Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

12
7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 1/12 „DIMENSIONEN DES HERMENEUTISCHEN“ HEIDEGGER UND GADAMER Herausgegeben von Günter Figal und Hans-Helmuth Gander El VITTORIO KLOSTERMANN FRANKFURT AM MAIN

Transcript of Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

Page 1: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 1/12

„DIMENSIONEN

DES

HERMENEUTISCHEN“

HEIDEGGER

UND

GADAMER

Herausgegeben

von Günter

Figal

und

Hans-Helmuth Gander

El

VITTORIO

KLOSTERMANN

FRANKFURT

AM

MAIN

Page 2: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 2/12

Martin Heidegger Gesellschaft

e V

Am

Feldweg

26

D 88605

Meßkirch

Bibliographische

Information

Oer

Deutschen

Bibliothek

Die

Deutsche

Bibliothek

verzeichnet

diese

Publikation

in der

Deutschen

Nationalbibliographie;

detaillierte

bibliographische

Daten

sind

im

Internet

über http://dnb.ddb.de

abrufbar.

©

Vittorio

Klostermann

GmbH Frankfurt am

Main

200J

Alle

Rechte

Vorbehalten insbesondere

die des

Nachdrucks und

der

Übersetzung.

Ohne

Genehmigung

des Verlags

ist

es

nicht

gestattet

dieses

Werk

oder

Teile

in

einem

photomechanischen

oder

sonstigen Reproduktionsverfahren

zu verarbeiten

zu

vervielfältigen

und

zu

verbreiten.

Gedruckt

auf

alterungsbeständigem Papier.

@1S°9706

Satz:

Fotosatz

L.

Huhn

Maintal-Bischofsheim

Druck:

Hanf

Buch- und

Mediendruck

Pfungstadt

Printed

in

Germany

ISSN

1612 7722

ISBN

3 463 03432 3

Page 3: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 3/12

Inhalt

Günter

Figal

und

Hans-Helmuth Gander

Vorwort

7

John

Sallis

Das

Ende

der

Übersetzung

 

Gottfried

Boehm

Das

Bild

und

die

hermeneutische

Reflexion

 3

Damir

Barbaric

Hörendes

Denken

37

Dennis

J.

Schmidt

Einige

Betrachtungen zu

Sprache

und

Freiheit aus

einem

hermeneutischen

Blickwinkel

59

Donatella

Di

Cesare

Savoir

vivre

savoir

mourir

Der Tod

als

Grenze

 

zwischen

Heidegger

und Gadamer

73

Istvän

M. Feher

Verstehen

bei

Heidegger

und

Gadamer

89

Thomas

Schwarz

Wentzer

Phänomenologie

oder

Dialektik?

Zur

Frage

nach

der

Sachlichkeit

der

Philosophie

bei Heidegger

und

Gadamer

 

Jürgen

Stolzenberg

Hermeneutik der

praktischen

Vernunft.

Hans-Georg

Gadamer

interpretiert

Martin Heideggers

Aristoteles-Interpretation

133

Page 4: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 4/12

Inhalt

Gianni

Vattimo

Ist Heidegger ein

Philosoph der

Demokratie?

»13

Zu

den

Autoren

i6i

Personenregister

i6j

Page 5: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 5/12

GIANNI

VATTIMO

1st

Heidegger

ein

Philosoph

der

Demokratie?1

Es scheint

mir wesentlich,

die

Analogien

zu

erkennen

zwischen

einem

Buch

wie

Die

offene

Gesellschaft

und

ihre

Feinde

von

Karl

Popper

und

den

Ideen,

die

Heidegger

in

vielen

seiner

Werke

dargelegt

hat,

aber

vor

allem

in

seinem

Vortrag

über

„Das

Ende

der

Philosophie und die

Auf¬

gabe

des

Denkens“2 von

1964

-

wesentlich nicht

nur

für

das

Verständ¬

nis

von

Heidegger, für

dessen

Interpretation,

für dessen

Applikation,

sondern

auch,

um

die Rolle der

Philosophie in

der

gegenwärtigen

Ge¬

sellschaft

überhaupt

zu

überdenken.

