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Gordon R. Dickson x 9

Der beliebte TERRA-Autor aus den USA hat in dieserSammlung seiner besten Kurzgeschichten eine er-staunliche Vielfalt von Charakteren und Schauplät-zen gezeichnet. Doch jeder Erzählung liegt die Er-kenntnis zugrunde, daß der Mensch zwar seine tech-nologischen Horizonte ins Unermeßliche ausweitenkann, daß er aber dennoch scheitern muß, wenn ersich nicht um ein wirkliches Verstehen mit allen Le-bensformen bemüht.

Der Band enthält

die Story vom geraubten Menschen –

die Story von den Delphinen –

die Story vom Verschrottungsbefehl –

die Story vom schwarzen Charlie –

die Story vom ehrenvollen Tod –

die Story von den Schnecken –

die Story des Mannes, der in die Zukunft reiste –

die Story vom Leibwächter –

und die Story des Fremden von der Erde

TTB 191

GORDON R. DICKSON

VORSICHT –MENSCH!

(DANGER – HUMAN)

Deutsche Erstveröffentlichung

Scan by Puckelz, Korrektur by Goofy

ERICH PABEL VERLAG KG · RASTATT/BADEN

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!

Titel des amerikanischen OriginalsDANGER – HUMAN

Aus dem Amerikanischen von Walter Brumm

TERRA-Taschenbuch erscheint monatlich imDruck- und Verlagshaus Erich Pabel & Co.,

7550 Rastatt, PabelhausCopyright © 1970 by Gordon R. Dickson

Printed in Germany 1972Umschlag: Pabel-Atelier

Redaktion: G. M. SchelwokatGesamtherstellung: Zettler, Schwabmünchen

Einzelpreis 2,80 DMDer Verkaufspreis dieses Buches enthält

die gesetzliche Mehrwertsteuer

INHALT

Vorsicht – Mensch!(Danger – Human) .......................................................... 6

Die Stunde der Delphine(Dolphin's Way) .............................................................. 35

Und dann war Friede(And then there was Peace) .............................................. 64

Schwarzer Charlie(Black Charlie) ................................................................. 69

Ein ehrenvoller Tod(An Honorable Death) ...................................................... 94

James(James) ............................................................................. 123

Der Steinbruch(The Quarry) ................................................................... 132

Nenne ihn »Herr«(Call him Lord) ................................................................ 143

Der Mann von der Erde(The Man from Earth) ...................................................... 177

Vorsicht – Mensch!

Langsam sank das Raumboot durch die mondlose, küh-le Frühlingsnacht über New Hampshire. Der Weg, dersich aus schwarzem Nadelwald über das Weidelandschlängelte, sah wie ein langer Streifen schmutzig-hel-len Stoffs aus, den jemand achtlos weggeworfen hatte.

Die zwei Fremden ließen ihr Boot zwanzig Meterüber dem Weideland schweben, fast unsichtbar vorder tiefhängenden Wolkendecke. Dann richteten siesich aufs Warten ein; ihre wolligen, bärenartigen Ge-stalten ließen sich auf die Keulen nieder, und ab undzu fiel eine gemurmelte Bemerkung, ohne daß ein zu-sammenhängendes Gespräch daraus wurde. IhreUniformkoppel glänzten ein wenig im abgeschirmtenLicht der Instrumente.

»Es ist kein schlechter Ort«, sagte der Rangniedri-gere mit einem Blick auf die nächtliche Landschaft.

»Warum sollte es auch?« brummte der andere.Der Jüngere antwortete nicht. Er verlagerte sein

Gewicht von einer Keule auf die andere.»Die Babys sind bald fällig«, sagte er nach längerer

Pause.»Wie viele?« fragte der Rangältere.»Drei – glaubt der Arzt. Das ist nicht schlecht, für

eine erste Geburt.«»Meine Frau hatte nur zwei.«»Ich weiß. Du hast es mir erzählt.«Sie schwiegen. Das Raumboot schwankte unmerk-

lich im Nachtwind.»Sieh mal«, sagte der Jüngere plötzlich. »Da kommt

es, genau nach Plan.«

Eine schmale, dunkle Gestalt war unter den Bäu-men herausgekommen und näherte sich auf demWiesenweg. Ein kleiner Lichtkegel, der in einemovalen hellen Fleck endete, tanzte voraus über denWeg. Der ranghöhere Fremde richtete sich auf.

»Du übernimmst die Steuerung«, sagte er. Die Ge-mütlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden; siewar spröde und unpersönlich geworden.

»Steuerung klar«, antwortete der andere in dergleichen emotionslosen Stimme.

»Landen.«Das Boot sank rasch abwärts. Es gab eine seltsame

licht- und geräuschlose Explosion – wie wenn eineDruckwelle vom Raumboot ausgegangen wäre. Die Ge-stalt auf dem Weg fiel, die Taschenlampe rollte ins Gras,wo sie einen schwachen Schein verbreitete. Das Raum-boot setzte auf, und die zwei Fremden stiegen aus.

In der dunklen Nacht überragten sie schemenhaftund pelzig die reglose Gestalt. Sie gehörte einemschlanken, dunkelhaarigen Mann Anfang der Drei-ßig, in verwaschenen Kordhosen und einer kariertenWolljacke über dem blauen Arbeitshemd. Er war be-wußtlos, atmete aber regelmäßig und tief.

»Ich nehme es beim Kopf, hier«, sagte der ältereFremde. »Du nimmst es beim anderen Ende. Hast dues? Anheben – so! Nun tragen wir es zum Boot.«

Sein Partner bewegte sich rückwärts zum Boot undhinauf durch den offenen Einstieg. Er schnaufte einwenig unter der ungewohnten Last.

»Es fühlt sich schleimig an«, sagte er.»Unsinn!« erwiderte sein Vorgesetzter. »Das bildest

du dir ein.«

Eldridge Timothy Parker war in einem träumerischenDämmerzustand zwischen tiefem Schlaf und nahen-dem Erwachen. Etwas Hartes war unter seinem Rük-ken – etwas Hartes und Kaltes. Seine schlaffe rechteHand streckte sich und tastete mit leicht gespreiztenFingern umher. Es fühlte sich wie Stahl an. Lag er aufMetall? Im Nu war er wach. Metall? Er versuchte sichaufzusetzen und schlug mit der Stirn gegen eine Dek-ke, die kaum zwanzig Zentimeter über ihm war. Erblinzelte, zwinkerte in der Dunkelheit, Dunkelheit?

Er streckte seine Arme nach beiden Seiten aus, su-chend und tastend, während ein erstes vages Entset-zen durch seinen Körper kroch. Seine Knöchel schlu-gen links und rechts gegen Metallwände. In plötzli-cher Panik wälzte er sich herum, und seine Finger ta-steten im Dunkeln umher, ohne etwas anderes zufühlen als glatte Metallwände. Sie umgaben ihn, erwar eingeschlossen, eingesperrt in ein Metallgehäuse.

Vollständig.Wie in einem Sarg.Seine Fäuste hämmerten gegen die Metalldecke. Er

begann zu schreien.

Viel später, als er wieder erwachte, war er an einemseltsamen Ort, der keine Wände zu haben schien,aber viele Instrumente. Er hing oder schwebte inmit-ten von Mechanismen, die sich näherten und wiederentfernten, ihn berührten, untersuchten, drückten,stachen. Er fühlte Hitze und Kälte. Summtöne undGeräusche verschiedener Tonlagen kamen und gin-gen. Er hörte Stimmen, die ihn ausfragten. Odervielmehr, er fühlte sie.

Wer bist du?

»Eldridge Parker – Eldridge Timothy Parker ...«Was bist du?»Ich bin Eldridge Parker ...«Erzähl uns von dir!»Was?«Erzähl von dir!»Was? Was wollt ihr wissen? Was ...«Erzähl von ...»Aber ich ...«Erzähl ...

»... also, ich glaube, ich war ziemlich wie die anderenJungen aus der Gegend ... als ich in der fünften Klassewar, gewann ich den Hundertmeterlauf ... auch Hok-key haben wir gespielt, und später war ich ein ziem-lich guter Schütze ... in unserer Gegend ist es oft kalt,wißt ihr, lange kalte Winter, und ich kann mich erin-nern, wie komisch die Luft roch, wenn man an einemsolchen kalten Wintermorgen vor die Tür ging ... esist ein schönes Land, New Hampshire, viel Wald undWasser und gute Weide, und es gab immer viele Ge-rüche ... nach Nadelwald und harzigem Holz undGras, und ich erinnere mich besonders an die Kü-chengerüche ... und dann der Geruch von den Ei-chenbänken in der Kirche, wenn man sonntags darinkniete und die Nase direkt an der Kirchenbank voreinem hatte ...

... zum Angeln gibt es bei uns auch viele Gelegen-heiten ... ich ging gern angeln, aber an Wochentagenhatte ich nie Zeit ... wir waren Presbyterianer, undmein Vater hatte die Farm, und da gab es auch für michimmer eine Menge Arbeit ... es ging uns nie schlecht,aber ich hätte gern einen Motorroller gehabt ...

... nein, ich haßte die Deutschen nie, wenigstensglaube ich es nicht ... obwohl ich im Krieg natürlichauch drüben in Europa war, hatte ich es nie wirklichschlecht, ich meine, ich war nie richtig im Kampf ...ich war in einem Fahrzeugdepot, kriegte den Benzin-geruch gar nicht mehr aus der Nase, aber ich arbeitegern mit meinen Händen, und es war nicht, wie wennich in der Infanterie gewesen wäre ...

... ich kann im Gemeinderat so gut wie jeder andereden Mund aufmachen ... ich bin nicht dafür, andereherumzuschubsen, aber wenn man mich anrempelt,werde ich auch ungemütlich ... es geht auch keinenwas an, für wen ich bei den letzten Wahlen meineStimme abgegeben habe, oder wieviel Geld ich aufder Bank habe – aber in Gemeindeangelegenheitenhabe ich genauso wie der größte Landbesitzer dasRecht, meine Meinung zu sagen ... ob sie auf mich hö-ren, das ist natürlich eine andere Sache ...

... ich habe keine höhere Schulbildung, weil es nichtnötig war ... zuviel Bildung kann den vernünftigstenMann durcheinander bringen, sagte ich zu meinemVater, und ich weiß, wann ich genug habe ... ich binFarmer, und ich werde immer Farmer bleiben, undich studiere und lerne für mich selbst, was ich wichtigfinde, aber ich würde niemals vier Jahre verschwen-den, um mir nachher ein Papier an die Wand zu hän-gen ...

... natürlich weiß ich über die Atombombe Be-scheid, aber ich bin kein Wissenschaftler und braucheauch keiner zu sein, genauso wenig wie ich ein Vete-rinär zu sein brauche ... diese Atombomben sind jaeine sehr gefährliche und schlechte Sache, finde ich,und bald werden alle eine Menge von den Dingern

im Arsenal haben, und was dann aus der Menschheitwerden soll, kann ich auch nicht sagen, jedenfallswird es nicht lange gutgehen, ich sehe da schwarz ...

... also, warum ich nie geheiratet habe, das gehteuch nichts an ... irgendwie wußte ich mit Frauen nieviel anzufangen ... nicht, daß ich noch nie eine gehabthätte, das nicht, aber ich finde es schwierig, mit ihnenklarzukommen ... nun, vielleicht heirate ich dochnoch, wenn Jeanie Lind ...«

Allmählich wachte er auf. Er war in einem Raum, derirgendein Büro hätte sein können, nur war die Mö-blierung anders. Es gab einen Kasten mit Türen, derwie ein Ablageschrank aussah, und einen Tisch, derziemlich normal wirkte, wenn er auch nur von einerdünnen Stange in der Mitte getragen wurde. Es gabjedoch keine Stühle – nur kleine, flache Kissen, aufdenen drei große, wollige, bärenartige Kreaturen sa-ßen und ihn stumm beobachteten.

Er selbst allerdings saß auf einem Stuhl, wie ernach einem Moment bemerkte.

Sobald sie sahen, daß seine Augen geöffnet waren,wandten sie sich von ihm ab und begannen unterein-ander zu sprechen. Eldridge Parker schüttelte seinenKopf und zwinkerte mit den Augen, und wenn esmöglich gewesen wäre, hätte er mit den Ohren ge-zwinkert. Denn die Geräusche, die diese Kreaturenerzeugten, waren anders als alles, was er je gehörthatte. Trotzdem verstand er alles, was sie sagten. Eswar ein seltsames Phänomen, denn er hörte die son-derbaren Mundgeräusche im Augenblick ihres Ent-stehens, und dann drehte etwas in seinem Gehirn sieherum und machte sie klar verständlich.

Das war nicht alles. Denn wie er dasaß und sie re-den hörte, begann er den gleichen Doppeleffekt in ei-ner anderen Weise zu erfahren. Das heißt, er sah diefremdartige Bärenkreatur hinter dem Schreibtischnoch immer als ein unheimliches Tier, aber aus demKlang der Stimme oder etwas anderem gewann ernach und nach das Bild eines mageren, überarbeitetund gequält aussehenden grauhaarigen Mannes inuniformähnlicher Kleidung, die aber doch nicht ganzeine Uniform war. Es war ungefähr so, als ob ein Ar-meegeneral seine Rangabzeichen und Insignien samtKoppel und Schultergurt auf einem zweireihigen Stra-ßenanzug trüge. Die andere Kreatur, die der amSchreibtisch halb zugewandt abseits saß, machte auf El-dridge den Eindruck eines dunkelhaarigen jungen Man-nes, dem etwas von Laboratoriumsarbeit anzuhaftenschien. Die dritte Kreatur schließlich, die noch weiterzurück fast an der Wand saß, war weder Soldat nochWissenschaftler, sondern ein dicklicher älterer Mann,der Weichheit und Bedächtigkeit ausstrahlte.

»Sie sehen, Kommandeur«, sagte der mit dem Vor-stellungsbild des jungen, schwarzhaarigen Mannes,»er ist völlig wiederhergestellt. Wenigstens auf denphysiologischen und geistigen Ebenen.«

»Gut, Doktor, gut«, übersetzten sich die ausländi-schen Silben von dem am Schreibtisch in EldridgesKopf. »Und Sie meinen, es ... er, sollte ich wohl sagen... wird in der Lage sein, zu verstehen?«

»Gewiß«, sagte der Arzt-Psychologe – was immerer war. »Die Identifikation ist absolut ...«

»Aber ich meine begreifen – erfassen ...« Die Krea-tur hinter dem Schreibtisch bewegte eine Pranke.»Kann er dem folgen, was wir ihm sagen?«

Der Arzt wandte seinen bärenähnlichen Kopf zumdritten Mitglied der Gruppe. Dieses sprach langsam,mit tieferer Stimme.

»Die Kultur erlaubt es. Sicherlich.«Der hinter dem Schreibtisch verneigte sich leicht zu

dem Alten. »Gewiß, Akademiker, gewiß.«

Dann wurden sie still und blickten alle zu Eldridge,der ihre Blicke mit ähnlichem Interesse erwiderte.Das ganze Verfahren hatte etwas Unwirkliches. BeideSeiten beobachteten einander mit der völlig unver-hüllten Neugierde von Jahrmarktsbesuchern, die ineine Abnormitätenschau geraten sind.

Das Schweigen zog sich hin. Eine gewisse Verle-genheit breitete sich aus. Allmählich wurde allen klar,daß keiner der erste sein wollte, der ein fremdes We-sen direkt ansprach.

»Ist ihm behaglich?« fragte der Kommandeur, sichwieder dem Arzt zuwendend.

»Ich möchte es glauben«, antwortete der Arzt lang-sam. »Soviel wir wissen ...«

Der Kommandeur gab sich einen Ruck und wandtesich zurück zu Eldridge. »Eldridgetimothyparker«,sagte er, »vermutlich fragst du dich, wo du bist?«

Eldridge zögerte so lange mit seiner Antwort, daßder Kommandeur bekümmert den Arzt ansah, derihn mit einer leichten Kopfbewegung ermutigte.

»Nun, rede schon«, sagte der Kommandeur. »Wirwerden dich verstehen, gerade so wie du uns ver-stehst. Es wird dir nichts geschehen; und was dusagst, wird nicht den geringsten Einfluß auf deineSituation haben.«

Er hielt wieder inne und wartete. Eldridge blieb

stumm, aber seine rechte Hand machte eine unbe-wußte Bewegung zur Brusttasche.

»Meine Pfeife ...«, sagte Eldridge.Die drei sahen einander an.»Wir haben sie«, sagte der Arzt. »Nach einer Weile

werden wir sie dir vielleicht zurückgeben. Im Mo-ment können wir nicht gestatten ... es würde unsnicht passen.«

»Der Rauch stört euch?« sagte Eldridge mit einemAnflug von angestammter Bauernschläue.

»Er stört uns nicht. Es ist nur ... widerwärtig«, sagteder Kommandeur. »Ich werde dir zuerst sagen, wodu bist. Du bist auf einer Welt, die der deinen nichtunähnlich ist, aber viele ...« Er verstummte mit einemhilfesuchenden Blick zum Akademiker.

»Lichtjahre«, ergänzte die tiefe Stimme.»... Lichtjahre entfernt ist«, fuhr der Kommandeur

munter fort. »Wir haben dich nicht wegen irgendei-ner persönlichen Abneigung oder Feindschaft hierhergebracht; sondern um dich zu ... zu ...«

»... beobachten«, ergänzte der Arzt. Der Komman-deur wandte sich um und verneigte sich leicht vorihm, worauf der andere sich gleichfalls verneigte.

»Also um dich zu beobachten«, fuhr der Komman-deur fort. »Nun, verstehst du, was ich dir bisher ge-sagt habe?«

»Ich höre«, sagte Eldridge.»Gut«, sagte der Kommandeur. »Dann werde ich

fortfahren. An deinem Volk ist etwas, das wir gernentdecken möchten. Wir haben eure Lebensweise undKultur studiert, und wir werden das auch weiterhintun. Bisher – ich gebe das freimütig zu – haben wir esnicht gefunden; und unsere besten Köpfe sind zu der

Ansicht gelangt, daß ihr selbst nicht wißt, was es ist.Wir glauben jedoch, dich veranlassen zu können, sodaß du es für dich selbst entdeckst. Und für uns.«

»He ...«, sagte Eldridge.»Du wirst gut behandelt werden«, sagte der Kom-

mandeur hastig. »Das versichere ich dir. Und du bistauch bisher gut behandelt worden. Wir haben dich ...aber du wußtest es nicht ... ich meine, du fühltestnichts ...«

»Kannst du dich an irgendein Unbehagen erinnern,seit wir dich holten?« fragte der Arzt aufmerksam.

»Kommt darauf an ...«»Vielleicht greife ich vor«, sagte der Arzt mit einem

Blick zum Kommandeur.»Vielleicht«, sagte der Kommandeur. »Wir hoffen,

du wirst die Antwort entdecken, Eldridgetimothy-parker. Wir werden dich in die Lage versetzen, daranzu arbeiten. Dazu wird allerdings nötig sein, daß wirdein Wissen erweitern, und wir haben beschlossen,dir nichts vorzuenthalten. Akademiker?«

Der Angeredete verneigte sich. Seine tiefe Stimmeerfüllte den Raum. »Weißt du, was dies ist?« Er hobeine Tatze, und die Wand neben ihm löste sich in einLabyrinth von Linien und Punkten auf.

»Nein«, sagte Eldridge.»Es ist«, erklärte der, den die anderen Akademiker

nannten, »eine Karte des bekannten Universums. Dirfehlt die Ausbildung, sie in vier Dimensionen zu le-sen, wie sie gelesen werden sollte. Aber das ist nichtwichtig. Du kannst mein Wort darauf haben – es isteine Karte. Eine Karte, die Hunderttausende von eu-ren Lichtjahren und Millionen von euren Jahren um-faßt.«

Er blickte erwartungsvoll zu Eldridge, der nichtssagte.

»Was wir über deine Rasse wissen, beruht auf zweiInformationsquellen: Geschichte und Legende. DieGeschichte ist lückenhaft. Sie stützt sich zu einemgroßen Teil auf archäologische Entdeckungen. DieLegende ist noch skizzenhafter und ziemlich phanta-stisch.«

Er machte eine neue Pause. Eldridge schwieg.

»Kurz und gut, es gibt eine Rasse, die dreimal aus ih-rem Heimatbereich ausgebrochen ist, um weite Teileunserer Galaxis zu überrennen und andere zivilisierteKulturen zu beherrschen – bis irgendein angeborenerMangel oder eine Schwäche des Individuums in derFolgezeit zum Aussterben der weithin verstreutenEroberer führte. Die Perioden dieser Ausbrüche wa-ren für die unterworfenen Kulturen immer verhäng-nisvoll, aber auch der Rasse, von der ich spreche,brachten sie keinen Nutzen. Nach dem Niedergang,der auf die Expansionsphase folgte, wurde jedesmalder Heimatplanet der aggressiven Rasse zerstört, unddie bisher Unterjochten machten erbarmungslos Jagdauf alle bekannten Restgruppen, aber es blieben stetsunbekannte Gemeinschaften auf abgelegenen Plantenübrig, Keimzellen für ein Wiedererstarken und eineneue Expansion fünf- oder zehntausend Jahre später.Diese Rasse«, sagte der Akademiker, »ist deine eige-ne.«

Eldridge wußte nicht, was er dazu sagen sollte. Fürihn war es abstruses Zeug, von dem er nur die Hälfteverstand. So blieb er stumm, aber er beobachtete denSprecher mit großer Aufmerksamkeit.

»Darum«, fuhr der Akademiker fort, »sehen wirdeinesgleichen als eine Rasse an, die über große undungewöhnliche natürliche Talente verfügt, aber un-glücklicherweise auch mit einem großen natürlichenFehler behaftet ist. Dieser Fehler scheint in einemDrang zu bestehen, Dinge zu erwerben und zu besit-zen. Das ist kein einzigartiges Merkmal. Andere Ras-sen haben es auch – aber nicht in einem solchen Maß,daß für die koexistierenden Kulturen eine Gefahrdaraus wird. Doch ist dies nicht das eigentliche Pro-blem. Wenn es nur eine Frage einfacher Raubgier wä-re, so sollte es den vereinten Anstrengungen andererRassen gelingen, dein Volk in die Schranken zu wei-sen. In der Galaxis gibt es eine natürliche Balance, dieunausweichlich für einen Ausgleich sorgt.

Nein, so einfach ist es nicht. Als Anhaltspunkt fürdie ungelösten Fragen bietet sich uns nur die Legen-de, wie sie nach jedem neuen Vorstoß deiner Rassevon neuem entsteht. Wir wissen, daß es mehr gebenmuß als das, was wir bisher gefunden haben – undwir haben euch sorgfältig studiert, sowohl eure Le-bensweise auf dem Heimatplaneten als auch euerVerhalten als Gruppe und Individuum. Und nun ha-ben wir dich als Person untersucht. Es muß etwas ineuch sein, irgendeine über das Normale hinausge-hende Fähigkeit, um die phantastische Natur eurerfrüheren Erfolge zu erklären. Aber die Legende sagtnur: Vorsicht, Mensch! Nicht berühren – Lebensge-fahr! Und wir finden nichts in dir, das die Warnungrechtfertigen könnte.«

Er seufzte.»Aus verschiedenen Gründen, die zu zahlreich

sind, um sie einzeln anzuführen, und dir ohnehin

unverständlich wären, ist es unsere Rasse, die diesesProblem für den Rest der Galaxis lösen muß. Waskönnen wir tun? Wir wagen euch nicht euch selbst zuüberlassen, bis ihr stark werdet und wieder aus eu-rem Winkel hervorbrecht. Und die Legende warntuns, euch in irgendeiner Form anzugreifen und soaufmerksam zu machen. Darum haben wir entschie-den, einen einzelnen Menschen auszuwählen – aberich greife auf Ihr Gebiet über, Doktor.«

Die beiden tauschten Verneigungen aus. Dannwandte sich der Arzt Eldridge zu und nahm dasWort.

»Wie bereits erwähnt, entschieden wir uns dafür,ein Exemplar zum Zweck eingehender Untersuchun-gen auszuwählen. Aus praktischen Gründen – wirwollten unbeobachtet bleiben und kein Aufsehen er-regen – fiel unsere Wahl auf dich. Nach unsererRückkehr nahmen wir eine gründliche Untersuchungdeines Körpers und Geistes vor, wobei wir uns derbesten medizinischen Techniken bedienten. Ich wer-de nicht ins Detail gehen, weil wir dich nicht unnötigdeprimieren wollen. Ich möchte nur sagen, daß wirnichts gefunden haben. Nichts. Keine ungewöhnlicheKraft oder Fähigkeit irgendeiner Art, wie man nachdem Studium der Geschichte und der Legende er-warten sollte. Ich erwähne dies zur Erklärung derweiteren Schritte, zu denen wir uns entschlossen ha-ben. Kommandeur?«

Das Wesen hinter dem Schreibtisch erhob sich aufdie Hinterbeine. Die anderen zwei folgten seinemBeispiel.

»Du wirst mit uns kommen«, sagte der Komman-deur.

Umringt von ihren massigen Gestalten, verließEldridge den Raum und trat hinaus in grellen Son-nenschein. Sie führten ihn über eine Fläche, die wieBeton aussah, zu einer gedrungenen, eiförmigenFlugmaschine mit lächerlich kleinen Tragflächen.

»Hinein«, sagte der Kommandeur. Sie stiegen ein.Der Kommandeur kauerte sich vor einer Instrumen-tentafel nieder, manipulierte ein stockartiges Steue-rungsgerät, und nach einem Moment startete die Ma-schine. Sie flogen etwa eine halbe Stunde, undEldridge wünschte vergebens, er wäre in einer Positi-on, die ihm erlaubt hätte, aus den hoch angebrachtenFenstern zu sehen. Dann landeten sie auf einem Flug-feld, das ringsum von bewaldeten Bergen umgebenwar, und als er dieses Feld zu Fuß überquerte, sahEldridge mehrere wahrhaft gigantische Raumschiffeund eine große Zahl kleinerer Fahrzeuge. Überall wa-ren die bepelzten Fremden zu sehen. Sie bewegtensich gemächlich, keiner schien in Eile zu sein, aberallen war eine konzentrierte Zielstrebigkeit gemein-sam.

Plötzlich gab es ein kurzes donnerndes Geräusch,das vergangen war, als das Ohr es noch kaum regi-striert hatte; und Eldridge, der sich instinktiv geduckthatte, blickte wieder auf und sah eins der riesigenSchiffe mit so unglaublicher Geschwindigkeit him-melwärts fallen – ein passenderes Wort gab es dafürnicht –, daß es innerhalb von Sekunden außer Sichtwar.

Am Rand des Flugfeldes kamen sie an einen fla-chen, offenen Graben in der betonartigen Oberfläche.Er war kaum einen halben Meter breit, und sie stie-gen mit Leichtigkeit hinüber. Aber sobald sie den

Graben überquert hatten, bemerkte Eldridge einenUnterschied. Der Graben umschloß ein Rechteck vonungefähr fünfhundert Quadratmetern Fläche, unddieser eingegrenzte Bezirk machte den verlassenenEindruck einer Sperrzone. In der Mitte der Flächestand ein graues Betongebäude ohne Fenster, das denEindruck noch verstärkte.

Sie gingen auf eine massive Metalltür zu, und sieöffnete sich, ohne daß jemand sie berührte. Eldridgeentdeckte, daß das vermeintliche Gebäude eine Mau-er war. Im Innern des umlaufenden Mauerrechteckswar ein etwa sechs Meter breiter Streifen Boden, dar-auf folgte ein vielleicht ebenso breiter Wassergrabenvon unbestimmbarer Tiefe, der mit einer dunklen,scharfriechenden Flüssigkeit gefüllt war. Dieser Gra-ben umgab eine kleine flache Insel, ungefähr fünf malsechs Meter groß, deren Fläche fast ganz von einemüberdachten Käfig eingenommen wurde. Seine vierWände waren aus Metallstangen von der Stärke einesMännerdaumens. Zwei mit kurzen schwarzen Roh-ren bewaffnete Wächter wanderten auf dem Beton-streifen zwischen Mauer und Graben auf und ab. Ei-ne leichte Behelfsbrücke überspannte den Grabenund führte an die offene Tür des Käfigs.

Die drei Fremden und Eldridge gingen über dieBrücke und in den Käfig. Dort angelangt, standen sieherum wie Direktoren, die einen Erweiterungsbau ih-rer Fabrik besichtigen; und nach einer Weile nahmder Kommandant das Wort.

»Dies wird von nun an dein Heim sein«, sagte er.Er zeigte auf eine Art Pritsche oder Feldbett, einenStuhl und andere Gegenstände, mit denen der Käfig

möbliert war. »Es ist so bequem, wie wir es machenkonnten.«

»Warum?« platzte Eldridge heraus. »Warum sperrtihr mich hier ein? Warum ...«

»In unserem Bemühen, das noch existierende Pro-blem zu lösen«, sagte der Arzt, glatt, »können wirweiter nichts tun als dich unter Beobachtung zu hal-ten und zu hoffen, daß die Zeit für uns arbeiten wird.Ferner hoffen wir, daß es dich beeinflussen wird, sel-ber nach der Lösung zu suchen.«

»Und wenn ich sie finde – was dann?« riefEldridge.

»Dann«, sagte der Kommandeur, »werden wir jenach der Lösung einen humanen Weg für dich fin-den. Es mag sogar möglich sein, dich auf deine eigeneWelt zurückzubringen. Sobald du nicht länger benö-tigt wirst, werden wir darüber entscheiden. Aberauch im ungünstigsten Fall werden wir dafür sorgen,daß du nicht unnötig leidest; ein rascher undschmerzloser Tod würde dir gewiß sein.«

Eldridge fühlte, wie sich etwas in ihm zusammen-krampfte.

»Mich töten?« würgte er. »Glaubt ihr, das wirdmich dahin bringen, daß ich euch helfe? Die Hoff-nung auf einen schmerzlosen Tod?«

Sie sahen ihn beinahe mitleidig an.»Es könnte sein«, sagte der Arzt, »daß du den Tod

als etwas sehr Erstrebenswertes ansehen wirst, weiler ein Leben beendet, dessen du überdrüssig gewor-den bist. Du wirst hier eingesperrt sein, ohne irgend-eine Gelegenheit zur Flucht zu haben. Dieser Käfigwird bei Tag und bei Nacht beleuchtet sein. Wennwir fortgehen, wird die Brücke hier entfernt, und das

einzige, was diesen mit Säure gefüllten Graben über-queren wird, ist ein mechanischer Arm, der dirzweimal täglich durch eine kleine Öffnung im KäfigNahrung bringen wird. Jenseits des Grabens werdenzu allen Zeiten zwei bewaffnete Wächter patrouillie-ren, aber selbst sie können die Tür in diesem Mauer-geviert nicht öffnen. Dies geschieht von außen durchFernsteuerung, und nur, nachdem der Aufseher sichdurch einen Blick auf seinem Bildschirm vergewisserthat, daß hier im Innern alles so ist, wie es sein soll.«

Er zeigte über den Graben und durch die offeneTür in der Mauer.

»Sieh genau hin«, sagte er.Eldridge spähte hinaus. Der flache kleine Markie-

rungsgraben außerhalb der Mauer lag nicht längerstill und leer unter der Sonne. Die Luft über ihmflimmerte und waberte; es war wie eine Barriere ausHitzewellen.

»Das ist unsere äußere Sperre. Sie würde dichbuchstäblich in Asche verwandeln, wenn du sie be-rührtest. Sie wird nur für kurze Zeit ausgeschaltetwerden, um die Wachablösung zu ermöglichen.«

Eldridge sagte nichts. Er wandte sich, um und sah,daß alle ihn beobachteten.

»Wir tun dies nicht nur, weil du gefährlicher seinkönntest, als es den Anschein hat«, sagte der Arzt,»sondern auch, um dir deine Hilflosigkeit vor Augenzu führen, so daß du mehr geneigt sein wirst, uns zuhelfen.«

»Und ihr glaubt«, fragte Eldridge heiser, »daß allesdas mir den Wunsch eingeben sollte, euch zu helfen?«

»Ja«, sagte der Arzt, »denn es gibt noch einen Ge-sichtspunkt. Nach deiner Gefangennahme wurdest du

physiologisch auseinandergenommen und wieder zu-sammengesetzt. Wir sind auf dem organischen Gebietweit fortgeschritten, und bestimmte Dinge sind allenLebensformen gemeinsam. Ich habe die Arbeit an dirselbst überwacht. Du wirst finden, daß du praktischunsterblich und gegen alle Arten von Geisteskrank-heit gefeit bist. Dies wird für immer dein Heim sein,und weder Tod noch Wahnsinn werden dir eineMöglichkeit zur Flucht aus dieser Existenz bieten.«

Sie drehten um und gingen hinaus. Ein ferngesteu-erter Mechanismus ließ die Käfigtür zufallen.Eldridge hörte das metallische Geräusch einrastenderSchlösser. Die Brücke über den Graben wurde zu-rückgezogen.

Gleich darauf verließen die drei wolligen Gestaltendas Mauerrechteck durch die Tür. Die Wachen began-nen ihren Rundgang in entgegengesetzten Richtun-gen, die Waffen in ihren Pranken. Die Tür schloß sich.

Über das seltsame Gefängnis senkte sich die Stilleeines warmen Sommernachmittags. Die Schritte derWachen machten leise schlurfende Geräusche.

Eldridge stand still, seine Finger um die Gitterstäbegeklammert, und blickte hinaus.

Er konnte es nicht glauben.

Er konnte es nicht glauben, als die Tage zu Wochen,die Wochen zu Monaten wurden. Aber als die Jahres-zeiten wechselten und ein neues Jahr begann, war dieWirklichkeit seiner Situation in ihn eingedrungen wieWasser in einen treibenden Stamm. Denn draußenwar die Zeit in ihrer sichtbaren und gleichmäßigenBewegung zu beobachten; aber in seinem Gefängnisgab es keine Zeit.

Immer brannte die Deckenbeleuchtung, unaufhör-lich umkreisten ihn die Wächter. Zweimal täglichbrachte ein langer Metallarm, der sich über den Gra-ben reckte, die Mahlzeiten durch eine kleine Klappeim Gitter, die sich bei der Annäherung des Arms au-tomatisch öffnete. Zweimal wöchentlich kam derArzt, untersuchte ihn kurz – und ging wieder, wenndie Wachen abgelöst wurden.

Eldridge fühlte die Unerträglichkeit seiner Situati-on, als ob eine Hand die Spannfeder in ihm mit jedemTag ein wenig fester zöge. Er nahm die Gewohnheitan, fieberhaft im Käfig auf und ab zu laufen. Nachtslag er wach und starrte zu den Lampen auf, die in dieBetondecke seines Käfigs eingelassen waren. Er standauf, um wieder im Käfig hin und her zu tigern, bisihn schwindelte.

Der Arzt kam und untersuchte ihn. Er sprach mitEldridge, doch Eldridge antwortete nicht. Schließlichkam ein Tag, an dem er es nicht mehr aushielt, zuschreien anfing und mit seinem Stuhl gegen die Git-terstäbe schlug. Die Wächter wurden unruhig undriefen den Arzt. Der Arzt kam und betrat mit zweianderen den Käfig. Sie warfen ihn auf sein Feldbettund schnallten ihn dort fest, und dann taten sie et-was, das ihm einen plötzlichen Schmerz im Nackenverursachte, und er verlor das Bewußtsein.

Als er seine Augen wieder öffnete, sah er das wol-lige Gesicht des Arztes auf sich herabblicken – erhatte gelernt, dieses Gesicht wiederzuerkennen, ähn-lich wie ein Hirte im Laufe der Zeit einzelne Schafe inseiner Herde erkennt. Eldridge fühlte sich sehrschwach, aber ruhig.

»Du hast dich sehr bemüht«, sagte der Arzt. »Aber

du siehst, es klappte nicht. Dieser Ausweg ist dir ver-sperrt.«

Eldridge lächelte.»Laß das!« sagte der Arzt mit ungewohnter Schär-

fe. »Du kannst uns nicht täuschen. Wir wissen, daßdu vollkommen vernünftig bist.«

Eldridge fuhr fort zu lächeln.»Was soll das bedeuten?« verlangte der Arzt zu

wissen.Eldridge blickte glücklich zu ihm auf.»Ich gehe nach Hause«, sagte er.»Tut mir leid«, erwiderte der Arzt. »Du überzeugst

mich nicht.« Er wandte sich um und ging. Eldridgewälzte sich herum und versank zum ersten Mal seitMonaten in einen tiefen, ruhigen Schlaf.

Trotzdem war der Arzt besorgt. Er ließ die Wachenverdoppeln, aber nichts geschah. Die Tage und dieWochen vergingen, wie zuvor. Eldridge schien sicherholt zu haben. Noch immer verbrachte er einengroßen Teil seiner Zeit damit, in seinem Käfig aufund ab zu wandern oder am Gitter zu stehen und dieStäbe zu umklammern, als wolle er sie ausreißen –aber die wilde Heftigkeit und das verzweifelte Auf-begehren waren von ihm gewichen. Er hatte seineSchlafstatt unter die viereckige Klappe gerückt, diesich regelmäßig öffnete, um den mechanischen Armmit seinen Mahlzeiten einzulassen, dort pflegte ernun zu liegen, das Gesicht an den Gitterstäben, undauf sein Essen zu warten. Der Arzt fühlte Unbehagen,und er sprach mit dem Kommandeur darüber.

»Nun«, sagte der Kommandeur, »haben Sie irgend-einen Verdacht?«

»Ich weiß es nicht«, bekannte der Arzt. »Vielleichtist es nur, weil ich ihn häufiger sehe als jeder anderevon uns. Möglicherweise bin ich überempfindlichgeworden – aber er beunruhigt mich.«

»Beunruhigt Sie?«»Ja. Ich frage mich, ob wir den richtigen Weg ein-

geschlagen haben.«»Wir haben den einzigen Weg genommen.« Der

Kommandeur machte die kleine Geste und das Ge-räusch, die bei seiner Rasse einem Seufzen gleichka-men. »Wir brauchen Informationen. Was machen Sie,Doktor, wenn Sie auf ein Virus stoßen? Sie isolierenes zum Studium, bis Sie alles darüber wissen. Es istzu riskant, seine Rasse aus der Nähe zu studieren, al-so isolierten wir ihn zu diesem Zweck. Das ist alles.Sie verlieren die Objektivität, Doktor. Möchten Siegern einen kurzen Urlaub nehmen?«

»Nein«, sagte der Arzt langsam. »Nein. Aber er be-ängstigt mich.«

Doch die Zeit verstrich, und nichts geschah. Eldridgelief in seinem Käfig auf und ab oder lag auf seinerPritsche, das Gesicht an den Gitterstäben, und starrtein die Außenwelt. Ein weiteres Jahr verging; undnoch eins. Die doppelten Wachen wurden zurückge-zogen. Der Arzt kam widerwillig zu der Folgerung,daß der Mensch schließlich die Tatsache seiner Ge-fangenschaft akzeptiert habe, und er fühlte jene nor-male Sympathie in sich wachsen, die aus der Ver-trautheit entsteht. Bei seinen regelmäßigen Besuchenversuchte er mit Eldridge zu sprechen, aber Eldridgezeigte wenig Interesse an Gesprächen. Er lag auf sei-nem Lager und beobachtete den Arzt, während dieser

ihn untersuchte, und seine Augen hatten einen Aus-druck, als ob er von irgendeinem fernen Ort zusähe,wo alle Entscheidungen bereits getroffen und erledigtseien.

»Du bist so gesund wie immer«, sagte der Arztnach beendeter Untersuchung. Er betrachtete Eldridge.»Aber ich wünschte, du würdest ...« Er brach ab. »Wirsind nicht grausam, weißt du. Die Notwendigkeit,dies zu tun, bereitet uns kein Vergnügen.«

Er wartete. Eldridge sah ihn an. Er blieb bewe-gungslos.

»Wenn du das einsehen könntest«, fuhr der Arztfort, »wäre das Leben sicherlich leichter für dich.Vielleicht haben unsere Redensarten falsche Vorstel-lungen in dir geweckt. Wir sagten, du seist jetzt un-sterblich. Nun, das ist natürlich nicht wahr, jedenfallssolltest du es nicht wörtlich nehmen. Du hast jetzt dieMöglichkeit, eine sehr, sehr lange Zeit zu leben. Dasist alles.«

Wieder machte er eine Pause. Nach einem Momentdes Wartens fuhr er fort: »Wie dem auch sei, das Le-ben ist nicht dafür gemacht, daß es für alle Ewigkeitweitergeht. Es widerspräche seiner Natur. Auch Ras-sen haben eine begrenzte Lebensdauer, und selbst diewäre für ein einzelnes Individuum zu lang. Allesmuß einmal zu einem Abschluß kommen – das istunausweichlich. Es ist das Gesetz des Universums.«

Eldridge sagte noch immer nichts. Der Arzt seufzte.»Gibt es etwas, das du möchtest?« fragte er. »Wir

möchten dir das Dasein so erträglich wie möglichmachen. Gibt es etwas, womit wir dich erfreuen kön-nen?«

Eldridge öffnete seinen Mund.

»Gebt mir ein Boot«, sagte er. »Ich möchte eine An-gel. Ich möchte eine Flasche Apfelschnaps.«

Der Arzt schüttelte traurig seinen Kopf. Er wandtesich ab und signalisierte den Wachen. Die Käfigtürwurde geöffnet. Er ging hinaus.

»Bringt mir Kürbiskuchen«, rief Eldridge ihm nach.Er setzte sich aufrecht und umfaßte die Gitterstäbe.»Gebt mir ein bißchen grünes Gras hier drinnen.«

Der Arzt überquerte die Brücke. Die Brücke wurdeangehoben und hinter ihm eingezogen. Der Bild-schirm des Monitors leuchtete auf. Ein wolliges Ge-sicht blickte heraus und sah, daß alles in Ordnungwar. Die äußere Tür ging auf.

»Bringt mir ein paar Bäume!« schrie Eldridge hinterdem Arzt her. »Gebt mir gepflügte Felder! Oderbringt mir wenigstens ein wenig Erde, einfache, ge-wöhnliche Erde! Bringt mir die!«

Die Tür schloß sich hinter dem Arzt; und Eldridgebrach in wildes Gelächter aus. Er hing an den Gitter-stäben und starrte mit glühenden Augen hinaus undlachte ...

»Ich möchte gern von dieser Arbeit abgelöst werden«,sagte der Arzt zum Kommandeur.

