Giebel Naemi Neumeier Benjamin Philipp Sebastian · Paulo und Rio de Janeiro. ... PERNAMBUCO PARAN...

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1 URBANISIERUNG UND STADTENTWICKLUNG IN BRASILIEN Giebel Naemi Neumeier Benjamin Philipp Sebasan Die Lebenssituaon in Brasiliens Städten spitzt sich seit den 1960er Jahren immer mehr zu. Durch das rasante Stadtwachs- tum kam es zu immensen Problemen der Sozial- und Infrarstruktur. Die Verstädterung des Landes schreitet steg voran, annähernd 80% der Bevöl- kerung leben in Städten. Rund 26 Mio. Menschen leben in den Megastädten São Paulo und Rio de Janeiro. Hier stehen sich Gewinner und Verlierer der sozioökono- mischen Transformaonsprozesse direkt gegenüber. Die soziale Polarisierung, durch Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäſtigung, scheint nicht aufzuhalten zu sein. Seit 1980 wird mit verschiedenen Pro- grammen der Städte und des Staats ver- sucht die prekäre Situaon zu Verbessern. Im Folgenden werden Ansätze und Umset- zung der Programme in Rio de Janeiro und São Paulo vorgestellt und erläutert. Die föderave Republik Brasilien, ist flächenmäßig mit 8,5 Mio. km 2 der fünſt- größte Staat der Erde und nimmt 47% der Fläche Südamerikas ein. Es leben ca. 191 Mio Menschen in Brasi- lien, daraus lässt sich eine Bevölkerungs- dichte von 22,5 EW pro km 2 berechnen. Dass diese Zahl ein rein stasscher Durchschni ist zeigt der Blick auf die Bevölkerungsdichte der Städte, diese liegt bei etwa 6500 EW pro km 2 . (Im Vergleich Berlin, 3.800 EW pro km 2 ) Staatsoberhaupt und Regierungschef der präsidialen Bundesrepublik ist derzeit Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Sein Anliegen ist es gegen die Brutstäen der Gewalt vorzugehen. Dafür stellt der Staat jährlich mehrere 100 Mio € bereit. RIO DE JANEIRO SÃO PAULO Die Urbanisierung begann um 1960 mit der Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte und die Abwanderung in den industriellgeprägten Süden des Landes, vermehrt in die Ballungszentren von São Paulo und Rio de Janeiro. Brasilien wandelte sich von einem agra- risch geprägten, in einen durch städsche Gesellschaſt dominierten Staat. Heute zählt das Land zu den am meisten verstädterten Gebieten Südamerikas. Es leben etwa 80% der Bevölkerung in Städ- ten. Durch das hohe Wachstum entstanden Probleme der Infrarstruktur. Durch den Einfluss der weltweiten Globalisierung und der damit verbundenen Spezialisierung der Berufsgruppen wird die Kluſt der Ge- sellschaſtsschichten immer größer. Durch Arbeitslosigkeit, Armut und Woh- nungsnot entanden immer mehr informel- le Siedlungen in den Stadtgebieten, die sogenannten favelas. Als Gegenbewegung dazu schuf sich die Oberschicht eigene Rückzugsgebiete in Form von gated communies, überwach- te, geschützte Bereiche, und ganze Städte. 100 65 25 96 87 59 93 70 40 86 44 22 79 44 13 78 37 13 78 40 16 74 45 25 73 33 0 69 39 29 68 30 17 62 32 18 54 40 21 52 34 15 Porto Alegre Curitiba Rio de Janeiro Belo Horizonte Campo Grande Goiâna Brasília Manaus São Luís Teresina Fortaleza Natal João Pessoa Recife Maceió Salvador 0 250 500 1000 km São Paulo: 9,8 Mio. Rio de Janeiro: 5,6 Mio. 1 - 2,2 Mio Ew. 500.000 - < 1 Mio. Ew. 250.000 - < 500.000 Ew. weit überdurchschnittlich überdurchschnittlich unterdurchschnittlich weit unterdurchschnittlich Bevölkerungsdichte (Ew. pro qkm): Jährl. Zuwachsrate der Bev. 1991-96: < 10 10 - 30 30 - 65 65 - 100 137 > 300 Belém Jaboatão São Paulo Nova Iguaçu Duque de Caxias São Gonçalo Anteil urbaner Bevölkerung in % Grad der Vergroßstädterung Metropolisierungsgrad 1 2 3 4 5 1 2 3 4 5 AMAZONAS MATO GROSSO PARÁ RONDÔNIA ACRE RORAIMA AMAPÁ TOCAN- TINS BAHIA MINAS GERAIS MARANHÃO PIAUÍ CEARÁ RN PA PE AL SE GOIÁS ES PR SC RS SC RS PR ES SE AL PE PA RN ALAGOAS ESPÍRITO SANTO PARAÍBA PERNAMBUCO PARANÁ RIO GR. DO NORTE RIO GRANDE DO SUL SANTA CATARINA SERGIPE Osasco Campinas Guarulhos Santo André São Bernardo do Campo MATO GR. DO SUL Verstädterung und Städtenetz in Brasilien 1996

