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Gott im Horizont der Existenz des Menschen Das Gottesverständnis der Neuzeit Karl Barth (Primärtexte zu Sachwissen Religion, 162-164) 123 Religion ist Unglaube Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muss geradezu sagen: die Angelegenheit des gott- losen Menschen [...]. Dieser Satz kann nach dem Vor- angehenden nichts zu tun haben mit einem negativen Werturteil. Er enthält kein religionswissenschaftliches und auch kein religionsphilosophisches Urteil, das in irgendeinem negativen Vorurteil über das Wesen der Religion seinen Grund hätte. Er soll nicht nur irgend- welche andere mit ihrer Religion, sondern er soll auch und vor allem uns selbst als Angehörige der christlichen Religion treffen. Er formuliert das Urteil der göttlichen Offenbarung über alle Religion. Er kann darum wohl er- klärt und erläutert, aber weder aus einem höheren Prin- zip als eben aus der Offenbarung abgeleitet, noch an Hand einer Phänomenologie oder Geschichte der Reli- gion bewiesen werden. Er bedeutet, gerade weil er nur das Urteil Gottes wiedergeben wollen kann, kein menschliches Absprechen über menschliche Werte, keine Bestreitung des Wahren, Guten und Schönen, das wir bei näherem Zusehen in fast allen Religionen ent- decken können und das wir natürlich in unserer eigenen Religion, wenn wir ihr überzeugt anhängen, in beson- ders reichem Maß zu finden meinen. Wo es sich schlicht darum handelt, dass der Mensch von Gott angegriffen, von Gott verurteilt und gerichtet ist, da sind wir freilich in der Wurzel, im Herzen getroffen, da steht freilich das Ganze und Letzte unserer Existenz in Frage, da kann aber gerade darum die wehmütige oder auch wehleidige Klage über Verkennung relativer menschlicher Größe keinen Raum haben. [...] Um zu verstehen, dass Religion wirklich Unglaube ist, müssen wir sie von der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung her sehen. [...] Die Offenbarung ist Gottes Selbstdarbietung und Selbstdarstellung. Die Offenbarung widerfährt dem Menschen unter Voraussetzung und in Bestätigung der Tatsache, dass die Versuche des Menschen, Gott von sich aus zu erkennen, zwar nicht auf Grund einer prinzi- piellen, wohl aber auf Grund einer praktisch faktischen Notwendigkeit allgemein und gänzlich – umsonst sind. In der Offenbarung sagt Gott dem Menschen, dass er Gott und dass er als solcher sein, des Menschen, Herr ist. Sie sagt ihm damit etwas schlechterdings Neues, etwas, was er ohne Offenbarung nicht weiß und andern und sich selbst nicht sagen kann. [...] Dieses Zu-uns-Kommen der Wahrheit ist eben die Offenbarung. Sie trifft uns aber nicht in einem neutralen Zustand, sondern in einem Tun, das zu ihr als dem Zu- uns-Kommen der Wahrheit in einem ganz bestimmten, ja entschiedenen Verhältnis steht. Sie trifft uns nämlich als religiöse Menschen, d.h. sie trifft uns mitten in jenem Versuch, Gott von uns aus zu erkennen. Sie trifft uns also nicht in dem ihr entsprechenden Tun. Das der Offenbarung entsprechende Tun müsste ja der Glaube sein: die Anerkennung der Selbstdarbietung und Selbst- darstellung Gottes. Wir müssten es sehen, dass im Blick auf Gott all unser Tun umsonst ist auch in dem besten Leben, d.h. dass wir von uns aus nicht in der Lage sind, die Wahrheit zu ergreifen, Gott Gott und unseren Herrn sein zu lassen. Wir müssten also auf alle Versuche ver- zichten, diese Wahrheit nun doch ergreifen zu wollen. Wir müssten einzig und allein dazu bereit und entschlos- sen sein, die Wahrheit zu uns reden zu lassen und also von ihr ergriffen zu werden. Dazu sind wir aber gerade nicht bereit und entschlossen. Gerade der Mensch, zu dem die Wahrheit wirklich gekommen ist, wird zuge- stehen, dass er keineswegs bereit und entschlossen war, sie zu sich reden zu lassen. Gerade der Glaubende wird nicht sagen, dass er aus dem Glauben zum Glauben ge- kommen sei, sondern eben – aus dem Unglauben. Obwohl und indem doch die Haltung und das Tun, das er der Offenbarung entgegenbrachte und noch entgegen- bringt, Religion ist. Aber eben die Religion des Men- schen als solche wird durch die Offenbarung, wird im Glauben an die Offenbarung aufgedeckt als Widerstand gegen sie. Religion von der Offenbarung her gesehen wird sichtbar als das Unternehmen des Menschen, dem, was Gott in seiner Offenbarung tun will und tut, vorzu- greifen, an die Stelle des göttlichen Werkes ein mensch- liches Gemächte zu schieben, will sagen: an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offen- barung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott, das der Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst ent- worfen hat. [...] Würde er glauben, so würde er hören; in der Reli- gion redet er aber. Würde er glauben, so würde er sich etwas schenken lassen; in der Religion aber nimmt er sich etwas. Würde er glauben, so würde er Gott selbst für Gott eintreten lassen; in der Religion aber wagt er jenes Greifen nach Gott. Weil sie dieses Greifen ist, darum ist die Religion Widerspruch gegen die Offenba- rung, der konzentrierte Ausdruck des menschlichen Un- glaubens, d.h. die dem Glauben gerade entgegengesetzte Haltung und Handlung. Sie ist der ohnmächtige, aber auch trotzige, übermütige, aber auch hilflose Versuch, mittels dessen, was der Mensch wohl könnte, aber nun gerade nicht kann, dasjenige zu schaffen, was er nur kann, weil und wenn Gott selbst es ihm schafft: Erkenntnis der Wahrheit, Erkenntnis Gottes. 124 Der ganz andere Gott Wir meinen zu wissen, was wir sagen, wenn wir »Gott« sagen. Wir weisen ihm die höchste Stelle in unsrer Welt zu. Wir stellen ihn damit grundsätzlich auf eine Linie mit uns und mit den Dingen. Wir meinen, er »bedürfe jemandes«, und wir meinen, unsre Beziehung zu ihm ordnen zu können, wie wir andre Beziehungen ordnen. Wir schieben uns zudringlich in seine Nähe, und wir ziehen ihn unbedenklich in unsre Nähe. Wir erlauben uns, in ein Gewohnheitsverhältnis zu ihm zu treten. Wir erlauben uns, mit ihm zu rechnen, als ob das nichts Be- sonderes wäre. Wir wagen es, uns als seine Vertrauten, Gönner, Sachwalter und Unterhändler aufzuspielen. Wir verwechseln die Ewigkeit mit der Zeit. Das ist das Ehr- furchtslose unsres Gottesverhältnisses. Und es ist unbot- mäßig. Wir selber sind heimlich die Herren in diesem Verhältnis. Es handelt sich uns nicht um Gott, sondern um unsre Bedürfnisse, nach denen sich Gott zu richten hat. Unser Übermut verlangt zu allem andern auch noch Erkenntnis und Zugänglichkeit einer Überwelt. Unser 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 120