»Tut mir leid«, erwiderte der andere. »Tut mirwirklich leid. Aber es war unsere taktische Gruppe,die dieses Programm durchsetzte und ausführte; undniemand hat die Erfahrung mit dem Gefangenen, dieSie haben, Doktor. Es ist unmöglich; ich kann nichtauf Sie verzichten.«

Der Arzt verneigte sich und ging hinaus.Auch die wollige, bärenähnliche Rasse hatte ihre

Nervenberuhigungsmittel. Der Arzt ging in sein

Quartier und verabfolgte sich eine Dosis. Eldridge lagunterdessen auf seiner Pritsche und lächelte dannund wann zu sich selbst. Seine Position war so, daß erüber die Mauer hinaus zum Flugfeld blicken konnte.Nach einiger Zeit landete eins von den großen Schif-fen, und als er die drei Besatzungsmitglieder vonBord gehen sah, lächelte er wieder.

Er legte sich zurück und schloß die Augen. Erschien ein paar Stunden zu dösen, dann ermunterteihn das Geräusch der Tür. Ein Wächter brachte dasMittagessen. Eldridge setzte sich aufrecht, schob diePritsche ein kleines Stück weiter und wartete auf dieMahlzeit.

Die Brücke wurde nicht ausgefahren – das geschahnur, wenn ein Besucher in seinen Käfig wollte. DerMonitor wurde eingeschaltet, und ein wolliges Ge-sicht beobachtete, wie das Essen auf den mechani-schen Arm geladen wurde. Der Arm schwenkte überden säuregefüllten Graben, streckte sich zum Käfig,und überwacht vom Gesicht im Monitor, öffnete sichdie Futterluke, als der mechanische Arm sein schau-felartiges Ende mit dem Tablett in den Käfig schob.

Lächelnd nahm Eldridge das Tablett herunter. DerArm zog sich zurück, die Klappe schwang zu undsperrte sich selbsttätig ab. Wächter, Essenträger undGesicht im Monitor entspannten sich. Der Essenträgerwandte sich zur Tür, das Gesicht im Monitor blickteauf irgendein unsichtbares Schaltbrett vor ihm, unddie äußere Tür öffnete sich.

In diesem Augenblick handelte Eldridge.Er sprang auf, und seine Hände packten die Eisen-

stäbe der Klappe. Es gab ein kurzes Kreischen vonMetall, als er die Klappe in einer unglaublich erschei-

nenden Kraftanstrengung losriß und auf sein Bettwarf. Im nächsten Moment sprang er mit dem Kopfvoran durch die viereckige Öffnung.

Nach einer Rolle kam er am Rand des Grabenswieder auf die Beine. Der scharfe Geruch der Säurestach in seine Nase. Er sprang aus dem Stand mitausgestreckten Armen vorwärts – und seine Fingerschlossen sich um das schaufelförmige Ende des me-chanischen Arms, der in seiner langsamen automati-schen Bewegung gerade über den Graben zurück-schwenkte.

Das Metall der Schaufel knirschte und verbog sich,wurde vom Gewicht abwärts geknickt, aber Eldridgehatte bereits losgelassen und ließ sich vom Schwungseines Körpers durch die Luft tragen. Am anderenUfer des Grabens prallte er, noch im Flug, gegen dennächsten Wächter und riß ihn mit sich zu Boden.

Eine Sekunde rollten sie ineinander verklammert,dann erschlaffte der Wächter, und Eldridge erhobsich auf ein Knie, in der Rechten das schwarze Rohrdes Wächters. Es spuckte einen Feuerstrahl, und derandere Wächter fiel. Eldridge sprang auf und rastezur Tür.

Sie begann sich zu schließen. Aber der unbewaff-nete Essenträger hatte sich nach dem ersten Schreckzur Flucht gewandt. Ein Feuerstrahl aus EldridgesWaffe traf ihn in den Rücken. Er fiel vornüber, unddie Tür klemmte an seinem Körper. Eldridge sprangihm nach und zwängte sich durch die Öffnung.

Dann war er draußen auf der freien Fläche. DasKreischen von Alarmsignalen spaltete die Luft. Er be-gann zu rennen ...

Der Arzt fühlte bereits die Wirkung des Beruhi-gungsmittels, doch war sie nicht so stark, daß sie ihngehindert hätte, zum Flugfeld zu eilen, als die Nach-richt kam. Getrieben von einer perversen Neugierde,suchte er zuerst das Gefängnis auf, um die herausge-rissene Klappe und den verbogenen mechanischenArm zu untersuchen. Er folgte Eldridges Fluchtweg,der ihn schräg über das Flugfeld zu einer Stelle führ-te, wo der Kommandeur und der Akademiker bei ei-ner geschwärzten Fläche standen. Sie begrüßten ihnmit kleinen Verneigungen.

»Hier hat er ein Schiff genommen?« fragte der Arzt.»Hier hat er ein Schiff genommen«, sagte der

Kommandeur.Es entstand eine kurze Stille zwischen ihnen.»Nun«, sagte der Akademiker, »wir haben unsere

Antwort.«»Wirklich?« Der Kommandeur blickte beinahe bit-

tend von einem zum anderen. »Ist es nicht möglich –daß es bloß Zufall war? Daß der Verschluß der Klap-pe zufällig versagte, und er blindlings handelte undGlück hatte?«

Der Arzt schüttelte seinen Kopf. Die Droge machteihn ein wenig müde, und er fühlte, daß seine Emotio-nen künstlich gedämpft waren, aber sein Denkver-mögen hatte nicht gelitten.

»Die Scharniere der Klappe«, sagte er, »waren kor-rodiert – von Säure zerfressen.«

»Von Säure?« Der Kommandeur starrte ihn an.»Wo hätte er Säure herkriegen können?«

»Aus seinem eigenen Verdauungsapparat – her-ausgewürgt und in die Scharniere gespuckt. Sein Ma-gen sonderte unter anderem Salzsäure ab – natürlich

stark verdünnt und nicht allzu wirksam, aber im Lau-fe einer längeren Zeit ...«

»Trotzdem«, sagte der Kommandeur verzweifelt.»Ich glaube, daß Glück dabei eine große Rolle spiel-te.«

»Können Sie das glauben?« fragte der Akademiker.»Bedenken Sie die genaue Wahl des Zeitpunkts, woder mechanische Arm in geeigneter Position war, dieäußere Tür offen stand und der Wächter überraschtwerden konnte. Bedenken Sie den sicheren und un-bedenklichen Waffengebrauch, der nur das Ergebnislanger und geduldiger Beobachtung sein konnte, undschließlich die Wahl eines Zeitpunkts, wo ein vollausgerüstetes Schiff mit noch nicht abgekühltenTriebwerken auf ihn wartete.« Er schüttelte seinenwolligen Kopf. »Nein, wir haben unsere Antwort. Wirsteckten ihn in ein ausbruchssicheres Gefängnis under entkam.«

»Aber nichts davon war möglich!« rief der Kom-mandeur.

Der Arzt lachte. Er wollte etwas sagen, doch derAkademiker kam ihm zuvor.

»Es kommt nicht darauf an, was er getan hat«,sagte er, »sondern auf die Tatsache, daß er es tat. KeinAngehöriger einer anderen bekannten Kultur hätteauch nur die Möglichkeit erwogen. Sehen Sie, er miß-achtete, leugnete die Tatsache, daß Flucht unmöglichwar. Genau das ist es, was seine Art so gefährlichmacht. Die Tatsache, daß etwas unmöglich ist, stelltfür ihren suchenden Verstand kein Hindernis dar.Das, und nur das, stellt sie auf eine Ebene, die wir nieerreichen können.«

»Aber das ist eine falsche Prämisse!« protestierte

der Kommandeur. »Sie können Naturgesetze nichtmißachten. Sie sind an die physikalische Ordnungdes Universums gebunden.«

Der Arzt lachte wieder. Sein Lachen hatte einenwilden Unterton. Der Kommandeur sah ihn an.

»Sie haben Drogen genommen«, sagte der Kom-mandeur.

»Ja«, gluckste der Arzt. »Und auch Sie werden baldzu Beruhigungsmitteln greifen. Machen wir uns aufdas Ende unserer Rasse, unserer Kultur und unsererOrdnung gefaßt.«

»Hysterie«, sagte der Kommandeur.»Hysterie?« fragte der Arzt zurück. »Nein –

Schuldbewußtsein! Die Legende sagte uns, wir solltensie nicht berühren, die explosive Mischung ihrer Artnicht durch einen Funken zur Entladung bringen.Und wir gingen hin und taten es, Sie und Sie und ich.Und nun haben wir einen Feind fortgeschickt, in ei-nem Schiff, das ihn durch die ganze Galaxis tragenkann, verproviantiert für Jahre und ausgerüstet mitSternkarten und allen Hinweisen für das Verständnisunserer Kultur und die Wiederauffindung seinerHeimatwelt.«

»Ich sage«, beharrte der Kommandeur, »daß ernicht so gefährlich ist – noch nicht. Bisher hat ernichts getan, was einer von uns nicht auch hätte tunkönnen. Er hat keine übernatürlichen Fähigkeiten ge-zeigt.«

»Wirklich nicht?« sagte der Arzt. »Was ist mit derHitzebarriere, unserer gefährlichsten Waffe, die ihnzu Asche verbrennen konnte, wenn er sie nur be-rührte?«

Der Kommandeur starrte ihn an. »Die Barriere war

natürlich ausgeschaltet, um den Essenträger hinaus-zulassen. Ich dachte ...«

»Ich habe es nachgeprüft«, sagte der Arzt. »DieBarriere wurde wieder eingeschaltet, bevor er hin-auskonnte.«

»Aber er entkam! Sie meinen doch nicht ...« DesKommandeurs Stimme versagte. Die drei standen ge-fangen in einer plötzlichen Stille. Langsam, wie voneiner unsichtbaren Kraft bewegt, hoben sie ihre wol-ligen Schädel und starrten hinauf in den leeren Him-mel.

»Sie meinen ...«, murmelte der Kommandeur wie-der.

»Genau!« flüsterte der Arzt.

Irgendwo lächelte Eldridge zu den Sternen.

Die Stunde der Delphine

Natürlich gab es keinen Grund, warum eine Besuche-rin der Forschungsstation nicht schön sein sollte.Aber Mal hatte nicht erwartet, daß eine Frau die Inselbesuchen würde, und schon gar nicht so eine.

Kastor und Pollux waren an diesem Morgen nichtins Meerwasserbecken gekommen. Vielleicht hattensie die Station verlassen, wie andere wilde Delphinees vor ihnen getan hatten – und heutzutage trug Malimmer die Angst mit sich herum, daß die Willernie-Stiftung irgendeinen Vorwand benützen würde, umdie Mittel für weitere Forschungen zu sperren. SeitDr. Edwin Knight gestorben war und Corwin Braytseine Nachfolge als Leiter der Station angetreten hat-te, wurde Mal von dieser Befürchtung geplagt. Aller-dings hatte Brayt nichts gesagt. Es war nur ein Ge-fühl, das Mal aus der Anwesenheit des kalten, groß-gewachsenen Mannes zuwuchs. So kam es, daß Maldraußen vor der Station war und mit den Augen dieOberfläche des Ozeans nach Kastor und Pollux ab-suchte, als das Wassertaxi vom Festland die Besuche-rin brachte.

Sie stieg aus und kam die Landungsbrücke entlang,und als sie ihn von der Terrasse vor dem Hauptge-bäude der Station herabstarren sah, winkte sie ihmzu, als ob sie gut mit ihm bekannt wäre.

»Hallo«, sagte sie, als sie vor ihm stehenblieb.»Sind Sie Corwin Brayt?«

Angesichts ihrer strahlenden Schönheit war sichMal plötzlich stärker als sonst der hageren, schlampiggekleideten Durchschnittlichkeit seiner Erscheinung

bewußt. Sie hatte braune Haare und war groß für einMädchen – aber das beschrieb sie nicht annähernd. Eswar Vollkommenheit an ihr, und ihr Lächeln rührteihn seltsam an.

»Nein«, sagte er. »Ich bin Malcolm Sinclair. CorwinBrayt ist in seinem Büro, glaube ich.«

»Mein Name ist Jane Wilson«, sagte sie. »Die Zeit-schrift ›Background Monthly‹ hat mich hergeschickt,daß ich einen Artikel über die Delphine schreibe. Ar-beiten Sie mit ihnen?«

»Ja«, sagte Mal. »Ich war dabei, als Doktor Knightmit seiner Arbeit hier anfing.«

»Ah, gut«, sagte sie. »Dann können Sie mir sicher-lich einiges sagen. Waren Sie hier, als Doktor Braytnach Doktor Knights Tod die Leitung der Stationübernahm?«

»Mr. Brayt«, korrigierte er. »Ja.« Er starrte sie an,völlig fasziniert und von ungewohnten Empfindun-gen durchflutet. Sie mußte es merken, doch gab sie esnicht zu erkennen.

»Mr. Brayt?« echote sie. »Oh. Ich sehe. Ist er einguter Forschungsleiter?«

»Mr. Brayt kümmert sich um die Verwaltungsan-gelegenheiten«, sagte Mal. »Mit der Forschung hat ernichts zu tun.«

»Nicht?« Sie machte ein erstauntes Gesicht. »Aberhat er nach Doktor Knights Tod nicht dessen Stelleeingenommen?«

»Nun, ja«, sagte Mal zögernd, »aber nur als Ver-walter der Station hier. Sehen Sie – die meisten Mittelfür unsere Arbeit hier kommen von der Willernie-Stiftung. Dort hatte man Vertrauen in Doktor Knight,aber als er starb, wollte man einen eigenen Mann an

die Spitze stellen, um die Verwendung der Gelder zukontrollieren. Uns stört es nicht.«

»Willernie-Stiftung«, sagte sie. »Die kenne ichnicht.«

»Sie wurde von einem gewissen Willernie in St.Louis ins Leben gerufen«, sagte Mal. »Er machte seinGeld mit der Fabrikation von Küchenutensilien, undals er alt wurde, gründete er zur Verewigung seinesNamens und wegen der Erbschaftssteuer die Stiftungzur Förderung der Grundlagenforschung.« Mal lä-chelte. »Fragen Sie mich nicht, wie er von Küchenge-räten darauf gekommen ist. Das ist für Sie nicht vielInformation, wie?«

»Es ist mehr, als ich vor einer Minute hatte«, ant-wortete sie, gleichfalls lächelnd. »Kannten Sie CorwinBrayt, bevor er hierher kam?«

Mal schüttelte den Kopf. »Nein. Außerhalb der Ge-biete Biologie und Zoologie kenne ich kaum Leute.«

»Nun, ich könnte mir denken, daß Sie ihn in densechs Monaten seiner Tätigkeit hier gut kennenge-lernt haben.«

Mal zögerte. »Nun – äh, ich würde nicht sagen, daßich ihn gut kenne, im Gegenteil. Sehen Sie, er ist denganzen Tag oben in seinem Büro, und ich bin bei Ka-stor und Pollux – das sind die zwei wilden Delphine,die wir dazu gebracht haben, daß sie zur Stationkommen. Corwin Brayt und ich sehen uns kaum.«

»Auf dieser kleinen Insel?«»Es klingt vielleicht komisch – aber jeder hat mit

seiner eigenen Arbeit zu tun.«Sie lächelte wieder. »Ich verstehe. Können Sie mich

zu ihm bringen?«»Zu ihm?« Mal erinnerte sich plötzlich, daß sie

noch auf der Terrasse standen. »Ach ja, Sie wolltenmit Mr. Brayt sprechen.«

»Nicht nur mit ihm«, sagte sie. »Ich möchte dieganze Station kennenlernen.«

»Gut. Ich werde Sie ins Büro bringen. KommenSie.«

Er führte sie über die Terrasse und durch denHaupteingang in die klimatisierte Kühle des Innern.Corwin Brayt ließ die Klimaanlage ständig laufen, alsob seine eisige Persönlichkeit nach der trockenenKälte einer Gebirgsatmosphäre verlangte. Mal führteJane Wilson durch einen kurzen Korridor und eineweitere Tür in ein großes Büro mit breiter Fenster-front zum Meer. Ein großer, schlanker, breitschultri-ger Mann mit dunklem Haar und gebräuntem Ge-sicht blickte von einem großen Schreibtisch auf underhob sich, als er Jane Wilson sah.

»Mr. Brayt«, sagte Mal. »Dies ist Miß Jane Wilsonvom ›Background Monthly‹.«

Corwin Brayt kam mit ausdrucksloser Miene umseinen Schreibtisch. »Ja«, sagte er mit metallischerStimme, »ich erhielt gestern ein Telegramm, das IhrenBesuch ankündigte.« Er wartete nicht, daß sie ihm dieHand gab, sondern streckte die seine aus. Ihre Fingerberührten sich in einem flüchtigen Händedruck.

»Ich muß mich um meine Delphine kümmern«,sagte Mal, als er sich zögernd zum Gehen wandte.

»Wir sehen uns später, Mr. Sinclair«, sagte sie miteinem Blick über die Schulter.

»Ja. Ja, vielleicht«, sagte er. Er ging hinaus. Als erdie Bürotüre hinter sich geschlossen hatte, blieb er ei-nen Moment im dämmerig-kühlen Korridor stehenund schloß die Augen. Sei nicht blöd, sagte er sich.

Eine Frau wie die kann ganz andere Männer habenals dich.

Er öffnete seine Augen und ging hinaus und zumBecken hinter der Station, wo die nichtmenschlicheWelt der Delphine begann.

Als er anlangte, fand er, daß Kastor und Pollux zu-rückgekehrt waren. Ihr Becken war offen, mit freiemZugang zu den offenen blauen Wassern der Karibi-schen See. In der Anfangszeit der Forschungsstationhatten sie die Delphine wie andere gefangene Wild-tiere eingesperrt. Die Tiere waren in einem großen,betonierten Meerwasserbecken gehalten worden. Erstspäter, als die Arbeit in der Station auf ein Problemgestoßen war, das Knight »Umweltbarriere« genannthatte, wurde die Idee geboren, das Becken zum Meerzu öffnen, damit die Delphine, mit denen sie arbeite-ten, bleiben oder die Station verlassen konnten, wiesie es wollten.

Sie waren fortgeschwommen – aber sie waren zu-rückgekehrt. Nach einiger Zeit waren sie endgültigverschwunden. Aber seltsamerweise waren von Zeitzu Zeit wilde Delphine gekommen, ihren Platz ein-zunehmen, so daß es in der Station fast immer Del-phine gab.

Kastor und Pollux waren das letzte Paar. Sie warenvor ungefähr vier Monaten aufgetaucht, nachdem eineinzelner Delphin, der die Station bis dahin frequen-tiert hatte, weggeblieben war. Frei und unabhängig,waren sie überaus willig zur Zusammenarbeit gewe-sen. Aber die Barriere war nicht durchgebrochenworden.

Nun glitten sie in spielerischen Figuren durch dasdreißig Meter lange Becken, über-, unter- und neben-

einander, wobei ihre fast identischen, zweieinhalbMeter langen Körper sich beinahe, aber nie wirklichberührten. Die Tonaufzeichnung zeigte, daß sie imUltraschallbereich zwischen achtzig und hundert-zwanzig Kilohertz miteinander sprachen. Ihre Bewe-gungen im Wasser faszinierten ihn um so mehr, jelänger er sie beobachtete. Sie waren von regelmäßigerAbfolge, und rituell wie ein Tanz.

Er setzte sich und legte die Kopfhörer an, die mitden Unterwassermikrophonen an beiden Seiten desBeckens verbunden waren. Durch ein eigenes Mikro-phon konnte er über Unterwasserlautsprecher zu ih-nen sprechen, und das tat er jetzt, aber sie ignoriertenseine Frage nach dem Sinn ihrer Bewegungen undschwammen weiter ihre Figuren.

Das Geräusch von Schritten hinter ihm ließ ihnaufmerken. Er sah Jane Wilson die Betontreppe vonder Station herunterkommen, begleitet von Pete Ad-ant, dem Stationsmechaniker.

»Da ist er«, sagte Pete, als sie am Fuß der Treppewaren. »Ich muß jetzt umkehren.«

»Danke.« Sie gab Pete das gleiche Lächeln, das Malzuvor so verwirrend gefunden hatte. Pete wandtesich um und stapfte die Treppe hinauf. Sie kam lang-sam näher und blickte neugierig ins Becken.

»Störe ich?« fragte sie.Er nahm die Kopfhörer ab. »Nein. Ich kriegte so-

wieso keine Antworten.«Sie betrachtete die zwei Delphine bei ihrem Unter-

wassertanz. Bei jeder Wendung der elegant gleiten-den Körper entstanden kleine Wirbel an der Oberfläche.

»Antworten?« sagte sie. Sie lächelte ein wenig unsi-cher.

»Wir nennen sie Antworten«, sagte er. »Manchmalkönnen wir Fragen stellen und kriegen Antworten.«

»Sinnvolle Antworten?«»Manchmal. Sie wollten mich wegen etwas spre-

chen?«»Wegen allem«, sagte sie. »Es scheint, daß Sie der

Mann sind, mit dem ich sprechen muß – nicht Brayt.Er schickte mich zu Ihnen. Soviel ich verstanden ha-be, sind Sie derjenige mit der Theorie.«

»Theorie?« sagte er wachsam, während ein Unbe-hagen sich in ihm ausbreitete.

»Die Idee, dann«, sagte sie. »Die Idee, daß eine in-terstellare Zivilisation, sollte es eine geben, daraufwarten könnte, daß die Bewohner der Erde sich quali-fizieren, bevor sie mit ihnen Verbindung aufnimmt.Und daß dieser Test nicht ein technologischer seinkönnte, wie etwa die Entwicklung eines überlicht-schnellen Antriebs, sondern ein soziologischer ...«

»Wie das erlernen der Kommunikation mit einerfremden Rasse – einer Rasse wie derjenigen der Del-phine«, unterbrach er sie rauh. »Hat Corwin BraytIhnen das erzählt?«

»Ich hörte davon, bevor ich zu Ihrer Station kam«,sagte sie. »Allerdings hatte ich gedacht, es sei BraytsTheorie.«

»Nein«, sagte Mal. »Es ist meine.« Er blickte siemißtrauisch an. »Sie lachen ja nicht.«

»Sollte ich lachen?« sagte sie. Sie verfolgte auf-merksam die Bewegungen der Delphine. Plötzlichempfand er eine unvernünftige Eifersucht, daß diezwei ihre Aufmerksamkeit fesselten; und die Emotionstachelte ihn zu etwas an, das er sonst nicht gewagthätte.

»Fahren Sie mit mir zum Festland«, sagte er. »Wirkönnen zusammen zu Mittag essen, und dabei er-zähle ich Ihnen alles.«

»Ja. Mir ist es recht.« Sie blickte endlich von denDelphinen weg und zu ihm, und er war erstaunt, daßsie die Stirn runzelte. »Es gibt vieles, was ich nichtverstehe«, murmelte sie. »Ich dachte, es sei Brayt,über den ich lernen müßte. Aber nun sind Sie es –und die Delphine.«

»Vielleicht können wir das auch beim Mittagessenklären«, sagte Mal, dem nicht ganz klar war, was siemeinte. Aber es kümmerte ihn nicht sonderlich.»Kommen Sie mit zum Steg.«

Sie fuhren mit einem der beiden schnellen Motor-boote hinüber nach Carúpano und setzten sich aufdie Terrasse eines kleinen Hafenrestaurants, währenddas höfliche Spanisch weicher venezolanischer Stim-men von den anderen Tischen herüberklang.

»Warum sollte ich über Ihre Theorie lachen?«fragte sie, als der Kellner das Essen gebracht hatte.

»Die meisten Leute halten es für eine absurde Ent-schuldigung unseres Versagens.«

Ihre geschwungenen Brauen hoben sich. »Versa-gen?« fragte sie. »Ich dachte, Sie machten stetige Fort-schritte.«

»Ja. Und nein. Noch zu Doktor Knights Lebzeitenstießen wir auf ein Problem, das er die Umweltbarrie-re nannte.«

»Umweltbarriere?«»Ja.« Mal stocherte mit der Gabel zwischen den

Krabben seines Meeresgerichts. »Unsere Arbeit bautauf den Forschungen auf, die Doktor John Lilly

durchführte. Haben Sie sein Buch ›Mensch und Del-phin‹ gelesen?«

»Nein«, sagte sie. Er sah sie erstaunt an.»Lilly war der Pionier auf diesem Gebiet. Ihm ver-

danken wir einen guten Teil dessen, was wir über dieDelphine wissen«, sagte Mal. »Ich dachte, die Lektüredieses Buches sei Ihre wichtigste Vorbereitung fürdiesen Besuch gewesen.«

»Ich muß gestehen, daß es nicht so war«, sagte sie.»Hauptsächlich versuchte ich etwas über CorwinBrayt in Erfahrung zu bringen. Und ich war wenig er-folgreich damit. Deshalb landete ich hier mit der Vor-stellung, daß er derjenige sei, der mit den Delphinenarbeitet. Aber erzählen Sie mir von dieser Umwelt-barriere.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, sagte er. »Wiedie meisten großen Probleme ist es einfach zu be-schreiben. Den ersten Forschern, die mit Delphinenarbeiteten, kam es so vor, als ob die Kommunikationmit unseren Brüdern im Meer in greifbarer Nähe wä-re – eine bloße Frage der Umsetzung ihrer Lautspra-che in den menschlichen Hörbereich. Dann, so meinteman damals, könnte es nicht schwierig sein, ihreSprache zu lernen und die Delphine die menschlicheSprache zu lehren.«

»Und es stellte sich heraus, daß das nicht zu ma-chen war?«

»Es war zu machen. Es wurde gemacht; oder jeden-falls so ähnlich. Aber dann wurden wir mit der Tatsa-che konfrontiert, daß Kommunikation nicht dasselbeist wie Verstehen. Sie und ich sprechen die gleicheSprache, aber verstehen wir wirklich genau, was dieandere Person meint, wenn sie zu uns spricht?«

Sie sah ihn eine Weile nachdenklich an, und dannschüttelte sie langsam ihren Kopf.

»Nun«, sagte Mal, »das ist unser Problem mit denDelphinen, nur in einem viel größeren Maßstab. Del-phine wie Kastor und Pollux können mit mir spre-chen, und ich mit ihnen, aber wir können einanderkaum verstehen.«

»Sie meinen, intellektuell verstehen, nicht wahr?«fragte Jane Wilson. »Nicht bloß mechanisch?«

»Richtig«, antwortete Mal. »Wir können in der Be-zeichnung von Dingen übereinstimmen, aber nicht inder Bedeutung. Ich kann zu Kastor sagen: ›Der Golf-strom ist eine mächtige Meeresströmung‹, und er wirdmir wahrscheinlich zustimmen. Aber keiner von unshat in Wirklichkeit die leiseste Ahnung, was der anderetatsächlich meint. Mein Vorstellungsbild vom Golf-strom ist nicht Kastors Vorstellungsbild. Meine Idee von›mächtig‹ ist abhängig von der Tatsache, daß ich einenMeter achtzig groß bin, hundertfünfzig Pfund wiegeund mein Eigengewicht gegen den Zug der Schwer-kraft heben kann. Kastors ist abhängig von der Tatsa-che, daß er zweieinhalb Meter lang ist, mit sechzigStundenkilometern durch das Wasser sausen kannund seines Wissens nichts wiegt, weil seine vierhun-dert Pfund Körpergewicht vom gleichen Gewicht sei-ner Wasserverdrängung aufgehoben werden. Unddie Vorstellung, etwas zu heben, ist ihm unbekannt.Meine Vorstellung vom Ozean ist nicht die seine, undunsere Vorstellung von einer Strömung könnte aufeinen gemeinsamen Nenner zu bringen sein, könnteaber auch durch Welten getrennt sein. Wir können esnicht feststellen. Und wir haben bisher keinen Weggefunden, die Lücke zwischen uns zu überbrücken.«

»Die Delphine haben sich genauso um Verständi-gung bemüht wie Sie?«

»Ich glaube es«, sagte Mal. »Aber ich kann es nichtbeweisen. Genausowenig wie ich hartgesottenenSkeptikern die Intelligenz der Delphine beweisenkann, solange ich nicht etwas vorweisen kann, dasbisher außerhalb menschlichen Wissens war und mirvon den Delphinen beigebracht wurde. Oder solangeich nicht demonstrieren kann, daß sie den Gebrauchirgendeines menschlichen Denkprozesses erlernt ha-ben. Und in diesen Dingen haben wir alle versagt –und zwar wegen der Bedeutungslücke, die ein Re-sultat der Umweltbarriere ist.«

Sie saß da und beobachtete ihn. Er hatte auf einmaldas Gefühl, daß er einfältig sei, ihr alles dies zu sa-gen, aber seit Dr. Knights Tod hatte er keine Gele-genheit gehabt, das Thema zu erörtern. Die Wortedrängten einfach aus ihm heraus.

»Wir müssen lernen, wie die Delphine zu denken«,sagte er. »Oder die Delphine müssen lernen, wie wirzu denken. Seit bald sechs Jahren versuchen wir es,doch bisher ist es keiner Seite gelungen.« Ohne nach-zudenken, fügte er den einen Satz hinzu, den er fürsich behalten wollte: »Ich fürchte, daß die Mittel fürunsere Forschung jetzt jeden Tag gesperrt werden.«

»Gesperrt? Von der Willernie-Stiftung?« sagte sie.»Warum sollte sie das tun?«

»Weil wir in dieser ganzen Zeit keinen Fortschritt ge-macht haben«, sagte Mal bitter. »Jedenfalls keinen be-weisbaren Fortschritt. Und wenn das Forschungspro-gramm abgebrochen wird, dann wird es möglicherwei-se nie wieder aufgenommen. Vor sechs Jahren wardas Interesse für die Delphine groß. Bücher erschie-

nen, und die Magazine und Illustrierten machten dasThema in der Öffentlichkeit populär. Nun, weil dieschnellen, spektakulären Erfolge ausgeblieben sind,hat man die Delphine abgeschrieben und vergessen.«

»Aber Sie wissen nicht sicher, daß die Forschungfür immer eingestellt wird.«

Mal zuckte die Achseln. »Ich fühle es. Es hängt mitmeiner Theorie zusammen, daß die Fähigkeit zurKommunikation mit einer fremden Rasse vom Gelin-gen dieses Tests abhängen könnte. Ich fühle, daß wirdiese eine Chance haben, und wenn wir sie verpfu-schen, wird es keine zweite für uns geben.« Er beugtesich über den Tisch und klopfte mit den Knöcheln aufdas Tuch. »Das Schlimmste aber ist, ich weiß, daß dieDelphine genauso bemüht sind, von ihrer Seite dieBarriere zu überwinden. Wenn ich nur begreifenkönnte, was sie machen, wie sie versuchen, sich mirverständlich zu machen!«

Jane Wilson hatte ihn schweigend beobachtet. Nacheiner Pause sagte sie: »Sie scheinen davon überzeugtzu sein. Was macht Sie so sicher?«

Seine Finger strecken sich. Er ließ sich in den Stuhlzurücksinken.

»Haben Sie schon einmal einen Blick in die Kiefereines Delphins geworfen?« sagte er. »Sie sind solang.« Er hielt seine Hände in die Luft, um es zu de-monstrieren. »Und jedes Kieferpaar enthält achtund-achtzig scharfe Zähne. Außerdem wiegt ein Delphinwie Kastor mehrere hundert Pfund und kann sich mitGeschwindigkeiten durch das Wasser bewegen, dieein Mensch aus eigener Kraft nicht annähernd er-reicht. Er könnte unsereinen mit Leichtigkeit zerquet-schen, indem er ihn an den Beckenrand drängte,

wenn er es nicht vorzöge, ihn mit seinen Zähnen zuzerreißen oder ihm mit einem Schlag der Schwanz-flosse die Knochen zu brechen.« Er hielt inne undblickte sie grimmig an. »Trotz alledem, trotz der Tat-sache, daß Menschen Delphine gefangen und getötethaben, hat noch nie ein Delphin ein menschlichesWesen angegriffen – obwohl Delphine keinerleiHemmung haben, ihre Zähne und ihre Kräfte gegenFeinde im Meer einzusetzen. Es gibt zahlreiche Le-genden und Erzählungen, in denen von der Men-schenfreundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Del-phine berichtet wird. Aristoteles spricht schon imvierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung ›Vonder sanften und freundlichen Natur des Delphins‹.«

Er brach ab und sah Jane Wilson scharf an.»Sie glauben mir nicht«, sagte er.»Doch«, antwortete sie. »Gewiß. Warum sollte ich

nicht?«»Entschuldigen Sie«, murmelt er. »Wissen Sie, ich

habe den Fehler gemacht, all dies vor anderen Leutenzu erwähnen, und ich bedaure noch heute, daß ich estat. Ein Mann, dem ich das erzählte – ein Wissen-schaftler, übrigens –, meinte dazu, man könne darausersehen, daß der Delphin instinktiv die menschlicheÜberlegenheit und die Höherwertigkeit menschlichenLebens anerkenne.« Mal lachte rauh auf. »Der Mannwar Naturwissenschaftler und nicht Theologe, aberauch er wollte alles als bloßen Instinkt abtun. ›Siesind wie Hunde‹, sagte er mir. ›Hunde bewundernund lieben den Menschen instinktiv ...‹ Und dannwollte er mir von seinem Dackel erzählen, der dieZeitung lesen konnte und sie ihm nicht bringenwollte, wenn auf der Titelseite eine Tragödie gemel-

det wurde. Den Beweis dafür sah er darin, daß er dieZeitung gelegentlich selber ins Haus tragen mußte.«

Jane Wilson lachte. Es war ein tiefes, glücklichesLachen; und es nahm plötzlich die Bitterkeit von Mal.

»Wie dem auch sei«, sagte er, »die Rücksichtnahmedes Delphins gegenüber dem Menschen und die Tat-sache, daß frei lebende Delphine regelmäßig zu unsin die Station kommen, sind nur zwei von vielenHinweisen, die mich überzeugt haben, daß die Del-phine uns zu verstehen suchen. Vielleicht haben sie esschon seit Jahrhunderten versucht.«

»Ich sehe nicht ein, wieso Sie sich um den Fortbe-stand der Forschungsstation Gedanken machen«,sagte sie. »Mit dem Wissen, das Sie erworben haben,müßten Sie die Leute doch überzeugen können.«

»Es gibt nur eine Person, die ich überzeugen muß«,antwortete Mal. »Und die ist Corwin Brayt. Ich habenicht den Eindruck, daß es mir bisher gelungen ist.Mir ist, als habe er nur die Aufgabe, mich und dieArbeit in der Station zu beurteilen.« Mal zögerte. »Ichhabe beinahe das Gefühl, daß er der Liquidator derStation ist.«

»Das glaube ich nicht«, widersprach Jane Wilson.»Das kann nicht sein. Wenn Sie wollen, stelle ich esfür Sie fest. Es gibt Mittel und Wege, das herauszu-bringen. Ich könnte Ihnen die Antwort schon jetzt ge-ben, wenn ich geahnt hätte, daß er nur administrativeAufgaben hat. Aber ich hielt ihn für einen Wissen-schaftler und suchte an den falschen Orten etwasüber ihn zu erfahren.«

Mal blickte sie stirnrunzelnd an, ungläubig.»Meinen Sie wirklich, Sie können das für mich fest-

stellen?« fragte er.

Sie lächelte.»Warten Sie ab«, sagte sie. »Ich möchte selbst gern

wissen, was für einen Hintergrund er hat.«»Das wäre gut«, sagte er eifrig. »Ich weiß, es klingt

phantastisch – aber wenn ich recht habe, dann könntedie Forschung mit den Delphinen wichtig sein, wich-tiger als viele andere Projekte, die mit Millionenauf-wand gefördert werden.«

Sie stand plötzlich vom Tisch auf.»Ich werde gehen und mich gleich um die Sache

kümmern«, sagte sie. »Fahren Sie ruhig zur Insel zu-rück. Es wird ein paar Stunden dauern, bis ich fertigsein werde, und dann kann ich das Wassertaxi neh-men.«

»Aber Sie sind noch nicht mit dem Essen fertig«,sagte er. »Tatsächlich haben Sie noch gar nicht ange-fangen. Essen wir zuerst, dann können Sie gehen.«

»Ich möchte ein paar Leute anrufen und muß se-hen, daß ich sie noch erreiche, bevor sie Feierabendmachen«, erwiderte sie. »Bei diesen Ferngesprächenmuß man die Zeitdifferenz berücksichtigen. Tut mirleid. Wir können heute abend gemeinsam essen,wenn Sie wollen – ist das recht?«

»Es muß recht sein«, sagte er.Mal beendete seine Mahlzeit ohne rechten Appetit.

Dann blieb er sitzen und trank zwei weitere Rum-cocktails – etwas Ungewöhnliches für ihn –, bevor erdas Motorboot bestieg und zur Insel zurückkehrte.

Auf dem Weg von der Landungsbrücke zum Del-phinbecken traf er Pete Adant.

»Da bist du ja«, sagte Pete. »Brayt will dich in einerStunde sprechen – das heißt, wenn er zurückkommt.

Er ist mit dem Hubschrauber zum Festland geflo-gen.«

Unter gewöhnlichen Umständen hätte eine solcheNachricht die üblen Vorahnungen über eine Stille-gung der Forschungsstation in Mal geweckt, aber diedrei großen Rumcocktails hatten seine Emotionen ge-dämpft. Er nickte und ging weiter zum Becken.

Die Delphine waren noch da und schwammen ihreFiguren. Oder bildete er sich das bloß ein? Mal setztesich auf seinen Stuhl vor das Aufnahmegerät, das dieGeräusche der Delphine registrierte und in einer vi-suell ablesbaren Kurve aufzeichnete. Er schaltete dasMikrophon ein und schob die Kopfhörer über seineOhren.

Auf einmal traf ihn der Gedanke, wie nutzlos dasalles sei. Seit vier Jahren unterzog er sich täglich die-ser Routine, und welche Resultate konnte er vorwei-sen? Stapel von Spulen, die den Fehlschlag einerwirklich produktiven Konversation mit den Delphi-nen minuziös darlegten.

Er nahm die Kopfhörer ab und legte sie weg. Erzündete eine Zigarette an und betrachtete sinnenddas Unterwasserballett der Delphine. Die anmutigeZielsicherheit und mühelose Eleganz ihrer Bewegun-gen stand weit über allem, was ein Mensch in derLuft oder auf dem Land vollführen konnte. Er dachtewieder daran, was er Jane Wilson über die Friedfer-tigkeit der Delphine gegenüber den Menschen erzählthatte. Selbst wenn sie von Menschen gefangen, ver-letzt oder getötet wurden, weigerten sich Delphine,ihre Fänger und Peiniger anzugreifen. Er dachte andie Tatsache, daß Delphine einem Artgenossen zuHilfe kommen, der verletzt und besinnungslos ist,

und ihn an der Wasseroberfläche halten, so daß ernicht ertrinkt.

Er dachte an ihren spielerischen Mutwillen, ihreZuneigung zum Menschen, den breiten und vielfälti-gen Bereich ihrer Sprache. Bei den Delphinen gab eskeine erkennbaren Impulse zu Krieg und Mord, zuHaß und Grausamkeit, nicht einmal zur Unfreund-lichkeit. In den meisten Kategorien schnitt der Durch-schnittsmensch im Vergleich zum Delphin schlechtab. Kein Wunder, dachte Mal, daß sie und wirSchwierigkeiten haben, einander zu verstehen. In ei-ner anderen Umgebung und unter anderen Lebens-bedingungen sind sie die Art von Leuten, die wirgern sein möchten. Wir haben die Technologie unddie Fähigkeit zum Gebrauch von Werkzeugen, trotz-dem sind wir in vielerlei Hinsicht mehr Tier als sie.

Wir sollten von dem Wahn ablassen, daß wir besserseien als sie, dachte er, mit benommener Melancholieihre Bewegungen verfolgend. Wahrscheinlich wäreich selbst glücklicher, wenn ich ein Delphin wäre. DieIdee erschien ihm ungemein anziehend. Die endloseoffene See, die Freiheit, ein Ende mit allen kompli-zierten und fehlerbehafteten Strukturen menschlicherLandzivilisation. Ein paar Zeilen aus einem Gedichtkamen ihm in den Sinn.

»Kommt, Kinder«, zitierte er laut zu sich selbst,»laßt uns fort! Hinunter und fort, hinab ...!«

Er sah die zwei Delphine in ihrem Unterwasser-ballett innehalten und sah, daß sein Mikrophon ein-geschaltet war. Ihre Köpfe wandten sich zum Unter-wasserlautsprecher. Mal erinnerte sich an die folgen-den Zeilen, und er sagte sie den Delphinen laut auf.

»Nun rufen meine Brüder von der See,Nun bläst der große Wind landein,Schon brandet Salzflut an die Klippen,Schon schütteln weiße Pferde ihre Mähnen,Stampfen und toben und wiehern im Gischt.«

Er brach verlegen ab und blickte hinunter zu denDelphinen. Einen Moment schwebten sie unter derOberfläche, dem Lautsprecher gegenüber. Dannwendete Kastor und tauchte auf. Seine Stirn mit demBlasloch durchbrach die Oberfläche, und dann kamder ganze Kopf nach, als er zu Mal aufblickte. Dieempfindlichen Lippen und Muskeln des Blaslochessprachen quakende Worte.

»Komm, Mal!« quakte er. »Laß uns fort! Hinunterund fort! Hinab!«

Der Kopf von Pollux tauchte neben Kastor auf. Malstarrte die beiden an. Dann riß er seinen Blick von ih-nen los und prüfte das Band des Aufzeichnungsge-räts. Da war die rhythmische Aufzeichnung seiner ei-genen Stimme, wie sie im Becken geklungen hatte,und darunter, auf den separaten Spuren, waren par-allelrhythmische Aufzeichnungen der Delphin-Stimmen. Sie hatten im nichthörbaren Bereich mitge-sprochen, als er zitiert hatte.

Mal stand auf. Benommen ging er zum seichtenEnde des Beckens, wo Stufen ins Wasser führten, dashier nur einen Meter tief war.

