Gregor Samarow Europäische Minen und Gegenminen

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Gregor Samarow Europäische Minen und Gegenminen E RSTES CAPITEL . Es war Mitte März 1867. Ein leichtes Halbdunkel herrschte in dem Wohnzim- mer des kaiserlichen Prinzen von Frankreich im alten Paläste der Tuilerien. Die schweren grünen Vorhänge waren bis fast zur Mitte der Fenster zusammengezo- gen und die durch graue Wolken verhüllte Morgenson- ne sendete nur wenig Licht in das Innere des Zimmers, welches ein helles, prasselndes Kaminfeuer mit behag- licher Wärme erfüllte. Auf dem großen Tisch in der Mitte lagen aufgeschla- gene Bücher und Landkarten, auf einem Seitentisch standen kleine, statuettenartige Figuren von Papier- maché, die verschiedenen Truppentheile der französi- schen Armee darstellend, man sah daneben einen Zei- chentisch und eine kleine Staffelei mit Geräthschaften zum Malen, einen kleinen electrischen Apparat und rings umher eine Menge jener tausend Kleinigkeiten, welche theils zum Spiel, theils zum Unterricht des zar- ten Knaben dienten, den man den kaiserlichen Prin- zen von Frankreich nannte, und auf welchen die Au- gen von ganz Europa theils mit theilnehmender Sorge,

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Gregor Samarow

Europäische Minen und Gegenminen

ERSTES CAPITEL.

Es war Mitte März 1867.Ein leichtes Halbdunkel herrschte in dem Wohnzim-

mer des kaiserlichen Prinzen von Frankreich im altenPaläste der Tuilerien. Die schweren grünen Vorhängewaren bis fast zur Mitte der Fenster zusammengezo-gen und die durch graue Wolken verhüllte Morgenson-ne sendete nur wenig Licht in das Innere des Zimmers,welches ein helles, prasselndes Kaminfeuer mit behag-licher Wärme erfüllte.

Auf dem großen Tisch in der Mitte lagen aufgeschla-gene Bücher und Landkarten, auf einem Seitentischstanden kleine, statuettenartige Figuren von Papier-maché, die verschiedenen Truppentheile der französi-schen Armee darstellend, man sah daneben einen Zei-chentisch und eine kleine Staffelei mit Geräthschaftenzum Malen, einen kleinen electrischen Apparat undrings umher eine Menge jener tausend Kleinigkeiten,welche theils zum Spiel, theils zum Unterricht des zar-ten Knaben dienten, den man den kaiserlichen Prin-zen von Frankreich nannte, und auf welchen die Au-gen von ganz Europa theils mit theilnehmender Sorge,

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theils mit gespanntem Interesse, theils mit erbittertemHasse ruhten.

Eine Chaiselongue stand in der Nähe des Kamins ne-ben einem Tisch, bedeckt mit Bilderwerken, und aufderselben lag der junge, elfjährige Prinz, in einen wei-ten, weichen Schlafrock von schwarzer Seide gehüllt.Das blasse, magere Gesicht, von jener durchsichti-gen, weißen Klarheit, welche langes körperliches Lei-den hervorbringt, ruhte leicht zurückgelehnt auf ei-nem weißen, spitzenumsäumten Kissen, die großen,dunklen Augen blickten mit fieberhaftem Glanz ausdem perlmutterschimmernden Weiß hervor, und umden jugendlich frischen Mund mit der stolz aufgewor-fenen Lippe zuckte es in erregtem Nervenspiel.

Die eine seiner feinen, schlanken und weißen Hän-de ruhte auf einem, auf seinen Knieen aufgeschlagenenfarbenreichen Bilderwerk, die Costüme Frankreichs zuden verschiedenen historischen Epochen darstellend –das aufgeschlagene Blatt zeigte Ludwig XVI. im Krö-nungsornat und verschiedene Herren und Damen inglänzenden Hoftrachten jener Zeit.

Die andere Hand des Prinzen hielt der vor derChaiselongue stehende Leibarzt des Kaisers, DoctorConneau, in der seinen – aufmerksam auf den Secun-denzeiger seiner Uhr blickend und den Pulsschlag zäh-lend.

Die ernsten und intelligenten Züge des alten Freun-des und Arztes Napoleons III. waren nicht ganz frei

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von nachdenklicher Besorgniß, und länger, als sonstnöthig, hielt er schon die Hand des kranken Knaben inder seinen, immer und immer wieder den Pulsschlagverfolgend und von Zeit zu Zeit in fast unmerklicherBewegung den Kopf schüttelnd.

Auf der anderen Seite stand der Gouverneur desPrinzen, General Frossard, eine ernste, militairischeErscheinung, fest und soldatisch in seiner Haltung,Freundlichkeit, gemischt mit energischer Willenskraft,bildete den Ausdruck seiner Züge. Der forschende Blickseines Auges ruhte auf dem Arzte, der jetzt langsam dieHand des Prinzen herabsinken ließ und lange prüfendin dessen Gesicht blickte.

»Sobald das Wetter schöner wird,« sagte endlichDoctor Conneau, »muß der Prinz nach Saint Cloud; derfortwährende Aufenthalt in reiner und sonniger Luft istjetzt erste Bedingung der weiteren Genesung.«

Die Augen des jungen Prinzen erweiterten sich, einglückliches Lächeln umspielte seine Lippen.

»Ich danke Ihnen herzlich für diese Verordnung,« riefer mit seiner, trotz des jugendlichen Alters sonoren undwohllautenden, durch die Leiden der Krankheit etwasgedämpften Stimme, »oh, es treibt mich mit aller Ge-walt hinaus aus diesen Mauern, hinaus in die weite,freie Luft zu den Blumen und Bäumen, die ich hiernur aus den Fenstern sehen kann! – Glauben Sie mir,«fuhr er nach einer kurzen Pause, während welcher seinBlick träumerisch auf dem colorirten Kupferblatt vor

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ihm ruhte, – »glauben Sie mir, – hier in diesen Mauernwerde ich niemals gesund, sie bringen mir Unglück, siedrücken und beängstigen mich, – oh – ich bitte, lassenSie mich gleich, – gleich heute hinausgehen!«

»Das Wetter ist noch zu rauh, mein Prinz,« sagte Doc-tor Conneau freundlich, indem er mit der Hand leichtund sanft über das glänzende, dunkelblonde Haar deskaiserlichen Kindes strich. – »Sie müssen noch eini-ge Zeit warten, die Übersiedelung könnte Ihnen scha-den!«

Ein Zug von Unmuth und Verdruß legte sich um dieLippen des Prinzen, seine reine Stirn faltete sich überden Augenbrauen und seine Augen verhüllten sich inleichtem Thränenschimmer.

»Die Übersiedelung kann mir nicht so viel schaden,«rief er heftig, indem er die Fingerspitzen gegeneinan-der preßte, »als der Aufenthalt hier in diesen Tuilerien,die mich erdrücken. Ich will fort!«

»Prinz,« sagte der General Frossard mit kurzem undstrengem Ton, »um das Wort: ich will – brauchen zulernen, muß man zunächst zu gehorchen verstehen, zugehorchen den Eltern und Lehrern – und vor allem derNothwendigkeit. Regen Sie sich nicht auf und wartenSie ruhig den Augenblick ab, wo der Doctor Ihre Über-siedelung anordnen wird.«

Der Prinz senkte die Augen, ein langer Seufzer drangaus seinen Lippen, und wie unwillkürlich deutete er

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mit der Hand auf das Costümbild, das auf seinen Knie-en lag.

»Ich sage Ihnen aber,« sprach er nach einigen Au-genblicken, indem der gereizte und eigenwillige Aus-druck von seinem Gesicht verschwand und eine tiefeTraurigkeit sich über seine Züge legte, – »ich sage Ih-nen aber, daß ich hier nicht gesund werden kann! –Denken Sie, lieber Doctor,« fuhr er fort, – »ich lag hiervorher und besah diese Bilder der alten Trachten underinnerte mich dabei Alles dessen, was ich gelernt habeaus der Geschichte Frankreichs – und bei jedem neuenBilde sah ich neues Blut und Unglück, welches dieserLouvre und diese Tuilerien, die jetzt mit ihm vereintsind, über ihre Bewohner gebracht haben, immer neueStröme von Blut, immer neues Entsetzen, – ich wur-de recht traurig, und hier bei diesem Bilde des armenKönigs Ludwig schlief ich ein.«

Die Augen des Prinzen richteten sich weit und glän-zend mit fieberhaftem Schimmer nach oben.

»Da träumte ich weiter,« fuhr er fort, indem seineStimme fast zum Flüsterton herabsank, – »und ich sahden armen, kleinen Dauphin, wie er bleich und trau-rig die Hand gegen mich erhob – und dann sah ichden schönen König von Rom, er stieg langsam hinabin eine einsame Gruft und grüßte mich mit der Handund blickte mich an so tief und wehmüthig, daß es mirhier« – er legte die Hand auf sein Herz – »weh that –und dann sah ich aus allen Mauern dieses Schlosses

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die hellen Flammen hervorbrechen, und draußen derHof wurde ein Meer von Blut, und in dies Meer sankendie Trümmer des brennenden Schlosses hinein. – Undich wollte fliehen, voll Angst und Entsetzen, – aber dieWellen des Blutmeeres rollten mir nach und wolltenmich verschlingen, – da wachte ich auf – aber ich sehenoch das entsetzliche Bild vor mir! Oh lieber Doctor,lassen Sie mich fort von hier, aus diesen fürchterlichenTuilerien, ich kann hier nicht schlafen, – aus Furcht,wieder so schrecklich zu träumen!«

Und der Prinz faltete bittend die Hände und richteteseinen Blick mit flehendem Ausdruck auf den Arzt.

Doctor Conneau blickte ernst und sorgenvoll in dieaufgeregten Züge des Knaben.

»Mein Prinz,« sagte der General Frossard mit ruhi-gem, festem Ton, »Sie müssen sich nicht aufregen undkeinen Träumereien hingeben, – die Geschichte jedesLandes hat vieles Traurige und viele blutige und ent-setzliche Momente, – denken Sie lieber an Alles Großeund Herrliche, das die Vergangenheit und die Gegen-wart dieses schönen Frankreichs in so reichem Maßebieten!«

»Es wäre besser,« sagte Doctor Conneau zum Gene-ral gewendet, »wenn der Prinz jetzt für einige Zeit jedeBeschäftigung mit geschichtlichen Gegenständen auf-gäbe, – Ruhe der Nerven ist für ihn nothwendig.«

Der General nahm langsam das Buch von den Knieendes kaiserlichen Prinzen.

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»Lassen wir jetzt diese Bilder,« sprach er mit freund-lichem Ernst, – »wir wollen uns einen Augenblick mitder Geometrie beschäftigen und einige kleine Aufga-ben lösen.«

Und er nahm aus einer Mappe eine Tafel mit geome-trischen Figuren aus der Lehre von den Dreiecken undlegte sie vor den Prinzen.

Dieser blickte erheitert zu seinem Gouverneur em-por und rief:

»Oh ja! das ist schön, – es macht mir so viel Freude,wenn ich eine Aufgabe lösen kann, – ich will mir rechtviele Mühe geben!«

»Und ich verspreche Ihnen, lieber Prinz,« sagte Doc-tor Conneau lächelnd, »daß Sie, sobald als es irgendnur möglich ist, nach Saint Cloud gehen sollen, – ichwerde sogleich mit dem Kaiser sprechen und ihn bit-ten, die nöthigen Befehle zu geben!«

»Ihr Sohn aber geht mit mir,« rief der Prinz, – »nichtwahr? – Ich wäre nicht glücklich dort, wenn ich mei-nen lieben Kameraden nicht bei mir hätte.«

»Wenn der Kaiser es erlaubt, soll er Sie gewiß be-gleiten,« antwortete Doctor Conneau, – »und wenn Siebeide dort recht artig und fleißig sein wollen,« – fügteer freundlich lächelnd hinzu.

»Das verspreche ich!« rief der Prinz – »und,« fügte ermit einem halb ehrerbietigen, halb schelmischen Blickauf seinen Gouverneur hinzu, – »dafür sorgt der Gene-ral!«

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»Auf Wiedersehen!« sagte der Doctor, indem er miteinem Blick liebevoller Zärtlichkeit dem Sohne seineskaiserlichen Freundes die Hand reichte und nochmalsleicht sein Haupt streichelte.

Dann verabschiedete er sich mit herzlichem Hände-druck von dem General und verließ das Zimmer desPrinzen.

Mit trübem Blick und in tiefes Nachdenken versun-ken durchschritt er langsam die Gallerie, welche zudem Cabinet Napoleons führte.

Im Vorzimmer des Kaisers fand er den dienstthuen-den Adjutanten, General Favé, einen kleinen, bewegli-chen Mann mit leicht ergrauendem kurzen Haar undlebhaften Augen – und den Marquis de Moustier, wel-cher nach dem Rücktritt von Drouyn de Lhuys infolgeder deutschen Catastrophe das Ministerium der aus-wärtigen Angelegenheiten übernommen hatte.

Der Marquis war soeben angekommen, hatte einPortefeuille auf den Tisch gestellt und unterhielt sichmit dem General. Beide Herren trugen den schwarzenÜberrock – nach der für den Morgenempfang am fran-zösischen Hofe herrschenden Sitte.

Herr von Moustier, einer jener altfranzösischen Edel-leute, welche sich mit dem Kaiser ralliirt hatten, wardamals ein Mann hoch in den Fünfzigern. Seine mit-telgroße, früher so schlanke Gestalt hatte durch ein

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leichtes Embonpoint etwas von ihrer Eleganz einge-büßt, das vornehme, blasse Gesicht, umrahmt von kur-zem schwarzen Haar, mit einem kleinen, schwarzenSchnurrbart auf der Oberlippe, trug die Spuren tieferKränklichkeit, zeigte aber dabei doch ein jugendlichleichtes Mienenspiel.

Der Doctor Conneau begrüßte den Marquis mit re-spectvoller Artigkeit und reichte dem General Favéfreundlich die Hand.

»Herr Minister,« sagte er mit leichter Verbeugung,»ich bitte Sie, mir den Vorrang lassen zu wollen, ichwerde Sie nicht lange zurückhalten, – ich möchte aberSeine Majestät nicht lange auf Nachrichten über dasBefinden des kaiserlichen Prinzen warten lassen.«

Der Marquis von Moustier drückte durch eine ver-bindliche Neigung des Hauptes sein Einverständnißaus und fragte: »Und wie geht es dem Prinzen? – SeinBefinden,« fuhr er fort, »ist nicht nur eine medizini-sche, sondern auch eine sehr politische Frage, und ichmuß mich daher doppelt dafür interessiren.«

»Der Prinz ist auf dem besten Wege zur vollständig-sten Genesung, die Schmerzen in der Hüfte vermin-dern sich, und in Kurzem wird er, wie ich hoffe, voll-ständig gesund sein,« erwiederte der Arzt mit zuver-sichtlicher Stimme, indes eine nicht ganz verschwin-dende Wolke auf seiner Stirn nicht durchaus mit demInhalt und Ton seiner Worte harmonirte.

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»Das freut mich unendlich,« sagte der Minister, »Siewissen, daß manche europäischen Cabinette und auchmanche Parteien im Lande die Krankheit des Erben derKrone mit einer nicht sehr wohlwollenden Aufmerk-samkeit verfolgen.«

»Es ist eine Folge des Scharlachfiebers,« sagte derArzt ruhig, »welches das ganze Nervensystem des Kin-des lebhaft erschüttert hat, wie das ja oft bei die-ser Krankheit vorkommt. Es sind weiter keine ernstenSymptome vorhanden – und die Feinde des Kaisers undFrankreichs haben keinen Grund zu boshaften Hoff-nungen.«

Die Thür des kaiserlichen Cabinets öffnete sich – Na-poleon III. erschien selbst in derselben und warf einenBlick in das Vorzimmer.

Mit leichter Neigung des Kopfes und freundlichemLächeln erwiederte er die tiefen Verbeugungen des Mi-nisters und des Leibarztes.

Der Kaiser war seit der Catastrophe des vergange-nen Jahres sichtlich älter und leidender geworden. DerWinter hatte seine Gesundheit auf die Probe gestelltund ihn mit rheumatischen Leiden heimgesucht, de-ren schmerzhafte Affectionen sein überaus empfind-liches und leicht erregbares Nervensystem angegrif-fen hatten. Die Spuren dieser nicht gefährlichen, aberschmerzhaften und peinlichen Leiden zeigten sich aufseinem Gesicht und in seiner Haltung, – und wie er da-stand, leicht gebückt, den Kopf etwas zur Seite geneigt,

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da hatte das sanfte und verbindliche Lächeln, mit wel-chem er die Herren begrüßte, etwas Melancholisches,Schwermüthiges, das bei einem Manne auf dieser Hö-he der Herrschaft und Macht traurig berühren mußte.

Doctor Conneau näherte sich dem Kaiser und sprach:»Ich komme vom kaiserlichen Prinzen, der Herr Mar-

quis von Moustier will ein Wenig Geduld haben,« fügteer mit einer Verbeugung gegen den Minister der aus-wärtigen Angelegenheiten hinzu.

Der Kaiser nickte dem Marquis lächelnd zu und sag-te:

»Auf sogleich, mein lieber Minister!« –Dann wandte er sich in sein Cabinet zurück.Doctor Conneau folgte ihm.Als die Thür sich hinter ihnen geschlossen, verließ

der lächelnde Ausdruck vollständig das Gesicht desKaisers. Er setzte sich in einen tiefen Lehnstuhl, wel-cher neben seinem Schreibtisch stand, und stützte bei-de Arme auf die Seitenlehnen.

Der von Schleiern umhüllte Blick seines Auges tratwie ein Stern aus den Wolken einer Sommernachtleuchtend hervor und richtete sich auf den langjähri-gen Freund, welcher ruhig vor ihm stehen blieb.

Aber dieser Blick war traurig, angstvoll bekümmert.Dieses wunderbar belebte Auge, welches da plötzlichin dem sonst so undurchdringlichen, ewig gleichenAntlitz des Imperators erschien, und aus den Zügendes Kaisers die fühlende, in reichem Leben bewegte

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Seele des Menschen hervorblicken ließ, dieses Augestrahlte einen Strom weichen, electrischen Lichts aus,die großen, weiten Pupillen schienen in wechselndemFarbenspiel zu schimmern und zu zittern und richte-ten sich mit dem Ausdruck banger Frage auf das ruhi-ge Gesicht des Arztes, der mit inniger Theilnahme zudem vor ihm sitzenden Kaiser herabsah.

»Wie geht es meinem Sohne, Conneau?« fragte Na-poleon.

»Sire,« erwiederte der Leibarzt mit ernster Stimme,»ich habe die beste und begründete Hoffnung auf diebaldige und vollständige Genesung, aber ich kann esEw. Majestät nicht verhehlen, der Prinz ist noch sehrernstlich krank!«

Das Auge des Kaisers trat noch leuchtender undbrennender hervor und schien in der Seele des Arzteslesen zu wollen.

»Ist Gefahr für sein Leben da?« fragte er mit fast ton-loser Stimme.

»Ich würde kindisch und lächerlich handeln undwäre nicht der Freund Ew. Majestät,« sagte DoctorConneau, »wenn ich Ihnen in diesem Augenblick auchnur ein Atom meiner Gedanken vorenthielte. – Nachder schweren Krankheit, die der Prinz durchgemachthat,« fuhr er mit ernster und fester Stimme fort, »ist ei-ne Art von Anämie, eine Verdünnung der Blutsubstanzeingetreten, verbunden mit einer sensitiven Reizbar-keit der Nerven, welche wie eine zu starke Flamme die

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ohnehin schwache und sich nicht genügend wieder er-setzende Lebenskraft verzehrt. Alles kommt darauf an,ob die geheimnißvolle Arbeit der Natur aus dem uner-schöpflichen Quell ihres Reichthums die rasch sich ver-zehrenden Kräfte wieder ergänzen und die regelmäßi-ge Ökonomie des Organismus wiederherstellen wird.Mein Arzneischatz besitzt dafür kein Mittel, auch wärees hochgefährlich, mit scharfen und differenten Prä-paraten in die stille Entwicklung dieser zarten Natureinzugreifen. Entwickelt diese Natur die Kraft, um dieKrisis, welche wesentlich eine Stagnation ist, zu über-winden, so kann der Prinz in kurzer Zeit vielleicht zuvoller Jugendkraft erblühen und eine feste und kräfti-ge Gesundheit erlangen, aber,« fuhr er fort, und seinklares, offenes Auge senkte sich vor dem brennendenStrahl des kaiserlichen Blickes, »wenn die Natur dieHilfe versagt, so kann ebenso schnell die an beiden En-den entzündete Kerze sich verzehren.«

»Und was muß geschehen, um der Natur ihre Arbeitzu erleichtern?« fragte der Kaiser, indem er die Händefaltete und sich weit zu dem Arzte hin vorbeugte.

»Absolute Ruhe, Fernhaltung jeder Aufregung undfrische Luft,« erwiederte der Arzt, »der Prinz muß nachSaint Cloud, sobald das Wetter wärmer und beständi-ger wird, und ich wollte Ew. Majestät bitten, die nöthi-gen Befehle dazu zu geben.«

»Fahren Sie sogleich hinaus, lieber Conneau,« riefNapoleon, »und ordnen Sie Alles an, wie es am besten

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ist, thun Sie Alles, was nöthig ist, und« – er streckte dieHände wie flehend dem Freunde entgegen – »erhal-ten Sie mir meinen Sohn, erhalten Sie den kaiserlichenPrinzen!«

Voll tiefen Mitgefühls und mit dem Ausdruck inni-ger, liebevoller Theilnahme blickte Doctor Conneau aufden Kaiser. Er trat einen Schritt näher zu ihm hin undsprach mit weicher, leicht zitternder Stimme:

»Was meine Kunst vermag, Sire, wird geschehen,und,« fügte er hinzu, »wo meine Kunst nicht ausreicht,wird mein Gebet den großen Arzt dort oben um seineHilfe anflehen!«

Der Kaiser senkte den Blick und sah einige Augen-blicke starr vor sich hin.

»Dringt das Gebet des Menschen zu jenem geheim-nißvollen Wesen empor, das die Schicksale der Men-schen und Völker lenkt?« fragte er in fast flüsterndemTon. – »Oh mein lieber Freund,« rief er dann, indem ersich lebhaft emporrichtete und den Kopf langsam ge-gen die Lehne seines Fauteuils zurücksinken ließ, »wieschwer ruht die Hand des Schicksals auf mir! – Die-ses Kind,« sagte er mit weicher Stimme, »ich liebe es– es ist so rein, so gut – wie ich einst war – vor lan-gen, langen Jahren« – fügte er träumerisch hinzu, »esist der Sonnenstrahl meines Lebens – aber es ist mehr –es ist die Zukunft meiner Dynastie, dieser Dynastie, diemein Oheim mit so viel Blut und Schlachtendonner ge-gründet, die ich mit so viel Geduld, so viel mühsamer

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Arbeit, so viel unermüdlicher Zähigkeit wieder errich-tet habe! Wenn das Verhängniß mir dieses Kind nimmt,wird das Herz des Vaters brechen, das stolze Gebäudedes Kaisers zusammensinken! – »Oh,« fuhr er fort, wiezu sich selber sprechend, »jeder Vater kann am Betteseines kranken Kindes sitzen, seine Athemzüge bewa-chen – ich aber muß all diese Sorge, all diesen Kummerin mich verschließen, mit lächelndem Angesicht mußich meinen Sohn besuchen, verleugnen muß ich dieSorge, die mein Herz bedrückt, denn Niemand, Nie-mand, Conneau, darf es ahnen, daß der Wurm am Her-zen meines Kaiserthums frißt, oh Conneau, Conneau,«rief er mit unendlich schmerzlichem Ausdruck, seinenBlick auf den Arzt richtend, »es ist recht schwer, Kaiserzu sein!«

»Alles Große ist schwer, Sire,« sagte Doctor Conneau,»jedenfalls war es schwerer, Kaiser zu werden, als es zusein.«

»Wer weiß?« sagte Napoleon träumerisch.»Aber warum wollen Ew. Majestät so trüben Gedan-

ken folgen?« sprach Doctor Conneau, »Sie waren sostolz und kühn in den Tagen des Unglücks, des Kamp-fes, haben Sie das Vertrauen auf Ihren Stern verloren,der so glänzend zum Zenith heraufgestiegen ist?«

Napoleon senkte einen langen Blick in die Augen sei-nes Freundes.