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Gott im Horizont der Existenz des MenschenDas Gottesverständnis der Neuzeit

Karl Barth(Primärtexte zu Sachwissen Religion, 162-164)

123 Religion ist Unglaube

Religion ist Unglaube; Religion ist eine Angelegenheit, man muss geradezu sagen: die Angelegenheit des gott-losen Menschen [...]. Dieser Satz kann nach dem Vor-angehenden nichts zu tun haben mit einem negativen Werturteil. Er enthält kein religionswissenschaftliches und auch kein religionsphilosophisches Urteil, das in irgendeinem negativen Vorurteil über das Wesen der Religion seinen Grund hätte. Er soll nicht nur irgend-welche andere mit ihrer Religion, sondern er soll auch und vor allem uns selbst als Angehörige der christlichen Religion treffen. Er formuliert das Urteil der göttlichen Offenbarung über alle Religion. Er kann darum wohl er-klärt und erläutert, aber weder aus einem höheren Prin-zip als eben aus der Offenbarung abgeleitet, noch an Hand einer Phänomenologie oder Geschichte der Reli-gion bewiesen werden. Er bedeutet, gerade weil er nur das Urteil Gottes wiedergeben wollen kann, kein menschliches Absprechen über menschliche Werte, keine Bestreitung des Wahren, Guten und Schönen, das wir bei näherem Zusehen in fast allen Religionen ent-decken können und das wir natürlich in unserer eigenen Religion, wenn wir ihr überzeugt anhängen, in beson-ders reichem Maß zu finden meinen. Wo es sich schlicht darum handelt, dass der Mensch von Gott angegriffen, von Gott verurteilt und gerichtet ist, da sind wir freilich in der Wurzel, im Herzen getroffen, da steht freilich das Ganze und Letzte unserer Existenz in Frage, da kann aber gerade darum die wehmütige oder auch wehleidige Klage über Verkennung relativer menschlicher Größe keinen Raum haben. [...] Um zu verstehen, dass Religion wirklich Unglaube ist, müssen wir sie von der in der Heiligen Schrift bezeugten Offenbarung her sehen. [...]