»Komm, Mal!« quakte Kastor. Die zwei Delphinehatten ihre Köpfe noch immer über dem Wasser undschauten ihn an. »Laß uns fort! Hinunter und fort!Hinab!«

Mal stieg langsam die Stufen hinunter. Er fühlte die

Kühle des Wassers durch seine Hosenbeine dringenund an ihm aufwärts kriechen. Zwei Meter vor ihmschwebten die Delphine im Wasser und warteten.Mal stand hüfttief im Wasser und sah sie an. Erdachte, daß sie ihm irgendein Zeichen geben würden,einen Hinweis, was sie von ihm erwarteten.

Sie gaben ihm keinen Anhaltspunkt. Sie wartetennur. Er ruderte vorwärts in tieferes Wasser, hielt denAtem an, zog den Kopf ein und stieß sich ab.

Er sah den körnigen Betonboden des Beckens untersich. Er schwamm getaucht und mit langsamen Be-wegungen, und auf einmal waren die zwei Delphinebei ihm – sie umkreisten ihn, glitten über und unterihm durch und streiften ihn leicht, als ob sie ihn auf-muntern wollten, an ihrem Unterwasserballett teilzu-nehmen. Er hörte das Knarren, das eins ihrer Unter-wassergeräusche war, und er wußte, daß sie wahr-scheinlich in Frequenzen sprachen, die seinen Ohrenverschlossen waren. Er wußte nicht, was sie sagten, erkonnte die Bedeutung ihrer Bewegungen nicht ver-stehen, aber das Gefühl, daß sie versuchten, ihm eineInformation zu geben, verstärkte sich mit jedem Mo-ment.

Er fühlte Atemnot. Er hielt so lange aus, wie erkonnte, dann ließ er sich an die Oberfläche tragenund schnappte Luft, und die zwei Delphinköpfe ka-men nahe bei ihm hoch und beobachteten ihn. Ertauchte wieder unter. Ich bin ein Delphin, sagte ersich, beinahe verzweifelt. Ich bin kein Mensch, ich binein Delphin, und dies alles bedeutet – was?

Mehrere Male tauchte er so, und jedesmal über-zeugten ihn die beharrlichen und disziplinierten Be-wegungen der Delphine mehr davon, daß er auf der

richtigen Fährte sei. Schließlich kam er schnaufendhoch. Er trieb seinen Versuch, ihnen gleich zu sein,nicht weit genug, dachte er. Er wendete undschwamm zurück zu den Stufen am seichten Endedes Beckens, kletterte hinaus.

»Komm, Mal – laß uns fort!« quakte eine Delphin-stimme hinter ihm, und er wandte sich um und sahdie Köpfe von Kastor und Pollux aus dem Wasser ra-gen. Sie hatten die schnabelartigen Mäuler leicht ge-öffnet, was ihnen einen unverkennbaren Ausdruckvon Dringlichkeit verlieh.

»Kommt, Kinder – hinunter und fort!« wiederholteer, so aufmunternd er konnte.

Er eilte zum Geräteschuppen hinauf und öffnetedie Tür zum Lagerraum der Taucherausrüstungen. Eswar nötig, daß er sich mehr wie ein Delphin machte.Er betrachtete die Sauerstoffmasken und Druckluft-flaschen der Tauchgeräte, entschied sich jedoch gegenihre Verwendung. Die Delphine konnten unter Was-ser genausowenig atmen wie er. Er begann seine nas-sen Kleider auszuziehen.

Eine Minute später kehrte er zum Becken zurück.Er trug eine Badehose und eine Taucherbrille mit ei-nem Schnorchel. Seine Füße steckten in Schwimm-flossen, und in seiner Rechten hatte er ein Stück Ny-lonseil. Er setzte sich auf die Stufen und band seineBeine von den Knien bis an die Knöchel zusammen.Dann hüpfte und planschte er unbeholfen ins Wasser.

Mit dem Gesicht nach unten im Wasser liegend,versuchte er seine gebundenen Beine wie dieSchwanzflossen eines Delphins zu bewegen.

Nach kurzer Zeit gelang es ihm. Die Delphine wa-ren überall um ihn, als er wie sie unter Wasser

schwamm. Nach einer Weile mußte er zum Luftholenauftauchen, aber er machte es wie ein Delphin, lag ander Oberfläche und füllte seine Lungen, bevor er sichmit kräftigen Schlägen seiner Schwimmflossen vonneuem schräg abwärts gleiten ließ. Denk wie ein Del-phin, wiederholte er immer wieder zu sich selbst. Ichbin ein Delphin. Dies ist meine Welt. So muß es sein.

... Und Kastor und Pollux waren überall um ihn.

Die Sonne sank fern über dem Festland, als Mal sichendlich erschöpft die Stufen hinauf schleppte und aufden Beckenrand setzte. Sein nasser Körper empfanddie milde Abendbrise als eisig. Er befreite seine Beinevom Seil, nahm Schwimmflossen und Maske ab undging müde zum Geräteschuppen. Er trocknete sich abund zog einen alten Bademantel über, den er dorthängen hatte. Dann ließ er sich in einen Liegestuhlfallen und seufzte.

Er sah die Sonne blutrot hinter den schwarzenKonturen der Küste versinken. Ein Gefühl tiefer Be-friedigung erfüllte ihn. Im dunklen Becken schwam-men die beiden Delphine noch immer auf und ab. Ersah die Sonne untertauchen ...

»Mr. Sinclair!«Corwin Brayts Stimme riß Mal aus seinen Gedan-

ken. Als er sah, daß Jane Wilsons schlanke Gestalt ander Seite des Direktors auf ihn zukam, stand Mal ha-stig auf und ging ihnen entgegen.

»Warum sind Sie nicht zu mir ins Büro gekom-men?« sagte Brayt schroff. »Pete Adant sollte es Ihnenausrichten. Ich wußte nicht mal, daß Sie vom Festlandzurück waren, bis Miß Wilson eben mit dem Was-sertaxi kam und es mir sagte.«

»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Mal. »Ich glaube,ich bin hier auf etwas sehr Interessantes gestoßen.«

»Das brauchen Sie mir jetzt nicht zu erzählen«,unterbrach ihn Brayt ärgerlich. »Ich hatte viel mit Ih-nen zu besprechen, aber jetzt ist keine Zeit mehr,wenn ich vom Festland noch die Maschine nach St.Louis erwischen will. Ich bedaure, daß ich mich kür-zer fassen muß, als mir selbst lieb ist.« Er brach abund wandte sich an Jane Wilson. »Entschuldigen Sie,Miß Wilson, aber könnten Sie uns ein paar Minutenallein lassen? Es handelt sich um eine geschäftlicheAngelegenheit.«

»Selbstverständlich«, sagte sie. Sie drehte um undging am Becken entlang. Das Zwielicht vertiefte sichmit dem jähen Einbruch der tropischen Nacht. Schonwar der Himmel voller Sterne.

»Lassen Sie mich kurz berichten«, sagte Mal. »Es istsehr wichtig für unser Forschungsprogramm.«

»Tut mir leid«, sagte Brayt ungeduldig. »Es wärewenig sinnvoll, wenn Sie mir das jetzt erzählten. Ichwerde eine Woche fort sein und möchte, daß Sie dieseJane Wilson hier im Auge behalten.« Er dämpfte seineStimme. »Ich telefonierte heute nachmittag mit demChefredakteur von ›Background Monthly‹. Der Mannweiß nichts über den Artikel und kennt nicht einmalihren Namen. Er sagte mir, daß es in seiner Redaktionkeine Jane Wilson gebe.«

»Vielleicht ist sie ganz neu dort«, sagte Mal. »Odereine freie Mitarbeiterin.«

»Wie dem auch sei, es ist nicht so wichtig«, sagteBrayt.

»Wie ich sagte, ich bedaure, daß ich es Ihnen soüberstürzt mitteilen muß, aber der Vorstand von

Willernie hat entschieden, die finanzielle Unterstüt-zung der Station zu beenden. Ich fliege noch heuteabend nach St. Louis, um die Einzelheiten zu regeln.«Er zögerte, dann fügte er hinzu: »Ich bin sicher, daßSie mit einer solchen Entwicklung rechneten, Mr. Sin-clair.«

Mal starrte ins Leere, schockiert.»Es war unausweichlich«, sagte Brayt kalt. »Sie

wußten das.«»Aber ohne die Unterstützung von Willernie muß

die Station zumachen!« sagte Mal, als er seine Stimmewiederfand. »Und gerade heute habe ich herausge-bracht, was die Antwort ist! Erst heute nachmittag!Hören Sie!« Er faßte Corwin Brayts Arm, als der an-dere sich zum Gehen wenden wollte. »Die Delphinehaben versucht, mit uns in Verbindung zu treten.Nicht von Anfang an, nicht, als wir noch mit gefan-genen Exemplaren experimentierten.

Aber seit wir das Becken zur See öffneten. Die ein-zige Schwierigkeit war, daß wir unsere Kommunika-tionsversuche allein auf der auditiven Ebene betrie-ben – und das ist für sie so gut wie unmöglich.«

»Entschuldigen Sie mich jetzt«, sagte Brayt. Er ver-suchte, seinen Arm zu befreien.

»Hören Sie zu!« sagte Mal verzweifelt. »Ihr Kom-munikationsprozeß ist unglaublich vielfältig und reich.Es ist, als ob wir uns verständigten, indem wir alle In-strumente eines Sinfonieorchesters gebrauchten. Sieverwenden nicht nur Geräusche von vier bis hundert-fünfzig Kilohertz, sondern auch Bewegung und Berüh-rung – und alles ist abgestimmt auf die ozeanischenUmweltbedingungen des jeweiligen Augenblicks.«

»Ich muß jetzt gehen, Mr. Sinclair.«

»Nur noch einen Moment! Erinnern Sie sich nicht,was Lilly über die Navigationsmethoden der Delphi-ne schrieb? Er stellte die Theorie auf, daß es einemultivariable Methode sei, bei der Temperatur, Ge-schwindigkeit, Geschmack des Wassers, Sonnenstandbeziehungsweise die Position der Gestirne und ande-re Faktoren ständig registriert und verarbeitet wür-den. Genauso ist ihre Kommunikation eine multiva-ribale Methode. Nun, da wir dies wissen, können wirmit ihnen ins Meer gehen und versuchen, uns ihrganzes Kommunikationsspektrum zu eigen zu ma-chen. Kein Wunder, daß wir nicht mehr als die pri-mitivsten Signale austauschen konnten, solange wiruns auf den auditiven Sektor beschränkten. Es kämeder Beschränkung menschlicher Kommunikation aufdie Hauptwörter in jedem Satz gleich, während ...«

»Genug jetzt!« unterbrach Brayt. »Ich sagte es Ih-nen schon, Mr. Sinclair. Nichts von dem, was Sie hiervortragen, ändert etwas an der Situation. Die Ent-scheidung des Stiftungsvorstands hat finanzielleGründe. Die Höhe der zu vergebenden Mittel ist be-grenzt, und was bisher dieser Station zufloß, ist be-reits in andere Kanäle gegangen. Daran ist jetzt nichtsmehr zu ändern.«

Er entzog Mal seinen Arm. »In spätestens einerWoche werde ich zurück sein. Sie können inzwischenüberlegen, wie wir den Betrieb hier am zweckmäßig-sten liquidieren.«

Damit drehte er um und ging eilig am Stationsge-bäude vorbei zum Landeplatz des Hubschraubers.Mal stand wie vor den Kopf geschlagen da. Er starrteCorwin Brayt nach, bis der große, breitschultrigeMann hinter dem Gebäude außer Sicht kam.

»Es macht nichts«, sagte Jane Wilsons sanfte Stim-me hinter ihm. Mal fuhr herum. Sie war unbemerktherangekommen und stand jetzt vor ihm. »Sie wer-den die Gelder der Stiftung nicht mehr brauchen.«

»Hat er Ihnen davon erzählt?« Mal starrte sie miß-trauisch an, als sie den Kopf schüttelte. Obwohl es in-zwischen dunkel geworden war, sah er, daß sie lä-chelte. »Sie haben unser Gespräch mitgehört?« fragteer ungläubig. »Dort hinten?«

»Ja«, sagte sie. »Und Ihre Vermutung über Braytwar zutreffend. Die Leute von der Stiftung hatten ihnbeauftragt, die Station und ihre Arbeit zu überprüfenund danach zu entscheiden, ob sie eine weitere Un-terstützung verdiene oder nicht.«

»Aber wir brauchen die Gelder!« sagte Mal. »Wirmüssen ins Wasser gehen und Methoden ausarbeiten,wie wir uns mit den Delphinen mittels ihres eigenenKommunikationssystems verständigen können. Wirmüssen auf ihre Kommunikationsebene expandieren,nicht versuchen, sie auf die unsere einzuschränken.Sehen Sie, heute nachmittag kam ich zu einer Er-kenntnis. Es war ein Durchbruch ...«

»Ich weiß«, sagte sie. »Ich weiß alles darüber.«Er starrte. »Sie wissen es? Wie können Sie davon

wissen?«»Sie waren den ganzen Nachmittag unter Beob-

achtung«, sagte sie. »Sie haben recht. Es gelang Ihnen,die Umweltbarriere zu durchbrechen. Von nun an istes nur noch eine Frage der Methodik.«

»Unter Beobachtung? Wie?« Aber er hatte die Fra-ge kaum gestellt, als sie ihm schon unwichtig er-schien. »Aber ich muß Geld haben.« sagte er verzwei-felt. »Eine geeignete Methode auszuarbeiten, erfor-

dert Zeit und Ausrüstungen, und das kostet Geld ...«»Nein.« Ihre Stimme klang unendlich sanft. »Sie

brauchen keine eigenen Methoden auszuarbeiten. Ih-re Arbeit ist getan, Mr. Sinclair. Heute nachmittaghaben die Delphine und Sie zum ersten Mal in derGeschichte beider Arten die Schranken durchbro-chen, die sie bisher voneinander trennten. Das wardie Aufgabe, die Sie sich gestellt hatten, und Sie ha-ben Ihren Teil getan. Sie können glücklich sein, daszu wissen.«

»Glücklich?« Es war beinahe ein Aufschrei. »Ichweiß nicht, wovon Sie reden.«

»Es tut mir leid«, sagte sie mit einem Hauch voneinem Seufzen. »Wir werden Ihnen zeigen, wie Siemit den Delphinen sprechen können, Mr. Sinclair –sollte es nötig werden. Wie auch einige andere Dinge,vielleicht.« Sie blickte schräg zu ihm auf, aber der un-gewisse Rest von Helligkeit am Westhimmel reichtenicht aus, ihre Züge erkennbar zu machen. »SehenSie, Sie hatten nicht nur in bezug auf die Delphinerecht. Ihre Idee, daß die Fähigkeit zur Verständigungmit einer anderen intelligenten Art ein Test sei, derbestanden werden müsse, bevor die führende Spezieseines Planeten von den intelligenten Arten der Gala-xis kontaktiert werden könne – auch sie war richtig.«

Er stand starr. Sie war ihm so nahe, daß er die le-bendige Wärme ihres Körpers fühlen konnte, obwohlsie sich nicht berührten. Die gleichen, seltsam tiefenEmotionen, die schon im Augenblick der ersten Be-gegnung aufgekommen waren, hatten sich in diesenMinuten wieder eingestellt – ohne sein Zutun unddurchaus gegen seinen Willen. Auf einmal glaubte erzu verstehen.

»Sie meinen, Sie sind nicht von der Erde?« SeineStimme war heiser und unsicher. Er verstummte,schnaufte vor Erregung. »Aber – aber Sie sindmenschlich!« stammelte er.

Sie beobachtete ihn stumm. In der Dunkelheit warihr Gesicht nur noch ein heller, undeutlicher Fleck,aber er bildete sich ein, daß sie lächelte.

»Ja«, sagte sie endlich, zögernd. »In dem Sinne, wieSie das meinen – können Sie sagen, daß ich mensch-lich bin.«

Er mißverstand sie, und eine große Verwunderungund eine staunende Freude überwältigte ihn. Es wardie Freude eines Mannes, der im Moment, da er allesverloren glaubt, etwas von unendlich größerem Wertfindet.

»Aber wie?« sagte er in atemloser Aufregung. Erzeigte zum Sternhimmel. »Wenn Sie von irgendwodort oben kommen, wie können Sie dann menschlichsein?«

Sie wandte ihr Gesicht zur Seite.»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann es Ihnen nicht

sagen.«»Sie können es nicht sagen?« fragte er mit einem

kleinen, nervösen Lachen. »Sie meinen, ich würde esnicht verstehen?«

»Nein.« Ihre Stimme war kaum hörbar. »Ich meineetwas anderes. Es ist mir nicht erlaubt, darüber Aus-kunft zu geben.«

»Nicht erlaubt –« Ein Frösteln kam und ging. »AberJane – ich meine, Miß Wilson.« Er brach unbeholfenab, nahm einen neuen Anlauf. »Ich weiß nicht recht,wie ich es ausdrücken soll, aber es ist wichtig zu wis-sen, wenigstens für mich. Seit ich Sie heute zuerst

sah, habe ich ... ich meine, vielleicht fühlen Sie nichtsdergleichen und wissen deshalb nicht, wovon ich re-de ...«

»Doch«, sagte sie leise. »Ich verstehe sehr gut, wasSie sagen wollen.«

Er starrte sie wieder an. »Dann – dann könnten Siewenigstens etwas sagen, das mich beruhigen würde.Ich meine vermutlich ist es nur noch eine Frage derZeit, nicht? Wir werden zusammenkommen und un-ser Wissen austauschen, Ihre Leute und wir, nichtwahr?«

Sie blickte ihn aus der Dunkelheit an.»Nein«, sagte sie mit ruhiger Bestimmtheit, »das

werden wir nicht, Mal Sinclair. Niemals. Und das istder Grund, warum ich Ihnen nichts sagen kann.«

Er schluckte verstört.»Wir werden nicht zusammenkommen?« rief er

schließlich. »Wir werden keine Kontakte haben?Niemals, sagen Sie? Aber warum nicht? Sie kamendoch und sprachen mit mir und mit anderen, nehmeich an. Sie sahen, daß uns eine Kommunikation mitden Delphinen gelingen wird, eine anderen intelli-genten Rasse. Warum lehnen Sie den Kontakt mit unsab?«

Sie hatte sich ein paar Schritte zurückgezogen,während er sprach. Nun blickte sie ein letztes Mal zuihm auf und sagte es ihm. Nachdem er gehört hatte,was sie zu sagen hatte, stand er unbeweglich undstumm wie ein Stein, denn es gab nichts mehr zu sa-gen oder zu tun. Und sie wandte sich langsam undendgültig von ihm ab und ging an den Rand desSeewasserbeckens und die Stufen hinunter ins seichteWasser, wo die Delphine herangeschossen kamen,

um sie zu empfangen, zwei schaumweiße Streifen aufder dunklen Oberfläche.

Dann zogen die drei in lautloser, magisch anmu-tender Bewegung über die glatte Oberfläche des Bek-kens und zum Einlaß hinaus. Und so entfernten siesich, bis sie in der Dunkelheit und den im Sternen-licht matt schimmernden Wellen des Ozeans unter-tauchten.

Als er dastand und ihnen verloren nachstarrte, kamMal der Gedanke, daß die Delphine diese ganze Zeitauf sie gewartet haben mußten. Alle die wilden Del-phine, die zur Station gekommen waren, nachdemdie beiden ersten Gefangenen die Freiheit erhaltenhatten, nach Belieben fortzuschwimmen oder zu blei-ben. Die Delphine hatten gewußt, vielleicht seit Jahr-hunderten, daß sie allein es waren, zu denen die lan-ge erwarteten Besucher von den Sternen endlichkommen würden.

Und dann war Friede

Um neun Uhr gab es siebenhundert Meter weiterrechts eine Reihe schwerer Explosionen. Um elf Uhrkam der Schrottsammler vorbei, um die beschädigtenund zerstörten Apparate mitzunehmen. Charlie sahden Schmelzkopf am Ende des schweren Magnetarmsauf und ab gehen, und er fühlte sich an ein fleißigesHuhn erinnert. Der Schrottsammler bewegte sich un-gefähr eine halbe Stunde lang über das Schlachtfeld,dann verschwand er langsam hinter dem niedrigenHügel im Westen, beladen mit dem geschmolzenenMetall von beschädigten Robotern aller Formen undArten. Es war ein schwüler Augusttag irgendwo inOhio, und die feuchte Hitze ließ für den Nachmittagein Gewitter erwarten.

Um zwölf Uhr kam der Essenträger durch dasKratergelände hinter dem Schützenloch getickt. Erkrabbelte über die Brustwehr und an den Rand desSchützenlochs, dann klappte er die Rückenplatte zu-rück, so daß sie als improvisierter Tisch dienenkonnte. Charlie hob sein Mittagessen aus dem offe-nen Behälter. Es gab Leber und Zwiebeln mit Kartof-felpüree, und als Nachspeise Stachelbeeren.

»Was?« sagte Charlie. »Und keine Schlagsahne?«»Du hast deine Gymnastikübungen nicht ge-

macht«, sagte der mechanische Essenträger in einerfeinen Sopranstimme.

»Ich bin ein Frontschwein«, brummte Charlie. »Ichbin ein Infanterist in einem Schützenloch der vorder-sten Linie. Ich will verdammt sein, wenn ich Früh-gymnastik mache.«

»Jedenfalls gibt es keine Entschuldigung, daß dudich nicht rasierst.«

»Ich will verdammt sein, wenn ich mich rasiere.«»Aber warum nicht rasieren? Wäre es nicht besser,

als diesen juckenden, kratzenden Bart zu haben?«»Nein«, sagte Charlie. Er trat zum Hinterteil des

Essenträgers und begann die rückwärtige Verklei-dung abzuschrauben.

»Was tust du mit mir?« sagte der Essenträger.»Nur was nachsehen«, brummte Charlie. »Halt

still.« Er unterbrach seine Arbeit, um in seinem Vier-wochenbart zu kratzen. »Es ist Krieg, verstehst du?«

»Ich weiß das«, sagte der Essenträger. »Natürlich.«»Täglich verrecken Infanteristen wie ich.«»Leider«, sagte der Essenträger in einem Ton un-

schuldiger Einfalt.»Gar nicht zu reden vom Verschleiß von euch tech-

nischen Geräten«, sagte Charlie und stellte die Me-tallverkleidung beiseite. »Nicht, daß ein Vergleichzwischen Menschenleben und dem Verschleiß vonMaschinen möglich wäre.«

»Natürlich nicht.«»Wie also kann einer von euch, egal wie kompli-

ziert eure elektronischen Systeme sind, verstehen ...«Charlie verstummte und stocherte zwischen den In-nereien des Essensträgers herum.

»Beschädige mich nicht«, sagte der Essenträger.»Nicht, wenn ich es vermeiden kann«, sagte Char-

lie. »Wie könntet ihr also verstehen, was es für einenMann bedeutet, Tag für Tag in einem vorgeschobe-nen Schützenloch zu sitzen, auf einen Angriff zuwarten und gelegentlich auf einen Knopf zu drücken,ohne jemals zu wissen, was er damit bewirkt? Gewiß,

wenn es regnet, habe ich dieses Plastikdach, das Es-sen ist nicht schlecht, und es gibt unbequemere Orteals dieses Schützenloch. Aber man langweilt sich undmuß zugleich mit der Möglichkeit rechnen, plötzlichtot zu sein, bevor man es weiß. Das ist kein Leben füreinen Menschen.«

»Schrecklich, schrecklich«, sagte der Essenträger.»Aber es gibt immer noch Hoffnung auf eine Verbes-serung.«

»Halt still, verdammt nochmal«, sagte Charlie. »Ah– da ist was!« Er zog ein kleines Stück Papier aus demInnern des Essenträgers und richtete sich auf.

»Ist was nicht in Ordnung?« sagte der Essenträger.»Nein«, sagte Charlie. Er hob seinen Kopf und

spähte über den Erdwall der Brustwehr. Der Schrott-sammler kehrte zurück. Er war nur noch hundertMeter vom Schützenloch entfernt. »Alles ist in Ord-nung«, sagte Charlie. »Der Krieg ist vorbei. Tatsa-che.«

»Wie interessant«, sagte der Essenträger.»Ja, was?« sagte Charlie. »Hier, ich will dir vorle-

sen, was in dem kleinen Liebesbrief steht, den ich vonSchützenloch vierunddreißig gekriegt habe: ›Heuteabend in der Kantine, Charlie.‹ Es ist alles vorbei. DerFeindsender sagt eben, daß man sich geeinigt hätte,und unser Nachrichtenheini bestätigt die Meldung.Die drüben haben die Schnauze genauso voll wie wir.Seit zwölf Uhr haben wir Waffenstillstand, und bisSonnenuntergang werden wir den Rückzugsbefehlkriegen. Die Automaten werden gerade über Funk-kode umprogrammiert. Und damit ist der Krieg aus.«

»Es sieht wirklich so aus«, sagte der Essenträger.»Hurra! Und leb wohl.«

»Wieso?« sagte Charlie.»Du wirst ins Zivilleben zurückkehren«, sagte der

Essenträger, »und ich werde verschrottet.«»Ja, richtig«, sagte Charlie. »Pflege und Wartung

würden sich nicht lohnen, und eure Schaltungen ver-rotten so schnell. Ein Jammer, trotzdem. Wer weiß,wann es wieder losgeht? Zwar heißt es jedesmal, diessei der letzte Krieg, aber dann kommt doch immernoch einer, nicht? Und dann müssen wir euch alleneu bauen.« Er zögerte einen Moment, dann sagte ersinnend: »Nun – wer weiß? Vielleicht werde ich dichdoch ein wenig vermissen.«

Er blickte hinaus. Der Schrottsammler hielt direktauf sein Schützenloch zu.

»Tja, hm«, sagte er. »Nun, wo der Augenblick ge-kommen ist ... eigentlich hatten wir doch eine rechtnette Zeit zusammen, dreimal am Tag. Kein Trocken-gemüse mehr, was?«

Der Essenträger lachte dünn.»Und keinen Karamelpudding mehr.«»Ja«, sagte der Essenträger. »Und keine Bohnen-

suppe.«

Der Schrottsammler hielt neben dem Schützenloch.Ein Greifer brach das halb zurückgeschobene, split-tersichere Plastikdach los und legte es sorgfältig zurSeite.

»Entschuldige mich«, sagte er, und sein kolbenför-miger Schmelzkopf nickte höflich einige fünf Meterüber Charlie.

»Der Krieg ist aus.«»Ich weiß«, sagte Charlie.»Jetzt wird es Frieden geben. Der Befehl lautet, daß

alles Kriegsgerät eingeschmolzen und für späterefriedliche Zwecke auf Lager genommen wird.« DerSchrottsammler hatte einen schönen Bariton. »Ent-schuldige mich«, sagte er, »aber bist du mit dem Es-senträger da fertig?«

»Du hast noch keinen Bissen angerührt«, sagte derEssenträger vorwurfsvoll. »Möchtest du nicht wenig-stens von der Mahlzeit kosten?«

»Ich glaube nicht«, sagte Charlie langsam. »Nein,wirklich nicht.«

»Dann leb wohl«, sagte der Essenträger. »Ich binjetzt entbehrlich.«

Der Schmelzkopf des Schrottsammlers senkte sichauf den Essenträger herab. Charlie öffnete plötzlichden Mund, aber bevor er sprechen konnte, schoß et-was wie ein unsichtbarer Glutstrahl aus demSchmelzkopf, und der Essenträger sank qualmend insich zusammen und wurde zu einer kleinen Pfützeaus flüssigem Metall. Ein Kaltluftstrahl erhärtete sie,dann wurde sie vom Magneten des Schmelzkopfesaufgenommen und in den rückwärtigen Laderaumgeschwenkt.

»Verdammt!« sagte Charlie bekümmert. »Ich hätteeinen Antrag stellen sollen, um das Ding als Erinne-rungsstück zu behalten.«

Der schwere Schmelzkopf nickte entschuldigendzurück.

»Ich fürchte, das würde nicht möglich sein«, sagteder Schrottsammler. »Der Befehl läßt keine Ausnah-men zu. Alles militärische Gerät ist einzuschmelzen.«

»Nun«, sagte Charlie. Aber in diesem Moment be-merkte er, daß der Schmelzkopf auf ihn herabstieß.

Schwarzer Charlie

Sie fragen mich, was ist Kunst? Sie erwarten, daß icheine logische Antwort aus dem Ärmel schüttle, weilich lange genug für Museen und Galerien eingekaufthabe, um dabei graue Haare zu kriegen? So einfachist es nicht.

Also, was ist Kunst? Seit vierzig Jahren habe ichviele Dinge untersucht, geprüft, befühlt, bewundertund geliebt, die als hoffnungsvolle Gefäße für jenenstrahlenden Geist verfertigt wurden, den wir Kunstnennen – und ich bin unfähig, die Frage direkt zu be-antworten. Der Laie antwortet leichthin: Schönheit.Aber Kunst ist nicht notwendigerweise schön.Manchmal ist sie häßlich. Manchmal ist sie unfein.Manchmal ist sie unvollkommen.

Wie viele Männer, die häufig ähnliche Entschei-dungen zu treffen haben, bin ich zur Beurteilung vonKunst auf das Gefühl zurückgefallen. Sie kennen das.Wo von Kunst die Rede ist, ist meist auch von Gefühloder Gespür die Rede. Nehmen wir einmal an, Siemachen einen Fund, lesen etwas auf. Ein Bruchstückvon einer Statuette – oder besser noch, ein Steinfrag-ment, geritzt und eingefärbt von irgendeinem Men-schen aus prähistorischer Zeit. Sie betrachten denFund. Zuerst ist er nichts, eine halbentwickelte, un-vollkommene Wiedergabe irgendeines wilden Tieres,als Zeichnung nicht einmal so gut, wie es heutzutageein Volksschüler anfertigen könnte.

Aber dann, während Sie es in der Hand halten,greift Ihre Phantasie plötzlich aus, zurück durch Steinund Zeit zu dem Mann selbst, wie er vor der Fels-

wand seiner Höhle hockt, und Sie sehen dort nichtdas staubige Ding, das Sie in der Hand halten, son-dern das, was der Mann selbst darin sah, als er esmachte. Sie blicken über die physikalische Repro-duktion hinaus auf die großartige Leistung seinerPhantasie.

Dies mag man Kunst nennen – gleichgültig, inwelch seltsamer Verkleidung sie erscheint –, dieseMagie, die jede Kluft von Zeit und Raum zwischendem Künstler und Ihnen selbst überbrückt. Lassen Siemich ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung an-führen.

Vor einigen Jahren, als ich in meiner Eigenschaft alsAufkäufer für einige unserer staatlichen Museen dieneueren Welten bereiste, erhielt ich eine Botschaftvon einem Mann namens Cary Longan, der mich bat,wenn möglich einen Planeten mit dem sonderbarenNamen Elmans Welt zu besuchen und mir eine Pla-stik anzusehen, die er zu verkaufen habe.

Es war selten, daß Botschaften mich direkt erreich-ten. Sie wurden mir gewöhnlich von den Institutio-nen übermittelt, für die ich tätig war. Weil die fragli-che Welt jedoch in der Nähe war und demselbenSonnensystem angehörte wie der Planet, den ich ge-rade besuchte, antwortete ich, daß ich kommen wür-de. Nachdem ich meine Geschäfte abgeschlossenhatte, nahm ich ein interplanetarisches Schiff undlandete einige Tage später auf Elmans Welt.

Es schien in der Tat ein sehr neuer, wilder Planetzu sein. Der Hafen, auf dem wir landeten, war, wieich erfuhr, einer von den zwei Plätzen, die für deninterplanetarischen Verkehr zugänglich waren, und

die zugehörige Stadt war kaum mehr als ein Dorf.Longan erwartete mich nicht am Flugfeld, und so ließich mich von einem der wenigen Taxis zum einzigenHotel des Ortes bringen.

Am gleichen Abend wurde mein Besucher gemel-det. Ich öffnete die Tür meines Zimmers und sahmich einem untersetzten, braungebrannten Mann mitlangem Haar und Vollbart gegenüber, der michdurch besorgt blickende grünbraune Augen musterte.

»Mr. Longan?« fragte ich.»Mr. Jones?« sagte er. Er steckte den rohen Holzka-

sten, den er mitgebracht hatte, unter seinen linkenArm und streckte mir seine Rechte hin. Nach kurzemHändedruck schloß ich die Tür hinter ihm und führteihn zu meinem Sessel, dann setzte ich mich auf dieBettkante.

Er stellte den verschlossenen Holzkasten auf denkleinen Kaffeetisch zwischen uns. Ich bemerkte, daßer verarbeitete Hände hatte. Seine Kleidung war derbund verwaschen, und seine Haltung drückte die ver-legene Unbeholfenheit eines Mannes aus, der seltenunter Menschen ist und verlernt hat, sich in zivili-sierter Umgebung mit selbstverständlicher Sicherheitzu bewegen. Als Verkäufer von Kunst ein zweifellosungewöhnlicher Typ.

»Ihre Nachricht«, sagte ich ihm, »war nicht sehraufschlußreich. Die Institutionen, die ich vertrete ...«

»Ich habe es hier«, sagte er und legte seine Handauf den kleinen Kasten.

Ich schaute ihn verdutzt an. Der Kasten war viel-leicht vierzig Zentimeter lang, zwanzig breit undebenso hoch.

Ich nickte, dann blickte ich wieder vom Kasten auf,

während sich ein erstes Mißtrauen in mir regte. Ver-mutlich hätte ich vorsichtiger sein sollen, als dieseBotschaft direkt gekommen war, statt über die Erde.Aber Sie wissen, wie es ist – ein unerwartetes, schö-nes Stück nach Hause zu bringen, trägt Anerkennungein und beweist die Tüchtigkeit und den guten Rie-cher des Agenten.

»Sagen Sie mir, Mr. Longan«, sagte ich, »woherkommt diese Statuette, oder was es ist?«

Er sah mich an, einen Anflug von Trotz in den Au-gen. »Ein Freund von mir hat sie gemacht«, sagte er.

»Ein Freund?« sagte ich – und ich muß zugeben,daß ich etwas ärgerlich wurde. »Darf ich fragen, obdieser Freund von Ihnen jemals Arbeiten von sichverkauft hat?«

»Nun, das nicht, aber ...« Longan verstummte. Erlitt sichtlich, aber auch mir war nicht wohl, wenn ichan meine vergeudete Zeit dachte.

»Ich sehe«, sagte ich schroff. Ich stand auf. »Sie ha-ben mich zu einem sehr kostspieligen Abstecher ver-leitet, nur um mir die Arbeit irgendeines Amateurszu zeigen. Leben Sie wohl, Mr. Longan. Und bittenehmen Sie Ihren Kasten mit, wenn Sie gehen!«

Er blickte erschrocken und bestürzt zu mir auf. »Siehaben so etwas noch nie gesehen!«

»Ohne Zweifel«, sagte ich.»Schauen Sie. Ich will es Ihnen zeigen ...« Er fum-

melte mit nervösen Fingern am Verschluß. »Weil Sievon so weit gekommen sind, können Sie wenigstenseinen Blick darauf werfen.«

Nachdem es keine Möglichkeit zu geben schien,ihn loszuwerden, es sei denn mit handgreiflicherUnterstützung des Hotelpersonals, setzte ich mich

unwillig. »Wie heißt Ihr Freund?« fragte ich.Longans Finger zögerten an der Haspe. »Schwarzer

Charlie«, antwortete er, ohne aufzusehen.Ich starrte. »Entschuldigen Sie. Schwarzer –

Charles Schwarz?«Er hob den Kopf, begegnete trotzig meinem Blick

und schüttelte seinen Kopf. »Bloß Schwarzer Char-lie«, sagte er mit plötzlicher Ruhe. »Genauso wie esklingt. Schwarzer Charlie.« Und er beschäftigte sichwieder mit dem Kasten.

Ich sah skeptisch und mißmutig zu, wie es ihmendlich gelang, den klobigen, handgemachten Bolzenzu lösen, der die Haspe sicherte. Er wollte den Deckelheben, dann besann er sich, drehte den Kasten herumund schob ihn über den Tisch zu mir.

Das Holz war hart und uneben unter meinen Fin-gern. Ich klappte den Deckel an seiner Lederscharnie-re zurück. Das Innere des Kastens bestand aus fünfkleineren Fächern, und jedes enthielt einen Klumpenaus feinkörnigem, graugelbem Sandstein. Sie warenvon verschiedener, aber völlig unverständlicherForm.

Ich starrte sie an – dann blickte ich schnell zu Lon-gan, um zu sehen, ob dies nicht etwa ein Scherz be-sonderer Art sei. Aber seine Augen hatten einenAusdruck von feierlichem Ernst. Langsam begann ichdie Steine aus ihren Fächern zu nehmen und auf demTisch aufzureihen.

Ich studierte sie sorgfältig, einen nach dem anderen,bemüht, ihren Formen irgendeinen Sinn abzugewin-nen. Aber da war nichts, absolut nichts. Einer derSteine ähnelte vage einer gleichseitigen Pyramide. Ein

anderer ließ sich mit viel Phantasie und gutem Willenals eine kauernde Gestalt deuten. Das Beste, was manüber den Rest sagen konnte, war, daß sie jener Artvon Steinen glichen, die von manchen Leuten nachHause getragen werden, wo sie dann als Papierbe-schwerer dienen. Doch alle zeigten deutliche Spurenvon Bearbeitung. Und darüber hinaus waren sie po-liert, so gut der weiche, körnige Stein es zuließ.

Ich blickte zu Longan auf. Er saß gespannt, erwar-tungsvoll. Ich war völlig verblüfft über seine Entdek-kung – oder was er dafür hielt. Ich versuchte tole-rantes Verständnis dafür aufzubringen, daß er diesals Kunst akzeptierte. Offensichtlich war es nichtmehr als Loyalität zu einem Freund, einem Freund,der in Fragen Kunst ohne Zweifel so unbewandertwar wie er selbst. Ich machte meine Stimme sofreundlich wie möglich.

»Was soll ich nach Meinung Ihres Freundes mitdiesen Dingern machen, Mr. Longan?«

»Kaufen Sie nicht Sachen für die Museen auf derErde?« fragte er.

Ich nickte. Ich hob das Stück auf, das einer kauern-den Tiergestalt ähnelte, und drehte es zwischen mei-nen Fingern. Es war eine peinliche Situation. »Mr.Longan«, sagte ich. »Ich bin seit vielen Jahren in die-sem Geschäft.«

»Ich weiß«, unterbrach er mich. »Darum habe ichIhnen geschrieben.«

»Ich verstehe«, sagte ich. »Nun, wie ich sagte, ichbin schon lange in diesem Geschäft, und ich glaube,ich kann ohne Überheblichkeit sagen, daß ich etwasvon Kunst verstehe. Wäre etwas Künstlerisches andiesen Arbeiten, die Ihr Freund gemacht hat, so wür-

de ich es erkennen. Und das kann ich beim bestenWillen nicht sagen.«

Er blickte mich an, Erschrecken in den grünbrau-nen Augen.

»Sie sind ...«, murmelte er schließlich. »Das ist nichtIhr Ernst. Sie sind verärgert, weil ich Ihnen diesenUmweg zugemutet habe.«

»Es tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin nicht verärgert,und es ist mein Ernst. Diese Dinger sind nicht bloßnicht gut – sie sind wertlos. Jemand hat Ihren Freundzu dem Glauben verleitet, daß er Talent habe. Siewürden ihm einen Gefallen erweisen, wenn Sie ihmdie Wahrheit sagten.«

Er starrte mich lange an, als warte er auf einen Zusatzvon mir, der das Verdikt mildern würde. Dann stander plötzlich auf, ging mit drei langen Schritten ansFenster und starrte hinaus. Seine schwieligen Händeöffneten und schlossen sich krampfhaft.

Ich gab ihm ein wenig Zeit, den Kampf mit sichselbst auszufechten. Dann begann ich die Steine wie-der in ihre Fächer zu legen.

»Es tut mir leid«, sagte ich.Er drehte sich um und kam zu mir, blickte auf mich

herab. Er sagte: »Wirklich?«»Glauben Sie mir«, sagte ich aufrichtig. »Ich bedau-

re es außerordentlich.«»Wollen Sie dann etwas für mich tun?« Die Worte

kamen überstürzt. »Wollen Sie mitkommen undCharlie sagen, was Sie mir gesagt haben? Würden Sieihm den Bescheid selber geben?«

»Ich ...« Ich wollte das Ansinnen zurückweisen,aber als ich seine gequälten Augen sah, brachte ich es

nicht über mich. »In Ordnung«, sagte ich.Sein angehaltener Atem kam in einem langen Seuf-

zer heraus. »Danke«, sagte er. »Wir werden morgenaufbrechen. Sie wissen nicht, was das für mich be-deutet. Danke.«

Ich hatte reichlich Zeit, meine Zusage zu bedauern,sowohl an diesem Abend als auch am folgendenMorgen, als Longan mich zu früher Stunde weckte,mit Buschkleidern und hohen Gummistiefeln ausrü-stete und in einem klapprigen alten Luft-Boden-Kombinationsfahrzeug entführte, das mit Proviantund Ausrüstungsgegenständen voll beladen war.Aber ein Versprechen ist ein Versprechen.

Wir flogen an einer hohen Gebirgskette entlangsüdwärts, bis wir zu einem Küstengebiet kamen unddas Sumpfdelta eines mächtigen Stromes überflogen.Hier ließ Longan die Maschine niedergehen – sehr zumeinem Verdruß. Ich habe für feuchtheiße Niederun-gen wenig übrig und konnte mir nicht vorstellen, daßjemand freiwillig unter solchen Bedingungen lebenwürde.

Die Maschine setzte im offenen Wasser eines totenFlußarms auf, und Longan lenkte sie zum nächstenUfer – einer schwammigen Masse aus Sumpfgras undweichem Schlamm und hohem braunem Gestrüpp.Ich wäre an dieser Stelle nicht an Land gegangen,denn es sah wie ein grundloser Sumpf aus, der einenim Nu verschlingen konnte – aber Longan trat unbe-kümmert hinüber, und ich folgte. Der sumpfigeGrund gab federnd nach, und um meine Stiefel bil-deten sich sofort kleine Wasserlachen. Ein heißer Ge-ruch von Fäulnis und verwesender Vegetation stiegin meine Nase.

»Hier entlang«, sagte Longan und arbeitete sichnach rechts durch das Gestrüpp.