Diese beiden

Philosophen

einander

anzunähern,

ist zweifellos

ein

paradoxes

Unterfangen,

weil

Heidegger

nicht

gerade

als

leidenschaftlich demokratischer

Denker

gilt.

Und

doch

sind

die Beweggründe von

Popper,

sich

gegen

Platon

zu

stellen,

grund¬

sätzlich

dieselben,

die

Heidegger

in

seiner

Polemik

gegen

die

Metaphy¬

sik

leiten,

die

-

wie

er

zu

Beginn

des

eben

angeführten

Vortags

schreibt

-

nichts

anderes

als

Platonismus

ist,

von der Antike bis

hin

zu

Kant,

Hegel

und

Nietzsche. Wenn

wir nun

Poppers

Ausdruck

der

„offenen

Gesellschaft“

durch

Heideggers Begriff

des

„Ereignisses“

ersetzen,

ver¬

raten

wir weder

Poppers

noch

Heideggers Intentionen,

auch

wenn

wohl

keiner der

beiden

mit

dieser kleinen

hermeneutischen

Gewalttätigkeit

einverstanden

wäre.

Popper

hält Platon

für

einen

gefährlichen

Feind

der

offenen

Gesell¬

schaft,

weil dieser

eine essentialistische

Auffassung

der

Welt

vertritt:

Alles,

was

wirklich

ist,

gehorcht

einem Gesetz,

das als

Struktur

des

Seins

gegeben

ist,

und

die

Gesellschaft

braucht

nichts

anderes zu

tun

als

sich

dieser

Wesensordnung

anzupassen.

Da

es

die

Philosophen

sind,

welche

diese

Wesensordnung

kennen,

muß

ihnen

die

Führung der

Ge-

1

Eine

erste

Version dieses

Textes

wurde

im August

200)

beim

Weltkongreß

für

Philo¬

sophie

in

Istanbul

präsentiert.

1

Martin

Heidegger;

„Das

Ende

der

Philosophie

und die

Aufgabe

des

Denkens ,

in :

Zur

Sache

dei

Denkern,

Niemeyer

1969,

S. 61-80.

Page 6: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 6/12

Gianni

Vattimo

54

Seilschaft

überlassen

werden.

Die höchsten

Berater der

Herrschenden

zu

sein,

diese

Funktion,

die sich

die

Philosophen

 

oder

heute

die

Wissen¬

schaftler,

die

Techniker,

die

Experten

-

im

Verlaufe

der

Jahrhunderte

angemaßt

haben,

bleibt

eng an

die Grundüberzeugung gebunden:

daß

es

nämlich

für

das

Individuum und

für

die

Gesellschaft

immer

noch

um

eine

Übereinstimmung

mit

einer

objektiv

gegebenen

Ordnung

geht,

die

auch

als

einzig

mögliche

moralische

Norm

gilt.

Ein

modernes

Prinzip

wie

auctoritas,

non

veritas

,

facit

legem

wurde

stets

einer

rationalisti¬

schen

Kritik

metaphysischer

Prägung

unterzogen,

auch wenn

diese

von

den

besten

revolutionären

Absichten

geprägt

war.

Wo auch

immer

in der

Politik

die

Wahrheit

die

Bühne

betritt,

da

besteht

auch

die

Gefahr

des

Autoritarismus,

also

genau

jener

Geschlossenheit

gegen

die

Popper

in

seinem

Werk

anschreibt.

Nun

versteht

Heidegger unter

Metaphysik

genau

die

Auffassung

des

Seins

als

einer

objektiv

und

ein

für

allemal

gegebenen

Ordnung.

Das¬

selbe

warf

Nietzsche

Sokrates

vor;

er sah

in ihm

den Urheber

des

mo¬

dernen Zerfalls,

der

den

größten

tragischen

Geist der

Alten

getötet

hat.

Wenn

das

Sein

eine ein

für allemal

gegebene

Struktur

ist,

dann

ist

weder

die

Offenheit der

Geschichte noch

die

Freiheit

denkbar.

