des Glaubens im Glaubenssatz. Keine Verhärtung spiri-tueller Übung zu sinnentleerter Wiederholung. Der Su-fi smus ist der inneren Dimension der Wirklichkeit nahe, in der der Mensch seit jeher vollkommen ist. Dieses Be-wusstsein ist es, das sich in unserem Herzen Bahn bre-chen sollte wie die Morgensonne.


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Einladung zur Reise auf den Flügeln der Sufi geschichten

Achte nicht darauf, wie ich aussehe.Nimm einfach das, was ich in der Hand halte.

Dschelaladdin Rumi

Die Geschichten dieses Buches entstammen dem uner-schöpfl ichen Fundus östlicher Sufi weisheit und wurden gleichsam auf den schnelllebigen und zerstreuten Westen »umgemünzt«. Diese Geschichten – gleichsam »geraubte Juwelen« – werden so erzählt, dass man sie auch im Wes-ten verstehen kann. Insofern wende ich hier einen Kunst-griff der Sufi s an: Ich passe das äußere Gewand der Ge-schichte der Kultur an, in der sie erzählt wird, der Zeit und dem Ort, an dem sie wirken soll. Denn die Parabeln der islamischen Mystiker müssen für den modernen Menschen verständlich gemacht werden. Die Zeiten än-dern sich. Was früher vielleicht jedem einleuchtete, kann heute unverständlich sein. Die wandernden Derwische der Sufi tradition vermit-telten ihre Lehren in Geschichten und Anekdoten. Auf


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diese Weise entstand eine lebendige mündliche Überlie-ferung, die gelegentlich auch ihren Weg in die Welt der Schriftlichkeit fand. Das liegt nicht nur daran, dass sich das Leben und seine Wechselfälle am besten mit einer Geschichte erklären lassen. Eine kurze Sufi geschichte macht vieles leichter und schneller verständlich als aus-führliche theoretische Erläuterungen. Die Sufi geschichte ist also auf ein bestimmtes Ziel hin angelegt: Sie will dem konditionierten Geist des Schü-lers auf möglichst direktem Weg eine subtile Botschaft vermitteln, die anders schwer zu erklären wäre. Jede Ge-schichte ist ein Schlüssel, der uns eine Tür öff nen kann. Sie beschreibt eine bestimmte Art, die Welt zu sehen. Und sie lädt uns ein, diese Weltsicht anzunehmen und die Probleme des Alltags in einem neuen Licht zu sehen. Eines der drängendsten und gleichzeitig am schwers-ten zu erfüllenden Bedürfnisse des Menschen ist es, sich selbst zu erkennen. Daher bietet der Sufi smus seit jeher Methoden zur Selbsterkenntnis an, mit Hilfe derer wir unser Sein inmitten der Gesellschaft erforschen kön-nen. Eine dieser Methoden ist die Arbeit mit Geschich-ten. Sie dient als Vorbereitung auf das Erwachen des Bewusstseins. In der Lehre der Sufi s liegen der Weg der Geschich-ten und der Weg der geistigen Entwicklung nahe beiein-


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ander. Beim Lesen dieser Geschichten merken wir schnell, dass sie uns letztlich lehren wollen, die Wirk-lichkeit am besten so zu sehen, wie sie ist, und nicht, wie wir sie gerne hätten. Sie wollen eine bestimmte Erfah-rung bewirken, bestimmte Emotionen freisetzen, die uns helfen, unsere Grenzen zu erkennen, aber auch un-sere Möglichkeiten. Bei oberfl ächlichem Hinsehen wirken die Sufi ge-schichten wie Witze, wie mitunter fast banale humoris-tische Auslassungen. In Wirklichkeit aber verbergen sich hinter den scheinbar so simplen Geschichten Bezie-hungs- und Lebensmodelle, die gerade jenen Teil des Geistes nähren, zu dem wir auf andere Weise nur schwer Zugang fi nden. Und sie zielen darauf ab, im Leser eine Weltsicht zu entwickeln, die von Einsicht, Flexibilität und Weite geprägt ist. Sich mit dem »didaktischen Material« der Sufi schule vertraut zu machen, kann uns auf Dauer Antworten auf die problematischen Aspekte unseres Daseins geben, da die Geschichten verborgene Seiten unseres Lebens ans Licht bringen und uns zur Auseinandersetzung damit aufrufen. Und trotzdem fi nden wir in den Sufi geschichten eines nicht: Hinweise darauf, was »richtig« ist, was wir denken oder tun sollten. Sie wollen uns keine fertigen Antwor-