Ich folgte ihm einen Pfad entlang, der mehr wie einWildwechsel aussah, und wir gelangten schließlichauf eine sumpfige kleine Lichtung mit kuppelförmi-gen Hütten aus geflochtenen Zweigen, die mitSchlamm beworfen waren. Und zum ersten Mal kammir der Gedanke, daß der schwarze Charlie etwasanderes als ein exilierter Erdenbewohner sein könne –möglicherweise ein Eingeborener dieses Planeten,obwohl ich bisher von keiner anderen humanoidenRasse auf den entdeckten Welten gehört hatte. Ver-wundert folgte ich Longan zum niedrigen Eingangeines dieser kleinen Krale und blieb stehen, als er ei-nen Pfiff ausstieß.

Ich weiß heute nicht mehr, was ich zu sehen er-wartete. Etwas von irgendwie humanoider Gestalt,nehme ich an. Aber was auf Longans Pfiff aus demEingang kam, war mehr wie ein großer Fischotter,mit flachen und muskulösen Schwimmfüßen. Es warschwarz und ganz mit glänzendem, feucht aussehen-dem Fell bedeckt. Ungefähr eineinhalb Meter lang,schätzte ich, schwanzlos und mit einem langen,schlangenhaften Hals. Die Kreatur mochte das Ge-wicht eines Menschen haben. Der Kopf auf dem lan-gen Hals war ebenfalls lang und schmal, hatte große,intelligente Augen und ein Maul wie ein Collie.

»Dies ist der schwarze Charlie«, sagte Longan.Das seltsame Geschöpf starrte mich an, und ich er-

widerte seinen Blick. Allmählich ging mir die Absur-dität der Situation auf. Jeder gewöhnliche Menschhätte es schwierig gefunden, in diesem Wesen einen

Bildhauer zu sehen. Als ich daran dachte, daß ich dieVerpflichtung übernommen hatte, dieser Kreaturklarzumachen, daß sie kein Bildhauer war – wo ichdoch keine Ahnung hatte, wie ich mich mit ihr ver-ständigen sollte –, kam mir das Ganze wie eine Farcevor. Wütend schwang ich herum.

»Hören Sie mal«, fing ich hitzig an. »Wollen Siesich über mich lustig machen? Wie soll ich diesemOtter erklären ...«

»Charlie versteht Sie«, unterbrach Longan.»Er versteht Sprache?« sagte ich ungläubig. »Wirk-

liche, menschliche Sprache?«Longan schüttelte seinen Kopf. »Nein. Das nicht.

Aber er versteht Handlungen.«Er ließ mich stehen und brach ins Gestrüpp, das die

Lichtung umgab. Gleich darauf kehrte er mit zweiGegenständen zurück, die wie gigantische Bovisteaussahen. Einen davon reichte er mir. »Setzen Sie sichdarauf, der Boden ist zu naß«, sagte er. Ich gehorchte,und auch er setzte sich.

Der schwarze Charlie – ich wußte nicht, wie ich ihnanders hätte nennen sollen – kam näher und ließ sichauf ebenholzschwarze Keulen nieder. Die ganze Zeithatte ich den Holzkasten mit seinen Skulpturen unterden Arm getragen, und nun, da wir saßen, richtete erseine großen, glänzenden Augen fragend auf mich.

»Geben Sie mir den Kasten«, sagte Longan.Ich gab ihn ihm, und des schwarzen Charlie Augen

folgten der Bewegung wie hypnotisiert. Longansteckte den Kasten unter den Arm und zeigte zumFlußarm, wo wir gelandet waren. Dann hob er seineHand in einem langsamen, eindrucksvollen Kreis

zum Himmel und zeigte nordwärts, von wo wir ge-kommen waren.

Der schwarze Charlie pfiff plötzlich. Es war eineseltsame Note, ähnlich dem Ruf eines Käuzchens –ein ferner, trauriger Ton.

Longan schlug sich auf die Brust, den Kasten miteiner Hand haltend. Dann klopfte er auf den Kastenund zeigte auf mich. Er blickte zum schwarzen Char-lie, wieder zu mir – und legte den Kasten in meineHände.

»Sehen Sie die Steine an und geben Sie mir den Ka-sten zurück«, sagte er mit gepreßter Stimme. WiderWillen blickte ich zu Charlie.

Seine Augen begegneten mir. Seltsame, klare undtiefschwarze Augen. Ich mußte meinen Blick von ih-nen losreißen.

Hin und her gerissen zwischen Verärgerung übermeine eigene Einfältigkeit und einer echten Sympa-thie für die wartende Kreatur, öffnete ich ungeschicktden Kasten und hob die Steine aus ihren Fächern. Ei-nen nach dem anderen drehte ich sie in den Fingern,betrachtete sie von allen Seiten und legte sie zurück.Ich schloß den Kasten und reichte ihn mit einemKopfschütteln Longan zurück, ohne zu wissen, obCharlie das verstehen würde.

Einen unerträglich langen Moment saß Longan ein-fach da, den Kasten auf den Knien haltend, und sahmich an. Dann wandte er sich langsam um und stellteden Kasten vor Charlie ins Gras.

Charlie reagierte nicht gleich. Der schmale Kopf andem langen, biegsamen Hals senkte sich auf den Ka-sten herab und öffnete mit einer leichten Aufwärts-

bewegung der Schnauze den Deckel und schien inden Fächern herumzuschnüffeln. Dann zog er überra-schend die Lefzen zurück und enthüllte lange, mei-ßelartige Zähne. Mit diesen nahm er die Steine vor-sichtig heraus. Er hielt sie zwischen den Vorderpfotenund drehte und wendete sie, als ob er nach den Män-geln suchte. Endlich hob er einen – es war der Stein,der eine entfernte Ähnlichkeit mit einem kauerndenTier hatte – mit beiden Pfoten an seine Zähne undnagte daran herum. Dann brachte er den Stein mir.

Hilflos nahm ich ihn in die Hände und untersuchteihn. Die geringen und oberflächlichen Veränderun-gen, die er gemacht hatte, hatten das Ding in keinerWeise zu etwas Erkennbarem verändert. Ich war ge-zwungen, ihn mit einem weiteren Kopfschütteln zu-rückzugeben. Eine unangenehme Pause folgte.

Ich hatte verzweifelt überlegt, wie ich durch dasMittel der Pantomime die Gründe für meine Ableh-nung deutlich machen könnte. Nun fiel mir etwas ein.Ich wandte mich zu Longan.

»Kann er mir ein Stück unbearbeiteten Stein ge-ben?« fragte ich.

Longan machte Charlie aufmerksam, dann voll-führte er Bewegungen, als bräche er etwas ab und gä-be es mir. Charlie saß einen Moment still und schiendarüber nachzudenken. Schließlich verschwand er inseiner Hütte und kehrte sofort mit einem länglichenSandsteinbrocken von der Größe meiner Hand zu-rück.

Ich hatte ein kleines Taschenmesser, und der Sand-stein war weich. Ich machte mit dem Brocken in derHand eine Geste zu Longan. Darauf schnitzte undschabte ich an dem Stück herum, bis ich eine grobe,

plumpe Karikatur von Longan hergestellt hatte, wieer auf dem Bovist saß. Als ich fertig war, setzte ichdie plumpe, kleine Statuette neben Longan ins Gras.

Meine Arbeit hatte etwa eine Viertelstunde bean-sprucht, aber der schwarze Charlie hatte währenddieser Zeit jede meiner Bewegungen mit gespannterAufmerksamkeit beobachtet. Nun sah er sich das Re-sultat aus der Nähe an, warf sich plötzlich herum undkam zu mir. Er schob seinen Kopf nahe heran, blicktein mein Gesicht auf und stieß einen leisen Jammerlautaus. Mit einer einzigen, fließenden Bewegung drehteer wieder um, nahm mein kümmerliches Schnitzwerkmit den Zähnen auf und verschwand damit in seinerHütte.

Longan stand steif auf, wie ein Mann, der zu langein einer Position ausgeharrt hat. »Das wär's«, sagte er.»Gehen wir.«

Wir stapften zurück zum Mehrzweckfahrzeug undstarteten, nahmen Kurs auf die Stadt und das Raum-schiff, das mich von dieser irrationalen Welt fortbrin-gen würde. Als die Berge über den Dunstschleiernder Küstenebene sichtbar wurden, warf ich einen ver-stohlenen Blick zu Longan, der neben mir am Steuersaß. Sein Gesicht war im starren Ausdruck stoischertragenen Unglücks gefroren.

Die Frage kam über meine Lippen, bevor ich über-legen konnte, ob es klug oder unklug sei, sie zu stel-len.

»Sagen Sie mir, Mr. Longan«, sagte ich. »Hat der –ah – schwarze Charlie irgendeinen besonderen An-spruch auf Ihre Freundschaft?«

Der Mann drehte den Kopf auf die Seite und gabmir einen kurzen, verblüfften Blick.

»Anspruch!« sagte er. Dann, nach einer kurzenPause, während der er anscheinend zu ergründensuchte, ob ich scherzte, antwortete er: »Er hat mir dasLeben gerettet.«

»Oh«, sagte ich. »Ich verstehe.«»Meinen Sie?« konterte er. »Und wenn ich Ihnen

sagte, daß er es tat, gleich nachdem ich seine Partne-rin getötet hatte? Sie wählen sich ihren Partner fürdas ganze Leben, müssen Sie wissen.«

»Nein, das ahnte ich natürlich nicht«, murmelte ich.»Ich vergesse immer wieder, daß die Leute es nicht

wissen«, sagte er, halb entschuldigend. Ich schwiegbedrückt. Nach langen Minuten nahm er wieder dasWort. »Dieser Planet taugt nicht viel.«

»Ich bemerkte es«, sagte ich. »Ich sah kaum eineFabrik, bisher. Auch keine Fernstraßen, Bergwerkeund so. Und Ihre Schwesterwelt – diejenige, von derich den Abstecher hierher machte – ist viel stärkerbevölkert und entwickelt.«

»Es gibt hier nicht viel«, sagte er. »Keine nennens-werten Bodenschätze. Das Klima ist ungesund, abge-sehen von den Hochebenen. Der Boden ist für unsereKulturpflanzen ungeeignet.« Er machte eine Pause.Die nächsten Worte schienen ihn eine Anstrengungzu kosten: »Wir hatten allerdings einen ziemlich leb-haften Pelzhandel.«

»Pelzhandel?«»Von Charlies Leuten«, fuhr er fort. Er fummelte ver-

legen an den Bedienungsknöpfen. »Jäger und Fallen-steller pflegten hinter ihnen her zu sein, jedenfalls zuAnfang, bevor sie wußten. Ich war einer von ihnen.«

»Sie?« sagte ich überrascht.»Ich«, bestätigte er. »Ich hatte schon viele Pelze

gemacht, wie es bei uns hieß, und ein schönes StückGeld damit verdient, bis ich Charlies Partnerin in derFalle fing. Sie machen lange Wanderungen durch dieSümpfe, und wer ihre Wege kennt – Nun, dieses eineMal war ich zu nahe bei ihrem Dorf gewesen. Ichhatte ihr gerade den Schädel zertrümmert, als derganze Stamm über mich herfiel.« Seine Stimme warzusehends leiser geworden; nun kräftigte sie sich.»Sie hielten mich ein paar Monate unter Bewachung.Ich war ihr Gefangener.«

»In dieser Zeit lernte ich viel. Ich lernte, daß sie in-telligent sind. Ich erfuhr, daß es der schwarze Charliegewesen war, der sie daran gehindert hatte, mich so-fort zu töten. Anscheinend vertrat er den Standpunkt,daß ich ein vernünftiges Wesen sei und daß wir,wenn er bloß mit mir reden könnte, uns zusammen-tun und den Krieg beenden könnten.« Longan lachtekurz und bitter. »Sie nannten es einen Krieg, CharliesLeute.« Er versank in Schweigen.

Ich wartete. Und als er stumm blieb, fragte ich zu-letzt: »Was geschah dann?«

»Sie ließen mich gehen«, sagte er. »Und ich setztemich für sie ein. Ging bis zum Gouverneur, der aufdem Nachbarplaneten residiert. Es war schwierig,weil ein paar kapitalkräftige Unternehmen der Pelz-branche sich mit Händen und Füßen dagegen wehr-ten, aber schließlich brachte ich durch, daß sie alsPersonen anerkannt wurden, statt als Tiere. Ichmachte dem Jagen und Fallenstellen ein Ende.«

Wieder verstummte er. Wir flogen in geringer Hö-he an der Gebirgskette entlang, und endlich brach dieSonne durch und ließ den Dschungel unter uns grünaufleuchten.

»Ich sehe«, sagte ich endlich.Longan blickte mich steinern an.Wir flogen zurück in die Stadt.

Ich verließ Elmans Welt am nächsten Tag, überzeugt,daß ich Longan und den schwarzen Charlie niemalswiedersehen würde. Mehrere Jahre später besuchtemich ein Beamter des Außenministeriums in meinemHaus bei New York. Er war ein schmächtiger dunklerMann, und er hielt sich nicht lange mit Vorreden auf.

»Sie kennen mich nicht«, sagte er. Ich blickte aufseine Karte – Antonio Walters. »Ich arbeitete in derKolonialverwaltung auf Elmans Welt, als Sie sich dortaufhielten.«

Ich blickte erstaunt auf. Ich hatte Elmans Welt in-zwischen so gut wie vergessen.

»Tatsächlich?« sagte ich einfältig, und ich ärgertemich, daß mir nichts Vernünftigeres einfallen wollte.Ich drehte seine Karte einige Male um und um, wäh-rend ich darauf starrte. »Was kann ich für Sie tun, Mr.Walters.«

»Die Lokalregierung von Elmans Welt hat uns er-sucht, Sie ausfindig zu machen, Mr. Jones«, antwor-tete er. »Cary Longan liegt im Sterben ...«

»Im – Sterben!« murmelte ich betroffen.»Lungenpilz, unglücklicherweise«, sagte Walters.

»Den kann man sich in den Sümpfen holen. Longanmöchte Sie vor dem Ende noch einmal sehen – undweil wir ihm für die unermüdliche Arbeit, die er in allden Jahren für die Eingeborenen geleistet hat, zuDank verpflichtet sind, haben wir im nächsten Ku-rierschiff der Regierung, das in die betreffende Regi-on geht, einen Platz für Sie reserviert. Das heißt,

wenn Sie bereit sind, diese Reise zu unternehmen.«»Wieso, ja ... ich ... ich werde verschiedene Leute

verständigen müssen«, sagte ich zögernd. Ich fühltemich überrumpelt, aber wenn ich auch nur einenFunken Anstand für mich in Anspruch nehmenwollte, konnte ich nicht ablehnen.

»Selbstverständlich«, sagte er.Glücklicherweise bestanden meine Vorbereitungen

nur aus einigen Anrufen und dem Packen meinesKoffers. Als ein erfahrener Reisender konnte ich je-derzeit mit einem Minimum an Aufwand und Durch-einander aufbrechen. Am folgenden Morgen fuhrenWalters und ich mit der Schnellbahn nach Washing-ton, und von da an brauchte ich mich um nichts mehrzu kümmern; das Außenamt umsorgte mich wie ei-nen Diplomaten einer umworbenen Nation.

Kaum eine Woche später stand ich im Kranken-haus der kleinen Ortschaft, die ich vor Jahren besuchthatte, an Cary Longans Krankenbett. Der Mann warnicht viel mehr als ein lebendes Skelett, kaum fähig,mehr als ein paar Worte über die mumienhaften Lip-pen zu bringen. Von seiner zähen Vitalität war nichtsübriggeblieben.

»Schwarzer Charlie ...«, wisperte er.Ich beugte mich über ihn, um besser verstehen zu

können.»Ja? Was ist mit ihm?«»Er hat neue Arbeiten gemacht«, wisperte Longan.

»Dieses Ding, das Sie schnitzten, brachte ihn darauf,Sachen zu kopieren. Seinem Stamm gefällt das nicht.«

»Sie finden es schlecht?« fragte ich verdutzt.»Sie«, flüsterte Longan, »verstehen nicht. Es ist

nicht normal, in ihren Augen. Sie fürchten ...«

»Sie meinen, sie sind abergläubisch über das, waser macht?« fragte ich.

»So ähnlich. Hören Sie – er ist ein Künstler ...«Bei seinem letzten Wort krümmte ich mich inner-

lich, aber dem Sterbenden zuliebe hielt ich den Mund.»... ein Künstler. Aber sie werden ihn dafür um-

bringen, nun, wo ich nicht mehr da bin. Sie könnenihn retten.«

»Ich?«»Sie!« Longans Stimme war wie ein Wind, der

durch trockene Blätter raschelt. »Wenn Sie hinkom-men – nehmen Sie diese letzte Arbeit von ihm ... tunSie erfreut ... dann werden sie nicht wagen, ihn anzu-rühren. Aber beeilen Sie sich. Jeder Tag ist kostbar.«

Seine Kraft verließ ihn. Er schloß die Augen, undseine Halsmuskeln entspannten sich. Die Pflegerinschob mich hastig hinaus.

Die lokale Regierung half mir. Ich war überraschtund beeindruckt, wie viele Leute Longan kanntenund wie viele unter ihnen seine Bemühungen be-wunderten, den Eingeborenen Wiedergutmachungzu leisten, indem er ihnen half, wo er konnte. Auf ei-ner Karte lokalisierten sie Charlies Stamm für michund gaben mir einen Piloten mit, der das Land kann-te.

Wir wasserten am Rand derselben Schlammbank.Ich ging allein zur Lichtung. Das hohe braune Ge-strüpp umgab sie noch immer wie eine Mauer, derOrt zeigte keine natürlichen Veränderungen, aber dieHütte des schwarzen Charlie war beschädigt undverlassen. Ich pfiff und wartete. Ich rief. Und schließ-lich ließ ich mich auf alle viere nieder und kroch hin-

ein. Aber im Innern gab es nichts als einen HaufenSteine und eine Menge getrocknetes Gestrüpp, dasCharlie als Lager gedient haben mochte. Steif undunbeholfen kroch ich wieder hinaus – und sah michvon einer Menge umringt.

Es sah aus, als ob alle anderen Dorfbewohner aus ih-ren Hütten gekommen wären und sich vor Charlies ver-sammelt hätten. Sie schienen erregt, drängten durchein-ander und stießen gelegentlich diesen leisen, klagen-den Ton aus, der das einzige Geräusch war, das ich jevon Charlie gehört hatte. Nach einiger Zeit schien dieAufregung sich zu legen, die Gruppe teilte sich, undein Individuum kam allein vorwärts. Es blickte einenMoment in mein Gesicht auf, dann drehte es um undglitt schnell und geschmeidig zum Rand der Lichtung.

Ich folgte. Was sollte ich sonst tun? Und es kam mirnicht in den Sinn, daß ich mich möglicherweise in Ge-fahr begab.

Mein Führer leitete mich tief ins Dickicht hinein,dann war er auf einmal verschwunden. Ich sah michüberrascht und unschlüssig um, beinahe geneigt,kehrtzumachen und auf meiner Fährte aus niederge-tretenem Gestrüpp zur Lichtung zurückzukehren.Dann hörte ich ganz in der Nähe ein leises Pfeifen.Ich arbeitete mich vorwärts und fand Charlie.

Er lag auf einem kreisförmigen kleinen Fleck aus zer-trampeltem Sumpfgras und Gestrüpp, und er war soschwach, daß er sich nicht erheben konnte. Er hobseinen Kopf und sah mich an, das war alles. Sein gan-zer Körper war mit flachen Wunden bedeckt, aus de-nen dunkles Blut sickerte und die geknickten Halmeund Zweige färbte, in denen er auf der Seite lag. Hei-

ßer Zorn kochte in mir auf, und ich bückte mich, umihn mit beiden Armen vorsichtig aufzuheben.

Er war nicht so schwer, wie ich gedacht hatte, denndie Knochen seiner Rasse sind leicht und knorpelig,und auch ihr Fleisch ist lockerer und leichter. Ich kamohne große Mühe mit ihm hoch und trug ihn behut-sam wie ein Baby zurück auf die Lichtung.

Die anderen warteten auf mich, als ich mit meinerLast die freie Fläche erreichte. Ich blickte sie finster an– und dann erlosch der Zorn in mir wie eine ausge-blasene Kerzenflamme. Denn da gab es nichts, dashassenswert gewesen wäre. Sie hatten Charlie nichtgehaßt. Sie hatten ihn nur gefürchtet; und ihr einzigesVerbrechen war Unwissenheit.

Sie wichen vor mir zurück, und ich trug Charliezur Tür seiner Hütte. Dort legte ich ihn nieder. Brustund Ärmel meiner Buschjacke waren von seinerdunklen Körperflüssigkeit durchtränkt, und ich sah,daß sein Blut nicht gerann, wie das unsrige es tut.

Ich zog mein Hemd aus und riß es in Streifen, unddann unternahm ich einen hilflosen Versuch, seinenKörper zu verbinden. Aber das Blut sickerte trotzdemweiter, und Charlie hob mit einiger Anstrengung sei-nen Kopf vom Boden und zupfte mit seinen Zähnenschwächlich an den Bandagen, so daß ich aufgab undsie entfernte.

Darauf setzte ich mich neben ihn, hilflos und miteinem elenden Gefühl im Magen. Trotz Longans Be-mühungen, die er noch auf dem Sterbebett fortgesetzthatte, war ich zu spät gekommen. Ich saß wie betäubtda und fragte mich immer wieder, warum ich nichteinen Tag eher hatte kommen können.

Benommenheit und Selbstvorwürfe endeten, als ichbemerkte, daß Charlie in seine Hütte zu kriechen ver-suchte. Meine erste Reaktion war, daß ich ihn zu-rückhalten wollte. Aber von irgendwo schien er einenRest seiner nachlassenden Kräfte zu mobilisieren,und statt ihn zu hindern, half ich ihm. So schleppte ersich durch den Eingang.

Ich erwartete nicht, daß er wieder zum Vorscheinkommen würde. Ich glaubte, irgendein Instinkt habeihn gedrängt, sich zum Sterben in seinen Schlupfwin-kel zu verkriechen. Aber kurz darauf hörte ich im In-nern der Hütte Steine rollen und poltern, und einpaar Sekunden später kam er rückwärts herausgekro-chen. Er war erst halb aus dem Eingang, als seineKräfte ihn verließen. Er lag eine Weile still, dann pfiffer schwach.

Ich ließ mich neben ihm auf die Knie nieder undzog ihn ganz heraus. Er drehte seinen Kopf zu mir,und ich sah, daß er etwas zwischen den Zähnen hielt,das wie eine große Kartoffel oder ein Klumpen ausgetrocknetem Schlamm aussah.

Ich nahm das Ding aus seinem Maul und begannden Schlamm mit meinen Fingernägeln wegzukrat-zen. Bald stieß ich auf die feinkörnige Oberfläche desSandsteins, den er für seine Arbeiten zu verwendenpflegte – und meine Hände fingen so stark zu zitternan, daß ich innehalten mußte, während ich meineEmpfindungen unter Kontrolle brachte. Zum erstenMal begriff ich die wahre Bedeutung, die diese Din-ger für Charlie hatten.

In diesem Moment schwor ich, daß dieses letzteund größte Werk von ihm in einem angesehenen Mu-seum seinen Platz als echtes Kunstwerk finden sollte,

wie bizarr seine Form auch immer sein mochte.Schließlich war es mit der Aufrichtigkeit und der lie-bevollen Hingabe geschaffen worden, die keine Müh-sal scheute, um ihr schöpferisches Ziel zu erreichen.

Und dann brach der Rest des getrocknetenSchlamms wie eine Schale vom bearbeiteten Stein. Ichsah, was es war, und hätte gleichzeitig lachen undweinen können. Denn von allen Formen, die er inStein hätte arbeiten können, hatte er diejenige ge-wählt, die kein Kritiker für die Wahl eines Künstlersseiner Rasse gehalten haben würde. Denn er hatteweder Pflanze noch Tier gewählt, keine natürlicheForm oder Struktur aus seiner Umgebung, um dashungrige Verlangen seines Geistes auszudrücken.Nichts von alledem hatte er gewählt – statt dessenhatte er mit schmerzlicher Unbeholfenheit ein Bildnach seiner Vorstellung aus dem weichen Stein ge-nagt: die Statuette eines stehenden Mannes.

Und ich wußte, welcher Mann es war.Charlie hob seinen Kopf vom Boden und blickte

zum Wasserarm, wo meine Maschine wartete. Ich binnicht gerade ein intuitiver Mensch, aber diesmalkonnte ich die Bedeutung eines Blicks verstehen. Erwollte, daß ich ginge, solange er noch am Leben wäre.Er wollte mich mit dem Bildwerk, das er gemachthatte, fortgehen sehen. Ich stand auf, hob die kleinePlastik in die Höhe und gab durch Mienenspiel undGestik zu erkennen, daß ich sie für überaus gelungenhielte und mitnehmen wolle. Dann stolperte ich da-von. Am Rand der Lichtung blickte ich zurück. Er be-obachtete mich noch immer. Und die übrigen Dorf-bewohner verharrten im Hintergrund. Ich glaubtenicht, daß sie ihn jetzt noch behelligen würden. Un-

willkürlich hob ich meine freie Hand zu einem letztenGruß, dann arbeitete ich mich auf dem schmalenTrampelpfad zurück zur Maschine. Gestrüpp undRöhricht schlugen hinter mir zusammen.

Und so kam ich nach Hause.Aber es gibt noch etwas zu erzählen. Nach meiner

Rückkehr von Elmans Welt sah ich die plumpe Statu-ette lange Zeit nicht an. Ich wollte es nicht, denn ichwußte, daß es nur bestätigen würde, was ich längstwußte: daß alle Sehnsucht und aller Fleiß der Weltkeine Kunst schaffen können, wo Talent und schöpfe-rische Phantasie fehlen. Aber gegen Ende des Jahresräumte ich mein Büro auf. Und weil ich an Systemund Ordnung in der Arbeit glaube – und weil ichmich schämte, daß ich es so lange hinausgeschobenhatte –, nahm ich die Statuette aus der unterstenSchreibtischschublade, wickelte sie aus ihrem staubi-gen Zeitungspapier und setzte sie auf die polierteSchreibtischplatte.

Ich war allein im Raum, und die Nachmittagssonneflutete durch das große Fenster und berührte alles,was zwischen den Wänden war, mit einem klaren,bernsteinfarbenen Licht. Ich strich mit den Finger-spitzen über den körnigen Sandstein, dann hob ichdie kleine Plastik auf, um sie genauer zu betrachten.

Und ich sah sie zum ersten Mal – sah durch denStein auf das Vorstellungsbild dahinter, sah, was derschwarze Charlie gesehen hatte, mit seinen Augen,wenn er Longan angeschaut hatte. Ich sah den Men-schen, wie Charlies Artgenossen den Menschen sahen– und ich sah, was die Welt des Menschen demschwarzen Charlie bedeutete. Und vor allem sah ichKunst, wie er sie sah, durch seine glänzenden frem-

den Augen, sah die Schönheit, die er um den Preisseines Lebens gesucht und halb gefunden hatte.

Und ich erkannte, daß diese grobe Statuette Kunstwar.

Noch ein Wort. Im Schlamm und Gestrüpp desSumpfdeltas hatte ich die Statuette in den Händengehalten und gelobt, daß dieses Werk einmal im Mu-seum stehen werde. Nach diesem Augenblick wahrerErkenntnis in meinem Büro bemühte ich mich, diePlastik an Museen zu verkaufen, die mich als seriösenKunsthändler kannten.

Aber ich konnte keine Abnehmer finden. Obwohlsie mir vertrauten und meinen Sachverstand schätz-ten, war nicht einer bereit, ein so armselig aussehen-des Stück zu nehmen, für dessen abenteuerliche Ent-stehungsgeschichte ich allein bürgen konnte. Es gibtimmer Leute – und im Kunstbereich sind sie beson-ders häufig –, die nur zu gern in der Pose des überle-genen Kenners mit Worten wie »Schwindel« oder»Betrug« um sich werfen. Jahrelang bemühte ichmich ohne Erfolg, Charlies Werk den ihm gebühren-den Platz zu sichern. Dann gab ich die wahre Ge-schichte auf und verkaufte die Statuette zusammenmit anderen schwierig zu klassifizierenden Einzel-stücken an einen ausländischen Händler, dem ich sieals einen Gegenstand darstellte, dessen Geschichtemir nicht bekannt sei.

Seltsamerweise hat die Statuette meinen Glaubenan das, was Kunst ist, gerechtfertigt, indem sie auchohne mein Zutun eine Nische für sich fand. Ein gutesJahr später verfolgte ich ihren Weg von dem Händlerzu einem sehr bekannten Kunstmuseum, das eineumfangreiche Sammlung präkolumbischer Arbeiten

aus Mittel- und Südamerika besitzt.Und die Statuette des schwarzen Charlie ist unter

ihnen. Ich werde nicht verraten, welche es ist.

Ein ehrenvoller Tod

Vom Baumgarten an einem bis zum Landeplatz amanderen Ende stand der ganze Haushalt mit den Vor-bereitungen zur Party Kopf. Wie gewöhnlich mußteCarter alles selbst beaufsichtigen, oder die Dinge wä-ren nicht vorangegangen; und dies fiel ihm um soschwerer, als es ihm in letzter Zeit an Enthusiasmuszu mangeln schien. Er war sich eines unbestimmtenÜberdrusses und Lebensekels bewußt, der vielleichtnicht das Leben im allgemeinen betraf, jedenfalls abersein Leben mit allen Begleitumständen. In diesemHerbst würde er seinen siebenundvierzigsten Ge-burtstag feiern. Konnte es sein, daß der wahre Grundfür seine Lustlosigkeit der war, daß er sich derSchwelle des Alters nahe fühlte? Oder war es der, daßauf diesem kleinen, verschlafenen Planeten nichtspassierte? Was immer der Grund war, dieses Jahrging alles noch langsamer voran als gewöhnlich.Carter hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, seinGalakostüm (19. bis 20. Jahrhundert) mit langenRockschößen und Stehkragen anzulegen, das er aus-gewählt hatte, als die Glocke läutete und den erstenGast ankündigte.

Er warf den Frack auf sein Bett, ging hinaus undüberquerte den im spanischen Stil gestalteten Innen-hof seiner Villa – komplett mit Ziersträuchern, Klet-terpflanzen und Springbrunnengeplätscher. Etwa aufhalbem Weg prallte er beinahe mit einem der Urein-wohner des Planeten zusammen, der wie ein schlan-ker, bläulicher Pfosten steif auf dem hübschen weißenPlattenweg stand.

»Was tust du hier?« rief Carter.Das schmale, indigofarbene, pferdeähnliche Ge-

sicht beugte sich vertraulich zu Carter herab. Unddann sah Carter die dichte Masse von Apfelblüten,die der Eingeborene gegen seine tintige Brust ge-drückt hielt.

»Oh, verd...«, begann Carter wütend. Dann warf erhilflos die Hände hoch und nahm das Gewirr derBlütenzweige entgegen. Er spähte an dem unbeweg-lich stehenden Eingeborenen vorbei zu seinem im-portierten Apfelbaum. Aber der war nicht so schlimmverstümmelt, wie Carter befürchtet hatte. »Danke,danke schön«, sagte er abwesend und winkte denEingeborenen aus dem Weg.

Aber der Eingeborene blieb stehen. Carter starrte –dann sah er, daß die magere und haarlose Kreatur,obschon so unbekleidet wie immer, zu diesem Anlaßmit Gürteln, Halsketten und Armbändern aus ein-heimischen Blumen erschienen war. Die Farben undMuster waren zweifellos so zusammengestellt, daßsie irgendeine besondere Bedeutung ausdrückten –das taten sie immer. Aber im Moment war Carter zuverdrießlich und zu sehr in Eile, um die Bedeutungdieses Aufputzes auszuknobeln, wenngleich er es einwenig ungewöhnlich fand, daß der Eingeborene ei-nen schlanken Speer aus dunklem Holz und mit feu-ergehärteter Spitze hielt. Die Jagd war den Eingebo-renen ausdrücklich verboten.

»Was nun?« sagte Carter. Der Eingeborene (ein lo-kaler Häuptling, erkannte Carter plötzlich) hob sei-nen Speer und machte ganz unerwartet mehrerelangsame, gemessene Hopser – wie ein balzender

Kranich. »Oh, nein!« sagte Carter mit ungeduldig-verzweifelnder Gebärde. »Erzähl mir bloß nicht, duwillst jetzt tanzen!«

Der Eingeborenenhäuptling stellte seine Bewegun-gen ein und wurde wieder zu einem Pfosten. Erstarrte über Carters Kopf hinaus wie zu einem Hori-zont, unsichtbar hinter den Mauern und schillerndenSpiegelscheiben von Carters weitläufiger Behausung.Carter ächzte, überlegte und blickte besorgt zur Emp-fangshalle, von wo er jetzt Onas Stimme hörenkonnte, die den ersten Gast mit weiblichem Gezwit-scher begrüßte.

»Also gut«, sagte er zum Häuptling. »Also gut –dieses eine Mal. Aber nur, weil heute Überlebenstagist und wir sowieso feiern. Und du mußt bis nachdem Abendessen warten.«

Der Eingeborene trat zur Seite und wurde wiedersteif. Carter eilte an ihm vorbei und weiter zur Emp-fangshalle, die Blütenzweige umklammernd. SeineFrau sprach mit einem kleinen, braunbärtigen Mannin einem rot- und weißgewürfelten Hemd mit Puff-ärmeln, der eine schwarzglänzende Gitarre umge-hängt hatte.

»Ramy!« rief Carter, während er zu ihnen eilte. DieLandebühne des Transporters in der Mitte des Rau-mes läutete wieder. »Sei so gut und nimm dieseZweige, ja?« Er stieß das duftende Bündel ohne Um-schweife in Onas dickliche, nackte Arme. »DerHäuptling«, erklärte er mit einer Grimasse. »Zu Eh-ren des Tages. Du weißt, wie sie sind – und ich mußteihm versprechen, daß er nach dem Abendessen tan-zen darf.« Sie starrte, das weiße, weiche Gesicht zuihm aufgehoben. »Ich konnte nichts machen.«

Er wandte sich ab und eilte zur Landebühne. Von derkleinen runden Plattform stiegen bereits ein untersetz-ter, älterer Mann mit schütterem weißem Haar und eineziemlich fette, stumpfnasige Frau vergleichbaren Al-ters. Beide trugen den altertümlichen ionischen Chitonals Kostüm. Carter fühlte sich bestätigt. Er hatte Onadringend davor gewarnt, einen Chiton zu tragen, ausdem einzigen Grund, daß diese zwei in der gleichenVerkleidung auftauchen könnten. Er dachte mit Be-friedigung an Onas pompöses Ballkleid, als er den An-kömmlingen mit ausgebreiteten Armen entgegeneilte.

»Doktor!« rief er. »Lidi! Da seid ihr ja!« Er schüt-telte dem Mann die Hand. »Einen frohen Überle-benstag euch beiden!«

»Ich dachte schon, wir kämen zu spät«, sagte Lidi,mit beiden Händen ihre Gewandfalten raffend. »Aberdu kennst ja meinen Mann. Er läßt sich nicht zur Eiledrängen, egal was ich sage ...« Sie warf ihrem Gemahleinen strafenden Blick zu, aber der, mit der Begrü-ßung der Gastgeberin beschäftigt, ignorierte sie.

Die melodische Glocke läutete erneut, und zweiFrauen, deren verschiedenartige Kleidung nicht ver-leugnen konnte, daß sie Schwestern waren, erschie-nen auf der Plattform. Eine trug einen gewöhnlichenRock mit Umhang – überhaupt kein Kostüm. Die an-dere war in einen anliegenden Anzug aus irgendei-nem grauen Material gekleidet, dessen Stil sich nichtohne weiteres einordnen ließ. Sie stürzte sofort aufCarter los.

»Cart!« rief sie, ergriff mit beiden Händen seineRechte und pumpte sie auf und nieder. »GlücklichenÜberlebenstag!« Dabei strahlte sie ihn aus einem et-

was derben Gesicht mit kräftigen Zügen an, die siestark mit Make-up übertüncht hatte. »Ani und ich ...«Sie sah sich nach ihrer Schwester um und entdeckte,daß diese bereits zur Selbstbedienungsbar am ande-ren Ende der Halle wanderte. »Ich«, korrigierte siesich hastig, »konnte es kaum erwarten, hierher zukommen. Wer kommt sonst noch?«

»Niemand. Nur was du hier siehst, Totsa«, sagteCarter mit ausgreifender Handbewegung. »Wirdachten, daß wir dieses Jahr nur eine kleine Partymachen – ein kleines, gemütliches Beisammensein ...«

»Wie nett! Und wie findest du mein Kostüm?« Siedrehte sich langsam um ihre Achse, daß er sie begut-achtete.

»Wieso – gut, sehr gut.«»Aber Cart!« Totsa kam ganz herum und sah ihn

herausfordernd an. »Du kannst überhaupt nicht er-raten, was es ist.«

»Natürlich kann ich«, sagte Carter herzlich.»Also, dann, was ist es?«»Oh, vielleicht will ich es nicht sagen.«Ein kleiner Kopf mit dünnem weißem Haar schob

sich von der Seite in Carters Gesichtsfeld. »Einekünstlerische Abwandlung der Strahlenschutzanzü-ge, in denen sich unsere wackeren Ahnen heute vorvierhundertzwanzig Jahren aus dem Atomzeitalter indie Morgenröte der Vernunft hinüberretteten?«

Totsa schrie triumphierend: »Ich wußte, daß Sie eswissen würden, Doktor! Carter hatte nicht die leisesteAhnung. Nicht einen Schimmer!«

»Ein Gastgeber ist ein Gastgeber«, sagte Carter.»Entschuldigt mich, ich muß mein eigenes Kostümanziehen.«

Er ging wieder hinaus und durch den Innenhof.Die Luft war angenehm kühl in seinem erhitzten Ge-sicht. Er hoffte, Totsa habe die Andeutung in seinerletzten Bemerkung verstanden – daß er bloß höflichgewesen war, indem er vorgegeben hatte, von derBedeutung ihres Kostüms keine klare Vorstellung zuhaben. Aber wahrscheinlich hatte sie es nicht so ver-standen. Sie würde seine Worte als einen Versuchinterpretieren, mit geheimnisvollem Blabla zu ver-bergen, daß er ihr Kostüm nicht erkannt hatte. Amdicken Fell einer solchen Frau wurde das Florett zu-schanden. Und zu denken, daß er einmal mit ihr ...man mußte einen Knüppel gebrauchen. Und dasSchlimmste dabei war, daß er die Bedeutung ihresKostüms sofort erkannt hatte. Er hatte bloß scherzenwollen, als er es nicht gleich gesagt hatte ...

Der eingeborene Häuptling stand noch immer un-beweglich, wo Carter ihn stehengelassen hatte. Wahr-scheinlich wartete er auf seinen Moment.

»Mußt du immer im Weg herumstehen?« sagteCarter gereizt, als er herankam.

Der Häuptling tat einen langen, stelzbeinigenSchritt zurück, bis er halb verborgen im Schatten ei-nes Rosenspaliers stand. Carter ging mißmutig weiterund in sein Schlafzimmer.

Sein Frack lag auf dem Bett, und er stieg unbeholfenin die enge Hose, während er die Planung für denbevorstehenden Abend überdachte. Mindestens fünfStunden bis zum abschließenden Feuerwerk, schätzteer, als er seinen Hals in den Stehkragen zwängte. DieBegrüßungscocktails waren gut für eineinhalb, viel-leicht zwei Stunden. Länger wagte er diese Phase nicht

auszudehnen, oder Ani würde sich sinnlos betrinken.Schon so würde es schlimm genug, mit einem Cock-tailempfang und Wein zum Abendessen. Aber viel-leicht konnte Totsa ihre Schwester unter Kontrollehalten. Wie auch immer – zwei Stunden, und weiterezwei für das Abendessen. Anschließend bliebe eineStunde oder so für geselliges Beisammensein.

Nun – Carter arbeitete sich in den eng geschnitte-nen Frack –, in dieser Phase könnte er seine üblichekleine Ansprache zu Ehren des Festtages halten. Undder Häuptling! Ja, natürlich! Tatsächlich waren dieEingeborenentänze bedeutungslose und langweiligeAngelegenheiten, obwohl Carter sich anfangs für sieinteressiert hatte, aber schließlich hatte er immer ei-nen wachen und wissensdurstigen Verstand gehabt.Trotzdem, die anderen mochten so eine Vorführunglustig oder unterhaltend finden, wenn sie nicht zulange dauerte, wenigstens dieses eine Mal.

Er band die Schleife, knöpfte seinen Frack zu, undnach einem letzten Blick in den Spiegel – er war mitseiner Erscheinung sehr zufrieden – kehrte er durchden Innenhof zurück. Seine gehobene Stimmung äu-ßerte sich in freundlicheren Gefühlen für den Einge-borenen, und als er diesmal an ihm vorbeikam, blieber stehen und fragte: »Willst du etwas essen?«

Der Eingeborene stand stumm und abwesend, ge-sprenkelt von den Schatten der Rosenblätter. Wederbewegte er sich, noch antwortete er, und Carter eiltemit einem entschieden erleichterten Gefühl weiter. Erachtete immer darauf, daß für solche Fälle einheimi-sche Nahrung im Hause war – schließlich wurdenauch sie hungrig. Aber es war ein Glück, daß er sichjetzt, wo er so beschäftigt war, nicht darum kümmern

mußte, daß das Zeug für diesen ungebetenen undunerwarteten Gast richtig zubereitet wurde.

Die Gäste hatten sich von der Empfangshalle in denGesellschaftsraum begeben, wo es eine besser ausge-stattete Bar und mobile Sessel gab. Als Carter ihnennachging, sah er, daß sie sich bereits in drei Gruppenaufgespalten hatten. Seine und des Doktors Frauhatten sich zum Klatsch in eine Ecke zurückgezogen;Ramy spielte auf seiner Gitarre und sang dazu mitleiser, nicht unangenehmer, aber heiserer Stimme,während Ani, das Cocktailglas in der Hand, mit hal-bem Lächeln an ihm vorbei in die irisierenden Farbender Wand hinter ihm blickte. Totsa und der Doktordiskutierten an der Bar. Carter gesellte sich zu ihnen.

»... und bin durchaus geneigt, es zu glauben«, sagteder Doktor in seiner sanften, präzisen Aussprache, alsCarter zu ihnen trat. »Oh, das ist wirklich sehr gut,Cart!« Er drehte sich halb herum und betrachtete be-wundernd Carters Kostüm.