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URBANISIERUNG UND STADTENTWICKLUNG IN BRASILIENGiebel NaemiNeumeier Benjamin Philipp Sebastian

Die Lebenssituation in Brasiliens Städten spitzt sich seit den 1960er Jahren immer mehr zu. Durch das rasante Stadtwachs-tum kam es zu immensen Problemen der Sozial- und Infrarstruktur.

Die Verstädterung des Landes schreitet stetig voran, annähernd 80% der Bevöl-kerung leben in Städten. Rund 26 Mio. Menschen leben in den Megastädten São Paulo und Rio de Janeiro. Hier stehen sich Gewinner und Verlierer der sozioökono-mischen Transformationsprozesse direkt gegenüber. Die soziale Polarisierung, durch Armut, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, scheint nicht aufzuhalten zu sein.

Seit 1980 wird mit verschiedenen Pro-grammen der Städte und des Staats ver-sucht die prekäre Situation zu Verbessern.Im Folgenden werden Ansätze und Umset-zung der Programme in Rio de Janeiro und São Paulo vorgestellt und erläutert.

Die föderative Republik Brasilien, ist flächenmäßig mit 8,5 Mio. km2 der fünft-größte Staat der Erde und nimmt 47% der Fläche Südamerikas ein.Es leben ca. 191 Mio Menschen in Brasi-lien, daraus lässt sich eine Bevölkerungs-dichte von 22,5 EW pro km2 berechnen.Dass diese Zahl ein rein statistischer Durchschnitt ist zeigt der Blick auf die Bevölkerungsdichte der Städte, diese liegt bei etwa 6500 EW pro km2.(Im Vergleich Berlin, 3.800 EW pro km2)

Staatsoberhaupt und Regierungschef der präsidialen Bundesrepublik ist derzeit Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Sein Anliegen ist es gegen die Brutstätten der Gewalt vorzugehen. Dafür stellt der Staat jährlich mehrere 100 Mio € bereit.

RIO DE JANEIROSÃO PAULO

Die Urbanisierung begann um 1960 mit der Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte und die Abwanderung in den industriellgeprägten Süden des Landes, vermehrt in die Ballungszentren von São Paulo und Rio de Janeiro.Brasilien wandelte sich von einem agra-risch geprägten, in einen durch städtische Gesellschaft dominierten Staat.

Heute zählt das Land zu den am meisten verstädterten Gebieten Südamerikas. Es leben etwa 80% der Bevölkerung in Städ-ten.Durch das hohe Wachstum entstanden Probleme der Infrarstruktur. Durch den Einfluss der weltweiten Globalisierung und der damit verbundenen Spezialisierung der Berufsgruppen wird die Kluft der Ge-sellschaftsschichten immer größer.Durch Arbeitslosigkeit, Armut und Woh-nungsnot entanden immer mehr informel-le Siedlungen in den Stadtgebieten, die sogenannten favelas.Als Gegenbewegung dazu schuf sich die Oberschicht eigene Rückzugsgebiete in Form von gated communities, überwach-te, geschützte Bereiche, und ganze Städte.