Natürlich

ist

eine

solche Sichtweise

beruhigender

als

eine

tragische,

die

am

Anfang

des

griechischen

Denkens stand. Doch

die Beruhigung

-

so könnten wir

hinzufügen

-

gilt

vor

allem

für

diejenigen,

die bereits

in

der

vorhande¬

nen

Ordnung

stehen und

die sie

genau

deshalb

rational und

ewigwäh¬

rend

begreifen.3

Ich

erinnere

daran,

daß

Heidegger

auf

den

ersten Seiten

des

bereits

zitierten

Vortrags

neben Platon

auch

Marxens

Namen

nennt,

und

zwar

als

denjenigen,

der schon vor Nietzsche die

Umkehrung der

Metaphysik

und

also

des

Platonismus vollzogen

hat. Ich will

damit

nicht

sagen,

daß sich

die

Kluft

zwischen

der

marxistischen

Umkehrung

und

jener

Überwindung,

an die

Heidegger

selbst

denkt,

überbrücken

ließe.

Doch

sicherlich

ist es

nicht

einfach

beliebig, wenn

wir

an

die

marxisti¬

schen

Vorstellungen über den Ursprung

der

Entfremdung

in

der

gesell¬

schaftlichen

Arbeitsteilung

denken,

wo

wir

mit

Heidegger

zu

begreifen

suchen,

warum

und

wie

sich

die Metaphysik

in

der

Geschichte unserer

Welt

so radikal festsetzen

konnte. Die

Diskussion

über

das

geschichtliche

oder

ewige Wesen der Metaphysik in

Heideggers

Denken lasse

ich

hier

beiseite;

denn

dies

würde

zu

Überlegungen

über

die

nie überwundene

 

Ich

denke hier

neben

Nietzsche

Buch

in Walter

Benjamin

und seine

Thesen

über

die

Geschichttphilosophic.

Page 7: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 7/12

Ist

Heidegger ein

Philosoph

der

Demokratie?

M5

und

womöglich

nie

überwindbare

Abhängigkeit

seines

Denkens

vom

bi¬

blischen Mythos

der

Ursünde

hin-

und also vom

Thema

wegführen.

Obgleich

der

Begriff

der

Metaphysik von

Heidegger

in

sehr

eigener

Weise

verwendet wird,

glaube

ich,

daß

der

Vergleich

mit

Popper,

so

pa¬

radox er auch

erscheinen

mag,

durchaus

zu klären

vermag,

in

welchem

Sinne

dieser

Begriff

auch

von einem

Großteil

der

zeitgenössischen

Phi¬

losophie

geteilt

wird.

Es

wäre

zweifellos

nicht

schwierig,

ihn

auch

bei

Wittgenstein

zu

entdecken4

sowie im Pragmatismus

und

im

Neoprag¬

matismus. Ich

weiß

sehr

wohl,

daß sowohl die

Fortsetzer

des

klassischen

Denkens

und der

Neoscholastik

als

auch die

Anhänger

jener

besonderen

Scholastik,

die

eine

gewisse analytische

Philosophie

darstellt,

in

über¬

einstimmender

Weise

von Metaphysik

sprechen

-

wobei

in

der

analy¬

tischen

Philosophie

Begriffe

wie

Ontologie oder Metaphysik

nur

auf

die

in

regionalen Ontotogien

verfestigten

Erkenntnisstrukturen

verweisen,

denen nunmehr jene

Elastizität

und

Geschichtlichkeit

fehlen,

die

sich

noch

im Transzendentalen Kants

und

sogar

Husserls

erkennen

ließen.

Aber wie dem auch

sei:

Es ist ziemlich

klar,

daß

zumindest

ein

Großteil

der

zeitgenössischen

Philosophie

Heideggers

Auffassung

der

Metaphy¬

sik als

Gleichsetzung des wahren

Seins mit

einer

beständigen,

objektiv

erkennbaren

und

normbegründenden

Struktur weitgehend

teilt

-

auch

und gerade

da,

wo

die

Metaphysik

auf theoretischer

Ebene

auf

Ableh¬

nung

stößt.