»Oft will es mir scheinen,« sprach er düster, »als obdieser Stern seine Mittagshöhe überschritten habe und

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sich niedersenken wolle zum Abend – zur Nacht, wenndieses junge Leben erlischt, das den neuen Morgennach meines Tages Ende herausführen soll. – Die Ge-schichte meines Hauses lehrt mich,« fuhr er mit dump-fem Tone fort, »daß das Schicksal Wege hat, welchevon Austerlitz nach St. Helena führen!«

»Sire, welch finsterer Geist umschwebt Sie!« riefDoctor Conneau, »ist denn nicht jener Märtyrerfelsenvon St. Helena der Grundstein des so glänzend wiedererstandenen Kaiserthrones geworden? – Sire, wenn dieWelt hören könnte, welche Gedanken den mächtigenHerrscher des großen Frankreichs erfüllen –«

»Sie wird es nicht,« rief der Kaiser sich stolz aufrich-tend, indem seine Züge den gewohnten ruhigen Aus-druck wieder annahmen, »diese Gedanken bleiben hierin der Brust des Freundes! – Conneau,« sagte er sanft,und ein unendlich anmuthiges, fast kindlich freundli-ches Lächeln erhellte seine vorher so düsteren Züge,»ich habe doch einen Vorzug vor meinem Oheim; erlernte seine wahren Freunde erst in den späten Tagendes Unglücks kennen – ich habe sie vorher erprobt undweiß auf dem Thron, wer in der Verbannung an meinerSeite war.«

Und er reichte dem Leibarzt die Hand.Dieser blickte mit feuchtem Auge zum Kaiser hin

und sprach:»Ich bitte Gott, daß das Glück Ew. Majestät ebenso

treu bleibe, wie das Herz Ihrer Freunde.«

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»Und nun gehen Sie, Conneau,« sagte Napoleonnach einer augenblicklichen Pause, »eilen Sie, die nö-thigen Vorkehrungen zu treffen, um das Leben desPrinzen zu retten, ich will arbeiten, um seinen künfti-gen Thron zu befestigen. – Noch eins,« rief er dem derThür zuschreitenden Arzte zu, indem er einen Schrittzu ihm hintrat, Niemand darf wissen, daß dem Prin-zen irgend eine Gefahr droht, schon deshalb muß erfort, um aller Beobachtung zu entgehen. Niemand,Conneau! auch die Kaiserin nicht, sie würde ihrenKummer, ihre Sorge nicht verbergen können, auchmein Vetter Napoleon nicht,« fügte er hinzu, indemsein scharfer Blick sich tief in das Auge des Arztestauchte.

»Seien Sie unbesorgt, Sire,« sagte dieser, »ich weißdie Geheimnisse des Kaisers zu bewahren!«

Und den nochmaligen herzlichen Händedruck desKaisers erwiedernd, schritt er der Thür zu und verließdas Cabinet.

Napoleon blieb allein.Er ging einige Male langsam im Zimmer auf und nie-

der.»Will das Schicksal sich wirklich gegen mich wen-

den?« sprach er nachdenklich, »sollte es wirklich so vielschwerer sein, sich auf der Höhe zu erhalten, als die-selbe zu erklimmen? – Und ist es die Hand des Schick-sals,« fuhr er fort, »die sich gegen mich erhebt, habe ichnicht schwere Fehler gemacht? – Mexico! – durfte ich

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mich in diese Unternehmung einlassen, ohne Englandssicher zu sein? – Die deutsche Catastrophe? – habe ichsie nicht herankommen lassen, da es noch Zeit war, siezu beschwören? – Italien? war es richtig, vom Friedenvon Zürich abzugehen und den Einheitsstaat erstehenzu lassen, der sich gegen mich erhebt und Rom ver-langt, das ich ihm nicht geben kann, ohne die Kirchezu meinem Todfeind zu machen, ohne für immer denEinfluß Frankreichs auf der Halbinsel aufzugeben! –Und sind jene Carbonari zufrieden? – Bin ich sicher,daß nicht ein zweiter Orsini gegen mich die Hand er-hebt? – Ja,« sprach er, sinnend vor sich hinblickend, »eswaren große Fehler, die ich begangen habe, und ihrebösen Folgen stehen gegen mich auf! – Doch,« rief ernach einem augenblicklichen Nachdenken, indem einSchimmer von Heiterkeit und Zuversicht über sein Ge-sicht flog, »es ist gut, daß diese peinliche Lage eine Fol-ge meiner Fehler ist; menschliche Fehler kann mensch-licher Wille und menschliche Klugheit verbessern undwieder gutmachen, aber des ewigen Fatums Hand istunabänderlich und unerbittlich. – Wenn mein Sohn mirentrissen würde,« sprach er dann wieder düster, indemder Schimmer einer Thräne die Wimpern seines Augesbefeuchtete, »das wäre allerdings die Hand des Schick-sals, aber für jetzt droht diese Hand nur, darum willich so gut als möglich meine Fehler zu verbessern su-chen, um das Schicksal zu versöhnen. – Dieser deut-schen Frage gegenüber muß etwas geschehen, um der

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Welt und Frankreich insbesondere zu zeigen, daß mei-ne Macht unvermindert dasteht, und daß so mächti-ge Veränderungen in den Verhältnissen Europas sichnicht vollziehen dürfen, ohne daß auch Frankreich inentsprechender Weise sich verstärkt, um das Gleichge-wicht gegen die neue Macht zu erhalten.«

Er setzte sich in seinen Fauteuil und zündete an derdaneben auf dem Tisch stehenden brennenden Kerzeeine jener großen, aus den feinsten Blättern gewunde-nen Regaliacigarren an, welche für ihn eigens in derHavannah hergestellt wurden.

Während sein Blick sinnend den leichten, blauenRingelwolken folgte, welche das Zimmer mit ihremstrengen, aromatischen Duft erfüllten, sprach er leisevor sich hin:

»Man räth mir zu großen Combinationen und Coali-tionen, um dies Werk von 1866 wieder zu zerstören.– Ist es das Interesse Frankreichs, das Interesse mei-ner Dynastie, ein so gefahrvolles Spiel zu unterneh-men und in die nach den großen Gesetzen des natio-nalen Völkerlebens sich vollziehenden Ereignisse ein-zugreifen? – Wem würde ich nützen, wer würde es mirdanken? – Nein,« sagte er lauter, »lassen wir jene Er-eignisse ihren Entwicklungsgang gehen, die Stellungund das Prestige Frankreichs wird auch neben demgeeinten Deutschland in der Welt bestehen können,wenn ich nur auch in meine Wagschale die nöthigenGewichte zu legen verstehe. – Dieses Luxemburg ist

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das erste, das französische Belgien, ein neutralisirterRheinstaat,« flüsterte er, »bei den weiteren Schrittenzur Vereinigung Deutschlands werde ich vorsichtigersein und mir meine Compensationen vorher sichern! –Aber wird man in Berlin diese Erwerbung Luxemburgszugestehen? – Man wird nicht so thöricht sein, um die-ser Frage willen mit mir zu brechen!« rief er aufste-hend, »man hat wahrlich dort genug erreicht, um miretwas wenigstens zu gewähren, dazu jetzt, wo meineArmee in ihrer verstärkten Organisation erheblich vor-geschritten ist.«

Er ergriff einen Brief, der auf dem Tische nebenihm lag, und blickte einige Augenblicke aufmerksamauf die eleganten, festen Schriftzüge, welche das starkglänzende Papier trug.

»Die Königin Sophie ist der geistreichste Politiker un-serer Tage,« sagte er dann, »wie sie die feinsten Nüan-cen eines Gedankens versteht und erfaßt mit aller Fein-heit der Frau und aller Klarheit des Mannes! – Sieglaubt nicht, daß die Frage so glatt sich löse, und be-fürchtet einen Conflict –«

Er sann einen Augenblick nach und bewegte dannleicht eine kleine, neben ihm stehende Glocke.

»Ich lasse den Marquis de Moustier bitten,« befahl erdem eintretenden Kammerdiener.

Der Minister trat ein. Napoleon erhob sich und be-grüßte ihn mit leichtem Kopfneigen. Dann deutete erauf einen ihm gegenüberstehenden Sessel und ließ sich

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wieder bequem in seinen Fauteuil sinken, während derMarquis sein Portefeuille öffnete und mehrere Papiereaus demselben hervorzog.

»Sie sehen heiter aus, mein lieber Minister,« sagteder Kaiser lächelnd, indem er die Spitze seines lan-gen Schnurrbartes leicht durch die Finger gleiten ließ,»bringen Sie mir gute Nachrichten?«

»Sire,« sagte der Marquis, indem er den Blick überein Papier gleiten ließ, das er aus seinem Portefeuillegenommen, »die Negotiation im Haag geht vortrefflich– Baudin berichtet, daß die Regierung dort entschlos-sen sei, um jeden Preis die Trennung Limburgs und Lu-xemburgs von Deutschland zu erreichen und sich vonder steten Drohung zu befreien, welche die bewaffneteHand Preußens in der Festung Luxemburg für sie bil-det. Alle Unterhandlungen in Berlin, um, nach der Auf-lösung des deutschen Bundes, jenes Band mit Deutsch-land zu lösen, sind vergeblich gewesen, und der Königist vollkommen bereit, das Großherzogthum an Frank-reich abzutreten. Es müsse dann aber – was ich schonEnde des vorigen Monats in Aussicht gestellt habe – dieganze Negotiation mit Preußen hier übernommen wer-den. – Der Gesandte fügt hinzu,« fuhr der Marquis fort,»daß die Bevölkerung im Großherzogthum der Annexi-on an Frankreich durchaus geneigt sei und mit Freudenden Augenblick begrüßen werde, wo es ihr vergönntsein möchte, einen Theil der großen französischen Na-tion zu bilden.«

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Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen desKaisers. Indem er leicht die Spitze seines Schnurrbartsdrehte, fragte er:

»Hat man über den Preis des Verkaufs gesprochen?«»Nicht eingehend,« erwiederte der Minister, »es ist

das besonderen Verhandlungen vorbehalten.«»Die Frage ist auch gleichgültig,« sagte der Kaiser,

»man darf darauf kein besonderes Gewicht legen. Je-denfalls wird man in Holland wissen, daß der wesent-lichste und wichtigste Theil des Preises in der Zukunftliegt. – Das flämische Sprachgebiet –«

»Man ist vollkommen von der gegenwärtigen undzukünftigen Bedeutung der Frage unterrichtet,« sprachder Marquis schnell, indem er in den Bericht blickte,den er in der Hand hielt, »und der Gesandte ist er-staunt, ein so eingehendes Verständniß gefunden zuhaben.«

Mit leichtem Lächeln neigte der Kaiser das Haupt.»Die allgemeine Volksabstimmung hat man als Be-

dingung gestellt,« fuhr der Minister fort.»Das versteht sich von selbst,« sagte der Kaiser, in-

dem er einen langen Zug aus seiner Cigarre that undeine große, blaue Rauchwolke vor sich in die Luft blies.– »Doch nun, mein lieber Marquis,« fuhr er fort, undein forschender Blick fuhr blitzschnell zu seinem Mini-ster herüber, »wie glauben Sie, daß man die Sache inBerlin aufnehmen wird? – Fürchten Sie, daß wir dortSchwierigkeiten haben werden?«

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Der Marquis de Moustier zuckte leicht die Achselnund antwortete, indem er einen anderen Bericht ausseiner Mappe hervorzog:

»Benedetti hat natürlich über den Gegenstand selbstnicht mit dem Grafen Bismarck gesprochen, indes be-richtet er, daß der preußische Ministerpräsident injeder Weise den Wunsch betont, mit Frankreich aufdem besten und freundschaftlichsten Fuße zu stehen,und er zweifelt nicht, daß die preußische Regierungmit Freuden die Gelegenheit ergreifen werde, um denWunsch der Erhaltung guter Beziehungen durch diesefür sie in der That nicht bedeutungsvolle Connivenz zumanifestiren.«

»Ich hoffe, daß Benedetti sich nicht täuscht,« sag-te der Kaiser mit einem leichten Seufzer. – »Mein lie-ber Minister,« fuhr er nach einigen Secunden fort, in-dem er sich leicht zu dem Marquis hinüberneigte, »Siewissen, wie sehr man sich von Wien aus bemüht, unsnach jener Seite hinüberzuziehen, durch die Bildungeines Südbundes unter Österreichs Führung dem Wer-ke Preußens ein unübersteigliches Bollwerk entgegen-zusetzen –«

Der Marquis neigte leicht das Haupt.»Aber ich muß Ihnen sagen,« fuhr der Kaiser fort,

»ich will diesen Weg nicht gehen, die wahre Macht inEuropa liegt in den Händen von Preußen und Rußland– und dieser Allianz will ich mich anschließen, dennin ihr liegt das Leben und die Zukunft. – Ich hatte

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schon früher einen ähnlichen Gedanken, ich dachte andie Wiederaufrichtung jener mächtigen schiedsrichter-lichen Gewalt in Europa, welche Metternich unter demNamen der heiligen Allianz geschaffen hatte, sie würdenoch mächtiger, noch gewaltiger geworden sein, wennFrankreich in ihr die Stelle Österreichs eingenommenhätte. Friedrich Wilhelm IV. verstand mich, aber seinreicher Geist verdunkelte sich – und er starb, jenergroße Gedanke blieb unausgeführt, vielleicht läßt ersich heute wieder anbahnen. – Wenn man mir die Con-cession von Luxemburg macht und mir bewilligt, wasFrankreich noch bedarf, um seine Zukunft sicher undgroß zu gestalten, dann, mein lieber Marquis, sollenmeine Ideen eine festere Gestalt gewinnen.«

Der Marquis verneigte sich.»Ich kenne,« sagte er, »diesen Gedanken Ew. Maje-

stät und habe ja damals auch daran gearbeitet, seineAusführung vorzubereiten, leider,« fuhr er fort, indemer den Blick senkte, »war es mir nicht vergönnt, meineThätigkeit in jener Richtung fortzusetzen –«

Der Kaiser reichte ihm die Hand hinüber, welche derMinister ehrerbietig ergriff.

»Sie waren damals das Opfer Ihres Diensteifers,«sagte Napoleon verbindlich, »eines Diensteifers, fürden ich Ihnen stets dankbar bin und bleiben werde.«

»Und wenn,« rief der Marquis, »diese Concessionverweigert werden sollte, das heißt, wenn man zu-nächst Schwierigkeiten machen sollte, so wird ein

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festes und energisches Auftreten genügen, um dieZustimmung zu erreichen; England wird uns keineSchwierigkeiten machen, und in Berlin wird man vorwirklich ernstem Auftreten zurückweichen. Die Aufre-gung des Krieges und das Hochgefühl des Sieges sinddort verraucht, die Schwierigkeiten der inneren Ver-hältnisse des Nordbundes machen sich mächtig fühl-bar, und schwerlich wird man um dieses Gegenstandeswillen einen ernsten Conflict mit kriegerischer Even-tualität sich zuspitzen lassen. – Ich kenne,« fuhr er mitleichtem Lächeln fort, »Berlin, und weiß, wie schwerman sich dort entschließt.«

Der Kaiser blickte ihn einen Augenblick nachdenk-lich an.

»Sie haben das alte Berlin gekannt,« sagte er dann,»ich fürchte, man ist dort jetzt schneller von Entschluß,und sieht auch sehr klar die letzten Consequenzen ei-nes ersten Schrittes. – Indes,« rief er und richtete denKopf empor, »es muß gehandelt werden, instruiren Siealso Baudin, daß er so bald als möglich den Luxem-burger Vertrag zum Abschluß bringt – und daß er vorallem bis zur definitiven Abmachung die äußerste Dis-cretion bewahrt, wir müssen mit einem fait accomplihervortreten.«

Der Marquis verneigte sich und stand auf, indem erseine Papiere in die Mappe verschloß.

Der Kaiser erhob sich und trat einen Schritt zu sei-nem Minister.

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»Halten Sie aber zugleich den Faden der Negotiationmit Österreich fest,« sagte er, »wir müssen den Weg of-fen halten, um, wenn auf der einen Seite unseren Plä-nen Schwierigkeiten entgegentreten, das andere Ge-wicht in die Wagschale werfen zu können!«

»Seien Ew. Majestät unbesorgt,« erwiederte der Mar-quis, »der Herzog von Gramont wird seine Conversa-tionen mit Herrn von Beust fortsetzen – sie verstehenbeide so vortrefflich zu sprechen,« fügte er mit kaummerkbarem Lächeln hinzu, »und wir werden seinerzeitdaraus machen, was wir wollen, die Basis für ein politi-sches Gebäude, oder das lehrreiche Material für unsereArchive.«

»Auf Wiedersehen, lieber Marquis,« rief Napoleon,indem er freundlich lächelnd mit der Hand grüßte, undsich tief verneigend verließ der Minister das Cabinet.

»Ich muß eine specielle Instruction an Benedetti auf-setzen lassen,« sagte der Kaiser, »damit er die ganzeBedeutung der Frage versteht und dafür das Terrainvorbereitet.«

Und er wendete sich langsam nach der Seite desZimmers wo eine dunkle Portière den Ausgang ver-deckte, welcher zu seinem geheimen Secretair Pietrihinabführte.

Das Gemach blieb leer.Nach einigen Minuten öffneten sich die Flügel der

Eingangsthür und der Kammerdiener des Kaisers rief:»Ihre Majestät die Kaiserin!«

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Die Kaiserin Eugenie trat rasch in das Cabinet, hinterihr schloß sich geräuschlos die Thüre.

Die schlanke, geschmeidig elastische Gestalt der Kai-serin ließ in ihrer jugendlich anmuthigen Haltung dieeinundvierzig Lebensjahre nicht vermuthen, welcheüber ihr Haupt hingezogen waren.

Trugen die Züge ihres Gesichts, von dem wunderbarschönen, in dunklem Goldblond schimmernden Haareumrahmt, auch nicht mehr den Ausdruck der früherenJugend, so hatte doch auch das Alter noch keines sei-ner unerbittlichen Zeichen auf dieses nach der Antikegeschnittene Antlitz gezeichnet, dessen reine und edleSchönheitslinien über dem Einfluß der Zeit zu stehenschienen.

Mit unnachahmlicher Grazie trug die Kaiserin denschönen Kopf auf dem langen, schlanken Hals; ihregroßen Augen von schwer bestimmbarer Farbe, nichtstrahlend von scharfem Geisteslicht, aber in schim-merndem Schmelz eine lebhafte Empfänglichkeit re-flectirend, erleuchteten belebend die an den Marmorerinnernden Züge.

Die Kaiserin trug ein dunkles Seidenkleid, dessenreiche, schwere Falten, der Mode der Zeit gemäß,in weiter Ausdehnung über jene schwellenden tul-les d’illusion hinabflossen, welche man in den unternKreisen der Gesellschaft durch die häßlichen und ge-schmacklosen Crinolines nachahmte, eine Broche, von

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einem großen Smaragd, mit Perlen umrahmt, bildeteihren einzigen Schmuck.

Sie blieb erstaunt stehen, als sie das Zimmer leersah, der Blick ihres großen Auges suchte den Kaiser.

Indem dieser Blick die dunkle Portière streifte, wel-che zu dem Cabinet Pietris führte, erschien ein Aus-druck des Verständnisses auf ihren Zügen, und zu demTisch in der Mitte hinschreitend, setzte sie sich lang-sam in den Fauteuil, welchen der Kaiser vor Kurzemverlassen hatte.

Ihr Blick lief über den Tisch hin, wie um Etwas zusuchen, womit sie sich die Zeit vertreiben könne, wäh-rend sie ihren Gemahl erwartete.

Da fiel ihr Auge auf den Brief, welchen der Kaiserdorthin aus der Hand gelegt hatte, und ihre Blickehafteten auf den Schriftzügen mit einem leichten Aus-druck von unmuthigem Verdruß.

Sie streckte die schöne Hand aus und indem sie dasBlatt mit den Spitzen ihrer zarten, rosigen Finger er-griff, begann sie zu lesen.

»Welche Freundschaftsversicherungen!« rief sie mitkaum merklich zitternder Stimme.

Plötzlich aber öffnete sich ihr Auge weiter, und ih-re Züge nahmen den Ausdruck höchster Spannung an.Mit fliegendem Blick las sie den Brief zu Ende, warf ihndann auf den Tisch zurück und erhob sich, um mit ra-schen Schritten einige Male im Zimmer auf und niederzu gehen.

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»Das also ist im Werk!« rief sie dann, indem sie wie-der stehen blieb, und die weißen Finger fest auf dieLehne des Fauteuils drückte, »ich habe es gefürchtet,daß der Geist des Kaisers sich nicht frei machen kannvon dem Gedanken, mit diesem Deutschland, dieserSchöpfung des preußischen Ehrgeizes, Frieden zu ma-chen und den Gedanken an Revanche, an Rache auf-zugeben. – Mit dieser armseligen Compensation, die-sem nichtsbedeutenden Großherzogthum Luxemburgsoll Frankreich sich abkaufen lassen, um ruhig zuzu-sehen, wie Deutschland heranwächst, wie Italien sichimmer mehr stärkt zum Verderben und zum Untergangder Kirche?«

Sie that wieder einige Schritte durch das Zimmer.»Wenn dies Arangement ausgeführt wird,« rief sie

lebhaft, »so ist die Zukunft dahingegeben, das darfnicht sein, wir müssen warten und uns stärken, umdann mit der ganzen Macht Frankreichs auftreten zukönnen und mehr zu erreichen, als dies Luxemburg.«

Sie machte eine wegwerfende Bewegung mit derHand.

»Aber wie verhindern,« sagte sie leise, das Haupt nei-gend, »was schon abgemacht zu sein scheint!« –

Ein Geräusch wurde hörbar, Napoleon erschien un-ter der Portière.

Die Kaiserin wendete anmuthig den Kopf und lächel-te ihrem Gemahl entgegen.

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Rasch trat der Kaiser zu ihr hin, ein freundlicherSchimmer belebte sein Gesicht.

Sie reichte ihm die Hand; mit einer fast jugendlichenBewegung voll anmuthiger Eleganz drückte er die Lip-pen darauf.

»Sie haben lange gewartet?« fragte er.»Einen Augenblick,« erwiederte die Kaiserin, »ich

kam, um mit Ihnen zu Louis zu gehen, der arme Kleinemuß bald nach Saint Cloud, hat mir Conneau gesagt.«

»Ja,« sagte der Kaiser, »er bedarf der frischen Luftund der Ruhe, um vollständig zu genesen. Beides hat erhier nicht, um so weniger, als die Besuche der Ausstel-lung schon bald beginnen, und uns sehr in Anspruchnehmen werden, die Souveraine werden fast alle kom-men –«

»Also der europäische Horizont zeigt keine Wolken,«fragte die Kaiserin lächelnd.

»So wenig als die schöne Stirn meiner an jedem Mor-gen neuverjüngten Gemahlin,« erwiederte der Kaiser,dann bewegte er die Glocke.

»Die Frau Admiralin Bruat!« befahl er dem Kammer-diener.

»Sie wartet bereits im Vorzimmer,« sagte die Kaise-rin.