sind (vgl. Abb. 2). Dementsprechend großist die Konzentration an Städten über250 000 Einw. Dabei liegen die in der Karteausgewiesenen Städte > 500 000 Einw. mitAusnahme des 80 km von São Paulo ent-fernten Campinas innerhalb der jeweiligenMetropolitanregionen. Die ebenfalls zu die-ser Großregion gehörenden Staaten MinasGerais und Espírito Santo sind bis auf denGroßraum Belo Horizonte weiterhin vorwie-gend agrarwirtschaftlich ausgerichtet, mitentsprechender Bedeutung des ländlichenRaums als Siedlungsgebiet.

Auch in Nordostbrasilien ist die Ver-großstädterung bereits weit vorangeschrit-ten, was sich ebenfalls in einer großen Zahlan Metropolen bzw. Millionenstädten äu-

ßert (vgl. Abb. 2). Fast jeder der verhältnis-mäßig kleinen Bundesstaaten – Ausnahme:Bahia mit 12,5 Mio. Einw. (1996) – verfügtüber eine eigene Metropole, nur die Haupt-stadt Sergipes, Aracaju, verfehlt mit428 000 Einw. noch diesen Status. Im Ge-gensatz zum Südosten liegt jedoch der Me-tropolisierungsgrad im Nordosten bei nur21,5 %, und ein relativ großer Teil der Bevöl-kerung lebt in kleineren Siedlungen, so daßder Gegensatz zwischen den großen Metro-polen an der Küste und dem ländlichen,meist noch stark traditionell geprägt Lan-desinneren auch weiterhin als charakteri-stisch gelten kann und mit der fortschrei-tenden Modernisierung einzelner Großräu-me sogar noch verstärkt wird.

Unter Einbeziehung der drei anderenGroßregionen, des Nordens (mit den Bun-desstaaten Amazonas, Roraima, Amapá,Pará, Acre, Rondônia und Tocantins; vgl.Abb. 2), Mittelwestens (Mato Grosso, MatoGrosso do Sul, Goiás und Distrito Federalmit Brasília) sowie Südens (Paraná, SantaCatarina und Rio Grande do Sul) ergibt sichinsgesamt folgendes Bild des aktuellenStädtesystems:� Der Hauptsiedlungsraum liegt seit derKolonialisierung an der Küste, wobei jedochim 20. Jh. eine Verlagerung des Schwer-punkts von Norden nach Süden stattgefun-den hat, die sich in der aktuellen Dominanzdes Raums São Paulo–Rio de Janeiro–BeloHorizonte ausdrückt.

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São Paulo: 9,8 Mio.

Rio de Janeiro: 5,6 Mio.

1 - 2,2 Mio Ew.

500.000 - < 1 Mio. Ew.

250.000 - < 500.000 Ew.

weit überdurchschnittlich

überdurchschnittlich

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weit unterdurchschnittlich

Bevölkerungsdichte (Ew. pro qkm):

Jährl. Zuwachsrate der Bev. 1991-96:< 10

10 - 30

30 - 65

65 - 100

137

> 300

Belém

Jaboatão

São Paulo

NovaIguaçu

Duque de CaxiasSão Gonçalo

Anteil urbaner Bevölkerung in %

Grad der Vergroßstädterung

Metropolisierungsgrad

1

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AMAZONAS

MATO GROSSO

PARÁ

RONDÔNIA

ACRE

RORAIMA

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MINAS GERAIS

MARANHÃO

PIAUÍ

CEARÁRN

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ESPÍRITO SANTO

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RIO GR. DO NORTE

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SANTA CATARINA

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Abb. 2: Verstädterung und Städtenetz in Brasilien 1996Die Angaben zur Bevölkerungszahl der Städte beziehen sich nur auf die Kernmunizipien; Angaben zur Verstädterung nur für Bundesstaaten mit mehr als 3 Mio. Einw. 1996;Grad der Vergroßstädterung: Anteil der Bevölkerung in Städten > 100 000 Einw. 1996; Metropolisierungsgrad: Anteil der Bevölkerung in Städten > 500 000 Einw. 1996Quelle: Eigener Entwurf nach IBGE 1997