Gerade

ausgehend

von der

Ablehnung

der

so

verstandenen

Metaphy¬

sik

-

einer

Ablehnung,

die

je

nachdem

Nietzscheanische

und

Heideg-

gersche,

Wittgensteinsche,

Carnapsche oder Poppersche

Gründe

haben

mag

-

läßt

sich

mit

gutem

Recht die

Frage

nach

dem

Ende der

Philoso¬

phie im

Zeitalter

der

Demokratie

stellen.

Oder

besser:

Wenn

wir

über

Heidegger

und

Popper

hinausgehen,

können

wir

das

Ende der

Philoso¬

phie

im Sinne

der

Metaphysik

einfach

mit

der

praktischen

und

politi¬

schen

Bejahung

der

demokratischen

Regierungsform

gleichsetzen.

Wo

es

Demokratie gibt,

kann

es

keine

Klasse

von

Menschen

im Besitze

der

wahren Wahrheit

geben,

die

entweder

die

Macht

direkt

ausüben

-

die

neuen

Philosophen

Platons

-

oder

dem

Herrscher die

Regeln

für

sein

Regieren

vorschreiben.

Genau deshalb

-

ich

wiederhole

-

scheint

mir

der

Verweis

auf

Marx

auf

den ersten

Seiten

in Heideggers

Vortrag

sympto-

4

Ludwig

Wittgenitcin:

Tractatut

logico-philosophicitt.

Tagebücher

I9I4-J9I6

,

Philo-

tophitche

Untenuchungen,

Frankfurt«.

M.

i960,

S,

us

„Die

Wehm

alle«,

w**

der

Fall

Page 8: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 8/12

Gianni

Vattimo

J6

matisch.

Auf

eben

diesen Seiten ist die Rede vom

Ende

der

Philosophie

im

Sinne

der

Auflösung,

die sie aufgrund

der

Spezialisierung der

Ein*

zelwissenschaften

erleidet,

von

der Psychologie

über die

Soziologie

und

Anthropologie

bis

zur

Logik

und

Logistik

und

weiter

zur

Semantik und

Kybernetik,

die

wir

heute

Informatik

nennen.

Dabei

handelt es sich

keinesfalls

um

einen

abstrakten

Beweis. Dieje¬

nigen

unter

uns,

welche

Philosophie

an

den

Schulen

und Universitäten

unterrichten,

machen

die

Erfahrung

dieser

fortwährenden

Auflösung

der

Philosophie

jeden

Tag.

An den

Universitäten,

wo

neue

Kurse

der

Psycho¬

logie,

Anthropologie

oder der

Informationswissenschaften

eingeführt

werden,

sind

die

Einschreibungen für

Philosophiekurse

sichtlich

am

Schwinden.

Und

so

schwinden auch

die

für die

philosophischen

Studien

zur

Verfügung

gestellten Gelder.

Letztlich

ist

dies

wohl

alles

richtig

und

unvermeidlich,

wenn

auch

unangenehm

für

viele

von

uns

und vor

allem

für

unsere

Studenten.

Es

ist

jedenfalls

ein sehr konkreter

Aspekt

vom

Ende

der

Philosophie

,

einem

Ende,

das nicht

unmittelbar

mit der

Demokratie

zusammenzuhängen

scheint,

sondern

bloß mit

der

wachsenden

Eigen¬

ständigkeit

der

Humanwissenschaften.

Doch entspricht

es

-

und

darauf

weist auch

Heidegger hin

-

der wachsenden Macht

und

dem wachsenden

sozialen

Prestige

der

Spezialisten, die

von

einer immer stärkeren wissen¬

schaftlichen

Kontrolle der

verschiedenen

Aspekte

des Zusammenlebens

begleitet

werden.

Wenn

man

all

dies

in

Betracht

zieht,

so

sieht

man

auch,

daß das

Ende der

Philosophie

eine

Leere

hinterläßt,

welche

die

demokra¬

tischen

Gesellschaften

unmöglich

nicht

zur

Kenntnis nehmen

können.