»Findest du?« sagte Carter erfreut. »Etwas mühsamanzuziehen und zu tragen, aber ich weiß nicht, in die-sem Jahr wollte ich einfach mal etwas Ausgefallenesprobieren.« Er drückte die Tasten für einen Limonen-brandy und sah mit Vergnügen, wie der Mechanis-mus der automatischen Bar funktionierte und ihmdas gefüllte Glas servierte – komplett mit Eiswürfelund Zitronenscheibe.

»Du siehst wie gepanzert darin aus, Cart«, sagteTotsa.

Carter schlürfte von seinem Cocktail. Der Doktortrat an die Bar und ließ sein Glas frisch auffüllen.

»Kannst du dir vorstellen, was dieser Mann mir

eben erzählt hat?« sagte Totsa. »Er behauptet, wir sei-en zum Untergang verurteilt.«

»Ich habe keinen Zweifel, daß wir ...«, begannCarter. Aber bevor er seine Zustimmung mit der Ein-schränkung versehen konnte, daß er sie in einemweiteren Sinne meinte, überschäumte sie ihn mit ei-ner Brandungswelle von Konversation.

»Nun, ich bin ja auch immer um Objektivität be-müht. Schließlich, wer sind wir, daß wir auf alle Zei-ten überleben sollten? Aber wirklich – wie lächerlich!Und du stellst dich einfach so hinter ihn, blindlings,ohne die leiseste Ahnung, wovon er geredet hat!«

»Es ist nur eine Theorie, Totsa«, sagte der Doktorruhig.

»Es eine Theorie zu nennen, erscheint mir schonzuviel der Ehre!« erwiderte sie kriegerisch.

»Vielleicht«, sagte Carter, von seinem Cocktailschlürfend, »wenn ich ein bißchen mehr über daswüßte, was ihr zwei da ...«

»Es ging«, sagte der Doktor zu Carter, »um dieFrage, warum wir auf den Welten, die wir in Besitznahmen – ich räume ein, daß es bislang nur wenigesind –, keine andere Rasse gefunden haben, die derunsrigen vergleichbar ist. Es mag natürlich sein, daßwir im Universum einzigartig sind. Aber die Theorie,von der wir eben sprachen, nimmt an, daß jeglicherKontakt zwischen Rassen verschiedener Intelligenz-stufen unausweichlich zum Untergang der intellektu-ell schwächeren Rasse führen muß. Wenn wir also ei-ner überlegenen Rasse begegneten ...«

Er wedelte anmutig mit der Hand.»Ich stelle mir vor, daß das möglich wäre«, sagte

Carter.

»Lächerlich!« warf Totsa ein. »Als ob wir einenKontakt nicht einfach vermeiden könnten, wenn wires wollten!«

»Das ist ein Argument«, sagte Carter. »Zumindestein theoretisches ...«

»Wir«, unterbrach ihn Totsa, »die wir die Fesselnunserer Erde gesprengt und uns in kaum vierhundertJahren neue Heimatwelten erobert haben, sind kaumder Typ, der einfach aufgeben würde!«

Der Doktor stellte sein Glas auf die Bar und falteteseine kleinen Hände vor dem Bauch. »Es beruht allesauf der Annahme, Cart«, sagte er bedächtig, »daß derLebenswille einer Rasse von einem gewissen Maß anemotioneller Selbstachtung abhänge. Eine Rasse vongeringerer Intelligenz oder technologischer Fähigkeitkönnte kaum eine Bedrohung für uns sein. Aber einein diesen Dingen überlegene Rasse, so geht die Theo-rie, müsse dieses Selbstwertgefühl in uns zerstörenund unausweichlich eine unbewußte Todessehnsuchtin uns allen erwecken. Wir fanden es zu lange selbst-verständlich, die erste Geige zu spielen. Wir müssensiegen oder ...«

»Absoluter Unsinn!« sagte Totsa.»Nun, du kannst die Überlegung nicht einfach so

aus dem Handgelenk verdammen«, sagte Carter.»Gewiß, ich kann mir auch nicht vorstellen, daß einMensch wie ich selbst jemals aufgeben würde. Wirsind zu hart, zu wölfisch. Aber ich kann mir gut vor-stellen, daß eine solche Theorie für andere, geringereRassen Gültigkeit haben könnte.« Er räusperte sich.»Ich hatte zum Beispiel ziemlich häufig Kontakt mitden Eingeborenen, die die dominierende Lebensform

auf dieser Welt waren, bevor wir kamen ...«»Ach, Eingeborene!« schnappte Totsa verächtlich.»Du würdest dich wundern, Totsa!« sagte Carter,

etwas erhitzt. Eine Inspiration nahm von ihm Besitz,und er fuhr fort: »Übrigens habe ich etwas vorberei-tet, damit du genau dies tust. Ich habe den Eingebo-renenhäuptling dieser Gegend eingeladen, nach demEssen für uns zu tanzen. Du könntest es sehr auf-schlußreich finden.«

»Aufschlußreich? Wie?« fuhr Totsa auf.»Das«, sagte Carter und stellte sein Glas mit

schwungvoller Gebärde auf die Bar zurück, »darfstdu selber herausfinden. Und nun, wenn es euchnichts ausmacht, muß ich wie ein guter Gastgebermeine Runde machen.«

Er schritt davon, angewärmt vom Alkohol und zu-frieden mit sich selbst. Er lächelte, als er zu Ramykam, der für Totsas Schwester immer noch Balladensang und seine Gitarre zupfte.

»Ausgezeichnet!« sagte Carter leutselig, klatschtekurz in die Hände und setzte sich zu ihnen, als dasLied endete. »Was war das?«

»Richard Löwenherz schrieb es«, sagte Ramy hei-ser. Er wandte den Kopf und fragte seine Zuhörerin:»Noch ein Gläschen, Ani?«

Carter versuchte dem Balladensänger mit den Au-gen zu signalisieren, aber Ramy war bereits aufge-standen und eilte dienstfertig zur Bar, von wo ergleich darauf mit einem gefüllten Glas zurückkehrte.Carter seufzte unhörbar und lehnte sich im Sessel zu-rück. Er durfte nicht vergessen, Totsa bei nächsterGelegenheit zu sagen, sie solle Ani mehr im Auge be-halten.

Weil Ramy mit ihm anstoßen wollte, holte sichCarter ein zweites Glas Limonenbrandy. Die Laut-stärke der Stimmen im Raum nahm mit dem Alko-holkonsum zu. Nur Ani war still. Während sie saßund zielstrebig trank, hörte sie der Konversation zwi-schen Carter und Ramy zu, als ob sie durch eineGlasscheibe von ihnen getrennt wäre und alle realenGeräusche und Bewegungen des Lebens nur ge-dämpft zu ihr drängen, wenn überhaupt. Ihre Gei-stesabwesenheit irritierte Carter so, daß er bald unfä-hig war, Ramys Worten zu folgen und schließlichvöllig den Faden verlor und sich darauf beschränkenmußte, statt eines Kommentars nichtssagende Geräu-sche von sich zu geben.

Sobald sich eine Gelegenheit ergab, entschuldigteer sich und stand auf. Er ging hinüber in die Ecke, wodie Frauen redeten.

»... Erde«, sagte Lidi gerade. »Es war ein unvergeß-liches Erlebnis für uns. Oh, Cart ...« Sie drehte sichunbeholfen herum, als er ihr gegenüber in einen Ses-sel sank. »Du mußt dich wirklich einmal losreißenund mit deiner Frau die Erde besuchen. Wirklich.«

»Glaubst du, Ona sei der Zurück-zur-Natur-Typ?«sagte Carter mit einem Lächeln.

»Nein, hör auf!« Lidi wandte sich wieder Ona zu.»Du solltest ihn dazu überreden.«

»Ich habe es erwähnt. Mehrere Male«, sagte Ona.Und mit hilfloser Geste stellte sie ihr Glas auf denkleinen Rauchtisch zwischen ihnen.

»Na ja, du weißt, was sie sagen«, verteidigte sichCarter. »Alle reden von der Erde, aber niemand gehtmehr hin.«

»Wir waren dort. Und es war denkwürdig. Es ist

natürlich nicht so sehr, was du siehst, es ist der Ge-winn an Einsicht. Ich bin durch fünf Generationenvon den Menschen getrennt, die heute dort leben,und ich muß sagen, es ist eine Entfremdung einge-treten. Aber mein Mann ist erst in der zweiten Gene-ration hier draußen, und er hat leibliche Vettern inder Türkei. Für ihn war es viel leichter, gemeinsameAnknüpfungspunkte zu finden. Du kannst sagen,was du willst, aber erst ein Besuch auf der Erde zeigtdir, wie der echte alte Stamm hier draußen im Laufeder Generationen geschwunden ist. Die Menschenauf der Erde haben für unsereinen etwas – wie sollich sagen? – Archaisches, Altertümliches; und dasnicht nur in der Sprache.«

»Die Reisekosten sind auch kein Hinderungsgrundmehr«, warf Ona ein. »Heutzutage ist praktisch jederreich, wenigstens bei uns hier.«

»Reich! Was für ein unangenehmes Wort!« sagteLidi. »Du solltest sagen: fähig, meine Liebe. Vergißnicht, unsere Reichtümer sind nur das Produkt unse-rer Wissenschaft und Technik, die wiederum dieFrüchte unserer eigenen Fähigkeiten sind.«

»Ach, du weißt, was ich meine!« sagte Ona. »Derspringende Punkt ist jedenfalls, daß Cart nicht gehenwill.«

»Ich bin ein einfacher Mann«, sagte Carter. »Ich binhier zu Hause. Hier habe ich meine Arbeit, meineMusik und meinen Gartenbau. Ich fühle kein Bedürf-nis, umherzustreifen.« Er stand auf. »Aber wenn ihrmich jetzt entschuldigen wollt ...«

»Aber du hast deiner Frau noch keine Antwort ge-geben, ob du mit ihr eine Reise zur Erde machenwillst!« rief Lidi.

»Oh, das wird schon werden, eines Tages«, wehrteCarter ab. »Aber jetzt muß ich in der Küche nach demRechten sehen.« Er winkte ihnen zu und ging schnellfort.

Als er durch den westlichen Wohnraum und dasanstoßende Speisezimmer zur Küche ging, ließ seineMunterkeit nach. Es war immer eine kitzlige Sache,mit den Köchen umzugehen und sie in der Hand zubehalten, denn inzwischen waren sie alle Künstler aufihrem Gebiet, taten die Arbeit aus Liebe zu ihr undwaren nicht mehr durch den Lohn zu kontrollieren,den er ihnen zahlte. Am liebsten hätte Carter sichüberhaupt nicht um diesen Aspekt der Party ge-kümmert und die Köche einfach machen lassen. Aberwas, wenn er nicht kontrollierte und dann etwasschiefginge? Sein Gewissen würde ihm keine Ruhelassen.

Der Speiseraum war bereits im klassischen Stil vorbe-reitet, mit langer Tafel und Einzelstühlen. Er warf ei-nen prüfenden Blick auf den makellos mit Porzellan,Silber, Leinen und Kristall gedeckten Tisch, dannging er durch den Lichtschirm in die Küche. DerChefkoch war eben dabei, mit seinen beiden Gehilfendie Warmhalteplatte zu garnieren, auf der der ganzegeröstete Eber auf den Tisch gebracht und währendder Mahlzeit warmgehalten würde. Er sah Carternicht eintreten; und Carter blieb mit einem Seufzerder Erleichterung stehen, um den Eber zu bewun-dern. Es war ein Meisterstück und so geschickt ausden einzeln gerösteten Fleischstücken zusammenge-baut, daß niemand auf den Gedanken gekommenwäre, es sei nicht mehr das ganze, unzerlegte Tier.

In diesem Moment blickte der Chefkoch auf undsah ihn. Sofort kam er herüber und fragte nach Car-ters Wünschen. Carter brachte ein paar kleine Vor-schläge vor, aber die Antworten waren von einer sokünstlichen Höflichkeit, daß Carter froh war, ihnnach ein paar Minuten wieder seiner Arbeit zu über-lassen.

Er wanderte durch das Haus zurück, ohne direktzum Gesellschaftsraum zurückzukehren. Mit demStimmungswechsel, den die Begegnung mit demChefkoch in ihm ausgelöst hatte, waren seine frühe-ren Gefühle von Lebensüberdruß und Melancholiewieder über ihn gekommen. Er dachte beinahe mitAbscheu an die Leute, die er eingeladen hatte. Vorzwanzig Jahren hätte er sich nicht für fähig gehalten,einer solchen Clique anzugehören. Wo waren diegroßen Freunde, die wahren Freunde, die er als Jüng-ling zu gewinnen beabsichtigt hatte? Nicht, daß es dieSchuld derer gewesen wäre, die sich in seinem Ge-sellschaftsraum dem Alkohol und oder Konversationhingaben. Sie konnten nichts dafür, daß sie waren,was sie waren. Es war die Schuld der Zeitläufe, diedas Leben für jedermann zu leicht und zu bequemmachten; und ja –, er wollte ehrlich sein, es war auchseine eigene Schuld.

Seine Wanderung hatte ihn wieder in den großenInnenhof geführt. Er entsann sich des Häuptlings undspähte durch das Zwielicht aus Lampenschimmerund Finsternis zum Rosenspalier.

Das Haus war in Hufeisenform um den Hof ge-baut, und die offene Seite zeigte nach Westen. Einmatter Abglanz des scheidenden Tages in düsteremRot und Violett säumte noch den Horizont. Tiefe

Schatten lagen auf dem Rosenspalier und dem Einge-borenen darunter. Er war kaum zu sehen, aber seineblasse, vertikale Reflexionslinie markierte seinenglänzenden, aufrechten Speer und zeigte, daß er kei-ne Bewegung gemacht hatte. Eine plötzliche Auf-wallung von Emotionen beengte Carters Brust. Er tatzwei Schritte auf den Häuptling zu, getrieben von ei-nem spontanen Bedürfnis, ihm für sein Kommen unddas Angebot einer Tanzvorführung zu danken. Aberin diesem Moment kam der sanfte, metallische Klangdes Glockenspiels seiner Wanduhr aus der offenenTür des Arbeitszimmers und verkündete die einund-zwanzigste Stunde, und er wandte sich hastig umund eilte durch die Empfangshalle in den Gesell-schaftsraum.

»Hors d'œuvres! Hors d'œuvres!« rief er munter.»Die Herrschaften werden zur Tafel gebeten!«

Das Abendessen war zum Erfolg geradezu verur-teilt. Alle waren vom Alkohol befeuert und hungrig.Alle waren gesprächig. Sogar Ani hatte ihre ge-wohnte Introvertiertheit abgelegt und lächelte undnickte – ganz nüchtern, wie jedermann zu schwörenbereit gewesen wäre. Sie hörte zu, wie Ona und Lidiüber Lidis erwachsenen Sohn sprachen, als er ein Ba-by gewesen war. Der Doktor war munter und aufge-räumt, und Ramy, der sein Bedürfnis nach musikali-schem Ausdruck zuvor mit Ani befriedigt hatte, warnun bereit zur Geselligkeit. Der geröstete Eber erregteallgemeine Bewunderung, und als sie mit der Nach-speise fertig waren, herrschte eine Atmosphäre sattenBehagens, und selbst der Koch, der durch eine mo-mentane Transparenz der Küchenwand spähte,tauschte mit Carter ein zufriedenes Lächeln aus.

Carter blickte auf seine Uhr. Nur noch zwanzigMinuten nach seinem Zeitplan! Die Zeit war wie imFluge vergangen, und statt sie mit irgendwelchenImprovisationen auszufüllen, würde er nun sogar im-stande sein, seine Rede ein wenig abzukürzen. Hätteer den Tanz des Häuptlings nicht bereits angekün-digt, könnte er ihn jetzt einfach aus dem Programmstreichen ... nein, das wäre auch nichts. Er hatte im-mer Wert darauf gelegt, mit den Eingeborenen dieserWelt auszukommen. »Schließlich ist es auch ihreHeimat«, hatte er immer gesagt.

Er klimperte mit einem Löffel an sein Weinglas underhob sich. Gesichter wandten sich ihm zu, und dieKonversation kam widerwillig zum Erliegen. Er lä-chelte in die Runde.

»Wie ihr wißt«, sagte er, »ist es bei diesen kleinenZusammenkünften immer meine Gewohnheit gewe-sen – und alte Gewohnheiten sind die besten –, einigewenige Worte zu sagen. Heute abend werde ich michnoch kürzer fassen als gewöhnlich.« Er hielt inne undtat einen Schluck aus seinem Wasserglas.

»Aus Anlaß der vierhundertzwanzigsten Wieder-kehr jenes Tages, an dem unsere große Rasse dieschwerste Krise ihrer Geschichte durchmachte, umsich alsbald einem Phönix gleich aus der Asche ihreralten Welt zu erheben und den Beginn eines neuenZeitalters einzuleiten, erinnern wir uns des weitenWeges, den wir gekommen sind; und des weiten We-ges, den wir zweifellos noch zu gehen haben.« Er lä-chelte, um anzudeuten, daß seine nächsten Worte nurals Ausdruck seiner kameradschaftlichen Empfin-dungen gesagt wurden. »Ich denke in diesem Mo-ment an eine neue Theorie, die unser guter Doktor

hier heute abend vorgetragen hat. Diese Theorie po-stuliert, daß beim Zusammentreffen zweier Rassendie unterlegene Rasse unausweichlich zum Unter-gang verurteilt sei. Und daß, weil die Gesetze dermathematischen Wahrscheinlichkeit zugunsten derExistenz anderer, uns überlegener Rassen sprechen,wir eines Tages diejenigen sein werden, die unterge-hen müssen.«

Wieder hielt er inne und wärmte sie mit seinem Lä-cheln.

»Dazu möchte ich sagen: Unsinn! Keiner möge er-widern, ich suchte bloß Zuflucht in jener blindenBorniertheit, die auf solche Prophezeiungen mit demRuf ›Uns kann das nicht passieren!‹ reagiert. Ichglaube, daß es uns zustoßen kann, aber es wird nichtdazu kommen. Und warum nicht? Ich beantworte dasmit einem Wort: Zivilisation.«

Carter blickte triumphierend in die Gesichter seinerGäste, dann fuhr er fort: »Diese Übermenschen –sollten sie jemals auftauchen – müssen wie wir zivili-siert sein. Zivilisiert. Überlegt einmal, was diesesWort bedeutet. Sehen wir uns an, wie wir hier ver-sammelt sind. Sind wir nicht gebildete, freundliche,sympathische Menschen? Und wie behandeln wir dieunterlegenen Rassen, auf die wir im Zuge unsererExpansion gestoßen sind?

Ich werde es euch überlassen, auf diese Fragen zuantworten, denn nun möchte ich euch zu Cognac undKaffee in den Patio einladen, wo ihr einen der Urein-wohner dieses Planeten sehen werdet, der denWunsch geäußert hat, für euch zu tanzen. Betrachtetihn, erfreut euch an seinem Tanz und überlegt, wel-che menschliche Freundlichkeit und Rücksichtnahme

in der Geste enthalten ist, die ihn in unser Fest miteinbezogen hat.« Carter machte eine feierliche Pause,um mit erhobener Stimme fortzufahren: »Und be-denkt jenes alte Wort, dessen Echo durch die Korri-dore der Zeit bis zu uns hallt: Wie ihr anderen getanhabt, so soll euch geschehen!«

Carter setzte sich, strahlend und errötend zum Ap-plaus der Gäste, dann stand er sofort wieder auf, umihnen voranzugehen. Als sie durch die Empfangs-halle strömten, beschleunigte er seine Schritte undließ sie hinter sich.

Als er ins Freie kam, nahm ihm die plötzliche Dun-kelheit die Sicht, aber er kannte den Weg und wartetenicht, bis seine Augen sich an die Nacht gewöhnthatten. Nach ein paar Sekunden konnte er die Gestaltdes Häuptlings ausmachen.

Er überließ es Ona, die Sitzordnung der Gäste zuüberwachen und die Lichter einzuschalten, und eilteauf das Rosenspalier zu. Der Eingeborene wartete aufihn.

»Nun«, sagte Carter ein wenig atemlos, »kann eslosgehen. Aber es muß ein kurzer Tanz sein, ein sehrkurzer Tanz.«

Der Häuptling senkte seinen langen schmalen Kopfund blickte wie von ferne und mit trauriger Würdezu Carter herab, und Carter fühlte sich plötzlich un-behaglich.

»Na gut«, murmelte er nach einem Moment. »Zukurz brauchst du es auch nicht zu machen.«

Er wandte sich ab und kehrte zu den Gästen zu-rück. Unter Onas Anleitung hatten sie sich in einemkleinen Halbkreis niedergelassen, zwischen sich fahr-

bare Serviertische mit Kaffeetassen, Karaffen und Co-gnacgläsern. In der Mitte war ein Stuhl für Carter freigeblieben. Er ließ sich darauf nieder und nahm einGlas Cognac.

»Geht es jetzt los?« fragte Totsa.»Ja – ja, da kommt er schon«, sagte Carter und

lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Rosenspalier.Die Lampen rings um den Innenhof waren einge-

schaltet, und als der Eingeborene aus der Dunkelheitauf sie zukam, schien er plötzlich aus einer Wand vonNacht herauszutreten.

»Du liebe Zeit«, sagte Lidi, links von Carter undetwas hinter ihm, »ist der groß!«

»Lang, würde ich eher sagen«, meinte der Doktorund hüstelte trocken an ihrer Seite.

Der Häuptling kam in die Mitte des beleuchtetenHofes. Er trug seinen Speer mit einer Hand und senk-recht vor sich her, den Arm halb angewinkelt. Er nä-herte sich mit übertrieben langen Schritten und aufZehenspitzen – in einer Art, die unglücklicherweiseeine parodistische Ähnlichkeit mit dem klassischenEhemann hatte, der spät in der Nacht in seine Woh-nung schleicht. Totsa kicherte plötzlich los. Carter er-rötete.

Vor ihnen angelangt, machte der Eingeborene halt,stieß seinen Speer mehrmals in verschiedenen Rich-tungen in die leere Luft und begann mit gesenktemKopf und raschen, kurzen Fußbewegungen herumzu-schlurfen.

Hinter Carter machte Ramy eine halblaute Bemer-kung. Ein halbersticktes Glucksen folgte, und die Gi-tarre klimperte ein paar leise Noten.

»Bitte!« sagte Carter, ohne seinen Kopf zu drehen.

Eine Pause folgte, dann mehr Gemurmel vonRamy, gefolgt von seinem tiefen, heiseren und müh-sam unterdrückten Lachen.

»Vielleicht«, sagte Carter mit erhobener Stimme,»vielleicht sollte ich den Tanz erklären, während erihn vorführt. Alle diese Tänze sind pantomimischeErzählungen. Dieser nennt sich, soweit ich es sehenkann: ›Ein ehrenvoller Tod.‹«

Er machte eine Pause und räusperte sich. Niemandsagte etwas. Draußen in der Mitte des Patios standder Häuptling geduckt, spähte nach links und rechts.

»Ihr seht ihn jetzt auf der Fährte«, sagte Carter.»Die silberfarbenen Blumen an seinem rechten Armdeuten an, daß es eine Geschichte vom Tod ist, die ertanzt. Die Tatsache, daß die Blumen unter dem Ellbo-gen sind, bedeutet, daß es ein ehrenvoller und keinschmachvoller Tod ist. Aber daß er am anderen Armunterhalb des Ellbogens nichts trägt, sagt uns, daßdies das ganze und einzige Thema des Tanzes ist.«

Carter fühlte ein Bedürfnis, sich wieder zu räus-pern. Er nippte vom Cognac.

»Wie ich sagte«, fuhr er fort, »wir sehen ihn jetztauf der Fährte, allein.« Der Eingeborene tat mehrerevorsichtige Schritte vorwärts, dann zog er sich wiederzurück. Seine Mimik verriet Spannung und Erregung.»Im Moment ist er glücklich, weil er eine Herde ein-heimischer Jagdtiere gesichtet hat. Beobachtet dieNeigung seines Speers, wie er ihn in der Hand hält. Jemehr er sich der Senkrechten nähert, desto glückli-cher fühlt er sich ...«

Ramy murmelte wieder, und sein Glucksen kratztein Carters Ohren. Ein Kichern von Totsa und sogar

ein kurzes, trockenes Bellen von einem Lachen vomDoktor beantworteten es.

»... desto glücklicher fühlt er sich«, wiederholteCarter laut. »Nur stellt die absolute Vertikale parado-xerweise tiefste Tragödie und Kummer dar. In einemkleinen Artikel, den ich einmal über den Symbolis-mus dieser Tänze verfaßte, vertrat ich die Theorie,daß, wenn ein Eingeborener mit dem Speer senkrechtaufwärts stößt, ein großes Raubtier oder ein überle-gener Gegner ihn bereits zu Boden geworfen hat. Erist ein toter Mann.«

Der Häuptling tanzte mit wilden, schnellen Bewe-gungen, sprang hierhin und dorthin und schwangseinen Speer.

»Ah«, sagte Carter befriedigt. Die anderen warenjetzt still. »Er hat seine Beute getroffen. Nun eilt ermit ihr heim. Er ist sehr glücklich. Warum sollte er esnicht sein? Er ist jung, gesund und stark. Seine Part-nerin, seine Nachkommen, sein Heim erwarten ihn.Da kommt es schon in Sicht.«

Der Häuptling erstarrte. Seine Speerspitze sankabwärts.

»Aber was ist das?« rief Carter und richtete sichdramatisch in seinem Stuhl auf. »Was ist geschehen?Er sieht einen Fremden in der Tür. Es ist der Mannder Sieben Speere, der – dies ist natürlich ein Aber-glaube – außer seinem eigenen Speer noch sechs ma-gische Speere hat, die auf seinen Befehl von ihm flie-gen und alles töten, was ihm im Weg steht. Was tutdieses unbesiegbare Wesen im Eingang zur Hütte un-seres Jägers, ohne eingeladen zu sein?«

Die hölzerne Speerspitze fiel plötzlich fast bis zumBoden.

»Der Mann der Sieben Speere sagt ihm«, erläuterteCarter, »daß er, der Mann der Sieben Speere, dieBlumen um das Haus des Jägers wünschte. Darumhat er das Haus genommen und alle in ihm getötet –die Partnerin und die Kinder –, damit die Blumen, diejetzt sein sind, von ihrer Berührung gereinigt werden.Alles ist jetzt sein.«

Das leise gluckernde Geräusch von Flüssigkeit, die inein Glas gegossen wird, erfüllte Carters Pause.

»Nicht zuviel ...«, wisperte jemand.»Was kann unser Jäger tun?« sagte Carter scharf.

Der Häuptling stand steif, den Kopf geneigt und ge-gen den vertikalen Schaft seines Speers gepreßt, dener nun aufrecht vor sich hielt. »Er ist krank – wirwürden sagen, er weint. Alles, was ihm etwas be-deutete, ist nun verloren. Er kann sich nicht einmalam Mann der Sieben Speere rächen, dessen magischeWaffen ihn unbesiegbar machen.« Carter, bewegtvom Pathos seiner eigenen Stimme, fühlte, wie seineKehle sich bei den letzten Worten verengte.

»Ona, Liebes, hast du eine Antacidtablette?« wis-perte des Doktors Frau hinter ihm.

»Er hat keinen Ort, wohin er gehen könnte!« riefCarter heftig. »Der Mann der Sieben Speere ignoriertihn und spielt mit den Blumen. Denn ohne Essenoder Trinken wird unser unglücklicher Jäger nach ei-niger Zeit zusammenbrechen und sterben, wie alleOpfer des Mannes der Sieben Speere bisher gestorbensind – wenn er es nicht vorzieht, fortzugehen. Einen,zwei, drei Tage lang steht er in seiner Trauer da; undspät am dritten Tag kommt ihm der Racheplan ein,nach dem er sich gesehnt hat. Er kann seinen Feind

nicht bezwingen – aber er kann ihn auf ewig inSchande stürzen, so daß der Mann der Sieben Speereseinerseits gezwungen sein wird, den Tod zu suchen.

Er geht ins Haus. Der Häuptling bewegte sich wie-der. Der Mann der Sieben Speere sieht ihn eintreten,kümmert sich aber nicht um ihn, denn er ist unterseiner Beachtung. Und es ist gut für unseren Jäger,daß es so ist – sonst würde der Mann der SiebenSpeere alle seine magischen Waffen herbeirufen undihn auf der Stelle töten. Aber er spielt mit seinen neu-en Blumen und schenkt ihm keine Beachtung.

Der Jäger geht hinein zum Herzen seines Hauses.Jedes Haus hat ein Herz, das der wichtigste Ort darinist. Wird dieses Herz zerstört, so stirbt das Haus undalles in ihm. Wie er zum Herzen des Hauses kommt,das vor dem Herdfeuer ist, stößt der Jäger das stump-fe Ende seines Speers auf den Boden und hält ihn inder Position des größten Kummers aufrecht. Er stehtda, stolz in seiner Trauer. Wir können uns vorstellen,wie der Mann der Sieben Speere plötzlich die Schan-de begreift, die über ihn gebracht wird, und wild her-beistürzt. Aber er und alle seine sieben Speere sind zulangsam. Der Jäger springt in die Luft ...«

Carter brach ab. Der Häuptling stand noch immer,die Stirn gegen den Speerschaft gepreßt.

»Er springt in die Luft«, wiederholte Carter, einwenig lauter.

Und in diesem Augenblick sprang der Eingeborenetatsächlich in die Höhe. Seine Beine schlugen in derLuft, und er schwang sich beinahe wie ein Stabhoch-springer erstaunlich hoch hinauf. Einen Sekunden-bruchteil schien er über der Spitze seines Speeres zuschweben, den er noch immer mit einer Hand hielt –

und dann stürzte er wie ein riesiger, dunkler, zu Todegetroffener Vogel ab und schlug hart auf den gescho-renen Rasen. Der dünne Speerschaft zitterte über sei-ner gefallenen Gestalt.

Schreie explodierten, und die Abendgesellschaft warauf den Füßen. Aber der Häuptling stand langsam aufund nahm würdevoll den Speer zwischen Arm undKörperseite heraus, wo er ihn im Fallen geschickt ge-halten hatte; und nachdem er ihn in die andere Handgenommen hatte, stelzte er feierlich davon und in dieSchatten unter dem überhängenden Dach des Hauses.

Aufgeregtes Stimmengewirr erhob sich um Carter.Lidis durchdringendes Organ erhob sich wie einehalb verstopfte Fontäne über alle anderen Stimmen.

»... absolut! Ich dachte, das Herz bliebe mir stehen!Nie in meinem Leben war ich so aufgeregt.«

»Cart!« sagte Ona in bitterem Vorwurf.»Nun, Cart«, sagte Totsa triumphierend in sein

Ohr, »welches ist die Anwendung von alledem aufdas, was du mir vorhin gesagt hast?«

Carter, der benommen sitzengeblieben war, fuhrzornig hoch.

»Oh, sei doch nicht so ein Dummkopf!« Er wandtesich mit einem Ruck von ihnen ab, überquerte denInnenhof und gewann die Schatten unter den Obst-bäumen, wo der Patio in den Garten überleitete.

Nach einigen Minuten sank die Lautstärke derStimmen auf ein weniger aufgeregtes Niveau ab, unddann hörte er die Schritte einer Frau im Dunkeln nä-herkommen.

»Cart?« sagte die Stimme seiner Frau zögernd.»Was?« Carter rührte sich nicht.

»Kommst du nicht zurück?«»In einer Weile.«Es gab eine Pause.»Cart?«»Was?«»Glaubst du nicht ...«»Nein, ich glaube nicht!« knurrte Carter. »Sie soll

sich zum Teufel scheren!«»Aber du kannst sie doch nicht einfach einen

Dummkopf nennen ...«»Sie ist ein Dummkopf! Sie sind alle Dummköpfe –

jeder einzelne von ihnen! Ich bin auch ein Dumm-kopf, aber nicht so stupide und hirnlos und eingebil-det wie diese ganze Bande!«

»Nur wegen eines albernen Eingeborenentanzes!«sagte Ona, den Tränen nahe.

»Albern?« sagte Carter. »Wenigstens ist es etwas.Er hat einen Tanz aufgeführt. Das ist mehr, als sie allemiteinander getan haben. Und zufällig ist ihm dieserTanz sehr wichtig. Man sollte meinen, sie hätten et-was darüber lernen können, statt sich bequem zu-rückzulehnen und ihre dummen Witze zu machen!«

Seine kleine Explosion verpuffte in der Dunkelheitund blieb unbeantwortet.

»Bitte komm zurück, Cart«, sagte Ona nach einerlangen Pause.

»Er hat wenigstens etwas«, sagte Carter. »Er hat ei-ne eindrucksvolle und disziplinierte Pantomime ge-tanzt, und die Gedanken dahinter sind intelligenterals alles, was ich heute abend von unseren Gästen ge-hört habe. Wenigstens das sollte man anerkennen.«

»Ich kann ihnen einfach nicht vor die Augen treten,wenn du nicht zurückkommst.«

»Also meinetwegen, verdammt noch mal«, sagteCarter. »Gehen wir.«

Sie kehrten grimmig in den Patio zurück. Die Stühlewaren umgestellt und in einem kleinen Kreis ange-ordnet. Ramy sang ein Lied, und sie hörten alle höf-lich zu.

»Nun, Cart, setz dich zu mir!« sagte der Doktorherzlich, als Carter und Ona herankamen. Dabeizeigte er auf einen freien Stuhl zwischen sich selbstund Totsa. Nach kurzem Zögern ließ Carter sich dar-auf nieder.

»Dies ist eine von diesen alten Seemannsballaden,Cart«, sagte Totsa.

»Oh?« murmelte Carter, räusperte sich. »Wirk-lich?«

Er lehnte sich zurück, füllte ein Glas mit Cognacund trank, während er zuhörte. Ramys Stimmedröhnte rauh und herzhaft durch den Innenhof, aberCarter mochte das Lied nicht.

Ramy endete und fing mit einem neuen Shanty an.Lidi, die sich von ihrem Schreck erholt hatte, ent-schuldigte sich für einen Moment und ging ins Haus.

»Denkst du wirklich daran, eine Reise zur Erde zumachen?« begann der Doktor, sich vertraulich zuCarter beugend. »Ich würde dir ...« Ein ohrenzerrei-ßender Schrei aus dem Haus schnitt ihm das Wort ab.

Ramy verstummte. Die Schreie dauerten an, undalle sprangen von ihren Stühlen hoch und drängtendurcheinander zum Haus.

Drinnen sahen sie Lidi vor dem dunklen Eingangzur Empfangshalle stehen – klein und fett und steif,mit gespreizten Beinen, die kurzen, dicken Arme von

sich gestreckt, den Kopf zurückgeworfen, und wiederund wieder kreischen. Fast zu ihren Füßen lag derHäuptling, und der schlanke Schaft des Speeres ragteaus seinem Körper.

Die anderen umfluteten Lidi, und der Doktorführte die noch immer Kreischende fort. Alle übrigenversammelten sich in entsetzter Faszination um denLeichnam des Eingeborenen. Der lange Kopf war aufdie Seite gedreht, und Carter konnte ein totes Augeschräg aufwärts starren sehen, scheinbar zu ihm al-lein, und er glaubte einen Schimmer von wildem Tri-umph darin zu sehen.

»Gräßlich!« hauchte Totsa, die Lippen geöffnet.»Scheußlich!«

Aber Carter starrte noch immer in das gebrocheneAuge. Vielleicht, dachte er, hatten die Ereignisse die-ses Tages seine Sinne zu einer ungewöhnlich miß-trauischen Wachsamkeit geschliffen. Aber nur viel-leicht ...

Still und ohne unnötige Aufmerksamkeit der ande-ren auf sich zu ziehen, schlüpfte er an der Gruppevorbei und in die Dunkelheit der Empfangshalle. Erbewegte sich leise die Wand entlang, bis er zu denFenstern kam, die auf den Innenhof hinausgingen.Dann spähte er hinaus.

Eine beträchtliche Zahl der tintigen Eingeborenenge-stalten kam zwischen den Büschen und Bäumen desGartens zum Vorschein und näherte sich dem Haus.Jeder trug einen langen, schlanken, matt schimmern-den Speer mit feuergehärteter Spitze. Es traf Carterwie ein Schlag, daß sie wahrscheinlich das Haus um-stellt hatten, während seine Bewohner ihre Aufmerk-

samkeit auf den Tanz des Häuptlings konzentrierthatten.

Sein Verstand arbeitete mit einer Geschwindigkeit,die ihn selbst überraschte. Er zog sich geräuschlosvom Fenster zurück und machte kehrt. In der Mittedes Raumes war der Transporter, ein ungefüger,klumpiger Umriß im schwachen Licht. So leise wiedie Eingeborenen draußen schlich er hin und erstiegdie Plattform. Der Transporter konnte ihn innerhalbvon wenigen Sekunden zu allen Anschlußstellen inden zivilisierten Teilen des Planeten tragen. Und einsder möglichen Ziele war das Polizeihauptquartier inder Hauptstadt. Die Rückkehr, zusammen mit eini-gen Bewaffneten, wäre genauso schnell möglich. Vielbesser so, dachte Carter mit einer ruhigen Klarheit,wie er sie noch nie in seinem Leben so deutlich emp-funden hatte, als die Leute im Nebenraum zu alar-mieren, die zweifellos in Panik geraten und eineVerwirrung auslösen würden, die sie alle das Lebenkosten konnte.

Carter fühlte im Dunkeln herum und stellte die In-strumente auf das Polizeihauptquartier ein. Erdrückte den Sendeknopf.

Nichts geschah.Er stierte die Maschine an. Eine dunklere Stelle auf

der dünnen, lackierten Verkleidung der Frontseitefand seine Aufmerksamkeit. Er bückte sich, um sie zuuntersuchen.

Es war ein Loch. Etwas wie der rituelle Stoß einesfeuergehärteten Holzspeeres hatte die Verkleidungdes Transporters durchbohrt und seine edlen Teilegetroffen. Der empfindliche Mechanismus der Ma-schine war zertrümmert und zerbrochen.

James

James schnaubte.Er hielt an, und seine Fühlhörner sondierten die

Luft. Etwas kam auf dem Ziegelstein, den er selbstgerade querte, auf ihn zu. Einen Moment spannte ersich, dann erkannten seine scharfen Sinne, daß derAnkömmling eine andere Schnecke war. James er-glühte vor Freude und eilte ihm entgegen.

»Ich bin James«, sagte er und berührte freudig dieFühlhörner des anderen. »Und du?«

»Egbert«, antwortete der andere. »Es freut mich,deine Bekanntschaft zu machen, James.«

»Ganz meinerseits«, erwiderte James; und dann er-kundigte er sich begierig, wie alle Schnecken es tun:»Was gibt es Neues?«

»Die Nachricht«, sagte der andere. »Die Nachrichtist durchgekommen.«

»Nein!« rief James.»Tatsache«, bestätigte Egbert. »Es ist Homo sa-

piens, natürlich; man hätte es sich denken können.«Er seufzte.

»Homo sapiens?« fragte James. »Also, ich hätte esnicht von ihnen gedacht. Bei all ihrem Herumgerenneschienen sie so harmlose große Wesen zu sein. Ichhabe gerade einen beobachtet ...«

»Sie mögen harmlos aussehen«, unterbrach Egbertstreng, »aber der Übermut ist in ihnen. Und wir kön-nen es natürlich nicht dulden. Nachdem wir durchdie halbe Galaxis gekommen sind, um den anderenzu entgehen. Ihnen, du weißt schon.«

»Richtig«, sagte James. Gedankenvoll setzte er hin-

zu: »Manchmal denke ich, wir hätten sie letztes Malzerschmettern sollen, als sie den Planeten überrann-ten, auf dem wir waren. Wenn nicht das vorletzteMal.«

»Aber was für eine Arbeit es gewesen wäre«, pro-testierte Egbert. »Natürlich hatten sie nur die primiti-ven materiellen Waffen, Desintegratoren und derglei-chen. Aber es waren so viele von ihnen – Hundertevon planetarischen Systemen, alle bevölkert bis zurBelastbarkeitsgrenze. Was für eine mühevolle Arbeit,sie alle auszulöschen. Und wie einfach, im Vergleichdazu, wenn wir uns auf unseren eigenen Schutz be-schränken.«

»Ach ja«, seufzte James. »Wir sind eben von Naturaus sensibel und müssen darauf bedacht sein, uns vorÜberanstrengung zu hüten. Nun, ich glaube, hiersind wir schließlich doch besser daran, selbst wennHomo sapiens hin und her stürzt, als ob sein Gehäusein Flammen stünde. Wer hätte je gedacht, daß eineLebensform so aktiv werden könnte? Aber was ist esübrigens, das sie getan haben?«

»Nun«, sagte Egbert geheimnisvoll, »es ist fast un-glaublich, aber da es durch die normalen Kanälekommt, muß es wahr sein. Die offizielle Nachricht istgerade vom Euphrat, oder vom Niltal, oder irgendwodort durchgesickert. Einer von ihnen hat tatsächlichdas Rad erfunden!«

»Nein!« rief James verblüfft.»So heißt es«, bekräftigte Egbert. »Ich kann verste-

hen, daß du überrascht bist. Ich hatte selber Mühe, eszu glauben, als es mir erzählt wurde, gerade erstvorletzten Monat.«

»Das erklärt es!« rief James. »Ich dachte doch, daß

ich Dinger mit Rädern in der Gegend gesehen hätte;aber natürlich konnte ich meinen Sinnen auf der Basisrein empirischer Beobachtung nicht vertrauen. Einalter Freund von mir wurde kürzlich von einem zer-quetscht. Sein Name war Charlie. Du kanntest ihnnicht zufällig?«

»Nein«, erwiderte Egbert, »ich kannte nie einenCharlie.« Sie brüteten eine Weile in Schweigen.

»Er war eine gute Schnecke«, sagte James endlich,von neuem bekümmert über den Hingang seinesFreundes. Dann kehrten seine Gedanken zu derNachricht zurück, die er eben gehört hatte. »Aberdies ...«, stammelte er, »dies ist schrecklich!«

»Ohne Zweifel«, sagte Egbert. »Du weißt, was jetztgeschehen wird, nicht wahr? Sie werden seßhaft undmachen Töpferwaren. Und ehe du dich's versiehst,werden sie Pyramiden bauen und Schießpulver er-finden. Schlimmer noch, bevor wir uns umdrehenkönnen, werden sie das Atom spalten, und du weißt,was dann geschieht!«

»Raumfahrt ...«, hauchte James entsetzt.»Genau!« erwiderte Egbert grimmig. »Und sobald

sie ein Schiff über die Nachbarschaft dieses Planetenhinausbringen, wird es von den Instrumenten deranderen registriert. Und du weißt, was die machenwerden, wenn sie es herausbringen.«

»Armer Homo sapiens«, sagte James mit zitternderStimme.