Verstädterung und Städtenetz in Brasilien 1996

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Der Begriff „Favela“ wurde im Rio de Janeiro des ausgehenden 19. Jahrhun-derts geprägt. 1897 errichteten ehemalige Söldner, die im Krieg von Canudos in Bahia gegen Aufständische gekämpft hatten, eine Hüttensiedlung auf dem „Morro da Providência“ unweit des Kriegsministeri-ums, um die von der Regierung verspro-chene Landvergabe einzufordern. Ihren besetzten Hügel nannten sie „Morro da Favela“.In den Jahren von 1902 bis 1906 wurde das Zentrum Rio de Janeiros mit dem Ziel der Schaffung einer modernen Hauptstadt für die neugegründete Republik radi-kal umgestaltet, was zur massenhaften Zerstörung preiswerter Mietwohnungen führte. Der Großteil der vertriebenen Be-völkerung begann die über das Stadtgebiet verstreuten Hügel („morros“) zu besetzen, womit der Beginn des Favelawachstums in Rio de Janeiro markiert wurde.Seit der Entstehung der ersten Favelas schwankt die Politik der brasilianischen Regierung sowie der zuständigen Stadtre-gierungen zwischen Aussiedlungsbemü-hungen auf der einen und Hilfsangeboten zur Verbesserung der Infrastruktur für die Bewohner auf der anderen Seite.Die Militärdiktaturen von 1964 bis 1979

versuchten, durch zum Teil gewaltsame Umsiedlungsprogramme eine Zurückdrän-gung dieser urbanen Siedlungsräume zu erreichen, was jedoch scheiterte. Ab 1983 wurden erste Schritte zur Aufwertung der Favelas unternommen. Mittlerweile leben 20 – 40% der brasilianischen Bevölkerung in den wichtigsten Städten in Favelas.

Strukturmerkmale der FavelasAls Illegale, durch Landbesetzungen ent-standene Siedlungen haben die Favelas keinen rechtlichen Anspruch auf Ver-sorgung mit grundlegenden städtischen Dienstleistungen. Deshalb gibt es in den meisten Favelas, zumindest in den ers-ten Jahren ihrer Entstehung, nur selten fließendes Wasser, Kanalisation und keine befestigten Straßen. Ein weiterer Problem-bereich der Favelas ist das Fehlen sozialer Einrichtungen, wie Kindergarten, Schule, Krankenhaus usw.

Rio de Janeiro

- zweitgrößte Stadt und Zentrum Brasiliens- ca. 11 Mio. Einwohner- Einwohnerdichte 4640 EW pro km2Aufgrund der besonderen topographi-schen Situation ballt sich die Bevölke-rung Rio de Janeiros auf eng begrenzten Flächen zusammen. Raum für den Bau neuer Häuser gibt es nur in weiterer Ent-fernung vom Stadtzentrum. Die fast sechs Millionen Einwohner in der Stadt leben auf einer Fläche von nur 1.200 Quadrat-kilometern, die von drei Bergketten mit einer Höhe von bis zu 1000 m durchzogen wird. Begrenzt wird die Stadt von einem Seengebiet im Süden und der Küste des Atlantiks im Osten und Süden. Räumlich betrachtet teilt sich die Stadt in eine Süd- / Nord- / West- und eine zentralle Zone.Momentan leben fast 30% von Rio de Janeiros Bevölkerung in mehr als 1.550 informellen Siedlungen.

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Programme in Rio de Janeiro

Im Folgenden stellen wir einige Program-me und laufende Maßnahmen in Rio de Janeiro vor, die zur Verbesserung der Lebensbedingungen in Favela-Sieldlungen beitragen.Bereits seit 1980 konnte die Stadtverwal-tung Sanierungsprogramme durchführen. Das wirkungsvollste und umfangreichste Programm ist jedoch das Favela-Bairro-Programm.