Auf

der

einen Seite

ist die Philosophie

im

Sinne

der

Herrschaftsfunktion

der

Gelehrten

in

der Regierung

der

Polis tot und

begraben.

Wie

der

Titel

von

Heideggers

Vortrag

andeutet,

der von einer

„Aufgabe

des

Denkens“

nach

dem

Ende

der

Philosophie-Metaphysik

spricht,

bleibt

aber

auf

der

anderen

Seite

das spezifisch

demokratische

Problem,

wie

sich

vermeiden

läßt,

daß

die

Autorität

der

neuen

Philosophen einfach

durch

die

unkon¬

trollierbare

Macht

der

Techniker

in

den verschiedenen

Bereichen

des

ge¬

sellschaftlichen

Lebens

ersetzt

wird. Es

handelt

sich

dabei um

eine

noch

gefährlichere

Macht,

weil

sie

heimtückischer,

das

heißt

besser

verteilt

und

weniger

faßbar

ist. Die

revolutionäre

Absicht,

das

Herz

des

Staates

zu

treffen,

wird

nachgerade

unsinnig,

weil

die

Macht

objektiv

auf

die

vielen

Zentren

verteilt

ist,

welche

die

verschiedenen

Spezialisierungen betreiben.

Um

eine

psychiatrische

Metapher

zu

benutzen: Es

besteht

die

Gefahr,

eine

schizophrene

Gesellschaft

zu

konstruieren,

in

der

sich

früher

oder

später

eine

neue

höchste

Macht

durchsetzt,

die Macht der

Ärzte,

der

Kranken-

Page 9: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 9/12

Ist Heidegger

ein

Philosoph

der

Demokratie?

Wärter,

der

Zwangsjacken

und

der

Fesselbetten.

Versuchen

wir

also den

Titel

von Heideggers

Vortrag

so

zu

ändern:

Das

Ende

der

Philosophie

in

den

demokratischen

Gesellschaften

und

die

 

politische

)

Aufgabe

des

Den¬

kens.

Die

Herrschaftsrolle

des

Philosophen

ist am

Ende, weil

die

Zeit

der

Herrscher

am

Ende

ist.

Es

ist

nicht einfach

zu

sagen,

ob

diese

Enden

in

einem

Ursache-

und

Wirkungsverhältnis

zueinander

stehen.

Wie

Marx

würde auch

Heidegger

sagen,

daß

das Ende der

Metaphysik

und folglich

die

Souveränitätsansprüche

der

Philosophie

keine

Angelegenheit

ist,

die

sich

vor

allem

durch

die

Philosophen

vollzogen

hat.

Gewiß,

für ihn

ist

dies alles

ein

Ereignis

des Seins,

dem

der

Philosoph

nur

entsprechen

muß.

Aber wie

man

sieht,

stellt sich

die

Differenz

zu

Marx

als sehr

relativ

her¬

aus: Wo

spricht

das

Sein,

dem

der

Philosoph

entsprechen

muß?

Gewiß

nicht

in

der

ökonomisch

materiellen

Struktur der

Gesellschaft

oder

nicht

ausschließlich

in

dieser. Aber

Heideggers

Aufruf,

sich

nicht

mit

der

»vor¬

handenen

Gegenwärtigung

des

Anwesenden“5

zufrieden

zu geben,

erin¬

nert

-

und

zwar

nicht

nur

oberflächlich

-

an Marxens

Ideologiekritik,

an die

Schule des

Verdachts

,

die

zum

Beispiel

in

einem

Spruch

Brechts

zum

Ausdruck

kommt:

„Cio

che

accade

sempre,

non

trovatelo

normale.“6

Auch

die

Möglichkeit für

uns,

einigermaßen unerhörte

Deutungsversuche

zu

formulieren,

die

noch

vor

dreißig

Jahren

nicht einmal denkbar

gewe¬

sen

wären,

indem

wir eine

Nähe

zwischen

Poppers

offener

Gesellschaft

und

Heideggers

Ende

der Metaphysik

herstellen,

diese Möglichkeit

läßt

sich nicht

einfach auf

irgendeinen philosophischen

Einfall

zurückführen,

sondern

ist,

wenn

sie denn

Gültigkeit

hat,

eine

Antwort auf neue

Bedin¬

gungen

unseres

Zeitalters. Verglichen

mit der

Zeit,

in der

sich

Popper

und

Heidegger

situierten,

ist

die

heutige

Welt auf

dem

Weg der

wissenschaft¬

lichen

Integration

und

Rationalisierung

viel

weiter

fortgeschritten.

