Global – Lokal€¦ · den zukunftsweisende Quartiere wie das Berliner Bauprojekt Mö-ckernkiez...

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Leben am Wasser Lyon erfindet sich neu und trotzt mit dem Projekt „Lyon Confluence“ der Krise. SEITE VII Türme an der Grenze der Statik Der deutsche Architekt Ole Scheeren baut im Fernen Osten spektakuläre wie innovative Hochhäuser. SEITE III Schluss mit Staus Höchste Zeit, in den Städten dieser Welt das Leben zu verbessern, meint Joan Clos. SEITE II Samstag, 21. Juni 2014 | Nr. 140 | www.stuttgarter-zeitung.de Stadtentwicklung Verkehr, Energie, Soziales: Die Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit müssen in den Städten gefunden werden. Die StZ diskutiert wesentliche Fragen. Von Joachim Dorfs Global – Lokal D er Stau in Stuttgart hat andere Grün- de als der Stau in Schanghai: Hier unter anderem eine schwierige To- pografie, dort eine Bevölkerungsex- plosion in der Stadt, verbunden mit einem dramatischen Anstieg der Zahl der Fahrzeu- ge. Die Lösungen in diesen so unterschiedlichen Städten können trotzdem ähnlich sein: eine engere Vernetzung der Verkehrssysteme bei gleichzeitiger Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs, ein Aus- bau der Elektromobilität, um Feinstaub und Smog zu reduzieren. Ob Stuttgart oder Schanghai, ob Stade oder San- tiago: bei aller Gegensätzlichkeit haben die Städte der Welt viele vergleichbare Probleme zu bewälti- gen, im Großen wie im Kleinen. Das reicht von der Umsetzung der Energiewende in Deutschland bis zum demografischen Wandel, vom Auseinander- driften der Gesellschaft bis zur Parkplatznot, von der pünktlichen Umsetzung von Großprojekten bis hin zum vernetzten Haus. Es geht also einerseits um lokale Themen, die an vielen Orten der Welt vergleichbar sind, immer mit dem Ziel, eine lebens- werte Stadt zu schaffen, die ihren Bewohnern eine hohe Lebensqualität bietet. Und es geht anderer- seits um globale Trends, die vor Ort Auswirkungen haben und sich dort auch wie unter einem Brenn- glas beobachten lassen. „Denke global, handele lo- kal“ – in dieser abgegriffenen Formulierung steckt immer noch sehr viel Kraft und Wahrheit. Die Stuttgarter Zeitung hat es sich zur Aufgabe gemacht, zu diesen Fragen einen Fachkongress zu organisieren. Auf dem zweitägigen Kongress „Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“ tauschen sich national und international renommierte Ex- perten in der kommenden Woche aus. Der Veran- staltungsort Stuttgart ist dabei kein Zufall. Dahin- ter steht vielmehr die Überlegung, dass in Stutt- gart viele dieser Herausforderungen – Verkehr, Energiewende, Großprojekte – gemeistert wer- den müssen. Hinzu kommt, dass diese Stadt zu- nächst mit dem Neckarpark und später mit dem Rosensteinviertel in den kommenden Dekaden zwei große städtebauliche Spielwiesen hat – eine einmalige Chance zur Weiterentwicklung. Der Anspruch Stuttgarts muss es sein, dass die neuen Stadtviertel, die dort entstehen, national und international beispielhaft sind. Die Debatte, wie diese Viertel zu entwickeln sind, wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Diese Beilage dient zur Einstimmung auf den Fachkongress. Die Stuttgarter Zeitung wird aktuell in ihrer gedruckten sowie in ihrer Online-Ausgabe darüber berichten. DIE STUTTGARTER ZEITUNG DISKUTIERT ÜBER DIE STADT VON MORGEN Kongress Wie werden wir Men- schen in Zukunft leben? Vor wel- chen Herausforderungen stehen die Städte dieser Welt? Darüber wird am 24. und 25. Juni in der Alten Reithalle in Stuttgart diskutiert werden bei dem Kongress „Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“, den die Stuttgarter Zeitung veranstaltet. Themen EnBW-Vorstandsvorsit- zender Frank Mastiaux berichtet über neue Konzepte für die Energie- wende in Städten, außerdem wer- den zukunftsweisende Quartiere wie das Berliner Bauprojekt Mö- ckernkiez vorgestellt. Es referieren international renommierte Archi- tekten wie Werner Sobek oder Ole Scheeren. Wirtschaft und Wissen- schaft stellen Ideen für Verkehr und Infrastruktur vor. Aber es geht – natürlich – auch ums Geld: bei der Frage, wie bei Großprojekten das Budget eingehalten werden kann. adr // Weitere Informationen unter http://stzlinx.de/zukunftderstadt

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Leben am Wasser

Lyon erfindet sich neu und trotzt mit dem Projekt

„Lyon Confluence“ der Krise. SEITE VII

Türme an der

Grenze der Statik

Der deutsche Architekt Ole Scheeren baut im

Fernen Osten spektakuläre wie innovative Hochhäuser.

SEITE III

Schluss mit Staus

Höchste Zeit, in den Städten dieser Welt das Leben zu

verbessern, meint Joan Clos. SEITE II

Samstag, 21. Juni 2014 | Nr. 140 | www.stuttgarter-zeitung.de

Stadtentwicklung Verkehr, Energie, Soziales: Die Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit müssenin den Städten gefunden werden. Die StZ diskutiert wesentliche Fragen. Von Joachim Dorfs

Global – Lokal

Der Stau in Stuttgart hat andere Grün-de als der Stau in Schanghai: Hierunter anderem eine schwierige To-pografie, dort eine Bevölkerungsex-plosion in der Stadt, verbunden mit

einem dramatischen Anstieg der Zahl der Fahrzeu-ge. Die Lösungen in diesen so unterschiedlichenStädten können trotzdem ähnlich sein: eine engereVernetzung der Verkehrssysteme bei gleichzeitigerStärkung des öffentlichen Nahverkehrs, ein Aus-bau der Elektromobilität, um Feinstaub und Smog zu reduzieren.

Ob Stuttgart oder Schanghai, ob Stade oder San-tiago: bei aller Gegensätzlichkeit haben die Städte der Welt viele vergleichbare Probleme zu bewälti-gen, im Großen wie im Kleinen. Das reicht von derUmsetzung der Energiewende in Deutschland biszum demografischen Wandel, vom Auseinander-driften der Gesellschaft bis zur Parkplatznot, vonder pünktlichen Umsetzung von Großprojekten bishin zum vernetzten Haus. Es geht also einerseitsum lokale Themen, die an vielen Orten der Weltvergleichbar sind, immer mit dem Ziel, eine lebens-werte Stadt zu schaffen, die ihren Bewohnern einehohe Lebensqualität bietet. Und es geht anderer-seits um globale Trends, die vor Ort Auswirkungen

haben und sich dort auch wie unter einem Brenn-glas beobachten lassen. „Denke global, handele lo-kal“ – in dieser abgegriffenen Formulierung steckt immer noch sehr viel Kraft und Wahrheit.

Die Stuttgarter Zeitung hat es sich zur Aufgabegemacht, zu diesen Fragen einen Fachkongress zuorganisieren. Auf dem zweitägigen Kongress„Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“ tauschensich national und international renommierte Ex-perten in der kommenden Woche aus. Der Veran-staltungsort Stuttgart ist dabei kein Zufall. Dahin-ter steht vielmehr die Überlegung, dass in Stutt-gart viele dieser Herausforderungen – Verkehr,Energiewende, Großprojekte – gemeistert wer-

den müssen. Hinzu kommt, dass diese Stadt zu-nächst mit dem Neckarpark und später mit demRosensteinviertel in den kommenden Dekadenzwei große städtebauliche Spielwiesen hat – eineeinmalige Chance zur Weiterentwicklung. DerAnspruch Stuttgarts muss es sein, dass die neuenStadtviertel, die dort entstehen, national undinternational beispielhaft sind. Die Debatte, wiediese Viertel zu entwickeln sind, wird viel Zeit in Anspruch nehmen.

Diese Beilage dient zur Einstimmung auf denFachkongress. Die Stuttgarter Zeitung wird aktuellin ihrer gedruckten sowie in ihrer Online-Ausgabe darüber berichten.

DIE STUTTGARTER ZEITUNG DISKUTIERT ÜBER DIE STADT VON MORGEN

Kongress Wie werden wir Men-schen in Zukunft leben? Vor wel-chen Herausforderungen stehendie Städte dieser Welt? Darüber wird am 24. und 25. Juni in der Alten Reithalle in Stuttgart diskutiertwerden bei dem Kongress „Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“, den die Stuttgarter Zeitung veranstaltet.

Themen EnBW-Vorstandsvorsit-zender Frank Mastiaux berichtet über neue Konzepte für die Energie-wende in Städten, außerdem wer-den zukunftsweisende Quartiere wie das Berliner Bauprojekt Mö-ckernkiez vorgestellt. Es referieren international renommierte Archi-tekten wie Werner Sobek oder Ole

Scheeren. Wirtschaft und Wissen-schaft stellen Ideen für Verkehr und Infrastruktur vor. Aber es geht – natürlich – auch ums Geld: bei der Frage, wie bei Großprojekten das Budget eingehalten werden kann. adr

// Weitere Informationen unterhttp://stzlinx.de/zukunftderstadt

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II Nr. 1 | Samstag, 21. Juni 2014STUTTGARTER ZEITUNGStadt der Zukunft

te Straßen sind einer der Albträume derGroßstädte in aller Welt.

Was sind Ihre Lieblingsstädte?Es gibt eine Menge schöner Städte. Für mich ist ein Kriterium ihre Kapazität, sichin einer wandelnden Welt neu zu erfinden,sich neu zu benennen. Ein Beispiel: man könnte Turin und Detroit miteinander ver-gleichen, beide Städte teilen ein ähnlichesSchicksal. Sie waren abhängig von derAutoindustrie, und beide mussten mit der Krise dieser Branche zurechtkommen.Turin hat dies ganz gut gemeistert, sich an die veränderten Bedingungen angepasst. Detroit hat da noch eine Menge Probleme.

Sie waren Bürgermeister von Barcelona. Wiesehen Sie zurück auf diese Zeit?Barcelona sah sich mit einer enormen in-dustriellen Krise konfrontiert und hat esgeschafft, sich zu einer postindustriellenStadt zu entwickeln, zu einem Zentrum vonKultur, Tourismus, Wissenschaft und For-schung. Barcelona hat die Chancen derOlympischen Spiele von 1992 genutzt. DieStadt ist auf einem guten Weg. Aber keinerkann vorhersagen, wie eine City sich in dernächsten aufkommenden Krise bewähren wird. Eine Stadt ist wie ein lebender Orga-nismus – sie kann die richtigen Dinge tun,und sie kann scheitern.

Das Gespräch führte Christoph Link.

ter sollen die örtlichen Probleme der Cityslösen, wenn man ihnen dafür die Mittelnicht an die Hand gibt. Wir brauchen einendoppelten Ansatz: Wir benötigen nationaleZuwendungen an die Großstädte, und wirbrauchen eine Stadtplanung auf lokalerEbene. Sie muss eine Strategie entwerfen, um Räume zu schaffen für eine Stadterwei-terung, für Wohnbebauung, für neue Stra-ßen und Vororte. Das muss getan werden,bevor das Land besetzt wird. Die wirt-schaftlichen und sozialen Kosten für dieRäumung von besetztem Land sind enormhoch.