»Also gehen wir zu unserem Louis,« sprach Napoleonund reichte seiner Gemahlin den Arm.

Die Flügelthüren öffneten sich, mit freundlichem Lä-cheln begrüßte der Kaiser die ihm entgegentretende

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Gouvernante der Kinder von Frankreich, die Wittwedes Admirals Bruat.

Sie schritt voran; lächelnd mit einander plaudernd,begab sich das kaiserliche Paar nach den Gemächerndes Prinzen.

ZWEITES CAPITEL.

Vor dem großen Palais am Boulevard des Italiens,dessen weite Parterreräume von dem Grand Café ein-genommen werden, und in dessen Beletage der welt-bekannte Jockeyclub seine glänzenden Salons etablirthat, hielt um die Mittagsstunde eines sonnigen März-tages in rascher Anfahrt ein kleines blaues Coupé vonjener äußersten, einfachen Eleganz in dem Bau desWagens und in dem Geschirr, welche man vorzugswei-se in Paris, und in Paris wieder in höchster Vollkom-menheit bei den Mitgliedern jenes berühmten Clubsfindet, der den Sport auf die Höhe der anmuthigstenVollendung gebracht hat. Eine einfache, dunkle Chif-fre, überragt von einer Grafenkrone, befand sich aufdem Schlage, und dem leichten Zügeldruck des intadelloser dunkelblauer Livrée unbeweglich auf demBock sitzenden Kutschers gehorchend, hielt das ed-le, hochelegante Pferd mit ruhiger Sicherheit vor demgroßen Eingangsthore den schnellen Trab ab und standbewegungslos da, nur den schönen Kopf leicht erhe-bend und aus den weit geöffneten Nüstern den heißenAthem in die frische Märzluft ausstoßend.

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Aus dem Coupé stieg ein großer, schlanker Mann,mit der höchsten Eleganz in dunkle Farben geklei-det. Große tiefdunkle Augen blickten ruhig, aber mittraurig sinnendem Ausdruck, aus dem edlen, scharfge-schnittenen Gesicht, dessen gleichförmige, matte Bläs-se nur durch einen kleinen, schwarzen Schnurrbartauf der Oberlippe unterbrochen wurde. Seine kurzen,schwarzen Haare bedeckte, in die Stirne gedrückt, ei-ner jener niedrigen, graciösen Hüte aus den Magazi-nen von Pinaud und Amour, seine Hand, in elegantem,dunkelgrauem Handschuh, drückte leicht ein weißesBattisttuch gegen die Lippen, um sich gegen die rauheMärzluft zu schützen.

Er warf einen prüfenden Blick auf das Pferd und be-fahl dem Kutscher, nach Hause zu fahren. Dann nahmer aus einem Körbchen, welches eine kleine Bouque-tière ihm präsentirte, einen kleinen Strauß duftenderVeilchen, legte dafür ein Frankenstück in den Korb undstieg leichten, elastischen Schrittes die breite, mit dich-ten, weichen Teppichen belegte Treppe hinauf. Obenangelangt, wendete er sich zu dem mit mächtigen,geschnitzten Büffets und reichen silbernen Aufsätzenausgestatteten Frühstückszimmer; die auf dem Corri-dor wartenden Lakaien des Clubs in ihren elegantenLivréen öffneten die Thüre und ein junger Mann vonetwa einundzwanzig Jahren, mit hochblondem, offe-nem und frischem Gesicht von norddeutschem Typus,

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welcher allein in dem großen Gemach an einem klei-nen, zierlich gedeckten Tische saß, rief dem Eintreten-den mit einem lächelnden Blick seiner großen, licht-blauen Augen entgegen:

»Guten Morgen, Graf Rivero – Gott sei Dank, daß Siekommen, um diese langweilige Einsamkeit zu beleben,in welcher ich mich hier wie ein Einsiedler befinde. Ichweiß nicht, wo alle Welt heute noch steckt, ich bin frühgeritten und habe einen ungeheuren Appetit, ich habemir da ein sehr gutes, kleines Dejeuner componirt, wol-len Sie meinem Geschmack vertrauen und ein Couvertnehmen?«

»Mit Vergnügen, Herr von Grabenow,« erwiederteder Graf, indem er seinen Hut einem Lakaien reichte.

Der Haushofmeister des Clubs war herangetretenund winkte bei der Antwort des Grafen den zum Dienstbereit stehenden Dienern, welche mit jener Geschwin-digkeit und Unhörbarkeit, die der Bedienung in denguten Häusern eigenthümlich ist, dem jungen Herrnvon Grabenow gegenüber ein Couvert auf den Tischlegten. »Nehmen Sie inzwischen ein Glas von diesemSherry,« sagte der junge Mann, indem er dem Grafen,welcher sich ihm gegenübergesetzt hatte, aus dem vorihm stehenden Caraffon von geschliffenem Crystall einkleines Glas mit dem goldgelben Weine füllte, »er istgut, und ich glaube, fast der einzige in Paris.«

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Der Graf nahm mit leichter Verneigung das Glas,trank einige Tropfen und sagte dann mit seiner leisenund doch volltönenden und melodischen Stimme:

»Man sieht Sie so wenig in letzter Zeit, mein lieberHerr von Grabenow – bei Ihrem Alter,« fügte er mit ei-nem halb schalkhaften, halb melancholischen Lächelnhinzu, »ist es überflüssig, zu fragen, welche GeschäfteSie in Anspruch nehmen.«

Ein flüchtiges Roth überflog die Stirne des jungenMannes und mit einiger Hast erwiederte er: »Ich warnicht ganz wohl, leicht erkältet und mein Arzt hattemir verordnet, mich sehr zu schonen.«

Der Graf nahm eine goldbraune Seezunge, welcheman ihm servirte, und sprach, indem er den Saft einerCitrone darauf träufelte, mit scherzhaftem Ton:

»Deshalb begegnete ich Ihnen auch wohl neulich imBois de Boulogne in der Nähe der Cascaden in einemverschlossenen Coupé mit einer – ohne Zweifel älterenDame, welche Sie in Ihrer Krankheit pflegt – leider,«fuhr er lächelnd fort – »war das Gesicht Ihrer Duen-na in so dichte Schleier gehüllt, daß ich nichts davonsehen konnte.«

Herr von Grabenow warf aus seinen großen, fastnoch kindlich reinen, blauen Augen einen schnellen,erschrockenen Blick auf den Grafen.

»Sie haben mich gesehen?« fragte er schnell.»Ich ritt dicht an Ihrem Wagen vorüber,« erwiederte

der Graf, »aber Sie waren so sehr in die Unterhaltung

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mit Ihrer – Krankenwärterin vertieft, daß es mir un-möglich war, Sie zu grüßen.«

Und er schenkte sich aus einer größeren Crystallcar-affe ein Glas jenes leichten, duftigen St. Emilion ein,dieser so selten rein zu findenden Perle aller edlen Re-bengewächse von Bordeaux.

»Herr Graf,« sagte der junge Mann nach einem au-genblicklichen Nachdenken, indem er mit treuherzi-gem Ausdruck hinüberblickte, – »ich bitte Sie herzlich,Niemand sonst etwas von Ihren Beobachtungen mit-zutheilen, ich möchte nicht, daß diese Sache Gegen-stand der Bemerkungen – und der Nachforschungender Andern würde – Sie wissen, welche Ansichten undGrundsätze sie alle haben, und in diesem Falle passendieselben nicht.« Der Graf blickte mit ernstem, theil-nahmsvollen Ausdruck zu dem jungen Manne hinüberund ließ einen Augenblick seinen tiefen, dunkeln Blickin dessen klaren, blauen Augen ruhen.

»Meine Discretion versteht sich von selbst,« sagte erdann mit leichter Neigung des Hauptes, »nur möch-te ich Ihnen rathen,« fuhr er mit freundlichem, wohl-wollenden Lächeln fort, »künftig die Vorhänge IhresCoupés zu schließen, denn nicht bei allen Ihren Be-kannten könnten Sie der Discretion so sicher sein, alsbei mir.«

Herr von Grabenow blickte ihn mit dankbarem Aus-druck an.

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»Und dann,« fuhr der Graf Rivero nach leichtem Zö-gern fort, »verzeihen Sie dem viel älteren Manne eineBemerkung, welche nur in meiner aufrichtigen Theil-nahme für Sie ihren Grund hat. Es giebt der künstli-chen Schlingen so viel in Paris – und diejenigen sindoft die gefährlichsten, welche sich mit den bescheide-nen Blüthen unschuldiger Gefühle umwinden.«

Der junge Mann sah ihn groß mit ein Wenig betrof-fenem Ausdruck an.

»Lassen Sie meine Bemerkung eine ganz allgemeinesein,« sagte der Graf, indem er die Hülle einer kleinencotelette en papillote löste, welche der Lakai ihm dar-bot, »und erinnern Sie sich derselben bei entsprechen-der Gelegenheit.«

Herr von Grabenow sah ihn freundlich an, seine Er-wiederung wurde abgeschnitten durch den Eintritt ei-nes alten Herrn von ungefähr siebenzig Jahren im Rei-tanzug, welcher mit noch ziemlich fester und elasti-scher Haltung eintrat.

Herr von Grabenow und der Graf Rivero erhobensich leicht zu seiner Begrüßung mit jener Courtoisie,welche eine gut erzogene Jugend stets dem höherenAlter entgegenbringt.

»Sieh’ da, meine Herren,« rief der Eingetretene, in-dem er Hut und Reitpeitsche abgab und mit der Handgrüßte, »Sie sind beneidenswerth – so frühstückt mannur in der glücklichen Zeit, da Magen und Herzen jung

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sind, später erfordert die gebrechliche Maschine eineandere Diät.«

Und er nahm von einem silbernen Teller, welchender Haushofmeister ihm präsentirte, ein Glas Madei-ra und eine Schnitte jenes weichen, zarten Gebäckes,welches unter dem Namen Madeleines de Commer-cy unter den vielen vortrefflichen Dingen, welche dieProvinzen Frankreichs ihrer Hauptstadt liefern, einennicht geringen Rang einnimmt.

»Der Herr Baron von Vatry will uns verhöhnen,« sag-te der Graf Rivero, »indem er von den Leiden des Al-ters spricht; ich habe Sie gestern einen Fuchs reitensehen, Herr Baron, dessen Temperament mir Schwie-rigkeiten gemacht hätte, und den Sie mit bewunderns-werter Leichtigkeit und Sicherheit führten. – Sie spot-ten der Herrschaft der Alles bezwingenden Zeit!«

Der alte Herr lächelte geschmeichelt und sagte: »Lei-der ist diese Herrschaft unabänderlich und unterwirftuns endlich doch, wir mögen uns noch so lange dage-gen sträuben.«

Während er seine Madeleine in den Madeira tauch-te, öffnete sich schnell die Thüre und in rascher Bewe-gung trat ein ganz junger, äußerst elegant, aber ein We-nig stark nach Mode gekleideter Mann ein, dessen blas-ses, etwas ermüdetes und abgespanntes Gesicht unver-kennbar den Typus vornehmer englischer Raçe trug.

»Woher so eilig, Herzog von Hamilton?« fragte Herrvon Vatry, »zu dieser für Sie so frühen Stunde?«

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»Ich bin gestern abend lange im Café Anglais gewe-sen,« rief der junge Herzog, indem er sich vor Herrnvon Vatry verbeugte und die andern Herren mit derHand grüßte, »wir haben ein herrliches Souper gehabt,äußerst amüsant, –

A minuit sonnant commence la fête,Maint coupé s’arrète,On en voit sortirDes jolies messieurs, des dames char-

mantes,Qui viennent pimpantesPour se divertir, –«

trällerte er, mit möglichst falscher Stimme das Lied derMetella aus Offenbachs »Vie parisienne« citirend, »eswar göttlich!«

»Daher cette mine blafarde,« rief Herr von Grabenowlachend, »das ist die Folge, wie Metella weiter singt.« –

»Jetzt aber,« sagte der Herzog, »will ich mit Poë-ze und einigen andern Pistolen schießen, wir habengewettet, wer das Coeur-Aß fünfmal hintereinandertrifft, da muß ich mir eine feste Hand machen in die-ser frühen Morgenstunde durch ein vernünftiges Früh-stück. – Cognac und Wasser,« rief er dem maître d’hôtelzu – »und lassen Sie mir einige deaveld cotelets machen,ich habe dem Koch neulich das Recept gegeben – aberviel Curry, immer noch mehr Curry; diese französi-schen Köche verstehen den englischen Gaumen nicht.«

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Der Lakai präsentirte eine geschliffene Flasche Co-gnac und eine Caraffe Wasser, der Herzog füllte seinGlas zu gleichen Theilen mit beiden Flüssigkeiten undleerte es auf einen Zug.

»Ah,« rief er, »das ermuntert die Lebensgeister!«»Apropos, Graf Rivero,« rief der Herzog, nachdem

er das Glas geleert, »wer ist denn dieser neu aufge-gangene Stern aus Ihrem Vaterlande, der seit einigerZeit jeden Abend im tour du lac erscheint und alleAugen blendet durch ihre Schönheit und die Eleganzihrer Equipagen? – Marchesa Pallanzoni hat man siemir genannt – wissen Sie etwas von dieser strahlendenSchönheitskönigin?«

»Ich kenne die Dame ein Wenig,« antwortete derGraf in ruhigem, gleichgültigem Ton, »da ich Relatio-nen mit ihrer Familie habe, welche ein altes GeschlechtItaliens ist. – Ihren Gemahl kenne ich nicht, es soll einsehr alter, kränklicher Mann sein, von dessen Pflegesich die junge, schöne Frau wohl ein Wenig hier in Pa-ris erholen will. Ich war einigemale in ihrem Salon undhabe sie sehr geistvoll und angenehm gefunden.«

»Das nenne ich Chance!« rief der Herzog, – »dannkönnen Sie mich also bei diesem wunderbaren Phäno-men, das alle Herzen bezaubert, einführen?«

»Mit dem größten Vergnügen,« erwiederte der Grafmit leichter Neigung des Kopfes – »die Marchesa emp-fängt, wenn sie zu Hause ist, jeden Abend.«

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Inzwischen hatte man dem Herrn von Grabenowund dem Grafen Rivero in jenen kleinen, zierlichenTassen von Sèvresporcellan den Kaffee servirt, dessenaromatischer Duft sich im Zimmer verbreitete.

»Ich bin Sclave der übeln deutschen Gewohnheit desRauchens,« sagte Herr von Grabenow, indem er sicherhob, »und werde mich ein Wenig in die beschaulicheStille des Rauchzimmers zurückziehen.«

»Fahren Sie mit mir zum Schießen, meine Herren!«rief der Herzog von Hamilton, »man sieht Sie ja nir-gends mehr, Herr von Grabenow« – er sprach diesendeutschen Namen nach englischer Weise aus – »Siewerden zum Einsiedler!«

»Lassen Sie mich meine Cigarre consultiren,« sagteder junge Mann, »ob ich es wagen kann, mit so gutenSchützen wie Sie zu concurriren.« – Und mit artigerVerbeugung gegen den alten Baron Vatry wendete ersich zur Thür.

»Sie rauchen ebenfalls, Herr Graf?« fragte er denGrafen Rivero, welcher aufgestanden war und sich an-schickte, ihn zu begleiten.

»Ich will im Lesezimmer ein Wenig die Journaledurchblättern,« erwiederte der Graf.

Beide hatten den Speisesalon verlassen.»Ich will Ihnen aufrichtig gestehen,« sagte der junge

Herr von Grabenow, als sie draußen waren, »ich ha-be meine Rauchpassion nur zum Vorwand genommen,

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um fortzugehen, ich möchte nicht unter jene Gesell-schaft gerathen, von der man so leicht nicht wiederlosgelassen wird.«

Ein Lakai überreichte dem Grafen auf einer silbernenPlatte einen Brief.

»Der Kammerdiener des Herrn Grafen hat soebendies Billet hierher gebracht.«

Der Graf warf einen schnellen Blick auf das Couvert,auf welchem man in blauem Druck las: Maison de S. M.l’Impératrice, Service du premier Chambellan.

»Haben Sie einige Minuten übrig, Herr von Grabe-now?« fragte er.

»Gewiß, mit Vergnügen,« erwiederte dieser.»Ich habe meinen Wagen fortgeschickt, wollen Sie

mich vor meiner Wohnung in der Chaussee d’ Antinabsetzen? – es ist wenige Schritte von hier.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, Herr Graf.«Beide Herren stiegen die breiten Treppen hinab,

auf einen Wink des Portiers fuhr das elegante, kleineCoupé des Herrn von Grabenow vor und beide Herrenstiegen ein.

Nach wenigen Augenblicken verabschiedete sichGraf Rivero von dem jungen Manne vor seinem Hausein der Chaussee d’Antin.

Herr von Grabenow rief seinem Kutscher die Num-mer eines Hauses in der Rue Notre Dame de Lorette zuund in raschem Trabe eilte der leichte Wagen durch dasTreiben der Equipagen auf den Boulevards und hielt

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nach kurzer Zeit vor einem großen Hause in der ge-nannten Straße. Der junge Mann verließ das Coupé,befahl dem Kutscher zu warten und stieg die nicht zubreite, aber reine und saubere Treppe hinauf.

Der Vorflur der ersten Etage war durch eine großeWand von undurchsichtigem, weißen Glase verschlos-sen und hatte zwei Eingänge, an deren jedem einGlockenzug mit gläsernem Knopfe sich befand.

Unter dem einen dieser Glockenzüge sah manein Schild von Porcellan, auf welchem in einfacher,schwarzer Schrift geschrieben war: Mr. Romano. Derandere Glockenzug hatte keinen Namen.

Der junge Mann zog lebhaft den letzteren.Eine ältere Dienerin, halb Kammerfrau, halb Haus-

hälterin, öffnete. Herr von Grabenow trat in das kleineVorzimmer.

»Fräulein Julia zu Hause?« fragte er – und ohne dieAntwort der sich freundlich verneigenden Dienerin ab-zuwarten, wendete er sich rasch zu einer links vomEingange befindlichen Flügelthür, öffnete dieselbe undtrat in einen hellen, mittelgroßen Salon mit allem je-nen reizenden und anmuthigen Comfort ausgestattet,welchen der französische Geschmack in dem Innernder Wohnungen herzustellen weiß.

In einem tiefen, mit lichtblauer Seide überzoge-nen Fauteuil, welchen eine Gruppe großer Blattpflan-zen, untermischt mit Rosen und Heliotrop, umgab und

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fast versteckte, lag anmuthig zurückgelehnt ein jungesMädchen in einfacher grauer Haustoilette.

Ihre klassisch schön geschnittenen Züge, überhauchtvom duftigen Schmelz der ersten Jugend, hatten je-nen wunderbar reizenden bräunlichen Teint der Ita-lienerinnen aus den südlichen Theilen der Halbinsel,das glänzende, kohlschwarze Haar lag glatt gescheiteltund in reichen Flechten geordnet um das Haupt, ohneeine Spur jener extravaganten Coiffüren, welche umjene Zeit die französischen Damen auf ihren Köpfenzur Schau zu tragen begannen. Ihre großen, mandel-förmig geschnittenen Augen blickten träumerisch nachoben, die schönen Hände ruhten gefaltet auf einemBuch in ihrem Schooß, in dessen Lectüre ihre eigenenGedanken sie unterbrochen zu haben schienen. – Undwehmüthig und schmerzlich mußten diese Gedankensein, denn ein leises Zucken bewegte die frischen, ro-then Lippen, und in den langen, weit übergebogenenAugenwimpern blinkte der zitternde Schimmer einerThräne.

Bei dem Eintritt des jungen Mannes glänzte ein lich-ter Strahl in ihrem Blick, den sie rasch der Thüre zu-wendete, und ein liebliches Lächeln umspielte ihrenMund, ohne indes ganz die schmerzlichen Linien ver-wischen zu können, welche denselben vorher umzogenhatten. Herr von Grabenow eilte auf sie zu.

»Ich kann nicht lange fern von meiner Julia bleiben,«rief er, sie mit entzücktem Auge betrachtend, indem

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er einen Arm auf den Fauteuil über ihrem Kopf stütz-te und mit den Lippen ihre Stirn berührte, »ich habemich losgerissen von meinen Freunden, um hierher zueilen.«

Und er zog einen Sessel heran, setzte sich vor sie undblickte ihr innig und liebevoll in die Augen, indem erihre Hände an sein Herz drückte.

Sie folgte allen seinen Bewegungen mit einem träu-menden, schwärmerischen Blick und sagte leise: »Wiewohl ist mir, wenn du da bist; wenn ich in deine klaren,reinen Augen blicke, so meine ich, jenen herrlichen,blauen Himmel meines Vaterlandes zu sehen, welchermir nur als unmündiges Kind gelächelt hat, und denich doch liebe und voll Sehnsucht im Herzen trage.«

»Und doch bist du traurig?« rief er, ihre Hand küs-send, »sieh’, wie schön diese herüberhängende Rose zudeinem dunkeln Haare paßt, sie scheint darum zu bit-ten, daß sie dich schmücken dürfe.«

Und er streckte die Hand nach einer bis zur Lehnedes Fauteuils herabhängenden Moosrose aus, welchesich anmuthig an die dunklen Flechten ihres Haareslehnte.

»Laß die Blume,« rief sie fast ängstlich, »warumihr kurzes Blüthenleben zerstören, für mich paßt keinBlüthenschmuck,« fügte sie leise hinzu, indem sie dieHand wie abwehrend erhob.

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Aber schon hatte er sich erhoben und die schöne,halb erblühte Rose ergriffen, um sie zu brechen. Plötz-lich zuckte er mit leisem, unwillkürlichen Schmerzens-laut zusammen, die Rose fiel in den Schooß des jungenMädchens.

»Non son rosa senza spine!« rief sie lächelnd, abermit trauriger Stimme, indem sie die Blume erhob undsinnend betrachtete.

»Doch, meine Geliebte,« sagte er, »hier ist eine Roseohne Dorn!« Er steckte die Blume leicht in die glän-zend, schwarze Flechte ihres Haares und sah sie mitglückstrahlendem Blick an.

Sie seufzte tief.»Oh,« rief sie mit schmerzlichem Ton, »wie scharf

und schneidend ist der Dorn – in diesem Herzen, dasfür dich blüht, nur richtet er sich nicht nach Außen, wiebei der blühenden Rose, sondern mit bitterem Schmerzdringt er mir tief in die eigene Brust!«

»Und wie heißt der schlimme Stachel, der dich quält,selbst in meiner Gegenwart?« fragte er mit dem Toneleisen, liebevollen Vorwurfs.

Sie richtete sich empor – sah ihm mit ihrem tiefen,dunklen Blick lange in die offenen, lichten Augen undsprach langsam und ernst:

»Die Blüthe meines Lebens, das ist die Gegenwart,der Gedanke an die Vergangenheit und der Gedankean die Zukunft – das, was andere glückliche Menschen

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Erinnerung und Hoffnung nennen, das sind die schar-fen, schneidenden Dornen! Wie bald wird die Blütheverwelkt sein, und meinem Herzen werden nur dieDornen bleiben! – Du hast eine Vergangenheit,« sprachsie, ihn innig anschauend, »du hast die Erinnerungan eine glückliche Kindheit, du hast die Hoffnung –die Zukunft – was habe ich?« flüsterte sie mit unsäg-lich schmerzlichem Ton und eine Thräne verhüllte denBlick ihres in bläulichem Schwarz schimmernden Au-ges.

Der junge Mann schwieg, ein Wenig betroffen, erschien nicht sogleich eine Antwort zu finden auf dieaus dem bewegten Herzen des jungen Mädchens her-vordringende Frage.

Sanft bog er ihr Haupt zu sich herüber und küßteden silbernen Tropfen von ihren Wimpern.