Das Favela-Bairro-Programm

Das Programm basiert auf fünf wesentli-chen Grundsätzen, die hier verschmelzen, um nicht länger eine Addition verschiede-ner, kleiner „Baustellen“ zu sein, sondern ein tiefer durchdachtes Bild darzustellen.Die Favela wird gezielt mit den Nachbar-vierteln, den Bairros, vernetzt.

‚Ausgangspunkt des Favela-Bairro-Programms ’ sei die Anerkennung der Anstrengungen, die die Menschen mit niedrigem Einkommen bei der Errichtung ihrer Häuser unternommen ha-ben.’ Das Programm wolle ‚diese Bemühungen weiter fördern. Das erlaubt es zugleich, den geordneten Zugang zur Favela auszubauen.’

Die großen sozialen Differenzen sollen vermindert werden, die Favela soll in die Stadt integriert werden können und „die Situation des sozialen Ausgeschlossen-seins“ umgedreht werden. Die Favela kann und darf nicht mehr von der Stadt ignoriert werden – sie soll viel-mehr Teil des urbanen Raumes werden.Es geht bei dem Programm um mehr, als um die Summe seiner einzelnen Projekte.Als dritten Schwerpunkt möchte das Fave-la-Bairro-Programm die Koordination der verschiedenen städtischen Ämter fördern. Dies kann als Modell bei der Realisierung weiterer sozialer Programme dienen.Weiter werden hier Fachleute mit hinein-genommen, die von Außen neue, innovati-ve Ideen einbringen. Für einen speziellen Entwurfswettbe-werb (1994) wurden zum Beispiel Teams bestehend aus Architekten, Stadtplanern, Ingenieuren, Soziologen und Designern – welche nicht in der Stadtregierung sitzen – hinzugezogen. Die Experten haben die Basisfunktion des Projektes und gleich-zeitig sollen sich die Bewohner an den Entscheidungen beteiligen können.Als letzten Kernpunkt werden private Unternehmer für die staatlich geleiteten Projekte beteiligt.

Das technische Wissen der Firmen kann die Qualitätsstandards in der Favela-Auf-wertung eingebracht werden.Im Vergleich zu bisherigen Favela-Pro-grammen ist das Favela-Bairro-Programm „erstmals eine umfassende und nachhal-tige Verbesserung der Favelas in Rio de Janeiro“ und wurde bereits als „Modell für Aufwertungsprogramme international bekannt…“. Die fünf Prinzipien riefen auch das Interesse von andere Südamerika-nischen Staaten (Argentinien, Ecuador, Bolivien und Mexico) hervor.

‚Am wichtigsten ist vielleicht die positive Bot-schaft des Programms an andereRegierungsbehörden und an die Institutionen der Zivilgesellschaft. Sie signalisiert, dass es möglich ist, die Aufwertung von Favelas in An-griff zu nehmen – für Rio eine neue Hoffnung.’

Außer dem Favela-Bairro-Programm gibt es auch kleinere Programme der Secrete-ria Municipal de Habitação – der städ-tischen Wohnungsbehörde von Rio de Janeiro, die sich auf bestimmte Problem-schwerpunkte konzentrieren.

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Jorge Mario Jáuregui

(geb. in Argentinien)- stark politisch engagiert in Argentinien- musste 1978 wegen dem militärischen und politischen Staatsstreich das Land verlassen- in Brasilien wurde aus dem politisch technischen Kämpfer ein technisch politisches Subjekt, aus dem politischen Kämpfer wurde einer für Architektur und Städtebau.- arbeitete an verschiedenen „Favela-Bair-ro“ - Programmen mit- 2003 wurde Jorge Mario Jáuregui mit dem „Veronica Mario Green Prize in Urban Desgin“ ausgezeichnet, einem Preis, der bisher nur an Architekten für herausragen-de Einzelbauten verliehen wurde. Er aber bekam ihn für ein Projekt mit einer enor-men sozialen und politischen Bedeutung, für die Urbanisierung von Favelas.Zitat: „In Favelas kann man alles verän-dern, nur nicht das, was für die Identifi-kation der Bewohner mit dem Ort wichtig ist: z.B. die Sambaschule oder Der Fußball-platz.