Was sagen Sie zu den Slums. Seit Jahren wird über die Aufwertung – das sogenannte Upgrading – der Hüttensiedlungen gespro-chen. Funktioniert das überhaupt?Ich habe es gerade gesagt: Wenn die Städte nicht genügend Platz für Wohnraum zu be-zahlbaren Preisen anbieten, dann werdendie Leute Land in der Nähe ihrer Arbeits-

plätze besetzen, weil sie einDach über dem Kopf brau-chen. Entweder schafft manWohnraum, oder die Men-schen siedeln auf ungeschütz-tem Gelände, an Steilhängenoder in potenziellen Überflu-tungsgebieten. Was das Up-grading von Slums anbelangt:Wir haben damit schon vielErfahrung gesammelt, wir ha-

ben dies vor 100 Jahren in Europa gemacht,wir machen es heute in Asien und Afrika.Die Mittel dafür sind das Auflösen vonBlockstrukturen, die Registrierung und Be-nennung von Grundstücken, die Einbezie-hung der lokalen Wohngemeinden. Das er-folgreichste Beispiel für die Aufwertungvon Slums ist São Paulo in Brasilien. Dortsind sie weniger geworden, dank der Be-harrlichkeit der Behörden und der Zuwei-sung finanzieller Mittel.

Sie haben einen neuen Typ Stadt vorgeschla-gen, die Stadt des 21. Jahrhunderts. Wiesieht sie aus?Die Stadt der Zukunft hat ein gutes, urba-nes Design und stellt genügend öffent-lichen Raum zur Verfügung. Sie stellt 30bis 35 Prozent ihrer Fläche für den Stra-ßenraum ab und zehn bis 20 Prozent als of-fenes Gelände für eine öffentliche Nut-zung. Der Rest sollte für die Wohnbebau-ung genutzt werden können. In einer Ana-lyse von städtischen Strukturen in denMetropolen der Welt haben wir herausge-funden, dass nur zehn Prozent der Flächenfür Straßennutzung verwendet werden.Das ist ein Grund für den Kollaps des Ver-kehrs. Die Städte der Zukunft gehen auch ein Problem an, dass die fehlende Anbin-dung von Straßennetzen betrifft. Das wirdin asiatischen und afrikanischen Entwick-lungsländern oft unterschätzt. Neue Stra-ßen werden oft von privaten Wohnbauin-vestoren konzipiert, es fehlt ihnen eine ge-eignete Einbindung in das bestehendeStraßennetz. Wir sind der Ansicht, dass wirpro Quadratkilometer 80 bis 100 Fußgän-gerüberwege brauchen, in Wahrheit sindes in den Schwellenländern oft nur 30 bis35. Das ist nicht funktional, eine solcheStadt kann nicht arbeiten.

In Deutschland sind die Lebensbe-dingungen gut, weltweit leben aberviele Menschen unter schwierigenUmständen. Sie sind arm und habenkeinen Zugang zur nötigen Basisver-

sorgung. Joan Clos, der Direktor von UN-Habitat, versucht, die Verhältnisse in den Städten zu verbessern. Das wichtigste Zielist dabei, Wohnraum zu schaffen, bevorsich die Menschen auf ungeschütztem Ge-lände ansiedeln.

Herr Clos, nach Prognosen der UN wird derweltweite Anteil der städtischen Bevölke-rung bis 2030 auf über 60 Prozent steigen. Warum schreitet die Verstädterung so ra-sant voran? Warum bleiben die Menschennicht auf dem Land?Die Urbanisierung geht einher mit der Ent-wicklung – beides verläuft parallel. Wo Sieeine Entwicklung haben, haben Sie eineVerstädterung – und umgekehrt. Sie sehendas an der Urbanisierung inSüdasien, Sie sehen es aberauch in Afrika, wo wir wegender Ausbeutung natürlicherRessourcen und der Landwirt-schaft wachsende Volkswirt-schaften haben. Mit der Ent-wicklung erhält auch die Landbevölkerung Zugang zuInformationen und wünschtfür sich selbst den Wohlstandund die Dienstleistungen, die nur Städtebieten. In den ländlichen Regionen fehlt oftdas Kapital, um Dienste wie die Wasser-,Strom- und Energieversorgung zu gewähr-leisten. Das Gleiche gilt für Abwassersyste-me. Städte sind da effizienter, sie können diesen Service zu niedrigeren Kosten pro Einwohner anbieten als ländliche Gebiete.

Sie haben gesagt, Städte seien die Motorendes Wachstums. In Deutschland habenselbst Kleinstädte und sogar Dörfer eigeneIndustriegebiete – sind wir ein Sonderfall?Deutschland ist ein sehr wohlhabendesLand. Historisch gesehen ist die Industria-lisierung hier auch entlang der Städte ver-laufen. Schauen Sie auf das Ruhrgebiet mitEssen, Duisburg und Bochum – Düsseldorfist da nicht weit. Das ist ein ganzes Netz anStädten. Deutschland ist als föderaler Staatseit dem Zweiten Weltkrieg politisch stabil.Es kann sich eine dezentrale Urbanisierungerlauben. Viele arme Länder auf der Weltkönnen sich das nicht leisten, weil ihnendie finanziellen Mittel dafür fehlen.

Was sind die größten Probleme der Metro-polen in der Welt?Da gibt es viele. Eine der größten Heraus-forderungen ist der hohe Anteil an der Be-völkerung, die in informellen städtischenSiedlungen lebt: Man nennt sie Slums, Fa-velas, Shanty-Towns oder Bidonvilles. Ineinigen Regionen der Welt leben 40 bis60 Prozent der städtischen Bürger in sol-chen Siedlungen. Diese Menschen leidenunter einer neuen Armut, dem Mangel anSicherheit, und sie haben keinen Zugang zueiner Basisversorgung. Andere Problemesind die Knappheit des öffentlichen Rau-mes und die Verkehrsstaus. Die Gründe fürdiese Nöte sind die gleichen: Es fehlt an einem städtischen Design, einer Planung.

Wie kann Ihre Organisation, das UN-Habi-tat, diese Rahmenbedingungen verbessern?

Was raten Sie den Bürgermeistern?Wir helfen nicht nur den Bür-

germeistern, wir richten unsan die Zentralregierungen.Sie tragen eine Verantwor-tung für die Großstädte, in-dem sie die lokalen Autoritä-

ten stärken und auf ihrefinanziellen Nöte reagieren.Eine Zentralregierung muss

eine nationale Politik fürdie Städte entwi-

ckeln. Es ist zy-nisch zu den-

ken, gut, dieBürgermeis-

„Staus sind ein Albtraum

der Weltstädte“Interview Joan Clos hat ein einfaches Rezept für die Stadt der Zukunft:

genug Platz für öffentliches Leben, Verkehr und Wohnungen.

In einer funktionierenden Stadt sollten Straßen mindestens 30 Prozent der Fläche einnehmen. Da das derzeit aberlängst nicht erreicht wird, kollabiert der Verkehr zwangsläufig – nicht nur in Barcelona. Fotos: laif, dpa (2)

JOAN CLOS UND DAS WELTSIEDLUNGSPROGRAMM

Person Erfahrungen aus Groß-städten bringt der SpanierJoan Clos (64) reichlich mit für sein Amt als Direktor des UN-SiedlungsprogrammsHabitat in Nairobi. Von 1997 bis 2006 war der Arzt undsozialistische Politiker Bürger-meister von Barcelona. In die-ser Zeit richtete die katalani-sche Stadt das erste Forum der Kulturen (2004) aus, für das die Sanierung der Bezirke Besós und Diagonal Marin Angriff genommen wurde. Später war Clos Industrie-minister in Madrid und Bot-

schafter seines Landes inder Türkei und Aserbaidschan. Im Jahr 2010 ist Clos zum Direktor von Habitat ernannt worden. Er plädiert vehement für eine gute Stadtplanung.

Habitat Die Vereinten Nationen kümmern sich nicht nur um Friedenseinsätze, Flüchtlinge, Menschenrechte, Ernährung und Umweltschutz. Sie haben auch ein eigenes Wohn- und Siedlungspro-gramm – abgekürzt UN-Habi-tat. Der Sitz des Weltsied-lungsgipfels – wie das Pro-

gramm auch genannt wird – ist in Nairobi. Die Gründung dieser Unterorganisation war schon 1978, erst 2001 ist Ha-bitat zum UN-Programm ge-adelt worden. Seine Ziele sind ein adäquates Wohnen für alle und die Schaffung nachhalti-ger Siedlungen. Nach den Weltsiedlungsgipfeln in Van-couver (1976) sowie Istanbul (1996) ist für 2016 ein dritter Gipfel geplant. Habitat ver-anstaltet alle zwei Jahre ein Weltstädteforum – zuletztim April 2014 in Medellín in Kolumbien. chl

Joan Clos war erfolgreich als Bürgermeister Barcelonas.

Welche Rolle spielt die Bebauungsdichte? Das Bebauungsrecht ist ein weiteres großesProblem. Wie viel Wohn- oder Büroflächedarf ich auf einem Grundstück unterbrin-gen. Es gibt diese Bebauungsrechte, aber sie werden oft ungenügend von den lokalenBehörden kontrolliert. Wenn Sie 80 000 Quadratmeter Nutzfläche auf einemGrundstück unterbringen, ist das etwas an-ders, als wenn sie nur 5000 Quadratmeternutzen. Sie werden ein wesentlich höheres Verkehrsaufkommen schaffen. Diese feh-lende öffentliche Kontrolle kann zum städ-tischen Kollaps führen. Staus und verstopf-

„Wenn die Städte nicht genügend Wohnraum bieten, werden die Leute Land besetzen.“Joan Clos über die Entstehung von Slums

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IIISamstag, 21. Juni 2014 | Nr. 1STUTTGARTER ZEITUNG Stadt der Zukunft

Bauen an der Grenze der Statik

Herr der Türme“, „internationalerShootingstar“, „ErfolgsbaumeisterAsiens“ – wenn von dem 43-jähri-

gen Architekten Ole Scheeren die Rede ist,sind Superlative die Regel. Verwunderlichist das nicht, handelt es sich bei demgebürtigen Karlsruher doch um einenSenkrechtstarter der Branche, der schonin jungen Jahren das ganz große Raddrehte. Bekannt wurde sein Name im Zu-sammenhang mit dem Sendezentrum deschinesischen Staatsfernsehens, des welt-weit größten Mediengebäudes, das zu denOlympischen Spielen 2008 in Peking die Öffentlichkeit staunen ließ.