»Ja«, sagte Egbert. »Innerhalb von drei Tagen wer-den sie eine Flotte hier haben. Was bedeutet, daß wirnur die begrenzte Zeit für Verteidigungsmaßnahmenhaben, die zwischen jetzt und dem Abschuß der er-sten Raumrakete verbleibt. Und diese Zeit wird mit

jedem Jahrhundert kürzer. Ja, bei dem wahnsinnigenTempo, mit dem diese Menschen sich bewegen, kannes sein, daß schon jetzt einer irgendwo mit einer Töp-ferscheibe experimentiert.«

»In der Tat«, sagte James besorgt. »Ich könnte bei-nahe schwören, daß ich bei unseren lokalen Homosapiens Zeichen einer Töpferkultur bemerkt habe.Natürlich habe ich keine Bestätigung der Tatsache inForm vergleichbarer Meldungen von anderenSchnecken.«

»Es ist wahr. Ich auch nicht.« Egbert dämpfte seineStimme. »Laß uns vertraulich sprechen, James. Sounwissenschaftlich es sein mag, wenn nur zwei Beob-achter ihre Wahrnehmungen vergleichen – sag mir:Du hast hier in Nordamerika keine Anzeichen vonPyramidenbau gesehen?«

»N-nein ...« antwortete James vorsichtig. »Ich habeeinige ziemlich komische Bauwerke gesehen – aberkeine echte Pyramide.«

»Dem Himmel sei Dank dafür«, sagte Egbert miteinem Seufzer der Erleichterung. »Ich auch nicht.Nicht, daß die privaten Beobachtungen von unszweien etwas bedeuteten, aber sie sind eine Hoff-nung, James, daß das, was wir gesehen haben, dasGesamtbild spiegelt, und daß der Homo sapiensüberwiegend noch immer ein glücklicher Jäger undHirte ist.«

»Trotzdem«, sagte James zweifelnd, »wenn ich eineeigene Vermutung äußern müßte ...«

»James!« wies Egbert ihn schockiert zurecht. »Dasist unschneckenhaft. Du solltest solche Gedanken ausdeinem Geist verbannen. Nein, nein, sei versichert,daß wir noch einige tausend Jahre Zeit haben, in de-

nen wir mit Homo sapiens Verbindung aufnehmenund ihn lehren können, wie er sich und seinen Pla-neten vor den anderen schützen kann. Es ist bloß eineFrage des richtigen Kontakts, das heißt, wir müssenein Individuum finden, das uns glauben wird unddas zugleich bei seinen Artgenossen Vertrauen ge-nießt.«

Für einen Moment hing die Stille schwer zwischenden beiden Schnecken.

»Einige Leute«, sagte James schließlich in entschul-digendem Ton, »könnten uns langsam nennen.«

»O nein!« rief Egbert, zutiefst schockiert. »Gewißnicht!«

»Und vielleicht«, fuhr James mit gekräftigter Stim-me fort, »könnte es wirklich sein, daß wir ein bißchenlangsam sind. Wer weiß? Wir müssen objektiv sein.Denk nach, Egbert: Wenigstens zwanzig Planetenwurden unter uns weggeblasen und ihr einheimi-sches Leben zerstört, einer nach dem anderen, trotzunserer guten Absichten, dieses einheimische Lebenzu belehren, wie es sich wirksam vor ihnen schützenkann.«

»Aber ...«»Kein aber, Egbert! Zwanzig Gelegenheiten hatten

wir, die Schwachen und Wehrlosen zu schützen.Zwanzigmal hintereinander sind wir nur ein kleinwenig zu spät gekommen, um Hilfe zu leisten. Undich sage dir hier und jetzt, Egbert, daß wir, wenn wirunsere traditionell vorsichtigen Methoden beibehal-ten, wieder zu spät kommen und die menschlicheRasse vernichtet sehen werden, denn, bei allen washeilig ist, wir sind wirklich ein wenig langsam!«

»James«, hauchte Egbert, in Ehrfurcht zurückwei-

chend. »Solche Energie! Solches Feuer! Du bist eineSchnecke in Verwandlung!«

Und so war es. Zitternd vor rechtschaffener Entrü-stung, hatte James sich volle zwei Zentimeter über dieOberfläche des Ziegels aufgebäumt, und seine Fühl-hörner reckten sich steif empor, als wolle er das Uni-versum herausfordern.

»Egbert«, sagte er wild, »es ist an der Zeit, die Tra-dition von Äonen zu durchbrechen. Du hast von eini-gen tausend Jahren gesprochen, die uns bleiben, mitHomo sapiens in Verbindung zu treten. Wisse, Eg-bert, daß das obere Ende dieses Ziegels einen Fenster-sims berührt, daß hinter diesem Sims ein Schreibtischsteht und daß an dem Schreibtisch ein Mann sitzt, dereinen hohen Posten im Rat der Nationen oder derVereinten Nationen oder einer anderen von diesenwichtig klingenden Organisationen hat. Diesen Mannhabe ich beobachtet, und ich habe in ihm die Fähig-keit entdeckt, die Bedrohung zu verstehen und zuglauben, die sie für diese Rasse bedeuten, wenn dieseselbe Rasse mit dem verrückten Fortschrittstaumelweitermacht, der erst kürzlich die Erfindung desRads hervorgebracht hat.«

»James!« schnaufte Egbert. »Du meinst ...? Duwürdest doch nicht ...? Nicht ohne zuerst andereSchnecken zu verständigen, die Bildung eines Unter-suchungsforums und die Sammlung einer hinrei-chenden Zahl von bestätigenden Meldungen abzu-warten und dann durch eine allgemeine Volksab-stimmung ...«

»Hör auf, Egbert!« unterbrach James streng. »Ichwerde genau das tun. Was du und die anderenSchnecken niemals berücksichtigt habt, ist die Unbe-

ständigkeit des einzelnen Homo sapiens. Er ist heutehier und morgen tot.« Sein Ton änderte sich, wurdebeschwörend. »Kannst du nicht verstehen, Egbert,daß dies eine Krise ist? Wir können uns nicht leisten,hier tausend Jahre und dort tausend Jahre zu ver-schwenden, nur um die Sache offiziell zu machen.«

»Aber wissenschaftliche Methoden ...«, begann Eg-bert.

»Wissenschaftliche Methoden, bah!« versetzte Ja-mes grob. Egberts Stielaugen zuckten erschrocken zu-rück. »Was nützen unsere wissenschaftlichen Metho-den den Lebensformen der letzten zwanzig Planeten,die wir bewohnten?«

Egbert war konsterniert. Gute zwanzig Minutenvergingen, bevor er eine Antwort hervorbrachte.

»Nun ...«, sagte er zuletzt. »Daran hatte ich nie ge-dacht. Das ist wahr. Es half ihnen nicht viel, nichtwahr?« Bewunderung war in den kleinen Augen anden Enden seiner zwei größeren Fühlhörner. »AberJames«, sagte er bedenklich, »die Tradition auf dieseArt und Weise zu mißachten, mit einem Mal die altenSitten und eingeführten Regeln zu durchbrechen –dieser Schritt, James, wird durch die Hallen der Zeitklingen. Und durch die Wölbung des Universums,wo das Echo ihn in die Unendlichkeit tragen wird. Sodaß alle zukünftigen Zeitalter aufhorchen und sichfragen werden, wie du konntest. Und sag mir, James,wie kommt es, daß du kannst?«

James beugte seine Fühlhörner in anmutiger Be-scheidenheit.

»Ich bin«, antwortete er einfach, »was du vielleichteinen Menschenfreund nennen könntest.«

»Ah«, sagte Egbert leise. »Das also ist es.«

»Ja«, antwortete James. »Und nun – meine Pflichtruft. Lebe wohl, Egbert.«

»Lebe wohl!« würgte Egbert, vor innerer Bewe-gung beinahe unfähig zu sprechen. Sie trennten sich,und James begann sich umzuwenden. »Lebe wohl, otapferer und edler Geist!«

Resolut beendete James seine Kehrtwendung undmachte sich auf den Weg. Am Schreibtisch hinterdem Fenster rückte ein dicklicher, kahlköpfiger Mannmit müden Augen seine Brille zurecht und beganneinen hektographierten Bericht mit dem StempelSTRENG VERTRAULICH und der Überschrift »Na-vigationsprogramm für den interplanetarischenErstflug der Raumrakete Z-1« zu lesen. Er las lang-sam und konzentriert, während die Sonne über denHimmel kroch.

Nach einer Weile unterbrach er seine Lektüre, umsich die Augen zu reiben. Dabei erblickte er eineSchnecke, die gerade von draußen über den Fenster-sims hereingekrochen war. Sie balancierte auf derKante, den Vorderteil des Körpers in der Luft, dieFühlhörner weit nach vorn gereckt. Es war James,natürlich, und lange Sekunden sahen sie einander an.Dann wandte sich der Mann wieder seinem Berichtzu.

James wartete, um zu verschnaufen. Er hatte eineStrecke von vollen dreißig Zentimetern hinter sich,und er hatte sie mit Höchstgeschwindigkeit zurück-gelegt.

Schließlich sammelte er seine Kräfte und wandtesich dem Mann zu. Des Homo sapiens Kopf war überein Papier gebeugt; aber was immer ihn da in An-spruch nahm, würden kleine Fische gegen das sein,

womit James ihn jetzt überraschen würde. Jamesholte tief Atem.

»Huff«, sagte er. »Huff. Huff! Huff, huff, huff, huff,huff ...«

James huffte wie eine Schnecke in Gefahr – undniemand hörte ihn.

Der Steinbruch

»Da ist er hinein«, sagte der ältere der beiden Jungen.»Ich sah ihn.«

»Er kann nicht einfach so unter einen Felsen krie-chen, Jix«, sagte der andere. »Er ist zu groß.«

»Aber er ist furchtbar dürr«, sagte Jix. »Raby, dugehst auf die andere Seite, und ich werde ihn rufen.Wenn er bei dir 'rauskommt, dann hältst du ihn fest,bis ich komme.« Raby zog ab, und Jix beugte sich zuder Öffnung unter der großen Felsplatte. »Mr. John-son!« rief er. »Kommen Sie 'raus, Mr. Johnson! Wirsind es nur.«

William Johnson zuckte krampfartig und wühltesich tiefer in die modrig riechende Erde unter demFels. Er drückte sein Gesicht hinein, um das Geräuschseines Atmens zu ersticken.

»Kommen Sie jetzt 'raus, Mr. Johnson«, sagte Jix'Stimme von draußen. »Wenn Sie nicht 'rauskommen,muß ich Sie holen.«

William regte sich nicht. Dann, nach einer langenPause, während der er mit angehaltenem Atem lag,hörte er das Kratzen und Scharren eines Körpers, derdurch den schmalen Spalt unter den Felsen kroch, aufihn zu. Er machte ein hohes, quietschendes Geräuschin der Kehle, warf sich herum und krabbelte durchlockere Erde und Geröll zur anderen Seite der Höh-lung. Er sah das Tageslicht vor sich, und dann hatteer die überhängende Kante des Felsens erreicht undkroch hinaus ins sonnenbeschienene Gras. Er sprangauf und wollte rennen, aber zwei schlanke Arme fin-gen und hielten ihn.

»Jix!« schrie Raby triumphierend. »Ich habe ihn! Ichhabe ihn hier!«

Unter dem Felsen hinter ihm wurden Geräuschelaut, und eine Sekunde später krabbelte Jix herausund stand vor Johnson. An seinen schimmerndenKleidern haftete keine Erde. Sein Kopf reichte John-son an die Schulter, und sein Gesicht war so schönwie ein Profil auf einer Gemme, traurig und besorgt.

»Mr. Johnson«, sagte er, »warum laufen Sie weg?Wissen Sie nicht, wie leicht Sie sich verletzen können?Wir haben es Ihnen wieder und wieder gesagt, Mr.Johnson.«

William antwortete nicht. Er wimmerte und zap-pelte unwirksam in Rabys Umklammerung.

»Was sollen wir machen, Jix?« fragte Raby. »Er istganz aufgeregt und wird sich noch verletzten, wenner nicht aufhört zu zappeln.«

»Ich glaube, er will wieder unter den Felsen krie-chen«, sagte Jix. »Bringen wir ihn weg, wo es nichtsgibt, unter das er kriechen könnte. Dann wird er sichvielleicht beruhigen.«

Er ging voraus. Raby folgte, hielt William JohnsonsArme und stieß ihn vor sich her. Allmählich ließ derWiderstand des Mannes nach. Er hörte auf, sich ge-gen Rabys Drängen zu stemmen, und die Spannungwich aus seinen Armen. Nach einer Weile ließ derJunge ihn los, und er trottete mit gesenktem Kopfzwischen ihnen, daß sein graues Haar vorwärts übersein hohlwangiges, doch verhältnismäßig jung ausse-hendes Gesicht fiel. Seine in schimmernden Ärmelnsteckenden Arme – er trug die gleiche Kleidung wieJix und Raby – baumelten schlaff zu beiden Seiten.

Sie waren am Hang eines steinigen Hügels gewesen,dicht unterhalb seine Gipfels. Jetzt umgingen sie denGipfel und stiegen auf der anderen Seite ab, wo dieHänge sanft ausliefen, so gleichmäßig mit feinemGras bedeckt, daß es beinahe parkähnlich schien.Nicht weit von ihnen war ein großes, abruptes Lochvon mehreren hundert Quadratmetern Größe in denHang gesprengt, dessen weiße, senkrechte Felsabbrü-che in der Sonne gleißten. Jenseits waren die dunsti-gen blauen Schultern der Vorberge, und hier unddort zwischen ihnen war ein Aufblitzen heller Farb-tupfen, deren Formen und Zwecke aus der Fernenicht zu bestimmen waren.

Sie gingen weiter, bis sie das weiche, fast ebeneWiesengras neben dem Steinbruch erreichten; und dortsetzten die beiden Jungen sich, nachdem sie WilliamJohnson zu Boden gezogen hatten. Sie hockten mituntergeschlagenen Beinen wie Indianer im Kreis.

William schien jeden Gedanken an Widerstandaufgegeben zu haben, aber seine Augen waren nochwild wie die eines gefangenen Tieres. Sie starrten indie Ferne zu den dunstigen Vorbergen; und langsambildeten sich zwei Tränen in ihnen, quollen über dieLider und rannen über sein hageres Gesicht.

»Heim ...«, sagte er plötzlich mit gebrochenerStimme, »heim ...«

Jix streckte seinen Arm aus und rieb langsam undbesänftigend Williams Schulter.

»Nun, Mr. Johnson«, sagte er. »Sie wissen, daß Sienicht nach Hause gehen können. Sie können in derZeit nur vorwärts gehen, nicht rückwärts. Wir habenIhnen immer und immer wieder gesagt, daß Sie nichtnach Hause gehen können.«

William verbarg sein Gesicht in den Händen undschluchzte.

»Aber Mr. Johnson«, sagte Jix, »es hat wirklich kei-nen Zweck, unglücklich zu sein. Wenn Sie die Augenaufmachen und sich umsehen, werden Sie alle mögli-chen Dinge entdecken, die Sie erfreuen. Sehen Sie,wie die Vorberge aus der Ebene steigen – sehen Sienur, Mr. Johnson.« Langsam und widerwillig hob derMann seinen Kopf und blickte in die angezeigteRichtung. »Diese helleren Umrisse hinter ihnen undüber dem Dunst, das sind die richtigen Berge, bloßsieht man sie nicht so gut, weil wir hohe Luftfeuch-tigkeit und eine Temperaturinversion haben. Ist dasnicht ein schöner Anblick, Mr. Johnson?«

William schluckte.»Und sehen Sie das an«, warf Raby ein und hielt

ihm ein Gras vor die Nase. »Sehen Sie das an, Mr.Johnson. Sehen Sie, wie fein und scharf die Struktur-linien sind. So schön. Vollkommenheit in einem klei-nen Stück. Macht Sie das nicht glücklich?«

Plötzlich schlug William die Hand, die das Grashielt, zur Seite.

»Nein!« rief er. »Nein!«»Bitte, Mr. Johnson«, sagte Jix. Er ließ seine Hand

besänftigend über das knochige Rückgrat des Er-wachsenen streichen, abwärts und wieder aufwärts.»Versuchen Sie, Ihre Umwelt zu mögen. Sie werdensich viel besser fühlen, wenn Sie es tun. Es ist hübschhier, aber Sie wollen sich nicht eingestehen, daß esIhnen gefällt.«

»Das ist nicht wahr!« William blickte finster voneinem jungen Gesicht zum anderen. »Es ist nicht wiedaheim.«

»Aber Sie können nicht nach Hause«, sagte Raby.»Außerdem war es damals wirklich nicht sehr schön,Mr. Johnson, Sie wissen das so gut wie ich, aber Siewollen es nicht zugeben. Es war schmutzig, und dieLeute waren die ganze Zeit krank, oder etwa nicht?«

»Nein!« explodierte William. »Es war schön undeinfach und natürlich ...« Er schluchzte wieder auf.»Es gab Leute, mit denen man reden konnte. EinfacheLeute, die einfache Dinge mochten und in einfachenHäusern wohnten. Gewöhnliche Leute, und sie aßenrichtiges Essen – richtige, gekochte Mahlzeiten.«

»Sie können alles zu essen haben, was Sie wollen,Mr. Johnson«, sagte Jix. »Wir werden es Ihnen geben,sobald wir nach Hause kommen.«

»Ich will euer Essen nicht!« rief William verzwei-felt. »Es ist nicht richtig! Es ist nicht natürlich! Es istkünstliches Zeugs und schmeckt nach nichts.«

»Wieso, es ist richtiges, gesundes Essen«, wider-sprach Jix. »Und Sie wissen auch das, Mr. Johnson. Esist genausogut wie das Essen, das Sie sich zu ver-schaffen pflegten, indem Sie Tiere töteten und Pflan-zen kochten. Es ist bloß aus den wesentlichen Grund-stoffen hergestellt, das ist alles.«

»Ich sage, es ist ein eintöniger, ekelhafter Fraß!« Wil-liam rückte herum und machte Bewegungen, als wolleer aufspringen und fliehen, aber er tat es nicht. Er ließden Kopf hängen. »Es ist nicht richtig«, flüsterte er zudem Gras zwischen seinen Knien. Nach einem Mo-ment hob er seinen Kopf mit einem Ruck und starrteJix höhnisch ins Gesicht. »Ihr glaubt so genau zu wis-sen, was ich wirklich will, und ihr seid so bemüht, esmir zu geben, nicht wahr? Und warum? Warum?«

»Wir haben Mitleid mit Ihnen, Mr. Johnson«, sagte

Jix, der sein Gesicht nicht abwandte und keine Mieneverzog, als der heiße Atem des Mannes ihm entge-genschlug.

»Das kann ich mir denken.« William stieß sichplötzlich vorwärts und auf seine Knie, so daß er vorJix kniete und den sitzenden Jungen überragte.»Weißt du, was ich bin?« sagte er mit zitternderStimme. »Ich bin Physiker, ein Forschungsphysiker.Ich habe vier Universitätsgrade. Ich habe einen Jahre-setat von einer Million, mit dem ich anfangen kann,was ich will – und ich tat etwas damit, das noch niegetan wurde, etwas, zu dem noch nie jemand intelli-gent und geschickt und kenntnisreich genug gewesenist. Ich reiste in die Zukunft, in die ferne Zukunft. Soein Mann bin ich.«

»Wir wissen es, Mr. Johnson«, sagte Raby hinterihm. »Sie haben es uns oft gesagt, wissen Sie.«

»Wozu sitzen wir dann hier?« rief William, von ei-nem zum anderen blickend. »Wo sind die Männer,die mit mir sprechen sollten? Wo sind die Wissen-schaftler? Wo sind die Historiker? Wo sind die wis-senschaftlichen Institute, die sich für einen Mann wiemich interessieren sollten?«

»Es gibt keine«, sagte Jix. »Jeder hat Ihnen das ge-sagt. Es ist nicht so, wie Sie sich das vorstellen. Allewissen alles über diese Dinge, die Sie wissen, aber siesind zu beschäftigt, um sich damit abzugeben.«

»Beschäftigt? Beschäftigt mit was?« rief William.»Wir haben Ihnen gesagt und wieder gesagt, Mr.

Johnson«, sagte Raby geduldig, »daß es keinenZweck hat, uns danach zu fragen, weil es keine Spra-che gibt, die erklären könnte, was die Leute tun. Siemüssen einfach verstehen.«

»Dann helft mir. Helft mir, daß ich verstehe.«»Aber Sie können nicht«, sagte Raby. »Sie wurden

nicht gezüchtet, um zu verstehen, Mr. Johnson. Es er-forderte viele Generationen von Genselektion undKreuzung, um Menschen zu entwickeln, die verste-hen konnten. Das ist der Grund, warum die Erwach-senen nichts haben, worüber sie mit Ihnen sprechenkönnten.«

William ballte seine Fäuste. »Warum redet dann ihrzwei mit mir? Warum?«

»Aber wir sind bloß Kinder, Mr. Johnson.«»Kinder!« Williams Stimme wurde von einem trok-

kenen Aufschluchzen unterbrochen. »Ihr nennt euchKinder? O nein. Kinder sind klein und nicht stark.Man zeigt ihnen, was sie lernen müssen. Kinderglauben einem. Ihr? Kinder?«

»Aber wir sind Kinder«, sagte Jix.»Nein, das seid ihr nicht.« William richtete sich auf,

starrte sie wild an. »Kinder? Ihr seid Ungeheuer. Un-geheuer, die stärker sind als ich. Ungeheuer, die alleswissen, alles können, die keine Spur von natürlichenGefühlen haben. Kinder? Kinder lachen. Kinder wei-nen. Ihr lacht oder weint nicht, keiner von euch. Ihrhaßt nicht. Ihr liebt nicht.«

»Mr. Johnson!« sagte Raby. »Sie wissen es besser.Wir lieben alle. Wir lieben auch Sie.«

»Mich? Lieben? Wenn ihr mich so quält, Tag fürTag? Wenn ihr mir nachgeht, mich lächerlich macht,immer hinter mir her seid, mich aufstöbert ...«

»Wir werden fortgehen, wenn Sie es wollen«, sagteJix. »Aber jedesmal, wenn wir weggehen, kommenSie und suchen uns.«

»Nicht euch! Nicht euch!« William fuchtelte mit

seinen Fäusten. »Ich will richtige Leute, erwachseneMenschen, mit denen ich reden kann!«

»Aber niemand außer uns hat Zeit, mit Ihnen zureden«, sagte Jix. »Das haben wir Ihnen schon gesagt.Außerdem müssen wir auf Sie achtgeben. Wenn wirnicht aufpassen, laufen Sie Gefahr, daß Ihnen etwaspassiert. Sie tun immer irgend etwas, das Sie in Ge-fahr bringt, wenn wir Sie allein lassen, und dannmüssen wir Sie fangen, bevor Sie es tun.« Er machteeine Handbewegung zur tiefen Wunde im Berghang,wenige Meter von ihnen entfernt. »Vorgestern wärenSie beinahe in den Steinbruch gefallen.«

»In den Steinbruch!« ächzte William. »Mein Gott!Und warum habt ihr dort einen Steinbruch angelegt?Wolltet ihr einfach einen? So zum Spielen, wie? Ihrhabt mir doch erklärt, heutzutage werde nicht mehrmit Stein gebaut?«

»Unser Vater wollte den Steinbruch«, sagte Raby.»Das haben wir dir gesagt.«

»Er?« William stieß ein hohes, hysterisches Lachenaus. »Der große Mann? Das geheimnisvolle Ober-haupt des Haushalts, das einen Teil der Zeit nichteinmal existiert? Ihr meint, er brauche richtigen Stein?Einfachen Stein?« Williams Stimme hob sich in Wel-len hysterischen Gelächters. »Einfachen, gewöhnli-chen Kalkstein? Wozu?«

Die beiden Jungen sahen einander hilflos an.»Das gehört wahrscheinlich zu den Dingen, die ich

›verstehen‹ muß, nicht wahr?« brüllte William, als erohne Antwort blieb. Er sprang auf. »Lügner! Schwin-del, alles Schwindel!« Er begann mit den Füßen zustampfen. »Humbug! Dummes Zeug ...«

Plötzlich verstummte er, ließ die Arme sinken undstarrte sie an, während der gequälte, hoffnungsloseAusdruck in sein Gesicht zurückkehrte. Er fiel auf dieKnie und streckte ihnen die mageren Arme entgegen.

»Bitte«, sagte er. »Bitte ...! Ihr könnt alles. Ich weiß,daß Ihr alles könnt. Befreit mich aus meinem Elend.Macht mich glücklich hier. Macht, daß ich nichts an-deres weiß. Macht mich vergessen. Richtet mich her... bringt mich in Ordnung ...«

Die zwei Jungen sahen ihn mit traurigen und ern-sten Augen an.

»Armer Mr. Johnson«, sagte Jix. »Das können wirnicht machen. Wenn Sie verstünden, dann würdenSie wissen, daß es nicht recht von uns wäre. Wennwir Sie veränderten, würde es Sie verderben, und wirselbst wären verdorben, uns darauf einzulassen. Esist nicht recht, Leute zu verändern, Mr. Johnson. Nursie selbst dürfen das tun. Verändert der Mensch sichselbst, ist das in Ordnung, aber andere dürfen dasnicht mit ihm machen.«

»Aber ich bin kein Mensch!« rief er verzweifelt.»Ich bin ein Tier. Ich bin ein Haustier für euch. HabtMitleid, ich bitte euch! Habt Mitleid ...«

»Nein, Mr. Johnson«, sagte Jix. »Selbst Sie wissendas. Sie sind kein Tier oder Haustier. Sie sind einMensch mit einem Verstand, der seinen eigenen Wegfinden muß, wie jeder.«

»Aber ich kann nicht ... ihr alle sagt, daß ich esnicht könne!«

»Armer Mr. Johnson«, sagte Raby leise. »Wenn Sienur verstünden.«

»Macht mich verstehen«, bat William.»Niemand kann Sie verstehen machen, Mr. John-

son. Sie wissen das. Wir haben es Ihnen gesagt.«William schrie und sprang auf die Füße. Er reckte

seine zitternden Hände in die Luft und schrie zumHimmel. Und dann wirbelte er herum, bevor dieschnellen Reflexe der Jungen zu Reaktionen führenkonnten, und rannte auf den Steinbruch zu. Im vollenLauf erreichte er die Kante und schoß vorwärts insLeere. Einen Sekundenbruchteil schien er in der frei-en Luft vorwärts zu rennen, dann stürzte er in dieTiefe und kam außer Sicht.

Die Jungen waren aufgesprungen und liefen zumRand des Steinbruchs, doch bevor sie ihn erreichten,hörten sie den dumpfen Aufschlag in der Tiefe. Ge-röll polterte und prasselte, dann war alles still. Siestanden am Rand, blickten hinunter und sahen tiefunten William Johnsons zerschmetterten Körper imnassen grauen Felsgeröll liegen.

Sie sahen einander an. Dann wanderten sie amRand des Steinbruchs entlang abwärts, bis sie an dieZufahrt kamen und durch sie den Boden des Stein-bruchs betraten.

Die Mutter war im Garten ihres Hauses, das nicht wieein Haus aussah, wenigstens nicht wie eins von denHäusern, die William bisher gekannt hatte, als sie denzerbrochenen und blutigen Leichnam brachten. Siewandte sich zu ihnen um, eine große Frau mit blasserHaut und dunklem Haar, und so schön wie sie. Siesah, was von William Johnson übrig war, und einAustausch von Blicken mit den Jungen schien ihr al-les zu sagen, was sie wissen mußte.

»Er stürzte sich plötzlich in den Steinbruch, Mut-ter«, sagte Raby. Er blickte mit Augen, die noch die

Augen eines Kindes waren, zu der großen Frau auf.»Ist er ganz kaputt?«

»Nein, Raby«, antwortete sie. »Nichts kann jemalsganz kaputt sein. Gib ihn mir.« Sie nahm den totenMann mit Leichtigkeit aus Jix' Armen in ihre eigenen.»Ich werde ihn eurem Vater geben, wenn er zurück-kommt. Euer Vater wird ihn richten, und morgenfrüh wird er so gut sein wie zuvor.«

Nenne ihn »Herr«

So sicher die Sonne morgens über den Hügeln vonKentucky aufging, so sicher war Kyle Arman beimersten Tageslicht auf den Beinen. Um diese Jahreszeithatte der Tag mehr als elfeinhalb Stunden, die es zunutzen galt. Kyle kleidete sich an und ging hinaus,um den grauen Wallach und den Schimmelhengst zusatteln. Er ritt den Hengst, bis der erste Übermut ausdem Tier war, dann führte er beide Pferde um dasHaus und band sie vor der Küchentür an zwei in dasMauerwerk eingelassene Eisenringe. Er ging hinein,um zu frühstücken.

Die Botschaft, die vor einer Woche gekommen war,lag neben seinem Teller mit gebratenem Schinkenund Spiegeleiern. Tina, seine Frau, stand mit demRücken zu ihm am Brotkasten. Er setzte sich und fingzu essen an, während er den Brief noch einmal las.

»... der Prinz wird inkognito unter einem seinerFamilientitel reisen, als Graf Sirü North, und solltenicht mit Majestät«, angeredet werden. »Du wirst ihn›Herr‹ nennen ...«

»Warum mußt gerade du es sein?« fragte die Frau.»Tina«, sagte er in einem Ton, der halb ungeduldig

und halb bekümmert war.»Warum?«»Meine Vorfahren waren Leibwächter – damals in

den Eroberungskriegen gegen die Fremden. Ich habees dir schon erzählt. Meine Ahnen retteten mehr alseinmal die Dynastie.«

»Die Fremden sind jetzt alle tot, und der Herrscherhat ein Dutzend andere Welten! Warum kann sein

Sohn nicht dort reisen? Warum muß er ausgerechnethierher auf die Erde kommen – und zu dir?«

»Es gibt nur eine Erde.«»Und nur einen Kyle Arman, vermutlich?«Er seufzte und gab es auf. Nach dem Tod seiner

Mutter war er von seinem Vater und einem Onkel auf-gezogen worden, und in einem Streit mit Tina fühlteer sich immer hilflos. Er stand vom Tisch auf und ging zuihr, legte seine Hände auf ihre Schultern und versuchtesanft, sie umzudrehen. Aber sie widerstand ihm.

Er seufzte wieder und wandte sich von ihr ab undzum Waffenschrank. Er nahm eine geladene Kugelpi-stole heraus, steckte sie ins passende Halfter und be-festigte das Halfter am Gürtel, so daß die Jacke esverdecken würde. Dann wählte er ein Jagdmesser mitdunklem Heft und breiter, zwanzig Zentimeter langerKlinge, bückte sich und steckte es in die Scheide imInnern seines linken Schaftstiefels. Er ließ sein Ho-senbein wieder über den Stiefelrand fallen und rich-tete sich auf.

»Er hat kein Recht, hier zu sein«, sagte Tina heftig,noch immer zum Brotkasten gewandt. »Touristen ha-ben sich in den Museumsgebieten und Touristenher-bergen aufzuhalten.«

»Er ist kein Tourist. Du weißt das«, antwortete Kylegeduldig. »Er ist der älteste Sohn des Herrschers, undseine Urgroßmutter stammt von der Erde. Seine Frauwird auch von hier sein. Jede vierte Generation mußdie Herrscherdynastie zur Blutauffrischung eine Frauvon der Erde aufnehmen. Das ist das Gesetz.« Er zogseine Lederjacke an und schloß die beiden unterstenKnöpfe, um das Pistolenhalfter zu verbergen, wandtesich halb zur Tür – und verhielt.

»Tina?« fragte er.Sie antwortete nicht.»Tina!« wiederholte er. Er ging zu ihr, faßte ihre

Schultern und versuchte sie umzudrehen. Auchdiesmal widerstrebte sie, aber er gab nicht nach.

Er war ein eher unauffälliger Mann mittlerer Grö-ße, mit einem runden Gesicht und leicht hängenden,wenn auch dicken Schultern. Aber seine Kraft warungewöhnlich. Er konnte den Schimmelhengst miteiner in die Mähne gewickelten Faust auf die Kniezwingen, und das hatte noch kein anderer Mann ausseinem Bekanntenkreis fertiggebracht. So zog er siejetzt mit Leichtigkeit herum, daß sie ihn ansehenmußte.

»Nun, hör mich an«, begann er. Doch bevor er en-den konnte, wich die widerspenstige Starre von ihr,und sie hängte sich an seinen Hals.

»Er wird dich in Schwierigkeiten bringen – ichweiß es!« murmelte sie, das Gesicht an seiner Schultervergraben. »Geh nicht, Kyle! Es gibt kein Gesetz, dasdich zwingen könnte.«

Er streichelte ihr weiches Haar, und seine Kehlefühlte sich steif und trocken an. Es gab nichts, was erihr sagen konnte. Was sie verlangte, war unmöglich.Seit die Sonne das erste Mal über Männern und Frau-en aufgegangen war, hatten die Frauen in Zeiten wiedieser an ihren Ehemännern gehangen und zu erbet-teln versucht, was nicht sein konnte. Und immerhatten die Männer sie in den Armen gehalten, wieKyle sie jetzt in den Armen hielt, als ob das Verstehenirgendwie von einem Körper in den anderen gepreßtwerden könnte, und hatten nichts dazu gesagt, weiles nichts gab, das gesagt werden konnte.

So hielt er sie noch ein paar Augenblicke länger ansich gedrückt und streichelte sie, und dann griff erhinter sich und löste ihre in seinem Nacken ineinan-dergeflochtenen Finger. Er küßte ihre Stirn und ging.Als er auf dem Hengst davonritt und den Wallach anden Zügeln führte, sah er sie durch das Küchenfen-ster stehen, wo er sie verlassen hatte. Sie weinte nichteinmal, sondern stand nur mit gesenktem Kopf daund ließ die Arme hängen, ohne sich zu bewegen.

Er ritt durch das bewaldete Hügelland, und nachzweieinhalb Stunden erreichte er das Forsthaus, woer seinen Schützling abholen sollte. Als er auf das Torzum Innenhof der im rustikalen Blockhausstil erbau-ten Anlage trat, sah er einen großen, bärtigen Mannin der Tracht der jüngeren Welt herauskommen undihn erwarten.

Aus der Nähe bemerkte Kyle, daß der Bart zu er-grauen begann und der Mann auf seiner Unterlippenagte. Die Augen zu beiden Seiten der dünnen gera-den Nase waren blutunterlaufen und dunkel gerän-dert, als ob der Mann Kummer hätte oder an Schlaf-losigkeit litte.

»Er ist im Hof«, sagte der Bärtige, als Kyle anhielt.»Ich bin Montlaven, sein Hauslehrer. Er ist bereit zurAbreise.« Die dunklen Augen blickten beinahe bit-tend zu Kyle auf.

»Kommen Sie dem Hengst nicht zu nahe«, sagteKyle. »Er beißt gern. Und führen Sie mich zu ihm.«

Montlaven trat zurück und betrachtete denSchimmel mißtrauisch.

»Wollen Sie ihm dieses Pferd geben?« fragte er.»Ich würde davon abraten.«

»Nein«, sagte Kyle. »Er wird den Wallach reiten.«»Ich fürchte nur, daß er den Schimmel will, wenn

er ihn sieht«, sagte Montlaven.»Er kann ihn nicht reiten«, sagte Kyle. »Selbst wenn

ich ihn ließe, könnte er diesen Hengst nicht reiten. Ichbin der einzige, den das Biest aufsitzen läßt.«

Der Hauslehrer drehte um und stieß das Tor auf,dann ging er voran in den grasbewachsenen Hof. Inder Mitte war ein Schwimmbecken, und die Fensterdes dreiflügeligen Forsthauses öffneten sich groß undbreit auf dieses abgeschlossene Geviert. Von außenunscheinbar, gab der Gebäudekomplex sich zum Hofhin als das zu erkennen, was er war: ein feudalesJagdschloß, in dem wohl ein ganzer Hofstaat seinUnterkommen finden konnte. Kyle blieb keine Zeit,sich umzusehen, denn der bärtige Prinzenerzieherführte ihn zu einem großgewachsenen jungen Mannvon vielleicht zwanzig Jahren, der am Rand desSchwimmbeckens auf einer Liege aus weichemSchaumgummi ruhte. Neben ihm lagen zwei vollge-stopfte Satteltaschen im Gras. Er sprang auf, als Kyleund der Hauslehrer zu ihm kamen, schüttelte seineblonde Mähne zurück und lachte.

»Majestät«, sagte Montlaven, »dies ist Kyle Annan,euer Leibwächter für die folgenden drei Tage.«

»Guten Morgen, Leibwächter Kyle, meine ich«,sagte der Prinz lachend. »Sitz ab, damit ich aufsteigenkann.«

»Ihr werdet den Grauen reiten, Herr«, sagte Kyle.Der Prinz starrte ihn an, dann warf er seinen hüb-

schen Kopf zurück und lachte.»Ich kann reiten. Mann!« sagte er. »Ich reite gut.«»Nicht dieses Pferd, Herr«, sagte Kyle leiden-

schaftslos. »Niemand außer mir reitet dieses Pferd.«Das Lachen erstarb, die Augen blitzten. Dann

kehrte das Lachen wieder.»Was kann ich machen?« die breiten Schultern ho-

ben sich.»Ich gebe nach – immer gebe ich nach. Das heißt,

fast immer.« Er grinste zu Kyle auf. »Also, von miraus.«

Er trat auf den Wallach zu, und war mit einemplötzlichen Satz im Sattel. Das Tier schnaubte undbäumte sich vor Schreck auf; dann beruhigte es sichrasch, als die langen Finger des jungen Mannes in dieZügel griffen und die andere Hand den grauen Halsklopfte. Der Prinz zog seine Brauen hoch und blicktezu Kyle hinüber, aber Kyle saß unbewegt da.

»Ich nehme an, du bist bewaffnet, guter Kyle?«sagte der Prinz. »Du wirst mich gegen die Eingebore-nen schützen, wenn sie wild werden?«

»Euer Leben ist in meinen Händen, Herr«, sagteKyle. Er knöpfte seine Lederjacke auf und zeigte diePistole vor. Dann verschloß er die Jacke wieder.

»Will.« Der Hauslehrer legte seine Hand auf dasKnie des jungen Mannes. »Sei nicht leichtsinnig Jun-ge. Dies ist die Erde, und die Leute hier wissen nichtsvon unserem Rangsystem und unseren Bräuchen.Denk nach, bevor du ...«

»Ah, hör schon auf, Monty!« unterbrach der Prinz.»Ich werde genauso unauffällig und bescheiden, soarchaisch und unabhängig sein wie die Einheimi-schen. Glaubst du, ich hätte von deinen Lektionennichts behalten? Außerdem ist es nur für drei Tageoder so, bis mein Vater kommt; dann hat der Spaßsowieso ein Ende. Nun laß mich gehen.«

Er wendete das Pferd, gab ihm plötzlich die Sporenund jagte zum Tor hinaus. Kyle zog scharf an denZügeln, als der weiße Hengst tänzelte und zu folgenversuchte.

»Geben Sie mir seine Sattelsachen«, sagte Kyle.Der Hauslehrer bückte sich und reichte sie herauf,

und Kyle machte sie über seinen eigenen fest. Als erdamit fertig war und den anderen ansah, bemerkte erTränen in den Augen des bärtigen Mannes.

»Er ist ein feiner Junge. Sie werden sehen.« Diestumme Bitte war wieder in Montlavens Augen.

»Ich weiß, aus welcher Familie er kommt«, sagteKyle zögernd. »Ich kenne meine Verantwortung. Ichwerde mein Bestes für ihn tun.« Und er nickte demMann zu und ritt zum Tor hinaus dem Wallach nach.

Als er das Tor hinter sich hatte, war der Prinz nir-gends zu sehen, aber Kyle hatte keine Schwierigkei-ten, der frischen Fährte durch den Wald zu folgen.Schließlich kam er auf einen offenen Wiesenhang, woder Prinz im Sattel saß und durch einen kleinen Ka-sten mit einer Linse zum Himmel spähte.

Als Kyle den Hengst neben seinem Schützling zü-gelte, ließ der Prinz sein Instrument sinken undreichte es wortlos herüber. Kyle setzte es an sein Au-ge und blickte in die gleiche Himmelsgegend. DerObjektsucher schnurrte, und eine der drei Wärmee-nergie erzeugenden Orbitalstationen schwamm insGesichtsfeld der Linse.

»Ich konnte sie vorher nicht ins Visier kriegen«,sagte der Prinz, als Kyle ihm das Instrument zurück-gab. »Es sind ziemlich kostspielige Geschenke aus derimperialen Schatztruhe, diese drei Orbitalstationen.Nur um zu verhindern, daß euer Planet in eine neue

Eiszeit treibt. Und was kriegen wir dafür?«»Die Erde, Herr«, antwortete Kyle, »wie sie war,

bevor Menschen zu den Sternen hinausgingen.«»Richtig«, sagte der Prinz. »Aber die Museumsge-

biete könnten mit einer Station und einer halben Mil-lion Wächtern und Pflegern erhalten werden. Es sinddie anderen zwei Stationen und die Milliarde voneuch Einwohnern, von denen ich rede. Ihr habt hierein gemütliches Leben, frei von Steuern und Ver-pflichtungen. Ich werde da hineinschauen müssen,wenn ich Herrscher bin. Wollen wir reiten?«

»Wenn Ihr wünscht, Herr.« Sie nahmen ihre Zügelauf, und die beiden Pferde mit ihren Reitern beweg-ten sich weiter über den Hang.

»Und noch etwas«, sagte der Prinz, als sie wiederin den Wald eindrangen. »Ich möchte nicht, daß dudurch mein Verhalten vorhin zu falschen Schlüssenkommst. Ich habe den alten Monty wirklich sehrgern. Es ist bloß, daß ich eigentlich gar nicht hierherkommen wollte – Sieh mich an, Leibwächter!«

Kyle wandte den Kopf und sah die blauen Augender Herrscherfamilie zornig blitzen. Dann mildertesich ihr Ausdruck unerwartet. Der Prinz lachte.