»Du hast mir noch so wenig von deiner Vergangen-heit, deiner Kindheit erzählt!« sprach er leise.

»Oh, daß ich sie vergessen könnte,« rief sie, »undnur der Gegenwart leben! – Vielleicht könnte ich es«– fuhr sie düster und traurig fort, »wenn diese Gegen-wart eine Zukunft hätte, aber so –! – Was soll ich dirvon meiner Vergangenheit erzählen?« sagte sie nacheiner Pause, während welcher sie den Blick traurig inden Schooß senkte. »Sie ist einfach, ein Bild Grau inGrau! – Ich weiß,« fuhr sie fort, »daß Italien mein Va-terland ist, ich weiß es nicht nur, weil man es mir ge-sagt hat, weil in der sanften, gesangreichen Sprache

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Dantes und Petrarcas die ersten Laute von meinen Lip-pen klangen, nein, ich weiß es,« rief sie mit strahlen-dem Blick, »weil ich in meinem Herzen trage jenenreinen, blauen Himmel, jenes schimmernde Meer mitdem flüsternden Rauschen seiner sanften Wellen, mitdem brausenden Donner seiner zürnenden Brandung –weil ich sie mit dem Auge der Seele vor mir sehe, jenedunklen, schattigen Haine, jene Marmorpaläste, jeneschimmernden Statuen, weil ich vor Sehnsucht verge-he, die Lippen auf den heiligen Boden meines Vater-landes zu drücken, zu sterben, um in dieser Erde zuruhen.«

Sie schwieg und blickte abermals träumerisch vorsich hin. Er küßte schweigend ihre Hand.

»Und mit dieser Sehnsucht im Herzen,« fuhr sie fort,»die Seele erfüllt von diesen Bildern, die immer deut-licher, immer mächtiger in mir heraufstiegen, je mehrich älter wurde und mich entwickelte – mußte ich hierin diesem lärmenden, staubigen, unruhigen Paris le-ben, allein mit der Trauer meines Herzens«

»Aber deine Eltern, deine Mutter?« fragte der jungeMann.

Sie sah ihn tief in die Augen und senkte dannschmerzlich den Blick.

»Oh,« rief sie, »mein Freund – das ist das Aller-schmerzlichste! – Mein Herz sehnte sich danach, meineMutter lieben zu können, es drängte ihr entgegen mitallen seinen Schlägen – aber es fand weder Liebe noch

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Verständniß. Meine Mutter hatte keine Zeit für ihr Kindin dem unruhigen, unstäten Leben, das wir führten,bald in Überfluß und regelloser Verschwendung, baldin dürftiger Noth –«

Sie senkte erröthend das Haupt.»Mein Vater,« fuhr sie dann fort, »sorgte für mich

mit treuer Theilnahme, er hielt mir Lehrer und ließmich ausbilden, so gut er es vermochte, immer hatteer, auch in den bedrängtesten Zeiten, die Mittel üb-rig, die nothwendigen Kosten meiner Erziehung zu be-streiten und dies war der einzige Punkt, in welchemer, sonst so weich, so nachgiebig, meiner Mutter mitunbeugsamem Ernst entgegentrat. Ich liebte ihn da-für, mein Herz suchte sich an ihn zu schließen, aber– so treu und unablässig er für mich sorgte, ebensounnahbar blieb er der Zärtlichkeit meines Herzens. Eslag wie eine ängstliche Scheu in seinem Blick, wenner mich ansah, und oft wendete er sich zitternd undthränenden Auges ab, wenn ich an ihn herantrat undihm mit einem Worte der Liebe und Dankbarkeit dieHand küßte. – So blieb ich einsam,« sagte sie traurig– »und lebte in mir selbst und mit mir allein ein stil-les Leben, dessen Angelpunkt die ewige unbezwingli-che und unerfüllte Sehnsucht nach dem fernen Landemeiner Geburt blieb, die Sehnsucht nach der Lösungeines Räthsels, das mein einsames und einförmiges Le-ben umgab!«

»Arme Julia!« sagte er innig.

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»Als ich herangewachsen war,« fuhr sie mit nieder-geschlagenen Augen fort, »änderte sich das Benehmenmeiner Mutter gegen mich; sie beobachtete mich, sieachtete auf meine Toilette, auf mein Benehmen, sieließ sich von mir vorsingen und lobte meine Stimme,sie ordnete meine Haare und sprach über die Farben,welche mir am besten ständen, aber es war keine Theil-nahme, die mir wohlthat, sie war kalt und ohne Liebeund sie erschreckte und ängstigte mich. – Bald nahmsie mich mit, wenn sie ausging, sie führte mich in’s Boisde Boulogne, wenn dort ganz Paris sich versammelte,in die Theater, so oft sie die Ausgabe machen konnte,sie rief mich in ihr Zimmer, wenn dort fremde Herrenwaren, sonst hatte sie mich hinausgeschickt, wenn Be-suche zu ihr kamen, sie ließ mich vorsingen, man sag-te mir, daß ich Talent und gute Stimme habe, daß ichschön sei, aber in einer Weise, die mich ängstigte, ver-letzte, entsetzte! So kam es,« fuhr sie leiser fort, indemein halb scheuer, halb liebevoller Blick zu ihm hinüber-streifte, »daß du mich an jenem Abend in der avantscène-Loge des Variété-Theaters fandest, du weißt, wieleicht es dir gemacht wurde, dich mir zu nähern –«

»Und bereust du das?« fragte er liebevoll, indem ersanft seinen Arm um ihre Schultern legte.

Sie bog sich zu ihm hin, ließ den Kopf an seine Brustsinken und weinte leise.

»Ich liebte dich,« flüsterte sie, »aber glaubst du, daßmeine Mutter unsere Liebe begünstigte, glaubst du

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nicht, daß sie mich ebenso dir entgegengeführt, michin deine Arme gedrängt haben würde, wenn ich dichnicht geliebt hätte, wenn mein einsames Herz nichtdem deinen entgegengeschlagen hätte? – Oh!« rief sieund Schluchzen erstickte ihre Stimme, – »für sie ge-nügte es, daß du der reiche Cavalier warst, der ihreTochter kaufen konnte!«

Er schwieg und voll Wehmuth ruhte sein treuherzi-ges Auge auf der schlanken, in seinem Arm zusammen-gebrochenen Gestalt. »Wenn ich so an deinem Herzenruhe,« sagte sie dann, »so vergesse ich das Alles undmir ist zu Muthe so voll Glück, wie es der im Schat-ten erwachsenen Blume sein muß, wenn sie, in frischeErde verpflanzt, in sonnenwarmer Luft ihren Kelch er-schließen kann, aber wenn ich dann wieder daran den-ke, was das Alles eigentlich ist, daß Alles, was michumgiebt, dieser Luxus, diese Eleganz, die mir so wohl-tut, daß dies Alles nicht ein Geschenk der Liebe ist,sondern – oh dann möchte ich fliehen, fliehen in dieEinöde, fliehen in die Stille des Klosters, in den ewigenFrieden des Todes. – Und was bleibt mir anderes fürdie Zukunft?« rief sie lauter, indem sie sich rasch auf-richtete und ihm schmerzvoll in die Augen sah, »wel-che Zukunft hat der Traum des Augenblicks, als dasErwachen zur ewigen Nacht, einer Nacht, um so fürch-terlicher, als mein Herz den Strahl des Lichtes gefühlthat! – Du wirst zurückkehren in deine Heimath, zu dendeinen, du wirst in reichem Leben den kurzen Traum

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unserer Liebe vergessen und ich – soll ich den Weg ge-hen, den so viele andere gehen, und der hinabführtzum ewigen Abgrund? – Und was kann mich schützenvor diesem Wege des lächelnden Verderbens? – Nichtdie Hand der Mutter, die mich vorwärts drängen wird,nur der Schleier der Nonne oder das Grab!«

Immer tiefer hatte sich sein Auge verschleiert beidem leidenschaftlichen Schmerz des jungen Mädchens.

»Arme Julia,« sagte er nochmals leise und sanft,»welche traurigen Jugenderinnerungen! – Sieh’,« fuhrer fort, »meine Jugendzeit war auch einsam und ein-förmig, aber doch so reich und glücklich!« – und seinhelles, klares Auge schien in mildem Schimmer in dieFerne zu blicken. – »Dort oben,« sagte er, »nah demStrande der Ostsee, liegt mein väterliches Gut, ein al-tes Schloß, mit dem Blick auf die weißen Dünen unddas rollende Meer, umgeben von ernsten, duftigen,immergrünen Tannenwäldern. Dort verfloß meine Ju-gend still und einsam, denn ich bin der einzige Sohn– unter den Augen eines strengen, ernsten Vaters undeiner liebevollen, sanften Mutter; ein Hauslehrer un-terrichtete mich, und in den freien Stunden war esmeine höchste Lust, die dunklen, rauschenden Tannen-wälder zu durchstreifen oder auf den Dünen zu ruhen,in das weite Meer zu blicken und der ewigen Melodiezu lauschen, welche seine Wellen ertönen ließen, baldin leichtem, kräuselndem Spiel, vergoldet vom lichtenSonnenglanz, bald in gewaltigem, brausenden Ringen

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mit den schwarzen Wolken und den tosenden Stür-men.«

Das junge Mädchen war vor ihm auf die Knie nieder-gesunken, faltete die Hände auf seinem Schooß undblickte mit den großen, dunklen Augen zu ihm auf,welche noch durch den leichten schimmernden Duftder Thränen feucht verhüllt waren.

»Auch meine Jugend war voll von Träumen,« fuhr erfort, »aber sie suchten nicht, wie die deinen, die Fer-ne, sie schweiften nicht zum leuchtenden Süden hin,nicht zu den Myrten und Orangenhainen, nein, meineTräume bevölkerten die ernsten Wälder und die stillenDünen mit den gewaltigen Gestalten der alten Nord-landsgötter, mit den Helden jener Sagen, die nicht süßberauschen, wie die Mythen deines Vaterlandes, son-dern die klirrend in die Seele tönen im Waffenklangegewaltiger Kämpfe! – Und dann folgte ich den Spuren,welche jener großartig mächtige, ernste Orden, dervon Palästina über Venedig nach den Bernsteinküstenzog und dort ein blühendes, wunderbares Reich schuf,überall in dem Lande seines alten Glanzes zurückge-lassen hat, und heiße Sehnsucht erfüllte mich oft alsKnabe, den Eisenharnisch zu tragen, und den weißenMantel mit dem schwarzen Kreuze der deutschen Her-ren, diesen Mantel, dessen einfacher Schmuck einst soviel galt, als fürstlicher Purpur! – Sieh,« sagte er nacheiner Pause, »solche Träume erfüllten meine Jugend,und als ich dann hinaustrat in die Welt, von der ich

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freilich nur die Universität gesehen und den Feldzugim vorigen Jahre, in welchem ich glücklich mit einerleichten Verwundung davonkam, da fand ich zwar vielSchönes, aber die Ideale meiner Träume fand ich nicht,nicht jene hohen Gestalten der nordischen Sage, nichtjenen Geist des heiligen Ritterthums. – Hier erst,« fuhrer fort und strich sanft mit der Hand über ihre glän-zenden Haare, »hier, bei dir, steigen sie wieder empor,jene Träume meiner Jugend, bei dir, meiner Freya, derGöttin meiner Liebe!«

Sie hatte ihm schweigend zugehört, ihre Augen tran-ken durstig den Anblick seiner von innerer Bewegungdurchleuchteten Züge, seiner in lichtem Glanze flam-menden, hellen Augen.

»Weißt du,« sagte er sinnend, »wenn ich so bei dirsitze und in die süße, tiefe Gluth deiner Augen schaueund dann hinausdenke nach dem Lande meiner Ju-gend, dann fällt mir ein Vers eines Dichters meines Va-terlandes ein« – und wie unwillkürlich seinen Gedan-ken folgend, sprach er halb für sich, halb zu ihr, mitinniger Betonung:

»Ein Fichtenbaum steht einsamIm Norden auf kahler Höh’,Ihn schläfert, mit weißer DeckeUmhüllen ihn Eis und Schnee.Er träumt von einer Palme,Die fern im MorgenlandEinsam und schweigend trauert

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An brennender Felsenwand!«

»Sie klingt schön, deine Sprache,« sagte sie, »erkläremir, was das heißt.«

Er übersetzte ihr die Worte in’s Französische, wäh-rend sie mit tiefer Aufmerksamkeit zuhörte.

»Doch, ich habe meine Palme gefunden,« sagte er– und indem er schnell aufstand und sie zu sich em-porhob, rief er lauter: »Und ich lasse sie nicht mehr,ich führe sie mit mir in meine schöne, stille, nordischeHeimath, und die Wärme meines Herzens soll ihr dieStrahlen der Sonne des Südens ersetzen!«

Hohe Begeisterung belebte seine Züge – tiefes Ge-fühl erleuchtete seinen Blick.

Fast entsetzt riß sie sich von ihm los.»Um Gotteswillen,« rief sie zitternd, »sprich nicht

solche Worte – rufe nicht Bilder in meiner Seele hervor,die niemals – niemals Wirklichkeit werden können!«

»Und warum nicht?« fragte er, »würdest du nicht mitmir gehen wollen?«

»Mit dir gehen wollen?« sagte sie, und in schwär-merischem Aufschlag richtete sich ihr Blick empor, »ohmein Gott! – aber,« fuhr sie fort, und ihr Auge senktesich zu Boden, »denke an deine Eltern, an deine Mut-ter, wie würde sie das Mädchen ohne Namen aufneh-men, das« – sagte sie leise, die zitternden Finger inein-ander faltend, »dir nicht einmal mehr geben kann, wasdie Ärmste und Niedrigste ihrem Gatten bringen soll

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im Schmuck des bräutlichen Kranzes! – Niemals, nie-mals,« sprach sie dumpf und traurig, »niemals würdeich es ertragen! – Gehe du den Weg deines Lebens, undlaß mich dir eine freundliche Erinnerung sein, werdeich doch,« fügte sie mit sanftem, schwermüthigem Lä-cheln hinzu, »künftig auch eine Erinnerung haben, einfreundliches Licht in der Einsamkeit meiner Zukunft!«

Er blickte ernst vor sich hin.»Ich werde den Kampf mit den Vorurtheilen der Welt

nicht scheuen für dich und meine Liebe! – Doch,« fuhrer dann in leichterem Tone fort, »wir haben noch Zeit,darüber nachzudenken, ich bleibe ja noch den Sommerhier, du wirst nicht immer so traurig denken, du wirstmir erlauben, für dich und mein Glück zu kämpfen,und ich verspreche dir,« sagte er mit lautem feierlichenTon, »ich werde dich nicht verlassen und nicht ruhen,bis ich an dir gutgemacht habe alle Leiden, welche dasSchicksal dir zugefügt.«

Sie schüttelte schweigend langsam den Kopf.»Ich sehne mich, deine schöne Stimme zu hören,«

bat er, »lassen wir jetzt die Zukunft und freuen wiruns der Gegenwart. Laß mich ein Wenig träumen beimKlange deiner Lieder, die mir die Bilder meiner Kind-heit in der Seele wachrufen.«

Und sanft ihre Hand ergreifend, führte er sie zu ei-nem kleinen Pianino, welches neben dem einen Fensterdes Salons stand. Auf einem kleinen Tisch daneben la-gen verschiedene Notenhefte.

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Sie blätterte leicht in denselben.»Ich werde dir ein Lied singen,« sagte sie dann, »das

mich wunderbar anspricht – ein Lied, das ein deut-scher Componist einem Sänger meines Vaterlandes inden Mund legt, ich habe es für mich aus der Clavier-partitur ausgezogen und für meine Stimme arrangirt,es bildet ja gewissermaßen ein Band zwischen deinemund meinem Vaterlande, weil es ein Deutscher schufzum Preise Italiens.«

Sie legte ein beschriebenes Notenblatt auf das In-strument, und während der junge Mann sich in einemFauteuil niederließ und mit liebevollem Blick ihren Be-wegungen folgte, begann sie mit weicher, metallrei-cher und wunderbar umfangreicher Stimme Stradellasschönes Lied aus Flotows Oper:

»Italia, du mein Vaterland,Wie schön bist du zu schauen!«

DRITTES CAPITEL.

Ein leichter, feiner Duft von blühenden Rosen undVeilchen, gemischt mit einem an den spanischen Jas-min erinnernden flüchtigen Parfüm, durchzog den Sa-lon der Kaiserin Eugenie in den Tuilerien. Eine Le-gion jener unzählbaren Kleinigkeiten, welche sich indem Salon jeder vornehmen Dame von Eleganz undGeschmack anhäufen, erfüllten den Raum – Albums,Zeichnungen, altes Porcellan von Sèvres und Meißen,

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antike Broncen, kurz, alle jene Dinge, welche, ohne ei-gentlichen Zweck und Nutzen, doch so unendlich zurVerschönerung des Lebens beitragen, den Blick baldhier, bald dort anmuthig fesseln und den Geist mit stetswechselnden Bildern und stets neuen Gedanken erfül-len.

Ein kleines Feuer brannte in dem großen Marmorka-min und ein seitwärts davor stehender Schirm aus ei-ner einzigen großen Spiegelscheibe in einem einfachenRahmen von vergoldeter Bronce hielt die unmittelba-ren Wärmestrahlen der Flamme ab, ohne den Anblickdes freundlichen Elements zu verdecken.

Die Kaiserin saß in elegantem Morgencostüm vondunkler Farbe auf einer Causeuse in der Nähe des Feu-ers – vor ihr auf einem großen Tisch lagen verschiede-ne Zeichnungen von Damentoiletten in sauberer Aus-führung mit leichter Farbenandeutung.

Neben dem Tisch saß auf einem niedrigen Lehn-stuhl die Freundin und Vertraute der Kaiserin, die Prin-zessin Anna Murat, seit achtzehn Monaten mit einemder vornehmsten Herren Frankreichs, dem Herzog vonMouchy, Fürsten von Poix, aus der erlauchten Fami-lie der Noailles, verheiratet, eine Dame von sechsund-zwanzig Jahren, hoch und voll, von angenehmem Aus-druck in ihren Zügen und in ihrer Erscheinung ein We-nig an den englischen Typus erinnernd.

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Der Blick der Herzogin ruhte auf den Blättern, wel-che die Kaiserin, sie langsam betrachtend, durch ihreschlanken, perlmutterweißen Finger gleiten ließ.

»Ich vermisse in dem allen wirklichen Geschmack,«rief Eugenie endlich, und eine unmuthige Wolke zogüber ihre Stirn, indem sie die Zeichnungen auf denTisch warf, »Wiederholungen, Nichts als Wiederholun-gen, oder geschmacklose Übertreibungen, welche diemenschliche Gestalt entstellen, statt sie zu verschö-nern!«

»Ew. Majestät werden selbst eine Idee für die Saisonangeben müssen,« sagte die Herzogin lächelnd, »Siekönnen wirklich nicht verlangen, daß die armen Cou-turières schöpferische Gedanken haben. Sie sind wiedie Schauspieler, welche nur die Gedanken der Dichterin Scene setzen.«

Die Kaiserin dachte nach.»Weißt du, liebe Anna,« sagte sie dann, »wir müs-

sen mit den weiten Roben ein Ende machen, die Über-treibungen haben diese Mode wirklich abscheulich ge-macht! – Und dann,« fuhr sie fort, »wir werden in die-sem Sommer die Ausstellung haben, man wird viel ge-hen müssen, um diese Wunder der Kunst und Indu-strie der ganzen Welt zu betrachten. Der Raum desganzen Ausstellungsgebäudes würde nicht ausreichen,wenn alle Damen mit den weiten Roben dort erschei-nen wollten – es würde kein Platz für die Herren blei-ben,« fügte sie lächelnd hinzu.

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»Aber Ew. Majestät werden eine Revolution procla-miren, wenn Sie den weiten Roben das Todesurtheilsprechen und den Damen plötzlich enge Kleider aufer-legen,« sagte die Herzogin, »das wird auch eine neueChaussure nothwendig machen, ich sehe eine allge-meine Bewegung kommen, wie gesagt eine Revolution,denn an Opposition wird es nicht fehlen – so mächtigund unumschränkt auch der Scepter Ew. Majestät indem Reich der Mode gebietet.«

»Um so besser,« antwortete die Kaiserin sinnend,»diese kleinen Revolutionen leiten die Gedanken vonder großen Revolution ab, die,« fügte sie seufzend hin-zu, »immer in dem Busen dieser französischen Nationschlummert und leicht erwacht, wenn nichts die Ide-en nach anderer Richtung lenkt. Und ich fürchte, dieseRevolution dehnt schon in leisem Erwachen ihre Glie-der! – Doch,« fuhr sie abbrechend fort, indem sie einengoldenen Crayon ergriff und einige Linien auf den wei-ßen Raum eines der vor ihr liegenden Bilder zeichnete,»wo nehmen wir eine passende Mode her?«

Und sie überfuhr ihren Versuch mehrmals mit schwar-zen Strichen. »Es ist nicht leicht, ein geschmackvollesund tragbares Costüm zu finden! – Apropos,« sagte sienach einigen Augenblicken, »ich werde heute jenen rö-mischen Grafen Rivero empfangen, welcher sich hieraufhält und von welchem ich dir gesprochen. Er mußeine sehr interessante Person sein, der Abbé Bonapartehat ihn mir dringend empfohlen, sowie die Prinzessin

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Constanze, du weißt, die Äbtissin vom Sacré Coeur inRom, auch die Gräfin Rasponi hat mir seinetwegen ausRavenna geschrieben, alle rühmen ihn als einen Mannvon hohem Geist und voll tiefer Devotion für den heili-gen Stuhl, voll unermüdlichem Eifer für die Sache derKirche. Solche Männer sind selten heut zu Tage. Hastdu ihn gesehen oder von ihm gehört?«

»Ich habe ihn nicht gesehen,« antwortete die Herzo-gin, »aber ich habe meinen Bruder Joachim von ihmsprechen hören, der ihn als einen vortrefflichen Cava-lier rühmte, und seine schönen Pferde lobte!«

»Ich habe den Namen nie vorher gehört,« sagte dieKaiserin, »er ist vom Papste zum römischen Grafen ge-macht, der Nuntius hat ihn dem Kaiser und mir beimletzten Empfange vorgestellt, mir aber ist er von jenenPersonen ganz besonders empfohlen, und sie alle sa-gen mir, daß es mir gewiß von ganz besonderem Inter-esse sein werde, ihn näher kennen zu lernen, und daßer der Sache der Kirche in vieler Beziehung nützlichsein könne. Ich bin sehr neugierig, ihn zu sehen.«

»Der Herr Baron de Pierres,« meldete der Kammer-diener der Kaiserin. Sie neigte leicht den Kopf, und derBaron de Pierres, der erste Stallmeister Ihrer Majestät,ein eleganter, schlanker Mann in schwarzem Morgen-überrock, trat ein.

»Ich wollte um Ew. Majestät Befehle für die Ausfahrtbitten,« sagte der Baron, sich mit tiefer Verbeugung derKaiserin nähernd.

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»Das Wetter ist schön,« sagte Eugenie, indem sieHerrn de Pierres mit anmuthigem Lächeln begrüßteund dann einen Blick nach dem Fenster warf, durchwelches helle Sonnenstrahlen hereinfielen, »ich will inoffener Kalesche ausfahren, in’s Bois de Boulogne, zweiStunden vor dem Diner – werden Sie mich begleiten,lieber Baron?«

»Zu Ew. Majestät Befehl,« sagte der Baron.»Ich denke eine lange Tour zu machen,« sagte die

Kaiserin, »und wenn es Sie ermüdet, neben dem Schla-ge zu reiten, so –«

»Ein Ritt bei diesem schönen Wetter ist mir eingroßes Vergnügen,« unterbrach sie Herr de Pierresrasch, »und eine hohe Ehre,« fuhr er sich verbeugendfort, »wenn ich ihn in Begleitung meiner Souveraininmachen darf.«

»Und du, liebe Anna, fährst mit mir?« fragte Euge-nie, sich zur Herzogin von Mouchy wendend.

