Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

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GRAU ZONE Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß Magazin der Wissenschaftsjournalisten an der Hochschule Darmstadt 2012

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Ein Magazin zur Verantwortung der Wissenschaft, das Studierende des 5. Semesters im Studiengang Wissenschaftsjournalismus 2012 erstellt haben.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Magazin der Wissenschaftsjournalisten an der Hochschule Darmstadt 2012

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 3

editorial

Grauzone – das ist nicht einfach schwarz oder weiß,

nicht gut oder böse. Das Gleiche gilt für die Wissenschaft: Neue Erfindungen und Tech-

nologien brauchen Rahmenbedingungen, damit sie nicht missbraucht werden. Doch

wer schafft diese Rahmenbedingungen? Muss ein Wissenschaftler während seiner For-

schungsarbeit schon über mögliche Folgen seiner Ergebnisse nachdenken? Trägt er

überhaupt eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft oder ist seine Forschung un-

abhängig davon?

Verantwortung in der Wissenschaft – das klingt erst einmal abstrakt, trocken und

irgendwie anstrengend. Auf den zweiten Blick ergeben sich viele spannende Themen-

felder, von der Militärforschung bis zu Tierversuchen. Diesen zweiten Blick haben die

Studierenden des Wissenschaftsjournalismus der Hochschule Darmstadt ein Semester

lang riskiert.

Warum gibt es für bestimmte Krankheiten keine Medikamente? Was hat die Wissen-

schaft mit Zusatzstoffen im Tabak zu tun? Und wer trägt eigentlich die Verantwortung

für die Forschungsergebnisse, die zum Bau der Atombombe führten? Wie bringen wir

Wissenschaft ans Kind und wie funktionieren Medikamente für Kinder?

Unsere Autoren recherchieren, hinterfragen und zeigen verschiedene Aspekte der

Verantwortung in wissenschaftlichen Disziplinen auf.

Projektpartner ist die »Vereinigung deutscher Wissenschaftler«, die nicht nur den

Druck finanzierten, sondern sich auch unseren Fragen stellten: Im Gespräch mit Ulrich

Bartosch und Reiner Braun geht es um Themen wie Nachhaltigkeit und den Sinn und

Unsinn von Forschungsgeldern.

Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre,

Christina Ress, Tabea Osthues

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inhalt

6 Verkehrte Welt Bilderstrecke

Wir verschwenden hemmungslos, was

Andere zum Überleben brauchen.

12 Ein lebenslanger Prozess Verantwortungsentwicklung

Wie wir lernen, zu unseren Handlungen

zu stehen und ihre Folgen abzuschätzen.

16 Wissenschaft macht Spaß Kinder als Forscher

Lernen Kinder durch Experimente Na-

turwissenschaften kennen und verstehen?

20 Studieren geht über probieren Forschung an Kindern

Passende Medikamente für Kinder sind

rar. Klinische Studien können das ändern.

Einige Bedenken bleiben dennoch.

24 »Sie lieben es, mich zu hassen« Interview: Zusatzstoffe in Zigaretten

Martina Pötschke-Langer über ihren jah-

relangen Kampf gegen die Tabakindustrie.

28 Eine Hand wäscht die andere? Politikberatung

Wie Wissenschaftler politische Entschei-

dungen beeinflussen. Oder auch nicht.

32 Es lebe die Geldverschwendung Kommentar: Geld und Forschung

Grundlagenforschung und wirtschaftliche

Interessen lassen sich nicht vereinbaren.

34 Gewissen verbindet Interview: Lobbyarbeit

Bei unserem Geldgeber nachgebohrt:

Reiner Braun und Ulrich Bartosch von der

Vereinigung Deutscher Wissenschaftler

im Gespräch.

38 Der radioaktive Elfenbeinturm Kernkraftforschung im Konflikt

Fortschritt als Ziel, Zerstörung das Ergeb-

nis. Wie aus einer vielversprechenden

Strahlung die Atombombe wurde.

40 Kompromisse nach dem GAU Interview: Arbeit einer Ethikkommission

Volker Hauff über teils chaotische Diskus-

sionen beim Atommoratorium.

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42 Forschung im Badezimmer Glosse: Pseudowissenschaft

Faltenfreie Zukunft – von Märchen und

Wundern der Kosmetikindustrie.

44 Neutral gibt es nicht Tierversuche

Wieso trotz aller Alternativen immer noch

an Tieren geforscht wird.

46 Fabelwesen aus dem Labor Pro und Contra: Chimären

Brauchen wir Mischwesen für die For-

schung oder gehen wir damit zu weit?

50 Heilung nicht von Interesse Pharmaforschung

Seltene Krankheiten betreffen

wenige Menschen – zu wenige für

die Pharmaindustrie.

54 Wer haftet für das Wetter? Launische Natur

Regen, Hagel, Sturm: Wenn Festivals

tödlich enden, ist es schwer, den

Schuldigen zu finden.

60 Im Labor an der Front Militärforschung

Darf an deutschen Hochschulen für den

Krieg geforscht werden?

64 Wissen aus dem Untergrund? Kurzinterviews: Wofür sie forschen

Warum jede Wissenschaftsdisziplin

verantwortlich für ihre Ergebnisse ist.

68 Hype ohne Zukunft Elektromobilität

Strom statt Benzin. Was verlockend klingt,

scheitert an einem wichtigen Roh-

stoff: Lithium.

70 Wer fährt denn hier? Autonomes Fahren

Wenn PKWs sich selbst lenken, ist unklar,

wer bei einem Unfall haften muss.

63 Editorial

73 Impressum

74 Letzte Seite

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6 GRAUZONE

Wir verfüttern Essen an Tiere und füllen Lebens-mittel in unsere Tanks. Da läuft etwas falsch.

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37 Millionen Tonnen Getreide werden pro Jahr in Deutschland geerntet. Für die Produktion von Bioethanol wurden 2010 über 1,3 Millionen Tonnen Getreide verwendet – knapp 4 Prozent.

2,6 Kilogramm Getreide benötigt man, um 1 Liter Bioethanol herzustellen. An der Tankstelle kauft man dann E10: 10 Prozent Biotreibstoff, 90 Prozent Benzin. 10 Liter E10 enthalten 1 Liter Bioethanol.

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900 Gramm Getreide reichen, um einen Menschen einen Tag lang zu ernähren. Mit dem Getreide, aus dem in Deutschland Bioethanol hergestellt wird, könnten 4 Millionen Menschen ein Jahr lang leben.

10 Liter Treibstoff reichen im Durchschnitt für 150 Kilometer. Das entspricht der Strecke von Magdeburg nach Berlin – oder dem, was eine kleine Familie täglich an Getreide benötigt, um zu überleben.

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747 Millionen Tiere werden jährlich in Deutschland geschlachtet. Davon sind 3,5 Millionen Rinder, 59 Millionen Schweine und 618 Millionen Hühner. Durchschnittlich 1094 Tiere isst jeder Deutsche in seinem Leben.

Um ein Kilo Rindfleisch herzustellen, braucht man 15.000 Liter Wasser und 10 Kilogramm Getreide. Ein Burger mit Pommes und Salat benötigt eine Anbaufläche von 3,61 Quadratmetern, Nudeln mit Tomatensauce dagegen nur 0,46 Quadratmeter.

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Auf weltweit 2,6 Millionen Hektar Landflächen wird Soja als Futtermittel für den Import nach Deutschland angebaut, vor allem in armen Ländern. Ein Gebiet fast so groß wie Brandenburg.

Die Viehwirtschaft ist für fast ein Fünftel der globalen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. 12 Kilogramm Rindfleisch essen wir pro Kopf und pro Jahr – das entspricht einem Kohlendioxidausstoß von rund 430 Kilogramm. Etwa so viel wie ein Flug von Berlin nach Mallorca.

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12 GRAUZONE

VERantwoRtungsEntwicklung

Welche Entwicklungs-stufen muss ein Kind nehmen, um später zu einem verantwor-tungsvollen Erwach-senen heranzureifen? Und welche Rolle spielen dabei die Eltern und die Kultur?

Verantwortung – ein lebenslanger Prozess

Ein elf Monate altes Baby teilt geübt eine Frucht mit einer Machete (rechts). Was

bei uns undenkbar wäre, ist bei dem Volk der Efe im Kongo völlig normal. Verantwortlicher

Umgang mit Werkzeug entwickelt sich auf der Welt unterschiedlich schnell. ©

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»Vorsicht, ein Auto!«, ruft der

fünfjährige Tim aufgeregt und

zieht seinen kleinen Bruder

Lukas von der Straße weg. Tim hätte viel

lieber weiter geschaukelt, anstatt seinem

zweijährigen Geschwister hinterher zu

rennen. Doch wo war nur seine Mutter?

Ohne Erwachsenen in Sicht hatte sich Tim

plötzlich für seinen kleinen Bruder verant-

wortlich gefühlt und musste eingreifen.

Situationen wie diese beobachten wir

immer wieder. Denn schon sehr kleine

Kinder übernehmen spontan Verantwor-

tung, wenn gerade kein Erwachsener in

der Nähe ist, der sie ihnen abnimmt.

Damit Kinder wie Tim aber zu verant-

wortungsbewussten Erwachsenen heran-

reifen, müssen sie zunächst viele Entwick-

lungsschritte meistern.

»Die Verantwortungsentwicklung fängt

damit an, dass die Kinder sich selbst als

Ursprung ihrer Handlung erleben«, erklärt

die Entwicklungspsychologin Hellgard

Rauh von der Universität Potsdam. »Und

dies beginnt in ersten Ansätzen schon in

einem Alter um die vier bis fünf Monate.«

Noch können die Babys allerdings nicht

zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung

unterscheiden. Eltern kennen dieses Phä-

nomen. Wenn beim Kinderarzt ein Baby

anfängt zu schreien, stimmen die ande-

ren mit ein. Solche spontanen Reaktionen

auf die Gefühlszustände anderer sind die

frühsten Formen der Empathie, also der

Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen. Sie

macht Verantwortung erst möglich.

Mit acht bis zehn Monaten wird den

Babys bewusst, dass sie selbst jemand an-

deres sind als ihr Gegenüber. Etwa ein Jahr

später erkennen sich die Kleinen dann im

Spiegel und bezeichnen sich kurz darauf

mit »Ich«. Doch nicht nur das: Zunehmend © D

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können Kleinkinder auch die Wünsche,

Absichten und Gefühle ihres Gegenübers

erahnen. Durch diesen Perspektivwechsel

gelingt es ihnen, die Bedürfnisse eines an-

deren Menschen immer besser zu erken-

nen. Sie erreichen eine höhere Stufe der

Empathie und begreifen, welche Auswir-

kungen die eigenen Handlungen auf ihre

Mitmenschen haben. Anfangs können das

so einfache Beobachtungen sein wie: Wenn

ich die Tasse meiner Schwester kaputt ma-

che, ist sie traurig.

In diesem Alter beginnen die Kleinen

auch, andere aktiv zu trösten. Wenn sie

ein weinendes oder trauriges Krabbelkind

sehen, gehen sie zu ihm und versuchen es

beispielsweise mit Keksen aufzuheitern.

Mit zwei bis drei Jahren reift schließ-

lich der Wunsch zu helfen. Dies hat sowohl

mit der emotionalen als auch der kogni-

tiven Entwicklung zu tun. Jetzt können

Kleinkinder auch schon komplexere zwi-

schenmenschliche Gefühle nachempfin-

den. Sie wissen dann, wie es sich anfühlt,

enttäuscht oder betrogen zu werden. Be-

obachten sie eine Handlung, werden ihre

Spiegelneuronen im Gehirn aktiv. Sie sind

bei uns Menschen besonders ausgeprägt

und befähigen uns dazu, Handlungen

eines Gegenübers gedanklich fast wie ei-

gene nachzuvollziehen und mitzuerleben.

Zudem bilden die Kinder vorgreifende

Vorstellungen von dem Handlungsziel

des anderen. Unterläuft diesem ein Fehler,

fühlen sie sich daher motiviert zu helfen

und so gemeinsam zum Ziel zu gelangen.

Entwicklungspsychologen nennen die-

sen Komplex aus Mitgefühl und Hilfsbe-

reitschaft »prosoziales Verhalten«. Er ent-

wickelt und verfeinert sich während der

ganzen Vorschulzeit.

AllEs EinE FrAgE dEr ZEitDoch selbst wenn Kinder Empathie zeigen

können und sich als Ursprung einer Hand-

lung erkennen, fehlt ihnen noch ein ent-

scheidender Schritt, um wirklich verant-

wortlich handeln zu können: Das Gefühl für

die Zeit. Ohne Zeitgefühl ist es unmöglich,

die langfristigen Folgen von Handlungen

abzuschätzen. »Kinder gehen mit Zeitwör-

tern wie ,heute‘ und ,morgen‘ schon sehr

früh um«, sagt Elfriede Billmann-Mahecha,

Psychologin an der Universität Hannover.

»Sie können auch kurze Zeiträume wie

‚noch zweimal schlafen’ überblicken, aber

ein richtiger Zeitbegriff bildet sich erst im

Grundschulalter aus.«

Doch wie alt muss ein Kind sein, um

alleine auf ein kleineres Kind aufpassen

zu können? »Dafür muss es verstehen,

was das jüngere Kind kann, was es gerade

fühlt, welche Motivation es hat und wie es

voraussichtlich gleich handeln wird«, fasst

Hellgard Rauh zusammen. Das sei so kom-

plex, dass sich diese Kompetenz vermut-

lich erst in der späteren Grundschulzeit

mit zehn bis zwölf Jahren herausbilde.

Was universell klingt, gilt keineswegs

für alle Kinder auf der Welt. Wie stark sich

die Verantwortungsentwicklung bei Kin-

dern kulturell unterscheidet, weiß Psycho-

login Barbara Rogoff von der University of

California in Santa Cruz. Sie hat erforscht,

wie sich Menschen in unterschiedlichen

Kulturen entwickeln. »In einigen Gesell-

schaften, wie beispielsweise der Maya in

Guatemala, sind Kinder schon zwischen

drei und fünf Jahren in der Lage, unter

Aufsicht auf ihre kleineren Geschwister

aufzupassen. Die bevorzugten Aufpasser

sind zwischen acht und zehn Jahre alt.«

Diese Verantwortung beruhe vermutlich

auf vielen kulturellen Merkmalen. Die Ma-

ya-Kinder haben unter anderem ständig

kleinere Kinder um sich und sehen, wie

andere auf sie aufpassen. Sie haben die

Chance, sich um sie zu sorgen und haben

Erwachsene in der Nähe, für den Fall, dass

es Probleme gibt. Weiterhin werden sie be-

stärkt, reif und verantwortlich zu sein.

Was können also Eltern hierzulande

tun, um Kindern ein gesundes Verhältnis

zur Verantwortung beizubringen?

Die Entwicklungspsychologinnen El-

friede Billmann-Mahecha und Hellgard

Rauh sind sich einig: Haustiere sind eine

gute Möglichkeit zum üben. Nur sollten

die Eltern nicht erwarten, dass das Kind die

Verantwortung komplett übernehme, gibt

Billmann-Mahecha zu bedenken. »Kleine

Kinder sind noch sehr auf sich selbst be-

zogen, sie würden die Katze am liebsten

füttern, wenn es ihnen gerade Spaß macht.

Das längerfristige Denken ist in dem Alter

eben noch schwierig.« Hier zeigt sich wie

wichtig ein ausgebildetes Zeitgefühl ist:

Erst am Ende der Grundschulzeit könne

ein Kind überblicken, was es bedeutet, über

Jahre hinweg für ein Tier zu sorgen.

Neben Haustieren trainiere auch der

Blumendienst in der Schule oder kleinere

Aufgaben im Haushalt das Verantwor-

trösten will gelernt sein. Mitgefühl ist elementar, um ein verantwortungsvoller Erwachsener zu werden.©

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tungsbewusstsein. Man müsse aber unbe-

dingt am Ball bleiben, insbesondere wenn

es dem Kind gerade keinen Spaß mache.

Denn auch der Erziehungsstil beein-

flusst das spätere Verantwortungsbewusst-

sein. »Es hat sich herausgestellt, dass für

die Entwicklung, auch für die moralische,

der autoritative Erziehungsstil der Beste

ist«, sagt Psychologin Billmann-Mahecha.

Dieser verlangt den Eltern besonders viel

ab. Denn ‚autoritativ’ bedeutet, dass sie

klare Grenzen setzen, diese begründen

und sich gleichzeitig dem Kind emotional

zuwenden, es achten und wertschätzen.

»Längerfristige Studien aus den USA ha-

ben gezeigt, dass Kinder, die so erzogen

wurden, im Jugendalter ein deutlich stär-

keres Verantwortungsbewusstsein als an-

dere Jugendliche haben, die autoritär oder

im Laissez-faire-Stil erzogen wurden«, so

Billmann-Mahecha.

Müssen Kinder schon zu früh zu viel

Verantwortung übernehmen, kann das

schädlich sein. »Angenommen, ein Kind

wird mit einem Bruder oder einer Schwe-

ster tagsüber kurz alleine gelassen. Wenn

sich das Geschwisterkind verletzt, ist das

furchtbar für dieses Kind, da es sich ver-

antwortlich fühlt«, erklärt Hellgard Rauh.

Noch tragischer ist es, wenn ein Eltern-

teil schwer erkrankt oder sogar stirbt und

ein Kind sich nun um seine kleineren Ge-

schwister kümmern muss. »Diese Kinder

verlieren mit der massiven Verantwortung

ihre Kindheit und werden zu kleinen Er-

wachsenen«, sagt Rauh.

Auch Kinder mit einer normalen Ent-

wicklung brauchen Jahre, bis sie schließ-

lich voll verantwortlich sind. »Ich denke,

dass man im dritten Lebensjahrzehnt als

voll verantwortlich gelten kann. Ohne zu

sagen, dass sich das nicht weiter entwickeln

kann«, sagt die Psychologin Billmann-Ma-

hecha. So ist es auch kein Zufall, dass wir

vor Gericht ab 21 Jahren für unsere Taten

zur vollen Verantwortung gezogen werden

können. Denn kognitiv sind wir erst in die-

sem Alter komplett ausgebildet. »Die Mo-

ral hingegen kann sich weit bis ins Erwach-

senenalter noch höher entwickeln«, fügt

Billmann-Mahecha hinzu. Verantwortung

ist ein lebenslanger Prozess. <<

Ina Hübener

VerantwortungslosManche Menschen sind schlicht nicht zur Verantwortung fähig. Geistig Behinderte können sich beispielsweise meist extrem gut in andere Menschen hineinversetzen, haben aber starke kognitive Defizite. Einige sind teilweise so sehr eingeschränkt, dass ihnen etwa das für Verantwortung so wichtige Zeitempfinden fehlt.

Nur Kognition ohne Emotion reicht hingegen auch nicht, wie man am Beispiel von Psychopathen sehen kann. Obwohl sie in der Regel sehr intelligent sind, führt die schwere Persönlichkeitsstörung dazu, dass Betroffene keine Empathie oder Schuld empfinden können. Und dadurch auch kein schlechtes Gewissen verspüren, wenn sie verantwortungslos handeln. Selbst wenn sie kriminell werden, nehmen sie das oft mit einem Lächeln hin. Schuld daran sind Fehlfunktionen bestimmter Bereiche des Gehirns. Meist sind die vordere Inselregion, die Amygdala, der orbitofrontale Cortex oder der vordere cinguläre Cortex die Ursache. Sie alle haben ihre speziellen Aufga-ben. Die vordere Inselregion spielt eine Rolle bei der Empathie. Ohne die Amygdala, auch Mandelkern genannt, werden wir furchtlos. Eine Schädigung des cingulären Cor-tex lässt uns emotional abstumpfen.

Werden bei gesunden Menschen diese Regionen des Gehirns verletzt, kommt es zu dramatischen Persönlichkeitsveränderungen. Neurologen kennen dieses Phänomen spätestens seit dem klassischen Fall des amerikanischen Schienenarbeiters Phineas Gage. Bei einer Explosion im Jahr 1848 bohrte sich eine Eisenstange durch sein Gehirn und verletzte dabei den orbitofrontalen Cortex – einen Hirnteil, der mit der Regulation emotionaler Prozesse in Verbindung gebracht wird. Er überlebte. Doch ein Teil seiner Persönlichkeit starb bei dem Unfall. Aus dem verantwortungsbewussten Mitarbeiter wurde ein unzuverlässiger, kindischer und impulsiver Mensch.

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Wissenschaft für Kinder

Viele Kindergärten und Schulen bieten naturwissenschaftliche Kurse fürs Kind an. Geht es dabei nur um den Spaß an der Sache oder um mehr?

Wissenschaft macht Spaß

Metin wird erklärt wie sich Luft verhält, wenn sie sich erwärmt oder abkühlt. Im Kindergarten Son-nenschein experimentieren die 4- und 5-jährigen Kinder einmal in der Woche. ©

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Konzentriert und gespannt schau-

en vier Augenpaare dabei zu, wie

Merle eine Trinkflasche mit einem

über die Öffnung gezogenen Luftballon in

eine Kanne mit eiskaltem Wasser drückt.

Der Experimentierraum ist vom letzten

Flohmarkt noch ein wenig zugestellt.

Die vier Kinder im Alter von vier bis

fünf Jahren sitzen zusammen an einem

niedrigen Tisch. Staunend beobachten

die Kinder, wie der weiße Luftballon sich

zusammenzieht, als würde man die Luft

rauslassen. »Was passiert mit unserer Luft,

wenn sie kalt ist?«, fragt die Kindergärtne-

rin Marjan Mehdizadeh, die den Versuch

leitet. »Die Luft ist schwer geworden und

geht nach unten in die Flasche.«

So wie in der Experimentiergruppe im

Kindergarten »Sonnenschein« im hes-

sischen Langen werden viele Kinder spie-

lerisch an das Thema Naturwissenschaften

herangeführt. In Kursen und Experimen-

tierstunden rund um Physik und Chemie,

soll das Interesse der Kinder schon früh

angeregt werden. Dazu gehören Projekte

in den Kernfächern Mathematik, Informa-

tik, Naturwissenschaften und Technik den

so genannten MINT-Projekten.

Zahlreiche Bücher und Experimen-

tierkästen sollen die Lust am Lernen und

Entdecken fördern. Aber kann man Kinder

jeden Alters einfach an den Experimentier-

tisch setzen? »Das hängt sehr vom Alter

ab. Das Kind soll die Deutung des Experi-

ments verstehen. Dazu muss man denken

können«, sagt Gisela Lück, Professorin für

Didaktik der Chemie an der Universität

Bielefeld. Ein Kind könne das etwa ab dem

fünften Lebensjahr.

Das Projekt im Kindergarten »Sonnen-

schein« lässt die Kinder staunen. Nach-

dem sie erfahren haben, wie sich kalte Luft

verhält, lernen sie, was mit warmer Luft

passiert. Marjan Mehdizadeh steckt die

Flasche mit dem Luftballon in eine Kan-

ne mit dampfendem Wasser. Die Kinder

beobachten, was passiert: »Der Luftballon

hat sich aufgeblasen!« Frau Medizahdeh

erklärt, warum: »Die Luft wird heiß und

leicht, und dadurch kommt sie nach oben.

Deswegen dehnt sich der Luftballon aus.«

Danach malen die Kinder den Versuch

mit Buntstiften nach. Olivia hat aufmerk-

sam beobachtet, was da gerade passiert

ist. Sie erklärt ihrer Freundin, dass sie eine

Kanne mit blauem, also kaltem Wasser

und eine mit rotem, heißem Wasser malen

muss: »Du musst eins rot machen, nicht

zweimal blau.«

Marjan Mehdizadeh betreut die Experi-

mentiergruppe schon seit anderthalb Jah-

ren. Sie meint, dass die Kinder in den letz-

ten Jahren wesentlich wacher geworden

sind und man ihnen mehr zutrauen kann.

»Kinder wollen gefördert werden, und das

geht auch durch Experimente. Die Expe-

rimente sollen das Interesse wecken. Kin-

der sollen sich mit selbstverständlichen

Sachen auseinandersetzen, deren Hinter-

gründe sie nicht kennen.«

IntereSSe WecKenAber was sollen Kinder aus naturwissen-

schaftlichen Projekten mitnehmen? Soll

das Experimentieren nur Spaß machen,

oder sollten sich Kinder auch schon mit

der Verantwortung der Wissenschaft be-

schäftigen? Und wenn ja, mit welcher Art

Verantwortung? Beim Experimentieren

muss man beispielsweise sparsam und

vorsichtig mit den Materialien und Stoffen

umgehen. Man muss aufpassen, dass man

sich und die anderen nicht verletzt, und

dass alle Kinder gleich oft an die Reihe

Ausprobieren erlaubt! riccardo gießt Wasser über die zuvor zerkleinerten Lavendelblüten (links). Seine teamkollegen aus der Forscherwerkstatt besprechen gemeinsam, wie der Versuch am besten durchzuführen ist (rechts).

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kommen. Diese Arten der Verantwortung

lernen die Kinder ganz nebenbei mit, sagt

Gisela Lück. »Dies wird dem Kind auch

schon früh zugetraut. Nur dem, dem ich

etwas zutraue, kann ich auch Verantwor-

tung übergeben. Das wird auch gemacht,

nur eben ohne zu sagen: Du hast auch spä-

ter mal eine Verantwortung.«

Die Politik macht schon seit Jahren da-

rauf aufmerksam, dass es in den nächsten

Jahren zu einem Fachkräftemangel kom-

men wird. Dass nun vermehrt Experimen-

tierkurse angeboten werden, hat auch da-

mit zu tun. »Es wird auch gesellschaftlich

mitgetragen«, sagt Petra Bonnet, Leiterin

des Büros für Kommunikationsberatung

in Stuttgart. »Das würde ich nicht unter-

schätzen, wie viel da aus der Bildungspo-

litik, Unternehmen und Berufsverbänden

gefordert wird.«

»Im Kindergarten steht Verantwortung

in Physik und Chemie nicht im Vorder-

grund, sondern Freude am Experimentie-

ren und ohne Angst an Physik und Chemie

heran gehen«, sagt Lück. Allerdings darf

man nicht erwarten, dass Kinder am Ende

eines Kurses eine physikalische Formel

aufzeichnen können. Das müssen sie auch

gar nicht, meint Bonnet: »Wenn den Kin-

dern der direkte Bezug dazu fehlt, bringt

das gar nichts.«

Es ist wichtiger zu sehen, was Wissen-

schaft alles kann, meint Piotr Kowina vom

GSI Helmholtzzentrum für Schwerionen-

forschung in Darmstadt. Er hat Erfahrung

darin, seine Forschung auch für Kinder

interessant darzustellen. Zum Beispiel im

Rahmen der Kinderuni Darmstadt. Hier

möchte nicht nur Kowina, sondern auch

verschiedene Institute, Organisationen

oder Unternehmen mit Vorträgen das

kindliche Interesse an Wissenschaft för-

dern. »Kinder sollen Interesse an der Wis-

senschaft bekommen und lernen, was sie

eigentlich bedeutet und womit sich For-

scher beschäftigen«, meint Kowina.