»Ängstlich scheinst du nicht zu sein, Leibwächter ...Kyle, meine ich«, sagte er. »Ich denke, wir werdenschon miteinander auskommen. Aber sieh mich an,wenn ich rede.«

»Ja, Herr.«»Das ist besser. Nun, ich wollte gerade sagen, daß

ich nie wirklich die Absicht hatte, auf meiner großenRundreise hier Station zu machen. Ich sah keinenSinn darin, eure Museumswelt zu sehen, bewohntvon Leuten, die immer noch versuchen, so zu leben,

wie sie es schon im dunklen Zeitalter taten. Abermein Vater überredete mich dazu.«

»Euer Vater, Herr?« fragte Kyle.»Ja. Er bestach mich, könnte man sagen«, sagte der

Prinz nachdenklich. »Er wollte diese drei Tage hiermit mir verbringen. Nun hat er Nachricht geschickt,daß es eine kleine Verzögerung gegeben habe – aberdas spielt keine Rolle. Wichtig ist, er gehört zu derSchule alter Männer, die immer noch glaubt, eure Er-de sei etwas Wertvolles und Lebenswichtiges. Nun,ich verehre und bewundere meinen Vater, Kyle. Fin-dest du das richtig?«

»Ja, Herr.«»Das dachte ich mir. Ja, er ist der einzige Mann, zu

dem ich aufblicke. Ihm zu Gefallen mache ich dieseReise. Und ihm zu Gefallen – nur deshalb, Kyle –werde ich es dir leicht machen und mich geduldig zudeinen Naturwundern und Wasserstellen und an-derswohin schleppen lassen. Nun verstehst du mich,ja?«

»Ich verstehe, Herr«, sagte Kyle.»Fein«, sagte der Prinz. »Jetzt kannst du also an-

fangen, mir alles über diese Bäume und Vögel undTiere zu erzählen, damit ich mir ihre Namen merkenund meinen Vater erfreuen kann, wenn er kommt.Wie heißen diese kleinen Vögel, die vorhin aufflogen,als wir in ihre Nähe kamen, und sich dann am Wald-rand unter den Büschen verkrochen? Braun warensie, und mit Streifen.«

»Das waren Wachteln, Herr«, sagte Kyle. »Sie lebenauf Feldern und Wiesen, in Hecken und an Waldrän-dern, wo sie ihre Eier am Boden ausbrüten. Aber hört,Herr.« Er beugte sich aus dem Sattel, faßte das

Zaumzeug des Wallachs und brachte beide Pferdezum Stehen. In der plötzlichen Stille konnten sie zuihrer Rechten eine silbrige Vogelstimme im Wald hö-ren, steigende und fallende Kadenzen, die schließlichin Stille verklangen. Der Prinz saß noch einen Mo-ment länger bewegungslos lauschend im Sattel, bevorer in die Gegenwart zurückfand und Kyle einen fra-genden Blick zuwarf.

»Das war eine Wacholderdrossel, Herr«, sagteKyle. »Ein Vogel der tiefen Wälder und stillen Orte.«

»Interessant«, sagte der Prinz. Er hob seine Zügel,und die Pferde bewegten sich wieder vorwärts. »Er-zähl mir mehr.«

Während die Sonne höher und höher stieg, ritten siedurch das waldige Hügelland weiter, und Kyle iden-tifizierte Vogel und Säugetier, Insekt, Baum und Fels,während der Prinz zuhörte. Seine Aufmerksamkeitwar rasch und impulsiv, ungleichmäßig, aber immergegenwärtig. Doch als die Sonne ihren Gipfelpunktüberschritten hatte, begann sein Interesse zu erlah-men.

»Das ist genug«, sagte er schließlich. »Wollen wirnicht zum Mittagessen einkehren? Gibt es keineSiedlungen hier?«

»Doch, Herr«, sagte Kyle. »Wir haben mehrere pas-siert.«

»Mehrere?« Der Prinz starrte ihn an. »Warum sindwir durch keine gekommen? Wohin führst du mich?«

»Nirgendwohin, Herr«, sagte Kyle. »Ihr bestimmtden Weg. Ich folge nur.«

»Ich?« sagte der Prinz. Zum ersten Mal schien ihmbewußt zu werden, daß er den Grauen immer eine

halbe Pferdelänge vorn gehalten hatte. »Richtig«,sagte er. »Aber nun ist es Zeit zum Essen.«

»Ja, Herr«, sagte Kyle. »Hier entlang.«Er bog ab, und der Prinz folgte seinem Manöver.

Als er Kyle eingeholt hatte, sagte er: »Paß auf, guterKyle. Sag mir, ob ich alles richtig behalten habe.« Undzu Kyles Verblüffung begann er alles, was Kyle ihmerklärt hatte, beinahe Wort für Wort zu wiederholen.»Ist das alles richtig? Habe ich alles behalten?«

»Vollkommen, Herr«, sagte Kyle. Der Prinz warf ihmeinen schlauen Blick zu. »Könntest du das, Kyle?«

»Ja«, sagte Kyle. »Aber dies sind Dinge, die ichmein ganzes Leben gekannt habe.«

»Siehst du?« Der Prinz lächelte. »Das ist der Unter-schied zwischen uns, guter Kyle. Du verbringst deinLeben damit, etwas zu lernen; ich beschäftige michein paar Stunden damit, und danach weiß ich so vieldarüber wie du.«

»Nicht so viel, Herr«, sagte Kyle zögernd.Der Prinz schaute ihn verdutzt an, dann machte er

eine halb ärgerliche, wegwerfende Handbewegung.»Den Rest könnte ich in ebenso kurzer Zeit lernen,

aber wahrscheinlich ist es entbehrliches Wissen«, sagteer. Sie ritten einen bewaldeten Hang hinunter unddurch ein gewundenes Tal, und schließlich erreichtensie ein kleines Dorf. Als sie die umgebenden Obstgärtendurchquert hatten, wehte ihnen Musik entgegen.

Der Prinz richtete sich in den Steigbügeln auf.»Was ist das? Dort drüben wird getanzt.«

»Ein Biergarten, Herr. Und es ist Samstag – ein ar-beitsfreier Tag.«

»Gut. Wir gehen hin und essen etwas.«Sie ritten zum Biergarten und setzten sich abseits

der Tanzfläche an einen Tisch. Eine hübsche jungeKellnerin kam, und während sie bestellten, lächelteder Prinz sie so sonnig an, daß sie endlich zurücklä-chelte – um dann wie in leichter Verwirrung davon-zueilen. Der Prinz aß hungrig, als das Essen kam, undtrank zwei Krüge dunkles Bier, während Kyle leichteraß und Kaffee trank.

»Das ist besser«, sagte der Prinz endlich, als er sichbehaglich zurücklehnte. »Ich hatte einen Appetit ...Sieh mal, Kyle! Da sind fünf, sechs ... sieben Flug-plattformen abgestellt. Dann reitet ihr also nicht allePferde?«

»Nein«, sagte Kyle. »Das macht jeder, wie er will.«»Aber wenn ihr Flugplattformen habt, warum

dann nicht andere Zivilisationsgüter?«»Einige Dinge passen, andere nicht, Herr«, ant-

wortete Kyle. Der Prinz lachte.»Du meinst, ihr versucht die Zivilisation diesem

altmodischen Leben von euch anzupassen?« sagte er.»Ist das nicht verkehrt herum ...« Er brach ab. »Wasist das, was sie jetzt spielen? Es gefällt mir. Ich wette,ich könnte dazu tanzen.« Er stand auf. »Ja. Ich werdees probieren.«

Er zögerte mit einem Blick zu Kyle.»He, was ist? Willst du mich nicht davor warnen?«»Nein, Herr«, sagte Kyle. »Was Ihr tut, ist Eure Sa-

che.«

Der junge Mann wandte sich abrupt weg. Die Kellne-rin, die sie bedient hatte, war nur wenige Tische ent-fernt. Der Prinz ging zu ihr und sagte etwas, undKyle sah das Mädchen protestieren, aber der Prinzstand in seiner stattlichen Größe vor ihr und lächelte

jungenhaft, während er auf sie einredete. Kurz daraufhatte sie ihre Schürze abgenommen und war mit ihmauf der Tanzfläche, wo sie ihm Tanzschritte zur Polkazeigte.

Der Prinz lernte mit phantastischer Schnelligkeit.Bald schwang er seine Partnerin herum wie die ande-ren Tänzer, stampfte mit den Füßen und ließ seineweißen Zähne blitzen. Schließlich endete das Stück,und die Musiker legten ihre Instrumente weg undbegannen ihre Empore zu verlassen.

Der Prinz ging zum Kapellmeister, obwohl dasMädchen ihn zurückzuhalten suchte. Kyle standschnell vom Tisch auf und ging zur Tanzfläche.

Der Kapellmeister schüttelte gerade seinen Kopf.Er drehte um und verließ das Podium. Der Prinzwollte ihm nach, aber das Mädchen hielt ihn am Armzurück und flüsterte ihm etwas zu.

Er schob sie heftig beiseite, und sie strauchelte einwenig, ohne jedoch zu fallen. Ein Kollege von ihr aufder anderen Seite der Tanzfläche, nicht viel älter alsder Prinz und fast so groß wie dieser, stellte sein Ta-blett weg und flankte über das Geländer der Tanzflä-che. Er kam von hinten an den Prinzen heran, packteihn am Arm und riß ihn herum.

»... gibt's hier nicht«, hörte Kyle ihn sagen. Weiterkam er nicht. Der Prinz reagierte mit der Schnelligkeiteines Panthers und der Zielsicherheit eines trainiertenBoxers. Zwei linke und eine rechte Gerade trafen inrascher Folge das Gesicht des Kellners, und jederSchlag hatte das volle Körpergewicht hinter sich.

Der Kellner ging zu Boden. Kyle erreichte den Prin-zen und schob ihn durch eine Seitenöffnung im Ge-länder von der Tanzfläche. Des jungen Mannes Ge-

sicht war weiß vor Wut. Leute schwärmten auf dieTanzfläche.

»Wer war das? Wie ist sein Name?« knirschte derPrinz. »Er hat Hand an mich gelegt! Hast du das ge-sehen?«

»Ihr habt ihn niedergeschlagen, Herr«, sagte Kyle.»Was wollt Ihr mehr?«

»Er hat mich angepackt – mich!« schnappte derPrinz. »Ich will wissen, wer er ist!« Er blieb stehenund ließ sich nicht weiterdrängen. »Er soll lernen,was es heißt, Hand an einen zukünftigen Herrscherzu legen!«

»Er hätte es nicht getan, wenn er gewußt hätte, werIhr seid, Herr«, sagte Kyle. »Und niemand wird Euchseinen Namen sagen.« Der kalte Ton seiner Stimmedrang endlich durch und ernüchterte den Prinzen. Erstarrte Kyle an.

»Du auch nicht?« fragte er nach einer geladenenPause.

»Ich auch nicht, Herr«, sagte Kyle.Der junge Mann starrte ihm noch einige Augen-

blicke länger in die Augen, dann wandte er sich weg.Er band den Wallach los und schwang sich in denSattel. Er ritt davon. Kyle saß auf und folgte ihm. Ermußte seinen Hengst zum Galopp spornen, um denPrinzen einzuholen. Sie ritten schweigend in denWald. Nach einer Weile sagte der Prinz, ohne denKopf zuwenden:

»Und du nennst dich einen Leibwächter?«»Euer Leben ist in meiner Hand, Herr«, sagte Kyle.Der Prinz musterte ihn finster. »Was soll das hei-

ßen? Solange sie mich nicht umbringen, können siemachen, was sie wollen? Ist es das, was du meinst?«

»So ziemlich, Herr«, sagte Kyle, den Blick des an-deren mit unbewegter Miene erwidernd.

»Dann bist du ein schlechter Leibwächter«, sagteder Prinz, einen gefährlichen Unterton in der Stimme.»Wenn du überhaupt einer bist! Ich glaube nichtmehr, daß du mir gefällst, Kyle.«

»Ich bin nicht hier mit Euch, um Euch zu gefallen,Herr«, sagte Kyle.

»Vielleicht nicht«, versetzte der Prinz böse. »Aberdeinen Namen weiß ich!«

Sie ritten weiter, und das Schweigen stand zwi-schen ihnen wie eine schwarze Wand. Aber dann ließdie zornige Verstimmung des Prinzen allmählichnach, und schließlich begann er leise zu sich selbst zusingen, ein Lied in einer Sprache, die Kyle nicht ver-stand; und mit dem Singen schien seine Munterkeitzurückzukehren. Bald sprach er wieder zu Kyle, alsob es nie etwas anderes als angenehme Momentezwischen ihnen gegeben hätte.

Die Mammuthöhle war in der Nähe, und der Prinzwollte sie sehen. Sie ritten hin und verbrachten einigeZeit in der Höhle. Anschließend ritten sie das linkeUfer des Green River aufwärts. Der Prinz schien denZwischenfall im Biergarten vergessen zu haben undplauderte freundlich und charmant mit allen, die ih-nen begegneten. Als die Sonne im Westen niederging,kamen sie zu einem Weiler abseits vom Fluß. EinGasthaus spiegelte sich in einem Dorfweiher vor ei-ner dunklen Kulisse aus hohen Eichen und Ulmen.

»Das sieht gut aus«, sagte der Prinz. »Wir werdenhier übernachten, Kyle.«

»Wie Ihr wünscht, Herr.«

Sie hielten, und Kyle führte die Pferde um das Wirts-haus in den Stall. Als er die Gaststube betrat, sah erden Prinzen bereits in der benachbarten Bar stehen,Bier trinken und mit der Bedienung hinter der Thekescherzen. Dieses Mädchen war jünger als die Kellne-rin im Biergarten, ein junges Ding mit langem brau-nem Haar und runden braunen Augen, die den gro-ßen und gutaussehenden jungen Mann fasziniert an-himmelten.

»Ja«, sagte der Prinz zu Kyle, nachdem die Bedie-nung gegangen war, Kyle seinen Kaffee zu bringen,»dies ist der Ort.« Und er gab Kyle einen Blick ausden Augenwinkeln.

»Der Ort?«»Für mich, die Leute besser kennenzulernen – was

dachtest du, guter Kyle?« sagte der Prinz und lachte.»Ich werde die Leute hier beobachten, und du kannstsie mir erklären – ist das keine gute Idee?«

Kyle sah ihn nachdenklich und ein wenig unsicheran.

»Ich werde Euch sagen, was ich kann, Herr«, sagteer.

Sie tranken – der Prinz sein Bier, und Kyle seinenKaffee –, und ein wenig später setzten sie sich in dieGaststube und ließen sich ihr Abendessen bringen.Der Prinz war, wie er angekündigt hatte, voller Fra-gen über das, was er sah – und was er nicht sah.

»Aber warum wollt ihr alle hier weiter in der Ver-gangenheit leben?« fragte er Kyle. »Eine Museums-welt ist eine Sache. Aber eine Museumsbevölkerung...« Er unterbrach sich, um mit der jungen Bedienungzu sprechen und sie anzulächeln, als sie an den Tischkam.

»Keine Museumsbevölkerung, Herr«, sagte Kyle.»Eine lebendige, natürliche Bevölkerung. Der einzigeWeg, eine Kultur zu erhalten, ist, ihre Wurzeln zupflegen und über ihre Gesundheit zu wachen. So ha-ben wir hier auf der Erde zu einem natürlichen, vonallen Exzessen der Zivilisation befreiten Leben zu-rückgefunden. So sind wir ein lebendiges Beispiel fürdie jüngeren Welten, an dem sie sich messen und ori-entieren können.«

»Faszinierend ...«, murmelte der Prinz; aber seineAugen beobachteten den leichten, hüftenschwingen-den Gang der Bedienung, die in der gut besetzten Gast-stube hin und her eilte, aber keine Gelegenheit aus-ließ, ihm lächelnde und kokette Blicke zuzuwerfen.

»Nicht faszinierend. Notwendig, Herr«, sagte Kyle.Aber der andere schien nicht zu hören.

Nach dem Abendessen gingen sie wieder in dieBar; und der Prinz, nachdem er Kyle noch ein weniglänger ausgefragt hatte, setzte seine soziologischenStudien fort, indem er sich unter die anderen Gästemischte, die an der Theke standen. Kyle beobachteteeine Weile. Dann, als er fühlte, daß kein Risiko damitverbunden sei, verließ er das Haus, um bei den Pfer-den nach dem Rechten zu sehen und den Wirt zubitten, daß er ihnen für den nächsten Tag ein kaltesMittagessen zum Mitnehmen vorbereite.

Als er zurückkehrte, war der Prinz nirgends zu se-hen. Ein kalter harter Knoten von Unbehagen bildetesich in Kyles Magen. Einer plötzlichen Eingebungfolgend, rannte er hinaus, um bei den Pferden zu su-chen. Aber sie standen friedlich in ihren Boxen undfraßen. Der Hengst schnaubte und bog seinen weißenKopf zurück, als Kyle bei ihm anlangte.

»Schon gut, Junge«, sagte Kyle und kehrte insWirtshaus zurück, um den Besitzer zu suchen.

Aber der Gastwirt hatte keine Ahnung, wohin derPrinz gegangen sein könnte.

»Wenn die Pferde noch da sind, kann er nicht weitgegangen sein«, meinte er. »Vielleicht ist er zu einemSpaziergang in den Wald oder an den Fluß. Ich werdeein Auge auf ihn haben, wenn er zurückkommt. Wowerden Sie sein?«

»In der Bar, bis zugemacht wird – dann in meinemZimmer«, sagte Kyle.

Er ging in die Bar, setzte sich an einen kleinen Tischin der Ecke, wo er aus dem Fenster sehen konnte, undwartete. Zeit verging, und allmählich verliefen sichdie anderen Gäste. Als die Uhr über den Flaschenre-galen Mitternacht anzeigte, stand er auf und ging insein Zimmer. Er öffnete das Fenster und legte sichangekleidet auf sein Bett.

Nach unbestimmter Zeit – er war gegen seinen Willeneingeschlafen – schreckte Kyle auf. Durch das offeneFenster hörte er seinen Schimmelhengst im Stall toben.Das Tier wieherte schrill und wütend, und seine Hufedonnerten dumpf gegen die Bretterwände der Box.

Er sprang auf und rannte hastig die Treppe hinun-ter und aus dem Haus. Als er in den Stall stürzte, saher den Prinzen im trüben Lichtschein der Nachtlater-ne stehen und den Wallach satteln. Er hatte das Tierbereits in den Mittelgang zwischen den Boxen geführtund blickte nicht von seiner Arbeit auf, als Kyle her-einkam.

Kyle war mit wenigen Schritten bei seinem Hengst.Der Schimmel war noch angebunden, aber er hatteseine Ohren zurückgelegt, seine Augen rollten wild,

und neben ihm lag ein Sattel zwischen Stroh undPferdeäpfeln.

»Sattle auf«, sagte der Prinz hinter ihm. »Wir reitenfort.«

»Wir haben Zimmer hier im Gasthof«, sagte Kyle.»Hast du nicht gehört? Wir reiten. Ich brauche fri-

sche Luft.« Der junge Mann zog den Sattelgurt an,ließ die Steigbügel herunter und saß auf. Ohne aufKyle zu warten, ritt er aus dem Stall in die Nacht.

Kyle lief ins Wirtshaus und holte die Satteltaschen,eilte zurück in den Stall und sattelte den Hengst,während er beruhigend auf das erregte Tier einrede-te. Dann ritt er dem Prinzen nach. In der Dunkelheitgab es keine Möglichkeit, die Fährte auszumachen;aber er beugte sich vorwärts und blies seinem Pferdins Ohr. Das Tier erschrak und wieherte protestie-rend, und aus der Dunkelheit des waldigen Hangsvoraus und zu Kyles rechter Hand kam die gewie-herte Antwort des Grauen.

Kyle holte den Prinzen auf dem Kamm des Höhen-zugs ein. Der junge Mann ließ sein Pferd im Schrittgehen, hielt die Zügel locker und sang leise vor sichhin – das gleiche Lied in einer unbekannten Sprache,das er zuvor gesungen hatte. Aber nun, als er Kylesah, grinste er und sang lauter und mit mehr Beto-nung. Zum ersten Mal bemerkte Kyle spöttische undanzügliche Untertöne zwischen den unverständlichenWorten. Auf einmal begriff er.

»Das Mädchen!« sagte er. »Die kleine Bedienung.Wo ist sie?«

Das Grinsen verschwand aus den Zügen des ande-ren, kam langsam zurück. Er wandte den Kopf undlachte Kyle an.

»Na, wo wird sie schon sein?« Der saure Bierdunstseines Atems schlug in Kyles Gesicht. »In ihrem Zimmernatürlich, glücklich schlafend. Geehrt – obwohl sie esnicht weiß – vom Thronfolger, haha! Und in der Er-wartung, mich am Morgen bei sich zu finden. Aberdas kann nicht sein. Nicht wahr, guter Kyle?«

»Warum habt Ihr es getan, Herr?« fragte Kyle, soruhig er konnte.

»Warum?« Der Prinz spähte durch die Finsternis insein Gesicht. »Kyle, mein Vater hat vier Söhne. Ichhabe drei jüngere Brüder. Aber ich bin derjenige, dereinst Herrscher sein wird, und Herrscher beantwor-ten keine Fragen.«

Kyle sagte nichts. Sie ritten schweigend weiter.»Aber ich will dir trotzdem sagen, warum ich es

tat«, fuhr der Prinz nach längerer Zeit fort, als hätte esnur eine momentane Pause gegeben. »Ich tat es, weildu nicht mein Leibwächter bist, Kyle. Du siehst, ichhabe dich durchschaut. Ich weiß, wessen Leibwächterdu bist. Du bist der Leibwächter all der anderenhier!«

Kyle biß die Kiefer fest zusammen, aber die Dun-kelheit verbarg seine Reaktion.

»Ich habe allen Grund, an deiner Loyalität zu zwei-feln«, fuhr der Prinz fort. Er setzte von neuem an,unterbrach sich jedoch mit einer lockeren, wegwer-fenden Geste. »Aber das soll mich nicht weiter küm-mern«, sagte er. »Du kannst es halten, wie du willst.Mir ist es gleich. Wir werden also künftig mit Punk-ten spielen. Da war dieser Flegel im Biergarten, dermich anpackte. Aber niemand würde mir seinen Na-men verraten, sagtest du. Gut, du warst sein Leib-wächter. Ein Punkt für dich. Aber dem Mädchen im

Wirtshaus warst du ein schlechter Leibwächter. EinPunkt für mich. Wer wird gewinnen, guter Kyle?«

Kyle holte tief Atem.»Herr«, sagte er, »eines Tages wird es Eure Pflicht

sein, eine Frau von der Erde zu heiraten ...«Der Prinz unterbrach ihn mit einem unangeneh-

men Auflachen. »Ihr schmeichelt euch«, sagte er.»Das ist das Dumme mit euch allen hier.«

Sie ritten. Kyle sagte nichts. Er hielt den Kopf desHengstes in Schulterhöhe des Grauen und beobach-tete den jungen Mann, soweit die Dunkelheit es zu-ließ. Der Prinz schien für kurze Zeit einzunicken. DasKinn sank ihm auf die Brust, und er ließ sein Pferdwandern. Nach einer Weile kam sein Kopf wiederhoch, seine Finger griffen mechanisch fester in dieZügel, und er blickte umher.

»Ich will etwas trinken«, sagte er. Seine Stimmewar kalt und unfreundlich. »Bring mich zu einem Lo-kal, wo wir Bier trinken können, Kyle.«

Kyle holte tief Atem.»Ja, Herr«, sagte er.Er bog nach rechts, und der Prinz folgte. Sie ritten

über einen Hügel und auf der anderen Seite hinunterzum Ufer eines Sees. Das dunkle Wasser funkelte imMondlicht. Weit voraus blinkten ein paar Lichterdurch die Bäume am Ufer.

»Dort, Herr«, sagte Kyle. »Es ist ein Ausflugsort fürAngler, und es gibt dort eine Bar, die an Wochenen-den durchgehend geöffnet hat.«

Sie ritten das Ufer entlang, kamen an Bootsschup-pen und einigen privaten Wochenendhäuschen vor-bei. Das Lokal war ein niedriger Holzbau direkt amUfer. Ein Anlegesteg, an dem vertäute Ruderboote

leise dümpelten, führte ein Stück in den See hinaus.Lampenschein strömte hell aus den großen Fenstern.Sie banden ihre Pferde an und gingen zur Tür.

Sie betraten einen weitläufigen Restaurationsraum,dessen unbesetzte Tische und Stühle sich zur Wasser-seite im Halbdunkel verloren. Nur an der langenTheke herrschte noch Betrieb, und dort war alles indas kalte weiße Licht von Leuchtstoffröhren getaucht.Über den Flaschenregalen der Rückwand warenmehrere präparierte Prachtexemplare von Fischenausgestellt, braungebeizt vom Tabaksqualm und mitSchildern versehen, die das jeweilige Gewicht undden Namen des Anglers verewigten. Unter den Fi-schen und vor den Flaschen standen zwei Barkeeper,ein älterer, glatzköpfiger Mann mit einer weißenSchürze und der autoritätsgewohnten Haltung desChefs, und ein junger, muskulöser Bursche mitschwarzen Locken und dem Gesicht eines unzufrie-denen Engels, der offensichtlich der Sohn des Altenwar. Die acht oder neun späten Gäste waren lauterMänner in derber Arbeitskleidung oder Sonntags-angler in Pullovern und ausgebeulten Kordhosen. Bisauf drei, die an einem der kleinen, viereckigen Tischesaßen und Karten spielten, standen alle in verschie-denen Stadien der Alkoholisierung an der Theke.

Der Prinz setzte sich an einen Tisch gegenüber derTheke, und Kyle setzte sich zu ihm. Als die Bedie-nung kam, bestellten sie Bier und Kaffee, und derPrinz leerte seinen Krug, kaum daß er auf dem Tischstand. Nachdem er ihn geleert hatte, wischte er sichden Schaum von den Lippen und signalisierte derBedienung.

»Noch eins«, sagte er. Diesmal lächelte er die Be-

dienung an, als sie den Bierkrug brachte. Aber sie wareine Frau Mitte Dreißig und von seiner Aufmerksam-keit geschmeichelt, aber nicht überwältigt. Sie lächelteleicht zurück und ging dann wieder an die Theke, wosie mit zwei Männern ihres Alters gesprochen hatte,der eine ziemlich groß, der andere untersetzt undstämmig, mit einem kugelförmigen, halb kahlen Kopfund dicken, behaarten Armen.

Der Prinz trank. Als er seinen Krug absetzte, schienihm Kyles Gegenwart bewußt zu werden, und erdrehte sich halb zu ihm.

»Du glaubst, ich sei betrunken?« sagte er.»Noch nicht, Herr«, sagte Kyle.»Nein«, sagte der Prinz. »Das ist richtig. Noch

nicht. Aber vielleicht werde ich es sein. Und wer wirdmich daran hindern, wenn ich beschließe, mich zubetrinken?«

»Niemand, Herr.«»Richtig«, sagte der junge Mann. Er leerte seinen

Bierkrug und bedeutete der Bedienung mit Gesten,einen neuen zu bringen. Seine Wangen begannen sichzu röten. »Wenn man auf einer armseligen kleinenWelt mit armseligen kleinen Leuten ist ...« Er unter-brach sich, um der Kellnerin ein Kompliment zu sa-gen, als sie das Bier brachte. Sie lachte und kehrte andie Theke zurück, und er endete: »... dann muß mansich amüsieren, so gut man kann.«

Er lachte vor sich hin.

»Wenn ich daran denke, wie mein Vater und Montyversuchten, mir diesen Planeten aufzuschwatzen ...«Er blickte Kyle von der Seite an. »Wußtest du, daß ichfrüher einmal richtig Angst hatte, daß ich vielleicht

mal hierher kommen müßte?« Er lachte wieder.»Damals war ich natürlich noch viel jünger, aber ichmachte mir ernstlich Sorgen, daß ich an euch Erdbe-wohner nicht heranreichen könnte! Warst du schoneinmal auf einer der jüngeren Welten, Kyle?«

»Nein, Herr.«»Wie ich mir dachte. Laß dir sagen, guter Kyle, daß

die unscheinbarsten Leute dort immer noch besseraussehen und gesünder und klüger sind als alle, dieich hier bisher gesehen habe. Und ich, Kyle, ich – derzukünftige Herrscher – muß besser sein als jeder vonihnen, und ich bin es. Nun rate mal, was für einenEindruck ihr alle hier auf mich macht!«

Er starrte Kyle an und wartete. »Nun, antwortemir, guter Kyle. Sag es mir. Das ist ein Befehl.«

Kyle regte sich unbehaglich. Schließlich sagte er:»Es ist nicht an Euch, zu urteilen, Herr.«

»Nicht an mir?« Die blauen Augen blitzten. »Ichwerde der Herrscher sein!«

»Kein einzelner Mann kann darüber befinden,Herr«, sagte Kyle. »Herrscher oder nicht. Ein Herr-scher ist notwendig als das Symbol, das einige Dut-zend Welten zusammenhalten kann. Aber die wirkli-che Notwendigkeit der Rasse ist, zu überleben. Esdauerte ungefähr eine Million Jahre, bis sich hier aufder Erde eine überlebensfähige Intelligenz entwik-kelte. Und draußen auf den neuen Welten wird es zuVeränderungen kommen. Wenn der Rasse dort ir-gendein notwendiges Element verlorengeht, dannmuß ein Reservoir des ursprünglichen genetischenMaterials vorhanden sein, um es zu ersetzen.«

Der Prinz lächelte breit, aber seine Augen warenkalt und voll Abneigung und Mißtrauen.

»Ah, gut, Kyle – gut!« sagte er. »Sehr gut. Bloß habeich das alles schon gehört. Es ist eine Theorie, nichtsweiter, und ich glaube nicht daran. Es gibt andere,neuere Theorien, die darin einen bloßen Aberglaubensehen. Ich habe euch jetzt gesehen, verstehst du. Undihr seid uns, den Bewohnern der neueren Welten,nicht überlegen. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sindweitergegangen und besser geworden, und ihr seidstillgestanden. Und du weißt es.«

Der junge Mann lachte leise, beinahe in Kyles Ge-sicht.

»Eure einzige Angst ist, daß wir es herausbringenkönnten. Und ich habe es herausgebracht.« Er lachtewieder. »Ich habe mich bei euch umgesehen, und nunweiß ich es. Ich bin intelligenter, tüchtiger und ge-schickter als jeder Mann in diesem Raum – und weißtdu, warum? Nicht, weil ich der Sohn des Herrschersbin, sondern weil es mir angeboren ist! Körper, Ge-hirn und alles. Hast du schon mal was von Genselek-tion gehört? Ich kann hier tun, was ich will, und nie-mand auf diesem Planeten hat das Zeug, mich daranzu hindern.«

Er stand auf.»Ich möchte, daß die Bedienung mit mir trinkt«,

sagte er. »Und diesmal sage ich es dir im voraus. Hastdu die Absicht, mich daran zu hindern?«

Kyle blickte zu ihm auf. Ihre Augen begegneten sich.»Nein, Herr«, sagte Kyle. »Es ist nicht meine Auf-

gabe, Euch an etwas zu hindern.«Der Prinz lachte.»Das dachte ich mir«, sagte er. Er machte kehrt und

ging zwischen den Tischen durch und zur Theke, wodie Bedienung noch immer mit den beiden anderen

Männern schwatzte. Der Prinz stellte sich auf die an-dere Seite der Frau und bestellte beim Schankwirt einBier. Als es ihm vorgesetzt wurde, nahm er es,wandte sich um und lehnte sich an die Theke, die El-lenbogen aufgestützt.

»Ich wollte mit dir reden«, hörte Kyle ihn sagen.Die Bedienung sah sich ein wenig überrascht nachihm um. Sie erkannte ihn und lächelte, geschmeicheltvon der Direktheit seiner Annäherung, ein wenig be-eindruckt von seinem guten Aussehen und milde ge-stimmt von seiner Jugend.

»Ihr habt nichts dagegen, wie?« sagte der Prinz undblickte an ihr vorbei zu den beiden Einheimischen,deren Gespräch er unterbrochen hatte. Kyle bemerk-te, daß die zwei so wenig nüchtern waren wie derPrinz, und seine Befürchtung wurde zur Gewißheit,als er die zornigen und herausfordernden Blicke sah,die zwischen den zwei Männern und dem Prinzenhin und her gingen. Nachdem sie einander mehrereSekunden lang in geladenem Schweigen angestarrthatten, berührte die Frau beschwichtigend den Armdes größeren der beiden Männer, und er zuckte är-gerlich die Achseln und kehrte ihnen den Rücken zu.

»Siehst du?« sagte der Prinz lächelnd zur Frau. »Erweiß, daß wir zwei uns mehr zu sagen haben.«

»Moment mal, Freundchen. Einen Augenblick.«Es war der kleine, stämmige Mann, der sich nun

zwischen die Frau und den Prinzen drängte. DerPrinz sah mit einem Ausdruck flüchtigen Erstaunensauf ihn herab. Bevor er reagieren konnte, sagte derStämmige über die Schulter zu seinem Freund:»Komm her, Ben. Der Junge ist nur ein bißchen blau,sonst nichts.« Dann pflanzte er sich breitbeinig vor

dem Prinzen auf. »Du schiebst jetzt ab«, sagte er.»Clara ist mit uns.«

Der Prinz starrte ihn mit offenem Mund an. DerBlick war so leer und verdutzt, daß sein Kontrahentsich schon zu seinem Freund und der Bedienungumwenden wollte. Aber dann schien der Prinz plötz-lich zu erwachen.

»Nicht so schnell ...«, sagte er seinerseits, packte diemassige Schulter des Einheimischen und zog ihn miteinem Ruck herum. Der Mann schlug die Hand miteinem Fluch herunter, griff zum vollen Bierkrug desPrinzen und schüttete ihm den Inhalt ins Gesicht.

»Hau ab, jetzt!« knurrte er. »Aber ein bißchenschnell, ja?«

Der Prinz stand da, und das Bier troff ihm vom Ge-sicht. Dann, ohne auch nur die Augen zu wischen,schlug er links und rechts zu, mit der durchtrainier-ten Schnelligkeit und Schlagkraft, die er im Biergar-ten demonstriert hatte.

Aber sein Gegner war nicht wie der junge Kellner,den der Prinz so mühelos deklassiert hatte. DieserMann war dreißig Pfund schwerer, um fünfzehn Jah-re erfahrener, ein grober, eisenharter Kerl von derStatur und dem Naturell des geborenen Raufbolds. Erhatte nicht gewartet, bis er getroffen würde, sondernhatte den Schädel eingezogen und war vorwärtsge-gangen, um den jungen Mann in den Griff seiner dik-ken Arme zu kriegen. Die Faustschläge trafen ohneerkennbare Wirkung den spärlich behaarten rundenKopf, dann rannte der Mann den Prinzen an undwarf ihn zu Boden, und beide wälzten sich ineinan-der verkrallt auf dem staubigen Parkett.

Kyle hatte seinen Tisch verlassen und die Kämp-

fenden fast erreicht, und die beiden Männer hinterder Theke hatten die Bar umrundet und drängten mitden übrigen Gästen näher. Der hochgewachseneFreund des Stämmigen stand mit glitzernden Augenüber den beiden Körpern und hatte den rechten Fußzurückgezogen, um dem Prinzen bei erster Gelegen-heit die Stiefelspitze in die Nieren zu treiben. KylesHandkante traf seine Kehle wie eine Eisenstange.

Der Mann taumelte würgend und hustend zurück.Kyle stand still, die geöffneten Hände an den Seiten,die Arme etwas vom Körper abgewinkelt, und blickteden Barbesitzer an.

»Schluß jetzt!« sagte der und nickte seinem Sohnzu. »Wir trennen sie. Aber –« er blickte Kyle an »– dunimmst den Jungen und verschwindest aus meinemLokal, verstanden?«

Kyle nickte. Er trat zur Seite, um den beiden Män-nern Platz zu machen. Dem Einheimischen war es in-zwischen gelungen, den Prinzen am Boden festzuna-geln. Er lag über ihm, hielt seine Arme mit beidenHänden und ließ den runden Schädel wie einenHammer wieder und wieder in das Gesicht des Prin-zen niedersausen, der seinen Kopf verzweifelt hinund her wendete, um der furchtbaren Gewalt derSchläge auszuweichen.

Die zwei beschürzten Barmänner beugten sich vonzwei Seiten über den Einheimischen, nahmen ihn ingekonnter Manier gemeinsam in einen Doppelnelsonund hoben ihn von seinem Opfer. Der Mann machteeinen wütenden Befreiungsversuch, dann sah er, werihn festhielt, und stand still.

»Laßt mich los!« grollte er. »Der Kerl hat seine Ab-reibung verdient.«

»Nicht hier in meinem Lokal«, sagte der ältereMann. »Prügelt euch gefälligst draußen.«

Der Prinz kam auf die Füße und stand wankend zwi-schen den Tischen. Sein Gesicht war weiß wie ein La-ken. Er blutete aus der Nase und einer Platzwundeüber der linken Augenbraue. Sein Blick ging zu Kyle,der sich von der Gruppe der Zuschauer gelöst hatteund langsam auf ihn zukam; er spuckte aus undmurmelte etwas, das halb wie ein Fluch und halb wieein Schluchzen klang.

»Also Schluß jetzt«, sagte der Barbesitzer wieder.»Raus mit euch. Macht es draußen miteinander aus.«

Der Prinz wischte sich Blut aus dem linken Augeund blickte umher, und zum ersten Mal schien er dieMauer aus Menschenleibern zu sehen, die ihm vorder Theke gegenüberstand.

»Draußen ...?« murmelte er, gegen seine Benom-menheit ankämpfend.

»Du bleibst nicht hier«, antwortete der Barbesitzer.»Ich habe es gesehen. Du hast mit dem Krawall angefan-gen. Regelt die Sache, wie ihr wollt, schlagt euch mei-netwegen die Schädel ein, aber nicht bei mir. Ihr verlaßtbeide mein Lokal, und zwar sofort! Los, bewegt euch!«

Er kam vorwärts und gab dem Prinzen einen Stoßvor die Brust, aber der Prinz widerstand. »Kyle ...«,sagte er.

»Tut mir leid, Herr«, sagte Kyle. »Ich kann nichthelfen. Es ist Euer Kampf.«

Der stämmige Mann zeigte seine lückenhaftenZähne in einem siegesgewissen Grinsen. »Komm mit'raus, Freundchen!« sagte er. »Ich bin gerade in derrichtigen Stimmung!«

Der Prinz starrte von einem Gesicht zum anderen,als sähe er lauter seltsame und unheimliche Wesen,von deren Existenz er noch nie gewußt hatte.

»Nein ...«, sagte er. Im nächsten Moment fuhr seineHand blitzschnell unter Kyles Lederjacke und riß diePistole aus dem Halfter.

»Zurück!« sagte er mit lauter, hoher Stimme. »Kei-ner rührt mich an!«

Aus der dichtgepackten Zuschauergruppe an derTheke stieg ein seltsames Geräusch auf, ein grunzen-des Ächzen oder heiseres Seufzen, und alle drängtenzurück von ihm. Nur Kyle und der rundschädeligeSchläger blieben stehen.

»Du Hund!« sagte der Stämmige wütend. »Ichwußte, daß du kneifen würdest.«

»Halt den Mund!« Die Stimme des Prinzen war hochund dem Überschnappen nahe. »Halt den Mund! Daßkeiner von euch versucht, mir nachzugehen!«

Er begann sich zur Tür zurückzuziehen. Alle standenstill und beobachteten stumm seinen Rückzug. AuchKyle rührte sich nicht von der Stelle. Als er die Türerreicht hatte, richtete sich der Prinz auf und wischtemit seinem linken Ärmel das Blut von Mund und Na-se, und sein verschmiertes Gesicht sah sie mit einemersten Anflug wiedergewonnener Arroganz an.

»Schweine!« sagte er.Er öffnete die Tür, passierte sie rückwärtsgehend

und schloß sie. Kyle trat vor den Stämmigen, undbeider Augen begegneten sich in einer Art von Gei-stesverwandtschaft. Kyle konnte sehen, daß der an-dere den Kämpfer in ihm erkannte, wie er zuvor denKämpfer in seinem Gegenüber erkannt hatte.

»Geh uns nicht nach«, sagte Kyle.

Der Mann antwortete nicht, aber es war auch keineAntwort nötig. Er stand still.

Kyle drehte um, rannte zur Tür und öffnete sie mitkurzem Ruck. Nichts geschah; und er schlüpfte durchund warf sich sofort zur Seite, aus er Schußlinie.

Aber kein Schuß kam. Einen Moment war er blindin der Dunkelheit, dann begannen seine Augen sichumzustellen, und er eilte zu den Pferden.

Der Prinz band den Wallach los und machte sichzum Aufsitzen fertig.

»Herr«, sagte Kyle.Der Prinz ließ den Sattel einen Moment los und

wandte seinen Kopf über die Schulter.»Verschwinde«, sagte der Prinz wütend.»Herr«, sagte Kyle mit leiser Stimme. »Ihr habt dort

drinnen den Kopf verloren. Das kann jedem passie-ren. Aber macht es nicht noch schlimmer jetzt. Gebtmir die Pistole zurück, Herr.«

»Die Pistole soll ich dir geben?« Der junge Mannstarrte ihn an, dann lachte er böse.

»Dir soll ich die Pistole geben?« sagte er wieder.»Damit du mich von einem deiner seltsamen Freundenoch einmal zusammenschlagen lassen kannst? Da-mit du deine Aufgabe als Leibwächter weiterhin ver-nachlässigen kannst?«

»Herr«, sagte Kyle, »bitte. Um Euretwillen – gebtmir die Waffe zurück.«

»Verschwinde, und laß dich nicht mehr in meinerNähe blicken!« sagte der Prinz. Er wandte sich wie-der zum Pferd, stellte einen Fuß in den Steigbügel.»Mach dich davon, bevor ich dir eine Kugel durchden Kopf jage, Verräter!«

Kyle holte langsam und tief Atem. Er trat einenSchritt näher und tippte dem Prinzen auf die Schul-ter.

»Dreht Euch um, Herr«, sagte er.»Ich habe dich gewarnt!« knurrte der Prinz und

fuhr wütend herum. »Zurück!«Er kam herum, als Kyle sich bückte und seine Fin-

ger um das Heft des Jagdmessers in der Stiefelscheideschloß. Er richtete sich auf, und mit der Bewegungstieß er das Messer blitzschnell aufwärts unter dieRippen des jungen Mannes, bis die das Heft haltendeHand vom Stoff und den Knochen darunter gebremstwurde.

