"Graffiti" - Lion Magazin (2003)

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Deutsche Ausgabe Januar 2003 Graffiti Schmiererei oder Geniestreich? Bilder aus dem Distrikt 111-N Seite 40

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Artikel über Graffiti im "Lion Magazin" | 2003 | Language: German

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DeutscheAusgabe

Januar2003

GraffitiSchmiererei

oder Geniestreich?Bilder aus dem Distrikt 111-N

Seite 40

40 JANUAR 2003

Graffiti – Reizwort und dennochaus dem modernen urbanen Lebeneinfach weder wegzudenken, nochoffensichtlich zu verbannen. Beinäherer Betrachtung ist Graffiti aller-dings in der Tat eine Kunst und wieich finde, eine der interessantestenund lebendigsten Neuentwicklungin der Kunst-Szene in den letzten30 Jahren.

Es ist eine Kunst, die genau wieandere moderne Kunst ein Spektrumumfasst, von Stümpern bis zu Kön-nern, von Schmierfinken bis zugroßen Künstlern.

Kunst kommt auch hier von Kön-nen, aber auch von Kennen. Ein vor-urteilsloser Umgang mit dem Themaist zugegebenermaßen schwierig,aber es lohnt sich, die Augen aufzu-machen.

Die Provokation beruht darauf,dass sich Graffiti zum großen Teil imöffentlichen Raum abspielt, vielfachillegal und das auf Untergründen,die nicht notwendigerweise anonymsind, sondern öffentlicher oder pri-vater Besitz sind, woraus sich eineverständliche Spannung ergibt.

Graffiti (aus dem italienischen: ge-kratztes) hat es schon seit Anbeginnder Menschheit gegeben. Immerhaben Menschen sich selbst, ihreUmwelt, Träume, Fantasie oderBeschwörungen, Schönes, Witzigesoder Karikaturenhaftes dargestellt.

Das fängt bei den Steinzeit-menschen an, siehe die Höhlen-

Graffiti, wie wir es heute kennen,entstand, wenn man dieses unbedingteinkreisen will, im New York der70er Jahre des letzten Jahrhunderts.

Die sich lockernden Familienstruk-turen, Arbeits- und Perspektivlosig-keit, wegfallende Autorität von Elternund Gesellschaft und die Tatsache,dass sich ein reiches Potenzial von frei-en Wänden bot, zog gewissermaßenzwangsläufig die Explosion mensch-licher Kreativität in diese Richtung.

Junge Menschen fingen an das zutun, was Menschen immer getanhaben: sich und ihre Lebensgefühleund Kunst darzustellen.

Ich meine auch, dass moderneArchitektur vielfach fragwürdigeResultate gezeitigt hat. Es ist sichernicht immer nachvollziehbar, wel-chen ästhetischen Wert eine nackteSichtbetonwand oder einfarbigegraue Rauputzwände haben sollenund welche Faszination ausgehensoll von großflächigen monotonen,monochromen Oberflächen.

Die Natur kennt kein Vakuum,auch wenn es nur ein optisches ist.

Es ist für mich völlig nachvollzieh-bar, dass diese Flächen umgekehrtprovozieren und nach Dekorationschreien. Ich sage dieses einfach sovöllig wertfrei, ohne allerdings derIllegalität das Wort reden zu wollen.

Tatsache ist jedoch: ob wir eswollen oder nicht, Graffiti ist ein Teilunseres modernen städtischen Lebens,ob illegal oder legal.

malereien, die Etrusker und klassi-sche Zeit.

Bis hin zur Moderne sind geplan-te, intuitive oder andere Manifesta-tionen menschlicher Fantasie inWorten oder Bildern auf Mauern,Säulen und Felsen, aber auch imInnenbereich auf Türen, in Aufzügenetc. etc. dargestellt worden. Insofernist auch das moderne Graffiti nur eineFortsetzung dieses offensichtlichzutiefst menschlichen Ausdrucksvon Kreativität.

Sie reicht von den zahlreichenhingehauenen „Tags“, also Initialenoder Kürzeln mit Filzstift oder Spray-dose, die uns an unseren eigenenHauswänden und Zäunen meistensärgern, und die seriell in U- und S-Bahnen, auf Säulen und Haus-wänden erscheinen, bis hin zuelaboraten Kunstwerken, häufig so-gar Auftragswerken von angesehe-nen Unternehmen sowohl als Buch-stabenfolge, figürlichen Darstellun-gen oder Szenerien.

Die Auswahl an hier veröffentlich-ten Fotos möge das belegen.

Warum ist eine Wand, die heutemühsam gereinigt ist, umgehendwieder „verschmutzt“ im gutbürger-lichen Deutsch?

Weil wir es hier mit einem gesell-schaftlichen Phänomen zu tunhaben, das aus unserer gegenwärti-gen Sozialstruktur stammt und seineWurzeln in unserer gegenwärtigenKultur und Lebensumständen hat.

Teil des urbanen Lebens:

GRAFFITIProvokation – aber auch Ausdruck von Lebensgefühl undKunst. Die Arbeit von Schmierfinken – aber auch Ausdruckhoch begabter Künstler. Illegal an die Wände gesprüht –oder im Auftrag zur Belebung von Fassaden erstellt. Es gibtnoch viele Ausgangspunkte, sich den Graffiti zu nähern

Kunst – oderSchmutz?

HerbertNicolaus

N Ö L T I N G(LC Hamburg)

empfiehlt:Das Schöne

an Graffitifördern –und sich

daran freuen.

41JANUAR 2003

Meines Erachtens wird auch keineSoKo in der Lage sein, selbst wildeGraffiti dauerhaft zu unterbinden.

Ich meine daher, dass es kon-struktiver wäre, diese Aktivitäten zukanalisieren und Flächen freizu-geben, dann würde sich auch dieQualität verbessern und ein dauer-hafter Beitrag zu einer farbenfreu-digen Gestaltung des öffentlichenRaumes ergeben.

Graffiti is here to stay – warumalso nicht das Schöne daran fördernund sich daran freuen?

Tatsache ist auch, dass meineFreunde, mit denen ich häufig Kon-takt habe und die mir als Künstlerund Menschen wichtig sind, in völligerLegalität und mit kommerziellemErfolg als Künstler ihr Leben meistern.Sie bilden mit ihren zahlreichendeutschen und ausländischen Kolle-gen ein internationales Netzwerkvon überbordender Schaffensfreude.

Wer sich die Mühe macht, in dieverschiedenen Websites einzulog-gen oder in die immer wieder statt-findenden Ausstellungen in Galerienund selbst großen Museen zu gehen,wird sehen, dass Graffiti inzwischenden öffentlichen Raum als einzigeBühne verlassen hat.

Längst sind Leinwände, Stahl-stiche, Skulpturen aus Holz, Betonetc. hinzugekommen. Installationenund andere Maltechniken schlagen dieBrücke zu anderen anerkannten Er-scheinungsformen moderner Kunst.

Hamburg – Lange Reihe HH-LohbrüggeAuferstehungskirche

TASEK (Leinwand) STOHEAD (Leinwand)

DADDY COOL (Leinwand) DAIM (Leinwand)

Hamburg ROCKET, THDW

Fotos: 5 x Mirko Reisser2 x Heiko Zahlmann

Titel: Mirko Reisserfür Interessierte:www.getting-up.orgwww.graffiti.org