Aus

diesem

Grunde

ist

das

Ende

der

Philosophie

eine

klarer

sichtbare

und

all¬

gemeine

Tatsache,

sowohl

im

Sinne

ihrer

Auflösung in die

Einzelwissen¬

schaften

als

auch

im

Sinne

der

Leere,

die sie

in

der

Demokratie

hinterläßt.

Indem

wir

die Behauptung

einer

Nähe

zwischen

Heidegger

und

Popper

aufstellen,

entdecken

wir

keine

tiefere

Wahrheit,

denn

dies

wäre in der

Tat

noch

eine

Form des

metaphysischen Denkens

mit

Absolutheitsansprü¬

chen.

Wir entsprechen

beziehungsweise

antworten

vielmehr

auf

das,

was

157

1

Martin Heidegger:

„Das

Endeder

Philosophie

und

die Aufgabe

des

Denkens“,

in : Zur

Sache

des

Denkens

,

Niemeyer

1969,

S.

61-80,

hier: S.

78 .

 

Freie

Übersetzung

von

Gianni

Vattimo:

„Was

immer

geschieht,

ist

deshalb

noch

lange

nicht

normal.“

Page 10: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 10/12

 ilsmil

Vsttlmo

geschieht,

auf

das

Ereignis,

such

im

spezifisch

I

leidcggcrichcn

Sinne

des

Begriffs.

Die

Aufgabe

des

Denken»

ln

dieser

Situation

-

wenn wir

uns

sowohl

auf

Heidegger

als

auch

auf Marx,

vielleicht

auch

auf

Popper

berufen

 

besteht

darin,

das

zu

denken,

was

in der

„vorhandenen

Gcgenwärti-

gung”

dessen,

was immer geschieht,

verborgen

bleibt.

Für

Marx

ist

das

die

dialektische

Konkretheit der

Verhältnisse,

welche

die

Ideologie

uns

verbirgt;

für

Heidegger

ist

dies

die

Wahrheit

als

AXiÿöna,

als

Unverbor¬

genheit,

als

Offenheit

eines Horizontes

oder

eines

Paradigmas,

der

die

Wahrheit

als

Übereinstimmung

mit

den

Sachen,

als

Verifikation

oder

Falsifikation

von

Aussagen

erst

möglich

macht.

Natürlich

kann

Popper

auf

diesem

weiteren

Schritt nicht

begleiten,

weil

die

Anspielung

auf

Marx

oder

auf ein

Verborgenes,

das

cs

zu

denken

gilt, uns

von

der

Vorstellung einer

offenen Gesellschaft

allzu weit zu

entfernen

scheint.

Es

würde

zu viel Zeit

beanspruchen

zu

zeigen, daß

indessen

die

Nähe

zu

Heidegger

und

Marx

in

den

von mir

gebrauchten

Begriffen

noch

immer

gültig

ist. Lassen

wir

Popper

deshalb der

Einfachheit

beiseite.

Die

Annäherung von

Marx

und

Heidegger,

die

letzterer im

Vortrag,

den

ich

kommentiere,

selber

andeutet,

bleibt

jedoch

entscheidend.

Al¬

lein:

Ist es

möglich, von der

verborgenen

dXiÿBeta

zu

sprechen,

auf

die

Heidegger

anspielt, als wäre

es

Marxens

Konkretheit

der

ökonomisch¬

gesellschaftlichen

Verhältnisse?