Mit dem gläsernen Koloss des CCTV inPeking begann eine neue Ära im Hochhaus-bau. Denn das Ziel war nicht mehr, durchschiere Höhe alles bisher Dagewesene inden Schatten zu stellen, sondern durchkonstruktive Kühnheit. Der Gigant in Formeiner im Raum gefalteten Schleife – Schee-ren spricht von „the loop“ – besteht aus zweiverkippten Türmen, die in 162 Meter Höhehorizontal abknicken und zu einer Einheitverbunden sind. Einem Gerücht zufolgemusste während der Bauzeit eine Notruf-Hotline in Peking eingerichtet werden, weil

immer wieder besorgte Bürgerdie Polizei alarmierten, dass dieTürme umfielen. Scheeren hatdas stets amüsiert dementiert.So eine Hotline habe es niegegeben. Richtig ist dagegen,dass ein Team aus 400 Archi-tekten und Ingenieuren zurRealisierung des Projektsnotwendig war und ein Ma-ximum an Rechnerleistungdazu: Bauen an den Gren-zen der Statik. Im vergan-genen Jahr wurde derCCTV Tower vom Councilon Tall Buildings and

Urban Habitat in Chicago als „bestes Hoch-haus der Welt“ ausgezeichnet.

Dass Scheeren dennoch als Deutsch-lands unbekannter prominenter Architektgilt, hat vermutlich damit zu tun, dass er da-mals noch Partner im Büro des Niederlän-ders Rem Koolhaas war, dessen Name inder Architekturwelt ohnehin alles und alleüberstrahlt. Bei ihm hatte der junge Deut-sche nach seinem Architekturstudium inKarlsruhe, Lausanne und an der LondonerArchitectural Association angeheuert undwar rasant zum zweitwichtigsten Mann indessen Office for Metropolitan Architec-ture aufgestiegen. Koolhaas übertrug ihmdie Planung der Bibliothek von Seattle undder Prada-Läden in Amerika und 2002dann der CCTV-Sendezentrale. Der Ent-wurf dafür stammte ohnehin von Scheeren.

Den Bau des Großprojekts leitete dieservon Peking aus. Erste Bekanntschaft mitdem Reich der Mitte hatte er, offenbar vonNatur aus unerschrocken, schon als 20-jäh-riger Rucksacktourist gemacht: Busreisen in Vehikeln ohne Fenster, tagelangesAnstehen für ein Zugticket, Übernachtenmit 200 Leuten in Arbeiterschlafsälen. InInterviews betont er stets, wie sehr ihn die-se Extremerfahrungen wachgerüttelt undihm die Augen geöffnet hätten, „dass unser

westliches Weltbild nicht immer realis-tisch ist“. Logische Folge: „China hat michgrundlegend verändert.“

Mit Kollegen, die von Europa aus ihreAufträge in Schanghai und Peking abwi-ckeln, möchte er deshalb nicht verglichenwerden. „Ich lebe mit dem,woran ich arbeite“, sagt er. „Esgeht darum, tatsächlich in einen Dialog mit seinem Um-feld zu treten.“ Für ihn be-ginnt dieser Dialog mit stun-denlangen Streifzügen durchdie Städte, in denen er baut,um ein Gefühl für den GeniusLoci zu bekommen. Aus dieserPosition des mit den örtlichenVerhältnissen vertrautenFußgängers lässt er auch diewestlichen Bedenken, dasssein ikonischer CCTV Tower in Wahrheit nur Machtkulisse für ein totalitäres Re-gime sei, nicht gelten. In dem Bauwerk ste-cke „ein Stück Hoffnung und Enthusias-mus“. Als Architekt habe er damit einenBeitrag zu einem „besseren, freieren Le-ben“ in China leisten wollen. Die Skepsisder Kritiker gegenüber solchen symboli-schen Machtdemonstrationen des Staats-apparates ist gleichwohl geblieben.

Nachdem das CCTV-Projekt abge-schlossen war, machte Scheeren sich selbstständig, blieb aber im Fernen Osten.Von Peking und Hongkong aus plant seinBüro aufsehenerregende Wolkenkratzerwie den in diesem Jahr fertiggestellten Ma-hanakhon Tower in Kuala Lumpur, dessen Fassade partiell wie eine pixelige Bild-störung aussieht, oder die gigantische Wohnanlage The Interlace, die dem gängi-gen Typus des Wohnturms ein „vertikales Dorf“ gestapelter Blöcke entgegensetzt,in dem private und öffentliche Bereiche,Innen und Außen verwoben sind.

Zu Europa und Deutschland brauchteScheeren nach eigenem Bekunden Ab-stand. Erst im vergangenen Jahr hat erdie Fühler wieder Richtung Heimat aus-gestreckt, als er am Wettbewerb der Axel Springer AG für das neue Medienhaus des

Konzerns in Berlin teilnahm.Mit seinem Entwurf einesmassigen Solitärs, dessenringförmig um eine verglasteMitte angeordnete Räumeentfernt an den CCTV Towererinnern, kam Scheerenunter die drei Finalisten,neben dem Dänen Bjarke In-gels – und seinem einstigenPartner Rem Koolhaas. Es gabgewichtige Stimmen, die denDeutschen favorisierten, daer für die Aufgabe, „neue

Standards für eine moderne Arbeitsumge-bung“ zu setzen, die avancierteste Lösung gefunden habe. Gemacht hat das Rennenam Ende aber Rem Koolhaas mit seinemKonzept eines zum bestehenden Springer-Hochhaus weit aufgerissenen Baukörpers.

Ehrenvoller kann man kaum unterlie-gen. Und vielleicht ist jetzt sogar das Eiszwischen Ole Scheeren und Deutschland gebrochen.

Porträt Ole Scheeren ist Architekt spektakulärer wie innovativer Bauten im Fernen Osten. Von Amber Sayah

268 Meter: Entwurf für das Hochhaus Angkasa Raya in Kuala Lumpur Foto: Architekturbüro

Ole Scheeren, dpa (4)

Schlechte Luft gibt Minuspunkte

Einmal hat es eine Beschwerde aus Aserbaid-schan gegeben: Ein Bürgermeister war„nicht glücklich“ über das Abschneiden sei-

ner Stadt. Aber ansonsten gibt es allenfalls Nach-fragen meist europäischer Städte, warum die eineoder andere konkurrierende Metropole nun umein Zehntelprozent besser liege als die andere.

Die amerikanische UnternehmensberatungMercer stellt einmal im Jahr ein Ranking von rund220 Städten vor. Es ist für Firmen eine Berech-nungsgrundlage, wenn es darum geht, ihren insAusland entsandten Mitarbeitern einen Ortszu-schlag wegen besonders harter Lebensbedingun-gen zu zahlen. Anhand von 39 Kriterien wird dieLebensqualität gemessen. Selbstverständlich gilt das Interesse meist den besten und den schlimms-ten Städten der Welt, den „Top Five“ und denfünf am Ende der Skala. Meist machten zehn bis15 Städte – vor allem in Europa – das Rennen umdie Spitze unter sich aus, sagt Christa Zihlmannvon der Mercer-Niederlassung in Zürich. „Auf denersten 20 Plätzen bewegt sich nicht viel.“

Ein Blick in die Liste von 2014 zeigt: die Stadtmit der höchsten Lebensqualität ist Wien, gefolgtvon Zürich, Auckland, München und Vancouver.Mercer untersucht 460 Städte, doch nur jede zwei-

te wird im Ranking erwähnt. So kommt es auch, dass Stuttgart in der Liste nicht auftaucht, obwohles einen käuflich zu erwerbenden Bericht über diebaden-württembergische Landeshauptstadt gibt.Christa Zihlmann verrät immerhin: „Stuttgart liegt nur knapp hinter München. Der Abstand be-trägt drei Punkte.“ Am Ende der Skala wechselnsich meist Städte in Afrika oder im Mittleren Ostenab. Seit Jahren landet das anschlagsgefährdeteBagdad auf dem letzten Platz, dicht gefolgt vonBangui in Zentralafrika, Port-au-Prince auf Haiti,N’Djamena im Tschad sowie Sanaa im Jemen.

Wichtige Kriterien sind die Schulsituation, diemedizinische Versorgung, die Kriminalitätsrate, die Zuverlässigkeit des Telefon- und Internetnet-zes und die Wasserversorgung. Aber auch die Ent-fernung zum Flughafen oder das öffentliche Ver-

kehrsnetz spielen eine Rolle. Manchmal könnenStädte nichts für ihre Lebensbedingungen. Wennarabische Stadtbewohner unter Hitze leiden, ist das nun mal naturgegeben. Dafür, dass Port-au-Prince von einem Erdbeben getroffen wurde, was die Lage dort verschlechterte, kann es auch wenig.

Geprüft werden auch die politische Stabilitätund aufenthaltsrechtliche Fragen. Dass Ausländerim Iran alle sechs Monate ihre Arbeitserlaubniserneuern müssen, werde natürlich vermerkt, sagtChrista Zihlmann. Sie hat vor allem bei osteuro-päischen Städten in den letzten Jahren einigeBewegungen nach oben festgestellt, Abwertungen gab es für viele chinesische Städte wegen der Luft-verschmutzung. „In Städten wie Schanghai oderPeking zahlen manche Firmen ihren Mitarbeiternjetzt schon Luftverschmutzungszulagen.“

Die Analysen der Städte werden anhand vonFragebögen vorgenommen. Da Mercer weltweit in165 Städten vertreten ist, nehmen eigene Mit-arbeiter die Erhebungen vor oder stützen sichauf Statistiken oder Erfahrungswerte von Firmenoder internationalen Organisationen. Nach Erfah-rung von Zihlmann betragen die Zulagen für die Städte mit niedriger Lebens-und Wohnqualitätfünf bis 30 Prozent des Gehalts.

Lebensqualität Welches sind die besten, welches die schlimmsten Städte

der Welt? Die Unternehmensberatung Mercer erstellt einmal im Jahr eine Liste. Von Christoph Link

Ole Scheeren will beimBauen in einen Dialogmit der Umwelt treten.

AN DER SPITZE: WIEN

Viele Restaurants Schon sechsmal hintereinander hat Wien im Städteranking der Mercer-Unternehmensberatung den Spitzenplatz erreicht: Hier ist die Lebensqualität weltweit am höchsten. Die 1,7 Millionen Ein-wohner zählende Hauptstadt von Österreich war vor zwei Jahrenin einer UN-Studie schon zur wohlhabendsten Stadt der Welt gekürt worden. Beim Ranking 2014 lobten die Analysten von Mercer die hohe Wohnqualität Wiens, die öffentlichen Verkehrs-mittel und „die große Vielfalt an Restaurants“. Insgesamt werden 39 Kriterien geprüft. chl

SCHLUSSLICHT: BAGDAD

Eine Stadt zum Fürchten Politische Unruhen, schlechte Sicherheitsvorkehrungen und Anschläge von Terroristen: Bagdad, die Hauptstadt des Irak, bildet seit Jahren das Schlusslicht im Städteranking. Die Sechs-Millionen-Stadt ist geteilt in eine streng gesicherte „Grüne Zone“, in der Diplomaten und Politiker wohnen, und eine „Rote Zone“,in der auf Märkte und Restaurantsoft Anschläge verübt werden. Selbst die „Green Zone“ ist nicht sicher. Auch die deutsche Bot-schaft im Irak kann in Not gerate-nen Landsleuten meist nur schwer helfen. chl

Und er hält doch: der CCTV Tower von Ole Scheeren in Peking.