Die Offenbarung ist Gottes Selbstdarbietung und Selbstdarstellung. Die Offenbarung widerfährt dem Menschen unter Voraussetzung und in Bestätigung der Tatsache, dass die Versuche des Menschen, Gott von sich aus zu erkennen, zwar nicht auf Grund einer prinzi-piellen, wohl aber auf Grund einer praktisch faktischen Notwendigkeit allgemein und gänzlich – umsonst sind. In der Offenbarung sagt Gott dem Menschen, dass er Gott und dass er als solcher sein, des Menschen, Herr ist. Sie sagt ihm damit etwas schlechterdings Neues, etwas, was er ohne Offenbarung nicht weiß und andern und sich selbst nicht sagen kann. [...]

Dieses Zu-uns-Kommen der Wahrheit ist eben die Offenbarung. Sie trifft uns aber nicht in einem neutralen Zustand, sondern in einem Tun, das zu ihr als dem Zu-uns-Kommen der Wahrheit in einem ganz bestimmten, ja entschiedenen Verhältnis steht. Sie trifft uns nämlich als religiöse Menschen, d.h. sie trifft uns mitten in jenem Versuch, Gott von uns aus zu erkennen. Sie trifft uns also nicht in dem ihr entsprechenden Tun. Das der Offenbarung entsprechende Tun müsste ja der Glaube sein: die Anerkennung der Selbstdarbietung und Selbst-darstellung Gottes. Wir müssten es sehen, dass im Blick auf Gott all unser Tun umsonst ist auch in dem besten

Leben, d.h. dass wir von uns aus nicht in der Lage sind, die Wahrheit zu ergreifen, Gott Gott und unseren Herrn sein zu lassen. Wir müssten also auf alle Versuche ver-zichten, diese Wahrheit nun doch ergreifen zu wollen. Wir müssten einzig und allein dazu bereit und entschlos-sen sein, die Wahrheit zu uns reden zu lassen und also von ihr ergriffen zu werden. Dazu sind wir aber gerade nicht bereit und entschlossen. Gerade der Mensch, zu dem die Wahrheit wirklich gekommen ist, wird zuge-stehen, dass er keineswegs bereit und entschlossen war, sie zu sich reden zu lassen. Gerade der Glaubende wird nicht sagen, dass er aus dem Glauben zum Glauben ge-kommen sei, sondern eben – aus dem Unglauben. Obwohl und indem doch die Haltung und das Tun, das er der Offenbarung entgegenbrachte und noch entgegen-bringt, Religion ist. Aber eben die Religion des Men-schen als solche wird durch die Offenbarung, wird im Glauben an die Offenbarung aufgedeckt als Widerstand gegen sie. Religion von der Offenbarung her gesehen wird sichtbar als das Unternehmen des Menschen, dem, was Gott in seiner Offenbarung tun will und tut, vorzu-greifen, an die Stelle des göttlichen Werkes ein mensch-liches Gemächte zu schieben, will sagen: an die Stelle der göttlichen Wirklichkeit, die sich uns in der Offen-barung darbietet und darstellt, ein Bild von Gott, das der Mensch sich eigensinnig und eigenmächtig selbst ent-worfen hat. [...]

Würde er glauben, so würde er hören; in der Reli-gion redet er aber. Würde er glauben, so würde er sich etwas schenken lassen; in der Religion aber nimmt er sich etwas. Würde er glauben, so würde er Gott selbst für Gott eintreten lassen; in der Religion aber wagt er jenes Greifen nach Gott. Weil sie dieses Greifen ist, darum ist die Religion Widerspruch gegen die Offenba-rung, der konzentrierte Ausdruck des menschlichen Un-glaubens, d.h. die dem Glauben gerade entgegengesetzte Haltung und Handlung. Sie ist der ohnmächtige, aber auch trotzige, übermütige, aber auch hilflose Versuch, mittels dessen, was der Mensch wohl könnte, aber nun gerade nicht kann, dasjenige zu schaffen, was er nur kann, weil und wenn Gott selbst es ihm schafft: Erkenntnis der Wahrheit, Erkenntnis Gottes.