»Häufig wissen sie nicht wirklich, was

Wissenschaftler eigentlich tun. Das kann

problematisch werden, wenn sie sich wäh-

rend der Pubertät in der Schule plötzlich

mit Naturwissenschaften konfrontiert se-

hen.« In dieser Lebensphase sei nämlich so

ziemlich alles interessanter, als chemische

Formeln zu ermitteln.

VerAntWortung geben In der Pestalozzi-Grundschule in Lampert-

heim wird daher schon früh das Interesse

der Kinder geweckt. Lavendelduft erfüllt

die Forscherwerkstatt, in der elf Kinder aus

der zweiten Klasse experimentieren. Das

Klassenzimmer ist vollgestellt mit unzähli-

gen Experimentierkästen, Reagenzgläsern,

Mörsern, Pipetten und Mikroskopen. In der

Experimente-AG können sich die Kinder

selbstständig aus bis zu 50 Versuchen ei-

nen aussuchen und bearbeiten. Eine Grup-

pe von vier Jungen stellt heute Lavendel-

parfüm her. Die vier haben sich eine Kiste

mit Materialien und Versuchserklärung aus

dem Regal geholt. Emilio liest vor, was jetzt

noch besorgt werden muss: »Wir brauchen

einen Kaffeefilter. Nee, nicht den, einen

größeren!« Es wird laut in dem sonst eher

ruhigen Raum. Die Jungen zerkleinern die

getrockneten Lavendelblüten im Mörser.

Wer nicht stampft, darf später das Blüten-

Wasser-Konzentrat filtern und in Fläsch-

chen abfüllen. Das alles klären sie eigenver-

antwortlich, ohne die Hilfe ihrer Lehrerin.

Am Ende der Stunde erklärt Jan seinen

Mitschülern, wie seine Gruppe das Parfüm

hergestellt hat. »Erst hat es wie Cola aus-

gesehen und gar nicht gerochen. Es war

schon schwer, weil wir so stampfen mus-

sten, aber es hat Spaß gemacht.« Die Leh-

rerin ist sich sicher: »In den nächsten zwei

Wochen ist der Versuch ausgebucht.«

Verantwortung muss für Kinder noch

keine Rolle spielen. »Man kann nicht über

die großen Dinge reden, über das Ozon-

loch. Wir wollen ihnen ja nicht das Leid der

Welt näher bringen«, sagt Gisela Lück.

In der Forscherwerkstatt wird deutlich,

dass Kinder beim Experimentieren ei-

genverantwortlich arbeiten können. »Die

Projekte sind nicht darauf ausgelegt, dass

die Kinder frühzeitiger lernen«, sagt Petra

Bonnet. »Vielmehr gehe es darum, den

Kindern zu verdeutlichen, dass Wissen-

schaft Teil ihres Alltages ist. Wenn Kinder

Wissenschaft und Technik erst mal ver-

standen haben, dann gehen sie viel offener

damit um.« <<

Caroline Hentschel

Mia (links) und olivia (rechts) malen das eben beobachtete experiment. Dadurch spielen sie den Versuch gedanklich nochmal durch.

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BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAGMarkgrafenstraße 12–14 • 10969 Berlin • Tel. 030 / 841770-0 • Fax 030 / 841770-21E-Mail: [email protected]

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Rainer Moormann

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblowing im nuklear-industriellen KomplexPreisverleihung 2011 – Dr. Rainer MoormannHochtemperatur-Reaktoren werden von interessierten Kreisen in der Fachwelt, in der Wirtschaft und in der Politik bis heute dafür gerühmt, dass sie „inhärent sicher“ seien: Bei ihnen bestehe nicht das Risiko einer Kernschmelze. Nukleare Katastrophen seien also nicht zu befürchten. Mit diesem Argument wird seit längerem der Export des Reaktortyps auch in Länder mit niedrigeren Sicherheitsstandards betrie-ben. Dr. Moormann ist in seinen Untersuchungen demgegenüber zu dem Schluss gelangt, dass mit der Kugelhaufen-HTR-Technologie andere, nicht minder bedrohliche Störfallmöglichkeiten und Risiken mit katastrophalen Folgen für Mensch und Umwelt verbunden sind. Seine Hinweise begründen zudem den Verdacht, dass wesentliche Umstände und Folgen eines Störfalls 1978 im Reaktor Jülich bisher verschleiert worden sind.2011, 122 S., 11 Abb., kart., 12,80 €, 978-3-8305-3021-3Kombipaket Print & E-Book-PDF: 19,– €, 978-3-8305-2731-2

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblower in der SteuerfahndungPreisverleihung 2009 – Rudolf Schmenger, Frank WehrheimRudolf Schmenger ist nicht „paranoid-querulatorisch“. Er hat nur mehr Zivilcourage als andere. Er war als Steuerfahnder am Finanzplatz Frankfurt am Main mit Ermittlungsverfahren gegen Großbanken befasst. Er wurde 2006 gegen seinen Willen von seinem Dienstherrn in den Ruhestand versetzt. Die Zwangspensionierung erfolgte auf der Grundlage eines psychiatrischen Gutachtens. Schmenger setzte sich zur Wehr. Ein Berufsgericht verurteilte den Gutachter unlängst wegen vorsätzlicher, grober Verlet-zung fachlicher Standards. Auch das hessische Finanzministerium handelte rechtswidrig. Es versäum-te die eigenständige Prüfung des Gutachtens. Wie Schmenger ging es noch drei Fahndern derselben Abteilung. Zehn weitere KollegInnen, darunter Frank Wehrheim, wurden versetzt oder zu Tätigkeiten abgeordnet, die nicht ihrer Qualifikation als Steuerfahnder entsprachen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie begründete Einwände gegen eine Verwaltungsanordnung vorgebracht hatten, die sie ihrer Ansicht nach in ihren Ermittlungen gegen Großanleger in Luxemburg und Liechtenstein behinderte. In der Folge sahen sie sich Mobbing, Schikanen und Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt. – Es steht hier auch das Beamten- und Dienstrecht in der Kritik.2010, 149 S., 17 Abb., kart., 14,80 €, 978-3-8305-1756-6

BWV • BERLINER WISSENSCHAFTS-VERLAG

Dieter Deiseroth, Annegret Falter (Hrsg.)

Whistleblower in der SteuerfahndungPreisverleihung 2009

Rudolf Schmenger Frank Wehrheim

Whistleblowerpreis 2003 – Den Whistleblower-Preis 2003 erhielt der Amerikaner Daniel Ellsberg – für sein Lebenswerk.2004, 65 S., kart., 9,80 €, 978-3-8305-0973-8Whistleblower in Gentechnik und Rüstungsforschung – Preisverleihung 2005: Theodore A. Postol / Arpad Pusztai2006, 158 S., 12 Abb., kart., dt./engl., 17,90 €, 978-3-8305-1262-2Whistleblower in Altenpfl ege und Infektionsforschung – Preisverleihung 2007: Brigitte Heinisch / Liv BodeeBook PDF 2007, 80 S., 17 Abb., kart., 9,80 €, 978-3-8305-1455-8

Unbenannt-1 1 08.02.2012 21:01:37 Uhr

Page 20: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

20 GRAUZONE

Klinische Forschung an Kindern

In Deutschland sind zu wenige Medikamente an Kindern getestet und für sie zugelassen. Bei der Behandlung tappen die Ärzte daher oft im Dunkeln. Um Medikamente optimal auf sie abzu-stimmen, sind klinische Studien an Kindern notwendig. Doch Forschung an Minderjährigen ist ein sensibles Thema. Sie können nicht selbst einwilligen und sind dennoch gewissen Risiken und Belastungen ausgesetzt. Außerdem ist da noch die Angst, Kinder könnten als Versuchskaninchen missbraucht werden.

Studieren geht über probieren

Die dreijährige Leonie ist krank. Sie

kommt ins Krankenhaus und die

Diagnose ist schnell klar. Wäre Le-

onie erwachsen, hätte der Arzt das pas-

sende Medikament für sie. Doch für Kin-

der ihres Alters hat er kein zugelassenes

Arzneimittel. Also bekommt Leonie ein

Medikament, das nur an Erwachsenen ge-

prüft und für diese zugelassen wurde.

Das ist in Deutschland keine Seltenheit.

Bis zu 70 Prozent der Medikamente, die

Kinder in stationärer Behandlung erhalten,

sind nicht für sie zugelassen. Auf Neugebo-

renenstationen sind es teilweise mehr als

90 Prozent. Ambulant ist etwa jeder sech-

ste Wirkstoff nicht für diese Altersgruppe

bestimmt. Die Zahlen schwanken je nach

Art und Häufigkeit der Erkrankung.

Obwohl es kein passendes Medika-

ment gibt, ist Nichtbehandeln keine Op-

tion. Auch in Leonies Fall nicht. Der Arzt

entscheidet sich für ein Medikament, mit

dem er bei Erwachsenen gute Erfahrungen

gemacht hat. Doch wie soll er es dosieren?

Wäre Leonie erwachsen, wäre auch das kein

Problem. Dann ließe sich die Menge, die sie

braucht, anhand ihres Körpergewichts be-

rechnen. Doch Kinder sind keine kleinen

Erwachsenen. Ihr Stoffwechsel und Kör-

perbau verändert sich im Laufe der Kind-

heit und Jugend erheblich. Die notwendige

Dosis in den einzelnen Entwicklungspha-

sen schwankt dabei stark (s. Grafik). Ein

Neugeborenes braucht beispielsweise eine

viel geringere Dosis als man aufgrund des

Körpergewichts annehmen würde. Säug-

linge und Kleinkinder hingegen brauchen

oftmals eine überraschend hohe Menge,

damit das Medikament wirkt.

Also muss der Arzt festlegen, welche

Menge des Medikaments Leonie bekommt.

Ob er diese Dosis errechnet, schätzt oder

rät, macht keinen Unterschied. Denn wis-

»Off-label« und »unlicensed«

Beim »off-label«-Gebrauch werden Medikamente außerhalb ihres Zulassungsbe-reichs angewendet. Kinder bekommen häufig Medikamente, die aufgrund ihres Al-ters »off-label« sind. Entweder ist das Arzneimittel für eine andere Altersgruppe (z.B. 18-50 Jahre) zugelassen oder Angaben zum Alter fehlen. Auch wenn der Arzt die Do-sierung oder die Darreichungsform ändert, um die Behandlung dem Kind anzupas-sen, spricht man von »off-label«-Gebrauch.

Im Krankenhaus-Alltag kommen auch »unlicensed«-Medikamente zum Einsatz. Sie wurden nicht klinisch getestet und besitzen daher keine Produktlizenz. Die nicht zugelassenen Medikamente werden beispielsweise importiert oder in der Klinikapo-theke hergestellt.

Page 21: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 21

Arzneimittel in Hülle und Fülle. Ein kranker Erwachsener hat selten das Problem, dass es für ihn keine Medikamente gibt. Doch Kinder stehen häufig mit leeren Händen da.

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sen kann er sie ohne eine klinische Studie

nicht. Der deutsche Ethikrat fordert daher

»angesichts der Risiken ungetesteter Me-

dikamente« kontrollierte Arzneimittelfor-

schung an Kindern. Solche Studien seien

die Voraussetzung für eine wirksame und

sichere Behandlung. In ihnen wird nicht nur

die richtige Dosis ermittelt. Auch eventuell

unentdeckte Nebenwirkungen bei Kindern

werden in einer Studie erkennbar.

Ein unwägbarEs rEstrisikoDoch weil Forschung an Minderjährigen

oft heikel ist, gelten strenge Regeln. Jede

geplante Studie muss im Voraus von einer

Ethikkommission geprüft und genehmigt

werden. Sie kontrolliert, ob die Forschung

ethisch vertretbar und im Sinne der Kin-

der ist. Damit die Kommission grünes

Licht gibt, müssen sowohl das Risiko, als

auch die Belastung für das Kind minimal

sein. Das Risiko lässt sich relativ gut abwä-

gen, da fast alle Medikamente vorher an

Erwachsenen getestet wurden. Allerdings

kommt es vor, dass bei Kindern andere Ne-

benwirkungen auftreten. So bleibt in jeder

Studie ein unwägbares Restrisiko.

Im Kommentar des Arzneimittelge-

setzes sind Fallbeispiele aus der Praxis be-

schrieben. Sie sollen verdeutlichen, wann

die Belastung für das Kind minimal und

somit ethisch vertretbar ist. Als Entschei-

dungshilfe für die Ethikkommissionen

genügt das Dr. Claudia Wiesemann und

anderen Kritikern allerdings nicht. »Selbst

diese Beispiele enthalten einen Interpre-

tationsspielraum«, sagt die Direktorin des

Instituts für Ethik und Geschichte der Me-

dizin an der Universitätsmedizin Göttin-

gen. »Auch wenn sich in den letzten Jah-

ren vieles verbessert hat, wir haben noch

immer zu wenig Vergleichsgrößen und

Austausch der Ethikkommissionen unter-

einander.« Eine Grauzone, in der im Ein-

zelfall entschieden wird, werde es immer

geben. Doch laut Wiesemann fehlt eine

klare Grenze zu dem, was »grundsätzlich

indiskutabel« ist.

Ist die Studie genehmigt, beginnt die

Suche nach Teilnehmern. Normalerwei-

se muss ein potentieller Proband vor-

her vom Arzt umfangreich über Ablauf,

Risiken und Ziele der Studie informiert

werden. Wenn er ohne äußeren Zwang

einwilligt, steht seiner Teilnahme nichts

mehr im Wege. Bei Kindern gestaltet sich

das schwierig. Gerade für die Kleinen ist es

fast unmöglich das Wesen und Ausmaß ei-

ner Studie zu verstehen. Jugendliche wie-

derum dürfen aus rechtlichen Gründen

nicht einwilligen. Das können letztlich

nur die Eltern. Doch auch das Kind hat

ein Mitspracherecht. »Schulkinder und

Jugendliche müssen zustimmen«, erklärt

Dr. Wolfgang Rascher, Direktor der Kinder-

und Jugendklinik Erlangen. »Die Eltern

willigen ein, doch wenn das Kind nicht

teilnehmen möchte, nehmen wir es nicht

in die Studie auf.« Über das Gespräch mit

Page 22: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

22 GRAUZONE

dem Arzt hinaus erhält es einen auf sein

Alter und den Entwicklungsstand abge-

stimmten Informationsbogen. So werden

auch die jungen Teilnehmer aufgeklärt.

Wie sehr diese Informationen ins De-

tail gehen, hängt vom Alter und Entwick-

lungsstand des Kindes ab. Die dreijährige

Leonie wird das Behandlungskonzept und

den Sinn der Studie auch bei noch so kind-

gerechter Erklärung nicht richtig erfassen.

Wie geht der Arzt also mit sehr kleinen Kin-

dern um? »Indem man sich lieb mit dem

Kind beschäftigt«, sagt Dr. Andreas Kulo-

zik. Der Direktor der Pädiatrischen Onko-

logie in Heidelberg möchte, dass auch die

Kleinen merken: »Hier ist jemand, der will

mir Gutes.« Mit diesem Vertrauensverhält-

nis nehme das Kind auch unangenehme

Behandlungsschritte hin. Standardisier-

bar ist der Umgang mit den Kindern für

Kulozik nicht. »Ich schaue mir immer die

Situation und das konkrete Kind an und

beziehe es, je nach dem persönlichen Ent-

wicklungsstand, mit ein.«

studiE statt HEilvErsucHIn vielen Studien geht es auch um eine

kindgerechte Darreichungsform des Arz-

neimittels. Was bei Erwachsenen völlig

normal ist, kann Ärzte bei Kindern vor

Probleme stellen. Kleinkinder können die

zu großen Tabletten oftmals nicht herun-

terschlucken. Oder der Saft hat so einen

bitteren Geschmack, dass Babys sich wei-

gern ihn zu trinken. Bei der klinischen Prü-

fung hingegen können die Ärzte die opti-

male Form – Zäpfchen, Tablette, Spritze,

Saft – für die Altersgruppe der Patienten

herausfinden.

Ärzte, die Studien mit Kindern durch-

führen wollen, brauchen eine besondere

Qualifikation. Im Arzneimittelgesetz ist

festgelegt, dass sie sich mit dem kind-

lichen Krankheitsbild und dem Umgang

mit minderjährigen Patienten auskennen

müssen. Ein Mediziner, der nicht auf Kin-

der spezialisiert ist, kommt also nicht in

Frage. Die jungen Studienteilnehmer sol-

len bestmöglich betreut werden.

Zusammenfassend sieht Dr. Wolfgang

Rascher zwei Möglichkeiten, Kindern Me-

dikamente zu geben: »Eine ist, dass wir mit

einigen Kindern eine gute Studie machen.

Die Ethikkommission und das Bundesin-

stitut für Arzneimittel und Medizinpro-

dukte müssen zustimmen. Der Patient ist

versichert und der Arzt muss alles proto-

kollieren. Er muss jede eventuelle Neben-

wirkung melden und sich ständig rechtfer-

tigen. Das ist eine Studie.«

Bei der anderen Möglichkeit, so Rascher,

probiere jeder X-beliebige Doktor ein Me-

dikament aus. In einem »Heilversuch«

könne er die Dosis raten und brauche sich

nicht dafür zu rechtfertigen. Wenn dem

Kind dann etwas passiert, »haben die El-

tern Pech gehabt«. Für Rascher ist klar:

»Das macht das Kind zum Versuchskanin-

chen, nicht die Studie!« <<

Franziska Bernsdorf

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Gruppennützige Forschung

Es gibt Studien, die keinen Eigennut-zen für den Teilnehmer haben. Statt-dessen nützen sie Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden. Diese gruppennützige Forschung ist nur bei minimalem Risiko und minima-ler Belastung des Probanden erlaubt. Bei Kindern ist sie umstritten. Häu-fig werden gruppennützige Studien durchgeführt, um Normalwerte bei gesunden Minderjährigen zu ermit-teln. Die technischen Verfahren (z.B. zur Diagnostik) entwickeln sich stän-dig weiter. Ohne die Werte gesunder Kinder, kann der Arzt krankhafte Ab-weichungen mit neuen Methoden nicht erkennen.

Kleine Körper – niedrige Medikamentendosis? So einfach ist es leider nicht. Beim Erwach-senwerden wächst zwar das Körpervolumen (schwarz). Doch die passende Dosis (blau) hängt vom Stoffwechsel ab und der variiert in den verschiedenen Entwicklungsphasen stark.

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NEU: WELTINNENPOLITISCHE COLLOQUIEN

Ulrich Bartosch; Gerd Litfin; Reiner Braun;Götz Neuneck (Hrsg.)Verantwortung von Wissenschaft und Forschungin einer globalisierten WeltForschen – Erkennen – HandelnDie Deutsche Physikalische Gesellschaft (DPG) und dieVereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) diskutier-ten 2009 über Fragen von Sicherheit und Nachrüstung,Umwelt und Nachhaltigkeit, Wissenschaft und Verantwor-tung, Bildung und Wissenschaft.Der Band enthält die Beiträge von Stephan Albrecht, Ger-hard Barkleit, Nina Buchmann, Christopher Coenen, Ja-yantha Dhanapala, Christian Forstner, Klaudius Gansczyk,Hartmut Grassl, Manfred Hampe, Hans R. Herren, Frankvon Hippel, Martin Ka-linowski, Konrad Kleinknecht, Ke-vin Knobloch, Wolfgang Liebert, Klaus Mayer, Heidi Mey-er, Wolfgang Neef, Götz Neuneck, Frank Schilling, JürgenSchneider, Jack Steinberger, Ernst Ulrich von Weizsäcker,Manuela Welzel-Breuer, Albert Zeyer.

400 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-643-11285-9

Ulrich Bartosch; Klaudius Gansczyk (Hrsg.)Weltinnenpolitik für das 21. JahrhundertCarl-Friedrich von Weizsäcker verpflichtetZu Ehren des am 28. April 2007 verstorbenen Physikers,Philosophen und Friedensforschers Carl Friedrich vonWeizsäcker, der 1963 den Begriff „Weltinnenpolitik“ in dieöffentliche Diskussion einbrachte und sich Jahrzehnte langin Verantwortung für Frieden mit friedlichen Mitteln, glo-bale Gerechtigkeit und Bewahrung der Natur engagiert hat,tragen zu diesem Themengeflecht im vorliegenden Buchnamhafte Autoren ihre Sicht auf das 21. Jahrhundert vor:zu Weltwirtschaft, Weltpolitk, Weltethos und Interkulturel-ler Philosophie in Anbetracht planetarischer Bedrohungendurch Klimawandel, Armut, Kriege u.a.m.376 S., 29,90 €, br., ISBN 978-3-8258-0808-2

Ulrich Bartosch; Jochen Wagner (Hrsg..)WeltinnenpolitikHandeln auf Wegen in der Gefahr. Carl FriedrichWeizsäcker zum 85. Geburtstag. Neuauflage„Überfällige Weltinnenpolitik. Ein politisches und kompe-tentes Gegengewicht zur wirtschaftlichen Globalisierungfehlt bislang“, überschrieb die Süddeutsche Zeitung ih-ren Bericht zur internationalen Tagung 1997 anlässlichdes 85. Geburtstages von Carl Friedrich von Weizsäckerin der Evangelischen Akademie Tutzing. Mit dem „Den-ker der Weltinnenpolitik“ (Die Zeit) trafen Experten ausWissenschaft und Politik zusammen und diskutierten überChancen und Gefahren im Zeitalter der Globalisierung.11 Jahre nach der großen Tutzinger Tagung zur Weltinnen-politik erfährt die Dokumentation der dortigen Vorträgeeine Neuauflage.Am 28. April 2007 ist der große deutsche Physiker, Frie-densforscher und Philosoph im 95. Lebensjahr gestorben.Mit dem vorliegenden Buch sind jene Texte wieder verfüg-bar, die das direkte Gespräch mit Weizsäcker dokumen-tieren und seine eigenen Beiträge lebendig werden lassen.Sie unterstreichen die bleibende Gültigkeit und sichtbareFortentwicklung einer weltinnenpolitischen Sichtweise undZielsetzung.Mit Beiträgen von Ulrich Bartosch, Chris Brown, SeyomBrown, Jost Delbrück, Hans Peter Dürr, Friedemann Grei-ner, Ingomar Hauchler, Peter Hennicke, Knut Ipsen, HansJoas, Hans Küng, Dieter S. Lutz, Hermann von Loewe-nich, Klaus M. Meyer-Abich, Michael Müller, Franz JosefRadermacher, Eugeen Verhellen, Jochen Wagner, CarlChristian von Weizsäcker, Carl Friedrich von Weizsäckerund Ernst Ulrich von Weizsäcker.288 S., 24,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1475-5

Stephan Albrecht; Ulrich Bartosch;Reiner Braun (Hrsg.)Zur Verantwortung der Wissenschaft – CarlFriedrich von Weizsäcker zu EhrenBeiträge des 1. Hamburger Carl Friedrich vonWeizsäcker-ForumsVom 21. bis 22. September 2007 fand an der Univer-sität Hamburg das 1. Hamburger Carl Friedrich vonWeizsäcker-Forum statt. Es wurde getragen von der Verei-nigung Deutscher Wissenschaftler gemeinsam mit der Uni-versität Hamburg, dem Philosophischen Seminar, dem CarlFriedrich von Weizsäcker-Zentrum für Naturwissenschaftund Friedensforschung und dem Institut für Friedensfor-schung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg.In kritischer Würdigung der Lebensleistung, in dankbarerErinnerung an seine Verdienste für die veranstaltenden In-stitutionen und mit dem Wunsch seine Denkansätze für dieaktuellen Fragestellungen fruchtbar zu nutzen, wurde einDiskussionsrahmen geschaffen, der künftig regelmäßig inHamburg realisiert wird. Das Buch dokumentiert Beiträgedes ersten Forums. Ergänzend wurde ein Vortrag und einStreitgespräch aufgenommen, die zum 91. Geburtstag CarlFriedrich von Weizsäckers an der Katholischen Universi-tät Eichstätt-Ingolstadt entstanden sind. Ein bewegendesZeitdokument beschliesst den Band. Die Predigt zur Trau-erfeier in Starnberg im Rahmen der Beisetzung von CarlFriedrich von Weizsäcker eröffnet – voller Zuneigung – diepersönliche, private Sicht des Schwiegersohnes KonradRaiser auf das Leben und auf das Sterben des großen Ge-lehrten.192 S., 19,90 €, br., ISBN 978-3-8258-1769-5

Beachten Sie den FachkatalogPolitikwissenschaft

unter:http://www.lit-verlag.de/kataloge

Beachten Sie den FachkatalogPhilosophie

unter:http://www.lit-verlag.de/kataloge

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Unbenannt-2 1 08.02.2012 21:08:16 Uhr

Page 24: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

24 GRAUZONE

interview

Die Übeltäter heißen Menthol, Zucker oder Vanille: Zusatzstoffe, die heute in fast jeder Zigaret­te enthalten sind. Forscher ent­wickelten die Zusätze, um die Attraktivität von Zigaretten zu erhöhen, sagt Martina Pötsch-ke-Langer. Wir sprachen mit der Leiterin der Stabsstelle für Krebsprävention am Deutschen Krebs forschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg über ihren jahrelangen Kampf mit der Tabakindustrie und die Verantwortung von Wissen­schaftlern für die Nikotinsucht.

»Sie lieben es, mich zu hassen«

Frau Pötschke-Langer, Sie arbeiten

seit etwa 15 Jahren in der Krebspräventi-

on und haben sich mit den Gefahren von

Zusatzstoffen beschäftigt. Warum haben

Sie Ihre Karriere so eng mit dem Thema

Tabak verbunden?

Pötschke-Langer: Während meines Medi-

zinstudiums habe ich auch in der Abtei-

lung für Lungenkrebspatienten gearbeitet.

Dort musste ich das unendliche Elend der

Menschen erleben, die jämmerlich ver-

starben. Die Konfrontation mit der medi-

zinischen Wirklichkeit war eine Sache. Die

andere war meine Arbeit in der Gefäßam-

bulanz. Meine damaligen Patienten waren

zu fast 60 Prozent Raucher. Sie wären von

Gefäßerkrankungen verschont geblieben,

wenn sie nicht geraucht hätten. Der müh-

same Prozess, den chronisch Kranken das

Rauchen abzugewöhnen, hat mich dann

dazu bewogen.

Sie haben also aufgrund Ihres Ver-

antwortungsgefühls gehandelt?

Pötschke-Langer: Ich habe die Verantwor-

tung gesehen, weil sich damals keine In-

stitution in Deutschland ernsthaft darum

bemüht hat: In vielen Ländern, wie etwa

Skandinavien oder Großbritannien, gab es

in den 1990ern Fortschritte in Bezug auf

Tabakprävention und Rauchentwöhnung,

nur nicht in Deutschland. Es war unglaub-

lich! Wir haben deshalb entschieden, dass

es so nicht weiter gehen kann.

Wie ging es weiter?