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IV Nr. 1 | Samstag, 21. Juni 2014STUTTGARTER ZEITUNGStadt der Zukunft

anlagen und 992 Ver-kehrsdetektoren in der

Stadt aufrufen: Brennen alleGlühbirnen? Schalten Sie im

Takt? In Verkehrsleitzentralen wer-den solche Informationen schon viele

Jahre gebündelt. Doch während das bisherauf einer insularen, speziell auf den Anwen-dungsbereich zugeschnittenen IT-Technikbasierte, gibt es nun immer mehr Schnitt-stellen zur modernen Datenwelt, wobei dasInternet das Rückgrat ist.

Die Informationen von teilweise schonjahrzehntelang unter dem Asphalt liegen-den Messschleifen können heute in der In-ternetcloud landen. So lassen sich Ampelnbeispielsweise auch über das Netz pro-grammieren oder mit neuer Software ver-sehen, ohne dass ein Techniker vor Ort be-nötigt wird. Siemens bietet ein System an,für das die Ampel beim Update noch nichteinmal mehr abgeschaltet werden muss.Selbst nachdem Wilke Reints die Platinemit dem Ampelrechner aus dem Schaltkas-ten herauszieht, bleiben Grün, Gelb undRot im Takt. Ein Reserverechner macht esmöglich. Jedes externe Smartphone oder

immer mehr Städte zum großen Sprung anund krempeln ihre Verkehrssysteme von Grund auf um – den Standortvorteil im Wettlauf mit anderen globalen Metropolenim Blick. Hier kommen auch pragmatische,relativ preisgünstige Lösungen zum Zug. Eine kolumbianische Stadt wie Bogotá, diebisher unter katastrophalen Staus litt, ent-schied sich anstatt für eine kaum zu finan-zierende U-Bahn für ein Bussystem, dasmehr als 100 Kilometer autonome Busspu-ren in der Mitte der Schnellstraßen nützt.Expressbusse können dort langsamere Busse flexibel überholen. Wie in einer U-Bahn steigen die Passagiere an ausgebau-ten Busbahnhöfen von erhöhten Plattfor-men aus ein. Gleichzeitig wurde der Auto-verkehr reduziert durch drastische Maß-nahmen wie autofreie Tage oder massiv er-höhte Parkgebühren und höhere lokaleBenzinsteuern.

„Wer ehrgeiziger ist, hat unter demStrich mehr Erfolg“, sagt der Verkehrs-experte Molloy. Entscheidend sei aber dieBereitschaft, von anderen Städten zu ler-nen. Und die sei im globalen Maßstab nochunterentwickelt. Weniger als die Hälfte derin der Studie befragten Verkehrsplanerkonnten Vorbilder aus anderen Städtennennen, wo aus ihrer Sicht das Verkehrs-management gut funktioniert.

jeder Tabletcomputer kann zur Fernsteue-rung und zum Diagnosegerät werden. Da-mit können selbst kleinere Städte ohnegroße Leitzentrale die Ampeln live undüber das Internet steuern.

Das Beispiel zeigt: Verkehrsmanage-ment scheitert heute kaum noch an derTechnik. Längst hat die moderne Daten-welt auch auf den Straßen Einzug gehalten.Potsdam hat beispielsweise seine Ampelnin der Innenstadt mit Schadstoffmess-geräten gekoppelt. Sie steuern den Verkehrje nach Feinstaubgehalt in der Luft. Wer-den die Werte zu hoch, lässt sich der Ver-kehr per Ampelsteuerung verlangsamenoder sogar zeitweise stoppen. Eine leicht zuerfassende und individuell zu berechnendeCitymaut, wie sie in Europa London und Stockholm eingeführt haben, ist technischbetrachtet schon lange kein Kunststück mehr. Von der automatischen Erfassungder Nummernschilder an den Einfallstra-

ßen bis zur elektronischen Abbuchungder Maut sind die technischen

Systeme dafür ausgereift.Massive Eingriffe in den

Autoverkehr sind in denStädten weltweit aber bisheute nicht die Regel. Es

gibt Pioniere wie Singapur,das schon seit 1975 eine

Citymaut erhebt. Die Ex-perimente in London und

einer Reihe skandinavi-scher Städte von Stockholm

über Oslo bis Bergen sind festetabliert und haben auch

politische Machtwechselüberstanden. „Es ist

trotzdem erstaunlich,dass insgesamt die

Technologie relativ sel-ten genutzt wird“, sagt

Dirk John, bei Siemensder verantwortliche Manager für das

Geschäftsfeld Straßen und städtischeMobilität. „Am Anfang mögen die

Leute die Citymaut nicht – aberam Ende funktioniert es.“ Den-noch hütet sich der Siemens-Manager davor, dass dies alsirgendeine Art von politischer

Empfehlung verstanden werdenkönnte: „Wir haben dazu als Tech-

nologielieferant keine Meinung. Wirliefern, was bestellt wird.“

Die Politik hinkt den technischenMöglichkeiten hinterher – einerseits

weil man Investitionen scheut, ande-rerseits weil man die Gängelung der

Autofahrer fürchtet. Eine im Frühjahr2014 auf der großen Verkehrsmesse Inter-traffic in Amsterdam vorgestellte Studie der Consultingfirma Credo, für die welt-weit 2000 Verkehrsplaner befragt wurden, unterstreicht aber, dass es für Erfolge beider Reduzierung von Staus und Umwelt-belastung vor allem politische Couragebraucht.

Wenn eine Stadt klar das Ziel definiere,dass sie weniger Autos auf den Straßenhaben wolle, dann erreiche sie dieses Zielauch. Die Städte hingegen, die sowohl denAutoverkehr flüssiger machen, als auch an-dere Verkehrsmittel fördern wollen, schei-tern häufig an der Quadratur des Kreises.Sie sind laut der Studie nur bei jedem vier-ten Projekt erfolgreich. „Es ist immer wie-der erstaunlich, wie viele Unannehmlich-keiten die Leute in Kauf nehmen, um ihrAuto zu nehmen, anstatt auf öffentlicheVerkehrsmittel umzusteigen“, sagt ChrisMolloy von Credo.

Insgesamt, so das Fazit der Studie, nutz-ten Kommunalpolitiker weltweit das tech-nische Potenzial nur unzureichend: „Ob-wohl die neuesten Verkehrsmanagement-systeme den städtischen Verkehrsfluss mithilfe relativ kleiner Investitionen undohne größere Störungen verbessern kön-nen, hat eine von vier Städten noch nichteinmal eine Vision und setzt keine Prioritä-ten, wie sie den Verkehr steuern will.“ Für

Rot-Gelb-Grün – nach „BigData“ sieht ein Ampelsignalnicht gerade aus. Doch wennWilke Reints, der bei SiemensEntwicklungschef für Ver-

kehrssteuerungssysteme ist, den grauenKasten öffnet, der mit der kleinen Demonstrationsanlage verbunden ist, dann sieht dessen Innenleben aus wie derServer eines Rechenzentrums. „Eine Am-pel ist heute High Tech“, sagt Reints. Dieunscheinbaren Kästen an den Straßen-kreuzungen könnten zu einer Komponenteeines intelligenten Verkehrsnetzes wer-den, von der die Verkehrsplaner träumen.

Esslingen am Neckar ist hier dasDemonstrationsobjekt. An einem gewöhn-lichen Computerbildschirm und auf einemStandard-Internetbrowser lässt sich aufdem Stadtplan der Status von 142 Ampel-

IntelligenteStraßen

brauchen klugePolitik

Mobilität Weniger Autos, bessere Steuerung. Der Verkehr ließe sich optimieren, aber die Bedenken sind oft groß. Von Andreas Geldner

Beliebt ist sie nicht, trotzdem wurde in London eine Citymaut eingeführt. Fotos: Ruffer/Caro, F1online

die Politik sind häufig Systeme attraktiver,die den Bürger zu einem intelligenteren Verkehrsverhalten animieren sollen, ohne ihm einen Preis abzuverlangen oder Vor-schriften zu machen.

So unterstützt die Bundesregierung bei-spielsweise gerade in Berlin einen Feldver-such, bei dem live auf das Smartphone dieoptimale Verbindung zu einem Ziel auf-gespielt wird. Die App zeigt nicht nur öf-fentliche Verkehrsmittel und freie Park-plätze an, sie schätzt auch aktuelle Fahrzei-ten und die genauen Kosten. So soll vomAuto über die U-Bahn bis hin zu Taxi,Fahrrad oder Carsharing-Angebot jeder-zeit eine intelligente und rationale Ent-scheidung möglich sein.

Der Verkehrsberater Chris Molloy siehtvoraus, dass sich auch bei der Frage des in-telligenten Verkehrs der Wettbewerb derStädte verschärfen wird. Europäische Städ-te seien an diesem Punkt zwar den Verhält-nissen in den USA weit voraus, „in Europageht es aber oft darum, bestehende Syste-me zu verbessern und miteinander zu ver-knüpfen“, sagt er. Dass man in einem gro-ßen Wurf eine ganze Stadt etwa mit innova-tiven Ampelsystemen ausstatten könne, seiaber in Europa wegen der über Jahrzehntegewachsenen Infrastruktur selten der Fall. In anderen Weltregionen setzen hingegen

Eine App ermittelt den schnellsten und billigsten Weg.

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VSamstag, 21. Juni 2014 | Nr. 1STUTTGARTER ZEITUNG Stadt der Zukunft

Jeder Winkel muss genutzt werden

Der Münchner Wohnungsmarkt istim Deutschlandvergleich einzig-artig. Die bayrische Landeshaupt-

stadt ist in Sachen Immobilienpreise undMietkosten absoluter Spitzenreiter – soteuer wie hier sind die eigenen vier Wändesonst nirgendwo. Doch die 1,4-Millionen-Einwohner-Stadt verdient noch aus einemweiteren Grund Beachtung: Die MünchnerStadtpolitik kämpft bereits ungleich längerund mit ungleich größeren Mitteln alsandere deutsche Metropolen gegen dieExplosion der Wohnkosten an.

Am Beginn jeder Analyse steht dieBestandsaufnahme. Der Immobilienver-band Deutschland (IVD) schreibt in seinemaktuellen Marktbericht, dass die Preise für Objekte mit gutem Wohnwert in Münchenseit 1998 nominal um 52 Prozent angestie-gen sind. Wurden vor 16 Jahren in dieserKategorie im Schnitt noch 9,20 Euro Kalt-miete pro Quadratmeter bezahlt, waren es 2013 bereits 14 Euro. „Die Landeshaupt-stadt München ist so gefragt wie nie“, heißtes im IVD-Bericht lakonisch. Der Groß-raum müsse bis zum Jahr 2031 zudem miteinem Zuzug von rund 254 000 Menschenrechnen. Die Rede ist von einem deutlichenAnstieg der Preise, von erneut erreichtenhistorischen Höchstwerten und vontendenziell weiter steigenden Mieten.