124 Der ganz andere Gott

Wir meinen zu wissen, was wir sagen, wenn wir »Gott« sagen. Wir weisen ihm die höchste Stelle in unsrer Welt zu. Wir stellen ihn damit grundsätzlich auf eine Linie mit uns und mit den Dingen. Wir meinen, er »bedürfe jemandes«, und wir meinen, unsre Beziehung zu ihm ordnen zu können, wie wir andre Beziehungen ordnen. Wir schieben uns zudringlich in seine Nähe, und wir ziehen ihn unbedenklich in unsre Nähe. Wir erlauben uns, in ein Gewohnheitsverhältnis zu ihm zu treten. Wir erlauben uns, mit ihm zu rechnen, als ob das nichts Be-sonderes wäre. Wir wagen es, uns als seine Vertrauten, Gönner, Sachwalter und Unterhändler aufzuspielen. Wir verwechseln die Ewigkeit mit der Zeit. Das ist das Ehr-furchtslose unsres Gottesverhältnisses. Und es ist unbot-mäßig. Wir selber sind heimlich die Herren in diesem Verhältnis. Es handelt sich uns nicht um Gott, sondern um unsre Bedürfnisse, nach denen sich Gott zu richten hat. Unser Übermut verlangt zu allem andern auch noch Erkenntnis und Zugänglichkeit einer Überwelt. Unser

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Tun ruft nach tieferer Begründung, nach jenseitiger Be-lobigung und Belohnung. Unsre Lebenslust begehrt nach frommen Stunden, nach Verlängerungen in die Ewig-keit. Indem wir Gott auf den Weltenthron setzen, mei-nen wir uns selbst. Indem wir an ihn »glauben«, recht-fertigen, genießen und verehren wir uns selbst. Unsre Frömmigkeit besteht darin, dass wir uns selbst und die Welt feierlich bestätigen, dass wir uns den Widerspruch andächtig ersparen. Sie besteht darin, dass wir uns unter allen Zeichen der Demut und Ergriffenheit gegen Gott selbst auflehnen. Wir verwechseln die Zeit mit der Ewigkeit. Das ist unsre Unbotmäßigkeit. – Und das ist unser Gottesverhältnis außer und ohne Christus, dies-seits der Auferstehung, bevor wir zur Ordnung gerufen werden: Gott selbst ist als Gott nicht anerkannt, und das, was Gott heißt, ist in Wahrheit der Mensch selbst. Wir dienen dem Nicht-Gott, indem wir uns selbst leben.

125 Theologische Eindeutigkeit

Die biblische Offenbarung des Einen Gottes bewirkt nach Karl Barth eine radikale Götterdämmerung. Sie enthüllt alle anderen Götter von der Antike bis zu Adolf Hitler – als Götzen und gestattet daher keine Toleranz:

Gottes Erkenntnis im Sinn der neutestamentlichen Bot-schaft, die Erkenntnis des dreieinigen Gottes bedeutete im Gegensatz zu der ganzen religiösen Welt der ersten Jahrhunderte und sie bedeutet bis heute: radikalste Göt-terdämmerung, genau das, was Schiller als die Entgötte-rung der »schönen Welt« so ergreifend beklagt hat. Es war nicht aus der Luft gegriffen, wenn das älteste Chris-tentum von seiner Umwelt des Atheismus beschuldigt wurde, und es wäre einsichtiger gewesen, wenn seine Apologeten sich gerade dagegen nicht so eifrig verwahrt hätten. Es ist nicht ohne sachlichen Grund, wenn jede genuine Verkündigung des christlichen Glaubens bis auf diesen Tag als eine Störung, ja Zerstörung gerade des religiösen Aufschwungs, Lebens, Reichtums und Frie-dens empfunden wird. Denn es kann nicht anders sein: Olymp und Walhalla entvölkern sich, wenn wirklich die Botschaft von dem Gott laut und geglaubt wird, der der Einzige ist. Die Figuren jeder religiösen Welt werden dann notwendig profan, verflüchtigen sich dann zuse-hends, müssen dann als bloße Ideen, als Symbole, als Gespenster, als komische Figuren schließlich ihr Dasein fristen und endlich auch als solche der Vergessenheit verfallen. Kein gefährlicherer, kein revolutionärerer Satz als dieser: dass Gott Einer, dass Keiner ihm gleich ist! Alles Bestehende, aber auch alle Veränderung in der Welt lebt ja von Ideologien und Mythologien, von verkappten oder auch offenen Religionen und insofern von allen möglichen vermeintlichen und angeblichen Gottheiten und Göttlichkeiten. An der Wahrheit des Satzes, dass Gott Einer ist, wird das Dritte Reich Adolf Hitlers zu Schanden werden. Wird dieser Satz so ausge-sprochen, dass er gehört und begriffen wird, dann pflegt es immer gleich 450 Baalspfaffen miteinander an den Leib zu gehen. Gerade das, was die Neuzeit Toleranz nennt, kann dann gar keinen Raum mehr haben. Neben Gott gibt es nur seine Geschöpfe oder eben falsche Götter und also neben dem Glauben an ihn Religionen nur als Religionen des Aberglaubens, des Irrglaubens und letztlich des Unglaubens.