Pötschke-Langer: Ich hatte damals am

Deutschen Krebsforschungszentrum ei-

nen fantastischen Chef: Professor Harald

zur Hausen, der 2008 den Medizin-Nobel-

preis erhielt. Er gab mir 1997 die einmalige

Gelegenheit, eine eigene Abteilung aufzu-

bauen.

Kommen wir zu den Zusatzstoffen.

Erhöhen sie die Suchtgefahr von Zigaret-

ten?

Pötschke-Langer: Zusatzstoffe erhöhen

die Sucht indirekt, indem sie die Attrakti-

vität von Tabakprodukten massiv erhöhen

und diese leichter rauchbar machen. 85

Prozent aller Raucher fangen vor dem 18.

Lebensjahr an. Diesen Jugendlichen wird

der Rauchbeginn durch Zusatzstoffe be-

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Page 25: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 25

sonders leicht gemacht. Das Fatale an den

Zusätzen ist, dass sie bereits Kindern und

Jugendlichen eine tiefe Inhalation ermög-

lichen, weil der bittere, unangenehme Ta-

bakgeschmack verdeckt wird.

Ein wichtiger Zusatzstoff ist Men-

thol. Warum?

Pötschke-Langer: Menthol wird eigentlich

therapeutisch eingesetzt, da es kühlend

und schmerzlindernd wirkt. Es schließt

aber auch die Atemwege auf, wodurch man

sehr tief inhalieren kann. Bei Zigaretten

führt es dazu, dass der Tabakrauch mit sei-

nen krebserzeugenden Substanzen länger

in der Lunge bleiben kann. Inzwischen ist

Menthol in fast jeder Zigarette vorhanden,

obwohl es dort nicht hin gehört.

Oh, blauer Dunst!In der Glut einer Zigarette herrschen 600 bis 900°C. Bei diesen Tempe-raturen kann aus dem ansonsten harmlosen Zusatzstoff Zucker Acrylamid und Acrolein werden – zwei krebserregende Substanzen.

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26 GRAUZONE

Können Sie das näher erläutern?

Pötschke-Langer: Wenn der Zusatz in den

Zigaretten eine Mischung aus Menthol,

Vanille und Zuckerarten ist, dann macht

diese Mischung das Rauchen so leicht und

angenehm wie nur möglich. Heute sind

Zigaretten dazu geeignet, den Kinder- und

Jugendmarkt zu erobern.

Die Tabakindustrie setzt die Zusatz-

stoffe ganz bewusst ein, und diese werden

von Forschern gezielt entwickelt?

Pötschke-Langer: Das ist richtig. Wir haben

Paradebeispiele aus den Tabakindustriedo-

kumenten, die in den 1990er Jahren wegen

der Haftungsprozesse in den USA [Anm.

d. Red.: Schadensersatzprozesse mehre-

rer US-Staaten gegen die Tabakindustrie]

ins Internet gestellt werden mussten. In

diesen Prozessen wurde herausgearbeitet,

dass die ganze Palette der Zusatzstoffe im

Wesentlichen dazu dient, Neueinsteiger

anzusprechen und zu gewinnen, sowie die

bereits bestehenden Raucher in der Ab-

hängigkeit zu halten.

Können Sie ein Zitat nennen?

Pötschke-Langer: Gerne. Zu Menthol

schrieb die Tabakindustrie intern bereits

in den 1970ern: »Unser Labor hat die

komplexen Interaktionen zwischen Niko-

tin- und Menthol-Freisetzung aufgedeckt.

Diese Beobachtung wird der Produkt-Ge-

schmacks-Entwicklung helfen, optimale

Mentholprodukte zu konstruieren.« Die

Beteiligten wissen über die Wirkung also

ganz genau Bescheid.

Heute gibt es Zigaretten, auf denen

steht: »ohne Zusatzstoffe«. Was kann man

davon halten?

Pötschke-Langer: Gar nichts! Ganz provo-

kant gesagt habe ich Zweifel, dass sie keine

Zusatzstoffe enthalten: Die meisten sind

leicht zu rauchen und unterscheiden sich

kaum von den anderen Zigaretten. Es ist zu

vermuten, dass die Zusatzstoffe nicht im

Tabak, sondern im Filter oder in der Hülle

untergebracht werden.

Sind Ihnen Fälle von Wissenschaft-

lern bekannt, die direkt von der Tabakin-

dustrie finanziert wurden?

Pötschke-Langer: Das ist ein trauriges Kapi-

tel in der Geschichte der Wissenschaft, das

insbesondere die deutsche Wissenschaft

betrifft. Wir haben dazu Beispiele, die wir

auf die Website gestellt haben [Anm.d.Red.:

www.dkfz.de/de/tabakkontrolle]. Und es

wird bis heute noch geforscht.

Können Sie einen konkreten Fall

nennen?

Pötschke-Langer: Können ja. Aber ich

möchte an dieser Stelle keinen Einzelfall

herausgreifen.

Wie sieht die Forschung zu Tabak in

Deutschland aus?

Pötschke-Langer: Es gibt keinen Risiko-

faktor, der so gut erforscht ist wie das

Tabakrauchen. In den medizinischen Da-

tenbanken finden Sie 40.000 bis 50.000

Publikationen zu gesundheitlichen Folgen

des Rauchens und zur Sucht durch Tabak-

produkte. Was die Gesundheitsgefährdung

angeht, sind alle Daten auf dem Tisch.

Jährlich sterben 650.000 Menschen in

Europa an den Folgen des Rauchens. Wa-

rum gibt es bis heute kein Verbot von Zu-

satzstoffen in Deutschland?

Pötschke-Langer: Das kann man ganz

klar beantworten. Die Tabaklobby hat

eine immense Stärke, insbesondere in

Deutschland. Und sie hat es bisher durch

geschicktes Lobbying geschafft, eine Pro-

duktregulation zu verhindern.

Sie sitzen seit 1992 im Steuerungs-

gremium des »Aktionsbündnisses

Nichtrauchen« und seit 2000 im Steue-

rungsgremium des »Wissenschaftlichen

Aktionsbündnisses Tabakentwöhnung«.

Was genau machen Sie dort?

Das Ende einer »Kippe« – zerdrückt im Aschenbe-cher. Voll gefüllt entfaltet der Ascher sogar eine gewisse Ästethik. Im Filter gut erkennbar: die braunen Rückstände. Gesundheitskosten durch das Rauchen in Europa: 1 Prozent des Bruttoin-landprodukts, schätzt die WHO.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 27

Die Wissenschaftler der Tabakindustrie werden exorbitant gut bezahlt. Es ist ihre Entscheidung, für wen sie arbeiten und von wem sie das Geld nehmen. Denn sie wissen ganz genau, was sie dort tun. Es ist die Frage: Ist Ethik für mich ein Stellenwert?

»

«

Pötschke-Langer: Wir stimmen uns mit

anderen angesehenen Organisationen

ab, wie etwa der Deutschen Krebshil-

fe oder der Deutschen Gesellschaft für

Kardiologie.

Sehen Sie Interessenskonflikte

zwischen Ihrem Engagement und Ihrer

wissenschaftlichen Arbeit?

Pötschke-Langer: Ich kann keine erken-

nen. Wenn es Interessenskonflikte gäbe,

dann würde ich an einer solchen Initiati-

ve nicht mitwirken.

Haben Sie Probleme mit der Tabak-

industrie bekommen?

Pötschke-Langer: Mit der Tabakindustrie

nicht, aber natürlich mit ihren Lobby-

isten. Sie lieben es, mich zu hassen und

in den entsprechenden Blogs meine Ar-

beit anzugreifen. So bekomme ich Hass-

Mails und Beschimpfungen im Internet.

Bisweilen ist das keineswegs spaßig.

Welche Verantwortung haben For-

scher, die für die Tabakindustrie ar-

beiten?

Pötschke-Langer: Die Wissenschaftler

der Tabakindustrie werden exorbitant

gut bezahlt. Es ist ihre Entscheidung, für

wen sie arbeiten und von wem sie das

Geld nehmen. Denn sie wissen ganz ge-

nau, was sie dort tun. Es ist die Frage: Ist

Ethik für mich ein Stellenwert oder kann

ich mich darüber hinweg setzen?

Wie viele Forscher arbeiten heute

an neuen Zusatz- oder Inhaltsstoffen

für die Tabakindustrie?

Pötschke-Langer: Weltweit sind es Tau-

sende von hervorragenden Forschern.

Das kann sich die Tabakindustrie auch

leisten, bei jährlich mehreren Milliar-

den Gewinn in Deutschland.

Zum Schluss eine persönliche Fra-

ge. Haben Sie selbst jemals geraucht?

Pötschke-Langer (lacht): Ja, am Ende

meines Medizinstudiums habe ich

mich in einer Lerngruppe auf die groß-

en Examensprüfungen vorbereitet. Die

Begleitmusik dazu waren schwarzer Tee

– zwei, drei Kannen pro Tag – und Ziga-

retten. Aber kaum hatten wir das Exa-

men in der Tasche, haben wir von diesen

Lastern gelassen. Seit dem kann ich Zi-

garetten nicht mehr ertragen – genau so

wie den schwarzen Tee von damals. <<

Michael Greiner

Rauchen ist ein Spitzengeschäft – für die Tabak-industrie. In Deutschland setzt sie jährlich rund 12 Milliarden Euro um. Manche Marken werben mit dem Versprechen: »ohne Zusätze«.

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28 GRAUZONE

Polit ikberatung

Der Staat fördert einen Teil der Forschung. Die Erkenntnisse der Wissenschaft können politische Entscheidungen stützen. Wie Experten die deutsche Regierung beraten und inwieweit sie Einfluss auf Entscheidungs-prozesse haben.

Eine Hand wäscht die andere?

Der Hessische Landtag in Wiesbaden: Hier treffen sich Politiker und Forscher. Gemeinsam suchen sie nach Lösungsansätzen für gesell-schaftliche Probleme.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 29

Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Stippvisite im Robert-Koch-Insitut in Berlin. Die Forschungseinrichtung ist Teil des Bundesministeriums für Gesundheit und berät die Politik vor allem in biologischen und medizinischen Fragen. Der 11.11.2011 im CDU-Sitzungssaal

des Hessischen Landtages. Hier

wird nicht etwa die Fastnachts-

kampagne 2012 eröffnet, sondern die Sit-

zung der Enquete-Kommission »Migration

und Integration in Hessen«. Pünktlichkeit

scheint nicht oberste Priorität zu sein. Fünf

Minuten verspätet begrüßt der Vorsitzen-

de Jürgen Banzer (CDU) die Anwesenden

und eine viertel Stunde später kommen

auch die letzten Teilnehmer an. Gerade

referiert Rauf Ceylan, Migrations- und

Religionssoziologe an der Universität Os-

nabrück, über die Situation der Migranten

in Deutschland und gibt den Politikern

eine Handlungsempfehlung: »Es ist wich-

tig, den islamischen Religionsunterricht

flächendeckend einzuführen.« Nach ihm

tragen noch vier weitere Experten vor. Die

Abgeordneten stellen eine Menge Fragen,

unter anderem nach empirischen Befun-

den. Sie verlangen immer wieder nach

Handlungsvorschlägen. Viereinhalb Stun-

den dauert der Dialog zwischen wissen-

schaftlichen Beratern und Abgeordneten.

Zwar macht in diesem Fall die Haltung

einiger Mitglieder – tief im Stuhl hängend,

mit dem Handy spielend, sogar dösend –

nicht den Eindruck, aber in einer Enquete-

Kommission haben die Wissenschaftler die

Aufmerksamkeit der Politik. Somit können

sie Einfluss auf den Schlussbericht neh-

men. Bei der Enquete sind Sachverständi-

ge wie Unternehmer oder Wissenschaftler

unter den ständigen Mitgliedern. Diese

nehmen an jeder Sitzung teil und erarbei-

ten gemeinsam mit den Abgeordneten die

Lösungsansätze.

ExPERTEn GEBEn EMPFEHLunGEnDie Enquete-Kommission ist eine von vie-

len wissenschaftlichen Beratungsmöglich-

keiten und wird vom Bundes- oder Land-

tag in Auftrag gegeben.

Sie gewinnt mittels Expertenanhö-

rungen, Arbeitsunterlagen und For-

schungsaufträgen Informationen zu

einem Thema und sucht nach Lösungsan-

sätzen zu gesellschaftlichen Problemen.

Die Kommission erarbeitet einen Schluss-

bericht und gibt ihn als Empfehlung an

das Parlament.

Ad-hoc-Kommissionen sind nicht wie

die Enquete im Bundes- oder Landtag, son-

dern in der Bundes- oder Landesregierung

angesiedelt. Der zuständige Minister oder

die Bundeskanzlerin setzt sie ein, um sich

externen Rat zu bestimmten Problemstel-

lungen einzuholen. Der politische Auftrag-

geber wählt die Mitglieder frei aus. Diese

Kommissionen sind für eine bestimmte

Zeit eingesetzt und erarbeiten ebenfalls

einen Schlussbericht, jedoch in der Regel

mit Handlungsempfehlungen für die Re-

gierung.

Der Einfluss eines Schlussberichtes auf

die Politik unterscheidet sich von Kom-

mission zu Kommission. Denn letztlich

entscheidet die Regierung, was sie damit

macht. Und diese, meint Ulf Riebesell,

nimmt Beratungen sowieso nur an, wenn

sie es in ihrer Strategie gebrauchen kann.

Riebesell ist Gutachter für den nächsten

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Page 30: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

30 GRAUZONE

Bericht des Weltklimarats und forscht als

Ozeanograph am Leibniz-Institut für Mee-

reswissenschaften. Doch als Politikberater

sehe er sich nicht: »Ein Wissenschaftler

braucht nicht zu glauben, dass er die Po-

litiker zum Handeln bringen kann«, sagt

Riebesell. Für ihn seien die Bürger die trei-

bende Kraft. Deshalb sehe er seine Verant-

wortung darin, der Gesellschaft korrekte

Informationen zu vermitteln und zu ihrem

Wohle zu handeln: »Das Entscheidende ist,

was die Gesellschaft mit den Erkenntnis-

sen macht. Die Politik wird erst auf die Äu-

ßerung der Gesellschaft reagieren. Siehe

Fukushima.« Riebesell warnte als einer der

Ersten vor der Ozeanversauerung als Folge

des Klimawandels, doch »geschehen ist

noch lange nichts«, sagt der Forscher.

PoLITIK BRAucHT WISSEnScHAFTTrotz alldem ist gerade die Klimapolitik

abhängig von der Expertise der Forscher.

»Zum Klimawandel gab es in den 1980ern

zwei Enqueten. Vor allem die Erste galt als

sehr einflussreich für die weitere diskursi-

ve Struktur des Politikfeldes«, sagt Thurid

Hustedt, Verwaltungswissenschaftlerin

der Potsdamer Universität. Sie bestätigt,

dass der Einfluss eines Abschlussberichts

immer schwer nachzuvollziehen ist. Er

werde zwar in jedem Fall in Ausschüssen

und Plenen diskutiert. Das heiße aber

nicht, dass er in einen Entscheidungs-

prozess mit eingehe. Dennoch weiß sie:

»Die Grundtendenz ist, dass Politik wis-

senschaftsabhängiger wird. Die gute poli-

tische Entscheidung soll sowohl auf einer

Wertentscheidung, wie auch nach bestem

Wissen getroffen sein.«

Da laut Hustedt der Beratene viel we-

niger als der Berater weiß, müsse Letzte-

rer sich entsprechend verhalten und den

Sachverhalt angemessen und sorgfältig

vorbringen. Die Verantwortung habe er

gegenüber den Gremien, seiner eigenen

Disziplin und dem Beratenen.

Laut Hustedt geben Wissenschaftler

ihre Fakten nicht nur wieder, sondern in-

terpretieren sie auch in ihrem sozialen

Zusammenhang. Deshalb hängt ihrer Mei-

nung nach verantwortliches Handeln der

Berater davon ab, »wie sie ihre Ergebnisse

kommunizieren, auf Streitigkeiten auf-

merksam machen, mehrere Meinungen

präsentieren, und ob sie deutlich machen,

wenn Erkenntnisse vage sind«. Die Ver-

waltungswissenschaftlerin hat bereits ge-

meinsam mit Kollegen ein Gutachten für

das europäische Parlament geschrieben:

»Man fragt sich, wird das so verstanden,

wie wir es meinen? Und was passiert mit

den Sachen, die wir hier aufschreiben?«

Kommunikationsschwierigkeiten sind laut

Hustedt ein Problem der Politikberatung.

Denn nicht immer werde das, was der Wis-

senschaftler für eindeutige Sprache halte,

in der Politik auch so verstanden.

Universitäten können die Politik durch

Gutachten beraten. Ein Gutachten steht

in der Regel in Verbindung mit einer Auf-

tragsforschung. Dafür gibt es offizielle

Ausschreibungen. Die Forscher bewerben

sich mit einem Vorschlag, wie sie an das

Problem herangehen würden und was es

kosten würde. Auch außeruniversitäre Ein-

richtungen, wie die Helmholtz-Gemein-

schaft, beraten mittels Publikationen und

Auftragsforschung die Politik.

»Es ist sehr unwahrscheinlich, dass ein

Gutachten komplett von einem Minister

gelesen wird. Dafür sind Mitarbeiter da,

die dann kanalisieren und mitteilen was

darin steht«, sagt Hustedt. Inwiefern das

Gutachten in einzelne Fragestellungen

eingehe, könne davon abhängen, wie das

zuständige Referat es aufnehme und wei-

terkommuniziere.

Auch Ressortforschungseinrichtungen

(RFE) forschen im Auftrag der Regierung.

30 GRAUZONE

Page 31: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 31

thematisch vorbestimmt, aber die Wissen-

schaftler könnten ihre Methoden frei wäh-

len und ihre Ergebnisse unabhängig inter-

pretieren. Auch auf die Veröffentlichungen

habe das Ministerium keinen Einfluss.

Dauerhaft eingerichtete Beratungs-

gremien, wie der Ethikrat und der Sach-

verständigenrat zur Begutachtung der

gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, be-

raten die Politik fortwährend. Letzterer,

auch die fünf Wirtschaftsweisen genannt,

gibt jährlich einen Bericht an die Regie-

rung. Es gibt rund 300 Beiräte und Sach-

verständigenräte dieser Art, wie die Zeit-

schrift Aus Politik und Zeitgeschichte in

ihrer 19. Ausgabe berichtet. Ihnen gehören

ausgewiesene Fachleute an, die entweder

einem Bundesministerium, einer Bundes-

behörde oder einer Einrichtung der Bun-

desverwaltung zugeordnet werden.

Thurid Hustedt bestätigt, dass die Poli-

tikberatung ein kompliziertes System mit

vielen Beteiligten ist. Im Prinzip könne je-

der Experte sowie jede wissenschaftliche

Einrichtung in entsprechenden Umstän-

den zur Politikberatung beitragen. Doch

die Einflussmöglichkeit eines Wissen-

schaftlers hänge vom Arbeitsfeld, der Art

der Beratung und den Interessen der Po-

litik ab: »Nach Auffassung vieler Wissen-

schaftler verlangen Politiker immer kon-

krete Empfehlungen, die sie dann nicht

umsetzen«, sagt Hustedt.

Aber wie gelangen Wissenschaftler auf

den Radarschirm der Politikberatung? Für

Gutachten können sie sich bewerben. Aber

zu Kommissionen werden sie eingeladen.

Dazu muss der Wissenschaftler laut Gisela

Färber eine bestimmte Reputation haben

und bereits als Experte bekannt sein, etwa

über Publikationen oder Präsenz in den

Medien.

Färber ist Professorin für wirtschaft-

liche Staatswissenschaften an der Deut-

schen Hochschule für Verwaltungswissen-

schaften in Speyer und saß selbst schon

in Kommissionen. Färber meint, auch

weitere Wissenschaftler hätten die Chance

sich bekannt zu machen. »Die Ministerial-

verwaltung besucht Tagungen. Da habe ich

schon sehr oft erlebt, dass jemand, der gut

ist, neue Ideen und innovative Fragestel-

lungen unterbringen kann.« <<

Michèle Lauer

Die 39 Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft

der RFE sind Behörden im Geschäftsbe-

reich der einzelnen Fachministerien, also

den Ressorts. Das Bundesministerium für

Gesundheit hat allein fünf verschiedene

RFEs, darunter auch das Robert-Koch-Insti-

tut in Berlin.

Sie erarbeiten wissenschaftliche Grund-

lagen, die als Entscheidungshilfe für das

Ministerium dienen. Dieses kann direkt

auf das Wissen zugreifen und eine kurzfri-

stige Stellungnahme verlangen. Um dem

gerecht zu werden, arbeiten die Einrich-

tungen an Vorlaufsforschungen. Dabei for-

schen sie im Auftrag des Ministeriums auf

Gebieten, die aktuell keiner Beratung be-

dürfen, aber in der Zukunft schnell einen

Handlungsvorschlag verlangen könnten.

Das Robert-Koch-Institut forscht bei-

spielsweise zur Abwehr bioterroristischer

Waffen. Für den Fall einer Epidemie hält

es Wissen zu Human- und Tierseuchen

bereit. »In einer Krisensituation wird eine

Ressortforschungseinrichtung von einem

auf den anderen Tag aktiviert«, sagt Hu-

stedt. Kontinuierliches Bearbeiten und

Beobachten langfristiger Fragestellungen

gehören ebenfalls zu den Aufgaben einer

RFE.

FREIHEIT DER FoRScHERAber wie unabhängig sind Forschungsein-

richtungen, wenn sie an das Ministerium

angebunden sind? Die Arbeitsgemein-

schaft der RFE erklärt dazu in ihrem Po-

sitionspapier: Die Ressortforschung sei

ob Biologie, Kernenergie, Medizin oder Sozialwissenschaften – Experten aus allen wissenschaftlichen Bereichen haben die Möglichkeit, Politiker zu beraten.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 31

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32 GRAUZONE

Kommentar

Milliardengrab oder Hoffnung der Menschheit: Je nach Forschungsprojekt und Befragtem gehen die Meinungen zur Grundlagenforschung weit auseinander. Doch wer von ihr kurzfristig verwertbare Ergebnisse verlangt, gefährdet den Fortschritt.

Ein Hoch auf die Geldverschwendung

In turnhallengroßen Maschinen Pro-

tonen auf Anti-Protonen schießen, Frö-

sche zählen im bolivianischen Urwald,

oder die Frage, warum Wortspiele nicht

für alle Menschen gleich lustig sind – das

alles ist Grundlagenforschung. Der ame-

rikanische Physiker und Wissenschafts-

theoretiker Alvin M. Weinberg beschrieb

die Grundlagenforschung einmal als For-

schung, »die durch keinerlei Begründung

gerechtfertigt werden kann, mit Ausnah-

me der Tatsache, dass sie die menschliche

Neugier befriedigt«. Diese Begründung er-

scheint auf den ersten Blick recht dürftig.

In Zeiten, in denen die großen Probleme

der Menschheit – Armut, Hunger, Unge-

rechtigkeit – und selbst die alltäglicheren

Probleme der Industriegesellschaften

nicht annähernd gelöst sind, muss es fast

zynisch erscheinen, für solche Forschung

Geld auszugeben. Sollte man das Geld

nicht besser nutzen, um anwendungsori-

entiert zu forschen?

Wer die Entwicklung der Forschungs-

förderung in Deutschland betrachtet,

kann zu dem Schluss kommen, dass die

Regierung und ihre Berater aus Wirtschaft

und Forschung genau dieses Ziel verfol-

gen. So rief die Bundesregierung schon

2006 eine »High-Tech Strategie« aus, um

»die wichtigsten Akteure des Innovations-

geschehens hinter einer gemeinsamen

Idee« zu versammeln. Die Stärkung des

»Wissenschaftsstandorts« Deutschland

liegt der Bundesregierung am Herzen:

Steuergelder fließen in eine »Exzellenzini-

tiative«, und der »Pakt für Forschung und

Innovation« soll »Qualität, Effizienz und

Leistungsfähigkeit in Forschung und Leh-

re« verbessern. Auch die Universitäten ver-

ändern sich. Die Bologna-Reform verkürzt

das Studium und schafft Vergleichbarkeit

zwischen den europäischen Universitäts-

abschlüssen. Alle diese Maßnahmen sollen

Wissenschaft dynamischer, zielorientierter

und produktiver machen. Eigentlich klingt

das ja sehr vielversprechend. Und doch

hört man immer wieder Kritik an dieser

Entwicklung.

Kein praKtischer nutzen?»Allenthalben – ob in Kultur, Politik, Wis-

senschaft und Forschung, im Gesund-

heitswesen und selbst im gesamten Be-

reich der Bildung – scheinen offenbar

vergleichbare Anforderungen zu bestehen

wie für Unternehmen der Wirtschaft«,

fasst etwa Eberhard von Kuenheim, lange

Jahre Vorstandsvorsitzender der BMW AG,

die Entwicklung zusammen. Die Art, wie

Wissenschaft betrieben wird, verändert

sich, und die Probleme, die daraus entste-

hen, werden immer offensichtlicher.

AusgAben für forschungund entwicklung in deutschlAnd

Das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) beträgt etwa 2,4 Billionen Euro.*

Die Ausgaben für Bildung, Wissenschaft und Forschung belaufen sich auf insgesamt 204,1 Milliarden Euro. Das entspricht 8,4 Prozent des BIP. Mehr als zwei Drittel dieser Summe – rund 155 Milliarden Euro – fließen in die Lehre an Schulen und Hochschulen.

Für Forschung und Entwicklung bleiben rund 61,5 Milliarden, die sich aus staatlichen und privatwirtschaftlichen Investitionen zusammensetzen. Die Wirtschaft trägt mit 43 Milliarden Euro etwa zwei Drittel der Ge-samtsumme bei, Tendenz steigend. Der Staat, also Bund und Länder, finanziert den Rest von etwa 18,5 Milliarden Euro.

Zum Vergleich: Der Verteidigungsetat Deutschlands lag 2008 bei 25,7 Milliarden Euro, die staatliche Kulturförderung betrug rund 9 Milliarden Euro.

*Falls nicht anders angegeben, beziehen sich alle Zahlen auf 2007 .

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Page 33: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 33

Der »Joint european torus« ist die weltweit größte Fusionsforschungsanlage. Der nachfolgereaktor »iter« ist aufgrund der hohen Bau- und unterhaltskosten umstritten.

Glaubt man dem Nobelpreisträger Her-

bert Kroemer, ist die Ausrichtung der For-

schung an der Wirtschaft langfristig schäd-

lich für unsere Gesellschaft. »Der Druck, die

Forschung auf vorhersagbare Anwendungen

zu konzentrieren, verzögert den Fortschritt,

statt ihn zu beschleunigen«, so Kroemer

in einer Rede vor der Uni Jena. Kroemer

erhielt den Nobelpreis für Physik für seine

Forschungsarbeit zu Halbleiterlasern in den

späten 1950er Jahren. Seinem Forschungs-

feld rechnete man ursprünglich keinerlei

praktischen Nutzen zu. Heute, rund 60 Jah-

re später, sind Halbleiterlaser aus unserem

Alltag nicht mehr wegzudenken. CDs und

DVDs, optische Datenübertragung in Glas-

faserkabeln und leuchtende LEDs: Das al-

les sind Entwicklungen, die ohne Kroemers

Grundlagenforschung nicht möglich wären.