„Die Situation ist ähnlich wie beispiels-weise in Stuttgart. Allerdings sind die Aus-schläge noch extremer“, sagt Stephan Kip-pes, der Geschäftsführer des verbandsna-hen IVD-Marktforschungsinstituts. In Be-

zug auf die Immobilienpreisemuss München nicht einmalmehr den Vergleich mit Welt-städten wie London scheuen.„Die Mieten sind durchausvergleichbar“, so Kippes,„wenn man von einigenExtrembeispielen absieht.“

Doch die Wohnungswirt-schaft steuert aus Sicht desInstitutsleiters auf Probleme

zu. „Das Flächenpotenzial in München ist fast abgebaut“, sagt er. Somit führt kaum ein Weg an Nachverdichtung vorbei. „Wirmüssen die Flächenausnutzung hoch-zoomen, aber mit Maß. Plattenbauten willniemand haben“, sagt Stephan Kippes.

Um das Problem wenigstens ansatzwei-se zu lösen und zusätzlichen Wohnraumanzubieten, muss also stetig gebaut wer-den. Allerdings würden Investitionen in Wohnungsbau für Bauträger immer un-attraktiver, sagt Kippes. Was wie ein Wider-spruch angesichts der steigenden Mieten klingt, erklärt der Institutsleiter so: „Alleindie immer höheren Energiestandards wer-den mit Blick auf die Baukosten zu einemechten Problem.“ Auch die Summe derMaßnahmen, die auf die Vermieter zukom-men, werde immer größer. Sobald die Zin-sen wieder steigen, könnte der Run aufsBetongold abbrechen und die Bauaktivität einschlafen, so die Befürchtung. Der stei-genden Nachfrage nach Wohnraum stündedann eine abflachende Baukonjunkturgegenüber.

Die Münchner Stadtpolitik reagiert mitgewaltigen Anstrengungen: Allein in den Jahren 2012 bis 2016 fließen rund 800Millionen Euro aus dem städtischen Haus-halt in die Wohnungspolitik. Bereits seit 1994 wird das Ziel der Initiative Sozial-gerechte Bodennutzung, kurz Sobon, ver-folgt. Bemerkenswert daran ist: von der zweiten Abstimmung im Stadtrat an wur-den diese Beschlüsse einstimmig gefasst.

„Ob das Sinn ergibt oder nicht, darüber gibtes in München keine Diskussion mehr. In-vestoren, Bauträger und sämtliche Partei-en haben sich daran gewöhnt“, sagt BeatrixZurek. Die Juristin sitzt seit 2002 für dieSPD im Gemeinderat und ist Vorsitzende sowohl des bayrischen wie auch desMünchner Mietervereins.

„Sobon basiert zum einen auf verbillig-ten Grundstücken, zum anderen auf Quo-ten für den geförderten Wohnungsbau“,erklärt Zurek. Auf freien Grundstückenwerden bei neuem Baurecht 30 Prozent derWohneinheiten bezuschusst, auf eigenenFlächen hat sich die Stadt zu einer Quotevon 50 Prozent verpflichtet. Das sogenann-te Münchner Modell in all seinen Feinhei-ten, Förderwegen und Regelungen zuverstehen, würde ein längeres Studiumerfordern. Fest steht aber, dass sich dieMieten in den subventionierten Wohnun-gen je nach Einkommen der Bewohner zwi-schen fünf und zehn Euro pro Quadratme-ter bewegen. Auch der Freistaat müht sich mehr als andere Bundesländer. Das Landstellt im laufenden Jahr 260 MillionenEuro an Fördermitteln für den Wohnungs-bau bereit. „Wir können uns nicht be-schweren“, sagt Beatrix Zurek, „da ein gro-

ßer Teil dieser Mittel zusätzlich nach Mün-chen fließt.“

Doch trotz aller Mühen sind die Proble-me auf dem Münchner Markt längst nichtgelöst. „Der Pool an geförder-ten Wohnungen schmilzt da-hin“, sagt Zurek. Entgegen al-len Bauanstrengungen fallenmehr Wohnungen aus dersozialen Bindung heraus, alsneue bezuschusste Einheitengebaut werden. „Egal wie wiruns anstrengen, die günstigenWohnungen werden weni-ger“, sagt Zurek. Außerdemgehen den Münchnern die Grundstückeaus. Zu diesem Schluss kommt die Vor-sitzende des Mietervereins genauso wieder Geschäftsführer des Marktforschungs-instituts, Stephan Kippes. Laut aktuellemIVD-Bericht verfügt München noch überein Flächenpotenzial für etwa 45 000Wohneinheiten. Gleichzeitig wird der Be-darf an neuen Wohnungen durch die enor-me Zuwanderung mit 7000 Wohnungen imJahr angegeben. All das lässt den Schlusszu, dass folgende Prognose des IVD wohl kaum falsch sein dürfte: „Die Mieten inMünchen werden weiter steigen.“

Städtebau München ist beiden Mieten Spitzenreiter –

und investiert viel Geld,um das zu ändern. Von Sven Hahn

Die Münchner Innenstadt ist der Brennpunkt unter den deutschen Wohnungsmärkten. Nirgendwo wohnt man teurer. Foto: dpa

Berlin wächst rasant

Ende Mai hatten die Berliner Bürgerdas Wort: In einem Volksentscheidkonnten sie bestimmen, ob rund um

das Tempelhofer Feld eine Freifläche vonder Größte des Fürstentums Monaco – für etwa 7000 Wohnungen und eine Zentralbib-liothek – bebaut werden soll. Die Mehrheit der Wähler machte diesem Plan den Garaus:Das Land Berlin darf hier nicht bauen.

Dass der Senat mit seinen Plänen unter-lag, hat vermutlich eher mit deren Schwammigkeit und mit dem Vertrauens-verlust zu tun, mit dem die rot-schwarzeKoalition von Klaus Wowereit (SPD) seit längerem zu kämpfen hat. Denn eigentlichdürfte niemand in Berlin der Ansicht sein, dass die Stadt nicht dringend Bedarf an Wohnungen – und zwar an bezahlbaren –hat. Zwar liegen die Mietpreise in ihrerMehrheit immer noch unterhalb derer in Hamburg oder München, aber in derHauptstadt ist auch das Durchschnitts-einkommen deutlich niedriger.

Entgegen allen Erwartungen wächstBerlin plötzlich rasant. Nach jüngsten Vor-hersagen könnten bis 2030 knapp vier Mil-lionen Menschen in der Stadt leben. Daswären 400 000 Bewohner mehr als jetzt. Nach Angaben der Senatsverwaltung fürStadtentwicklung kamen allein in den ver-gangenen drei Jahren etwa 130 000 Men-schen dazu – die Wegzüge sind schon abge-rechnet. Der Wohnungsleerstand ist aufzwei Prozent gesunken – so gering war dieZahl nicht einmal in der heißen Phase nachder Wiedervereinigung.

Gleichzeitig leiden weniger zahlungs-kräftige Mieter unter der erfolgreichen Entwicklung der Innenstadt und werdenin die Außenbezirke verdrängt, die sozialeEntmischung hat längst begonnen. Auchdie ehemaligen Problemviertel innerhalbdes S-Bahn-Rings, für die noch vor zehnJahren teils eine beginnende Verslumungbefürchtet worden war, haben enorm an

Attraktivität gewonnen. Wohnungen sindfür Anleger heiß begehrte Ware. Die Mietenhaben sich binnen weniger Jahre an vielenStellen mehr als verdoppelt. Und da Berlinals Reiseziel so boomt, verdienen sich vieleEigentümer eine goldene Nase, indem sieihre Wohnung als Ferienapartment ver-mieten – bisher zumindest.

Denn seit Mai ist die sogenannte Zweck-entfremdungsverbotsverordnung in Kraft,eine der Maßnahmen, mit denen Berlinder Wohnungsnot begegnen möchte. Nachdem neuen Gesetz ist die Nutzung vonWohnraum zu anderen Zwecken genehmi-gungspflichtig – dazu gehören Ferienwoh-nungen oder die Umwandlung von Wohn-in Gewerberaum oder Leerstand. Zunächstbringt das nichts, denn es gilt noch einezweijährige Übergangsfrist. Fraglich ist auch, wie die neue Regelung effektiv kon-trolliert werden soll. Die Bezirke, die dafür zuständig sind, haben jetzt bereits erklärt,das nicht bewältigen zu können.

Berlins Wachstum beschäftigt die Stadtenorm. Der Handlungsspielraum ist be-grenzt. Berlin hat wenige große Baufelderin Landesbesitz und in der Vergangenheitviel öffentlichen Wohnraum veräußert. Vorzwei Jahren wurde ein Mietenbündnis fürbezahlbaren Wohnraum geschlossen, indem die Schaffung neuer Wohnungen undeine Mietpreisbremse angestrebt wurden.Aber im Moment scheint die Stadt von derEntwicklung überrollt zu werden. Disku-tiert wird derzeit eine Art Wachstums-fonds, der aus Mehreinnahmen gebildetund in Infrastruktur und Wohnbau ver-wendet werden könnte.

Für 400 000 zusätzliche Stadtbewoh-ner bis 2030 werden mehr als 200 000neue Wohnungen gebraucht. Eine Maß-nahme ist ein Bündnis für Wohnungsneu-bau, mit dem Bezirke und Senat für mehr Personal und Sachmittel für beschleunigteBaugenehmigungen sorgen wollen.

Hauptstadt Bis 2030 wird mit vier Millionen Einwohnern gerechnet. Wohnraum fehlt, der Handlungsspielraum ist gering. Von Katja Bauer

„Die Situation ist ähnlich wie in Stuttgart. Dochdie Ausschläge sind noch extremer.“Stephan Kippes betreibt Marktforschung.

„Der Pool an öffentlich geförderten Wohnungen schmilzt dahin.“Beatrix Zurek vom Mieterverein München

Fortschritt durch Beteiligung – Stadt der Zukunft »Die Stadt der Zukunft ist die nachhaltige Stadt. Deshalb hat die EnBW ein

attraktives und dialogorientiertes Partnerschaftsmodell „Nachhaltige Stadt“

entwickelt: Wir begleiten Kommunen auf dem Weg in eine dezentrale Energie -

versorgung. Maßgebliche Handlungsfelder sind erneuerbare Energien,

effiziente Nutzung wert voller Ressourcen und smarte Technologien. Dabei

binden wir die Bürger intensiv und konsequent in Entscheidungsprozesse ein.

Die Städte Leutkirch, Ehingen und Riedlingen haben bereits wichtige Etappen

mit uns zurückgelegt. Wir freuen uns auf weitere Kommunen, die sich auf den

Weg zur Nachhaltigen Stadt machen wollen.

Partner des Kongresses

„Stadt der Zukunft – Zukunft der Stadt“

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VI Nr. 1 | Samstag, 21. Juni 2014STUTTGARTER ZEITUNGStadt der Zukunft

Ein Zimmermann auf der Karriereleiter

Wie stellt man sich einen Mannvor, der Milliardenprojekteverantwortlich realisiert? Edel-

anzüge, schnittiger Wagen, umschwirrt voneinem Heer dienstbarer Geister und miteiner Aura, die auch noch der letzten Mausdeutlich macht: hier steht jemand, der vomScheitel bis zu den Zehenspitzen unglaub-lich wichtig und mächtig ist. Auf KlausGrewe passt nichts davon. Zwar trägt erüblicherweise „volle Uniform“, wie er dasnennt: „Anzug und bei jedem Wetter Kra-watte.“ Doch die hat er der Hitze wegengetauscht in ein hellblaues Hemd mit offe-nem Kragen, helle Jeans und schwarzeTurnschuhe. Er empfängt auch nicht, son-dern kommt einem auf die Sekunde pünkt-lich in der Hotellobby entgegen – übrigensnicht in einem Edelhotel, sondern im un-spektakulären Intercity-Hotel im Stutt-garter Hauptbahnhof.