Projekt: Favela do Vidigal

Die Favela ist um einen leicht geschwun-genen länglichen Kernbereich angeord-net. Entlang einer rund einem Kilometer langen Strecke und angepasst an die landschaftlichen Gegebenheiten, ging es darum, eine Reihe funktionaler Elemente zu schaffen, die als Anlaufpunkte für die Bewohner dienen sollen.Auf dieser Stecke liegen zwischen dem Platz, der den Eingang zur Favela bildet und auf den die Avenida Niemeyer mün-det, und dem oberen Aussichtspunkt, wo die geplante Seilbahn enden soll, mehrere Sportanlagen, eine Sporthalle, öffentliche Plätze, ein Naturschutzgebiet, Wäscherei, Kindergarten, Berufsbildungszentrum usw. Jede dieser Einrichtungen bildet ein kleines Zentrum.Die Favela liegt inmitten eines Bezirks, in dem annähernd die höchsten Bodenpreise in der Südstadt von Rio de Janeiro gezahlt werden. Wegen dieser Lage und im Hin-blick auf ihre Geschichte wird die Favela „Vidigal“ durch kommunale Entwicklungs-maßnahmen in wenigen Jahren zu einer Sehenswürdigkeit und zu einem neuen Stadtbezirk Rio de Janeiros werden.

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Projekt: Complexo Manguinhos

- Masterplan- Infrarstrukturmaßnahme- Hochbahntrasse- Vernetzung- Innstädtische Grünflächen- öffentlich Einrichtungen- Wohnungsbau

Die Eisenbahnlinie, die bisher die Favela Manguinhos zerschnitt, soll nun auf sieben Metern hohen Betonpfeilern gestellt werden und an einen neuen Bahnhof andocken, der mehrere Linien miteinander verbindet. In dem Komplex soll eines der beliebtesten Einkaufszentren der Stadt entstehen.

Mit Baggern gegen RevolverIn Rio de Janeiro ist eines der größten Slum-Sanierungsprojekteangelaufen. Der brasilianische Staat will die Elendsviertel von den herrschenden Drogengangs befreien – und zwar ohneEinsatz von Gewalt. Die Betroffenen sind skeptisch.

Spiegel Spezial Nr.4 2008

Frank Möhr leitet das wohl ehrgeizigste Urbanisierungsprojekt Lateinamerikas, Manguinho, einem Elendsviertel in Rio. Der Arbeitsplatz ist ein Schlachtfeld, mannshohe Müllberge, Geier stöbern im bestialisch stinkenden Unrat, zwischen Knochenresten und leeren Plastikflaschen liegen Patronenhülsen, die Hauswände sind mit Einschusslöchern übersäet. Vor der Kneipe lungern schwerbewaffnete Männer mit Goldketten. Die Gangster gehören zum „komando Vermellio“ (Rotes Kommando), der mächtigsten Verbrecher-organisation von Rio. Fast täglich gibt es hier Tote – mal auf Seiten der traficantes, der Dealer, mal auf Seiten der Polizei. Möhrs Besuch ist angekündigt und mit dem Bürgermeister der Favela abgespro-chen. Er darf das Gelände vermessen und fotografieren, nur muss er aufpassen, dass die Drogenhändler nicht ins Bild geraten. (Spiegel Special; NR. 4 2008)Präsident Lula da Silva will die marode Infrastruktur verbessern und damit in den gefürchteten Brutstätten der Gewalt Flagge zeigen.Krankenhäuser, Kindergärten, Schulen und Parks lässt Lula bauen; Stadtfirmen legen Abwasserleitungen und teeren neue Straßen. Dabei beschäftigen sie Anwoh-