Anders

gesagt:

Die

Aufgabe

des

Den¬

kens

nach dem

Ende

der

Philosophie,

wenn

die

Philosophen

nicht

mehr

einen privilegierten

Zugang

zu

den Ideen

und

Wesenheiten

zu

haben

glauben,

der

sie

instand

setzt,

zu

regieren

oder dem

Herrscher

Normen

an die

Hand

zu geben

-

wie

gestaltet sich

in

dieser

Situation

die

Aufgabe

des

Denkens?

Wenn

wir

bloß

Marx

folgten,

würden

wir

zu

einer

rati¬

onalistischen

und

historischen

Metaphysik zurückkehren,

wo

den

Phi¬

losophen

die

Aufgabe

zufällt,

die

endgültige

Wahrheit

der

Geschichte

auszudrücken,

die

allein

der

ausgebeutete

Proletarier

erkennt

und

mit

der

Revolution

verwirklicht.

Auch Marx

vermochte

im

Grunde

das

Sein

wirklich

als

Ereignis

zu begreifen;

und

deshalb

hat Popper

Recht,

wenn

er

ihn als

Feind

der

offenen

Gesellschaft

betrachtet.

Wenn

wir

hingegen

bloß

Heidegger

folgten,

würden wir

uns

jene

„grundlose

Mystik“,

in

jene

„schlechte

Mythologie“,

in

jenen

„verderblichen

Irrationalismus“

verstricken,

die

er

selbst

als

Gefahr für seine

Haltung

ansah.7

uns

7

Vgl.

Martin

Heidegger:

„Da»

Ende

der Philosophie

und

die

Aufgabe

des

Denkens ,

in :

Zur Sache

dei

Denkern,

Niemeyer

1969,

S.

6l-8o.

Page 11: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 11/12

Ist

Heidegger

ein

Philosoph

der

Demokratie?

Um

diesen

Gefahren

zu

entgehen,

die

nicht

nur

für

Heidegger,

son¬

dern

für

einen

Großteil

der

heutigen

Philosophen

bestehen

-

jedenfalls

für

jene

Philosophie,

die

es

ablehnt,

zu

einem

bloßen

mehr oder

minder

oberflächlichen

Anhang

der

Humanwissenschaften

oder

der

Wissen¬

schaften

überhaupt

zu

werden

-

gilt

es einen Schritt

nach

vorne

zu

ma¬

chen auf dem

Weg

jener

„Urbanisierung

der

Heideggerschen

Provinz ,

wie

er,

nach

einer

bekannten

Formulierung

von

Jürgen

Habermas,

von

Hans-Georg

Gadamer

eingeschlagen

wurde.

Eine

solche

Urbanisierung

setzt

voraus,

daß

sich

Heidegger

von

der

„grundlosen

Mystik“

befreit

und die

Berufung

auf

Marx

jenseits

seiner

Intentionen

ausarbeitet.

Im

Vortrag

„Der

Ursprung des

Kunstwerkes“ GA

5,

1--74 8

hatte

Heideg¬

ger

auf die

verschiedenen

Weisen

hingewiesen,

in

denen

Wahrheit

ge¬

schieht,

nicht

nur

in

der

Kunst,

sondern

auch in

der

Religion,

der

Ethik,

der

Politik,

im

„Fragen

des

Denkens“

(GA

5,

49).

Diese

Winke

blieben

in

seinem

Denken

unausgeführt.

Im Übrigen

geht

es

mir

aber

nicht

darum,

seiner

Lehre mehr

oder

weniger

treu

zu

sein,

sondern

Lösungswege

für

unsere

Frage nach der

Aufgabe

und

der

Zukunft

der

Philosophie

nach

ihrem

Ende

zu

suchen. Im

Zeitalter,

in dem

Metaphysik

an

ihr

Ende

gelangt

ist,

können

wir

nicht

mehr

wie

Heidegger

das

Ereignis

des

Seins

in jenen

privilegierten

Augenblicken

suchen,

denen

er

stets

besondere

Aufmerksamkeit

zuwandte:

in

den

großen

Werken

der Dichtung,

in den

stiftenden

Worten

wie

dem

Spruch des

Anaximander,

dem

Gedicht

von

Parmenides

oder

den

Versen

von Hölderlin. Diese

Texte funktionieren

immer

noch als

Wesenheiten, als

platonische

Ideen,

die allein

die

Phi¬

losophen

zu

erkennen

vermögen

und die

aus

ihnen

noch einmal

herr¬

schaftliche

Stimmen

machen.