Als Mitglied im Expertenbeirat derDeutschen Bahn zu Stuttgart 21 wird erwohl so etwas wie Corporate Identitydamit signalisieren, schießt es einemdurch den Kopf. Aber nicht einmal dasstimmt. Das Hotel hat er selbst gebuchtund ausgewählt, weil es so praktischliegt. Und mit Stuttgart 21 verbindet ihnauch nichts mehr – er hat seine Bei-ratsaufgabe gerade niedergelegt.Grewe sagt nichts über seineGründe, nein, da hält ersich „vornehm englisch“ zurück. Aber es darfschon vermutet werden:Hätte er die Chance ge-sehen, bei diesem Pro-jekt einen Beitrag zumErfolg zu leisten, wäreer wohl geblieben.

Denn es gibt nichtviele, die über einähnliches Renom-mee verfügen wieder international tä-tige Baumanager. Inder Schweiz war ermitverantwortlichfür das erfolgrei-che Ausbauange-bot des Gotthard-Basistunnel, inBerlin neben zahl-

reichem anderen für den Hauptbahnhof und den U-Bahnhof Potsdamer Platz. In London unterstützt er gerade das „Under-ground Crossrail“-Projekt mit einem Volu-men von 19,7 Milliarden Euro. Sein Arbeit-geber Jacobs Engineering ist mit 71 000 Mitarbeitern weltweit einer der größten Projektsteuerer.

Mit Grewes Namen ist aber vor allemeine andere Erfolgsge-

schichte verbunden:die Olympischen

Spiele 2012 inLondon. 2005

hat seine Fir-ma den Zu-schlag für

das Gesamtprojekt erhalten, bis 2008 wur-de nur geplant, danach drei Jahre gebaut.Grewes Erfolg: sämtliche olympischen Ein-richtungen wurden nicht nur rechtzeitigschlüsselfertig übergeben, sondern bliebenauch im Kostenrahmen.

„Wir hatten 400 Projektmanager, inSpitzenzeiten 1000 Planer und jeweilsrund 10 000 Arbeiter fürs olympische Dorfund den Olympiapark“, sagt Grewe zu der in 100 Einzel-projekte gegliederten Heraus-forderung, die er als „Inte-grationsmanager“ mit einem Team von drei Leuten koordi-nierte. Dabei hatte er „harte“Aufgaben wie den Bau desOlympiastadions ebenso im Blick zu behal-ten wie „weiche“, etwa die Bürgerbeteili-gung. „Weich ist nicht nachrangig“, erklärtder 52-Jährige. „Sind die Bürger nicht aus-reichend informiert, werden sie zu Recht

unruhig und können auch ein Riesen-projekt zu Fall bringen“, sagt Grewe

und verweist auf die Olympia-Be-werbung Münchens für 2022, dievergangenes Jahr am Nein derMenschen in Garmisch-Parten-kirchen „leider“ krachend ge-scheitert ist.

„Transparenz und Fleiß-arbeit“ nennt Grewe deshalb alsSchlüsselbegriffe für den Er-folg. Für ihn stehe am Anfangimmer akkurate, in die Tiefegehende Planung. Ob Tausen-de Terminvorgänge, detaillier-te Kostenrechnungen oder

präzise Arbeitslisten – stetsgeht er nach dem Mottovor: „Lieber ein Held am

Schluss, als am Anfangallen gefallen“. Im

Prinzip, sagt er,sei es egal, obHaus, Bahnhof,

Stadion oder Tunnel – „es geht immer umZeit und Geld“. Wichtig sei, vernetzt zu denken und die Leute miteinander insGespräch zu bringen.

Es ist denn auch keineswegs überragen-des Architekten-Können, was den Mann soerfolgreich werden ließ – auch wenn ihmschon lange niemand mehr entsprechen-den Sachverstand absprechen würde. AberGrewe ist weder Architekt noch Ingenieur,er ist von Haus aus Vermesser und Zimmer-mann. „Ich bin zweimal durchs Abiturgefallen“, bekennt er ganz offen. Und nach London gekommen ist er eigentlich auch nur, weil seine Frau, eine promovierteVolkswirtin, damals ein interessantes

Angebot bekam. Er hatte sichdavor zwar schon 16 Jahre inBerlin bei der bekannten Bau-firma Strabag hochgearbeitet,aber in London nahm er erstmal Elternzeit für seine dreiSprösslinge. Angesichts dieserungewöhnlichen Biografie

überrascht dann schon fast nicht mehr, dasser auf die Frage, welches seine wichtigsteEigenschaft sei, sagt: „Zuhören können,denn in einer Frage steckt die Antwort oftschon drin. Und dann schnell reagieren.“

Schnell ist er in der Tat, Anfragen beant-wortet er so prompt, dass man glaubenkönnte, er habe nur darauf gewartet. Flei-ßig ist er auch, sehr fleißig. Terminbestäti-gungen verschickt er auch schon mal mor-gens kurz nach 6 Uhr. Und trotzdem sagt er,„Ziel eines gutes Managers muss auch sein,das eigene Leben nicht aus dem Blick zuverlieren“. Die Kinder in die Schule zubringen und abzuholen gehört für ihn dazu.Aber auch anderes.

Grewe lacht, als er gefragt wird, wie essich anfühlt, bei den Olympischen Spielenauf der Tribüne zu sitzen und sagen zu kön-nen: alles meins. Er saß nicht dort. Es habefür seine Firma zwar 400 Karten gegeben,„aber dafür hatte ich keine Zeit“. Grewewar während der Olympischen Spiele eineWoche lang ehrenamtlicher Helfer. „Ich habe den Hockey-Damen Wasser hinter-hergetragen und sie chauffiert. Ich habmich zwar ziemlich alt gefühlt, sojung waren die Spielerinnen, aber es hat richtig Spaß gemacht.“

Porträt Klaus Grewe realisiert Milliardenprojekte – zu seinen größten Erfolgen gehören die Olympischen Spiele in London. Er beweist, dass man den Kostenrahmen einhalten kann. Von Barbara Thurner-Fromm

Für Klaus Grewe sind bei der Projekt-planung zwei Dinge entscheidend: Fleiß und Transparenz. Foto: Gottfried Stoppel

Die große Nachfrage ist Fluch und Segen zugleich

Stuttgart ist dicht bebaut. Freie Flä-chen sind rar. Im Gespräch erklärtInes Aufrecht, wie Städtebau und

Wirtschaftsförderung zusammenpassen.

Frau Aufrecht, welchen Beitrag kann dieWirtschaftsförderung bei der Stadtentwick-lung leisten?Wir richten unsere Arbeit natürlich an denhiesigen Unternehmen aus. Ihre Vorstel-lungen wollen wir in Einklang mit derStadtentwicklung bringen. So arbeiten wiraktuell an einem Konzept zur Entwicklungder Gewerbeflächen. Darin wollen wir dieBedürfnisse der Unternehmen erfassenund zeigen, wie sich diese räumlich umset-zen lassen.

Was macht den Standort Stuttgart aus?Klar, wir sind stark im verarbeitenden Ge-werbe, da sind wir bundesweit auf einemSpitzenplatz. Gleichzeitig sind in Stuttgartdie wissensintensiven Dienstleistungen imKommen. Dazu zähle ich vor allem dieunternehmensnahen Dienstleistungen.Logischerweise liegt der Fokus auf derAutobranche, die sich wandeln und dieMobilität als Ganzes in den Blick nehmenmuss. Wir sind in Stuttgart zudem sehr gutim Bereich Luft- und Raumfahrttechnikaufgestellt, besonders in der Ausbildung der Ingenieure. Nicht zu vergessen: inStuttgart und der Region werden so vielePatente angemeldet wie nirgendwo sonst in Deutschland.

Was entwickelt sich abseits der bekanntenIndustriezweige?Die Umwelttechnologie boomt, gerade die

Entwicklung von Innovationen im Ener-giesektor. Und diese Unternehmen werdengewiss zu einem Pfeiler unseres Standorts.Zudem sind wir in Deutschland Finanz-platz Nummer zwei nach Frankfurt. Auchhaben wir viele Kreative, die in der Kom-munikations-, Medien- und Designbran-che gut unterwegs sind. Auch die BereicheFilm und Animation spielen eine entschei-dende Rolle. Dazu gibt es tolle Firmen imBereich nachhaltiges Bauen und großartigeArchitekturbüros.

Wie haben sich Anforderungen verändert?Die Wünsche der Arbeitnehmer ändernsich. Daher stellen sich auch der Stadt neueFragen – zum Beispiel in Sachen Büro-arbeitsplätze. Die Quote der erwerbstäti-gen Frauen nimmt zu. Das bedeutet, dasses mehr betriebliche Kitas geben muss.Und wer in einem Gewerbegebiet arbeitet,möchte sich dort auch wohlfühlen. Wirmüssen also kleinteiligen Handel und Gas-tronomie zulassen – eben all das, was vomArbeitnehmer nachgefragt wird. Doch die-se Art der Nutzungsmischungen lässt dasBaurecht teilweise noch nicht zu.

Ernst und Young haben gerade am Flug-hafen, außerhalb der Stuttgarter Markung,den Grundstein für ihren neuen Firmensitzgelegt. Haben wir in der Stadt nicht mehrgenug Platz für große Firmen?Es ist Fluch und Segen zugleich. DerStandort ist stark nachgefragt. Das zeigt

die geringe Leerstandsquote bei denBüros. Nehmen Sie aber eine andere Fir-menabwanderung, Thales ist von Zuffen-hausen nach Ditzingen gegangen. Diese Flächen wurden unmittelbar von Porscheerworben. Ich begrüße es, dass ein Stutt-garter Unternehmen sich am Standorterweitern kann. Ähnlich war es mit Hahnund Kolb an der Heilbronner Straße. De-ren Flächen wurden von Mercedes über-nommen. Aber wir könnten mehr Firmenunterbringen, als Platz vorhanden ist. DerGemeinderat hat die klare Vorgabe ge-macht: Innenentwicklung vor Außenent-wicklung. Dadurch wird es vorerst keine neuen Gewerbegebiete geben. Wir müs-sen also nachverdichten und Potenzialenutzen, ganz einfach, weil es an schnellverfügbaren und großen Flächen in derLandeshauptstadt mangelt.

Haben Sie die Sorge, dass der Stadt Abwan-derungen wie die von Ernst und Young nochhäufiger bevorstehen?Wir müssen die Voraussetzungen schaffen,dass Unternehmen hierbleiben. Also: wennein Unternehmen seinen Standort aus-bauen will, soll ihm das auch möglich sein. Es geht auch darum, dass die Verwaltungeine unternehmensfreundliche Einstel-lung weiterhin lebt. Die Botschaft ist doch:Unternehmer, du bist willkommen.