Solche späten Erfolge kann man in der Ge-

schichte der Forschung häufiger finden.

Die wirtschaftliche Verwertbarkeit von

Forschungsergebnissen zum einzigen

Maßstab »guter Forschung« zu machen,

setzt nicht nur ganze Wissenschaftszweige,

wie zum Beispiel die meisten Geisteswis-

senschaften, einem gefährlichen Zwang

zur Rechtfertigung ihrer Forschungsziele

aus. Er führt auch dazu, dass langfristige

Forschungsprojekte fast unmöglich wer-

den. Ein gutes Beispiel ist hier die Kernfu-

sion. Sie wird seit rund 40 Jahren erforscht,

lange Zeit »ohne belastbare Aussicht auf

Erfolg«, so die Vereinigung Deutscher

Wissenschaftler (s.a. S. 36). In den letzten

Jahren werden die Stimmen, die einen

Ausstieg aus der Erforschung der Kernfu-

sion fordern, wieder lauter. Doch allein

das Potential dieser Technologie, die die

gesamte Menschheit nachhaltig mit sau-

berer Energie versorgen könnte, rechtferti-

gt in meinen Augen auch weitere 40 Jahre

Forschung. Selbst wenn sie ergebnislos

bleiben sollten.

Wenn wir wirklich verantwortlich mit

unseren begrenzten Ressourcen umgehen

wollen, müssen wir uns von der Fixierung

auf die finanziellen Kosten und den unmit-

telbaren wirtschaftlichen Nutzen von For-

schung lösen. Die Grundlagenforschung –

die keinem anderen Zweck dient als unsere

Neugier zu befriedigen – hat in der Vergan-

genheit bewiesen, dass sie das Verständ-

nis von uns selbst und dem Universum,

in dem wir leben, radikal verändern kann.

Die anwendungsnahe Forschung hat sicher

auch ihren Wert für die Gesellschaft und

bereichert unseren Alltag. Doch: »Die ent-

scheidenden Anwendungen jeder hinrei-

chend neuen und innovativen Technologie

waren immer Anwendungen, die von der

Technologie selbst erst erschaffen wurden«,

um nochmals Herbert Kroemer zu zitieren.

Wirklich bahnbrechende Entwicklungen

brauchen Zeit und viel Spielraum für Kre-

ativität. Wenn wir also im Sinne unserer

Nachkommen verantwortlich handeln wol-

len, müssen wir mehr »sinnlose« Forschung

wagen – was auch immer es kosten mag. <<

Thorsten Schwetje

Page 34: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

34 GRAUZONE

interview

Die Vereinigung Deutscher Wissenschaftler macht Lobbyarbeit für die Verantwortung

Gewissen verbindet

Im August 1945 gingen zwei Atombom-

ben auf Japan nieder. Das angerichtete

Leid und die Verwüstung zeigten, was

technische Entwicklungen – die auf wis-

senschaftlichen Erkenntnissen beruhen

– anrichten können. Als sich im Kalten

Krieg eine weitere nukleare Katastrophe

anbahnte, zogen Carl Friedrich von Weiz-

säcker und 17 weitere Atomwissenschaftler

Konsequenzen. 1957 schlossen sie sich zur

Göttinger 18 zusammen und stellten sich

öffentlich gegen die atomare Bewaffnung.

Aus dieser Gruppe entwickelte sich die

»Vereinigung deutscher Wissenschaftler«

(VDW), die sich bis heute für mehr Verant-

wortung in der Wissenschaft engagiert.

Aber was heißt das eigentlich genau? Und

hat diese Art der Lobbyarbeit Zukunft?

Wir haben uns mit dem Vorstandsvorsit-

zenden Ulrich Bartosch (der das Gespräch

wegen eines Folgetermins leider etwas frü-

her verlassen musste) und dem Geschäfts-

führer Reiner Braun getroffen.

»Wir sind nicht nur für das verant-

wortlich was wir tun, sondern auch für

das, was wir widerspruchslos hinnehmen.«

Worte von Linus Pauling, einem berühmten

US-amerikanischen Wissenschaftler, dem

1963 der Friedensnobelpreis verliehen

wurde. Wo sehen Sie zurzeit Handlungs-

bedarf? Wo nehmen Wissenschaftler und

Gesellschaft Missstände hin?

Braun: Es muss eine gründlichere Technik-

folgenabschätzung her. Ein Beispiel ist die

Nanotechnologie. Hier brauchen wir einen

stärkeren gesellschaftlichen Diskurs, das

gleiche gilt für die Gentechnik. Muss das

Kind erst in den Brunnen fallen, bevor wir

merken, dass wir einen falschen Weg ge-

gangen sind? Auch die Rüstungsforschung

ist nach wie vor ein großes Thema. Rü-

stungsforschung ist meiner Ansicht nach

Forschung zum Töten.

Das heißt, die VDW besteht aus über-

zeugten Pazifisten?

Braun: Die Gegnerschaft zur Rüstungsfor-

schung muss nicht unbedingt Pazifismus

»Über eines muss man sich im Klaren sein: Eine gewissenhafte Entscheidung kann für den eigenen Erfolg oder Nicht-Erfolg, für die Anstellung oder Nicht-Anstellung ausschlag-gebend sein.«

Ulrich Bartosch

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 35

Gewissen verbindet sein. Allerdings setzen wir uns dafür ein,

dass der Krieg durch Konventionen abge-

schafft wird, ebenso wie das schon für Fol-

ter und Sklaverei geschah.

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das Sie

dazu gebracht hat, sich mit dem Thema

Verantwortung in der Wissenschaft zu be-

schäftigen?

Braun: Ja, das war 1983. Damals habe ich

den Kongress »Naturwissenschaftler war-

nen vor neuen Atomwaffen« vorbereitet.

Der gerade von Ihnen zitierte Linus Pau-

ling war einer der Sprecher. In einer Pause

saßen wir zusammen und hielten einen

Mittagsplausch, nebenher aß er seine Vita-

mintabletten.

Dazu muss man wissen: Linus Pau-

ling war ein überzeugter Vertreter der

These, dass Vitamine als Nahrungsergän-

zungsmittel der Schlüssel zu einem län-

geren und gesünderen Leben sind. Heute

ist das sehr umstritten.

Braun: Genau. Jedenfalls erzählte er mir,

wie unverantwortlich er es fände, dass die

Rüstungsforschung an amerikanischen

Universitäten eine so große Rolle spiele.

Daraus hat sich eine Diskussion über Ver-

antwortung entwickelt, die mich sehr ge-

prägt hat.

Herr Bartosch, um welche Verant-

wortung geht es der VDW genau?

Bartosch: Es geht um Verantwortung in

zweierlei Hinsicht. Zum einen hat der

Wissenschaftler selbst die Verantwortung,

über die Folgen seines Tuns nachzuden-

ken. Zum anderen hat die Wissenschaftsge-

meinde die Aufgabe, sich für mehr Verant-

wortung in der Wissenschaft einzusetzen.

Hat sich diese Verantwortung in den

letzten Jahrzehnten verändert?

Braun: Sie hat sich ausgeweitet. Früher war

die VDW absolut physiklastig. Heute steht

die Wissenschaftsverantwortung in einem

viel breiteren Spektrum. Zugespitzt gesagt

gibt es keine Wissenschaftsdisziplin, die

sich nicht mit gesellschaftlicher und wis-

senschaftlicher Verantwortung beschäfti-

gen muss.

Bartosch: Und heute ist es unsere Aufgabe

als Vereinigung, ein allgemeiner Pool zu

sein. Aus allen Fachrichtungen treffen sich

Wissenschaftler und arbeiten an Themen,

für die sie an anderer Stelle nicht so leicht

Unterstützung bekommen.

Die vielfältige wissenschaftliche Ar-

beit der VDW ist möglich, da sie aus rund

400 Mitgliedern besteht, wovon zwei Drit-

tel Wissenschaftler sind. Sogar sein müs-

sen, das schreibt die VDW vor. Was ist mit

dem restlichen Drittel?

Bartosch: Das sind wissenschaftlich gebil-

dete und interessierte Persönlichkeiten.

Wir brauchen auch Mitglieder aus der öf-

fentlichen Verwaltung oder aus Unterneh-

men, damit wir besser mit Politik und Ge-

sellschaft zusammen arbeiten können.

Und wie werden die Mitglieder der

VDW ausgewählt?

Bartosch: Man kann einen Mitgliedsantrag

stellen, braucht dann aber Bürgen, die be-

reits in der VDW sind. Oder ein Mitglied der

VDW schlägt jemanden vor. Die Anfragen

werden dann vom Vorstand geprüft.

Es gibt also keine anonymen Anträ-

ge. Warum ist das so?

Bartosch: Das kontrollierte Aufnahmever-

fahren gewährleistet die Unabhängigkeit

der VDW von Parteilichkeiten und Ideo-

logien. In unserem Verein sollen sich die

Mitglieder dem Thema Verantwortung

unabhängig widmen können.

Zurzeit bearbeiten Sie neue Mit-

gliedsanträge. Bei Ihrem Gespräch vorhin

haben wir aufgeschnappt: »Kapitalisten

nehmen wir nicht auf.« Statement?

Braun: Nein, da ging es um einen ganz

anderen Punkt. Es ging um die ethische

Debatte über Rüstungskonzerne. In der

»Man sollte unsere Position nicht über-schätzen. Die Politik macht nicht einfach das, was wir möchten, nimmt aber Anre-gungen der VDW auf. Diese Ratgeberrolle wollen wir weiter spie-len.«

Reiner Braun

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36 GRAUZONE

Rüstungsindustrie gibt es viele Wissen-

schaftler und Ingenieure. Es würde die

VDW vor einige Probleme stellen, wenn

davon jemand beantragen würde, Mitglied

der VDW zu werden.

Bartosch: Die Bemerkung zum Kapitalis-

mus war ein Spaß. Aber im Ernst: Ich sehe

das nicht so dramatisch. Es wäre für mich

kein Problem jemanden in unseren Reihen

zu haben, der an dieser Stelle eine andere

Position vertritt. Überhaupt nicht. Wissen-

schaft lebt doch von der Kontroverse und

vom Streit, oder?

Ohne Frage. Gibt es denn in man-

chen Wissenschaftsdisziplinen eine größe-

re Verantwortung als in anderen?

Braun: Ganz provokativ: nein!

Nehmen wir das Beispiel der Fusi-

onsforschung. Wenn zwei Atomkerne ver-

schmelzen, entsteht enorm viel Energie.

Die könnte man nutzen, gäbe es dafür

eine entsprechende Technik. Nun schrei-

ben Sie in Ihrem Positionspapier »Für eine

verantwortbare und zukunftsorientierte

Forschungspolitik in Deutschland« (2010),

dass Fusionsforschung zu stark gefördert

wird und dafür zu wenige Ergebnisse lie-

fert. (s.auch S.33) Daraus schließen wir,

dass Ihrer Meinung nach diese Forschung

weniger wichtig ist.

Braun: Ich würde das anders diskutieren.

Wenn wir für Forschung nur begrenzte

Mittel haben, dann müssen wir überlegen,

wohin die Gelder fließen. Angesichts der

Herausforderungen, vor denen die Welt

steht, müssen Forschungsschwerpunkte

gesetzt werden. Vergessen wir nicht, wir le-

ben mit und in der Zivilisationskrise.

Also keine Entscheidung zwischen

wichtig und unwichtig, sondern zwischen

nachhaltig und nicht nachhaltig?

Bartosch: Genau. Die Frage ist, welche

Forschung eine Generation in 60 Jahren

unterstützen würde, wenn sie heute ent-

scheiden könnte. Von den Exportgewinnen

der nächsten zehn Jahre werden sie nicht

profitieren, aber die Klimafolgen werden

sie tragen müssen. Es geht nicht darum,

ob die Theologie weniger wichtig ist als die

Kernphysik, oder die Pädagogik weniger

folgenreich als die Elektrotechnik. Es geht

darum, absehbare Folgen zu erkennen und

mit Mitteln der Wissenschaft etwas dage-

gen zu tun.

Kann der Forscher denn selbst die

Folgen, die seine Forschung möglicherwei-

se hat, beeinflussen?

Bartosch: Der Wissenschaftler kann sich

die Frage stellen: »Welche Forschungser-

gebnisse publiziere ich und welche nicht?«

Und er kann sagen: »Ich will an einer be-

stimmten Forschung nicht mitwirken, also

mache ich es auch nicht.«

Ist das nicht ein Verlust an Wissen,

wenn man sagt, man wirkt bei einer be-

stimmten Forschung nicht mit?

Bartosch: Es ist auf jeden Fall eine Ein-

schränkung. Außerdem muss man sich

darüber im Klaren sein, dass so eine Ent-

scheidungen auch den eigenen Erfolg oder

Nicht-Erfolg, die eigene Anstellung oder

Nicht-Anstellung beeinflusst.

Die VDW unterstützt solche Entschei-

dungen mit dem »Whistleblower-Preis«.

Whistleblower, das sind Leute, die mit

Missständen innerhalb ihrer Unternehmen

oder Institutionen an die Öffentlichkeit

gehen – ungeachtet der Konsequenzen.

Glauben Sie, dass diese Auszeichnung An-

dere ermutigt, das Selbe zu tun?

Braun: Dieser Preis hat Symbolcharakter,

bewirkt allein jedoch nicht viel. Damit

Whistle-Blowing allgemein anerkannt

wird, muss es ein Gesetz wie in den USA

geben. Dieses fordert die Menschen dazu

auf, gewissenhaft zu arbeiten und zu han-

deln, ohne bestraft zu werden. Dafür set-

zen wir uns ein.

Seit sechs Jahren kämpfen Sie schon

für dieses Gesetz. Wie groß ist die Chance,

dass es umgesetzt wird?

Braun: Bei der letzten Anhörung im Bun-

destag waren sich alle Parteien einig, dass

es so ein Gesetz geben muss. Ich bin mir

nicht sicher, ob es diese Regierung noch

beschließen wird, die nächste ganz be-

stimmt.

Die VDW in der Politik: Wie schätzen

Sie Ihren Stellenwert ein?

Braun: Die Politik macht nicht einfach das,

was wir möchten, nimmt aber Anregungen

der VDW auf. Diese Ratgeberrolle wollen wir

weiter spielen. Man soll seine eigene Positi-

on nicht überschätzen.

Im Leitbild der VDW steht, dass sie

überparteilich ist. Können Sie das so un-

terschreiben, oder sehen Sie Tendenzen zu

der einen oder anderen Partei?

»In der Rüstungsin-dustrie gibt es viele Wissenschaftler und Ingenieure. Es würde uns vor einige Probleme stellen, wenn von ihnen jemand beantra-gen würde, Mitglied der VDW zu werden. Rüstungsforschung ist meiner Ansicht nach Forschung zum Töten.«

Reiner Braun

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Page 37: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 37

Braun: Überparteilich heißt in diesem Fal-

le, dass wir mit allen im Diskurs sind. Die

NPD nehme ich aus, das ist für mich keine

Partei, sondern eine verfassungswidrige

Organisation. Natürlich gibt es Parteien,

die die Mitglieder eher wählen als andere.

Hat die Tendenz, dass Mitglieder be-

stimmten Parteien zuneigen, Einfluss auf

die Schwerpunktsetzung der VDW?

Braun: Das würde ich nun absolut anders

herum sehen. Wir beeinflussen eher die

Themenstellungen der Parteien! Der Kli-

maberater der Bundesregierung, Hans Joa-

chim Schellnhuber, ist beispielsweise Mit-

glied der VDW und berät Frau Merkel.

Sie machen also Lobbyarbeit für eine

nachhaltige Wissenschaft.

Braun: So kann man es zusammenfassen.

Sie fordern eine demokratische Wis-

senschaftspolitik. Warum ist das wichtig?

Braun: Ein Beispiel ist der Umgang mit der

Klimaveränderung. Wie man dagegen vor-

geht, kann nicht über die Köpfe der Bürger

hinweg entschieden werden. Da hilft kein

Elfenbeinturm Wissenschaft. Das heißt, es

muss eine enge Kommunikation und Zu-

sammenarbeit zwischen Wissenschaftlern

und Normalbürgern her.

Wie könnte so eine enge Zusammen-

arbeit aussehen?

Braun: Wissenschaftler können zum Bei-

spiel den Bürgerinitiativen helfen. Das

geht nur, wenn die Anregungen aus diesen

Initiativen auch ernst genommen werden.

Der Streit um das Atommülllager in Gor-

leben ist ein Beispiel. Die Bevölkerung vor

Ort weiß gut Bescheid. Wenn diese Men-

schen mit der Wissenschaft zusammen-

kommen, was teilweise geschieht, dann

können daraus Oppositionen gegen ge-

fährliche Projekte entstehen.

Aber wie könnte man die wissen-

schaftlichen Informationen verständlich

an den Mann bringen?

Braun: Ich würde dafür kein Patentrezept

entwickeln. Es würde mich freuen, wenn

das Bildungsniveau in diesem Land so

hoch wäre, dass alle ein kleines Interesse

an Wissenschaftsthemen hätten.

Aber das ist nicht so?

Braun: Zurzeit nicht, nein. Dazu brauchen

wir ein Bildungssystem, das diese Neu-

gierde schürt. Eines, das Schülern und

Studenten die Wissenschaft nur vorknallt,

wird niemals Interesse wecken können.

Die VDW fordert und fordert…

Braun: Ich würde sagen, wir fordern nicht,

wir machen Vorschläge.

Liest man Ihr Leitbild, sind Ihre For-

derungen aber nicht zu übersehen. Wo

handelt die VDW konkret?

Braun: Handeln können Wissenschaftler in

ihrem Umfeld, in Universitäten und For-

schungsinstituten. Die 400 Mitglieder der

VDW sind natürlich nicht der Machtfaktor,

der die Gesellschaft verändert. Da sind wir

realistisch. Aber Veränderungen vollzie-

hen sich. Kernkraft ist eines unserer zen-

tralen Themen. Hätte man mir vor einem

Jahr gesagt, dass Deutschland 2011 den

Ausstieg aus der Atomenergie beschließt,

ich hätte ihn einen Spinner genannt!

Nun haben Sie immer wieder Pro-

jekte zu bestimmten Themengebieten,

zum Beispiel die Fachtagung »Zukunft

der Ernährung« (2011). Dafür braucht man

Geld. Wie finanziert sich die VDW?

Braun: Die VDW hat drei Finanzgrundla-

gen. Mitgliedsbeiträge, Spenden von Mit-

gliedern und Gelder von Stiftungen. Von

der »Deutschen Bundesstiftung Umwelt«

haben wir für das Projekt »Zukunft der

Ernährung« 125 000 Euro bekommen, ein

sehr hoher Betrag für unsere Verhältnisse.

Sie nehmen also auch Geld von ex-

ternen Quellen an. Würden Sie jede Spende

annehmen?

Braun: Wir nehmen Spenden an, solange

sie nicht anrüchig sind.

Was wäre eine anrüchige Spende?

Braun: Wenn ein Rüstungsunterneh-

men uns Geld anbieten würde. Das wi-

derspräche völlig den ethischen Grundla-

gen der VDW.

Aber ein Rüstungsunternehmen

würde auf diese Idee wohl auch nicht kom-

men. Eine letzte Frage, Herr Braun: Wie

setzen Sie persönlich die Verantwortung

in Ihrer Arbeit um?

Braun: Ich werbe dafür, dass der Frage nach

Verantwortung mehr Bedeutung beige-

messen wird – überall. Ich gehe keinem

Streit darüber aus dem Weg. Und ich bemü-

he mich, dass auch dort, wo es nicht offen-

sichtlich ist, die Frage nach Verantwortung

der Wissenschaft gestellt wird. <<

Das Gespräch führten Katrin Collmar

und Ann-Kathrin Braun.

»Es geht nicht darum, ob die Theologie we-niger wichtig ist als die Kernphysik. Es geht darum, absehbare Fol-gen zu erkennen und mit Mitteln der Wis-senschaft etwas dage-gen zu tun. Die Frage ist: Welche Forschung würde eine Generation in 60 Jahren unterstüt-zen?«

Ulrich Bartosch

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Page 38: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

38 GRAUZONE

Geschichte der radioaktivität

Atomphysiker zwischen Fortschritt und Rechtfertigung

Der radioaktive Elfenbeinturm

»Mehr Gutes als Böses«Marie und Pierre Curie forschten zu Be-

ginn des 19. Jahrhunderts nach bisher

unbekannten radioaktiven Elementen

und konnten schließlich zwei neue ent-

decken: Radium und Polonium. Sie er-

lebten die schädigende Wirkung der Ra-

dioaktivität an der eigenen Haut: Durch

ständigen Kontakt mit den Proben erlitt

Marie Curie Strahlenverbrennungen an

den Händen.

Für ihre Entdeckungen wird ihnen 1903

zusammen mit Henri Becquerel, Maries

Doktorvater, der Nobelpreis verliehen.

In seiner Rede zur Nobelpreisverleihung

äußerte Pierre Curie jedoch nicht nur Dan-

kesworte, sondern auch erste Bedenken:

»Es ist nicht auszuschließen, dass Ra-

dium in den Händen von Verbrechern zu

einer großen Gefahr werden kann, und so

darf man wohl die Frage aufwerfen, ob es

für den Menschen vorteilhaft ist, Nutzen

daraus zu ziehen, oder ob er mit diesen Er-

kenntnissen Schaden anrichtet … Dennoch

gehöre ich zu jenen, die mit Nobel glauben,

dass neue Entdeckungen der Menschheit

mehr Gutes als Böses bringen.«

»Mitmörder an der Menschheit«Albert Einstein war überzeugter Pazifist.

Doch als er zur Zeit des Zweiten Weltkriegs

erfuhr, dass Deutschland angeblich an ei-

ner Atombombe forschte, schrieb er einen

Brief an den damaligen amerikanischen

Präsidenten Roosevelt, in dem er auf diese

Gefahr aus Deutschland hinwies.

Zudem schlug er vor, »…dass ein stän-

diger Kontakt zwischen der Regierung und

der Gruppe von Physikern in Amerika her-

gestellt wird, die an dem Zustandekommen

der Kettenreaktion arbeiten…«, die für den

Bau einer Atombombe notwendig war. Ein-

stein hoffte, dass Amerika mit einer eige-

nen Atombombe den Krieg schnell genug

beenden könnte, bevor Deutschland eigene

Atomwaffen entwickelte.

Als später die Bomben auf Hiroshima

und Nagasaki fielen, bereute er diesen

Schritt schwer.

Auch ohne Einsteins Brief hätte Ame-

rika die Forschung an den Atombomben

aufgenommen. Doch für den Einsatz der

Waffen in Hiroshima und Nagasaki gab

er sich die Schuld und nannte sich selbst

»Mitmörder an der Menschheit«.

Hiroshima und Nagasaki – hunderttausend Menschen starben, als Amerika im Zweiten Weltkrieg Atombomben über Japan abwarf. Diese Tragödie erschütterte nicht nur das politische Weltklima, sondern auch die Wissenschaft.

Forscher versuchten, möglichst ungestört vom politischen Tagesgeschehen ihrer Arbeit nachzugehen. Doch der Elfenbeinturm der radioaktiven Wissenschaft zerbrach für viele von ihnen. So schockiert die Wissenschaftsgemeinde auch war, einige von ihnen hatten auch geahnt, wohin ihre Forschungen führen könnten – und dennoch weiter experimen-tiert. Die folgenden Beispiele zeigen, in welchem Konflikt Atomphysiker während und nach ihrer Forschung standen.

Pierre Curie

Albert Einstein

Marie Curie

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Page 39: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 39

»Sie dürfen nicht uns Wissenschaftler verantwortlich machen«Lise Meitner, eine jüdische Kernphysike-

rin, forschte zusammen mit Otto Hahn

an dem Zerfall radioaktiver Stoffe, bis die

Schreckensherrschaft der Nazis sie zur

Ausreise zwang. Später führten ihre und

Hahns Erkenntnisse zum Bau der Atom-

bombe durch die Amerikaner.

Als Lise Meitner damit konfrontiert

wurde, wies sie alle Schuld von sich:

»Ich muss betonen, dass ich selbst nichts

mit den Arbeiten zu tun habe, die todbrin-

gende Waffen in die Welt gesetzt haben. Sie

dürfen nicht uns Wissenschaftler verant-

wortlich machen, was Kriegstechniker da-

mit getan haben«.

»Dann bring ich mich um!«Otto Hahn arbeitete zur Zeit des Zweiten

Weltkriegs am Uranprojekt des Heereswaf-

fenamtes mit. Ziel des Projekt war es, die

Kernspaltung technisch nutzbar zu ma-

chen, beispielsweise für Kernreaktoren.

Aber Hahn weigerte sich, diesen tech-

nischen Fortschritt zu unterstützen. Laut

Carl Friedrich von Weizsäcker soll Hahn

gesagt haben: »Wenn aus meiner Entde-

ckung eine Atombombe für Hitler hervor-

geht, bring ich mich um«.

Als die Atombomben in Japan niedergin-

gen, fühlte er sich dafür verantwortlich.

Ein Teil von ihm war aber auch erleichtert.

In sein Tagesbuch schrieb er im Oktober

1945: »Mein erster Gedanke: Ein Glück, dass

wir [Anm. d. Red.: die Deutschen] damit

nicht angefangen haben«.

»Durch Sorgfalt Gefahren vermeiden«Werner Heisenberg war einer der füh-

renden Atomphysiker in Deutschland.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte er sich

vor allem für die Stromversorgung durch

Kernreaktoren ein.

Heisenberg war sich offenbar der Ge-

fahren bewusst, die ein solcher Reaktor

mit sich bringt. Für ihn war das jedoch ein

sicherheitstechnisches Problem, das lös-

bar war: »Die Gefahren durch radioaktive

Stoffe sind also zweifellos vorhanden, aber

sie gehören zu den am leichtesten mess-

baren und daher auch durch Sorgfalt ver-

meidbaren Gefahren«.

»Deutschland braucht sie«Klaus Traube leitete in den 1970er Jahren

den Bau eines Atomreaktors in Kalkar. Als

das Bundesamt für Verfassungsschutz zu

Unrecht vermutete, dass Traube Kontakt

zu Terroristen suchte, verwanzten sie seine

Wohnung und wandten sich auch an sei-

nen Arbeitgeber. Traube wurde daraufhin

gekündigt, woraufhin er sich zu einem der

härtesten Atomkritiker Deutschlands wan-

delte. Doch erste Zweifel waren ihm bereits

während seiner Arbeitszeit gekommen.