ner, etwa 1300 bezahlte Jobs winken den Favelados. (Spiegel Special; NR. 4 2008)„Mit der Sanierung der Slums will die Regierung die Herrschaft der Drogengangs brechen. Die Stadt muss die Favelas zu-rückerobern, bevor diese die Stadt ein-nehmen.“ (Spiegel Special; NR. 4 2008) Die Verbrecher überwachen von den Dächern und Terrassen der Favelas ihr Revier, hal-ten Ausschau nach der Polizei und rivali-sierenden Gangs. Ziele Mähers: ein Slum in ein normales Wohnviertel zu verwan-deln, den Favelados ein urbanes Zuhause zu geben; die Chance, aus verängstigten Slum – Bewohnern selbstbewusste Bürger zu machen. Außerdem offene Plätze und übersichtliche Straßen zu schaffen, in denen sich Verbrecher nicht verstecken können.Aber so Mäher: Stadtplanung zur Vor-beugung von Kriminalität funktioniert nur, wenn der Staat dauerhaft präsent ist. (Spiegel Special; NR. 4 2008)So ein Wunder passierte in Medellín, einer anderen Gemeinde in Rio. Aber dort kamen, bis endlich Ruhe herrschte, 200 Menschen ums Leben.Mäher begann seine Arbeit mit einer Rede: „ Ich bin hier, um Häuser zu bauen und Straßen anzulegen, vom Drogenkrieg

will ich nichts wissen!“ Jetzt lassen ihn die Drogenhändler in Ruhe, aber bei jedem Ortstermin wird er von mehreren Vereins-vorstehern begleitet. (Spiegel Special; NR. 4 2008)

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Projekt: Favela de Parque Royal

Archi 5 Arquitetos Associados

Im Gebiet der Einflugsschneise des Flugha-fens, liegt das Favela de Parque Royal, im Sumpfgebiet.

Mit einer Neubelebung des Uferstreifens und Schaffung Öffentlicher Einrichtungen, wurde eine Auflockerung der dichten Struktur geschaffen und eine Durchlässig-keit des Straßensystems erreicht.Die neuen zentralen Plätze und sozia-len Einrichtungen bieten Treffpunkte im Gebiet. Sport- und Freizeiteinrichtungen beiten den Bewohnern, vorallem Kindern neue Möglichkeiten.

São Paulo

São Paulo ist mit ca. 21 Mio. Einwohnern (Stand 2009) die sechstgrößte Metropol-region der Welt, nach Mexiko City und Buenos Aires.Ca. 6-8 Mio. Menschen leben hier in Slumsiedlungen, das entspricht etwa der Einwohnerzahl der Schweiz. Die Wohn- und Lebensformen in São Paulo sind sehrunterschiedlich – wo an elementaren Ein-richtungen gespart wird – in den Armen-vierteln – ist der Luxus in den wohlhaben-den Gegenden umso verschwenderischer.Die Infrastruktur in São Paulo ließ es schon in den 20er Jahren nicht mehr zu, dass sich der Stadtrand, die Peripherie, mit dem Zentrum verknüpfen lässt.

StadttypologieSão Paulo verfügt über eine 3-ecks To-pographie, wie ein Portugiesisches Dorf wird die Stadt durch 2 steile Abhänge begrenzt11, dadurch wird nur geringer Wachstum zugelassen.Mit der Kaffeeindustrie wachsen auch die Arbeitervorstädte an, Anfang des 20.Jahrhunderts wird eine Infrastruktur auf-gebaut: Strom, Bus, und eine Straßenbahn des kanadischen Konzerns Light. Doch in

den 20er Jahren reicht das Straßenbahn-netz nicht mehr bis zur Peripherie hin. Das Unternehmen investiert lieber in die wohlhabenden Stadtteile São Paulos, die Stadt lehnt einen Erweiterungsvorschlag der Bahn ab und baut stattdessen vorwie-gend motorisierte Wege.Die Folgen sind ein tägliches Unterfangen von 200 km langen Staus, einer versmog-ten City, 500 Hubschraubern für die Elite, die auf diesem Weg pünktlich zur Arbeit gelangen und abgeschirmten Vorstädten, die sich selbst überlassen bleiben: Favelas.Die Einwohner der Favelas sorgen folglich für ihren eigenen Städtebau, der flexibel und erweiterbar sein muss, immer den Anforderungen der wachsenden Familie angepasst.Das „spontane Bauen“ ist im Prinzip konst-ruktiv, da es sehr anpassungsfähig ist.Eine städtebauliche Struktur ist aber dringend notwendig, im folgenden Projekt wird eine Möglichkeit der Urbanisierung dargestellt.