Die politische Vorgabe lautet: Stuttgart sollgrüner werden. Ist das ein Problem ?Nein. Das ist doch eine Chance. WennStuttgart sich wandelt, dann wandelt sichauch die Wirtschaft. Die Technologien, diehinter neuen Antriebssystemen, nach-

haltigem Bauen oderLeichtbau in der Luft-

und Raumfahrt ste-hen, sind wichtig

für die künftigeWirtschaftskraftvon Stuttgart.

Das Gesprächführte Sven Hahn.

Interview Ines Aufrecht leitet die Wirtschaftsförderung Stuttgart und ist davon überzeugt, dass die Stadt von grüner Politik profitieren wird.

DIE WIRTSCHAFTSFÖRDERIN

Rathaus Ines Aufrecht wurde am 15. Mai 1976 in Ostfildern-Ruit geboren. Seit März 2011 leitet sie die Wirtschaftsförderung. Von 2007 an war sie persönliche Mitarbeiterin ihres Vorgängers, Klaus Vogt.

Karriere Vor ihrer Zeit in Stutt-gart arbeitete sie als Rechtsan-wältin. Aufrecht studiertein Bonn und Tübingen und an der Verwaltungshochschule in Speyer. hah

„Lieber ein Held am Schluss, als allen gefallen.“Klaus Grewe stört es nicht, zunächst anzuecken.

Ines Aufrecht wünscht eine Will-

kommenskultur in der Stadt.

Foto: Michael Steinert

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VIISamstag, 21. Juni 2014 | Nr. 1STUTTGARTER ZEITUNG Stadt der Zukunft

Das imposante Musée des Confluences des Wiener Architekturbüros Coop Himmelblau wird das Wahrzeichen in dem neuen Stadtviertel von Lyon. Im Dezember wird es eröffnet. Fotos: Coop Himmelblau, Asylum

Ein neues Herz für die Stadt

Wirtschaftlich und finan-ziell ist es Frankreichschon vor der Europa-wahl schlecht gegangen,doch da am 25. Mai jeder

Vierte die Rechtspopulisten wählte, hatsich auch politische Depression übersLand gelegt. Von solchem Lebensgefühl istin Lyon allerdings wenig zu spüren. Ge-wiss, ganz ungestreift von der Krise kommtauch die Metropolregion Rhônes-Alpesmit ihren knapp 2,2 Millionen Menschennicht davon. Gleichwohl vermittelt die mitknapp 500 000 Einwohnern nach Parisund Marseille drittgrößte Stadt Frank-reichs Aufbruchsstimmung. Dafür gibt esmehrere Gründe. Einer davon ist die Lage

der Stadt. Sie liegt im Zent-rum des wohlhabendstenVerbrauchermarktes Europas(Deutschland, Schweiz undNorditalien).

Positiv wirkt aber auchihre wirtschaftliche Struktur.

Lyon hat sich spezialisiert auf Biowissenund grüne Chemie; diese Branchen sind dieGrundpfeiler der industriellen Dynamik.Zudem verfügt die Stadt noch über 45 Pro-zent industrieller Arbeitsplätze und liegtdamit deutlich über dem Landesdurch-schnitt. Dass Lyon zunehmend über dieLandesgrenzen hinaus zu einem Begriff fürmoderne Urbanität wird, hängt aber nichtnur mit der attraktiven Altstadt zusam-men, die von Touristen gerne besucht wird,

sondern vor allem auch mit einem Jahr-hundertprojekt, das zunehmend positiveWirkung entfaltet: „Lyon Confluence“.

Seinen Namen bezieht das Projekt ausden Flüssen Rhone und Saône, die mittenin der Stadt eine Halbinsel umschließenund an deren Spitze zusammenfließen.Rund 150 Hektar Fläche umfasst der ersteBauabschnitt der Neugestaltung im Her-zen Lyons – und ist damit aktuell das größtestädtebauliche Projekt der Europäischen Union. Zum Vergleich: Stuttgart 21 soll 100Hektar Innenstadtfläche erneuern. Endedes Jahres soll der erste Abschnitt fertigsein. Doch Schluss ist damit noch nicht. Derzweite Bauabschnitt ist bereits begonnen.

Es ist ein politisches Projekt, das der frü-here französische Ministerpräsident Ray-mond Barre initiiert hatte, der von 1995 bis 2001 auch Bürgermeister von Lyon war.

Sein Ziel war nicht nur, bis zu 200 000 neueEinwohner für die Region zu gewinnen; er hatte auch die Absicht, Zuwanderung durcheine natürliche Veränderung zu steuern. Denn das neue Stadtviertel Lyons sollte Zugkraft entwickeln für Einwohner; in de-ren angestammte Häuser würden dann die-jenigen nachrücken können, die sich bisherdie begrenzten Stadtlagen nicht leistenkonnten. Die soziale Mischung wird durchdie Sicherstellung von erschwinglichemWohnraum gewährleistet.

Es ging aber auch darum, die Natur in dieCity zurückzubringen. Ein alter Hafen wargeschlossen worden, der Großmarkt solltean den Stadtrand umgesiedelt werden, ver-fallende Industrieruinen sollten verschwin-den. Zurückgelassen wurden enorme Um-weltverschmutzungen und verseuchte Bö-den, die beseitigt werden mussten, auch umPlatz für neue, saubere Arbeitsplätze zuschaffen. Das ehrgeizige Ziel: das City Cen-ter verdoppeln – im Verhältnis ein Drittel Wohnungen, ein Drittel Büroflächen, ein Drittel öffentliche Einrichtungen.

Mit diesem Masterplan vor Augen wirdnun seit mehr als zehn Jahren geplant,gebuddelt, gebaut und gestaltet. Und dabeiist ein Quartier entstanden, das nicht nur große Anziehungskraft für die neuenBewohner entwickelt, sondern auchfür Investoren und Unternehmer. Allein 73 Unternehmen wurden im vergangenenJahr dort angesiedelt. Den Schlusssteindes ersten Bauabschnitts bildet ein futu-

ristisches Museum, das im Dezember ein-geweiht werden soll und auf 2000 Qua-dratmetern zwei Millionen Objekte zeigenwird, die sich mit den zentralen Mensch-heitsfragen in der Wissenschaft befassen.Entworfen wurde das Museum vom Wie-ner Architekturbüro Coop Himmelblau,und der avantgardistische Neubau trumpftfür 234 Millionen Euro direktam Zusammenfluss der bei-den Ströme auf. Sogar perKreuzfahrtschiff können die Besucher anreisen – es gibt eine eigene Anlegestelle.

Das Projekt neue City istdamit freilich noch nicht amEnde; der nächste Bauabschnitt ist schonbegonnen: Lyon Part Dieu, das ebenfallsauf der Halbinsel gelegene Bahnhofsvier-tel, soll modernisiert, verdichtet, aufge-stockt und auch als kulturelles Zentrum der Stadt zukunftsfest gemacht werden.Eine Million Quadratmeter Baufläche sollneu entstehen, davon 650 000 Quadratme-ter Büros, 250 000 Quadratmeter für Woh-nungen, der Rest für Dienstleistung undHandel. Vor allem aber soll der Bahnhof zueiner offenen, transparenten Verkehrs-drehscheibe ausgebaut werden – für mehrals 100 schnelle TGV und 1200 Regional-züge für bis zu 220 000 Reisende pro Tag.Eine Milliarde Euro soll die Neugestaltungkosten, damit das Herz der Stadt pulsierenkann und Raymond Barres große politischeVision zukunftsträchtige Realität wird.

Europa Wachsen gegen den Trend: Frankreich ist depressiv, doch Lyon boomt dank mutiger Stadtentwicklung. Die City zwischen zwei Flüssen entsteht neu und zieht bereits viele Menschen an, die dort wohnen und arbeiten wollen. Von Barbara Thurner-Fromm

Durch bezahlbaren Wohnraum wird soziale Mischung möglich.

Es gibt sogar eine Anlegestelle, so dass man mit Kreuzfahrtschiffen anreisen kann.

Impressum Sonderbeilage Stuttgarter Zeitung Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 60 32, 70049 Stuttgart, Fon 07 11/72 05-0 Chefredakteur Joachim Dorfs Redaktion Adrienne Braun, Barbara Thurner-Fromm Infografiken Oliver Biwer Bildbearbeitung Ines Schlösser Layout/Produktion Alexander Kijak, Sebastian Klöpfer, Dirk Steininger Textrevision Wolfram Köpke Anzeigen Marc Becker (verantw.)

Attraktives Leben am Wasser: „Lyon Confluence“ ist ein Jahrhundertprojekt, bei dem auch versucht wird, die Natur wieder in die Innenstadt zurückzuholen. Das reizt nicht nur neue Bewohner, sondern auch Unternehmen.

NEUES LEBEN ZWISCHEN FLÜSSEN

Informationen Auf der Homepage von „Lyon Confluence“ finden sich Zahlen und Fakten über das größte Städtebauprojekt der EU.

Tipp Wer sich vor Ort einen Eindruck verschaf-fen möchte, sollte beim Bahnhof auch das alte Gefängnis besichtigen. Dort verwandelt sich ein denkmalgeschützter Kerker in ein Wohn-projekt für Studenten und Senioren. tuf

// Weitere Infos unterhttp://www.lyon-confluence.fr/en/index.html

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VIII Nr. 1 | Samstag, 21. Juni 2014STUTTGARTER ZEITUNGStadt der Zukunft

StZ-Grafik: oli Quelle: Stadt Stuttgart

Quelle: Umweltbundesamt

Heizung66

Haushalte33

32Industrie

20Verkehr

StädtischeLiegenschaften4

Beleuchtung2

Warmwasser16

Kochen7

Kühlen und Gefrieren5

Informations- undKommunikationstechnik

4

Gewerbe, Handel,Dienstleistung

11

%

%

Fotovoltaik

Dachinstallation

Dünnschichtzellenauf Glasfassaden

Stromtankstellefür E-Autos

Solarthermie zur Wassererwärmung

Blockheizkraftwerk Heizungsanlage

IntelligenteHeizungssteuerung

Speicherbatterien fürselbst erzeugten Strom

Erdwärmepumpe

Dämmung von Fassade und Dach

Kontrollierte Be- und Entlüftungmit Wärmerückgewinnung

Intelligente Haustechnik

BedarfsabhängigeBeleuchtungssteuerungmit Bewegungssensoren

Fenster

In Sonnenkollektoren wird ein Wasser-Sole-Gemisch durch die einfallenden Sonnen-strahlen erhitzt. Das Gemisch fließt durch einen Wärmetauscher und überträgt sodie Energie an den Warmwasserspeicher. Unter optimalen Bedingungen können in Wohngebäuden im Jahresdurchschnitt bis zu 70 Prozent des Warmwassers ausschließ-lich solar erzeugt werden. Ein großzügig dimensionierter Warmwasserspeicher hilft, sonnenarme Zeiten zu überbrücken.Die Wärme aus einer Solarthermieanlage kann zudem zur Unterstützung der konven-tionellen Heizung eingesetzt werden und so Verbrauch und Emissionen weiter mindern.