Immer wieder erlebte er, wie unvorsichtig

Arbeiter in Atomkraftwerken arbeiten. Da-

bei sieht Traube noch heute nicht nur die

Gefahren menschlichen Versagens:

»Ein katastrophaler Atomunfall [kann]

nicht nur, wie in Tschernobyl, unbeabsich-

tigt ausgelöst werden, sondern eher noch

durch terroristische oder kriegerische An-

griffe auf ein Atomkraftwerk. Vor allem

aber schafft die Nutzung von Atomkraft-

werken eine Infrastruktur, die als Grundla-

ge für die Atombombe dienen kann.«

Dennoch ist er Atomkraftwerken nicht

vollends abgeneigt. Im März 2011 äußert

er gegenüber der FAZ: »Ich bin nicht gegen

die Technik, ein dicht bevölkertes Land wie

Deutschland braucht sie.« <<

Julia Reuther

Werner Heisenberg

Otto Hahn

Lise Meitner

Page 40: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

40 GRAUZONE

INTERVIEW

Katastrophen wie der atomare GAU von Fukushima lassen den Ruf nach mehr politischer Verantwortung laut werden. Handeln ist angesagt. Im Frühjahr 2011 richtete die Bundes­regierung deshalb ihre Energiepolitik neu aus und bildete dazu Ethikkommission »Sichere Energieversorgung«. Volker Hauff war eines der Mitglieder und erklärt, wie man für ein hochideologisches Thema Kompro misse findet.

Kompromisse für Kompromisslose

Wann haben Sie erfahren, dass Sie in

dem von Bundeskanzlerin Angela Merkel

einberufenen Gremium mitwirken sollen?

Hauff: Das war sehr kurzfristig. Unmit-

telbar nach dem Unfall von Fukushima

hat die Bundesregierung beschlossen, die

Kommission einzurichten. Mich hat der

Chef des Bundeskanzleramtes angerufen

und gefragt, ob ich bereit wäre bei der

Kommission mitzuarbeiten.

Von 17 Mitgliedern gab es drei Ver-

treter der Kirche. Inwiefern waren diese

für die Leistung der Gruppe relevant?

Hauff: Sie waren sehr relevant. Vor allem

Herr Glück [Anm.d.Red.: Präsident des Zen-

tralkomitees der deutschen Katholiken]

war eine große Bereicherung für die Dis-

kussion in der Kommission. Er hat sich auf

den Prozess des Nachdenkens eingelassen

und nicht gleich gesagt, so und so muss es

sein.

Nun kamen Sie als Gruppe erstmals

zusammen und sollten innerhalb von zwei

Monaten eine Empfehlung abgeben. War

zumindest organisatorisch schon klar,

wie man die nächsten Wochen vorgehen

wollte?

Hauff: Nein, überhaupt nichts war klar:

Welchen Rhythmus die Sitzungen haben

oder ob man Arbeitsgruppen bildet – nichts

war klar. Wir haben zunächst in einer cha-

otischen Situation zusammen diskutieren

müssen, was wir eigentlich tatsächlich ma-

chen. Das war am Anfang verwirrend für

alle. So etwas muss man aber ertragen und

aushalten können, wenn man in solch eine

Kommission geht.

Wie war der weitere Ablauf?

Hauff: Wir sind am Ende der zwei Monate

insgesamt dreimal in Klausur gegangen. In

der Regel haben wir uns am Freitag Nach-

mittag oder Abend getroffen und dann bis

Sonntag getagt. Das heißt: drei Tage lang

zurückgezogen, an einem Ort, an dem wir

ungestört arbeiten konnten. Wo der Einzel-

ne nicht abends noch schnell verschwin-

den oder etwas anderes machen kann. In

der Zeit haben wir sehr konzentriert und

teilweise bis in die Nacht hinein diskutiert.

Dazwischen haben wir regelmäßige Sit-

zungen abgehalten.

Wie viele Standpunkte kamen im

Gremium zusammen? Oder war man

grundsätzlich einer Meinung und hat ge-

prüft, was möglich ist?

Hauff: Es gab eine Reihe von Leuten, die

Kernenergie kategorisch ablehnten. Auf

der anderen Seite gab es die, die gesagt

haben: »Das ist richtig, das ist gefährlich,

aber es gibt bei jeder Technologie Gefähr-

dungen und Risiken. Bei der Kernenergie

ist das nicht prinzipiell anders.« Nach

langer Diskussion gelang uns die Aussa-

ge: Diesen Widerspruch können wir in der

Kommission nicht auflösen. Die Frage ist,

wie wir damit umgehen. Das war einer der

wichtigsten Punkte in unseren Beratungen.

Wir konnten uns, trotz unterschiedlicher

Grundpositionen, auf der Ebene, was jetzt

zu tun ist, wieder finden.

Wie kann ich mir den Diskurs im

Gremium vorstellen?

Hauff: In wachsendem Maße war es eine

Diskussion entlang von Texten. Manchmal

war es auch eine freie Diskussion: Wenn

die Einzelnen gesagt haben, warum sie in

der Kommission mitarbeiten und welche

Grundposition sie zu den einzelnen The-

men haben. Da hatte man zunächst den

Eindruck: »Um Gottes willen, wie soll da-

raus ein vernünftiger Bericht entstehen?«.

Aber langsam bekam der eine Struktur.

Wie konnte man sich auf eine ein-

stimmige Empfehlung einigen?

Hauff: Jeweils nach den Sitzungen der

Ethikkommission wurde ein Text dazu

verschickt, auf den die Mitglieder dann

Page 41: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 41

Der deutsche Politiker Dr. Volker Hauff war viele Jahre Mitglied des Deut-schen Bundestages (1969-1989). Er ist gelernter Volkswirt, SPD-Mann und war in verschiedenen Bereichen tätig. Unter anderen war er parlamentarischer Staatssekretär (1972-1978), Bundesminister für Bildung und Forschung (1978-1980) und Oberbürgermeister von Frankfurt am Main (1989-1991). Das Thema Nachhaltigkeit hat ihn am längsten beschäftigt. Neun Jahre amtierte er als Vorsitzender des Rates für Nachhaltige Entwicklung und wurde 2010 mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet. Die von ihm entwickelten Handlungsstrategien zur nachhaltigen Entwicklung fanden in der Ethikkom-mission »Sichere Energieversorgung« Anwendung. Vom 4. April bis 28. Mai 2011 erarbeiteten die Mitglieder eine Empfehlung für die zukünftige Energiepolitik Deutschlands. Der Abschlussbericht schlägt vor, aus der Kernenergie innerhalb eines Jahrzehntes auszusteigen. Dazu entwickelte die Kommission politische Leitlinien. Eine sieht vor, einen unabhängigen Parlamentarischen Beauftragten im Deutschen Bundestag einzusetzen, der die Energiewende organisiert und kontrolliert. Bisher wurde dieser Vorschlag von der Bundesregierung jedoch noch nicht berücksichtigt.

reagierten. Anschließend wurde der Text

noch einmal überarbeitet. Das war der

Ausgangspunkt für neue Beratungen.

Wenn über etwas besonders intensiv nach-

gedacht wurde, haben wir in der Zwischen-

zeit zusammen telefoniert. Wir hatten kein

formalisiertes Verfahren. Wenn der Bedarf

da ist, muss man da sein und Zeit haben.

Hinter Entscheidungen stehen im-

mer Interessen verschiedener Personen.

Wurden einige Interessen weniger berück-

sichtigt als andere?

Hauff: Wenn man gemeinsam berichtet,

muss jeder Abstriche machen. Und jeder

hat Abstriche gemacht. Es ist kein Geheim-

nis, dass es Herrn Hambrecht von der BASF

sehr schwer gefallen ist, den Bericht zu ak-

zeptieren. Andere fanden eher, dass der

Bericht ganz gut war, dass man nur redak-

tionelle Änderungen vornehmen müsste.

Dazu würde ich mich zum Beispiel selbst

zählen. Ich war mit dem Ergebnis sehr zu-

frieden.

Wenn Sie diese Zeit mit drei Worten

beschreiben müssten, welche wären es?

Hauff: Lehrreich, inhaltsschwer und er-

folgreich. <<

Jeannine Schadel

Wir sind in Klausur gegangen und haben tagelang bis in die Nacht hinein diskutiert.

» «©

Jean

nine

Sch

adel

Page 42: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

42 GRAUZONE

glosse

Wie uns die Kosmetikindustrie eine faltenfreie Welt vorgaukelt und warum wir gerne zuhören.

Neueste Forschung: Jetzt in Ihrem Badezimmer!

DRAMATISCHE ERgEbnISSE, SofoRT! Zwanzig Jahre jünger

aussehen in nur wenigen Tagen! So kreischt die Creme aus dem

Regal der Apotheke, der Parfümerie oder dem Drogeriemarkt.

Die Parfümerie meines Vertrauens verlasse ich nie ohne ein

Pröbchen. Dieses Mal säuselt die Verkäuferin etwas von »wun-

derbar strahlende Haut durch neueste Erkenntnisse aus der

Stammzellenforschung« in mein Ohr.

Wissenschaft in der Parfümerie: Hier jagt eine Innovation die

nächste. Das Unmögliche scheint möglich. Mich beschleicht der

Verdacht: So viel »Neues« und »Bahnbrechendes« kann es doch

gar nicht geben. Aber zum Glück sind die »neuesten Erkennt-

nisse« wissenschaftlich bestätigt, geprüft, kontrolliert – sicher.

Mit Wissenschaftlichkeit werben, das wirkt seriös und ver-

trauenswürdig. Bei Clinique ist der Name Programm: Gegründet

von einem Hautarzt, tragen die Angestellten im Verkauf weiße

Kittel und führen Hautanalysen durch. »Götter in Weiß« gibt es

also nicht nur in der Klinik.

Was steckt hinter der Werbung? Seriöse Forschung oder eine

geschickte Marketingkampagne? Ein Wissenschaftler, der be-

geistert von seiner neuen Entdeckung gegen Falten schwärmt,

ist mir noch nicht begegnet. Auch keiner, der davon erzählt, wie

eine Creme die Stammzellen der Haut anregt – das klingt beein-

druckend. Vielleicht kann man damit auch unsterblich werden?

Studien? Wirksamkeitstests? Ich bin neugierig: Einseitige

Zusammenfassungen, deren Inhalt sich auf »Kauf mich!« be-

schränkt, habe ich genug. Ich suche eine vollständige »Wirk-

samkeitsstudie«, will wissen: Wer hat getestet? Wer bezahlt die

Tests? Und wie genau laufen sie ab?

Meine Recherche macht einsam: Gesprächig wird bei diesen

Fragen keiner. Auch Verbraucher bekommen zum Beispiel bei

Estée Lauder lediglich etwas wie »die Studien sind Firmeneigen-

tum« zu hören. Von der Auswahl der Probanden bis hin zum

Anlegen einer Kontrollgruppe – das ganze Studiendesign bleibt

meist unveröffentlicht.

Studien werden oft in firmeneigenen Instituten durchge-

führt. Das ist zum Beispiel bei Beiersdorf der Fall: Im »Hautfor-

schungszentrum« führt der Konzern laut eigener Internetseite

jährlich rund 1.500 Studien durch.

Eine weitere Möglichkeit ist es, die Studie in fremde Hände

zu geben: Man beauftragt ein »unabhängiges Forschungsinsti-

tut«. Unabhängig – selbstverständlich, und auf die Bedürfnisse

des Kunden zugeschnitten. Auf den Webseiten vieler solcher

Institute wirbt man mit »Dienstleistungen vom Studiendesign

bis hin zur statistischen Auswertung«. Dieses Zitat findet sich

auf der Webseite des Auftragsforschungsinstituts Proderm. Re-

ferenzen verrät Proderm, die sich unter anderem auf Kosmetik

spezialisiert haben, leider nicht.

Langsam dämmert es mir: Das Studiendesign ist der Schlüs-

sel zum Erfolg. Es gibt unzählige Wege, eine Studie zu manipu-

lieren. Was nicht passt, wird passend gemacht – das funktioniert

tatsächlich.

Auch Experten wie Prof. Martina Kerscher, Dermatologin und

Kosmetik-Forscherin, schreibt in ihrem Buch »Dermatokosme-

tik« vom »Mangel unabhängiger, vergleichender, doppelblinder

Studien«.

Um mit einer besonderen Wirkung werben zu dürfen, muss

diese mit Datenmaterial belegt werden. Der Bundesgerichtshof

stellte dazu 2010 fest, dass eine »einzige durchgeführte Studie

zur Absicherung von Werbeaussagen reichen kann«. Anders als

zum Beispiel bei Arzneimittelherstellern muss keine wissen-

Page 43: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 43

schaftliche Diskussion unabhängiger Experten die Studiener-

gebnisse absichern.

Aber was kann eine Creme überhaupt bewirken?

Sie besteht aus Wasser, Fett und einem Stoff, der die beiden

zusammenhält. Aber keine Sorge: Man kann diesem Gemisch

»Wirkstoffe« zusetzen – Kollagen zum Beispiel.

Kollagenproteine können allerdings nicht in die Haut ein-

dringen und deren »Kollagenvorrat« auffüllen. Sie bilden einen

dünnen Film auf der Hautoberfläche aus. Dieser, schreibt Mar-

tina Kerscher, ziehe sich beim Trocknen leicht zusammen und

straffe so vorübergehend feine Fältchen. Der Effekt hält solange,

bis man sich die Creme aus dem Gesicht wäscht.

Keine Creme lässt tiefe Falten verschwinden. Durch die

Feuchtigkeitsanreicherung werden kleine Falten vorüberge-

hend geglättet. Das bestätigt auch Stiftung Warentest: Beim Test

verschiedener Anti-Aging-Produkte (3/2007) ist die Feuchtig-

keitsanreicherung bei allen Produkten mindestens »gut«, die

Faltenreduzierung bei der Mehrheit der Produkte befriedigend

bis ausreichend. Selbst die beste Creme brachte nur minimale

Erfolge – so könne man eine Falte von 0,15 Millimeter auf 0,12

Millimeter Tiefe reduzieren. Das entspricht 20 Prozent – klingt

super, ist für das bloße Auge aber kaum sichtbar.

Glaubt der Verbraucher, was er liest? Wahrscheinlich nicht.

Aber die Mischung aus Hoffnung und Zweifel beim Blick auf die

Falten im Gesicht, gepaart mit einem Quäntchen Wissenschaft-

lichkeit lässt uns auch dem nächsten Wunder-Tiegelchen noch

eine Chance geben. Vielleicht funktioniert es dieses Mal.

Die säuselnde Stimme meiner Parfümerieverkäuferin möch-

te ich jedenfalls nicht missen. Und wenn das nächste Töpfchen

seinen Platz in meinem Badezimmer gefunden hat, glaube ich

gerne wieder an das Wissenschaftswunderland. <<

Christina Ress

2010 wurden in Deutschland circa 12,8 Milliarden Euro für Körperpflegemittel ausgegeben. Von schönen Tiegeln und Tübchen lassen sich Verbraucher gerne blenden. Aber hält der Inhalt auch, was die schöne Verpackung verspricht?

© C

hris

tina

Ress

Page 44: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Bremen, Universitätsgelände. Dut-

zende von Tierschützern halten Pla-

kate hoch. Abgedruckt ist ein blu-

tender Makak. Der Kopf des Affen ist mit

mehreren Schrauben fixiert. Die Plaka-

taufschrift lautet: »Tierversuche abschaf-

fen.« Im Mittelpunkt des Protests steht der

Initiator der abgebildeten Tierversuche,

Professor Andreas Kreiter, Neurologe an

der Universität Bremen.

Neben Kreiter gibt es viele Forscher

in Deutschland, die sich immer wieder

für ihre Versuche an Tieren rechtfertigen

müssen, obwohl laut einer Befragung des

Instituts für Tierschutz und Tierverhalten

in Berlin im Jahr 2008 »Tierversuche in

Tierversuche

Kaum ein wissenschaftliches Thema ist so umstritten wie Versuche an Tieren. Der gesellschaftliche Druck ist hoch. Forscher stehen dabei in der öffentlichen Kritik. Doch in welcher Verantwortung sehen sie sich selbst?

Neutral gibt es nicht

vielen Bereichen der Medizin und Wissen-

schaft von der Bevölkerungsmehrheit als

unverzichtbar, aber ethisch nicht unpro-

blematisch eingeschätzt« werden.

In Kreiters Fall geht es um die Forschung

an Affen. Die Kontroverse um ihn gibt es

seit mehreren Jahren. Spätestens nach sei-

nem Beginn in Bremen im Jahr 1997 blieb

Kreiter im Gespräch.

Im Jahr 2010 hatte die Bremer Gesund-

heitsbehörde, die Kreiters Versuche zum

Schutz der Tiere prüft, seinen letzten An-

trag auf Verlängerung aus ethischen Grün-

den abgelehnt. Als Begründung nannte die

Behörde unter anderem einen Wertewan-

del in der Gesellschaft. Doch Kreiter klagte

und bekam im November 2011 teilweise

recht. Neue Versuche darf er nicht anmel-

den. Doch seine laufenden Tests, die sich

mit den Gehirnfunktionen von Affen be-

schäftigen, darf er fortführen. Tierschützer

gingen auf die Barrikaden. Kreiter wurde

öffentlich als »Affenfolterer« dargestellt.

Auch als seine persönlichen Daten wie Te-

lefonnummer und Adresse in der Bremer

Innenstadt aushingen, ließ sich der For-

scher nicht beirren. Kreiter glaubt an den

Nutzen seiner Forschung.

Dieses Problem kennt auch Cornelia

Exner, Tierschutzbeauftragte der Philips-

Universität in Marburg. »Eine Meinung

zu Tierversuchen hat jeder. Entweder man

ist dafür oder dagegen, ob man von dem

Thema Ahnung hat, ist dabei egal. Neutral

gibt es nicht.« Die gelernte Tierärztin hält

Tierversuche für notwendig.

Bei ihrer Arbeit prüft sie Anträge für

geplante Experimente von Forschenden

der Universität Marburg. Dabei steht

Exner der jeweiligen Forschergruppe be-

ratend zur Seite. »Es gibt unterschiedliche

Komponenten, die ich bei der Prüfung be-

rücksichtigen muss. Ist das richtige Tier

ausgewählt und ist der Versuch optimal

organisiert, um die Belastung so gering

wie möglich zu halten? Außerdem muss

vor der Antragstellung geklärt werden, ob

es eine geeignete Alternative gibt.«

Viele Versuche konnten schon durch

Methoden ersetzt werden, die ohne Tiere

auskommen. Ihre persönliche Verantwor-

tung sieht Exner deswegen in der Bera-

tung von Experimentierenden und in der

Öffentlichkeitsarbeit. »Gerade wegen der

heftigen Kritik ist es sehr wichtig, transpa-

rent zu bleiben und aufzuklären.« Umge-

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44 GRAUZONE

Page 45: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

muss man sich im Klaren darüber sein,

was man tut: Ich töte ein Tier.« In Deutsch-

land dürfen Wirbeltiere, wie Ratten, nur

betäubt getötet werden oder »unter der

Vermeidung von Schmerzen«. Der Genick-

bruch ist dabei auch hierzulande gängige

Praxis.

Aktuell arbeitet Knapp an der Verhal-

tensweise von Bienen, die laut Knapp kein

Schmerzempfinden haben. Sie merken

bloß, dass etwas nicht stimmt. »Was für

ein Interesse sollte ich auch daran haben,

ein Tier zu quälen? Mal ganz davon abgese-

hen, dass es meine Ergebnisse verfälschen

würde.« Durch Angst, Stress und Schmer-

zen verhalten sich Tiere nicht mehr nor-

mal, die Resultate würden unbrauchbar.

»Natürlich können inzwischen auch

viele Untersuchungen an Zellkulturen

gemacht werden. Die Zellen werden aber

speziell verändert.« Sie wachsen immer

weiter und sterben nicht, wie menschliche

Zellen ab. Die Daten aus diesen Versuchen

seien somit ein gutes Indiz, wie ein Me-

dikament auf den menschlichen Körper

wirken könnte. »Diese Ergebnisse sind zu

unsicher und können den Tierversuch des-

wegen nicht ersetzen.«

Corina Gericke von Ȁrzte gegen Ter-

versuche« vertritt eine entgegengesetz-

te Meinung: »Tierversuche verursachen

Schmerzen, sind qualvoll und vollkom-

men unnütze.« Die Tierschutzbewegung

sagt, dass die Daten aus so genannten Tier-

modellen nicht auf den Menschen über-

tragbar seien. Ein Tiermodell beschreibt

bei Versuchen den Organismus von Tieren

als Ganzes, mit all seinen komplexen Stoff-

wechselvorgängen. »Studien an Männern

sind unbrauchbar, wenn es um die Wir-

kung eines Medikaments bei Frauen oder

Kindern geht. Wie soll ich dann bitte mit

einer Maus vergleichbar sein?«

setzt hat sie das nicht nur in ihrem Beruf

als Tierschutzbeauftragte, sondern auch in

der Senatskommission für tierexperimen-

telle Forschung der Deutschen Forschungs-

gemeinschaft (DFG). Diese Kommission

beschäftigt sich mit der Überarbeitung der

EU-Richtlinie für Tierrechte. Zudem wird

in diesem ständigen Forum mit Experten

aus verschiedenen wissenschaftlichen Dis-

ziplinen über aktuelle Probleme der tier-

experimentellen Forschung und des Tier-

schutzes diskutiert.

»Eine wirkliche Veränderung bringt das

auch nicht«, sagt Corina Gericke, Tierärztin

und zweite Vorsitzende von Ȁrzte gegen

Tierversuche«, zu der Senatskommission

der DFG. Sie vertritt den Standpunkt, dass

nur die Abschaffung von Tierversuchen

die geeignete Maßnahme sei. Diskussi-

onen für eine bessere Arbeit mit Tieren

stellten nur einen Aufschub dar.

Gericke begründet diese Forderung da-

mit, dass es genügend Alternativen gebe,

die nicht zur Anwendung kommen. »Bei

Tierversuchen kann man nicht von Ver-

antwortung sprechen. Es ist einfach unver-

antwortlich, einer Ratte ein Stück Draht in

den Kopf zu schieben, um einen Schlagan-

fall zu simulieren. Das läuft bei Menschen

alles viel komplexer ab. Dafür ist immer

mehr als nur ein auslösender Faktor ver-

antwortlich.« Solche Bilder zu rechtferti-

gen und verständlich zu machen, fällt Wis-

senschaftlern oft schwer.

StreSS, angSt und Schmerzen»Ich arbeite bei meinen Versuchen mit

Tieren«, sagt Stephanie Knapp ganz offen.

Sie macht ihren Master in Neurologie an

der Goethe-Universität in Frankfurt am

Main. »Wenn man sich als Wissenschaftler

entschließt, keine Tierversuche durchzu-

führen, wird man schon komisch ange-

guckt. Aber diese Entscheidung muss jeder

für sich selbst treffen«, sagt die 22-Jährige.

Jeder Forscher, der Tierversuche durch-

führe, brauche eine klare Haltung dazu.

Erste Erfahrungen machte Knapp in ihrem

Auslandssemester in einem chinesischen

Labor. »Dort sollte ich einer Ratte das Ge-

nick brechen, um anschließend ihre Or-

gane zu untersuchen. An diesem Punkt

Cornelia Exner ist sich dieses Vorwurfes

bewusst. Ein Modell könne nur versuchen,

die Realität so gut wie möglich abzubil-

den. »Ein Stoff kann in der Leber zwar eine

gewünschte Wirkung besitzen, aber von

den Leberzellen gleichzeitig so verändert

werden, dass die entstandene Verbindung

schädigend auf das zentrale Nervensystem

wirkt.« Dieses komplexe Zusammenspiel

kann in einem Reagenzglas noch nicht

nachgestellt werden, um, wie in diesem

Beispiel die Gesundheitsrisiken für den

Menschen abzuschätzen.

Die Experimente von Andreas Kreiter

laufen in Bremen inzwischen seit 14 Jahren.

Die lange Dauer der Versuchsreihe ist für

die meisten Kritiker das Hauptargument,

dass seine Forschung keine brauchbaren

Ergebnisse liefert. Dagegen erwidert Exner:

»Für einen Ingenieur sind zehn Jahre lang.

In unserem Bereich ist das nichts. Vor 60

Jahren begann die Arbeit an Diabetes mit

einem Zufallsfund. Erst jetzt kommen wir

langsam dahin, Therapien für Betroffene

weiter zu entwickeln.« <<

Carolin Albrand

© E

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Im Jahr 2010 wurden allein in deutschland 442.448 ratten in tierversuchen „verbraucht“. der nutzen dieser Versuche ist besonders tier-schützern nicht ersichtlich.

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 45

Page 46: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

46 GRAUZONE

Pro & Contra

Schon im antiken Griechenland waren Mensch-Tier-Mischwesen in Sagen und Mythen bekannt. Jetzt nehmen Chimären wirklich Gestalt an, zumindest im Reagenzglas. Zu Forschungszwecken werden in tierische Eizellen fremde Zellkerne eingepflanzt oder ausgewachsenen Versuchstieren mensch-liche Zellen implantiert. Wissenschaftler wollen damit Volkskrankheiten wie Alzheimer oder Demenz erforschen. Kritiker befürchten, dass die Artengrenze zwischen Mensch und Tier verschwimmt. Auch der deutsche Ethikrat brachte eine Stellungnahme zum Thema Mensch- Tier-Mischwesen heraus und versuchte eine Empfehlung zu dieser Problematik abzu - geben. Er kam in einigen Punkten zu keinem einstimmigen Urteil. Das Thema ist heiß umkämpft und auch unsere Autoren sind sich nicht einig. Bevor Sie in die Debatte ein - steigen, hier erst einmal ein paar Grundbegriffe.

Fabelwesen aus dem Labor

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Ngu

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Page 47: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 47

ChimäreEin Lebewesen, das in seinem Orga-

nismus über Zellen verfügt, die einen

fremden Satz Gene, kurz Genom,

enthalten. Nimmt man es mit dieser

Definition genau, ist jeder Mensch, der

eine Organ- oder Knochenmarkspende

bekommen hat, eine Chimäre. Neben

seinen eigenen Genen verfügt er näm-

lich jetzt auch noch über ein zweites

Genom aus dem Transplantat.

Transgene TiereTiere, denen man Erbmaterial einer

anderen Tierart einpflanzt. Dazu

wird fremde DNA in eine ungeteilte,

befruchtete Eizelle gegeben. Das neue

Genmaterial wird in diesem Stadi-

um noch in die DNA eingebaut. Bei

jeder weiteren Zellteilung werden die

eingebauten Gene an die Tochterzelle

weitergegeben.

HirnchimärenArtfremde Zellen werden in das Gehirn

von Versuchstieren eingepflanzt. Die

eingesetzten Zellen sollen sich dann

in dem fremden Gehirn eines zum

Beispiel an Parkinson Erkrankten in-

tegrieren und mitarbeiten. Parkinson

stört die Hormonproduktion von Ge-

hirnzellen. Die Stammzellen sollen die

Produktion wieder anregen. Außerdem

können Hirnchimären dabei helfen,

die einzelnen Stadien von Gehirner-

krankungen zu erforschen.

HybrideEin Nachkomme von zwei Tieren

oder auch Pflanzen unterschiedlicher

Art, der in allen Zellen die gleichen

Erbanlagen hat. Das bekannteste ist

das Maultier, das durch Paarung von

Esel und Pferd entsteht und Gene

von beiden Tierarten besitzt. Hybride

können keine Nachkommen zeugen,

weil sie eine ungerade Anzahl von

Chromosomen haben. Im Labor er-

zeugte Hybride sind zum Beispiel die

Produkte klassischer Kreuzungen wie

etwa Triticale, ein Hybrid aus Roggen

und Weizen.