»Wenn Ew. Majestät mir erlauben wollen, vorhernach Hause zu eilen, um meine Toilette zu machen.«–

»Aber,« rief die Kaiserin, »lieber Baron, was bringenSie denn da so sorgfältig in Papier gewickelt,« und siedeutete auf ein Packet in seinem weißen Velinpapiermit rothen Seidenbändern umwunden, welches der Ba-ron in der Hand hielt, »etwa das Modell eines neu-en Sattels oder gar eine Miniaturequipage Ihrer Erfin-dung?«

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»Nichts von alledem,« erwiederte der Baron lä-chelnd, »was ich Ew. Majestät bringen will, gehörtnicht zu meinem Ressort, aber ich weiß,« fügte er hin-zu, »daß es Ihr Interesse erregen wird.«

Er löste die Seidenbänder und entfernte die Pa-pierumhüllung. Dann stellte er auf den Tisch vor dieKaiserin eine Art Cassette mit schwarzem Sammt über-zogen.

Gespannt folgte die Kaiserin und die Herzogin sei-nen Bewegungen.

Der Baron öffnete den Deckel der Cassette und stell-te vor die Kaiserin eine Tasse und einen Milchtopf vonweißem Porcellan.

»Es ist ein kleines Service,« sagte er dann, »dessensich die Königin Marie Antoinette bei ihrem einfachenMilchfrühstück in Trianon bediente, hier sehen Ew. Ma-jestät von einer Blumenguirlande gebildet die Chiffreder Königin. – Der damalige Castellan von Trianon hatdie Sachen an sich genommen und in seiner Familiesind sie bis jetzt aufbewahrt, es ist kein Zweifel an ih-rer Echtheit. – Ich hörte davon, und da ich weiß, wiesehr Ew. Majestät sich für Alles interessirt, was an dieKönigin Marie Antoinette erinnert, so wollte ich nichtverfehlen, dies Andenken Ihnen zu bringen.«

Die Kaiserin hatte die Tasse ergriffen und betrachte-te sie mit tiefem Ernst. Ein Ausdruck von Trauer und

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Wehmuth lag auf ihrem Gesicht. »Aus Rosenguirlan-den ließ sie ihre Chiffre malen,« sagte sie dann lei-se und sinnend, »und volle Rosen bekränzten damalsihr Leben! – Arme, unglückliche Königin, wer dir da-mals gesagt hätte, wie bald diese Blumen welken wür-den, und in welcher blüthenleeren Einöde brennender,einsamer Schmerzen dein warmes Herz seine letztenSchläge thun würde! – An den Rand dieser Tasse setz-te sie die lächelnden frischen Lippen,« fuhr die Kaiserinimmer träumerischer fort, »wie bald sollten sie sich inherbem Gram zusammenziehen, um den entsetzlichenKelch so furchtbarer Leiden zu leeren!«

Und lange betrachtete sie die kleine, einfache Tasse,eine Thräne zitterte an ihren Augenwimpern.

Die Herzogin von Mouchy ergriff die Hand der Kai-serin und drückte ihre Lippen darauf.

»Wie schön – und wie groß ist es von Ew. Majestät,«rief sie, »daß Sie so gern und mit so warmem Gefühlauf der Höhe der Macht und des Glückes sich jenerunglücklichen Fürstin erinnern, welche vor Ihnen einstauf dem Throne Frankreichs saß!«

»Auf dem Throne Frankreichs!« sagte die Kaiserinleise, immer die Augen auf die Tasse gerichtet, »er istschön, dieser Thron – aber verhängnißvoll, ihr brach-te er den frühen, martervollen Tod, aber sie war großin ihrem Fall, sie war Königin auf dem Schaffot, soll-te dieser Thron einst unter uns zusammenbrechen« –

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flüsterten ihre Lippen fast unhörbar, und ihre Gedan-ken schienen finsteren Bildern zu folgen; düster senk-ten sich ihre Blicke zu Boden.

Schnell dann erhob sie das Haupt mit der ihr eigent-hümlichen anmuthigen Bewegung des schlanken Hal-ses.

»Ich danke Ihnen, Baron de Pierres,« sagte sie mitfreundlichem Lächeln, »daß Sie mir diese Reliquie derarmen Märtyrerkönigin gebracht haben. Ich hoffe, siewird zu erwerben sein, damit ich ihr einen Platz gebenkann in dem Tempel der Erinnerung an die königlicheDulderin, den ich mir im stillen aufrichte.«

»Das kleine Service, Madame, gehört einem altenManne, der aus seinem kleinen Geschäfte ein mäßi-ges Vermögen erworben hat,« antwortete der Baron,»er lebt mit seiner Frau ohne Kinder, verkaufen will erdas Andenken, welches er von seinen Eltern ererbt hat,nicht, aber er macht sich eine Freude daraus, dasselbeseiner Kaiserin zu schenken, wie er mir gesagt hat.«

Die Augen der Kaiserin glänzten.»Wie schön wäre es, Kaiserin von Frankreich zu

sein,« rief sie, »wenn diese Gesinnungen allgemein wä-ren! – Wollen Sie, lieber Baron,« fuhr sie dann fort,»sogleich dem Kaiser diese kleine Geschichte erzählenund ihn bitten, dem Manne die Ehrenlegion zu geben?– Ich werde ihm selbst heute noch davon sprechen, unddann – lassen Sie ein vollständiges Theeservice von Sil-ber anfertigen mit meiner Chiffre, ich muß doch das

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Geschenk der braven Leute erwiedern, ich will es ihnenselbst geben, sobald es fertig ist, Sie sollen sie dann zumir führen.«

Der Baron verbeugte sich.»Ew. Majestät Befehle sollen sogleich ausgeführt

werden.«Die Kaiserin sann einen Augenblick nach.Rasch ergriff sie den Crayon und eines der auf dem

Tische liegenden Blätter.»Ich danke Ihnen, Baron de Pierres,« rief sie lebhaft,

»nicht nur für dieses schöne Andenken, ich danke Ih-nen auch für eine Inspiration, welche die Erinnerungan die unglückliche Königin mir eingiebt!«

Und mit gewandter Hand warf sie eine Zeichnung inflüchtigen Linien auf das Papier.

»Wir suchten eine Mode für die Saison, liebe Anna,«sagte sie, »die größte Schwierigkeit war es, bei einerengen und kurzen Robe die Büste angemessen zu be-kleiden, die großen Shawls, Mäntel und Umhänge, diewir jetzt tragen, passen nicht dazu, sie gehören zu demreichen Faltenwurf der weiten Roben. – Jetzt habe ichgefunden, was wir brauchen, sieh da,« rief sie, indemsie ihrer Freundin das Blatt hinhielt, »ein Tuch, wie esdie unglückliche Königin trug, das wird die Frage lö-sen!«

»Charmant . . . anmuthig und einfach!« rief die Her-zogin, »das ist in der That eine Inspiration, für welche

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die Damen Europas dem Baron Dank wissen werden,«fügte sie lächelnd hinzu.

»Komm her,« rief die Kaiserin aufstehend, »wir wol-len uns sogleich eine Idee davon machen!«

Und sie nahm einen Cashemirshawl, welchen dieHerzogin neben sich gelegt hatte, faltete ihn ein Wenigzusammen und legte ihn um die Schultern ihrer Freun-din, dann knüpfte sie die beiden Enden hinten auf derTaille zusammen, ganz in der Weise, wie man es aufden Bildern der erhabenen und edlen Gefangenen desTemple und der Conciergerie sieht.

»Wie finden Sie das, Baron?« fragte die Kaiserin, in-dem sie Frau von Mouchy von allen Seiten betrachtete.

»Reizend,« rief der Baron de Pierres, »es wäre in derThat, fuhr er sich verbeugend fort, »auch unmöglich,daß eine Toilette nicht reizend sein sollte, die Ew. Ma-jestät arrangiren und die die Frau Herzogin trägt!«

»Und dies soll die Mode der Saison sein,« rief die Kai-serin, »alle Damen sollen dem Andenken der unglückli-chen Königin diese Huldigung bringen – und die neueMode, welche wir der Welt geben, soll heißen: FichuMarie Antoinette!«

»Welche Chance,« rief der Baron lächelnd, »daß esmir vergönnt ist, bei diesem großen Act gegenwärtigzu sein, welcher der ganzen schönen Hälfte des Men-schengeschlechts ein neues Gesetz giebt!«

Ein kurzer Schlag ertönte an der Thür.

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Der Kammerdiener öffnete dieselbe, und der ersteKammerherr der Kaiserin, Herzog Tascher de la Page-rie, trat ein.

»Der Graf Rivero,« sprach er, »dem Ew. Majestät dieEhre einer Audienz bewilligt haben, steht zu Ihren Be-fehlen.«

»Ich will den Grafen nicht warten lassen,« sagte dieKaiserin aufstehend, »führen Sie ihn sogleich herein,mein lieber Herzog! – nachher habe ich Ihnen nochVerschiedenes zu sagen,« fügte sie mit verbindlichemLächeln hinzu.

Dann grüßte sie Herrn de Pierres leicht mit demKopf.

»Auf Wiedersehen, lieber Baron, auf Wiedersehen,meine Theure!« und sie reichte der Herzogin die Hand,welche diese an ihre Lippen drückte.

Baron de Pierres und Frau von Mouchy verließenden Salon. Der Herzog Tascher de la Pagerie führteden Grafen ein, stellte ihn der Kaiserin vor und zogsich dann wieder zurück.

Der Graf trug schwarzen Frack und weiße Cravatte,den Stern des Piusordens auf der Brust.

Er verneigte sich tief, trat mit leichtem und freiemAnstand bis auf drei Schritte vor die Kaiserin hin underwartete in vollkommenster Haltung ihre Anrede.

Der Blick der Kaiserin umfaßte mit prüfendem Aus-druck diese ruhige, kalte und vornehme Erscheinung.

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Indem sie mit einer Neigung des Hauptes den ehrer-bietigen Gruß des Grafen erwiederte, sprach sie mitfreundlichem Lächeln:

»Ich freue mich, Ihre nähere Bekanntschaft zu ma-chen, Herr Graf, meine Verwandten in Italien habenmir so unendlich viel Vortreffliches über Sie geschrie-ben, daß ich in der That gespannt war, einen Mann mitso vielen außergewöhnlichen Eigenschaften kennen zulernen.«

»Ich fürchte, Madame,« sagte der Graf ruhig, »daßdiese hohen Personen, auf deren Wohlwollen ich stolzbin, mir keinen guten Dienst geleistet haben, wenn siein ihrer freundlichen Liebenswürdigkeit ein zu vort-heilhaftes Bild von mir entworfen haben, Ew. Maje-stät werden dann vielleicht um so mehr bemerken, wieweit die Wirklichkeit hinter diesem Bilde zurückbleibt.– Eine Eigenschaft aber kann ich mit Recht für michin Anspruch nehmen,« fuhr er fort, »das ist der ernsteund kräftige Willen, mit aller Energie der Sache derheiligen Kirche zu dienen, welcher auch Ew. MajestätIhren mächtigen Schutz unausgesetzt zuwendet.«

»Und welche trotz dieses Schutzes immer mehr be-drängt wird,« sagte die Kaiserin seufzend. »Sagen Siemir, Herr Graf,« fuhr sie fort, indem sie sich niederließund dem Grafen mit der Hand den Fauteuil bezeich-nete, welchen die Herzogin von Mouchy vorher einge-nommen hatte, »sagen Sie mir ein Wenig, wie stehen

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die Dinge in Italien, was hoffen Sie, oder was fürch-ten Sie für die Sicherheit des heiligen Stuhls und desPatrimoniums Petri?«

»Ich hoffe Alles – und ich fürchte Alles, Madame,«antwortete der Graf, »je nachdem Frankreichs Handschützend über Rom ruht oder sich davon abzieht.Wenn Frankreich, wenn der Kaiser,« sagte er, indemsein Auge sich mit einem vollen und tiefen Blick aufsie richtete, »sich stets erinnert, daß der Herrscher die-ses schönen und mächtigen Landes das edle Vorrechthat, sich den ältesten Sohn der Kirche zu nennen –«

»Und halten Sie es für möglich,« unterbrach ihn dieKaiserin lebhaft, »daß man hier dieses Vorrecht verges-sen könnte und die Pflichten, welche dasselbe uns auf-legt?«

»Madame,« sagte der Graf ruhig und ernst, »die Zu-kunft ist mir verborgen und es ziemt mir nicht, pro-phetische Schlüsse aus der Vergangenheit zu ziehen,welche mir zeigt, daß französische Waffen bei Solferi-no die alten Dämme des Rechts niederwarfen und esmöglich machten, daß die schwer zu beherrschendenWellen dieses Königreichs Italien jetzt drohend an denFuß des Felsens Petri schlagen.«

Die Kaiserin senkte den Kopf und glättete leicht mitder feinen Hand eine Falte ihrer Robe.

»Wenn ich aber,« fuhr der Graf fort, »trotz Solferino– vielleicht wegen Solferino und seiner Folgen – über-zeugt bin, daß Frankreich sich seiner Pflichten gegen

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den heiligen Stuhl jetzt lebhafter erinnert als je, so be-ruht dessen Sicherheit doch noch auf der weiteren Fra-ge, ob es die Macht haben werde, jene Pflichten zu er-füllen.«

In stolzer Bewegung warf die Kaiserin den Kopf em-por. Ein flammender Blitz aus ihren großen Augen trafden Grafen.

»Ob Frankreich die Macht habe, Rom zu schützen?«fragte sie mit einem Tone voll Verwunderung und Un-muth.

Der Graf verneigte sich leicht, ohne den Blick zu sen-ken.

»Ich kenne die Macht Frankreichs, Madame,« sagteer, »sie ist sehr groß – aber es kommt darauf an, obman sie zur rechten Zeit und nach der rechten Seitehin gebraucht, oder ob man sie in falscher Weise nachfalschen Richtungen erfolglos verschwendet.«

Zum zweiten Male senkte sich der Blick der Kaiserinzu Boden.

»Sie sind ein strenger Critiker, Herr Graf,« sagtesie nach einigen Augenblicken mit etwas gedämpfterStimme, in welcher eine leichte Nüance von Verdrußwiederklang.

»Es wäre Ew. Majestät – und meiner unwürdig,« er-wiederte Graf Rivero, »wollte ich Ihre Frage mit Ge-meinplätzen beantworten, jedenfalls ist meine Critik,welche Ew. Majestät scharf nennen, gewiß bei weitem

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nicht so streng als diejenige, welche die Geschichte mitunerbittlicher Logik und Consequenz ausübt.«

Das Auge der Kaiserin erhob sich langsam und ruhteeinen Augenblick wie erstaunt auf dem ruhigen, edlenGesicht dieses Mannes, der damit begann, ihr Wahr-heiten zu sagen, an welche ihre Umgebung sie weniggewöhnt hatte.

Dann sagte sie mit fester Stimme:»Sie haben Recht, Herr Graf! – Wir sprechen über

ernste Dinge, und es wäre thöricht, die Gedanken zuverschweigen oder zu verhüllen. – Sie glauben also,«fuhr sie fort, »daß Verhältnisse eintreten könnten, wel-che Frankreich verhindern würden, seine Macht zumSchutze der Kirche und des heiligen Stuhles anzuwen-den?«

»So groß die Macht Frankreichs ist, Madame,« er-wiederte der Graf, »so kann sie doch den heutigengeschlossenen Mächten, den großen und gewaltigenBewegungen gegenüber, welche in unserer Zeit durchdie Völker gehen, nur dann ihres Erfolges sicher sein,wenn sie sich nicht zersplittert, wenn sie nicht anUnmögliches gesetzt wird. Ein geringer Theil dieserMacht genügt, um Rom zu schützen, wenn man weiß,daß sie gleichsam nur ein Symbol ist, hinter welchemdas ganze Frankreich steht, jede große und gefährlicheUnternehmung, in welche Frankreich sich nach ande-rer Seite einlassen würde, müßte jenem Symbol seineBedeutung nehmen, jede solche Unternehmung würde

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das Signal für die Revolution, das heißt das KönigreichItalien, sein, sich in unwiderstehlicher Brandung überRom zu ergießen.«

Die Kaiserin hörte mit lebhafter Spannung.»Die mexikanische Expedition,« fuhr der Graf ru-

hig fort, »hat Frankreich verhindert, in dem deutschenKriege ein seiner Würde und seiner Macht entspre-chendes Wort zu sagen, ein Krieg gegen Deutschlandwürde den französischen Schutz für Rom illusorischmachen.«

»Sie sind also auch der Meinung,« rief die Kaiserinlebhaft, »daß wir für jetzt um jeden Preis an den Ver-hältnissen in Deutschland nicht rühren dürfen?«

»Nicht nur für jetzt, sondern für immer,« sagte derGraf ernst und bestimmt, indem sein klarer Blick festauf den bewegten Zügen der Kaiserin ruhte, welche ihnmit einer gewissen Befremdung ansah.

»Ich hoffte,« fuhr er fort, »daß im vorigen JahreÖsterreich siegen und das neue Italien wieder gebro-chen werden würde, daß an der Spitze Deutschlandseine katholische, der Kirche ergebene Macht stehenwürde, welche dann im Bunde mit Frankreich die Herr-schaft des Rechts und der Religion wiederherstellenkönnte in der Welt, die dem Geist des Abfalls sich zu-wendet. – Meine Hoffnung ist nicht erfüllt, Österreichist besiegt, mehr noch, es hat seine Vergangenheit auf-gegeben, es wird sich nicht wieder erheben, Deutsch-land gehört für immer Preußen!«

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Die Kaiserin bewegte die Lippen, in ihren Augen zit-terte es seltsam, es schien, als ob sie sprechen wollte,aber sie schwieg, und mit forschendem Blick sah siedurch die halb gesenkten Augenlider auf den Grafenhin, die Fortsetzung seiner Rede erwartend.

»Die Sache Deutschlands ist entschieden,« fuhr derGraf fort, »und auch das kann sich zum Besten der Kir-che wenden, Preußen bedarf Italiens nicht mehr, undItalien allein wird nicht in seiner jetzigen Form beste-hen, wenn Frankreich in gesammelter Kraft ruhig da-steht und dem heiligen Stuhl seine Freiheit und Unab-hängigkeit erhält.«

»So sind Sie auch der Meinung,« sagte die Kaiserin,immer den Blick mit den schönen, langen Wimpern ih-rer Augen verschleiernd, »welche hier sich um den Kai-ser geltend macht, daß die beste Politik Frankreichs einfester und dauernder Frieden mit Preußen sei?«

»Ein Kampf zwischen Frankreich und Deutschland,«sagte der Graf mit Betonung, »würde das Ende derSicherheit und Unabhängigkeit des römischen Stuhlesund damit die höchste Gefahr für die Einheit der Kir-che sein.«

»Sie werden zufrieden sein,« sprach die Kaiserin miteinem Klange unmuthiger Enttäuschung in ihrer Stim-me, »denn ich glaube, die Basis für einen solchen Frie-den wird in diesem Augenblick gelegt, doch,« fügte sie,leicht mit ihrem Battisttuche spielend, hinzu, »glaubeich nicht so zuversichtlich an seine Dauer.«

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Die Züge des Grafen belebten sich wie durch heftigeinnere Erregung, sein Auge richtete sich forschend unddurchdringend auf die Kaiserin.

»Bedarf es denn,« fragte er, »einer besonderen Basisfür einen Frieden, der durch nichts bedroht ist, und dereinfach zu erhalten ist dadurch, daß Niemand ihn stört– und von Deutschland ist doch eine solche Störungnicht zu erwarten?« –

Das Auge der Kaiserin öffnete sich weit und blitzteauf in zornigem Stolz. Sie warf den Kopf in die Höheund rief mit der Lebhaftigkeit ihres schnell erregbarenTemperaments:

»Glauben Sie denn, Herr Graf, daß Frankreich ru-hig es mit ansehen könne und dürfe, daß dieses mi-litairische Preußen die Kraft von ganz Deutschland inseiner Hand zusammenfasse und die Spitze seines De-gens über den Rhein herüber nach unserem Herzenausstrecke? Sie werden nicht voraussetzen, daß dasFrankreich, welches der Erbe der Siege des ersten Na-poleon ist, still und resignirt zusehen solle, wie dieOrdnung von Europa über den Haufen geworfen wird,und wie eine protestantische Macht das deutsche Kai-serthum wieder aufrichtet. Freilich,« rief sie immer leb-hafter, »hätten wir nicht geschehen lassen sollen, was

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geschehen ist, da es aber einmal geschehen ist, müß-ten wir unsere Kraft sammeln, um mit zerschmettern-dem Schlag dieses Werk des vorigen Jahres zu zertrüm-mern, nicht,« sagte sie leise mit bitterem Ausdruck, in-dem sie die Zähne zusammenbiß und ihr Auge vor Er-regung flammte, »nicht uns abfinden lassen mit armse-ligen Compensationen!«

Der Graf hatte mit immer gespannterer Aufmerk-samkeit zugehört; sein Blick ruhte mit durchdringen-der Schärfe auf der Kaiserin, und ein rascher Ausrufschien aus seinem Munde hervordringen zu wollen.

Schnell aber nahm sein Gesicht wieder die gewohnteRuhe an, und mit leichtem Lächeln fragte er:

»Welche Compensation könnte Frankreich verlan-gen, welche Compensation würde Deutschland gewäh-ren?«

»Man wird glücklich sein in Deutschland,« rief dieKaiserin schnell mit verächtlichem Aufwerfen der Lip-pe, den dauernden Frieden mit Frankreich, die definiti-ve Genehmigung der Eroberungen des vorigen Jahreszu erkaufen für den lächerlichen Preis dieses kleinenHerzogthums Luxemburg!«

»Luxemburg?« rief der Graf, indem er schnell auf-stand und mit bestürztem Ausdruck die Kaiserin ansah,»Luxemburg – um Gottes willen, Madame, denkt manernstlich daran?«

»Herr Graf,« sagte die Kaiserin, indem die Erregungihrer Züge dem Ausdruck einer gewissen Verlegenheit

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wich, »ich habe da in meiner Lebhaftigkeit etwas ge-sagt, das ich vielleicht nicht hätte sagen sollen, ich bit-te Sie, meinen Worten keine weitere Consequenz zugeben.«

Der Graf schlug einen Augenblick die Augen sinnendzu Boden.

»Madame,« sagte er dann, »Ew. Majestät hatten vor-hin die Gnade, mir zu sagen, daß Ihre hohen Verwand-ten mich so freundlich mit vielen guten Eigenschaftenausgestattet haben, sollten sie eine vergessen habe, dieich wirklich zu besitzen mich rühmen darf, die Discreti-on?«

Die Kaiserin sah ihn nachdenklich mit tief forschen-dem Blick an.