Es war ein hartes, plötzliches Zustoßen, und dielange Klinge fuhr unter den Rippenbogen aufwärtsund tief ins Herz. Der Prinz grunzte, als der Stoß ihmdie Luft aus den Lungen trieb; und er war tot, alsKyle seinen zusammenbrechenden Körper auffing.

Kyle legte ihn quer über den Sattel des Wallachsund machte ihn dort fest. Er suchte am Boden herum,bis er die gefallene Pistole fand, und steckte sie insHalfter zurück. Dann bestieg er seinen Schimmel-hengst und machte sich auf den langen Rückweg, denWallach mit seiner Last am verlängerten Zügel mitsich führend.

Die Morgensonne schien ihm ins Gesicht, als erendlich die Kuppe des Hügels erreichte, zu dessenFüßen das Jagdhaus lag. Er ritt langsam hinunterzum Tor.

Eine große Gestalt, undeutlich im Gegenlicht, kamaus dem linken Gebäudeflügel und eilte ihm entge-gen, als er das Tor passiert hatte. Es war der Hausleh-rer, Montlaven, und er weinte, als er neben den Wal-

lach trat und den Strick aufzuknoten begann, der dieLeiche des Prinzen festhielt.

»Es tut mir leid ...«, hörte Kyle sich sagen; und wardumpf erstaunt über die Leblosigkeit und Abwesen-heit seines Tons. »Es gab keine Wahl. Sie könnenmorgen früh alles in meinem Bericht lesen ...«

Er brach ab. Eine zweite Gestalt kam langsam überdie Terrasse. Als Kyle sich ihr zuwandte, schritt diesezweite Gestalt die wenigen Stufen herab und auf ihn zu.

»Herr ...«, sagte Kyle. Er blickte in ein Gesicht wiedas des Prinzen, aber älter, unter ergrautem Haar.Dieser Mann weinte nicht, aber sein Gesicht warstarr, von eiserner Undurchdringlichkeit.

»Was ist geschehen?«»Herr«, sagte Kyle, »Ihr werdet morgen früh meine

Meldung haben ...«»Ich will es wissen«, sagte der andere. Seine Lippen

bewegten sich kaum.Kyles Kehle war trocken und steif. Er schluckte,

aber es brachte keine Erleichterung.»Herr«, sagte er, »Ihr habt drei andere Söhne. Einer

von ihnen wird ein Herrscher sein, der die Weltenzusammenhalten kann.«

»Was hat er getan? Wen hat er getötet? Sag es mir!«Des alten Mannes Stimme vibrierte in kaum noch be-herrschter Erregung.

»Nichts. Niemanden«, sagte Kyle mit schmerzen-der Kehle. »Er schlug einen gleichaltrigen Jungennieder. Er trank zuviel. Er hat vielleicht ein Mädchenin Schwierigkeiten gebracht. Es war nicht, was er an-deren tat. Es war nur ein Versagen vor sich selbst.« Erschluckte mühevoll. »Wartet bis morgen, Herr, undlest meinen Bericht.«

»Nein!« Der Mann packte Kyles Sattelknopf mit ei-nem Griff, der kein Nachgeben kannte. »Deine Fami-lie und die meine sind seit dreihundert Jahren mit-einander verbunden. Welchen Fehler hatte meinSohn, daß er seine Prüfung hier auf der Erde nicht be-stand? Ich will es wissen!«

Kyles Kehle schmerzte.»Herr«, antwortete er, »er war ein Feigling.«Die Hand fiel von seinem Sattelknopf. Und der

Herrscher über Dutzende von Welten wankte zurückwie ein abgewiesener Bettler.

Kyle hob seine Zügel und ritt aus dem Tor, in denWald und weiter durch die Hügel.

Der Mann von der Erde

Der Direktor der Welt Duhnbar, die als Handels- undUmschlagplatz einigen Ruf genoß, hatte keinen ande-ren Namen, noch brauchte er einen; und seine Statt-lichkeit und Majestät entsprachen nicht notwendi-gerweise den Maßstäben der menschlichen Rasse.Aber schließlich hatte er nie von der menschlichenRasse gehört.

Er saß Tag für Tag in seinem Äquivalent einesThronsaals, während zu Füßen der Estrade, auf dersein riesiger Thronsessel stand, die Vertreter Hun-derter verschiedener Rassen ihren Geschäften nach-gingen. Er hatte gern Leben um sich, also ließ er siegewähren. Er liebte es nicht, direkt in diese Betrieb-samkeit verwickelt zu sein. Darum blickte odersprach keiner von ihnen in seine Richtung.

Er sah die Menge vor sich, ausgebreitet durch eineluftige Halle. Am anderen Ende der Halle, über demhohen Portal, war ein Balkon zur Außenseite durch dieWand gebrochen; von dort überblickte man nicht nurdie Halle, sondern auch die breite Freitreppe, die zumGebäude heraufführte, u n d die bewaffneten Wächter,die sie flankierten. Auf diesem Balkon standen weite-re Mitglieder verschiedener Rassen und sprachen.

Unweit vom Sitz des Direktors war ein schim-mernder Spiegel in der Luft aufgehängt, so daß er,wenn er seinen Kopf nur ein wenig drehte, seinEbenbild in voller Länge betrachten konnte. Manch-mal schaute er und sah sich selbst an.

Aber in diesem Moment blickte er hinaus über denThronsaal und den Balkon und sah in seiner Vorstel-

lung die Stadt, die Kontinente und Meere Duhnbarsund die fünf anderen Welten dieses Sonnensystems,die die Werkstätten und Kornkammern seiner Kron-welt Duhnbar waren. Daß er über diese Welten unddas System herrschte, wäre ein zu milder Ausdruckgewesen. Er besaß und trug sie wie Ringe an seinenFingern.

Aber in seinem geistigen Auge hatte alles diestumpfen Farben von langer Vertrautheit und Gleich-förmigkeit.

Er machte eine leichte Bewegung mit einem seinerviergliedrigen Finger, von denen er an jeder Handdrei hatte, mit einem gegengestellten Daumen. Dermännliche Erwachsene seiner eigenen Rasse, der ge-genwärtig eine Rolle ausfüllte, die etwa der einesKammerdieners oder Sekretärs entsprach, trat hinterdem Thronsessel hervor. Der Direktor sah ihn nichtan, weil er wußte, daß der Kammerdiener daseinwürde, wenn er ihm winkte. Des Direktors dünneLippen bewegten sich kaum in seinem ausdruckslo-sen, blaßgrünen Gesicht.

»Zeit ist vergangen«, sagte er. »Gibt es noch immernichts Neues?«

»Direktor von allem«, sagte die leise Stimme desKammerdieners an seinem Ohr, »seit Ihr zuletztfragtet, hat es auf den sechs Welten nichts gegeben,das nicht schon früher geschehen wäre. Nur hier ausder Hauptstadt ist die Landung eines einzelnenFremden von bislang unbekannter Rasse zu vermel-den. Er ist jetzt in die Stadt gegangen und hat es un-terlassen, am purpurnen Schrein zu opfern, abersonst benimmt er sich nicht anders als alle Fremdensich auf Euren Welten benehmen.«

»Ist dieses Unterlassen eines Opfers eine neue Er-scheinung?« fragte der Direktor.

»Es ist ein häufig vorkommendes Delikt«, sagte derKammerdiener. »Viele Generationen sind dahinge-gangen, seit jemand zum Zweck andächtiger Einkehroder zur Verehrung der Götter den purpurnenSchrein betrat. Das Opfer ist zu einer bloßen Zollab-gabe unseres Hafens geworden. Fremde, die nichtsdavon wissen, unterlassen es regelmäßig, auf demWürfel vor dem Schrein Räucherwerk anzuzünden.«

Der Direktor sagte nicht gleich etwas. Der Kam-merdiener stand wartend. Hätte der Direktor ihnwarten lassen, bis er vor Übermüdung oder Erschöp-fung zusammengebrochen wäre, würde ein andererseinen Platz eingenommen haben.

»Gibt es eine Strafe für diese Unterlassung?« fragteder Direktor endlich.

»Nach den alten Gesetzen«, sagte der Kammerdie-ner, »steht darauf die Todesstrafe. Aber seit Hunder-ten von Jahren wird bei Übertretungen nur ein klei-nes Bußgeld erhoben.«

Der Direktor überdachte diese Worte.»Alte Gebräuche haben ihren Wert«, sagte er nach

einer Weile. »Alte Gebräuche, die seit langem in Ver-gessenheit geraten sind, erscheinen als etwas völligNeues, wenn sie wiederbelebt werden. Laß das ur-sprüngliche Strafmaß wieder einführen.«

»Bereits bei diesem Gesetzesbrecher?« fragte derKammerdiener. »Oder erst in allen künftigen Fällen?«

»Ab sofort«, sagte der Direktor. Er bewegte seinenZeigefinger zum Zeichen, daß das Gespräch beendetsei. Der Kammerdiener trat zurück und sprach zuden stets gegenwärtigen Beamten und Offizieren.

Der Direktor, der Beobachtung des geschäftigenTreibens in der Halle überdrüssig, veränderte seineBlickrichtung ein wenig nach links und betrachteteseine sitzende Gestalt im Spiegel. Dort sah er ein In-dividuum von annähernd drei Metern Länge in ei-nem großen geschnitzten Stuhl mit reichverziertenArmlehnen sitzen. Vierfingerige Hände ruhten aufden kunstvoll gearbeiteten Dämonköpfen an den En-den der Armlehnen. Körper und Gliedmaßen warenin ein einfaches Kleidungsstück von himmelblauerFarbe gehüllt. Dem Halsausschnitt entragte ein hoherund schmaler Kopf, haarlos und von grünlicher Far-be, mit Schnabelnase und dünnem, lippenlosemMund. Die Augen waren golden, riesig und schön.

Aber weder die Augen noch das Gesicht zeigten ir-gendeinen Ausdruck. Die Gesichter des Kammerdie-ners und der Wächter und anderer Angehöriger sei-ner Rasse zeigten zuweilen Gemütsbewegungen.Aber des Direktors Gesicht niemals. Er war mehrerehundert Jahre alt und würde weiterleben, bis irgend-ein Unfall ihn tötete oder er des Lebens überdrüssigwürde.

Er wußte nicht, wie es war, krank zu sein. Er hatteniemals Kälte, Hunger oder irgendwelche Mühsal er-fahren. Er kannte weder Furcht noch Haß, weder Ein-samkeit noch Liebe. Er betrachtete sich jetzt im Spie-gel; denn er war sich selbst ein niemals endendes Rät-sel – ein Rätsel, das allein die Langeweile seiner Exi-stenz erleichterte. Er versuchte nicht, dem Rätsel aufden Grund zu gehen. Er genoß es nur, wie ein Kennereinen guten Wein genießt, bedächtig und in kleinenSchlucken.

Das Ebenbild, das er im Spiegel sah, war das Bild

eines Wesens, das keine Alternative hatte, als sichselbst für einen Gott zu halten.

Will Mauston hatte rissige Hände mit dicken, defor-mierten Knöcheln, und tiefe Runzeln um die kleinenAugen. Die Knöchel hatte er an menschlichen undnichtmenschlichen Knochen gebrochen, meistens imKampf um das, was sein war. Die Runzeln um dieAugen waren – wie die grauen Strähnen in seinemHaar – ein Ergebnis endlosen Feilschens und Rech-nens und Sorgens. Bei den seltenen Gelegenheiten,wo er zur Erde zurückkehrte und seine Frau und sei-ne beiden kleinen Kinder besuchte, verschwanden dieRunzeln beinahe ... für ein paar Wochen. Aber dieErde war übervölkert und das Leben dort teuer. Ermußte immer wieder fort, und die Runzeln kamenimmer zurück. Er war noch nicht dreißig Jahre alt.

Von einer Rasse interstellarer Händler, den Kjaka,hatte er von Duhnbar gehört. Die Kjaka waren vonschwerfälligem Körperbau, löwengesichtig und ehr-lich. Er hatte lange schon vermutet, daß es eine solcheWelt geben müsse, wie es auf der Erde vor Zeiten alteStädte wie Samarkand unter den Timuriden gegebenhatte, wo die großen Handelsstraßen zusammenlie-fen. Er hatte gesucht und gefragt, und die Kjaka hat-ten es ihm gesagt. Duhnbar war das Samarkand derSterne. Ein mächtiger Handelsstrom von den hoch-entwickelten Welten der zentralen Galaxis traf hierdraußen mit mehreren peripheren Routen zusam-men, die zu abgelegenen Sternhaufen und außenlie-genden galaktischen Armen führten.

Mauston war allein gekommen, und er war der er-ste Mensch, der Duhnbar erreicht hatte. Zwei oder

drei Reisen hierher, so hoffte er, würden ihm sovielGewinn bringen, daß er sich zur Ruhe setzen und beiseiner Familie bleiben könnte. Die Kjaka waren ehr-lich und hatten ihm die Zollbestimmungen aufDuhnbar erklärt. Sie hatten ihn zu Khal Dohn ge-schickt, einem von ihren Leuten auf Duhnbar, der alsMaustons Agent handeln würde. Will Mauston hattesein gesamtes kleines Vermögen und einen Kredit indie Waren investiert, die er hier verkaufen wollte,und über diese Dinge hatte er mit den Kjaka gespro-chen. Die unbedeutende Sache mit dem purpurnenSchrein hatten sie vergessen. Der Brauch war so gutwie erloschen, die Geldbuße eine bloße Formalität.

Beim Verlassen des Abfertigungsgebäudes sah WillMauston ein verwittertes, tempelartiges Gemäuer,dessen Eingang mit purpurnen Draperien verhängtwar. Vor diesem Eingang stand etwas wie ein Altar,auf dessen Oberfläche kleine purpurne Schnittenrauchten und stanken. Er ging in gebührendem Ab-stand daran vorbei. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt,sich nicht in die Religionen und Bräuche von Leuteneinzumischen, die er nicht kannte.

Als er in einem automatischen Fahrzeug, das aufdie Adresse seines Agenten eingestellt war, durch dieStadt fuhr, überquerte er einen Platz, auf dem ein et-wa zwanzig Meter hoher Kleiderständer aufragte.Was daran hing, waren jedoch keine Kleider, sondernKörper. Nicht alle waren solche der einheimischenRasse, und er war froh, den Ort hinter sich zu lassen.

Nach einstündiger Fahrt erreichte er das Haus desKjaka-Agenten. Es war ein hübsches, zweistöckigesHaus, das einen Innenhof umgab, in dem unbekannteVegetation üppig wucherte. Er und sein Gastgeber

Khal Dohn saßen auf einem Innenbalkon über demHof und sprachen. Der Agent aß ein kugeliges, nar-kotisches Gewürz, das bei seinesgleichen beliebt war,und sorgte dafür, daß Mauston mit Äthylalkohol unddestilliertem Wasser bedient wurde. Mauston ver-mischte beides und fügte den Inhalt einer kleinenAmpulle Whiskyaroma hinzu, die er seinem Ta-schenetui entnahm.

Sie begannen eine Diskussion über die Verkauf-schancen für Maustons Waren, und welche Dinge fürden Erlös einzukaufen wären, wobei sie sich der in-terstellaren Handelssprache bedienten. Plötzlichwurden sie von einer Stimme unterbrochen, die in ei-nem für Will Mauston unverständlichen Idiom durchden Innenhof schallte. Khal Dohn lauschte, antwor-tete und wandte sein Löwenhaupt dem Gast zu.

»Wir müssen hinuntergehen«, sagte er.Er führte Mauston ins Erdgeschoß, wo in einer Art

Eingangshalle zwei Vertreter der einheimischen Spe-zies warteten, angetan mit kurzen schwarzen Ge-wändern und silbernen Gürteln mit Degengehängen.An diesen baumelten schwarze Stäbe in silbernenHülsen.

Als Mauston und Khal Dohn die Schneckenrampezu ihnen herunterkamen, richteten die baumlangenFremden ihre goldenen Augen mit sanfter Neugierauf den Menschen.

»Fremder«, sagte einer von ihnen in der Handels-sprache, »du bist unter Arrest.«

Will Mauston blickte verdutzt zu ihnen auf und öff-nete den Mund. Aber Khal Dohn redete bereits in dereinheimischen Sprache auf sie ein; und nach einer

Weile gingen die beiden. Khal Dohn wandte sich umund fragte: »Haben Sie den purpurnen Schrein gese-hen, gleich außerhalb der Abfertigungshalle?«

Auf Maustons verständnislosen Blick beschrieb erdas Gebäude, und Mauston nickte.

»Sind Sie in die Nähe des Schreins gegangen?«»Nein«, sagte Will Mauston. »Ich halte mich immer

fern von solchen Dingen, solange ich nichts über sieweiß.«

Khal Dohn blickte ihn lange an. Die Augen unterseinen schweren, fellbedeckten Fleischfalten warentraurig, dunkel und fremd.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er schließlich. »AberSie sind mein Gast, und ich habe die Pflicht, Sie zuschützen. Wir täten gut daran, einen Bekannten vonmir aufzusuchen – einen, der hier in der Hauptstadtmehr Einfluß hat als ich.«

Er führte Mauston hinaus und zu einem der auto-matischen Fahrzeuge. Unterwegs erklärte er Mau-ston, was es mit dem purpurnen Schrein auf sichhatte.

»Ich verstehe nicht, was plötzlich in sie gefahrenist«, sagte der Kjaka. »Es hätte möglich sein müssen,den Fall durch die Entrichtung des üblichen Bußgel-des zu regeln. Aber sie hatten den ausdrücklichen Be-fehl, Sie festzunehmen.«

Will Mauston fragte: »Warum haben sie es dannnicht getan?«

»Sie sind mein Gast«, sagte Khal Dohn. »Ich habedie Verpflichtung übernommen, daß Sie sich zu ge-gebener Zeit freiwillig stellen werden, während sieauf meine Bitte eingegangen sind, die Richtigkeit desHaftbefehls zu überprüfen.«

Zum erstenmal kam in Will Mauston etwas wie Be-sorgnis auf. »Glauben Sie, daß es wirklich etwasWichtiges ist?« fragte er.

»Nein«, antwortete Khal Dohn. »Nein. Ich binüberzeugt, daß es ein Mißverständnis ist.«

Sie hielten vor einem Gebäude, das dem Haus KhalDohns sehr ähnlich war. Der Handelsagent führteseinen Begleiter eine Rampe hinauf zu einem Raum,der mit überdimensionierten Möbeln angefüllt war.Von einem der großen Stühle erhob sich ein spinnen-haft dünner, vierarmiger Fremder, dessen langeHände mit einem Kranz von jeweils acht Fingern be-setzt waren. Sein Gesicht war schmal und lang wiedas eines Pferdes. Er war wenigstens zweieinhalbMeter groß und trug dunkelrote Kleider. Ein Dolchhing an seiner Seite.

»Du bist wie immer mein Gast, Khal Dohn!« rief er.Seine Stimme war hoch und kreischend. Er ge-brauchte die Handelssprache, aber er sprach denNamen Khal Dohns mit einer Geläufigkeit aus, dieWill Mauston nicht erreichte. »Und wen darf ich alsden Gast meines Gastes begrüßen?«

»Sein Name«, sagte Khal Dohn, »ist Will Mau...Mauz-zon.«

»Willkommen«, sagte der Lange. »Ich bin Avoa.Was gibt es?«

»Etwas, das ich nicht verstehe.« Khal Dohn schal-tete auf die Landessprache von Duhnbar um, undMauston konnte nichts mehr verstehen.

»Ich werde der Sache nachgehen«, rief Avoa amEnde des kurzen Gesprächs wieder in der Handels-sprache. »Komm morgen früh, Khal Dohn. Bring ihnmit.«

»Ihn«, sagte Khal Dohn. »Ich werde ihn bringen.«»Gewiß. Gewiß. Kommt zusammen. Ich werde

dann Nachricht für euch haben. Es kann nichts Ern-stes sein.«

Sie kehrten zum Haus Khal Dohns zurück und saßenwieder auf dem Innenbalkon, während der Sonnen-untergang den Himmel verfärbte.

»Sind Sie sicher, daß es keinen Grund zur Besorg-nis gibt?« fragte Mauston.

»Ganz sicher.« Khal Dohn befingerte eine seinernarkotischen Kugeln. »Die Gesetze hier sind streng,aber es gibt keine Justizwillkür. Und wenn es einMißverständnis gegeben hat, dann kann Avoa es auf-klären.«

Sie setzten ihr geschäftliches Gespräch fort, das vonden Polizeibeamten unterbrochen worden war, wäh-rend überall in der Stadt die Lichter erglühten. Späternahmen sie gemeinsam ihr verschiedenartigesAbendessen ein und trennten sich für die Nacht.

Khal Dohn wies seinem Gast eine bequeme Couchin einem angenehm stillen Raum am Innenhof zu.Aber Will Mauston entdeckte, daß er nicht einschla-fen konnte. Er war ein Mann des Handelns, aber hiergab es nichts zu tun. Er trat auf den Balkon seinesZimmers und blickte in den Hof hinunter.

Der Dschungel fremdartiger Pflanzen und Kletter-gewächse war ein Gewirr aus schwarzen und grauenTönen im Licht eines Vollmonds, der zu klein und zublaß war, um der Mond der Erde zu sein. Er dachtean seine Frau und die zwei Kinder, atmete die unge-wohnte, drückende und schwere Luft, die einen Ge-ruch wie von Schwefelwasserstoff hatte. An seinem

Gürtel war ein Behälter mit Barbituraten, vier Kap-seln Seconal. Er nahm eine und spülte sie mit demschalen destillierten Wasser hinunter, das sie ihm insein Zimmer gebracht hatten.

Danach schlief er fest und traumlos.

Beim Erwachen fühlte er sich besser; und als er zumFrühstück mit Khal Dohn zusammenkam, machte derAgent einen ruhigen und unbekümmerten Eindruckauf ihn. Sie fuhren gemeinsam zu Avoa. Der vier-armige Fremde trug Kleider in einem helleren, kras-seren Rot, und seine Begrüßung war noch herzlicherals am Vortag.

»Nun«, sagte Will Mauston lächelnd, nachdem sieihre Höflichkeiten ausgetauscht hatten, »was konntenSie über die Situation in Erfahrung bringen?«

Avoa blickte ihn mit einem schwer zu deutendenAusdruck an, dann wandte er sich zu Khal Dohn undbegann schnell und schrill in der einheimischen Sprachezu reden. Der Agent antwortete. Nach einer Weileverstummten sie und blickten wortlos zu Mauston.

»Was ist passiert?« sagte der. »Was ist los?«»Es tut mir leid«, sagte Khal Dohn zögernd. »An-

scheinend ist nichts zu machen.«Will Mauston starrte ihn an. Die Worte schienen

keinen Sinn zu ergeben. »Es ist nichts zu machen?«fragte er. »Was meinen Sie?«

»Es tut mir leid«, sagte Khal Dohn noch einmal.»Ich meine, Avoa kann nichts machen.«

»Nichts?« sagte Mauston.Die zwei Fremden schwiegen und beobachteten ihn

weiter. Auf einmal verlagerte Avoa sein Gewicht undmachte eine halbe Drehung zur Tür.

»Ich bedaure!« rief er schrill. »Ich bedaure sehr.Aber es ist eine Situation außerhalb meines Einflus-ses. Ich kann nichts tun.«

»Warum nicht?« platzte Mauston heraus. Er fuhrherum und starrte Khal Dohn an. »Was ist los? Siesagten mir, es gebe keine Justizwillkür. Ich wußtenichts über den Schrein!«

»Ja«, sagte Khal Dohn. »Aber dies ist nicht eine Sa-che der Justiz. Ihr Direktor hat einen Befehl gegeben.«

»Direktor?« Das Wort summte tödlich in Will Mau-stons Ohren. »Derjenige auf dem Thron? Was hat erdamit zu tun?«

»Es war ein Befehl«, sagte Avoa in seiner durch-dringenden Stimme. »Nachdem er von Ihrer Unter-lassung hörte. Dem alten Gesetz soll wieder volleGeltung verschafft werden. Von nun an werden Neu-ankömmlinge gewarnt. Sie sind fair hier.«

»Fair!« knirschte Mauston. »Was ist mit mir? Weißdieser Direktor nichts über mich? Was ist er über-haupt?«

Khal Dohn und Avoa blickten einander an.»Diese Leute hier«, sagte Khal Dohn bedächtig,

»kontrollieren den Handel in jeder Richtung überLichtjahre hinweg. Nicht wegen irgendeiner besonde-ren, ihnen innewohnenden Tugend oder Genialität,sondern wegen des Zufalls ihrer günstigen Positionals Verkehrsknotenpunkt zwischen den Sternen. Siewissen es, und man muß ihnen zugestehen, daß sieihren Vorteil maßvoll zu nutzen verstehen.«

»Ihr Symbol«, fuhr Khal Dohn fort, »ist der Direk-tor. Er ist die Verkörperung ihrer Macht, die letzte In-stanz im Universum. Seine Weisungen werden ohneZögern ausgeführt. Er könnte ihnen allen befehlen,

sich selbst die Kehlen durchzuschneiden, und siewürden es tun, ohne nachzudenken. Aber natürlichwird er es nicht tun. Er ist vernünftig und von höch-ster Intelligenz. Aber das einzige Gesetz, das er kennt,ist sein eigenes.«

»Er ist uralt, und gewöhnlich tut er gar nichts«,sagte Avoa. »Wir interessieren und amüsieren ihn,und so läßt er uns nach Belieben Handel treiben.Natürlich weiß er auch, daß seine Welten ihrenWohlstand dem Handel verdanken, und diese Über-legung hält ihn gleichfalls zur Toleranz an. Aberwenn er wirklich einmal handelt, dann gibt es keineBerufung. Es ist ein Risiko, das wir alle tragen. Siesind nicht der einzige.«

»Aber ich habe eine Frau und Kinder ...« Maustonbrach ab. Der Gedanke an seine Familie trieb ihm dasWasser in die Augen. Plötzliche Verzweiflung kam mitder Erkenntnis seiner hoffnungslosen Lage. Was wuß-ten diese zwei von Frauen und Kindern oder von derErde? Ohne sein Einkommen wäre seine Familie zurAuswanderung gezwungen. Eine Erinnerung an dasbittere, rauhe und öde Leben auf den Grenzplanetenkam wie erstickender Rauch in sein Bewußtsein.

»Warten Sie«, sagte er, als Avoa sich zum Gehenwandte. Er zwang sich, nicht zu schreien. »Es mußjemanden geben, an den ich mich wenden kann. Ichmöchte ein Gnadengesuch einreichen. Khal Dohn, ichbin Ihr Gast ...«

»Sie sind mein Gast«, sagte Khal Dohn. »Aber vordiesem Entscheid kann ich Sie nicht schützen. Es istwie ein Naturereignis, eine höhere Gewalt, vor derich nicht einmal mich selbst schützen könnte.«

Er blickte Mauston aus seinen dunklen, fremden

Augen an, denen nicht anzusehen war, welche Ge-fühle ihn bewegten. »Der reine Zufall hat Sie ausge-wählt, mein Freund – der Zufall, daß der Direktorvon Ihnen und dem Schrein hörte, als er sich in einerbestimmten Gemütslage befand. Alle, die das riskanteGeschäft des Handels zwischen den Sternen betrei-ben, kennen die Gefahr des Todes. Sie müssen diesesRisiko einkalkuliert haben, wie ein guter Kaufmannes tun sollte.«

»Nicht so ...«, sagte Mauston durch zusammenge-bissene Zähne, aber Avoa unterbrach ihn.

»Ich muß gehen«, sagte er. »Ich habe Verabredun-gen auf dem Balkon des Thronsaals. Khal Dohn, gibihm alles, was ihm diese letzten Stunden angenehmmachen kann. Mein Haus kommt dafür auf. Wirmüssen ihn bis Mittag der Polizei überstellen.«

»Nein!« rief Will Mauston dem Fremden nach.»Wenn niemand sonst mich retten kann, dann willich selbst zu ihm gehen!«

»Zu ihm?« sagte Khal Dohn. Avoa machte plötzlichhalt und kam langsam zurück.

»Zum Direktor«, sagte Will Mauston. Er blickte voneinem zum anderen. »Ich werde ihn um Gnade bitten.«

Khal Dohn und Avoa tauschten Blicke aus. EinePause folgte.

»Nein«, sagte Avoa endlich. »Es wird nie gemacht.Niemand spricht zu ihm.« Er wollte wieder gehen.

»Warten Sie.« Es war Khal Dohn. Avoa warf ihmeinen scharfen Blick zu. Khal Dohn machte eine ent-schuldigende Geste und sagte: »Will Mauston istmein Gast.«

»Er ist nicht mein Gast«, erwiderte Avoa.»Ich bin dein Gast«, sagte Khal Dohn.

Avoa starrte lange auf den Löwengesichtigen her-ab. Plötzlich sagte er etwas Kurzes, Scharfes in derSprache der Einheimischen.

Khal Dohn antwortete nicht.»Er ist bereits tot«, sagte Avoa nach einer weiteren

Pause mit einem Blick zu Mauston, »und als Toterkann er keinen weiteren Einfluß auf uns haben. Duverschwendest deinen Kredit bei mir.«

Wieder blieb Khal Dohn stumm und ohne Bewe-gung. Avoa ging hinaus.

»Mein Gast«, sagte Khal Dohn, indem er sichschwerfällig auf einen der übergroßen Stühle sinkenließ, »Sie haben wenig Grund zur Hoffnung.«

Danach saß er still. Mauston lief im Raum auf und ab.Gelegentlich blickte er auf seine Armbanduhr. Siezeigte zweidreiviertel Stunden bis Mittag, als einSummton irgendwo aus der Wand kam und AvoasStimme etwas Unverständliches sagte.

Khal Dohn stand auf und sagte: »Sie haben IhreAudienz, mein Freund. Trotzdem würde ich von ver-frühten Hoffnungen abraten. Für den Direktor bestehtkein Grund, seine Entscheidung zurückzunehmen.«

Er brachte Mauston in einem der kleinen automati-schen Taxis zum Thronsaal. Im Innern des Portals,wo die Treppe zum Balkon hinaufführte, verließ erMauston.

»Ich werde oben warten«, sagte er. »Viel Glück,mein Freund.«

Will Mauston ging zögernd weiter. Am Ende desSaals sah er die Estrade und den Direktor. Er nähertesich ihm durch die Menge, die kaum von ihm Notiznahm, aber als er schließlich am Rand der Estrade

angelangte, war niemand in seiner Nähe. KeinHändler wagte sich so nahe an den Direktor heran.

Mauston blickte auf. Über ihm beugte sich der ho-he, grünliche Schädel mit den riesigen goldenen Au-gen ein wenig vorwärts, um ihm ins Gesicht zu se-hen. Mauston öffnete den Mund zum Sprechen, docheiner der Eingeborenen hinter dem Thron, der die sil-berne Halskette des Kammerdieners trug, trat auf einFingerzeigen des Direktors vor.

»Warte«, sagte der Kammerdiener in der Handels-sprache. Mauston wartete, während es hinter ihmallmählich still wurde. Er begann zu schwitzen, alsdie Stille sich dehnte. Er wußte, daß viele hundertAugenpaare auf seinen Rücken starrten, und erblickte unglücklich und gefangen in seiner Einsam-keit geradeaus, unfähig zu einer Bewegung. Zuletztentstand eine Unruhe in seinem seitlichen Blickfeld,und zwei Einheimische erschienen, einer mit einemkleinen Stuhl, einer mit einem röhrenartigen Behälter.

»Sitze«, sagte der Kammerdiener. »Trinke. Der Di-rektor hat es gesagt.«

Ohne recht zu wissen, wie, fand Mauston sich aufdem Stuhl, den Flüssigkeitsbehälter in der Hand. DerGeruch von wasserverdünntem Alkohol kam in seineNase, und einen Augenblick verspürte er einen hyste-rischen Lachreiz. Er nippte aus der Röhre.

»Was sagst du?« fragte der Kammerdiener.Mauston hob sein Gesicht zum unveränderten Ge-

sicht des Direktors. Die großen goldenen Augen be-trachteten ihn, unzugänglich und rätselvoll wie dieeiner Sphinx.

»Ich habe nicht absichtlich ein Verbrechen began-gen«, sagte Mauston.

»Der Direktor«, antwortete der Kammerdiener,»weiß dies.«

»Ich kam in Geschäften hierher«, sagte er, »dengleichen Geschäften, die so viele Händler aus allenGegenden nach Duhnbar führen. Diese Welt und derHandel sind eng miteinander verbunden. OhneDuhnbar wäre der Austausch von Waren und Ideenzwischen den fernen und isolierten Regionen derGalaxis schwierig oder gar unmöglich. Und würdenDuhnbar und seine Schwesterwelten ohne den Han-del sein, was sie sind?«

Er blickte auf, wartete auf eine Reaktion.»Der Direktor«, sagte der Kammerdiener, »ist sich

dessen bewußt.«»Nun«, sagte Mauston, »wenn die fremden Händ-

ler hier die Gesetze und Bräuche von Duhnbar re-spektieren, sollte Duhnbar dann nicht die Leben jenerrespektieren, die kommen, um Handel zu treiben?«Er starrte in die goldenen Augen, aber er konnte kei-nen Unterschied in ihnen entdecken, keine Reaktion.Sie schienen still zu warten. Er holte tief Atem. »DerTod ist ...«

Er brach ab. Der Direktor hatte sich auf seinemThron bewegt. Er neigte sich vorwärts, bis sein Ge-sicht nur noch eineinhalb Meter von Maustons ent-fernt war. Er sprach in der Handelssprache, in einerlangsamen, tiefen, unerwartet klangvollen Stimme.

»Der Tod«, sagte er, »ist die letzte neue Erfahrung.«Er ließ sich langsam in seinen Thron zurücksinken.

Der Kammerdiener sprach.»Du wirst jetzt gehen«, sagte er.Will Mauston starrte ihn an, die Röhre mit Alkohol

und Wasser in der Hand.

»Du wirst gehen«, wiederholte der Kammerdiener.»Du bist frei bis Mittag und zum Augenblick deinerFestnahme.«

Maustons Kopf fuhr hoch. Er sprang von seinemStuhl auf.

»Seid ihr alle verrückt?« schrie er den Kammerdie-ner an. »Ihr könnt so etwas nicht ungestraft tun! Mei-ne Leute schützen ihre eigenen.«

Er verstummte plötzlich. Die Unsinnigkeit seinerDrohung war so offenbar, daß e s des unbewegten Ge-sichts des Kammerdieners nicht bedurfte, um ihn zurEinsicht zu bringen. Er fühlte eine Übelkeit im Magen.

Der Kammerdiener sagte: »Es ist verständlich, daßdu nicht sterben möchtest. Du wirst jetzt gehen, oderich werde dich wegführen lassen.«

Etwas zerbrach in Will Mauston. Benommen undstumpf wandte er sich weg. Blindlings tat er die er-sten Schritte zum fernen Portal.

»Warte.«Des Kammerdieners Stimme drehte ihn herum.»Komm zurück«, sagte der Kammerdiener. »Der

Direktor will dich sprechen.«Halb betäubt kam er zurück. Der Direktor neigte

sich wieder vorwärts und zu ihm herab.»Du wirst nicht sterben«, sagte der Direktor.Will Mauston stierte verständnislos in das fremd-

artige Gesicht auf. Die Worte klangen und echotenwie seltsame Geräusche in seinen Ohren.

»Du wirst leben«, sagte der Direktor. »Und wennich von Zeit zu Zeit nach dir schicke, wirst du wie-derkommen und mit mir sprechen.«

Will Mauston fuhr fort, in die goldenen Augen zu

starren. Er fühlte die glatte, weiche Röhre mit Flüs-sigkeit in seiner rechten Hand, und er fühlte sie unterdem krampfhaften Druck seiner Finger nachgeben. Eröffnete seine Lippen, aber keine Worte kamen an dengespannten Muskeln seiner Kehle vorbei.

»Es ist interessant«, sagte die tiefe, tönende Stimmedes Direktors, und seine großen goldenen Augenblickten auf Mauston herab, »daß du mich nicht ver-stehst. Es ist interessant, mich dir zu erklären. Dugibst mir Gründe, warum du nicht sterben solltest.«

»Gründe?« Das Wort schlüpfte heiser zwischenMaustons trockenen Lippen hinaus. Wie durch einWunder fühlte er in der Asche seiner Verzweiflungdie winzige Wärme einer neuen Hoffnung.

»Gründe«, sagte der Direktor. »Du gibst mir Grün-de. Und es gibt keine Gründe. Es gibt nur mich.«

Die Hoffnung flackerte und zuckte schwächlich inihrem Griff nach dem Leben.

»Ich werde dich jetzt verstehen machen«, sagte dietiefe und gemessene Stimme des Direktors. »Ich bines, der für alles verantwortlich ist, was hier geschieht.Ich bewege alle Dinge. Etwas anderes gibt es nicht.«

Die goldenen Augen blickten in Maustons.»Es war meine Laune«, fuhr der Direktor fort, »daß

das alte Strafgesetz über die Mißachtung des purpur-nen Schreins wieder mit Inhalt erfüllt werde. Da ichso entschied, war dein Tod unvermeidlich. Dochwenn ich entscheide, folgt alles unaufhaltsam.«

Mauston stand unbewegt, die Muskeln seines Nak-kens steif wie Eisenklammern.

»Doch dann«, sagte die tiefe Stimme unter denwundervollen Augen, »als du gingst, kam mir einanderer Gedanke in den Sinn. Daß du mich bei künf-

tigen Gelegenheiten wieder interessieren könntest.«Er hielt inne.»Wieder«, sagte er, »folgte daraus alles. Wenn du

mich in der Zukunft interessieren solltest, dannkonntest du nicht sterben. Und so wirst du leben.Und nun verstehst du.«

Ein Hauch von Nachdenklichkeit umwölkte seinegoldenen Augen.

»Ich habe heute etwas mit dir getan«, sagte er, bei-nahe zu sich selbst, »was ich noch nie zuvor getanhabe. Es ist ganz neu. Ich habe dich wissen lassen,was du bist. Ich habe eine Kreatur genommen, dienicht einmal meiner Rasse angehört, und sie zu demVerstehen geführt, daß sie weder Leben noch Todnoch eigene Beweggründe hat, außer denen, die mei-ne Wünsche vorschreiben.«

Er schwieg. Mauston stand wie angewurzelt.»Fürchte dich nicht«, sagte der Direktor. »Ich habe

dich getötet. Aber ich habe in deinem Körper eineandere Kreatur zum Leben gebracht, eine, die ver-steht. Eine, die noch viele Jahre auf dieser meinerWelt gehen wird, bevor sie stirbt.«

Ein Blitz zuckte durch Will Maustons Kopf und blen-dete ihn. Er hörte sich selbst in sinnloser Wut brüllen,unartikulierte, halb erstickte Schreie. Er schleudertedie Röhre und sah die Flüssigkeit ins ausdrucksloseGesicht des Direktors spritzen und die Röhre vomhimmelblauen Gewand unter dem Gesicht abprallenund auf die Estrade rollen.

Bewegung ging wie ein Ruck durch die Reihe derWürdenträger hinter dem Thron, ein lautloses Keu-chen, wie wenn die Luft sich plötzlich verändert hät-

te. Ihre Hände waren zu den schwarzen Stäben ge-fahren, aber dort hingen sie, ohne die Bewegung zuvollenden.

Der Direktor hatte sich nicht bewegt. Der verwäs-serte Alkohol troff von seinem Kinn und von seinerNase, doch seine Züge waren unverändert, seineHände ruhten wie zuvor auf den Armlehnen seinesThronsessels. Kein Finger gab das Zeichen.

Er fuhr fort, Mauston anzusehen. Nach langen Se-kunden wandte sich Mauston um. Er war sich nichtganz im klaren, was er getan hatte, aber nach seinemschnell verpufften Wutausbruch glühte ein trotzigesund zorniges Feuer in ihm.

Er ging durch die lange Halle zum Portal, vorbei ander stumm gaffenden Menge der Händler. Keinerbewegte sich.

Schritt für Schritt ging er durch die Halle, durchdas riesige Portal hinaus in den blendenden Tag. Erkam die breite Freitreppe halb hinunter, bevor derDirektor seinen Finger hob, die Botschaft den Wachendraußen signalisiert wurde, und die schwarzen Stäbeihn mit Flammen im Sonnenlicht niederschossen.

Auf dem Balkon über der Freitreppe wandte Avoaseine Augen von dem ab, was von Will Mauston üb-riggeblieben war, und richtete sie auf Khal Dohn.

»Sag mir, Khal Dohn, was war er?« fragte er. »Dusagtest es mir, aber ich habe es vergessen. Ich hätteaufmerksamer zuhören sollen, doch ich versäumte es.Wie nanntest du ihn – was war er?«

Khal Dohn hob seinen Kopf und blickte zu Avoa auf.»Er war ein Mensch«, sagte Khal Dohn.

ENDE

Als nächstes TERRA-Taschenbuch erscheint:

DIE PSI-AGENTEN

von Dan Morgan

Gedankenspione unter uns –Menschen werden zu Verrätern wider Willen.

Eine unbekannte Macht schlägt zu

Dr. Richard Havenlake und Peter Moray von der Gruppe derPsi-Forscher werden vom Geheimdienst gezwungen, ihreKräfte zur Entdeckung von Hochverrätern im Bereich derLandesverteidigung und Rüstungsindustrie einzusetzen.Aber bevor es den beiden Männern gelingt, die Gedanken desHauptverdächtigen zu durchforschen, wird dieser durch dasEinwirken einer fremden Psi-Macht getötet.

Ein winziger Hinweis im Gehirn des Toten führt Peter Morayzu einem jungen Mädchen mit ganz speziellen Fähigkeiten –und zu einem sanftmütigen Jogi, der andere Menschen glück-lich machen will.

Nach DAS LABOR DER ESPER (TERRA-Taschenbuch 164)und ESPER IN AKTION (TERRA-Taschenbuch 189) legt derAutor hier einen neuen, völlig in sich abgeschlossenen Romanüber die Gruppe der Esper und Psi-Forscher vor.

Terra-Taschenbuch Nr. 192 in Kürze überall im Zeitschrif-ten- und Bahnhofsbuchhandel erhältlich. Preis DM 2,80.