ZybrideKurzform für »zytoplastischer Hybrid«.

Man bringt einen fremden Zellkern in

eine Eizelle ein, deren Zellkern vorher

entnommen wurde. Anschließend

wird die Zelle durch einen elektrischen

Impuls dazu angeregt, sich zu tei-

len. Daraus wächst ein Embryo, dem

Stammzellen für die Forschung ent-

nommen werden können. Er dient nur

der Forschung und wird nach wenigen

Tagen, genauer 32 Zellteilungen, wieder

zerstört.

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Page 48: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

48 GRAUZONE

PROÄngste hintenanstellenBei der Forschung mit Chimären geht es nicht

um das Erschaffen von Monstern. Speziell in

der Humangenetik versucht man vielmehr

Menschen zu helfen und Krankheiten zu

heilen. Kritiker befürchten jedoch, dass bei der

Erzeugung von Chimären Wesen entstehen,

die nicht mehr klar als Mensch oder Tier zu

identifizieren sind. Insbesondere in Deutsch-

land gibt es Bedenken, dass diese veränderten

Wesen menschliche Züge entwickeln könnten.

Die Angst vor einem solchen Horrorszenario

ist allerdings kein Argument, solange keine

Belege vorliegen. Laut Dr. Michael Bader vom

Berliner Max-Delbrück-Center für Molekular-

medizin ist beispielsweise die Transplantation

von menschlichen Nervenzellen in erwachsene

Organismen völlig unbedenklich. Eine »Um-

programmierung« des tierischen Gehirns sei

nach Abschluss der Entwicklung eines Fötus

ausgeschlossen.

Eine weitere Tatsache: Nach Zahlen der

Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind etwa

1,2 Millionen Menschen in Deutschland an

Demenz bereits erkrankt und 2050 dürften es

sogar 2,6 Millionen sein. Angesichts dieser dra-

matischen Entwicklung steht die Wissenschaft

in der Verantwortung, neue Therapie-Wege

zu finden. Im Moment bietet die medikamen-

töse Behandlung nur eine Bekämpfung der

Symptome von Alzheimer. Da dieser Um-

stand auch damit zusammenhängt, dass man

degenerative Gehirnerkrankungen noch nicht

umfassend in ihrer Entstehung erforschen

kann, ist die Forschung mit Hirnchimären

umso wichtiger.

Erst durch eine ausreichende Grundlagen-

forschung kann ein neuer Forschungsansatz

sein ganzes Potenzial offenbaren. Deswe-

gen wäre es unvernünftig und kurzsichtig,

Stammzellen- und Chimärenforschung von

vornherein zu verteufeln. Allein die theore-

tische Aussicht darauf, eine Volkskrankheit wie

Alzheimer in einigen Jahren heilen zu können,

sollte Grund genug dafür sein, die Ängste

davor hintenanzustellen.

An erster Stelle sollte und muss das Wohl

des Menschen stehen. Dies ist die wichtigste

ethische Prämisse, die die Forschung zu achten

hat. <<

Adrian Wagner

Page 49: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 49

CONTRAErnüchternde ErgebnisseDie Artengrenze zwischen Mensch und Tier ist bedroht. Um eine moralische Richtlinie

vorzugeben, veröffentlichte der Ethikrat im

September 2011 eine Stellungnahme zum

Umgang mit Mensch-Tier-Mischwesen in

der Forschung. Darin spricht er sich für eine

Modernisierung und eine Erweiterung des

Embryonenschutzgesetzes aus. Laut Kritikern

wird nicht beachtet, dass die Versuche nur

einer nicht zielführenden Grundlagenfor-

schung dienen: »Die Ergebnisse sind nicht

brauchbar und sind für die Tiere oft mit vie-

len Folgekrankheiten verbunden, wie Krebs

und anderen körperlichen Belastungen«, so

Thomas Schröder, Bundesgeschäftsführer des

Deutschen Tierschutzbundes. Welche Rechte

hat eine Chimäre? Und wohin führt uns ins-

besondere die Forschung an Hirnchimären?

Vor allem im letzten Punkt steht man vor

zwei Problemen: Erstens ist bis heute unklar,

ob sich die in Tierversuchen (siehe Artikel

S. 44) gewonnenen Erkenntnisse auf den

Menschen übertragen lassen. Nur weil ein

Medikament im Gehirn eines Affen positive

Effekte erzielt, heißt das noch nicht, dass es

auch Menschen helfen wird – auch wenn

der Affe als naher Verwandter des Menschen

gilt. Zweitens ist es schwierig abzuschätzen,

welche menschlichen Wesenszüge ein Affe

bekommen könnte, wenn ihm menschliches

Hirngewebe implantiert wird.

Bereits 2008 wurden gesunde Stamm-

zellen in Gehirne von Parkinsonkranken

eingesetzt, damit sie die Arbeit der erkrank-

ten Zellen übernehmen. Das Ergebnis war

ernüchternd: Die gesunden Zellen wurden

auch infiziert. Der Ethikrat hält die Erzeugung

von Hirnchimären für »ethisch statthaft«,

zumindest solange der medizinische Nutzen

für den Menschen »hochrangig« ist.

Unterm Strich muss man jedoch fest

halten: Der Nutzen von Tierversuchen in

der Chimärenforschung ist bis heute nicht

zu erkennen. Sicher ist nur, dass sich die

Gesellschaft in den nächsten Jahren weiter

mit diesem Thema auseinandersetzen muss.

Bleibt nur zu hoffen, dass wir uns nicht

irgendwann erneut die Frage stellen müssen:

Was ist ein Menschenaffe? <<

Florian Henge© A

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Page 50: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

50 GRAUZONE

??????

Seltene Krankheiten betreffen wenige Menschen– zu wenige für die Pharmaindustrie. Dement - sprechend hält sich ihr Forschungsinteresse in Grenzen. Doch haben diese Unternehmen nicht auch eine Verantwortung für eine kleine Gruppe von Betroffenen?

Heilung nicht von Interesse

50 GRAUZONE

Page 51: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 51

Heilung nicht von Interesse

Investitionen müssen sich für Pharmaunter-nehmen lohnen. Deshalb wird mehr Geld in die Erforschung der Volkskrankheiten gesteckt als in seltene Erkrankungen.

GRAUZONE 51

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arin

Jähn

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Page 52: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

52 GRAUZONE

Es ist neun Uhr abends in Berlin-

Spandau. Heute hat es wieder länger

gedauert. Diesmal waren zwei Gu-

tenachtgeschichten nötig. Die Eltern der

fünfjährigen Anna beobachten aufmerk-

sam, wie sich ihr kleiner Brustkorb regel-

mäßig auf und ab bewegt. Sie wirkt zu-

frieden. Die Eltern angespannt. Der Atem

ihrer Tochter ist zwar deutlich zu hören,

doch die Eltern haben nur einen Gedan-

ken: »Hoffentlich nicht diese Nacht«.

Denn Atemaussetzer sind bei Anna keine

Ausnahme. Sie leidet an der seltene Spei-

cherkrankheit Mukopolysaccharidose,

kurz MPS-Typ-II.

Seltene Erkrankungen sind gar nicht

so selten. Anna ist eine von rund vier Mil-

lionen Betroffenen in Deutschland, die

an einer »orphan disease« leidet. Offiziell

gilt man als Opfer dieser »Waisenkrank-

heiten«, wenn weniger als fünf von 10.000

Menschen das gleiche Krankheitsbild auf-

weisen. Von den weltweit über 30.000 be-

kannten Krankheiten gehören laut Schät-

zungen der Allianz Chronischer Seltener

Erkrankungen mehr als 6.000 zu den

Waisenkrankheiten. Sie heißen so, weil sie

als vernachlässigte Krankheiten gelten. In

der Regel sind sie durch Fehler im Erbgut

verursacht. Allerdings können sie in den

unterschiedlichsten Krankheitsbildern

zum Vorschein kommen. Kein Arzt der

Welt kann jede dieser Krankheiten überbli-

cken und erkennen. Genau darin liegt das

Problem. Rania von der Ropp von Achse

e. V., einem Dachverband für seltene Er-

krankungen erklärt: »Bis die Betroffenen

wissen an welcher Krankheit sie leiden,

können Jahre vergehen. Manche erfahren

es sogar niemals.«

Anna hatte Glück im Unglück. Nach

endlos vielen Arztbesuchen und Überwei-

sungen zu Spezialisten erkannte ein Arzt,

was bei ihr nicht stimmte: Annas Körper

speichert so genannte Mukopolysaccha-

ride fehlerhaft ein. Das sind lange Ketten

aus Zuckermolekülen, die das Bindegewe-

be bilden. Normalerweise werden diese

regelmäßig abgebaut und erneuert. Um

sie zu spalten, braucht der Körper ein be-

stimmtes Enzym. Genau dieses entschei-

dende Enzym fehlt bei MPS-Typ-II-Betrof-

fenen. Dadurch können sich immer mehr

»alte« Mukopolysaccharide ablagern und

dauerhaft im Körper ansammeln. Je mehr

Zuckermoleküle gespeichert werden, desto

häufiger kommt es zu gefährlichen Sym-

ptomen: vergrößerte Organe, Atemausset-

zer, Flüssigkeitsstau im Gehirn.

Doch selbst wenn eine zutreffende

Diagnose erfolgt, hält das Hoffnungsge-

fühl meistens nicht lange an. Denn eine

Therapie für Waisenkrankheiten gibt es

nur selten. Laut Angaben des Verbandes

forschender Pharmaunternehmen (VFA)

sind momentan gerade einmal 59 Medika-

mente als »Orphan Drugs« in der EU zuge-

lassen.

Für Annas Eltern ist der Gedanke un-

vorstellbar, dass sie in der Apotheke keine

passende Medizin für ihr Mädchen kaufen

können. Doch warum gibt es diese Medika-

mente nicht?

Pharmaunternehmen sind marktorien-

tiert. Fehlt die Kaufkraft, dann lohnt sich

das Geschäft einfach nicht. Ein Beispiel:

In der EU gibt es nur zirka 1.000 MPS-Typ-

II-Erkrankte. Hinderlich sind ebenfalls die

hohen Entwicklungskosten für Orphan-

Arzneimittel. Diese liegen nach Angaben

von Jan Hempker, dem Pressesprecher des

Pharmakonzerns Sanofi Aventis, im obe-

ren dreistelligen Millionenbereich.

»Pharmaunternehmen sind keine ka-

ritativen Einrichtungen. Ihre Motivation

ist Gewinn. Wenn ein Pharmachef mehr

an seltenen Erkrankungen forschen wür-

de, wäre er schnell seinen Job los, da die

Gewinne ausblieben«, sagt Peter Sawicki,

ehemaliger Leiter des Institutes für Quali-

tät und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-

wesen (IQWiG). Zudem weist er darauf hin,

dass Pharmaunternehmen in Aktiengesell-

schaften organisiert seien. Diese würden

nur mit schwarzen Zahlen funktionieren.

Ein weiteres Hindernis ist die Erfor-

schung von Medikamenten für Waisen-

krankheiten. Durch die kleinen Proban-

den-Gruppen müssen die Studien anders

geplant und durchgeführt werden als für

gewöhnliche Medikamente. Dabei existie-

ren einige gesetzliche und finanzielle Vor-

teile für die Forschung an Orphan Drugs.

So gibt es seit 1990 eine »EU-Verordnung

über Arzneimittel für seltene Leiden«.

Hierbei bekommen forschende Unterneh-

men zehnjährige Exklusivrechte ab der

Marktzulassung des Medikamentes sowie

eine beschleunigte Bearbeitung des Zulas-

sungsantrages zugesprochen. Zusätzlich

können sie die Hälfte der Zulassungskosten

sparen. Ebenfalls berät die Zulassungsstel-

le der Europäischen Arzneimittelagentur

(EMA) kostenlos bei der Vorbereitung und

Planung der Studien.

ForschunG Für Das ImaGEEinen weiteren Anreiz schaffte das Bundes-

ministerium für Bildung und Forschung

(BMBF) im Jahr 2003. Seitdem fördert es

den Aufbau von krankheitsspezifischen

Netzwerken für seltene Erkrankungen.

Daraus sind 16 Verbünde entstanden. Seit

2009 werden sie jährlich mit acht Milli-

onen Euro gefördert. Auffällig an den 16

Verbünden ist, dass zwar zahlreiche Uni-

versitätskliniken beteiligt sind, allerdings

kein einziges Pharmaunternehmen. Oft

Pharmaunternehmen sind keine karitativen Einrichtungen. Ihre Motivation ist Gewinn. Wenn ein Pharmachef mehr an seltenen Erkrankungen forschen würde, wäre er schnell seinen Job los, da die Gewinne ausblieben.

»«

Page 53: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 53

überlassen diese lieber den Universitäten

und kleinen Biotechnologiebetrieben die

Forschung und auch das Risiko, mit dem

Wirkstoff zu scheitern. François Houÿez,

der bei der Europäischen Organisation

für seltene Krankheiten arbeitet, kritisier-

te in einem Spiegel-Artikel: »Die großen

Pharmaunternehmen treten meist erst

bei der Marktzulassung in Erscheinung.«

Sie erwerben erst die Lizenzen der Medika-

mente, wenn diese den Orphan-Drug-Sta-

tus bekommen haben und für den Markt

zugelassen sind. Dabei muss das Rad nicht

immer neu erfunden werden. In manchen

Fällen reicht es auch aus, einen Wirkstoff

zu nehmen, der ursprünglich einmal für

ein häufiges Leiden entwickelt wurde.

Beispielsweise wird der Wirkstoff Sildena-

fil aus der Viagra-Tablette von dem Phar-

maunternehmen Pfizer für die seltene

Krankheit Lungenhochdruck eingesetzt.

Es bleibt nur noch eine Frage offen: Ha-

ben die geschaffenen Anreize auch den

erhofften Nutzen erbracht? Betrachten wir

doch einmal die gesamte Angebotspalette

der großen Pharmaunternehmen. Etwa

das Sortiment der Bayer Schering Pharma

AG. Dieses besteht aus zirka 140 Medika-

menten. Davon sind gerade einmal zwei

Mittel Arzneien mit dem Orphan-Drug-

Status: Das Krebsmedikament Nexavar

und Ventavis, das gegen Lungenhochdruck

eingesetzt wird.

Ähnlich ist das auch bei Sanofi Aventis,

dem drittgrößten Pharmaunternehmen

weltweit. Es hat die beiden Orphan Drugs:

Fasturtec und Rilutek im Sortiment. Erste-

res wird gegen das bei Chemotherapien

auftretende Tumorlysesyndrom einge-

setzt. Bei diesem zerfallen große Tumore

in ihre Einzelteile. Dieser Zustand ist le-

bensbedrohlich. Als wir fragten, warum

Fasturtec in der EU nicht als Orphan Drug

zugelassen ist, wies Pressesprecher Jan

Hempker daraufhin, dass es in den USA

einen Orphan-Drug-Status besäße.

Außerdem sei die betreffende Indikati-

on auch in Europa nicht häufig. Im Klartext

bedeutet das: In den USA ist ein Markt für

dieses Arzneimittel vorhanden. Dazu Pe-

ter Sawicki: »Wenn ein Pharmakonzern an

Arzneimitteln für seltene Leiden forscht,

dann entweder nur wegen seines Images,

oder weil es sich in einem anderen Land

vielleicht lohnt.«

Es gibt jedoch auch Betroffene des Tu-

morlysesyndroms in der EU. Diese müssen

Fasturtec teilweise selbst bezahlen, da es

keinen Europäischen Orphan-Drug-Status

besitzt und es eine Alternative zu Fastur-

tec gibt: den Wirkstoff Allopurinol. Da es

eine Behandlungsalternative gibt, können

die Krankenkassen eine Kostenerstattung

in Frage stellen. Doch damit scheint sich

der Konzern offensichtlich nicht weiter

zu beschäftigen. Obwohl die Kosten von

Fasturtec beträchtlich sind. Eine belgische

Analyse kam vor einiger Zeit zu dem Er-

gebnis, dass die Behandlung mit Rasbu-

ricase, dem Wirkstoff von Fasturtec, bei

Erwachsenen durchschnittlich 32.000 bis

41.000 Euro pro gewonnenem Lebensjahr

kostet.

Des Weiteren ließ der Pharmakonzern

verlauten: »Sanofi Aventis ist mittlerweile

auf dem Gebiet der Orphan Drugs außeror-

dentlich stark vertreten. Denn seit 2011 ge-

hört das US-Unternehmen „Genzyme“ zu

uns.« Dieses Biotechnologieunternehmen

ist momentan führend in dem Bereich der

seltenen Erkrankungen. Den Konzern hat

Sanofi Aventis allerdings nicht aus Groß-

herzigkeit gekauft. Wie bei vielen ande-

ren Pharma-Riesen auch, laufen 2013 von

einigen Kassenschlagern des Konzerns

die Patente aus. Nach Berichten des Han-

delsblattes stehen die Unternehmen unter

dem Druck, dass andere Hersteller dann

günstigere Nachahmer-Produkte auf den

Markt bringen.

Die Anteilseigner der Pharmaindustrie

haben dennoch keinen allzu großen Grund

zur Sorge. Zumindest nicht mehr seit No-

vember 2010, als das Arzneimittelneuord-

nungsgesetz (AMNOG) beschlossen wurde.

Es besagt, dass Hersteller künftig einen

Zusatznutzen für alle neuen Arzneimittel

nachweisen müssen. Die Orphan Drugs

werden aus der Regelung ausgeklammert.

Denn ihr Nutzen soll durch die Zulassung

schon ausreichend belegt sein. Es sei denn,

der Umsatz des Wirkstoffes läge über 50

Millionen Euro jährlich.

GratwanDErunGKritiker sehen in dieser Ausnahmerege-

lung jedoch einige Schlupflöcher für die

Pharmaindustrie. So können die Pharma-

hersteller die Orphan Drugs als Umweg

nutzen, um ihre Mittel schneller auf den

Markt zu bringen. Dabei zerlegen sie eine

Krankheit in möglichst viele kleine Unter-

gruppen. Anschließend beantragen sie ein-

zeln den Orphan-Drug-Status. Im Klartext

heißt das: Menschen mit einer Waisen-

krankheit wird die Nutzenbewertung ihrer

Arzneien vorenthalten. Beispielsweise gibt

es für ein und dieselbe Waisenkrankheit

sechs verschiedene Medikamente. Drei da-

von haben den Orphan-Drug-Status, drei

nicht. Es bleibt unklar, welches Arzneimit-

tel den Patienten am besten hilft.

Pharmaunternehmen halten sich an

die Gesetze. Rechtlich gesehen machen sie

nichts falsch. Doch wer sonst soll die Me-

dikamente produzieren, wenn nicht die

Pharmaindustrie? Wieso haben Patienten

mit seltenen Erkrankungen nicht die glei-

che Möglichkeit für eine Therapie wie Pati-

enten, die an einer Volkskrankheit leiden?

Für Annas Waisenkrankheit gibt es mitt-

lerweile eine Enzymersatztherapie. Das Me-

dikament Elaprase kann lindern, aber nicht

heilen. Verhindert wird lediglich, dass sich

die Organe des Mädchens weiter vergrö-

ßern. Das Mittel kommt jedoch nicht über

die Blut-Hirn-Schranke in ihr Gehirn. Die

Ablagerungen im Nervengewebe finden da-

her weiter statt. Das bedeutet, dass der gei-

stige Abbau weiter zunimmt.

Kürzlich haben Forscher an der Univer-

sität Bonn einen Weg gefunden, die Schran-

ke zu überwinden. Vielleicht ist es doch die

Hochschul-Forschung, die Anna das Leben

retten kann. <<

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arin

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Page 54: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

54 GRAUZONE54 hautnah

NaturkatastropheN

Regen, Sturm und Gewitter können viel Zerstö-rung anrichten. Allein in Deutschland kam es im Jahr 2010 zu 1,5 Milliarden Euro Sachschaden, den die deutschen Hausrat- und Wohngebäude-versicherer begleichen mussten.

54 GRAUZONE

Page 55: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 55hautnah 55

Werden wir nass, weil es entgegen der Wettervorhersage regnet und der Regenschirm daheim liegt, ist das ärgerlich. Aber niemand würde die Meteorologen dafür zur Verantwor-tung ziehen. Ganz anders sieht das aus, wenn – wie 2011 in Bel-gien geschehen – ein Unwetter über einem Festival wütet und dabei Menschen ums Leben kommen.

Wer haftet für das Wetter?

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alde

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 55

Page 56: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

56 GRAUZONE

Von den Bäumen stürzen Äste herab,

es regnet in Strömen und mitten

durch das Unwetter rennen Men-

schen auf der Suche nach Schutz. Das Getöse

des Sturms übertönt ihre Hilferufe. Andere

sind im sicheren Zelt angekommen. Sicher?

Plötzlich kracht ein Baum durch das Dach,

Panik bricht aus, Chaos entsteht.

Was klingt wie Szenen eines Blockbu-

sters sind Ausschnitte aus Amateurvideos.

Gedreht beim Pukkelpop-Festival bei Has-

selt in Belgien, das im Sommer 2011 trau-

rige Berühmtheit erlangt. Am 18. August,

dem ersten Festivaltag, kommt es zu einem

Unwetter über dem Festivalgelände. Zelte,

Videowände und Metallkonstruktionen

stürzen ein, fünf Menschen kommen da-

bei ums Leben, Dutzende werden verletzt.

Nach dem ersten Schock geht es um die

Frage, wer verantwortlich für das Unglück

ist. War das Unwetter überhaupt vorherzu-

sehen? Hat der Veranstalter leichtsinnig

gehandelt und Menschenleben aufs Spiel

gesetzt?

KoMMuniKAtion iSt AllESAuch in Deutschland kommt es 2002 zu

einem ähnlichen Zwist. Im Juli wütet in

Berlin ein schweres Unwetter, bei dem

zwei Kinder in einem Jugendzeltlager

tödlich verletzt werden. Sofort geht es

um die Frage: Wer ist verantwortlich? Es

kommt zu Schuldzuweisungen. »Der Wet-

terdienst konnte jedoch beweisen, dass

rechtzeitig gewarnt wurde«, sagt Diplom-

Meteorologe Gerhard Lux, Pressesprecher

des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Lei-

der würden Warnungen ab und zu nicht

ernst genug genommen – oder aber die

Entscheidungen der Katastrophenschutz-

dienste benötige zu viel Zeit.

Denn die Verständigung und Zusam-

menarbeit von Behörden wie Feuerwehr,

Polizei und Technisches Hilfswerk (THW)

kann der DWD nicht beeinflussen. Dass die

Wetterdaten bis zu ihnen gelangen, aller-

dings schon. Dafür gibt es ein breit gefä-

chertes Informationssystem. Die Zentrale

in Offenbach am Main arbeitet nach einem

Drei-Säulen-Modell. »Dabei werden zeit-

gleich alle Daten an drei Gruppen weiter-

geleitet: Medien, Privatpersonen und ört-

liche Behörden«, erklärt Lux. Elementare

Medien seien vor allem Radiostationen,

TV-Sender und Online-Nachrichtenagen-

turen. Ȇberall dort sind im Bedarfsfall

unsere aktuellen Lageberichte wichtig, um

die darin enthaltenen Wetterwarnungen

schnell verbreiten zu können.«

Veranstalter können zusätzlich ein

Abonnement über einen bestimmten Zeit-

raum abschließen, um weitere, für sie re-

levante Daten zu erhalten. Jasper Barend-

regt, Leiter der Festivalabteilung bei FKP

Scorpio, einem der führenden Konzert-

veranstalter Deutschlands, weiß: »Veran-

stalter verlassen sich auf den DWD, da nur

dessen Warnungen rechtlich verbindlich

sind.« Auch die örtlichen Behörden, mit

denen zusammengearbeitet wird, würden

nur den offiziellen Angaben vertrauen.

Doch die reine Informationsbeschaffung

ist nur der Anfang. Die nachgehende Kom-

munikation zwischen den verschiedenen

Ämtern muss funktionieren. Es ist durch-

aus möglich, dass jede Stelle für sich exzel-

lente Arbeit leistet, Ergebnisse dann aber

nicht richtig weitergeleitet werden. Oft

seien auch die Landräte dafür verantwort-

lich, den Notstand auszurufen, sagt Lux.

»Sind diese dann am Wochenende ein-

mal nicht erreichbar, wenn die Unwetter-

warnung kommt, gerät das System schon

zu Beginn ins Stocken.« Der DWD könne

niemanden zwingen, Meldungen durchzu-

geben, sagt Lux. »Genauso wenig können

wir den Veranstalter zwingen, das Festi-

valgelände zu räumen«, erklärt er weiter.

Denn der Wetterdienst ist eine Anstalt des

öffentlichen Rechts, zu dessen Aufgaben

es gehört, das Wetter zu beobachten und

vor Unwettern zu warnen. An die War-

nungen halten muss man sich allerdings

nicht. Laut Lux endet die Verantwortung

des DWD in dem Moment, in dem die Info

übergeben wird.

DiE AbläufE SinD ERpRobtNachfragen können Veranstalter natürlich

jederzeit. Das weiß auch Barendregt: »Wenn

gewünscht, steht beim DWD rund um die

Uhr ein Ansprechpartner für uns bereit.«

Zusätzlich würden sie sich durch eigene

Windmessgeräte auf den Bühnen des Festi-

vals absichern. »Kommt es dann tatsächlich

zu einer brenzligen Situation, sprechen wir

uns mit dem Krisenmanagementteam ab.

Das besteht aus Verantwortlichen des Festi-

vals sowie den örtlichen Behörden.« Dabei

werde das weitere Vorgehen nach festge-

legten Protokollen geplant, sagt er.

Das war im August 2011, am letzten Fe-

stivaltag des Area4 in Nordrhein-Westfalen

der Fall: Eine Sturmwarnung kommt auf.

Das Krisenmanagementteam wird zusam-

mengetrommelt. Es besteht aus Verant-

wortlichen des Festivals sowie den örtlichen

Behörden und steht in ständiger Alarmbe-

reitschaft. In aller Schnelle wägen sie das

Für und Wider eines Festivalabbruches ab

und entscheiden sich für eine Unterbre-

chung. »Wir haben eine Sturmwarnung.

Bitte geht alle zurück in eure Zelte und Au-

tos«, ist als vorgefertigte Botschaft auf den

riesigen Videoleinwänden zu lesen. Ohne

Panik ziehen sich die Besucher zurück, um

Der Deutsche Wetterdienst (DWD) hat Standard-Kommnikationspartner (weiße pfeile). bei festivals vernetzt er sich zudem mit dem feuerwehr-informationssystem (feWiS), Veranstalter und behörden.