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ten liefern, auch keinen Unterhaltungswert bieten. In diesen Geschichten geht es vielmehr darum, bestimmte Mechanismen zu verdeutlichen. Daher sind sie auch nicht dazu gedacht, dem Leser neue Glaubenssätze an-stelle der alten aufzudrängen. Sie hinterlassen einen Sa-men in unserem Geist, eine Art »Gedächtnisspur«, die sich nicht unbedingt bewusst bemerkbar macht, da sie in einer tieferen Schicht unseres Geistes angelegt wird. Doch sobald der Leser sich in einer ähnlichen Erfahrung wiederfi ndet, wird die Erinnerung daran wach und er-laubt ihm so, andere Entscheidungen zu treff en. Im besten Fall bewirken diese Geschichten, dass wir eine bestimmte Situation, mit der wir gerade konfron-tiert sind, auf einmal völlig klar sehen. Da die Geschich-te fast immer praktische Handlungsmöglichkeiten auf-zeigt, kann unser Geist seine ausgetretenen Pfade verlas-sen und neue Wege einschlagen. Insofern handelt es sich bei den Sufi geschichten um eine Art »narrativer Th erapie«, die Kunst, den Men-schen positiv zu beeinfl ussen, und zwar im Einklang mit den Bedürfnissen all jener, die eine bestimmte Situation miteinander teilen. Einer dieser positiven Einfl üsse ist es, dass die Sufi geschichten uns erlauben, ungekannte Fähigkeiten freizusetzen und Einsichten zu erlangen, sobald wir dazu bereit sind. In diesem Sinne sind die


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Sufi geschichten ein Kompendium kluger Schachzüge, mit Hilfe derer wir der hypnotischen Eintönigkeit ent-rinnen können, auf die sich unser Verhalten gewöhnlich gründet. Jede Sufi geschichte umfasst dabei viele verschiedene Bedeutungsebenen. Welche davon sich dem Leser er-schließen, liegt nicht zuletzt an seinem persönlichen Ent-wicklungsgrad. Entspannt können wir diese unsterb-liche Weisheit genießen wie eine Tasse Tee – in kleinen Schlucken. Und in kleinen Schlucken werden wir trun-ken von unserem Blick auf die subjektive, schlafende, un-bewusste Weisheit des Menschengeschlechts. Die Sufi s nennen Geschichten, die eine bestimmte Lehre illustrieren, ishara. Die ishara ist gleichsam der Zeigefi nger, den wir benutzen, um auf etwas Bestimm-tes zu verweisen. Genau dies ist die Funktion der hier vorgestellten Geschichten: Sie sollen einen Hinweis ge-ben. Im Osten sagt man: »Wenn jemand dir den Mond zeigt, dann richte deinen Blick auf den Mond und nicht auf den Finger, der darauf deutet.« Dieses Sprichwort gilt auch für die hier versammelten Geschichten: Wir werden den Mond nicht begreifen, wenn wir den Zeige-fi nger analysieren. Doch wenn wir ihm mit dem Blick folgen, sehen wir vielleicht den Mond. Der Finger ist nicht der Mond. Aber er zeigt uns den Weg dorthin.


UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Gianluca Magi

Der verborgene SchatzWeisheitsgeschichten der Sufis

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Gebundenes Buch, Halbleinen, 176 Seiten, 12,5 x 18,7 cm5 s/w AbbildungenISBN: 978-3-424-63009-1

Kailash

Erscheinungstermin: August 2009

Lebensgeheimnisse des Orients »Ishara« nennen die Sufis Geschichten, die uns auf innere Entdeckungsreisen schicken unduns die Dinge in einem anderen Licht sehen lassen. »Der verborgene Schatz« versammeltdie schönsten Erzählungen aus der mystischen Tradition des Islam – so kurz, dass man sieinmitten der Alltagshektik, im Stau oder in der U-Bahn lesen kann, und doch von solcher Tiefe,dass sie dem Tag einen besonderen Zauber verleihen. Voller Weisheit und Witz, Wärme undMenschlichkeit öffnet jede der Geschichten eine Tür ins eigene Herz. • »Geben, was man besitzt«• »Die Bedeutung von Geduld«• »Die Liebe zum Geld«• »Das seltsame Schicksal des Begehrens«• »Die Macht des Wortes«• »Den Spiegel des Herzens putzen« ... und viele weitere Perlen der Sufi-Weisheit - Kurze Geschichten voller Herzenswärme und verblüffender Erkenntnisse- Ein echtes »Schatzkistchen« an Inspiration auch für Menschen, die wenig Zeit zum Lesenhaben- Attraktiv ausgestattetes Geschenkbuch

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