»Ich glaube,« fuhr er fort, »aus Ew. Majestät Wor-ten schließen zu dürfen, daß Sie einer Verhandlungüber die Abtretung Luxemburgs nicht günstig sind, nunwohl, Madame, ich würde Alles daran setzen, um Ew.Majestät Intentionen in dieser Richtung zu unterstüt-zen, und vielleicht hat man Ihnen auch gesagt, daß icheinige Kenntniß der politischen Fäden und infolgedes-sen einigen Einfluß besitze, es kommt also nur daraufan, ob Ew. Majestät mir Vertrauen schenken wollen.« –

»Wenn Sie den dauernden Frieden Frankreichs mitPreußen wollen,« sagte die Kaiserin etwas zögernd,»welches Interesse könnten Sie haben, die luxembur-ger Verhandlungen zu verhindern, deren Abschluß ja

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die Bedingung und Grundlage eines solchen Friedenssein würde?«

Der Graf erwiederte fest und ruhig den forschendenBlick der Kaiserin und antwortete mit dem Tone über-zeugter Sicherheit:

»Ich vermag Ew. Majestät Ansicht nicht zu theilen,«sagte er, »diese Frage trägt den Krieg in ihrem Schoo-ße!«

»Den Krieg?« rief die Kaiserin, »Luxemburg gehörtHolland, und wenn der König von Holland es an Frank-reich abtritt, sollte Preußen es wagen, zu interveniren,einer vollendeten Thatsache gegenüber?«

»Oh Madame,« rief der Graf, »dieser Weg führt um sosicherer zum Kriege; wenn es vielleicht möglich wäre,Luxemburg durch eine Negotiation mit Preußen zu er-halten, so wird das Berliner Cabinet doch niemals einevollendete Thatsache acceptiren, die man hinter sei-nem Rücken in einer Angelegenheit schaffen würde, inwelcher es die Sache Deutschlands zu vertreten hat!«

Die Kaiserin schwieg. Etwas wie ein freudiger Blitzleuchtete in ihrem Auge auf.

»In diesem Kriege aber, wenn er jetzt ausbräche,würde Frankreich geschlagen werden,« sagte der Grafruhig, »und Italien würde Rom nehmen.«

»Sie glauben an eine Niederlage Frankreichs?« fragtedie Kaiserin.

»Die französische Armee ist nicht fertig,« antworte-te der Graf, »die Ausführung der Pläne des Marschalls

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Niel hat kaum begonnen, und Deutschland würde indieser Frage einig der preußischen Führung folgen. –»Ich bin überzeugt,« fuhr er fort, »wenn der Kaiser si-cher wäre, daß der Krieg aus dieser luxemburger Frageentstünde, er würde sie nicht anrühren, er würde nichtdas gefährliche Spiel spielen, Preußen mit einem faitaccompli überraschen zu wollen.«

Die Kaiserin senkte den Kopf und dachte einige Au-genblicke nach.

»Ich glaube, Sie haben Recht,« sagte sie dann, »esdarf in diesem Augenblick kein Krieg entstehen, dieseluxemburgische Frage müßte also beseitigt werden. –Aber wie ist das möglich?«

»Madame,« sagte der Graf, »die Gefahr liegt in derHeimlichkeit der Sache. Tritt man mit einem fertigenArrangement vor die Welt, und Preußen widerspricht,so ist die Ehre Frankreichs engagirt und der Krieg un-ausbleiblich. Die Gefahr kann nur beschworen werden,wenn Preußen Gelegenheit erhält, seine Meinung aus-zusprechen, so lange Frankreich noch mit Ehren sichaus der Sache zurückziehen kann.«

»Aber wie wäre das möglich?« fragte die Kaiserin.»Dadurch, daß man in Berlin auf das schleunigste

Kenntniß von der Sache erhält. Ich wiederhole, Mada-me, daß nach meiner festen Überzeugung der Kaisernicht bis zum Äußersten vorgeht, wenn er dem festenEntschluß Preußens gegenübersteht.«

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»Eine solche Mittheilung aber könnte doch,« sagtedie Kaiserin zögernd, »von – hier – nicht ausgehen, ineiner Sache, welche – französisches Staatsgeheimnißist.«

»Ew. Majestät mögen vollkommen unbesorgt sein,«sprach der Graf mit leichtem Lächeln, »die Discretiondes französischen Cabinets wird keinem Vorwurf aus-gesetzt werden. – Ew. Majestät sind also,« fuhr er fort,»mit mir der Ansicht, daß diese luxemburgischen Ver-handlungen bedenklich und gefährlich sind, und daßsie im Interesse Frankreichs beseitigt und von einer Zu-spitzung zur äußersten Schärfe ferngehalten werdenmüßten?«

Die Kaiserin ließ ihren vollen Blick einige Augen-blicke auf dem Grafen ruhen, welcher sie erwartungs-voll ansah.

»Ich glaube,« sagte sie dann, »daß ich Ihnen rechtgeben muß.«

»Das genügt, Madame,« rief der Graf, »jetzt ist esmeine Sache, zu handeln.«

»Und was wollen Sie thun?« fragte Eugenie mit ei-nem leichten Anflug von Schreck und Besorgniß.

»Madame,« sagte der Graf sich verneigend, »die Son-ne sendet Licht und Wärme herab und weckt denschlummernden Keim in der Erde, aber sie fragt nicht,wie er aus der dunklen Tiefe hervor in geheimnißvollerArbeit den Stamm, die Blätter und die Blüthen bildet.«

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Die Kaiserin neigte mit anmuthigem Lächeln dasHaupt.

Dann erhob sie sich.»Ein Baum, der aus Ihrem Herzen und Ihrem Kopf

erwächst, Herr Graf,« sagte sie lächelnd, »kann derguten Sache, die uns beiden heilig ist, nur nützlicheFrüchte tragen. – Ich habe mich sehr gefreut,« fuhr siefort, »Ihre Bekanntschaft zu machen, und hoffe diesel-be fortzusetzen. Es wird mir stets angenehm sein, Siean meinen Montagen zu sehen, und wenn Sie mir Et-was mitzutheilen haben, so werde ich immer erfreutsein, Sie zu empfangen – wir sind ja Alliirte.«

Und lächelnd reichte sie ihm die Hand.Der Graf neigte sich auf dieselbe und berührte sie

ehrerbietig mit den Lippen.»Ew. Majestät werden stets von mir hören, wenn ich

Gutes zu verkünden oder Böses abzuwenden habe.«Und in leichter und freier Bewegung erreichte er die

Thür, verneigte sich noch einmal tief und verließ denSalon.

»Ein merkwürdiger und außergewöhnlicher Mensch,«sagte die Kaiserin, ihm sinnend nachblickend, »der Ab-bé Bonaparte hat Recht, ein Mann, hart und geschmei-dig wie der Stahl von Toledo. – Aber den ewigen Frie-den mit diesem Deutschland, das uns verdrängen underniedrigen will, erhalten – nein,« rief sie laut, mit demzierlichen Fuß heftig auf den weichen Teppich tretend,»nein, davon wird er mich nicht überzeugen! – Aber

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gleichviel,« sagte sie leiser, »diese luxemburger Ver-handlung muß beseitigt werden, ich will weder, daß siereüssirt und wir um diesen elenden Preis abgefundenwerden, noch daß sie jetzt zum Kriege führt, denn –er könnte Recht haben, und wenn wir geschlagen wür-den,« murmelte sie, den Kopf senkend und starr vorsich hinblickend, »es wäre das Ende –«

Einige Minuten stand sie so in Nachdenken versun-ken.

Dann rührte sie leicht die Glocke.»Der Herzog Tascher de la Pagerie!« rief sie dem

Kammerdiener zu.

VIERTES CAPITEL.

Der Graf Rivero stieg die große Treppe hinab undtrat aus dem Portal, welches ein blau und weißer Bal-dachin, von Lanzen mit vergoldeten Spitzen getragen,überdeckte. Auf den Wink eines der dort stehendenkaiserlichen Lakaien fuhr seine Equipage, ein einfachesCoupé mit zwei tadellosen Pferden und dunkelblauerLivrée mit feinen Goldschnüren, welche dem Portal ge-genüber hielt, schnell heran. Der Lakai sprang ab undöffnete den Schlag, indem er zugleich den Überrockseines Herrn aus dem Wagen nahm und demselbenreichte.

»Zur Marchesa Pallanzoni!« rief der Graf einstei-gend, und in rascher, sicherer und leichter Bewegung

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rollte der Wagen davon, verließ den Tuilerienhof, folg-te der Rue de Rivoli, fuhr über den Place de la Concor-de, durch die Rue Royale, wendete sich an der Made-leine links nach der Kirche St. Augustin und fuhr bis zudem großen Platz, welcher dieser neuen und schönenKirche am Anfange des Boulevard Malesherbes gegen-über liegt.

Hier hielt er vor einem großen, eleganten Hause.Der Graf stieg aus und eilte mit leichtem Schritt diemit Teppichen belegten Stufen einer breiten, elegantenTreppe hinauf.

Vor einer großen Glasthüre des ersten Stockes drück-te er auf den Knopf der Glocke, ein heller Schlag ertön-te, und fast unmittelbar öffnete sich die Thür.

»Ist die Frau Marchesa zu Hause?« fragte der Grafeintretend einen Lakai in hellblauer Livrée mit Silber,welcher ihm entgegentrat.

»Die Frau Marchesa ist in ihrem Boudoir,« erwieder-te der Lakai, »sie hat befohlen, Niemand zu melden,aber sie wird den Herrn Grafen ohne Zweifel empfan-gen, ich werde die Kammerfrau benachrichtigen.«

Und mit jenem ehrerbietigen Diensteifer, den dieDienerschaft, welche ein so feines Verständniß für dieBeziehungen ihrer Herrschaft besitzt, stets den wirkli-chen Freunden und Vertrauten des Hauses beweist, öff-nete er den Flügel einer gegenüberliegenden Thür undder Graf trat in einen mit reicher Eleganz und doch mit

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der Einfachheit des guten Geschmacks meublirten Sa-lon, erfüllt von dem Duft zahlreicher Blumen, welchezwei große, vor den Fenstern stehende Jardinièren inreicher, farbiger Pracht füllten.

Der Graf ging mit langsamen Schritten, das Augenachdenklich zu Boden gesenkt, in diesem Salon aufund ab.

»Diese Kaiserin sinnt auf Rache,« sagte er in leisemSelbstgespräch, »sie will das erstehende Deutschlandvernichten, sie glaubt dadurch der bedrohten Kirchezu nützen, sie irrt – ihre Absicht muß vereitelt werden!Für jetzt dient sie mir, sie soll mir helfen, diese luxem-burger Frage zu beseitigen, aber ich muß sie überwa-chen, sie wird den Gedanken des großen Krieges gegenDeutschland in dem Kaiser nähren, und ihr Einfluß istgroß.«

Man hörte das leise Geräusch einer auf ihren Rollengleitenden Schiebethür – eine Portière wurde von ei-ner feinen, weißen Hand ein Wenig gelüftet und eineDamenstimme rief: »Treten Sie ein, Herr Graf!«

Der Graf Rivero durchschritt leicht den Salon, schlugdie Portière zurück und trat in ein kleines Boudoir miteinem Fenster, das von einer einzigen großen Spiegel-scheibe gebildet war. Graue Seidentapeten bedecktendie Wände, Blumen, Nippesstatuetten, Bücher und Al-bums erfüllten den kleinen Raum, so daß fast nur der

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Platz vor einer zur Seite des Kamins stehenden Chaise-longue mit zwei ihr gegenüber aufgestellten Fauteuilsfrei war.

Die Dame, welche den Grafen in diesen innerstenRaum intimer Zurückgezogenheit eingeladen, hattesich wieder auf die Chaiselongue niedergelassen. Ihrschwarzes Haar lag in einfachen Flechten glatt um dieschöne weiße Stirn. Das griechisch geschnittene Ge-sicht mit den dunklen, leuchtend tiefen Augen war vonjener durchsichtigen Blässe, welche, ohne krankhaft zuerscheinen, die Herrschaft des Geistes über die Materieanzeigt. In halb liegender Stellung stützte sie die Füßein weißseidenen, mit Pelz verbrämten Pantoffeln aufeine kleine Fußbank, welche in die Nähe des vergol-deten Kamingitters gerückt war. Sie trug einen weitenMorgenrock von silbergrauer Seide und zeigte in ih-rer ganzen Erscheinung jene leichte Unordnung, wel-che bewies, daß das große und wichtige Geschäft derToilette noch nicht begonnen hatte. In dieser Unord-nung lag jedoch keine Nachlässigkeit, Alles athmetedie höchste und vollendetste Eleganz einer vornehmenDame.

Der Graf näherte sich schnell der Chaiselongue undließ sich auf einen der daneben stehenden Fauteuilsnieder.

Die Dame reichte ihm die Hand, er ergriff sie leicht,und wie unwillkürlich von dem Zauber des vornehmen

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und distinguirten Hauchs ergriffen, welcher diese gan-ze Erscheinung umfloß, zog er diese Hand an seine Lip-pen.

Ein Blitz des Triumphes leuchtete in ihrem Auge.»Ich muß Ihnen mein Compliment machen,« sagte

der Graf mit kaltem Tone, der nicht mit dem Inhaltseiner Worte harmonirte, »Sie werden täglich schönerund eleganter.«

Ein halb stolzes, halb ironisches Lächeln umspielteden Mund der Dame, indem sie erwiederte:

»Ich muß mich bestreben, um eben so viel schönerund eleganter zu werden, als die Marchesa Pallanzo-ni über Madame Balzer steht. – Apropos, Herr Graf,«fuhr sie mit demselben Lächeln auf den Lippen fort,– »haben Sie mir Nachrichten von meinem würdigenGemahl, dem Marchese Pallanzoni, zu bringen?«

Und mit kurzem Lachen lehnte sie den schönen Kopfan die Rücklehne des Sophas.

»Er lebt ruhig unter der Aufsicht eines alten Dienersin dem kleinen Hause bei Florenz, das ich ihm einge-richtet, und bringt den Rest seines Lebens damit zu,das selbstverschuldete Elend zu bereuen, aus welchemich ihn gezogen habe. – Hüten Sie sich übrigens,« fuhrer mit ernstem Tone fort, »jemals vor anderen in die-sem Tone über ihn zu sprechen; wenn auch der Mann,der Ihnen seinen Namen gegeben hat, tief gesunkenund verkommen war, so ist doch dieser Name einer der

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ältesten und edelsten, und kein neuer Flecken soll, vorder Welt wenigstens, auf ihn fallen!«

Eine schnelle Röthe flammte auf ihrer Stirn empor,ein jäher Blitz zuckte aus ihrem Blick, die Lippen öff-neten sich mit stolzer Bewegung, aber sie sprach keinWort, ihre Augenlider senkten sich, wie um den Aus-druck ihres Blickes vor dem klar und ernst auf sie ge-richteten Auge des Grafen zu verhüllen, und schnellnahmen ihre Züge wieder ihre unbefangene, lächelndeRuhe an.

»Wissen Sie, Herr Graf,« sagte sie dann, »daß ichanfange, mich zu langweilen? Ich kenne jetzt dies Pa-ris mit seinen bunten, wechselnden Bildern, die docheigentlich nur ein ewiges Einerlei verhüllen – ich fin-de diese jungen Herren mit ihrer forcirten Blasirtheithöchst widerwärtig und abgeschmackt – und,« fügtesie mir einem leichten Seufzer und einem scharfen,forschenden Blick hinzu, »die eigentliche Gesellschaftbleibt mir ja doch verschlossen, trotz des stolzen Na-mens, den – Sie mir gegeben haben.«

»In dieser Beziehung müssen Sie Geduld haben,«sagte der Graf, »man darf den Eintritt in die Gesell-schaft nicht übereilen, wenn man in Ihrer Lage ist. –Seien Sie übrigens ruhig,« fuhr er fort, »wenn Sie ern-ste und nützliche Dienste leisten, so werden Sie in dieerste Gesellschaft nicht langsam und allmählich von

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unten, sondern mit einem Male und von oben eintre-ten – sobald ich es für nöthig halte,« setzte er im Tonekalter Überlegenheit hinzu.

Wieder zitterte jenes zornige Aufflammen in ihremAuge und wieder verhüllte sie dasselbe schnell unterden gesenkten Lidern.

»Ernste und nützliche Dienste –?« sagte sie dann mitruhiger Stimme, – »Sie hatten mir allerdings gesagt,daß Sie meine Dienste in ernsten Dingen in Anspruchnehmen würden und daß es mir vergönnt sein wür-de, durch den Dienst einer heiligen Sache,« fügte siemit niedergeschlagenen Augen hinzu, indem ein leich-tes Zittern um ihre Lippen spielte, »frühere Schuld zusühnen, bis jetzt aber habe ich Nichts gethan, als was– jede wahre Marquise auch thun könnte.«

Ein verächtliches Lächeln glitt über ihre Züge.»Der Augenblick ist gekommen, wo Sie Ihre Thätig-

keit beginnen können,« sagte der Graf, »Sie könneneinen Dienst leisten, von dessen geschickter Ausfüh-rung das Schicksal Europas abhängen kann!«

Mit funkelnden Augen richtete sie sich schnell auf.»Sprechen Sie, Herr Graf,« rief sie, »sprechen Sie. Ich

höre mit allen meinen Sinnen und allen meinen Ge-danken.«

Der Graf ließ seinen klaren, ruhigen Blick einige Se-cunden auf ihren erregten Zügen ruhen.

»Wenn Sie gut ausführen sollen, um was es sich han-delt, so müssen Sie genau wissen, worauf es ankommt

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und was erreicht werden soll. – Ich erinnere Sie noch-mals daran,« sagte er mit fester, kalter Stimme, »daßdie erste Vorschrift bei allen Diensten, zu denen Sieberufen sein werden, die unbedingteste Verschwiegen-heit ist, ein Bruch derselben zieht die Strafe des mora-lischen Todes nach sich.«

Eine helle Röthe flammte auf ihrer Stirn auf, ihreAugen sprühten Blitze – aber schnell bezwang sie sichund fragte mit ruhiger Stimme:

»Haben Sie Grund, mir zu mißtrauen?«»Nein,« sagte der Graf, »aber die Angelegenheiten,

um welche es sich handelt, sind nicht die meinigen, esist nothwendig, die Bedingungen zu wiederholen, überwelche wir übereingekommen sind.«

»Sie sind fest in mein Gedächtniß geschrieben,« sag-te sie.

»So hören Sie!« sprach der Graf, indem er sich etwasvorneigte und die Stimme dämpfte.

»Wollen wir nicht die Thüre schließen?« fragte sie,auf die offen gebliebene Schiebethür zum Salon deu-tend, indem sie eine Bewegung machte, um aufzuste-hen.

Der Graf legte leicht die Hand auf ihren Arm.»Lassen Sie,« sagte er, »ich ziehe die offenen Thü-

ren vor, wenn man geheime Dinge bespricht, hinterihnen kann Niemand horchen. – Es finden Verhand-lungen statt,« fuhr er dann fort, »zwischen dem Kaiser

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Napoleon und dem Könige von Holland über die Ab-tretung von Luxemburg an Frankreich.«

Sie stützte den Kopf auf die Hand und hing mitdurchdringendem Blick an seinen Lippen.

»Diese Verhandlungen dürfen zu keinem Resultatführen,« sprach der Graf weiter, »es ist nothwendig,daß so schnell als möglich das Berliner Cabinet, hinterdessen Rücken die ganze Sache betrieben wird, davonunterrichtet werde, und zwar in einer Weise, welchenicht den mindesten Verdacht zuläßt, daß diese Infor-mation von hier aus angeregt sei.«

»Aber wie kann ich –?« rief sie erstaunt.»Ich glaube,« fuhr der Graf fort, »daß man sowohl

hier als namentlich auch in Holland sehr fern von demGedanken ist, diese Verhandlungen könnten zu ernstenVerwicklungen und zu einem Kriege führen, der viel-leicht ganz Europa in Flammen setzen würde. Ganzinsbesondere würde der König von Holland, der denKrieg nicht liebt, und der Verwicklungen mit Preu-ßen auf das Äußerste fürchtet, weil sie sein Land zwi-schen den Zusammenstoß zweier gewaltiger Kolossestürzen würden, – der König von Holland würde ganzinsbesondere vor dieser geheimen Negotiation zurück-schrecken, wenn er ihre Folgen klar übersähe.«

»Aber ich begreife noch immer nicht,« rief sie, »wieich –«

»Ich finde,« sagte der Graf mit leichtem Lächeln,»daß Ihre Equipage noch immer nicht auf der Höhe der

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übrigen Montirung Ihres Hauses ist, Ihre Pferde sindnicht schön genug, auch gefällt mir ihre Farbe nicht.«

Sie sah ihn in stummem Erstaunen an und schüttelteleicht den Kopf.

»Sie müssen die schönsten Pferde in Paris haben,«fuhr er ruhig fort, »freilich wird das nicht ganz leichtsein, denn das schönste Gespann, das ich kenne unddas vollständig für Sie passen würde, ist im Besitze vonMadame Musard, und sie hat es bereits dem Stallmei-ster des Kaisers abgeschlagen, die schönen Thiere zuverkaufen.«

Ihr Auge blitzte auf – ein feines Lächeln zuckte umihre Lippen –, gespannt hing ihr Blick an seinem Mun-de.

»Die einzige Möglichkeit, diese Pferde vielleicht zuerhalten, wäre, wenn Sie der Dame einen Besuchmachten – ›Paris vaut bien une messe‹ – sagte Hein-rich IV., und der Besuch würde um so sicherer in sei-nem Erfolge sein, wenn Sie vielleicht der schönen Fraueinen Dienst leisten könnten. – Madame Musard in-teressirt sich für Holland, sie würde vielleicht dankbarsein, wenn sie in den Stand gesetzt würde, dort eineGefahr abzuwenden –«

Die Marquise sprang auf.»Genug, Herr Graf,« rief sie, »ich verstehe vollkom-

men, Sie können sich auf mich verlassen, ich werde Ih-nen beweisen,« fügte sie lächelnd hinzu, »daß ich fähig

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bin, Ihr Werkzeug zu sein, – ich werde mir die Sporenverdienen!«

»Vergessen Sie nicht,« sagte er, »daß schnell gehan-delt werden muß, um Unglück zu verhüten. In drei Ta-gen muß es sich entscheiden, ob der Zweck erreicht ist,sonst müssen andere Wege eingeschlagen werden.«

»Er wird erreicht werden,« sagte sie, »ich bedarf eineStunde zu meiner Toilette, und sogleich werde ich an’sWerk gehen.«

Der Graf stand auf.»Und die Pferde?« fragte sie mit fast unmerklichem

Lächeln, »sie werden theuer sein.«Der Graf zog ein Portefeuille aus der Tasche, nahm

daraus das gedruckte Blanquet einer Anweisung, tratdarauf an einen kleinen, zierlichen Schreibtisch undfüllte mit raschen Zügen das Papier aus.

»Hier ist eine Anweisung für meinen Banquier auffünfzigtausend Franken, ich hoffe, das wird genügen,jedenfalls zahlen Sie jeden Preis.«

Sie legte die Anweisung, ohne sie anzusehen, in ei-ne Vermeilschale auf einem Fuß von antiker Bronce,welche auf dem Kamin stand.

»Nun aber, Herr Graf,« sagte sie lächelnd, »bitte ichum die Erlaubniß, meine Toilette zu machen, nicht,daß ich Sie vertreiben will,« fügte sie mit einem ei-genthümlichen Blick hinzu.

Der Graf ergriff seinen Hut.

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»Ich habe Sie zur Discretion ermahnt,« sagte er mithöflichem Lächeln, »und darf mir nicht erlauben, indis-cret zu sein.«

Und mit leichter Verbeugung wendete er sich zurThür und verließ, den Salon durchschreitend, das Ap-partement.

»Er ist von Eis,« sagte sie seufzend, indem sie einekleine Glocke bewegte, »und seine Herrschaft von Ei-sen, doch sie führt mich dahin, wohin ich mich so langegesehnt, und vielleicht – – Ich will ausfahren – meineToilette, – den Wagen in einer Stunde!« befahl sie dereintretenden Kammerfrau.

Der Graf stieg die Treppe hinab.»So liegt denn der Zündfaden, an welchem der

Brand Europas hängt, in den Händen zweier Frauen!«sagte er leise, »und wenn die ernsten und wichtigenHerren vom Corps diplomatique heute abend im Boisde Boulogne diesen beiden aus Sammt, Spitzen undFedern hervorlächelnden Damen begegnen, so werdensie nicht ahnen, daß in ihren zierlichen Händen in die-sen Stunden das Geschick der Welt ruht. – Wie wunder-bare Wege geht doch die lebendige Geschichte, welchespäter in so feierlich monumentalen Steinbildern vorder Nachwelt dasteht!« –

»Nach der Nuntiatur!« rief er seinem Diener zu undstieg in seinen Wagen, der in schnellem Trabe davon-fuhr.