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Page 57: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

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Page 58: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

58 GRAUZONE

zwei Stunden später über das Festivalradio

die Entwarnung zu hören: Das Unwetter ist

vorbei, der Headliner tritt auf. Tatsächlich

kommen 12.000 der ursprünglich 15.000

Gäste wieder – das Area4 findet einen gelun-

genen Abschluss. »Das war unglaublich. Wir

haben meiner Meinung nach die richtigen

Entscheidungen getroffen und konnten das

Gelände räumen, ohne Panik zu verbreiten.

Und wir haben das Festival nach dem Un-

wetter sogar wieder gestartet. Besser hätte

es nicht laufen können«, schwärmt Barend-

regt. Wäre es zu keiner Einigung im Krisen-

managementteam gekommen, hätte der

Chef des Teams eine Entscheidung gefällt,

so sei die Regel. Diese Rolle übernimmt im-

mer jemand Erfahrenes von den örtlichen

Behörden.

»Sturmwarnungen gibt es im Laufe des

Festivalsommers viele«, erzählt Barend-

regt. »Tatsächlich unternehmen muss

man jedoch nur selten etwas.« Pro Jahr or-

ganisiert FKP Scorpio nach eigenen Anga-

ben um die 125 Festivals, die jeweils mehr

als 5.000 Besucher zählen. 2011 musste

nur eines davon – das Area4 – unterbro-

chen werden. Eine andere Veranstaltung

an der Ostsee wurde wegen Hochwassers

abgesagt. Die Zusammenarbeit mit den

Behörden vor Ort sei laut Barendregt bis-

her immer gut gelaufen. »Die Feuerwehr

kann sich zusätzlich über das Feuerwehr-

informationssystem (FeWIS) informieren,

wo genau das potentielle Unwetter auftre-

ten wird.« Das Portal wird vom DWD extra

für die Leitstellen der einzelnen Landkreise

bereitgestellt.

Die Veranstalter haben die Möglichkeit,

sich gegen Gebühr über Wahrscheinlich-

keiten beraten zu lassen. Sie können dann

selbst entscheiden, ob sie das Risiko ein-

gehen und trotz hoher Sturmwahrschein-

lichkeit ihre Zelte aufbauen. »Da das Wet-

ter ein physikalisch chaotisches System ist,

kann man sich eben nie zu 100 Prozent si-

cher sein, dass ein Ereignis wie Regen oder

Sturm wirklich eintritt«, erklärt Lux die

Arbeit mit Prozentzahlen.

Doch Vorhersagen mit Wahrscheinlich-

keiten können wie ein Buch mit sieben

Siegeln sein. Kann man denn davon aus-

gehen, dass Veranstalter mit solchen Infor-

mationen umgehen können?

Barendregt verweist auf die Behörden

vor Ort, die nach oftmals vielen Jahren der

Zusammenarbeit darin geübt seien. »Das

ist sicherlich auch ein Grund dafür, dass

wir unsere Festivals Jahr für Jahr am selben

Ort veranstalten«, sagt er. Die Zusammen-

arbeit werde von Mal zu Mal besser, man

stelle sich aufeinander ein. Außerdem sei

die Deutung der Werte einfach. »Eine An-

gabe in Prozent zum Unwetterrisiko ist

leicht zu verstehen«, ist Barendregt über-

zeugt. Schwieriger sei die anschließende

Entscheidung, das Festival zu räumen oder

auch abzusagen.

DiE fRAGE nAcH DER ScHulDSollte sich das Wetter verschlechtern,

müssen sich Veranstalter an gewisse

Vorschriften halten. Der Leiter der Festi-

valabteilung kennt die Richtlinien: »Bei

Windstärke sechs müssen Videoleinwände

abmontiert, bei Windstärke acht die Zelte

geräumt werden«, erzählt Barendregt. Geht

trotz all dieser Regeln und Vorkehrungen

etwas schief, ist man versichert. Allerdings

musste die Veranstalterhaftpflichtversi-

cherung von FKP Scorpio nach Barend-

regts Wissen noch keine großen Schäden

kitten. Auch der DWD ist rechtlich bis zu

einem gewissen Grad abgesichert: »Han-

delt ein Mitarbeiter grob fahrlässig – zieht

also etwa den Feierabend einer gewissen-

haften Unwettermeldung vor – oder infor-

miert absichtlich falsch, haftet der Staat«,

erklärt Lux. Die Schuldzuweisung hält Ba-

rendregt im Falle eines Unglücks für ein

heikles Thema. »Wenn der Blitz in ein Zelt

einschlägt, in das sich ein Festivalbesucher

zurückgezogen hat, weil der Veranstalter

das Gelände räumen ließ – wer ist dann

verantwortlich?«, fragt er.

Die Vorkehrungen, die getroffen wer-

den, schützen nicht immer. Beim Pukkel-

pop in Hasselt waren die Voraussetzungen

ähnlich wie in Deutschland. Auch in Bel-

gien warnt hauptsächlich der staatliche

Wetterdienst, das Königliche Meteorolo-

gische Institut (KMI). Und auch in Belgien

können die Veranstalter jederzeit einen

Mitarbeiter anrufen, wenn Fragen auftau-

chen. Trotzdem kam es zu einem Unglück.

Ein Unglück, für das laut Gericht letzt-

endlich niemand verantwortlich gemacht

werden kann. Denn die Justiz in Belgien

hat entschieden, dass den Veranstalter

keine Schuld trifft. »Man konnte nicht da-

mit rechnen, dass ein Unwetter aufziehen

wird«, wurde das Urteil begründet. <<

Anja Wagenblast

Zelte, Videoleinwände und Metalltürme wurden durch das unwetter zerstört. Der tatsächlich entstandene Schaden konnte bis heute nicht beziffert werden. Doch trotz der drama- tischen Ereignisse ist eine fortsetzung des belgischen festivals pukkelpop für 2012 geplant.

© Ja

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Page 60: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

60 GRAUZONE

Militärforschung

Verhalten Wissenschaftler sich unver-antwortlich, wenn sie an Universitäten Militärforschung betreiben? »Ja«, finden Militarisierungsgegner und fordern, solche Forschungsarbeiten künftig einzustellen. Dabei lässt sich schon über die Frage, was der Begriff Militärforschung eigentlich be-inhaltet, ganz wunderbar streiten.

Im Labor an der Front

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 61

Kein Krieg ohne Innovation. Was heute in deutschen Laboren erforscht wird, kann in den nächsten Jahren kriegsentscheidend sein.

An vielen deutschen Hochschulen

herrscht augenblicklich Krieg. Über

60 Bremer Wissenschaftler und

Professoren setzten sich zu Beginn letzten

Jahres in einem öffentlichen Apell gegen

Militärforschung an ihrer Hochschule

ein. Deutschlandweit demonstrieren Stu-

denten, fordern die Einführung von Zivil-

klauseln. Das Prinzip dahinter ist einfach:

durch Einführung einer Zivilklausel soll

verhindert werden, dass an den Bildungs-

einrichtungen für den Krieg geforscht

wird. Befürworter fürchten, dass Studenten

andernfalls unwissentlich an der Entwick-

lung von Waffen oder rüstungsrelevanten

Erzeugnisse beteiligt sein könnten.

In Deutschland herrscht seit 66 Jahren

Frieden. Untätig ist die Bundeswehr aber

trotzdem nicht. Aktuell befinden sich circa

7900 Soldatinnen und Soldaten der Bun-

deswehr in Auslandseinsätzen, für die spe-

zielle Ausrüstung und innovative Techno-

logien notwendig sind. Dass dafür auch an

deutschen Universitäten geforscht wird,

ist nicht neu. Wie eine kleine Anfrage der

Fraktion »DIE LINKE« an den Bundestag

im Oktober 2010 ergab, hat das Bundes-

ministerium für Verteidigung (BMVg) zwi-

schen 1991 und 2005 Forschungsaufträge

in Höhe von 105,6 Millionen Euro an deut-

sche Hochschulen vergeben.

zIvILKLauseLn – eIn Lösungsansatz?Auch Zivilklauseln sind keine neuartige

Entwicklung. Die erste Zivilklausel wurde

bereits 1986 an der Universität Bremen

eingeführt. Sie besagt, dass jede Beteili-

gung von Wissenschaft und Forschung mit

militärischer Nutzung oder Zielsetzung

an der Bremer Bildungseinrichtung abge-

lehnt wird.

An anderen deutschen Universitäten

blieb das Engagement in diesem Bereich

dagegen bislang unreglementiert.

Wie die Bundesregierung vor einigen

Monaten mitteilte, hat das BMVg zwischen

2000 und 2010 etwa 46 Millionen Euro in

Auftragsforschung an 48 deutschen Hoch-

schulen investiert.

Das finanzielle Engagement des Vertei-

digungsministeriums stößt bei Militarisie-

rungsgegnern zunehmend auf Widerstand.

An zahlreichen Universitäten werden Wis-

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62 GRAUZONE

senschaftler und Studenten aktiv und for-

dern, die Forschung für die Bundeswehr

einzuschränken oder ganz zu unterlassen.

Dabei ist Auftragsforschung an Hoch-

schulen durchaus üblich und rechtlich le-

gitim. Auch ihre Auftraggeber dürfen sich

die Universitäten weitgehend selbst aus-

suchen. Eine rechtliche Grundlage für die

Ablehnung militärrelevanter Forschungs-

arbeiten besteht bislang also nicht.

Das möchten Militarisierungsgegner

ändern. Deshalb setzten sie sich dafür ein,

dass an zahlreichen deutschen Hochschu-

len Zivilklauseln eingeführt werden. Durch

die Aufnahme einer Zivilklausel in ihre

Grundordnungen würden sich die wis-

senschaftlichen Einrichtungen – ähnlich

wie in Bremen – verpflichten, ausschließ-

lich für friedliche, also nichtmilitärische

Zwecke zu forschen. Allerdings gestalten

die Hochschulen ihre Grundordnungen

selbstständig. Diese Selbstverpflichtung

bliebe also freiwillig, sie hätte keinen Ge-

setzescharakter.

Ein Kernaspekt in dieser Diskussion –

nämlich die Frage, was Militärforschung

eigentlich beinhaltet – ist dabei nicht ein-

deutig zu beantworten. Tatsächlich mün-

det Auftragsforschung für das Verteidi-

gungsministerium nicht unweigerlich in

die Entwicklung neuer Waffen. Der Groß-

teil der rüstungsrelevanten Forschung

wird in Deutschland außeruniversitär –

beispielsweise an Fraunhofer-Instituten –

bewerkstelligt.

Für welchen Teil der militärischen For-

schung werden die Universitäten dann ei-

gentlich bezahlt?

Spitzenreiter der zwischen 2000 und

2010 mit projektgebundenen Fördergel-

dern – so genannten Drittmitteln – des

BMVg unterstützten Hochschulen war laut

Angaben der Bundesregierung die Deut-

sche Sporthochschule Köln. Insgesamt

4,4 Millionen Euro flossen in diesem Zeit-

raum an die Bildungseinrichtung – 3,56

Millionen davon alleine in den letzten fünf

Jahren. Aus den Jahresberichten zur wehr-

wissenschaftlichen Forschung geht her-

vor, dass man sich in Köln mit möglichen

Einflüssen auf die Leistungsfähigkeit von

Soldaten im Einsatz beschäftigte.

Der technische Fortschritt hat auch

das Arbeitsumfeld von Soldaten verän-

dert und dazu geführt, dass sie sich neu-

en Herausforderungen stellen müssen.

Längst geht es nicht mehr nur darum, mit

Proviant und Munition bepackt durch ein

Kriegsgebiet zu robben. Soldaten müssen

Maschinen bedienen, große Fahrzeuge

bewegen und hinter Monitoren sitzend In-

formationen korrekt verarbeiten. Wie lan-

ge sie im Einsatz dazu fähig sind, wurde in

Köln mithilfe einer Untersuchungskabine

erforscht, die dem Führerhaus eines Fahr-

zeugs nachempfundenen war. Anhand der

Simulation konnte getestet werden, wie

sich die Wahrnehmungs- und Reaktions-

leistungen der Probanden im Laufe eines

Einsatzes entwickeln.

So sollte ermittelt werden, nach wel-

chem Zeitraum ein Soldat im Einsatz er-

müdet und welche Auswirkungen das auf

seine Leistungsfähigkeit hat.

Die Forscher überwachten beispiels-

weise die Lidschlagrate der Probanden

um zu ermitteln, nach welchem Zeitraum

mit ersten Ermüdungserscheinungen zu

rechnen ist. Mit ansteigender Müdigkeit

schließen Menschen ihre Augen häufiger

und länger, das heißt ihre Konzentrations-

fähigkeit lässt nach. Anhand eines Blick-

überwachungssystems kann festgestellt

werden, wie häufig und für wie lange ein

Proband seine Augen schließt. Je öfter das

passiert, desto erschöpfter ist die Person.

Dieses Prinzip hat sich die Automo-

bilindustrie bereits zunutze gemacht. Es

wird dort eingesetzt, um Fahrer bei nach-

lassender Aufmerksamkeit frühzeitig zu

warnen.

Dass solche Forschungsarbeiten für die

Bundeswehr relevant sind, steht außer

Frage. Immerhin sollen die gewonnenen

Erkenntnisse dazu beitragen, das Ar-

beitsumfeld von Soldaten in Zukunft bes-

ser beurteilen und optimieren zu können.

Betreiben die beteiligten Wissenschaft-

ler also Militärforschung, wenn sie solche

Studien für das Verteidigungsministeri-

um durchführen? Schließlich entwickeln

sie keine Waffen, um Menschen zu töten.

Missachten sie trotzdem ihre gesellschaft-

liche Verantwortung, wenn sie sich daran

beteiligen oder werden sie ihr dadurch so-

gar vielleicht erst gerecht?

»Es geht bei uns um ganz einfache phy-

siologische Zusammenhänge«, erläutert

Dieter Eßfeld, Mitarbeiter des Institutes

für Physiologie und Anatomie der Sport-

hochschule Köln, der das Projekt betreute.

»Wir schauen uns an, wie fit die Soldaten

sind. Sind sie dick oder dünn? Wie viel kön-

nen sie tragen und wie lange?«, erklärt er

zu seinen Projekten.

Es gehe also um Anforderungen am Ar-

beitsplatz, so Eßfeld, über die sich jeder Ar-

beitgeber Gedanken machen müsse – auch

die Bundeswehr.

»Diese moralische Frage stellt sich für

uns daher nicht«, findet er. »Wir schauen

uns an, welche mit Drittmitteln geför-

derten Projekte in unser Institut passen

und die machen wir dann.«

Tatsächlich ist Forschungsfinanzierung

ein wichtiger Aspekt, wenn es um Koope-

NadiNe QuerliNg, Studentin Wirtschaftpädagogik in Mainz

»Wenn es um Verteidigung oder Medizin geht, ist das in Ord­nung. Angriffswaffen sollten an Hochschulen aber nicht ent­wickelt werden«

NiNa geiSe, Studentin Buch-/Politikwissenschaften in Mainz,

»Es wird genug geforscht. Die Bundeswehr könnte diese Ergebnisse auch einfach benut­zen.«

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 63

rationen und Auftragsforschung geht. Im-

merhin wird für gutes wissenschaftliches

Arbeiten Geld benötigt. Neben ihrer eige-

nen Arbeitskraft müssen Wissenschaftler

Gelder für Arbeitsmaterialien, Geräte und

Personal aufbringen, die von den Univer-

sitäten nur selten zur Verfügung gestellt

werden können. Deswegen sind Forscher

oft darauf angewiesen, weitere finanzielle

Mittel für ihre Projekte zu akquirieren.

Zusätzliche staatliche Fördergelder – so

genannte Drittmittel – können auf Antrag

und nur projektgebunden ausgezahlt wer-

den. So auch bei Auftragsforschungsar-

beiten für das Verteidigungsministerium.

»Ich halte die schlechte Forschungsfi-

nanzierung in Deutschland für einen wich-

tigen Grund dafür, dass die Militarisierung

an Hochschulen so stark voranschreitet«,

meint Christoph Marischka, Mitarbeiter

der Informationsstelle Militarisierung

(IMI) in Tübingen. Der gemeinnützige Ver-

ein befasst sich seit 1996 mit friedenspo-

litischen Themen und setzt sich in letzter

Zeit verstärkt für die Einführung von Zivil-

klauseln an deutschen Universitäten ein.

Gegenwind erfährt das IMI dabei mit-

unter auch von Studenten. So lehnt der

Ring Christlich-Demokratischer Stu-

denten (RCDS) in Bremen einen Beschluss

des Landesparteitags, eine Zivilklausel in

das Bremer Hochschulgesetz einzufügen,

entschieden ab. In einer Pressemitteilung

schreiben die Studenten: »Die im Grundge-

setz garantierte Freiheit der Wissenschaft

würde dadurch erheblich eingeschränkt

und Forscher unter Generalverdacht ge-

stellt werden«. Gleichzeitig halten die

Studenten des RCDS die Umsetzung einer

gesetzlichen Zivilklausel in der Praxis für

schwierig, da die Grenzen zwischen ziviler

und militärischer Nutzung oftmals flie-

ßend seien.

Diese Ansicht teilt auch Nina Eisen-

hardt, Studentin der Technischen Uni-

versität in Darmstadt. Obwohl sie glaubt,

dass an ihrer Hochschule keine dezidierte

Rüstungsforschung betrieben wird, hat sie

im November 2011 ein Entmilitarisierungs-

referat gegründet. Immerhin engagiere

sich ihre Universität im Bereich der zivilen

Sicherheitsforschung, so Eisenhardt. »Ich

empfinde Sicherheitsforschung als beson-

ders kritisch, da hier in meinen Augen der

`Dual Use´- Gedanke zum Tragen kommt«,

erklärt sie und ergänzt: »`Dual Use´ bedeu-

tet, dass die Forschung für zivile Sicherheit,

aber auch für militärische Zwecke genutzt

werden kann.«

Tatsächlich ist dieser Effekt denkbar.

»Das in der militärischen Forschung er-

worbene Know-how muss auch im Bereich

der zivilen Sicherheitsforschung verfüg-

bar sein und umgekehrt«, heißt es im

Positionspapier des wissenschaftlichen

Programmausschusses des Bundesmi-

nisteriums für Bildung und Forschung

(BMBF). Mit bislang 235 Millionen Euro hat

die Bundesregierung im Rahmen des Pro-

gramms zur Sicherheitsforschung Projekte

unterstützt, die laut Zielsetzung die Si-

cherheit der zivilen Bevölkerung erhöhen

sollen, also einem zivilen Zweck dienen.

Dennoch könnten Ergebnisse aus diesem

Forschungsbereich später auch militärisch

genutzt werden.

Mit drei Millionen Euro aus diesem Etat

wurde zwischen 2007 und 2011 beispiels-

weise das Projekt »Airborne Remote Sen-

sing for Hazard Inspection by Lightweight

Drones« (AirShield) unterstützt. Ziel dieses

Forschungsprojektes war die Entwicklung

miteinander vernetzter Drohnen-Schwär-

me, die im Notfall von Einsatzkräften in

die Luft entsandt werden können. Dort

sollen sie Daten über die Gefahrenlage

sammeln und daraus Prognosen für die

Rettungskräfte am Boden entwickeln. Man

könnte die Flugroboter-Schwärme bei

Großbränden einsetzen, um den Austritt

von schädlichen Dämpfen zu messen und

zu beobachten, wie der Koordinator des

Projektes, Christian Wietfeld von der Tech-

nischen Universität Dortmund erläuterte.

Der Nutzen dieser Technologie für Ret-

tungs- und Sicherheitskräfte steht außer

Frage. Gleichzeitig werden Drohnen aber

auch von der Bundeswehr in Auslandsein-

sätzen genutzt, um die Soldaten bei der

Überwachung von Kriegsgebieten und der

Zielortung zu unterstützen.

An der Entwicklung von AirShield war

auch die Microdrones GmbH, ein Droh-

nenhersteller aus Kreuztal beteiligt. Laut

eigenen Angaben beliefert das Unterneh-

men auch das Fraunhofer-Institut für Op-

tronik, Systemtechnik und Bildauswertung

in Ettlingen. Dessen größtes Geschäftsfeld

ist wiederum der Verteidigungssektor, zu

den Auftraggebern zählen das BMVg und

die Bundeswehr. Das an Universitäten ge-

wonnene Know-How für Feuerwehrdroh-

nen könnte auf diesem Umweg also auch

in den militärischen Einsatz gelangen. Das

würde sich auch durch die Einführung von

Zivilklauseln nicht ändern.

Fraglich ist also, inwiefern sich dieser

Wissenstransfer überhaupt verhindern

lässt. Tatsächlich ist die Einstufung der

militärischen Nutzbarkeit vieler For-

schungsarbeiten ebenso umstritten wie

die Notwendigkeit von Zivilklauseln. Ein

spannender Diskurs, dem sich viele Uni-

versitäten, deren Studenten und die Poli-

tik in nächster Zeit widmen müssen. <<

Yasmin Emily Penack

NiNa eiSeNhardt, Studentin an der tu darm-stadt. Vor einigen Wochen hat sie dort das entmilitarisierungsreferat gegründet.

»Ich möchte an meiner Hoch­schule den Diskurs zu Militär­und Sicherheitsforschung fördern.«

Mark turPiN, Student lehramt in Mainz

»Ich bin nicht grundsätzlich gegen Forschung für die Bundes­wehr. Für mich hängt das vom Forschungsprojekt ab. Pauscha­lisieren lässt sich das nicht.«

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interview

Wissen aus dem Untergrund?Ob Radioaktivität oder Schweinegrippe – wer über brisante Themen forscht, muss sich mit seiner Verantwortung für die Gesellschaft auseinandersetzen. Aber gilt das denn nicht für alle Wisenschaftler? Tragen die Nebendarsteller der Forschungslandschaft vielleicht weniger Verantwortung oder liefern sie sogar das Fundament für die gefeierten Erfolge?

Drei Forscher geben Antworten.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 65

»Langfristig gesehen, hat Kommunikations­wissenschaft eine genauso große Verantwortung wie die Medizin.« Oliver Quiring

Herr Quiring, was treibt Sie jeden

Tag an?

Quiring: Es ist die Neugierde. Ich finde es

toll, dass man mich dafür bezahlt, neu-

gierig zu sein.

Ergibt sich daraus eine gewisse

Verantwortung für Sie oder erforschen

Sie einfach, worauf Sie gerade neugierig

sind?

Quiring: Natürlich suche ich mir The-

men, die auch gesellschaftlich relevant

sind. Die Ergebnisse, die ich publiziere,

zeigen, wie Medien funktionieren und

was sie gesellschaftlich verändern. Im

Moment untersuchen wir beispielswei-

se die Berichterstattung während der

Wirtschaftskrise. Die Berichterstattung

kann die Realität nicht objektiv abbilden,

denn Journalisten haben Einstellungen

zum Thema. Zudem gibt es Produkti-

onsroutinen, Zwänge der Kommerzia-

lisierung und so weiter. Insofern haben

wir die Verantwortung, immer wieder

zu untersuchen, ob Medien ihre Funk-

tion erfüllen. Zudem habe ich auch die

Verantwortung, empirisch sauber zu ar-

beiten, also nicht nur meine Meinung zu

äußern, sondern an Hand empirischer

Forschung zu untermauern.

Sie haben gerade von der Funktion

der Medien gesprochen. Setzen Medien

ihre Funktion richtig um?

Quiring: Das ist eine schwierige Frage.

Ich definiere zunächst einmal, was ihre

Verantwortung ist.

Gerne.

Quiring: Die Presse hat die öffentliche

Aufgabe, den Bürger zu informieren,

damit er sich vernünftig eine Meinung

bilden kann. Medien sollen ein Forum

zur Artikulation verschiedener Ideen lie-

fern und Mächtige, aus Politik und Wirt-

schaft beispielsweise, kritisieren. Aber

auch Unterhaltung ist ihre Funktion.

Bei der Frage, ob die Medien diese Auf-

gaben erfüllen, tendiere ich zum Ja. Ich

sehe unsere Medienentwicklung nicht

so pessimistisch. Es läuft nicht alles glatt,

aber ich sehe zumindest den Versuch, di-

ese Aufgaben weiterhin zu erfüllen und

ebenso den Medien Verantwortung zu

übertragen, die wahrgenommen wird.

Wie lassen sich Ihre Erkenntnisse

auf die Praxis übertragen?

Quiring: Das Wichtigste ist, dass die Er-

gebnisse an die Öffentlichkeit gelangen.

Wir führen auch Gespräche mit Zustän-

digen, in denen wir auf Missstände hin-

weisen und Optionen darstellen. Das

sind die einzigen Möglichkeiten, die ich

sehe.

Wie stark sehen Sie Ihre Wissen-

schaft in der gesellschaftlichen Verant-

wortung, etwa im Vergleich zu der medi-

zinischen Forschung?

Quiring: Ich habe große Ehrfurcht vor

Disziplinen wie der Medizin. Medizin hat

ebenso wie viele Naturwissenschaften

eine ganz klar sichtbare Funktion: Sie

rettet Menschenleben. Wir Kommunika-

tionswissenschaftler beschäftigen uns ja

eher damit, wie Gesellschaften funktio-

nieren und wie sie kommunizieren. Das

ist nicht ganz so greifbar. Aber wenn es

etwa hilft, Diktaturen zu vermeiden, ist

das wichtig. Das haben wir in unserer

deutschen Geschichte gelernt. Ich würde

also eher sagen, Kommunikationswis-

senschaftler haben langfristig eine ge-

nauso wichtige Funktion wie Forscher in

der Medizin.

Oliver Quiring ist Kommunikationswissenschaftler und geschäftsführen-der Leiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz.

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»Kunstwissenschaft sorgt dafür, dass visuelle Phänomene beschrieben werden können« Alexandra Karentzos

Frau Karentzos, wie wirkt sich die

Globalisierung auf die Mode aus?

Karentzos: Zum Beispiel durch den so ge-

nannten Serail-Look, der seit 2009 auch

international gefragt ist und die Harems-

hosen auf den Laufsteg schickt. Das sind

diese Hosen mit dem tiefen Schritt. In Eu-

ropa gab es schon mehrere Revivals dieser

Hose. Im 18. Jahrhundert war das ein Zei-

chen des exotischen Anderen, aber auch

ein Zeichen von Freiheit und Emanzipa-

tion. Frauen, die so etwas getragen haben,

hatten im wahrsten Sinne des Wortes die

Hosen an. Daran sieht man einen Bedeu-

tungswandel. Heute würde man das viel-

leicht eher, als erotische Imagination se-

hen: der Harem als Lustort.

Welche Bedeutung hat Mode für

die Gesellschaft?

Karentzos: Mode hat das Potenzial, sich

kritisch mit der Gesellschaft auseinander

zu setzen. Etwa als politisches Statement,

wie das die Punkbewegung gemacht hat.

Sprechen wir einmal über die Wis-

senschaft hinter der Kunst. Welche Funk-

tion hat sie?

Karentzos: Die Rolle der Wissenschaft

ist es, die Kunst zu beobachten, zu ana-

lysieren und in einen Kontext zu setzen.