126 Die Menschlichkeit Gottes

Er existiert nicht nur unbegreiflich als Gott, sondern auch begreiflich, wie eben ein Mensch – nicht nur überweltlich, sondern auch weltlich, und in der Welt nicht nur himmlisch-unsichtbar, sondern auch irdisch-sichtbar. Er wird und ist, er existiert – wir können dem Satz nicht ausweichen: seine Leugnung bedeutet den schlimmsten Doketismus – objektiv wirklich. Also als ein Ding unter Dingen? Also als solches wie andere Dinge erkennbar, womöglich wissbar? Nun, man kann ihm auch solche Dinglichkeit und dingliche Erkennbar-keit, ja Wissbarkeit, war und ist er ein Mensch in der Welt und als solcher irdisch-sichtbar, nicht etwa abspre-chen. Aber freilich: ein Mensch ist nun einmal nicht nur ein Ding, sondern als Mensch unter Menschen ein menschliches Du, als solches allerdings von allen blo-ßen Dingen verschieden. Gerade als Du ist ein Mensch aber auch nicht etwa nur eine existentiale Bestimmung des Ich, sondern geradezu der Inbegriff aller objektiven Weltwirklichkeit. Und nun wird und ist in Jesus Christus Gott Mensch, aller Menschen Mitmensch. Als Gott nicht irgendeiner unter vielen Mitmenschen und wieder auch nicht nur als die Idee der Mitmenschlichkeit. Vom »Sohn des Vaters, Gott von Art« reden wir ja. Er wurde und ist Mensch und aller Menschen Mitmensch: und darum Du nicht in einfacher, sondern in potenziert objektiver Wirklichkeit, das menschliche Du, das als solches unmittelbar auch das Du des einen, ewigen Gottes ist. Nicht irgendein Mensch hat es da mit Recht oder Unrecht an sich genommen, die objektive Wirk-lichkeit dieses menschlichen Du zu sein, und nicht irgendein Mensch ist da von anderen als die objektive Wirklichkeit dieses Du aufgefasst, verstanden, interpre-tiert worden. Sondern Gott hat es in seinem tiefen Erbar-men und in dessen hoher Macht auf sich genommen, in seinem Sohn auch in menschlichem Sein und Wesen zu existieren und also ein Mensch und also dieses mensch-liche Du ohnegleichen zu werden und zu sein. Gott selbst ist weltlich, irdisch, begreiflich, sichtbar, indem dieser Mensch es ist. Mit Gott selbst haben wir es zu tun, wenn und indem wir es mit diesem Menschen zu tun haben. Gott selbst spricht, wenn dieser Mensch in menschlicher Sprache spricht. Gott selbst handelt und leidet, wenn dieser Mensch menschlich handelt und leidet. Gott selbst triumphiert, wenn dieser als Mensch triumphiert. Und darum geht das menschliche Sprechen, Handeln, Leiden und Triumphieren dieses einen Men-schen uns unmittelbar an, darum ist seine menschliche Geschichte unsere, die die ganze menschliche Situation verändernde Heilsgeschichte, weil Gott selbst in seinem Sohn ihr menschliches Subjekt ist, weil Gott selbst in seinem Sohn unsere Art und Natur angenommen und sich zu eigen gemacht hat, weil damit Gott selbst in seinem Sohn unseresgleichen »ein Gast in der Welt hier ward«.

Quelle: H. Freudenberg / K. Goßmann, Sachwissen Religion Texte, Göttingen 1989, 109-112

Doketismus [griechisch dokein, „scheinen“], eine schon vom 1. Johannesbrief (4,3) bekämpfte und von der Auffassung der Materie als niedrig und böse ausgehende Lehre, die Christus nur einen Scheinleib zuerkennt; daher seien Leiden und Tod am Kreuz auch nur scheinbar. Die Doketen gingen später im Gnostizismus und Manichäismus auf. (dtv-Lexikon 2006)

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