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Eine Stunde später fuhr die Equipage der Marche-sa Pallanzoni an dem prachtvollen Hôtel der MadameMusard bei den Champs Elysées vor. Alles in diesemHause athmete die vollendetste Eleganz der allervor-nehmsten Welt. Die unermeßlichen Reichthümer, wel-che den auf den amerikanischen Erbgründen der Da-me entdeckten Petroleumquellen in unerschöpflicherFülle entströmten, zeigten sich hier nicht in überlade-nem Glanz, sondern in jener so schwer herzustellen-den, gediegenen Einfachheit, welche nur da zu finden,wo wirklich große Mittel sich mit wirklich gutem Ge-schmack vereinen.

Wohl zeigte sich auf den Mienen der gepudertenLakaien in den dunklen Livréen mit den silbergrauenAchselschnüren und den schneeweißen Strümpfen einleichter Anflug von Erstaunen, als der Diener der Mar-chesa deren Karte überbrachte mit der Frage, ob Ma-dame Musard seine Herrin empfangen wolle – denndie Damen mit aristokratischen Namen echten Klangesgehörten hier nicht zu den gewöhnlichen Erscheinun-gen; indes mit jener schweigenden Schnelligkeit undPünktlichkeit, welche dem Dienst an einem Hofe Eh-re gemacht haben würde, wurde die Karte dem Kam-merdiener gebracht, welcher in tadellosem schwarzenAnzug im Vorzimmer der Dame des Hauses saß.

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Madame Musard blickte ein Wenig erstaunt auf dieseKarte, welche der Kammerdiener ihr auf einem golde-nen Teller mit wunderbar schön ciselirtem Rande über-reichte.

»Marchesa Pallanzoni,« sagte sie, »ich habe den Na-men gehört, eine sehr schöne und sehr elegante Ita-lienerin, die seit einiger Zeit hier ist, eine wirklichegroße Dame, wie man mir gesagt hat,« fügte sie miteinem leichten Lächeln der Befriedigung hinzu, »aberwas kann sie von mir wollen? Gleichviel – hören wir!Es wird mir eine Freude sein, die Frau Marquise zuempfangen,« sprach sie zu dem Kammerdiener, wel-cher zur Thüre zurückgetreten war und dort in ehr-erbietiger Stellung wartete. – »Gehen Sie selbst hinabund führen Sie die Dame herauf.«

Der Kammerdiener verschwand.Madame Musard, eine hohe, schlanke Gestalt mit

feinen und intelligenten, ein Wenig scharfen Zügen,dunklem Haar und dunklen Augenbrauen, welche Au-gen von außergewöhnlicher Schärfe und Intelligenzüberwölbten, mochte ungefähr sechsundzwanzig bisachtundzwanzig Jahre alt sein. Der Ausdruck ihrer Au-gen erschien älter, das Lächeln ihres frischen Mundesjünger. Sie trug eine sehr einfache dunkle Morgentoi-lette von schwerem Seidenstoff, welche hoch am Hal-se, von einer feinen Spitze überragt, durch eine Bro-che von einem ungewöhnlich großen Rubin geschlos-sen wurde.

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Nichts in ihrer Erscheinung zeigte eine Spur von je-nen Übertreibungen der Eleganz und des Luxus, wel-che man zu jener Zeit bei den meisten Damen dergroßen Welt sowohl als der Halbwelt zu sehen ge-wohnt war. Auch der kleine Salon, in welchem sie sichbefand, war mit edelster Einfachheit meublirt.

Die Flügel der Thüre sprangen auf.»Die Frau Marquise von Pallanzoni!« rief der Kam-

merdiener und herein rauschte Frau Antonie Balzer inreicher Promenadentoilette. Über die schweren Falteneiner dunkelblauen Robe fiel eine mit Zobel besetzteMantille von Sammt herab, ein kleiner Hut von der Far-be der Robe mit einer prachtvollen weißen Feder um-rahmte das feine und zarte Gesicht, das, leicht durchdie Luft geröthet, in wunderbarer Schönheit und Fri-sche strahlte.

Madame Musard ging ihrem Besuch bis fast zur Thürentgegen, mit raschem, prüfendem Blick umfaßte siediese so jugendliche, so reizende und so vornehme Er-scheinung.

»Ich freue mich, Frau Marquise, Sie in meinem Hau-se zu begrüßen,« sprach sie dann mit ruhiger Artigkeit,»und ich werde glücklich sein, Ihnen in etwas dienenzu können, wenn es in meiner Macht steht.«

Sie führte die Marchesa zu einem von Blumen umge-benen kleinen Sopha, welches in der Nähe des Fenstersstand, und nahm ihr gegenüber auf einem niedrigenLehnstuhl Platz, indem sie mit dem Ausdruck ruhiger

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Höflichkeit erwartete, daß die Dame ihr den Grund ih-res Besuches mittheilte.

»Erlauben Sie zunächst, Madame,« sagte die Mar-chesa mit einer gewissen Herzlichkeit in dem Tone ih-rer vollen metallreichen Stimme, »daß ich Ihnen mei-ne Bewunderung ausspreche über die Einrichtung Ih-res Hauses, das heißt dessen, was ich davon gesehen;man spricht in Paris so viel davon,« fuhr sie fort, »daßich mit großen Erwartungen hieher kam, aber dennochbin ich erstaunt, – es ist so schwer,« sagte sie mit einemnaiven Lächeln, das ihr vortrefflich stand, »in all demPariser Glanz die wirklich vornehme einfache Eleganzin der Montirung der Häuser zu finden, ich habe sienur in einigen alten Häusern des Faubourg St. Germaingefunden – und hier bei Ihnen.«

Madame Musard neigte leicht den Kopf, das Lächelnihrer Lippen bewies, daß sie nicht unempfindlich warfür das in so natürlicher Weise ausgesprochene Com-pliment, indes schien ihr Blick zu sagen: »Ich glaubenicht, daß Sie hierher gekommen sind, um mir dies zuerzählen.«

Frau Antonie schlug vor diesem klaren und schar-fen Blick in scheinbarer verlegener Verwirrung die Au-gen nieder. Sie drückte die Spitzen ihrer schlankenFinger in den hellgrauen Handschuhen von weichemschwedischem Leder aneinander und sprach, indem sietreuherzig bittenden Blick auf Madame Musard warf:»Ich arbeite daran, mein Haus ebenfalls zu montiren

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– wenn auch nur für die Dauer der Weltausstellung.Mein Gemahl,« fuhr sie seufzend fort, »ist kränklichund zu weiten Reisen nicht disponirt, doch hat er mei-nem glühenden Wunsche, Paris und diese wunderbareAusstellung zu sehen, nachgegeben und mir erlaubt,einige Zeit hier zu bleiben. – Mir fehlt nun aber so man-ches und besonders kann ich meine Equipage nichtpassend herstellen,« sagte sie mit leichtem Zögern, »dawage ich es denn, mich an Sie zu wenden, und ichfreue mich, daß es eine Frau ist, an die ich mich wen-den kann, ich habe ein wunderschönes Gespann vorIhrem Wagen gesehen.« –

Das Gesicht von Madame Musard nahm einen kal-ten, abwehrenden Ausdruck an.

»Man sagte mir,« fuhr die Marchesa fort, »daß Sieeinen vollständigen, den schönsten und bestgewähltenMarstall in Paris haben, ich hoffte deshalb, daß Sie viel-leicht jene Pferde – es sind zwei schwarze Carossiers –entbehren könnten, und daß Sie meine Bitte gewährenwürden, sie mir zu verkaufen.«

Ein stolzes Lächeln spielte um die Lippen von Mada-me Musard.

»Ich handle nicht mit Pferden, Frau Marquise,«sprach sie in kaltem Tone, »und Pferde, mit denen ichselbst fahre, verkaufe ich überhaupt niemals, am we-nigsten jenes Gespann, der Kaiser handelte darum; –ich habe es gekauft,« fuhr sie mit stolzem Blick fort,»weil ich wünschte, die schönste Equipage von Paris

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zu haben – ich bedaure, daß es mir nicht möglich ist,Ihren Wunsch zu erfüllen, da es mir große Freude ge-macht hätte, Ihnen nützlich zu sein.«

Die Marchesa senkte mit dem Ausdruck von Enttäu-schung und Verlegenheit den Blick.

»Verzeihen Sie mir, Madame,« sagte sie dann, »ichweiß sehr wohl, daß Sie dergleichen Handel nicht ma-chen, ich hoffte nur, daß Sie vielleicht einer Dame, ei-ner Fremden zu Gefallen –«

Madame Musard schüttelte mit leichtem Achsel-zucken den Kopf.

»– und dann,« fuhr die Marchesa fort, »dachte ich,daß die drohenden Kriegsgefahren, welche vielleichtalle diese glänzenden Aussichten auf das schimmern-de Weltfest der Ausstellung zertrümmern werden, Siebestimmen könnten, mir diese schönen Pferde zu über-lassen, die ich im Falle des Krieges mit mir nach Italienin Sicherheit bringen würde.«

Madame Musard sah sie erstaunt an.»Sie sprechen von Kriegsgefahr, Madame,« sagte sie,

»ich begreife nicht, – wie mir scheint, ist die ganze Weltin tiefem Frieden.« –

»Ja, wie es scheint,« sagte die Marchesa mit wichti-ger Miene, indem sie die Augen weit öffnete und mittäuschender Natürlichkeit einen unendlich einfältigenAusdruck annahm, »aber in Wirklichkeit, freilich wirdwohl Frankreich nicht unmittelbar engagirt sein, aber

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es wird doch für den Kaiser eine Ehrensache sein, Hol-land in Schutz zu nehmen.« –

Madame Musard horchte hoch auf. Mit lebhafterSpannung richtete sich ihr scharfer Blick auf die lä-chelnden Züge der plaudernden Dame vor ihr.

»Holland in Schutz nehmen?« fragte sie, »gegenwen, Madame, wer bedroht Holland?«

»Oh mein Gott,« sagte die Marchesa, die Fingerspit-zen leicht gegeneinander schlagend, »wenn man inBerlin erfährt, was vorgeht, so wird man natürlich so-fort die rücksichtslosesten Maßregeln ergreifen, unddas kleine Holland –«

»Aber mein Gott, was geht denn vor?« rief MadameMusard ungeduldig, »Sie erschrecken mich fast, FrauMarquise,« sagte sie, schnell sich fassend, mit lächeln-dem Munde, »mit Ihren Kriegsphantasien!«

»Phantasien?« rief die Marchesa wie verletzt durchden Zweifel an ihrer Kenntniß der politischen Lage, »essind keine Phantasien, wissen Sie denn nicht, Madame,daß der König von Holland an den Kaiser ein Herzogt-hum verkaufen will – ein kleines Herzogthum mit einergroßen Festung,« sie schien sich zu besinnen, »es heißtwie das Palais dort mit dem schönen Garten, worin Ma-rie von Medicis wohnte, Luxemburg – ja Luxemburg,und wenn Herr von Bismarck von diesem heimlichenHandel etwas erfahren wird, und er hat schon davongehört, so ist der Krieg unvermeidlich.«

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»In der That, Sie setzen mich in Erstaunen, FrauMarquise,« sagte Madame Musard, indem ein schwererAthemzug ihre Brust schwellte und ein düsterer Blickaus ihrem Auge hervorschoß, »Sie setzen mich in Er-staunen durch Ihre Kenntniß der politischen Verhält-nisse, mir liegt so etwas so fern.«

»Doch ich bitte um Verzeihung, Madame,« sagte dieMarchesa, indem sie Miene machte, aufzustehen, »ichhabe Sie schon lange aufgehalten und da Sie Ihre Pfer-de behalten wollen –«

»Oh ich bitte, Frau Marquise,« sagte Madame Mus-ard, indem sie leicht ihre Hand auf den Arm Antonienslegte, um sie vom Aufstehen zurückzuhalten, – »ich bit-te, es ist mir ein hohes Vergnügen, mit Ihnen zu plau-dern, und in der That,« fuhr sie, wie sich besinnend,fort, »diese Kriegsgefahr, wenn sie existirt –«

»Wenn sie existirt?« rief die Marchesa lebhaft, – sieexistirt, Madame, sobald man in Berlin von dieser Lu-xemburger Sache hört, man kann freilich dem Kaisernicht verbieten, dies Herzogthum zu kaufen, aber manwird dem König von Holland verbieten, es zu verkau-fen, man wird über Holland herfallen und der Kaiserwird gezwungen sein, diesen armen König zu beschüt-zen, wenn nicht –«

»Wenn nicht –?« fragte Madame Musard in athemlo-ser Spannung.

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»Wenn nicht,« sagte die Marchesa lachend, »ein Ar-rangement gemacht wird, welches dem Kaiser Luxem-burg und dies arme Holland den Preußen giebt – und,«fügte sie achselzuckend hinzu, »diese Reihe der un-glücklichen Könige ohne Thron und Land, deren un-sere Zeit so viele geschaffen hat, um einen vermehrt.– Doch in der That,« rief sie, wir sind komisch, wennman uns hören könnte, zwei Damen, die Politik spre-chen –«

Madame Musard blickte sinnend zu Boden.»Das Alles interessirt mich ein Wenig,« sagte sie

dann, »ich habe – Freunde in Holland, nur begreife ichin der That nicht, woher Sie so gut informirt sind, FrauMarquise.«

»Oh,« rief die Marchesa, »einer meiner Freundesprach mir davon, »er steht den Tuilerien sehr nahe, –aber mein Gott,« rief sie plötzlich, »ich habe da viel-leicht eine Indiscretion begangen, er sagte mir, daßnoch Niemand etwas davon wisse.«

»Ich bin die Discretion selbst, Frau Marquise,« riefMadame Musard rasch, »übrigens,« fuhr sie fort, ihrSpitzentaschentuch in der Hand zusammenpressend,»übrigens interessirt mich das Alles nur sehr oberfläch-lich, allein der Krieg – das wäre ja entsetzlich, glaub-te denn – Ihr Freund –« sagte sie ein Wenig zögernd,»nicht, daß es irgend ein Mittel gäbe, den Krieg zu ver-meiden?«

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»Ach,« sagte die Marchesa, »Sie wissen, wie dieMänner sind, er fürchtete den Krieg nicht, er schienihn vielleicht sogar zu wünschen, »übrigens,« sagte er,»was liegt daran, wenn Holland von Preußen genom-men wird, wenn wir nur dies Luxemburg erhalten. –Der König von Holland wird selbst die Schuld haben,hätte er von dem, was vorgeht, zu rechter Zeit in Ber-lin Nachricht gegeben, so würde er dort den Prätextgenommen haben, auf den man vielleicht nur wartet;jetzt wird die diplomatische Verständigung unmöglichgemacht. – Doch, nun darf ich Sie wirklich nicht län-ger in Anspruch nehmen,« fuhr sie fort, indem sie vonNeuem Miene machte, aufzustehen, »ich bedaure –«

»Frau Marquise,« sagte Madame Musard, indem sieeinen vollen Blick auf ihren Besuch richtete, »ich habeIhren Wunsch abgeschlagen, es war vielleicht unrechtvon mir, einer Dame, die hier fremd ist, nicht freund-licher entgegenzukommen, ich war überrascht. – Siewissen,« fuhr sie fort und reichte der Marchesa ihreHand, in welche diese wie erstaunt und ein Wenig zö-gernd ihre feinen Finger legte, »Sie wissen, es giebtSympathieen, denen man sich nicht entziehen kann,erlauben Sie mir, Ihnen zu sagen, daß Sie in den weni-gen Augenblicken unserer Bekanntschaft solche Sym-pathie in mir erweckt haben.«

Die Marchesa sah sie lächelnd mit einem naivenBlick an, in welchem man lesen konnte, daß es ihrnichts Neues sei, Sympathieen zu erwecken.

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»Und um Ihnen einen Beweis der Gefühle zu ge-ben, welche Sie mir eingeflößt,« fuhr Madame Musardfort, »erlauben Sie mir, von meiner Gewohnheit abzu-gehen, ich will Ihnen meine Pferde überlassen, damiteine so schöne und geistvolle Dame,« fügte sie mit ei-nem kaum merkbaren Lächeln hinzu, »eine ihrer wür-dige Equipage besitze.«

Eine kindliche Freude leuchtete in dem Auge derMarchesa auf.

»Wirklich?« rief sie mit fröhlichem Lächeln, »Siekönnten sich entschließen?«

Und ihrerseits ergriff sie die Hand der Madame Mus-ard und drückte sie herzlich.

»Die Pferde gehören Ihnen,« sagte diese, »aber ichmache eine Bedingung –«

Die Marchesa neigte verbindlich das Haupt.»Daß wir,« sagte Madame Musard mit anmuthigem

Lächeln, »uns nicht zum letzten Male gesehen haben,daß es mir erlaubt sei, zu versuchen, auch meinerseitsIhnen ein Wenig von den sympathischen Gefühlen ein-zuflößen, welche ich für Sie empfinde.«

»Es wird mir stets eine Freude sein,« erwiederte dieMarchesa mit leichter Zurückhaltung, »Sie bei mir zusehen.«

Madame Musard schien die Nüance abwehrendenStolzes, welche in dieser Antwort lag, nicht bemerkenzu wollen und sagte mit verbindlichem Lächeln:

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»So werde ich unendlich mehr gewinnen, als ich anmeinen Pferden verliere!«

»Doch, Madame,« sagte die Marchesa aufstehend,»es bleibt noch eine Frage zu erledigen – der Preis –«

»Unsere Freundschaft ist noch zu jung,« unterbrachsie Madame Musard, »als daß ich wagen dürfte, Ih-nen das Gespann als einen Beweis derselben anzubie-ten, ich glaube, daß ich zehntausend Franken für jedesPferd bezahlt habe, mein Intendant wird die Rechnungaufstellen und ich werde die Ehre haben, sie Ihnen zupräsentiren.«

»Also, das Geschäft ist abgemacht,« sagte die Mar-chesa mit freundlichem Lachen, »oh wie freue ichmich, endlich eine anständige Equipage zu haben!«

Und sie klatschte in kindlicher Freude in die Hände.»Ich habe nicht wagen dürfen,« sagte Madame Mus-

ard, »Ihnen meine Pferde anzubieten, aber ein kleinesAndenken an unsere erste Bekanntschaft müssen Siemir erlauben, Ihnen zu überreichen.«

Und sie pflückte von der Jardinière, welche hinterdem Sopha stand, auf welchem die Marchesa gesessen,eine prachtvolle halberblühte Moosrose und reichte sieder jungen Frau.

»Die Königin der Blumen der Königin der Schön-heit,« sagte sie lächelnd.

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»Wie reizend!« rief die Marchesa, indem sie leichtden Duft der Rose einsog und die Blume dann unterihrer Mantille an die Brust steckte.

»Ich bin beschämt,« sagte sie, »ich habe nur gebetenund Sie geben mir mit vollen Händen. – Auf Wiederse-hen, Madame, – auf Wiedersehen!« Sie drückte aber-mals Madame Musard herzlich die Hand und wendetesich zur Thür.

Madame Musard begleitete sie bis zur Schwelle undverabschiedete sich mit dem liebenswürdigsten Lä-cheln.

Der Kammerdiener schritt der Marchesa voran bis anihren Wagen.

»In’s Bois de Boulogne!« rief sie dem Lakaien zu –und rasch rollte der Wagen davon.

»Ich glaube, ich habe reüssirt,« sagte Frau Antonie,mit zufriedenem Lächeln sich in die weichen Kissen zu-rücklehnend, »zehntausend Franken,« flüsterte sie mitzufriedenem Blick, »das macht dreißigtausend FrankenÜberschuß, das Geschäft war gut, es ist immer nütz-lich, etwas eigenes für alle Fälle zu haben!«

Madame Musard aber blieb nachdenklich in ihremSalon stehen, als die Marchesa sie verlassen. Der lä-chelnde Ausdruck verschwand von ihren Zügen, in tie-fem Ernst ging sie mehrmals auf und nieder.

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»Der Himmel hat mir diese naive, plauderhafte Mar-quise gesendet!« rief sie, »welch ein gefährliches Be-ginnen, welches Glück, daß ich zur rechten Zeit Kennt-niß von den drohenden Gefahren erhielt! – Wenn esnoch zur rechten Zeit ist?« sagte sie, düster vor sichhinblickend.

Schnell trat sie an ihren Schreibtisch, setzte sichnieder und in fliegender Hast schrieb sie, zuweilenanhaltend und nachdenkend, bis die vier Seiten ei-nes großen englischen Briefbogens voll waren. Dannschloß sie den Brief in eine doppelte Enveloppe, ver-schloß dieselbe mit einem kleinen Siegel, das sieaus einem geheimen Fach ihres Secretairs nahm, undschrieb die Adresse darauf: Herrn Mansfeldt, im Haag.

Sie rührte leicht die Glocke.Der Kammerdiener trat ein.»Sie müssen mit dem nächsten Zug nach dem Haag

reisen!«»Zu Befehl, Madame.«»Diesen Brief persönlich an seine Adresse!«Der Kammerdiener empfing schweigend den Brief,

verneigte sich und verließ den Salon.»Nun gebe Gott, daß es nicht zu spät ist!« rief Ma-

dame Musard. Und sie ging in ihr Ankleidezimmer, umihre Toilette für die Fahrt in’s Bois de Boulogne zu ma-chen.

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FÜNFTES CAPITEL.

Am Morgen des 27. März saß Graf Bismarck vor demSchreibtisch seines Arbeitszimmers. Vor ihm lagen eineReihe eingegangener Berichte, welche er theils flüchtigdurchblätterte und schnell bei Seite legte, theils auf-merksam durchlas, von Zeit zu Zeit den Blick nach-denklich vor sich hin richtend.

»Weltausstellung, Versicherungen der freundlichenGesinnungen des Kaisers und seiner Regierung, Re-densarten über die Auffassung der Lage der Dinge imOrient, indirecte Warnungen vor Rußland,« rief er un-muthig, indem er ein Papier in großem Quartformat,welches er durchflogen, auf den Tisch warf, »das ist Al-les, was von Paris kommt! – Es ist wahrlich traurig,«sagte er seufzend, »daß man nicht überall mit eigenenAugen sehen und mit eigenen Ohren hören kann! –Ich bin fest überzeugt,« fuhr er fort, »daß von ParisAnderes und Ernsteres zu berichten wäre, daß dort ir-gend etwas vorgeht. – Napoleon hat im vorigen Jahrenichts von allem erreicht, was er bei der unerwarte-ten Catastrophe gewinnen wollte, er hatte seine Kartenfalsch gemischt,« fügte er mit einem leichten Lächelnhinzu, »und das vergißt er nicht, er ist nicht der Mann,der ein Spiel so schnell verloren giebt, er sinnt auf ir-gend etwas, um seine moralische Niederlage wiedergut zu machen und wenigstens scheinbar vor Frank-reich sein Prestige wiederherzustellen. – Und Moustier

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– man sagt, er sei wegen seiner Kenntniß der orientali-schen Angelegenheiten berufen, das sind leere Worte,was man im Orient treibt, hat nichts zu bedeuten, manzeigt Rußland eine reizende Fata Morgana, voilà tout,das Spiel Napoleons mit Alexander I. – Es geht etwasAnderes vor,« fuhr er nach kurzem Nachdenken sin-nend fort, »diese Annäherungen, diese Freundschafts-versicherungen, diese Allianzprojecte, das Alles mußseinen Preis haben, und dieser Preis wird eines Tageshervortreten, plötzlich und unerwartet, das Alles müß-te man dort doch sehen, mich davon benachrichtigen,freilich,« sagte er achselzuckend, »wenn man die Au-gen fortwährend hierher richtet –

»Oh,« rief er, die mächtige Brust weit ausdehnendund mit tiefem Athemzug die Augen aufschlagend,»wie schwer ist es, den Muth und die Ausdauer zu be-halten bei der gewaltigen Aufgabe, die mir vorschwebt,seit ich mein Amt antrat, die in immer klareren Lini-en, in immer schärferen Umrissen und immer mächti-geren Dimensionen vor meinem Geist sich entwickelt,und die ich doch nicht aussprechen kann, die ich tiefin mich verschließen muß, wenn sie zu Ende geführtwerden soll! – Sie haben gejubelt über den Sieg,« fuhrer fort, »während sie doch vorher Alles thaten, umdie Wege dazu zu verschließen, und kaum ist er er-rungen, so beginnen sie in dem parlamentarischen Le-ben schon wieder Schwierigkeiten auf Schwierigkeitenzu häufen, sie bemängeln die Heeresorganisation des

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norddeutschen Bundes, die dreijährige Dienstzeit, dieVerfassung und der alte circulus vitiosus unfruchtbarenund ermüdenden Streits der Parteidoktrinen beginntwieder an das traurige Ende den traurigen Anfang zuknüpfen.«

Er senkte einen Augenblick das Haupt. Trüber Ernstlag auf seinen Zügen.