Kunstwissenschaft sorgt dafür, dass vi-

suelle Phänomene beschrieben werden

können. Damit schafft sie Verständnis

für gesellschaftliche Kontexte und Ent-

wicklungen.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Karentzos: Lady Gaga arbeitet sehr per-

formativ und verwendet Kunstmittel,

um Aufmerksamkeit zu erzielen. Sie hat

mit ihrem Fleischkleid und einem Kote-

lett als Hut viel Aufsehen erregt. Mir als

Kunstwissenschaftlerin geht es dabei da-

rum, zu untersuchen wie sich diese Per-

son inszeniert, welche Mittel sie aufgreift

und in welcher Verbindung das steht.

Die Kunsthistorikerin Alexandra Karentzos ist Wella-Stiftungsprofessorin an der TU Darm-stadt. Sie forscht über die Auswirkungen der Globalisierung auf Mode und Ästhetik. Sie findet, dass Wissenschaft Mode in gesell-schaftliche Kontexte einordnen sollte – um kritische Distanz zu Alltagsphänomenen zu ermöglichen.©

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»Weltraumschrott ist ein globales Problem, es reicht nicht, wenn nur ein Land etwas dagegen macht.« Holger Krag

Holger Krag hat Maschinenbau mit Schwer-punkt Luft- und Raumfahrt an der TU Braun-schweig studiert. Er arbeitet beim European Space Operation Centre (ESOC) in Darmstadt und beschäftigt sich mit Weltraummüll.

Herr Krag, wie sieht Ihr Alltag beim

European Space Operation Centre aus?

Krag:Das ESOC betreibt die Satelliten der

ESA. Dazu gehört die regelmäßige Kon-

taktaufnahme mittels eines Netzwerks

von Antennen, das Verfolgen ihres Status

und die Berechnung ihrer Bahnen. Meine

Arbeit wird dann entscheidend, sobald

wir dabei auf eine Kollisionswarnung

stoßen. Erst heute ist eine reingekom-

men, die einen unserer Satelliten betrifft.

Dann sprechen wir uns mit unserem

Kontrollteam ab, das den Satelliten die

Kommandos gibt. Danach fliegen wir das

Ausweichmanöver. Wenn ein teurer Sa-

tellit bei einer Kollision getroffen wird,

ist das sehr ärgerlich.

Wie kommt es zu Kollisionen?

Krag: Es gab bis heute rund 5000 Rake-

tenstarts. Jeder Start bringt mindestens

einen Satelliten ins All. Leider sind schon

mehr als 200 Mal Raketenoberstufen,

manchmal sogar Satelliten, explodiert.

Man hat sich nie Gedanken gemacht,

was nach 20 bis 30 Jahren mit diesen Ob-

jekten passiert. Es hat sich herausgestellt,

dass sich der restliche Treibstoff selbst

entzünden kann. Dadurch explodiert der

Satellit. Das Objekt zerlegt sich in Trüm-

mer, diese sind wieder Kandidaten für

neue Kollisionen. Das wäre dann eine Ket-

tenreaktion. Wir haben Angst davor, ir-

gendwann nur noch zusehen zu können,

wie die Objekte miteinander kollidieren

und ihre Zahl immer weiter ansteigt. Und

ehrlich gesagt haben wir das Gefühl, dass

wir kurz davor stehen.

War das nicht verantwortungslos

von der ESA, sich keine Gedanken zu ma-

chen, was nach der Mission mit den Ra-

keten passiert?

Krag: Man muss sich in die Pioniertage

der 50er Jahre zurück versetzen. Es war

ein Riesenerfolg für die Menschheit,

überhaupt ein Objekt ins All zu bringen.

Insofern habe ich Verständnis für die frü-

hen Tage der Raumfahrt. Aber man hätte

von Anfang an eine Art Verkehrsplanung

machen müssen, damit sich die Objekte

mit ihrer Umlaufbahn nicht überschnei-

den. Auf der anderen Seite habe ich er-

lebt, wie Regeln zustande kommen. Da

diskutieren 60 bis 70 Nationen. Keiner

will sich den Flug in den Weltraum ver-

bieten lassen. Ich bin heute selbst in

solche Diskussionen involviert und ver-

suche zu erklären, welche Konsequenzen

Missionen haben und welche Maßnah-

men getroffen werden müssen. Das ist in

einem solchen Umfeld sehr schwer.

Ist das so ähnlich wie in der Klima-

debatte?

Krag: Ja, Weltraumschrott ist ein globales

Problem. Was einer anrichtet, bekommen

alle zu spüren. Und die Effekte von dem,

was man zur Vermeidung versucht, sind

erst ganz spät spürbar.

Die Interviews führte Stephanie Hill.

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Hill

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68 GRAUZONE

ElEktromobilität

Lithium-Ionen-Batterien boomen – aber wie zukunftsfähig sind sie wirklich?

Hype ohne Zukunft

Jeder hat eine. Denn sie sind überall.

In Handys, in Laptops, sogar in Akku-

schraubern, neuerdings auch in Autos.

Die Rede ist von Lithium-Ionen-Batterien,

von Experten abgekürzt Li-Ion, die in den

letzten Jahren schwer in Mode gekommen

sind. Es gibt kaum ein elektrisches Gerät,

das nicht mit einem solchen Akku aus-

gestattet ist. Kein Wunder: Li-Ions haben

eine sehr hohe Energiedichte, sie können

eine große Menge Energie in einer ver-

gleichsweise kleinen Menge Lithium spei-

chern. Frühere Akkumodelle hatten einen

»Memory Effekt«. Das heißt: Mit zuneh-

mendem Alter konnten sie immer weni-

ger Energie speichern. Bei Li-Ions entfällt

dieses Problem. Diese Vorteile machen

Lithium zu einem gefragten Rohstoff. Es

ist das Schicksal von Rohstoffen, dass sie

nur in begrenztem Maße auf unserem Pla-

neten vorhanden sind. Ist die Zukunft der

Li-Ions also schon vorbei, bevor sie begon-

nen hat?

Lithium ist das leichteste Metall der

Welt. Doch kaum jemand weiß, wie dieses

Element aussieht. Im Gegensatz zu Gold,

Silber oder Uran kann es nicht einfach in

einer Mine abgebaut werden. Einer der

wichtigsten Rohstoffe für die Elektronik-

und Automobilindustrie versteckt sich

gut. Lithium kommt nahezu überall vor, in

Gesteinen, in unserem Mineralwasser und

auch in unserem Körper. Aber nur an we-

nigen Stellen auf der Erde ist das Element

in so hohen Konzentrationen vorhanden,

Um diese Fragen zu beantworten, müs-

sen wir zurück nach Südamerika, zu den

Salzseen. Laut eines Berichts aus dem Jahr

2008 des Meridian International Research

(MIR), einem Technologie-Beratungsun-

ternehmen, stecken in ihrer Salzkruste

insgesamt über zehn Millionen Tonnen

Lithium. Nimmt man einige kleinere Vor-

kommen in China, Brasilien und den USA

dazu, kommt man auf 15 Millionen Ton-

nen weltweit. Das klingt nach genug Lithi-

um für alle, genug von diesem Rohstoff für

alle Autos, für alle Handys und Laptops. Es

klingt fast zu schön, um wahr zu sein.

Vielleicht wäre es deshalb klug, noch

einmal einen genaueren Blick in den Be-

richt des MIR zu riskieren. Die Experten

schätzen, dass aus dem Salar de Atacama

Es ist eine verlockende Vorstellung, dass in 20 oder 30 Jahren nur noch Elektroautos leise durch die Stra-ßen schnurren. Nie wieder tanken, nie wieder Smog. Wie realistisch ist das? Und wie viel Lithium gibt es überhaupt auf der Erde?

»«

dass sich ein Abbau lohnt. Eine dieser Stel-

len ist das »Lithiumdreieck« – drei Salz-

seen in Argentinien, Bolivien und Chile,

wo stolze 70 Prozent der weltweiten Lithi-

umvorräte lagern.

Salar de Atacama, Salar de Uyuni, Salar

de Hombre Muerto – vielleicht werden die

Namen dieser Seen bald in aller Munde

sein. Denn seit die Automobilindustrie auf

Elektroautos mit Li-Ions setzt, steigt der

Bedarf rasant an. Es ist ja auch eine ver-

lockende Vorstellung, dass in 20 oder 30

Jahren nur noch Elektroautos leise durch

die Straßen schnurren. Nie wieder tanken,

nie wieder Smog. Dafür müssten allein in

Deutschland 57 Millionen Autos ersetzt

werden. Wie realistisch ist das? Wie viel Li-

thium gibt es überhaupt auf der Erde?

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 69

seit 1984 bereits 100.000 Tonnen Lithium

abgebaut wurden. Optimistische Schät-

zungen gehen davon aus, dass knapp sie-

ben Millionen Tonnen noch dort lagern.

Maximal können davon aber nur eine

Million Tonnen gefördert werden, weil

das restliche Lithium in zu großer Tiefe la-

gert oder die Konzentration so gering ist,

dass der Abbau mehr Geld kosten würde,

als er einbringt. Ähnlich sieht es im Salar

de Uyuni aus, wo aufgrund schlechterer

klimatischer Bedingungen nur 300.000

bis 600.000 Tonnen zu gewinnen sind.

Immerhin besser als nichts, könnte man

sagen. Die Konsequenz aber wäre die kom-

plette Zerstörung dieser einzigartigen, bi-

zarr schönen Naturwunder.

Der Salar de Atacama liefert ungefähr

die Hälfte der jährlichen Weltproduktion

an Lithium, 2007 rund 10.000 Tonnen. Für

das Jahr 2015 schätzt das MIR einen Bedarf

von rund 45.000 Tonnen Lithium. Den Lö-

wenanteil verbrauchen die Elektronikbran-

che sowie Glas- und Keramikherstellung.

Nur rund 13 Prozent stehen tatsächlich der

Automobilindustrie zur Verfügung. Da-

mit könnte man gerade einmal schlappe

2,7 Millionen moderne Li-Ions herstellen.

Zum Vergleich: Die jährliche Autoproduk-

tion liegt bei 60 Millionen Autos – nur

knapp 5 Prozent davon könnten also durch

Elektroautos ersetzt werden. Bis die verhei-

ßungsvolle Zukunft der Elektromobilität

komplett umgesetzt werden kann, muss

die Fördermenge an Lithium drastisch er-

höht werden. Im Umkehrschluss heißt das

aber auch: je mehr abgebaut wird, desto

geringer wird die Konzentration des Ele-

ments in den Salzseen Südamerikas und in

den anderen Lagerstätten. Verringert sich

aber die Konzentration in der Salzlauge,

wird der Abbau des Lithiums noch schwie-

riger, zeitaufwendiger und zerstörerischer

für die Umwelt.

Es ist ein Teufelskreis, der an ein ähn-

lich gelagertes Problem unserer Zeit erin-

nert. Es gibt noch einen begrenzt vorkom-

menden Rohstoff, der essentiell für unsere

Mobilität ist – Öl. Die Vorräte an fossilen

Brennstoffen gehen zur Neige, da wir sie

intensiv nutzen. Ein Alarmsignal, das uns

zwingt nach neuen Lösungen für die Zu-

kunft zu suchen. Aber ist es ein Ausweg,

einen knappen Rohstoff durch etwas zu

ersetzen, das ebenfalls nur in begrenztem

Maße vorhanden ist? Li-Ions mögen eine

Möglichkeit sein, die Mobilität der nahen

Zukunft zu gewährleisten. Trotzdem muss

die Suche nach Alternativen weitergehen,

damit wir die Verantwortung für unsere

Zukunft nicht einfach auf die nächste Ge-

neration abschieben. <<

Ann-Kathrin Braun

Eine dicke Salzkruste überzieht den Salar de Atacama. Der drittgrößte Salzsee der Erde liegt in den chile-nischen Anden. Hier lagert ein begehrter Rohstoff für die Automobilindustrie: Lithium. Wird das gefragte Metall jedoch weiter so exzessiv abgebaut, zerstört der Mensch diese einmalige Landschaft für immer.

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70 GRAUZONE

Autonomes FAhren

Schon jetzt rollen testweise die ersten Autos selbst ständig auf den Straßen. Ob der Fahrer dabei zum Beifahrer wird und wo die Entwick-ler ihre Verantwortung gegenüber dem Men-schen sehen, ist noch strittig.

Wer fährt denn hier?

»Ampel rot«, meldet Leonie mit

lieblicher Stimme. Wenig später

bremst sie langsam ab, bis sie an

der Haltelinie auf dem Stadtring in Braun-

schweig zum Stehen kommt. Sobald die

Ampel auf Grün schaltet, gibt sie Gas.

Da schert ein Auto vor ihr ein. Ein klei-

ner Ruck geht durch Leonie. Erst bremst

sie ab, dann gibt sie ein bisschen Gas, bis

sie den Sicherheitsabstand wieder herge-

stellt hat.

Erneut kommt eine rote Ampel. Hier

schert Leonie auf die Abbiegespur ein und

setzt den Blinker. Dann ertönt ein schril-

ler Piepston, der signalisiert, dass Bernd

Lichte jetzt Steuer und Pedale übernimmt.

Lichte ist wissenschaftlicher Mitarbei-

ter am Institut für Regelungstechnik der

Technischen Universität Braunschweig

und der Sicherheitsfahrer von Leonie.

Sie ist ein grauer VW Passat der Uni-

versität, an dem das sogenannte auto-

nome Fahren im Stadtverkehr getestet

wird. Fahrzeuge wie Leonie können die

Geschwindigkeit autonom regeln, alleine

lenken und erkennen, wenn ein Gegen-

stand zu nahe kommt. Dann bremst sie

bis zum Stillstand ab.

Auf Flughäfen oder an Containertermi-

nals fahren bereits autonome Fahrzeuge.

So transportieren 86 fahrerlose Transport-

fahrzeuge im Containerterminal Altenwer-

da in Hamburg Container von den Schiffen

zum Lager. Die Steuerung der Fahrzeuge

läuft über kleine Sensoren im Asphalt, mit

deren Hilfe die fahrerlosen Transportfahr-

zeuge sich den kürzesten Weg zum Ziel

suchen. Da sie außerhalb ihres Einsatzge-

bietes nicht selbstständig fahren können,

ist diese Technik für den öffentlichen Stra-

ßenverkehr nicht geeignet und kann noch

nicht in Serie eingesetzt werden.

© Ta

bea

Ost

hues

Der Einparkassistent hilft dem Fahrer nicht nur die passende Parklücke zu finden, sondern berechnet auch den optimalen Einparkvorgang. Die Lenkung wird dabei von dem Auto komplett allein übernommen. Nur noch Gas und Bremse muss der Fahrer betätigen.

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Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß 71

 

 100.  Geburtstag  von  Carl  Friedrich  von  Weizsäcker  

1912-­‐2007  Diskussionsveranstaltung:  

Wie  soll  und  wird  die  Rolle  der  wissenschaftlichen  Bildung  im  nächsten  Jahrzehnt  aussehen?  

Tagung:  WOHIN  GEHEN  WIR  –  heute?  

 28.  Juni  2012  

Humboldt-­‐Viadrina  School  of  Governance,  Berlin  29.  Juni  -­‐1.  Juli  2012  

Europäische  Akademie  Berlin  Vereinigung  Deutscher  Wissenschaftler  e.V.  

 Informationen  und  Voranmeldung  unter  

info@vdw-­‐ev.de  030/21  23  40  56  Foto:  GMurr97  

 U.a.  mit    Johan  Galtung  Martin  Heisenberg  Reiner  Langhans  K.M.  Meyer-­‐Abich  Konrad  Raiser  Gesine  Schwan  Klaus  Töpfer  Hans  J.  Vogel  E.U.v.  Weizsäcker  

 

 

 

 

»Das wird erst in sehr weiter Zukunft

der Fall sein«, sagt Udo Rügheimer, Pres-

sesprecher für Technik von Bosch in Stutt-

gart. Denn bei einem Unfall könne dem

System noch nicht die Verantwortung ge-

geben werden. Rügheimer weist damit auf

das Wiener Übereinkommen zum Straßen-

verkehr hin: »Hier ist festgelegt, dass der

Fahrer die Verantwortung für sein Fahr-

zeug hat.« Das Übereinkommen stammt

aus dem Jahr 1968 und soll den internatio-

nalen Straßenverkehr erleichtern.

»Wissenschaftler entwickeln autonome

Fahrzeuge, weil sie sich in der Verantwor-

tung sehen, die Fahrsicherheit zu erhö-

hen«, erklärt Rügheimer. Fahrer sollen in

ermüdenden oder kritischen Situationen

– die zu einem Unfall führen können –

entlastet werden. Das kann beispielsweise

durch einen Spurhalteassistent, oder ein

elektronisches Stabilitäts-Programm, kurz

ESP, geschehen.

Auch Ioannis Iossifidis, Professor für

Theoretische Informatik – Kognitive Sys-

temtechnik an der Hochschule Ruhr West

in Bottrop, befürwortet die Entwicklung

von Fahrerassistenzsystemen: »Wenn die

Systeme im Auto kein zusätzliches Risiko

bergen und damit zu einem Verkehrstoten

weniger beitragen, dann ist die Entwick-

lung des Autonomen Fahrens für mich ge-

rechtfertigt«, sagt er. Im Jahr 2010 starben

laut dem Statistischen Bundesamt 3.648

Menschen im Straßenverkehr.

Allerdings räumt Iossifidis ein, dass

das autonome Fahren auch einen ökolo-

gischen Aspekt habe. »Die Straßen kön-

nen dann effizienter genutzt werden.« Das

autonome Fahren sorge dafür, dass die

Straßen besser ausgelastet würden. Das

verringert die Staubildung, vor allem auf

stark befahrenen Straßen. Selbst bei gerin-

gen Geschwindigkeiten wäre so fließender

Verkehr möglich.

Iossifidis fühlt sich aus einem weiteren

Grund verantwortlich, das autonome Fa-

hren mit zu entwickeln: »Ich habe das

Gefühl, dass diese Forschung eine gesell-

schaftliche Relevanz besitzt.« So frage er

sich als Wissenschaftler, für wen die Ent-

wicklung nützlich ist. »Dabei denke ich vor

allem an Menschen mit einer Beeinträch-

tigung.« Denn je größer das Ausmaß der

Autonomie sei, desto geringer wäre die

Hürde für Leute mit Beeinträchtigung.

Dennoch besteht auch hier das Pro-

blem der Verantwortung bei einem Unfall.

Für Iossifidis stellt sich dabei die Frage,

warum Unfälle passieren. »Ihnen liegen

meist erkenntnismäßige Fehlleistungen

zu Grunde«, sagt der Wissenschaftler. Der

Fahrer habe etwa nicht in den Rückspiegel

geschaut oder nicht rechtzeitig gebremst.

Ob jemand wegen eines kognitiven Feh-

lers zur Verantwortung gezogen werden

kann, bleibt für Iossifidis fraglich. In einem

Punkt ist er sich sehr sicher: »Ein Compu-

tersystem macht Fehler, die ein Mensch

nicht machen würde und umgekehrt.«

VErBEssErtE rEAktioNDas ist auch bei Leonie so: Während der

Fahrt auf dem Testgelände fährt sie auf ein

stehendes Fahrzeug zu. Sie erkennt es mit

Hilfe ihrer Lasersensoren und kommt da-

hinter zum Stehen. Doch im nächsten Mo-

ment hat sie das Signal verloren und gibt

Gas. Mit einer Vollbremsung verhindert

der Sicherheitsfahrer Bernd Lichte gerade

noch einen Unfall.

Doch nicht nur ein verlorenes Signal

kann ein Problem sein: »Wenn ein Sensor

geblendet wird, kann es zu einer Reaktion

des Systems kommen, obwohl eigentlich

keine Gefahrensituation vorliegt«, erklärt

Felix Lotz vom Institut Maschinenbau,

Fachgebiet Fahrzeugtechnik. Er gehört

zum Team von »Proreta«, einem Projekt

der Technischen Universität Darmstadt

in Kooperation mit der Continental AG.

Hier entwickelt Lotz gemeinsam mit Kol-

legen unter anderem ein teilautonomes

Fahrkonzept. »Der Fahrer soll dabei auf

Manöverebene mit dem Fahrzeug kom-

munizieren.« Gibt der Fahrer dem Auto

beispielsweise zu verstehen, dass er an der

nächsten Kreuzung rechts abbiegen möch-

te, soll das Auto den Befehl durchführen.

Das Projekt befindet sich noch in seinen

Anfängen. Wie genau die Kommunikation

ablaufen wird, muss noch geklärt werden.

Bei dem Projekt ist dem Team wich-

tig, dass die Verantwortung beim Fahrer

bleibt. »Es muss sichergestellt werden,

dass Fahrer und Fahrzeug ein Team sind«,

so Matthias Pfromm vom Team »Proreta«.

Er und seine Kollegen sind sich einig,

dass ihre Entwicklung den Fahrer entla-

sten und nicht entmündigen soll.

Ähnlich sieht das auch Udo Rügheimer,

Pressesprecher von Bosch: »Die Systeme

dienen dazu, dem Fahrer mehr Informati-

on zur Verfügung zu stellen und die Reak-

tion früher und zielgenauer einzuleiten,

passend auf die aktuelle Fahrsituation.« So

erkenne das ESP, wenn beim Bremsen eine

Instabilität oder ein Ausbrechen des Wa-

gens drohe. Das System bremst daraufhin

die einzelnen Räder unterschiedlich stark

ab. »Dementsprechend trifft das Fahrzeug

schon heute Entscheidungen.«

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Page 72: Grauzone - Wissenschaft ist nicht schwarz oder weiß

72 GRAUZONE

Auch »bei unangenehmen Tätigkeiten«,

zum Beispiel bei zähfließendem Verkehr

oder beim Einparken seien die Assistenz-

systeme eine feine Sache.

»Letztlich sind das Situationen, in de-

nen man das Recht auf eigenständige Ent-

scheidungen gar nicht wahrnehmen will«,

findet der Pressesprecher. So sieht er die

Verantwortung der Wissenschaftler gegen-

über dem Fahrer.

VErANtwortuNG BLEiBt BEim FAhrErAnderer Meinung ist Alexandra Schulz,

wissenschaftliche Mitarbeiterin des Fach-

bereichs Kraftfahrzeuge der Technischen

Universität Berlin. Sie empfinde aus for-

schender Sicht keine Verantwortung ge-

genüber dem Fahrer.

»Es geht darum, dem Fahrer einen Gefal-

len zu tun und ihm nicht zu schaden«,

erklärt sie. Den Wissenschaftler sehe sie

nicht in der Verantwortung, sich darüber

Gedanken zu machen, ob das autonome

Fahren eine Entmündigung des Fahrers ist.

»Der Fahrer sollte immer noch ‚in the loop‘

bleiben.« Das heißt, er soll eine handelnde

Komponente bleiben.

»Ein System kann keine Verantwortung

übernehmen«, meint sie. Daher werde die

kontrollierende Funktion des Fahrers noch

sehr lange erhalten bleiben.

Das ist auch nötig. Denn während Leonie

einen Teil des Stadtrings in Braunschweig

entlang fährt, ertönt erneut ein Piep-

ston. Als nächstes macht Leonie deutlich:

»Fehler erkannt. Mögliche Ursache durch

Eingriff«. Doch Bernd Lichte hat nicht in

den autonomen Fahrmodus eingegriffen.

Stattdessen hat Leonie einen Fehler im

System ausfindig gemacht. Es fährt auto-

matisch herunter und Lichte übernimmt

das Steuer. Währenddessen suchen seine

Doktoranden, die ebenfalls im Auto sitzen,

nach dem Fehler im System.

»Der Fahrer muss Herr über sein Fahr-

zeug sein«, erklärt Alexandra Schulz von

der Technischen Universität Berlin. Das

sei die momentane Regelung. Daher beto-

nen die Hersteller immer wieder, dass der

Fahrer verantwortlich ist.

»Bis die Technik das autonome Fahren

zuverlässig kann, wird es noch dauern«,

meint sie. Die bisherigen Systeme hätten

nicht die nötige Reichweite, um voraus-

schauend zu fahren. »Daher ist eine Car to

Car-Communication nötig«, sagt die Wis-

senschaftlerin. Dabei kommunizieren die

Fahrzeuge untereinander per Funksignal.

»Die Fahrzeuge tauschen aus, welches das

vorderste Fahrzeug sieht«, erklärt sie.

Doch bis es soweit ist, müsse erst noch

das Vertrauen der Bevölkerung in das Sy-

stem des autonomen Fahrens geschaffen

werden, weiß Matthias Schreier vom Team

Proreta. »Das kann dauern. Der Bevölke-

rung muss erst gezeigt werden, welche

Vorteile das System bringt.«

In Braunschweig fängt Leonie schon da-

mit an: Für wenige Kilometer fährt sie auf

dem Stadtring im Verkehr mit. <<

Tabea Osthues

Das Auto Leonie ist mit verschiedenen radar- und Lasersystemen ausgestattet. Damit ist es in der Lage, autonom ein kleines stück auf dem stadtring in Braunschweig zu fahren.

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72 GRAUZONE

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Redaktionsschluss: 27.01.2012

Layout: Karsten KramarczikWerbedesign Kramarczik,

Lavendelweg 15, 64653 Lorsch, [email protected] Herstellung: Hochschule Darmstadt, Haardtring 100, 64295 DarmstadtLeitung: Prof. Dr. Annette Leßmöllmann (ver-antwortlich), Hochschule Darmstadt, Fachbereich Media, Studiengang WissenschaftsjournalismusMediencampus Dieburg, Max-Planck-Straße 2, 64807 Dieburg, [email protected], www.wj.h-da.de

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74 GRAUZONE

Auch nur MenschenWie stellen Sie sich eigentlich einen Wissenschaftler vor? Vielleicht

etwa so wie Amy. In der siebten Klasse nahm sie am »Beauty and

Charm«-Programm des amerikanischen Forschungszentrums für

Teilchenphysik »Fermilab« teil. Am Anfang des Projekts malte sie

ein Bild von einem Wissenschaftler und beschrieb ihre Vorstel-

lungen von seinem Alltag: »Ich denke, ein Wissenschaftler liebt

seine Arbeit sehr. Er ist ein wenig verrückt und spricht immer

schnell. Er bekommt ständig neue Ideen. Er fragt immerzu und

kann sehr nervig sein. Er hört sich die Ideen von anderen Leuten

an und hinterfragt sie.«

Anschließend lernte sie gemeinsam mit ihren Klassenkameraden

die »Fermilab«-Wissenschaftler kennen. Das veränderte ihre An-

sichten über die Forscher: »Ich weiß jetzt, Wissenschaftler sind

ganz normale Leute mit einem nicht ganz so normalen Job … Wis-

senschaftler führen ein ganz gewöhnliches Leben neben ihrem

Wissenschaftler-Dasein. Sie interessieren sich für Tanzen, Töpfern,

Joggen und sogar für Squash. Ein Wissenschaftler zu sein ist eigent-

lich nur ein Job, der viel aufregender sein kann als andere Berufe.«

Vielleicht haben sich Ihre Ansichten jetzt auch verändert. Denken

Sie immer daran: Wissenschaftler sind auch nur Menschen.

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82 hautnah

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