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Urbanisierung der Favela Paraisópolis

Der Bezirk Paraisópolis besteht seit den 70ern und verfügt über ein Grid-artiges, früher errichtetes Straßensystem, das Gelände ist stellenweise sehr steil und die Hänge vom Abrutschen gefährdet. Ab-fall- und Abwässerentsorgung stellen ein ungelöstes Problem dar. Mit etwa 80. 000 Einwohnern befindet sich Paraisópolis inmitten eines exklusivViertels von São Paulo: Morumbi – Privat-villen, gated communities und moderneHochhäuser prägen hier das Bild. Die zwei kollidierenden Situationen ignorieren sich,formen eine duale Stadt.Der aus Uruguay stammende Architekt Héktor Vigliecca plant eine neue, räumli-che Hierarchie des Wegenetzes und setzt größere Gebäudevolumen ein, um Urbani-tät herstellen zu können.Das Ziel ist ein städtischer Erneuerungs-prozess der die vorhandene Struktur nicht zerstört. Das bestehende Straßennetz wird an das umgebende Verkehrsnetz ange-bunden, Orientierung wird durch neue Sichtachsen gewährleistet, öffentlicher Raum entsteht an den locker gesetzten Wohn- und Geschäftsriegeln.

Vier neue unterschiedliche Wohntypen passen sich den jeweiligen Umständen an:neue Zentren und urbane Knotenpunkte entstehen, Bauten für Berghänge, und dieTalsohle, Wohnbebauung für Abrissflä-chen.Das Projekt orientiert sich nicht an her-kömmlichen Wohnmodellen des sozialenWohnungsbaus, sondern passt sich den Gegebenheiten an – geht auf bestehendeBedürfnisse ein der Ausgangspunkt ist der „spontane Wille zur Verpflichtung gegen-über der Stadt“.

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Quellenangaben

FavelaMetropolis – Berichte und Projekte aus Rio de Janeiro und São Paulo, Elisabeth Blum, Peter Neitzke, Basel (Birkhäuser) 2004

TÓPICOS, Heft 3/2001, Aufwertung ganzer Stadtteile, Dr. Jürgen Dietz, S. 16-17

swiss-architects.com / magazin / gesquattet 20I09, - ODER: WER IN DIE GROSSSTADT GING; GERIET IN EINE WÜSTE – einErlebnisbericht aus den Favelas von Rio de Janeiro und São Paulo, Fabienne Hoelzel

swiss-architects.com / magazin / gesquattet 19I09, - ODER: WOHNEN IST EINE TÄTIGKEIT – ein Erlebnisbericht aus den Favelasvon Rio de Janeiro und São Paulo, Fabienne Hoelzel

Arch+ 190, Anelli, Renato – Verkehrsnetze von São Paulo, Dezember 2008, S. 16

Arch+ 190, Ribbeck, Eckhart – Die informelle Stadt, Dezember 2008, S. 23

swiss-architects.com / magazin / gesquattet 20I09, - ODER: WER IN DIE GROSSSTADT GING; GERIET IN EINE WÜSTE – einErlebnisbericht aus den Favelas von Rio de Janeiro und São Paulo, Fabienne Hoelzel

Arch+ 190, Vigliecca, Héktor – Die Urbanisierung der Favela Paraisópolis, São Paulo , Dezember 2008, S. 43

Spiegel Special, 04/2008, Mit Baggern gegen Revolver, S. 60-64

Geographische Rundschau 50 (11) 1998, Urbanisierung und Stadtentwicklung in Brasilien, Rainer Wehrhahn, S. 656-663

http://www.kassel-zeitung.de/cms1/index.php?/archives/4229-Das-Projekt-ist-eine-Waffe-Text-und-Bild.html

http://favelissues.com/category/sao-paulo/