Der mit Abstand größte Anteil des Energieverbrauchs in Wohnhäusern entfällt auf die Heizung. Durch die Dämmung von Außenwänden und Dach lassen sich die Wärmeverluste und damit der Heizbedarf deutlich verringern. Das größte Potenzial liegt dabei nicht im Neubau, sondernbei bestehenden Gebäuden mit energetisch niedrigem Standard. So lassen sich nach Angaben der staatlichen Förderbank KfW mit einer Fassadendämmung bis zu 21 und mit einer Dachdämmung bis zu 14 Prozent der Heizenergie einsparen. Die Dämmung der Kellerdecke bringt zusätzlich bis zu neun Prozent Ersparnis.

Doppelt oder dreifach verglaste Wärme-schutzfenster können den Heizenergiebedarf um zehn Prozent verringern. Im Idealfall sollten Fassadendämmung und Fenster-austausch in einem Arbeitsgang erledigt werden. Großzügige Fensterflächen in Süd-ausrichtung erlauben die passive Nutzung von Sonnenenergie.

In einem Wärmetauscher wird die Zuluftan der warmen Abluft vorbeigeführt und so aufgewärmt. Der Wärmeverlust ist bei der kontrollierten Be- und Entlüftung deutlich geringer als beim konventionellen Lüften durch Öfnen der Fenster. Im besten Fall können mehr als 80 Prozent der Wärme aus der Raumluft zurückgewonnen werden. Der zusätzliche Stromverbrauch der Lüftungsanlage wird damit bei richtiger Auslegung mehr als ausgeglichen. In jedem Fall sollte man bei der Auswahl der Anlagen auf einen geringen Energieverbrauch der Lüfter achten.

Elektrogeräte der höchsten Energieeizienz-klasse sparen beim Kochen, Waschen oder Trocknen Energie und damit Emissionen und Geld. Wichtig ist auch der optimale Einsatz der Geräte – etwa dann, wenn viel Solarstrom produziert wird. Zusätzliche Sparpotenziale eröfnet die Vernetzung und zentrale Steuerung der Haustechnik.In Kombination mit intelligenten Strom-zählern können Geräte vorzugsweise dann betrieben werden, wenn Strom reichlich vorhanden und daher günstig ist.

Ein Blockheizkraftwerk produziert gleichzeitig Strom und Wärme. Dadurch wird ein deutlich größerer Anteil der im Brennstof – beispielsweise Erdgas – enthaltenen Energie ausgenutzt als beider getrennten Erzeugung von Wärme und Strom. Der Strom kann entweder selbst verbraucht oder ins öfentliche Netz eingespeist werden, die Wärme kann zur Gebäudeheizung und zur Warmwasserbe-reitung eingesetzt werden. Im Sommer gibt es allerdings Probleme, die frei werdende Wärme vollständig zu nutzen, was den Wirkungsgrad oder die Auslastung der Anlage schmälert. Am wirtschaftlichsten lassen sich Blockheizkraftwerke betreiben, wenn damit ein Mehrfamilienhaus oder gleich mehrere Gebäude versorgt werden.

Über im Boden verlegte Rohre wird dem Untergrund Wärme entzogen, die für Heizung und Warmwasserbereitung eingesetzt werden kann. Das Arbeitsprinzip entspricht dem eines Kühlschranks – nur in umgekehrter Richtung. Je nach Auslegung können Wärmepumpen im Sommer auch zur Kühlung eingesetzt werden. Für den Antrieb einer Wärmepumpe muss zunächst Energie – meist in Form von Strom – eingesetzt werden. Um unter dem Strich einen möglichst hohen Energiegewinnzu erzielen, sollte die Anlage eine hohe Jahresarbeitszahl aufweisen. Gute Systeme kommen hier auf Werte von bis zu vier.Sie erzeugen also vier Mal mehr Energie in Form von Wärme wie sie in Form von Strom verbrauchen. Besonders umweltverträglich sind gasbetriebene Wärmepumpen,weil bei ihnen die Umwandlungsverlusteim Zuge der Stromerzeugung entfallen.

Eine moderne Heizungsanlage – etwa eine Gastherme mit Brennwerttechnik – benötigt für die Erzeugung einer bestimmten Wärme-menge deutlich weniger Energie als eine alte Anlage. Optimal gedämmte Rohre mindern die Verluste bei der Wärmevertei-lung im Haus. Insgesamt bezifert die KfW die Energieeinsparung durch eine Heizungs-sanierung auf rund 21 Prozent. Experten empfehlen, vor einem Austausch eine Dämmung des Gebäudes. Die neue Heizung kann dann deutlich kleiner dimensioniert werden als die alte. Zusätzliches Spar-potenzial eröfnet die intelligente Steuerung der Heizung – etwa durch Temperatur-vorwahl per Smartphone oder Raumther-mostate, die auf ofene Fenster reagieren. Zu Senkung der CO2-Emissionen können Holzhackschnitzel oder Pellets als Brennstof eingesetzt werden.

Solarzellen gewinnen elektrischen Strom aus Sonnenlicht. Der Strom wird vorrangig im eigenen Haushalt verbraucht, der Überschuss wird in das öfentliche Netz eingespeist und vergütet. Durch intelligente Verbrauchssteuerung im Haushalt – etwa durch Hausgeräte, die Zeiten mit hoher Solarstromproduktion nutzen – können durchschnittlich bis zu 30 Prozent des Haushaltsstromverbrauchs über selbst produzierten Solarstrom gedeckt werden. Dieser Anteil lässt sich mit zusätzlichen Speicherbatterien auf rund 60 Prozent steigern. Eine weitere Möglichkeit, eigenen Solarstrom sinnvoll zu verwenden, ist das Aufladen eines Elektroautos.

Energieverbrauch einesdurchschnittlichen HaushaltsAngaben in Prozent

Wer verbraucht in Stuttgartwie viel Energie?Angaben in Prozent

Warmwasserspeicher

Ökologie Städte sind Energiefresser. Es gibt viele Möglichkeiten, den Verbrauch drastisch zu senken, aber sie werden noch nicht genügend genutzt. Das liegt weniger an der Technik, sondern hat vor allem wirtschaftliche und organisatorische Gründe. Von Werner Ludwig

Die Wende beginnt zu Hause

Mehr als die Hälfte derWeltbevölkerung lebt inStädten, bis 2050 sollen es70 Prozent sein. „Darausfolgt, dass Städte bei der

Energiewende eine zentrale Rolle spielen“,sagt Hans Erhorn, der Abteilungsleiter für Wärmetechnik beim Fraunhofer-Institut für Bauphysik in Stuttgart ist. Doch viele saubere Energiequellen wie Windkraft oder

Biomasseproduktion im gro-ßen Maßstab brauchen Platz –und der ist in Städten knapp.Immerhin lassen sich Dächerund Fassaden nutzen, um mit-hilfe der Sonne Strom undWarmwasser zu erzeugen,doch damit kann nur ein rela-

tiv kleiner Teil des derzeitigen Gesamtener-gieverbrauchs gedeckt werden.

Die entscheidende Stellschraube bei derEnergiewende in Städten ist nicht die Pro-duktion von Ökoenergie vor Ort, sonderndie Senkung des Verbrauchs, indem Energieeffizienter genutzt wird. Rund ein Dritteldes Energiebedarfs einer Stadt wie Stutt-

gart entfällt auf private Haushalte. Nimmt man den durch die Bewohner verursachtenVerkehr hinzu, sind es 45 Prozent. Der Ein-zelne kann also viel tun, um die Energie-bilanz seiner Stadt zu verbessern. Die mit Abstand größten Einsparpotenziale liegen bei der Wärmeerzeugung. Rund vier Fünfteldes Energieverbrauchs eines Durch-schnittshaushalts gehen für Heizung undWarmwasser drauf. Die meisten Deutschenschätzen diesen Anteil deutlich niedrigerein, wie die Deutsche Energieagentur (De-na) in einer Umfrage herausgefunden hat.

Bei Neubauten ist es kein großes Pro-blem, ein Höchstmaß an Energieeffizienz zuerreichen. Mittlerweile gibt es sogar Plus-Energiehäuser, die unter dem Strich mehrEnergie produzieren, als sie verbrauchen. Doch die meisten Stadtbewohner leben inbestehenden Gebäuden, die zum allergröß-ten Teil noch gar nicht oder kaum energe-tisch modernisiert wurden. Nach Angaben des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln gilt das für drei Viertel der Gebäude ausden Baujahren 1949 bis 1978. Die von derbaden-württembergischen Landesregierung

getragene Initiative „Zukunft Altbau“ bezif-fert die mögliche Energieeinsparung allein bei der Heizung auf bis zu 80 Prozent. Der Stuttgarter Bauexperte Erhorn verweist auf ein Forschungsprojekt, in dem die tatsäch-lichen Einsparungen bei energetisch sanier-ten Gebäuden untersucht wurden. Dort fin-den sich Beispiele, in denen die Energie-ersparnis noch deutlich höher ausfällt.

Allerdings wird es noch etliche Jahredauern, bis der komplette Gebäudebestand energetisch saniert sein wird. Aktuell liegedie Sanierungsquote gerade mal bei gut einem Prozent pro Jahr, sagt Michael Voigt-länder, Leiter des Kompetenzfelds Immo-bilienökonomik beim Institut der Deut-schen Wirtschaft. Demnach würden 100 Jahre vergehen, bis alle Gebäude auf demneuesten Stand wären. Um die Klimaziele der Bundesregierung zu erreichen, müssedie Quote mindestens auf zwei Prozent stei-gen, sagt Voigtländer. Als Gründe für denlangsamen Fortschritt nennt er unter ande-rem Informationsdefizite, die verwirrende Vielfalt an Fördermöglichkeiten sowie feh-lende steuerliche Anreize. Zudem brauche

es beim aktuellen Energiepreisniveau oft recht lange, bis sich Sanierungsinvestitio-nen auszahlten. Wenn sich Energie aller-dings deutlich verteuern sollte – und davongehen längerfristig die meisten Expertenaus –, sieht die Rechnung anders aus.

Klar ist: die Energiewende wird in denStädten für tiefgreifende Veränderungensorgen. So wird die Bedeutungder dezentralen Energie-erzeugung zunehmen – etwa mithilfe von Blockheizkraft-werken, die ganze Straßenzü-ge mit Abwärme versorgen. Kurze Wege sorgen dabei fürgeringe Verluste. Auch neueEnergiequellen kommen ins Spiel. So solldas neue Stadtquartier im Stuttgarter Ne-ckarpark mit einer Wärmerückgewinnungfür die Abwässer der dort geplanten Woh-nungen ausgerüstet werden. Bei konse-quenter Anwendung der vorhandenen Technologien sei sogar eine weitgehendenergieautarke Stadt denkbar, meint derBauexperte Erhorn. Doch bis dahin ist esnoch ein weiter Weg.

Heizung und Warmwasser sind im Privathaushalt die größten Energiefresser.

In Zukunft könnte es Städte geben, die unabhängig von externer Energie sind.

DAS KLEINE EINMALEINS DES ENERGIEEFFIZIENTEN WOHNENS: SO KANN MAN IN NEUEN UND ALTEN GEBÄUDEN ENERGIE EINSPAREN UND ERZEUGEN