Im

Zeitalter

der

Demokratie

is t das

Ereignis

des

Seins,

dem

sich das

Denken

zuwendet,

vielleicht

etwas

viel

Weiteres und

weniger

Bestimm¬

tes

vielleicht

etwas der Politik

Näherstehendes.

Der

einzige

Begriff, der

uns das

Ereignis

zu

denken

erlaubt,

ist

ein

Ausdruck

des

späten Fou¬

cault,

den

wir hier

in

einem

eigenen Sinne

wiederaufnehmen:

Ontologie

der

Aktualität.

Das

Ereignis

 des

Seins ,

dem

zu

entsprechen

die

Auf¬

gabe

des

Denkens

ist,

ist

im Zeitalter

der

Demokratie

die Art

und

Weise,

wie

das

Sein

in der kollektiven Erfahrung

immer

mehr

Gestalt

annimmt.

Das

Verborgene, das dazu

neigt,

sich

in

Spezialisierungen

der

Wissen-

*59

 

Martin

Heidegger:

„Der

Ursprung

des

Kunstwerkes

in:

Hohu egt,

Ge¬

samtausgabe

Band

j

Hrsg,

von Friedrich-Wilhelm

von

Herrmann,

Frankfurt

a.

M.

• 977

Page 12: Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

7/25/2019 Gianni Vattimo - Ist Heidegger ein Philosoph der Demokratie

http://slidepdf.com/reader/full/gianni-vattimo-ist-heidegger-ein-philosoph-der-demokratie 12/12

Gianni

Vattimo

60

schäften

zu

entliehen,

ist das

öv

 

öv, das

Sein

ais

solches,

die

Gesamt¬

heit

der

individuellen

und sozialen

Erfahrung,

die

der

technologischen

Schizophrenie

und dem daraus

folgenden

Rückfall

in

den

Autoritaris-

mus

entzogen

werden

muß.

Hier

von

Ontologie

zu sprechen

und

diese

Aufgabe

-

noch

einmal

-

den nicht

mehr

herrschaftlich

veranlagten

und

nicht

mehr

im

Dienste

der Herrscher

stehenden

Philosophen

anzuver¬

trauen,

bedeutet

gewiß,

eine

neue

und

noch

näher

zu

bestimmende

Rolle

des

Intellektuellen

zu

imaginieren,

eines

Intellektuellen,

der

weder

ein

Wissenschaftler

noch

ein

Techniker

ist,

sondern

dem

Priester

oder

dem

Künstler

näher

steht:

einem Priester

ohne

Hierarchie

freilich

und

viel¬

leicht einem

Straßenkünstler. Weniger

phantasievoll

gesagt: Wir

können

an

eine

Gestalt

denken,

die sehr viel

mit

der Geschichte

und

der

Politik

zu

tun

hat;

an einen,

der

Ontologie

betreibt,

indem

er

gegenwärtige

und

vergangene

Erfahrungen

miteinander

verknüpft

und

eine

Kontinuität

herstellt,

worin

der

grundlegende

Sinn des

Begriffs

Xöyo«;

besteht.

Unter

Kontinuität verstehe

ich

auch

eine

Kontinuität

in

der

Gemeinschaft,

indem

der neue Intellektuelle

zur

Bildung stets

neuer

Verständigungs¬

weisen

beiträgt.9

Hat all das

wirklich

mit

dem

Sein

zu tun?

So könnte

man

fragen.

Wir

antworten:

Aber

ist

das Sein

vielleicht

etwas

Anderes,

etwas Tieferes

und

tiefer

Verborgeneres

als sein Ereignis

?

 

Noch

einmal

ein

Verweil auf

Habcrmai:

der

Philoaoph

all

Dolmetscher.