»Doch,« rief er dann, das Auge stolz und frei auf-schlagend, »es wäre kleinmüthig und undankbar ge-gen die Vorsehung, wollte ich jetzt ermüden, nachdemeine so mächtige Strecke meines Weges zurückgelegtist. – Wäre Gott meinem Werke entgegen, ich wärenicht bis hierher gekommen, also vorwärts mit Gott,und sollte auch einer anderen Hand beschieden sein,mein Werk zu vollenden und das schöne, edle Deutsch-land in preußische Waffen gegürtet heraufzuführen andie Spitze der Völker Europas, ich will nicht klagen –denn schon jetzt kann ich mit Dank gegen den Himmelsagen: ich habe nicht umsonst gelebt und gearbeitet!«

Und indem er sich in seinen Sessel zurücklehnte,richtete sich sein sonst so scharfes, kaltes und durch-dringendes Auge in wunderbar weichem, fast träume-rischem Schimmer nach oben.

Ein Schlag an die Thür ertönte.Dem meldenden Kammerdiener auf einen Wink des

Ministerpräsidenten unmittelbar folgend, trat der Le-gationsrath von Keudell in das Cabinet, ein Papier inder Hand haltend.

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»Guten Morgen, lieber Keudell!« rief Graf Bismarck,ihm die Hand entgegenstreckend, indem noch einHauch jenes weichen, sinnigen Ausdrucks auf seinenZügen lag, »soeben noch dachte ich traurig und nie-dergeschlagen an den fortwährenden einsamen Kampf,den ich gegen erbitterte Gegner – und unverständigeFreunde – für das in meinem Herzen verborgene Zielführen muß; ich war undankbar,« fuhr er mit herzli-chem Tone und freundlichem Lächeln fort, »ich vergaßden treuen, unermüdlichen und verschwiegenen Ge-fährten meiner Arbeit.«

Ein inniger Ausdruck erleuchtete die edlen, scharfgeschnittenen Züge des Herrn von Keudell, und indemer seine klaren, braunen Augen ruhig auf den Minister-präsidenten richtete, sprach er ernst:

»Eure Excellenz können immer gewiß sein, daß IhrVertrauen eine sichere und unnahbare Stätte in mei-nem Herzen findet, und daß ich nie ermüden werdeim Kampf für das große Ziel, dem Ihr Geist und IhrWillen uns entgegenführt. – Schon naht vielleicht eineneue Phase dieses Kampfes, welche die Anspannungaller Aufmerksamkeit und Kraft erfordern wird,« fügteer mit einem Blick auf das Papier in der Hand hinzu.

Graf Bismarcks Augen funkelten, indem leichte Fal-ten auf seiner mächtigen Stirn sich zu kräuseln began-nen.

»Was haben Sie?« fragte er rasch und kurz.

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»Den Bericht des Grafen Perponcher aus dem Haag,welchen man soeben aus dem Chiffrirbureau zurück-gebracht,« erwiederte Herr von Keudell, »der Königvon Holland hat ihm Eröffnungen über die AbtretungLuxemburgs an Frankreich gemacht und gefragt, wiePreußen es aufnehmen würde, wenn er sich seinerSouverainität über das Herzogthum begäbe.«

»Ich wußte es, daß etwas vorgeht!« rief Graf Bis-marck flammenden Blicks, »diese lächelnd ruhigeOberfläche mußte etwas verbergen; in Paris hat manfreilich keinen Blick für die dunkeln Tiefen der napo-leonischen Politik,« fügte er mit bitterem Tone hinzu.

Und schnell die Hand ausstreckend, nahm er den Be-richt, welchen Herr von Keudell ihm reichte, mit bren-nendem Blick Zeile um Zeile verfolgend.

»Das soll Deutschlands Savoyen und Nizza sein,« riefer, den Bericht auf den Tisch werfend, indem eine hel-le Zornesröthe in seinem Gesicht aufloderte. – »Daherdiese holländischen Versuche seit dem vorigen Jahre,die deutsche Garnison aus Luxemburg zu entfernen,aber,« fuhr er fort, lebhaft aufstehend und mit einigenstarken Schritten im Zimmer auf und ab schreitend,»Napoleon täuscht sich – und sein Marquis de Mou-stier kennt das heutige Berlin nicht! – Nicht einen Fußbreit Erde, nicht eine Handvoll Staub von deutschemBoden sollen sie haben, nicht einen Athemzug Luft,

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durch welche je der Ton eines deutschen Liedes gezit-tert hat,« rief er, vor Herrn von Keudell stehen bleibendund den Fuß auf den Boden stoßend.

Mit freudigem Lächeln und glänzenden Blicken sahder Legationsrath auf den großen, reckenhaften Mann,der da vor ihm stand, als wolle er den Degen in derHand den deutschen Heerschaaren vorausreiten an dieGrenzmarken des Vaterlandes.

»Deutschlands Einheit und Größe wird nicht erscha-chert werden, nicht um den Preis einer einzigen Per-le aus der Ehrenkrone der Nation!« rief Graf Bismarcknoch immer in mächtiger Erregung. – »Schlimm ge-nug, daß jene alten Reichsländer Elsaß und Lothringennoch in ihren Händen sind, aber,« fuhr er fort, indemdie Blicke seines weitgeöffneten Auges inneren Bildernzu folgen schienen, »vielleicht – wenn sie die gierigenHände weiter ausstrecken wollen, wenn sie den Kriegprovociren –« – er schwieg einige Augenblicke nach-denkend.

Dann schwand allmählich der Ausdruck tiefer Bewe-gung von seinen Zügen und in ruhigem Ton sprach er:

»Ich weiß übrigens in der That diese Mittheilung desKönigs von Holland mir nicht zu erklären, das ganzeSpiel war doch augenscheinlich darauf angelegt, unsmit einem fait accompli zu überraschen, diese Eröff-nung verdirbt ja vollständig die Karten Napoleons.«

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»Dem Könige wird bei diesem Spiel bange gewordensein,« sagte Herr von Keudell, »die Consequenzen wür-den doch für ihn vielleicht am gefährlichsten werden.– Eure Excellenz sind also entschlossen,« fuhr er fort,»den Handel nicht zuzugeben?«

Graf Bismarck richtete das Haupt höher empor undsprach mit kaltem und klarem Blick:

»Niemals wird diese Hand einen Vertrag unterzeich-nen, der deutsches Gebiet vom Vaterland loslöst –und,« fuhr er fort, »niemals wird mich der König in dieLage bringen, die Unterzeichnung eines solchen Ver-trages ablehnen zu müssen! – Aber,« fuhr er nach ei-nigen Augenblicken fort, »fangen wir die Frage nichtmit dem Ende an. – Sie will vorsichtig behandelt sein;ich wünsche in diesem Augenblick den Krieg nicht, derKampf mit Frankreich ist unvermeidlich, unausbleib-lich, aber je länger wir den Frieden erhalten, um sobesser für die endliche Entscheidung, die innere Con-solidirung Deutschlands und die europäischen Constel-lationen werden sich mit jedem gewonnenen Zeitraummehr zu unsern Gunsten entwickeln.«

Nachdenkend schritt er langsam auf und nieder.»Napoleon glaubt die definitive Einigung des ganzen

Deutschlands verhindern zu können,« sprach er in ein-zelnen Absätzen, zuweilen stehen bleibend, währenddie Blicke des Herrn von Keudell mit Spannung seinenBewegungen folgten, »er will für jetzt nur eine Com-pensation für die Vergrößerungen Preußens, er will

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Preußen gegen Frankreich stellen, bin ich doch in denAugen der Welt fast überall noch der specifisch preu-ßische Minister, der nur für Preußen größeres Gebietund höhere Macht erwerben will; er soll eine deutscheAntwort haben, man muß die Angriffe nicht nur ab-schlagen, sondern sie auch zu Nutzen und Gewinn ver-kehren. – Heute Abend ist mein Empfangstag?« fragteer Herrn von Keudell.

»Jawohl, Excellenz!«»Das trifft sich vortrefflich,« sagte Graf Bismarck.

»Napoleon glaubt mit mir zu thun zu haben und michzu überlisten, er soll sich unerwartet der deutschen Na-tion gegenüber finden, ich werde noch ein Wenig derpreußische Minister sein, welcher der nationalen Strö-mung zu folgen gezwungen wird, das wird uns einevortreffliche Stellung auch den andern Mächten, be-sonders England gegenüber geben, Preußen würdensie einen kleinen échec wohl gönnen, aber vor demBrüllen des deutschen Löwen fangen sie an, einigeSchauer zu empfinden, und vor das europäische Fo-rum muß die Sache gebracht werden. Das ist ja sonstein so oft betontes Princip des Kaisers; eh bien, dies-mal soll er im vollen Licht Farbe bekennen, von dereinen Seite die europäischen Verträge, von der anderndie öffentliche Meinung in Deutschland, das giebt mireine vortrefflich flankirte Stellung!«

Und mit leichtem Lächeln rieb er sich die Hände.

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»Ich bewundere Eurer Excellenz Combination,« sag-te Herr von Keudell ebenfalls lächelnd, »ich bin über-zeugt, daß Napoleon uns in dieser Stellung nicht er-wartet.«

»Ich hoffe, daß er noch manches Unerwartete vonmir erfahren wird, ich weiß ein Wenig, wie man ihnnehmen muß,« sagte Graf Bismarck, »doch,« fuhr erfort, »jetzt kommt es darauf an, das Spiel zu mischen,Alles offen zu halten und den letzten Gedanken festin die Brust zu verschließen; ich werde nachher zumKönige gehen.«

Er dachte einen Augenblick nach.»Telegraphiren Sie an Perponcher,« sagte er zu Herrn

von Keudell, welcher sogleich einen Bogen Papier er-griff und sich zum Schreibtisch setzend, die lang-sam gesprochenen Worte des Ministerpräsidenten nie-derschrieb, »er solle dem Könige antworten, daß dieStaatsregierung – und ihre Bundesgenossen, wir müs-sen die Frage sogleich zu einer Angelegenheit desnorddeutschen Bundes machen, welche sie ja auch ist,«sagte er nachdenkend, »daß die Staatsregierung undihre Bundesgenossen augenblicklich überhaupt keinenBeruf hätten, sich gegenüber dieser Frage zu äußern,daß sie Seiner holländischen Majestät die Verantwor-tung für die eigenen Handlungen selbst überlassen,und daß die Staatsregierung, bevor sie sich über dieFrage äußern würde, wenn sie genöthigt werde, eszu thun, jedenfalls vorher sich versichern würde, wie

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diese Frage von ihren deutschen Bundesgenossen wievon den Mitunterzeichnern der Verträge von 1839,«er sann einen Augenblick nach, »wie von der öffent-lichen Meinung in Deutschland, welche gerade im ge-genwärtigen Augenblick in Gestalt des Reichstags einangemessenes Organ besitzt, aufgefaßt werden wür-de. – Da haben wir unsere Stellung,« sagte er lächelnd,während Herr von Keudell das Geschriebene noch ein-mal überlas, »zwischen zwei starken Deckungen, wirhaben die Hände frei und können das Weitere ruhigabwarten, und vorbereiten.«

Herr von Keudell reichte ihm das Papier.Graf Bismarck durchflog es schnell, ergriff eine Feder

und setzte mit raschem, kräftigem Zug seinen Namendarunter.

»Ich werde die Antwort dem Könige vorlegen,« sagteer dann, »sie engagirt zwar nach keiner Richtung, in-des darf sie doch nicht ohne Allerhöchste Approbationabgehen.«

»Excellenz von Thile,« meldete der Kammerdiener.Graf Bismarck neigte das Haupt – der Wirkliche Ge-

heimrath und Unterstaatssecretär von Thile trat ein.»Lord Loftus und Benedetti sind mit mir in’s Vorzim-

mer getreten,« sagte er, den Ministerpräsidenten be-grüßend, »ich habe sie gebeten, mir für einen kurz-en Augenblick in meinen Vortragsangelegenheiten desRessorts den Vortritt zu gestatten, weil ich eine Mit-theilung zu Eurer Excellenz Kenntniß bringen wollte,

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die mir soeben gemacht ist und die mich etwas frap-pirt hat.«

»Benedetti ist da?« rief Graf Bismarck, »das trifft sichvortrefflich, er macht sich selten, seit er so plötzlich,wie er sagt, zum Geburtstag des Königs von seinemUrlaub zurückgekommen, er soll eine kleine Überra-schung finden. – Doch – was haben Sie?« fragte erHerrn von Thile.

»Graf Bylandt war soeben bei mir,« erwiederte die-ser, »und theilte mir mit, daß die niederländische Re-gierung uns ihre bons offices behufs der von ihr vor-ausgesetzten Verhandlungen Preußens mit Frankreichüber das Großherzogthum Luxemburg anbiete; ich warüberrascht,« fuhr Herr von Thile fort, »und verstand inder That nicht recht –«

Graf Bismarck lachte.»Sie werden sogleich vollkommen verstehen,« rief er

und reichte dem Unterstaatssecretär den Bericht desGrafen Perponcher und den Entwurf seiner Antwort.»Lesen Sie. – Wäre die Sache nicht so ernst,« sagte er,während Herr von Thile die Papiere durchflog, »manmüßte sie in der That unendlich komisch finden! Daist der Großherzog von Luxemburg, der über den Ver-kauf seines Herzogthums mit Frankreich verhandeltund uns fragt, was wir dazu sagen, und zugleich,« fuhrer lachend fort, »bietet derselbe Großherzog von Lu-xemburg in seiner Eigenschaft als König der Nieder-lande uns seine Vermittelung mit Frankreich an. Das

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ist die Personalunion der Länder – und die Personalse-paration der Souveraine!«

Und wieder ernsten Blickes vor sich hinschauend,fuhr er fort:

»Sie wollen da einen hübschen, gordischen Knotenschürzen, aber sie vergessen, daß wir das Schwert ein-mal in die Hand genommen haben und wahrlich nichtzögern werden, diesen Knoten zu zerschneiden.«

Herr von Thile hatte seine Lectüre beendet.»Das ist in der That eine seltsame Überraschung,«

sprach er, die Papiere dem Ministerpräsidenten zurück-reichend.

»Nun,« rief Graf Bismarck, »Überraschung gegenÜberraschung! – Ist Graf Bylandt noch da?«

»Er wird in einer Stunde wiederkommen,« erwieder-te der Unterstaatssecretär, »ich habe ihm versprochen,sofort Eurer Excellenz seine Eröffnung mitzutheilen.«

»Ich bitte Sie, Excellenz,« sagte Graf Bismarck, »ihmzu antworten, daß wir nicht in der Lage seien, von dem– freundlichen Anerbieten seiner Regierung Gebrauchzu machen, weil die vorausgesetzten Verhandlungennicht bestünden.«

Herr von Thile verneigte sich.»Wollen Sie,« fuhr der Ministerpräsident fort, »aus

den Archiven alle Acten über die Verhandlungen undden Abschluß der Verträge von 1839, das Großher-zogthum betreffend, zusammenlegen lassen und mir

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zuschicken. Heute nachmittag wollen wir über die Sa-che nochmals sprechen. – Jetzt lassen Sie mich einenAugenblick mit den beiden Botschaftern reden, dannwill ich zum König.«

Im Vorsalon vor dem Cabinet des Ministerpräsiden-ten wartete während dieser Zeit der englische Bot-schafter Lord Augustus Loftus und Herr Benedetti, derBotschafter Napoleons III.

Lord Loftus, eine durchaus englische Erscheinung,hatte sich in phlegmatisch nonchalanter Stellung aufeinen Fauteuil niedergelassen, Benedetti stand vor ihm– sein glattes, lächelndes Gesicht zeigte keine Spur ir-gend eines Ausdrucks; in dieser eigenthümlichen Phy-siognomie vereinigte sich auf merkwürdige Weise dienichtssagendste Gleichgültigkeit mit dem Schimmer ei-ner scharfen Intelligenz.

»Herr von Thile schien sehr pressirt zu sein,« sagteer, »haben Sie eine Idee, Mylord, was in dieser ruhigenZeit ein solches Empressement veranlassen könnte?«

»Bah,« sagte Lord Loftus ruhig und langsam, »garnichts, irgend eine innere Angelegenheit des Ministeri-ums, eine Personalfrage, die schnell entschieden wer-den muß.«

Benedettis scharfer Blick senkte sich mit forschen-dem Ausdruck auf seinen ruhig vor ihm sitzenden Col-legen herab.

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»Mir will es scheinen,« sagte er dann, ihm einenSchritt nähertretend und ein Wenig die Stimme dämp-fend, »daß unter dem Schein der tiefen Ruhe undder ausschließlichen Beschäftigung mit inneren Ange-legenheiten hier sehr eifrig Politik gemacht wird – undzwar eine Politik, welche die Aufmerksamkeit von unsbeiden im Interesse unserer Regierungen in gleicherWeise zu erwecken geeignet ist.«

Lord Loftus schlug seine Augen groß zu seinem fran-zösischen Collegen auf und sah ihn fragend an.

»Es können Ihnen,« fuhr Benedetti immer mit ge-dämpfter Stimme fort, »eben so wenig wie mir die sichimmer intimer gestaltenden Beziehungen des hiesigenHofes zu Rußland entgangen sein. Sie erinnern sich derVerstimmung in St. Petersburg am Schluß des Kriegesim vorigen Jahre, und wie dann der General Manteuf-fel plötzlich von der Armee abberufen und in außer-ordentlicher Mission zum Kaiser Alexander geschicktwurde. – Was kann der Vertraute des Königs in St. Pe-tersburg gethan haben?« –

Lord Loftus zuckte leicht die Achseln.»Bald darauf,« fuhr Benedetti fort, »wurde unser hie-

siger russischer College, Herr von Oubril, der, wie Siesich erinnern, sich damals so äußerst beunruhigt überdie außerordentlichen Erfolge der preußischen Waf-fen und ihre Consequenzen zeigte, nach St. Peters-burg berufen, und als er zurückkam, war seine Spra-che eine total andere, er zeigte eine Befriedigung über

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die Lage der Dinge, welche scharf mit seinen frühe-ren Äußerungen contrastirte. – Das kann nicht ohneeine ernste Veranlassung geschehen sein,« fuhr er lang-sam und mit Betonung fort, »es muß dort etwas sti-pulirt sein, in ähnlichem Geheimniß wie jene Verträgemit den süddeutschen Staaten, die man jetzt publicirtund durch welche der Prager Frieden fast illusorischgemacht wird. Seit jener Zeit gehen die beiden Hö-fe von Berlin und Petersburg schärfer und energischerauf ihren Wegen vorwärts – Rußland im Orient, Preu-ßen in Deutschland, ohne daß jemals auch nur eineWolke von Mißtrauen zwischen ihnen bemerkbar ist.– Müssen da nicht gegenseitige Garantieen geschaffensein, welche uns mit Mißtrauen erfüllen können, beider Solidarität, in welcher die Interessen Englands undFrankreichs im Orient verbunden sind?«

»Mein lieber Ambassadeur,« sagte Lord Loftus, sichin seinem Sessel dehnend, mit leichtem Lächeln, »ichglaube, Sie sind geneigt, schwarze Wolken zu sehen,wo keine sind, was mich betrifft, so vermag ich in denVergrößerungen Preußens nur eine Bürgschaft mehrfür die dauernde Erhaltung des europäischen Friedenszu erblicken! Preußen war schlecht arrondirt, infolge-dessen unruhig und gefährlich für den Frieden, es hatjetzt, was es wollte und bedurfte, es wird eifrig an der

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Erhaltung des Friedens arbeiten, um seine Erwerbun-gen nicht auf’s Spiel zu setzen und sie sich zu assi-miliren. – Und Rußland?« fuhr er fort, »nun wir ha-ben ja den Pariser Frieden – und unsere Flotten, umseine Stipulationen aufrecht zu erhalten! – Ich sehenichts Beunruhigendes in den Freundschaftsbeziehun-gen der Höfe von Berlin und St. Petersburg, die ja aufVerwandtschaft beruhen und übrigens seit langer Zeittraditionell sind.«

Benedetti zog die Augenbrauen ein Wenig in die Hö-he und sah leicht seufzend mit einem eigenthümlichenBlick auf seinen Collegen herab.

Bevor er etwas antworten konnte, öffnete sich dieThüre des Cabinets des Ministerpräsidenten – die Her-ren von Thile und von Keudell traten heraus.

»Ich danke Ihnen nochmals,« sagte Herr von Thile,»daß Sie mir einen Augenblick den Vortritt gewährt,– Sie sehen, ich habe Ihre Geduld nicht lange in An-spruch genommen.«

Und er folgte Herrn von Keudell, welcher sich ge-gen die Diplomaten verneigend das Zimmer verlassenhatte.

Graf Bismarck erschien in der Thür seines Cabinets.»Guten Morgen, meine Herren Botschafter!« rief er,

mit freundlicher Neigung des Kopfes die Herren begrü-ßend, »ich stehe zu Ihrer Verfügung – wer von Ihnen istder Erste?«

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Benedetti deutete mit der Hand auf Lord Loftus,und der Vertreter Großbritanniens folgte dem Grafenin sein Cabinet.

»Ich will Sie nur einen Augenblick in Anspruch neh-men, mein lieber Graf,« sagte Lord Loftus, indem ersich dem Ministerpräsidenten, der vor seinem Schreib-tisch Platz nahm, gegenübersetzte, »die europäischeLage ist ja so ruhig, daß es kaum eine Frage giebt,über welche es nöthig wäre, unsere Meinung auszutau-schen, ich bin nur gekommen, um Sie nach dem Fort-gang der Verhandlungen über das Vermögen des Kö-nigs von Hannover zu fragen, ich hoffe, das wird sichAlles gut arrangiren?«

»Man macht manche Schwierigkeiten von Hietzingaus,« sagte Graf Bismarck, »welche verhindern, daß dieSache so schnell und so befriedigend erledigt wird, wieich es wünsche. Der König Georg hat seine Bevollmäch-tigten angewiesen, einen Theil der Krondomänen zuverlangen, Sie begreifen, daß ich das nicht zugestehenkann, daß ich der depossedirten Dynastie nicht in ih-rem früheren Königreich den Einfluß so großen Grund-besitzes geben kann, auch begreife ich diese Forderungnicht recht, denn der König tritt doch eigentlich alsGrundbesitzer in seinem früheren Königreich in einedirecte Unterthanenstellung – ja, wenn er die Annexi-on anerkennen wollte –

»Dann auch,« fuhr der Graf fort, »ist es nöthig, einenModus zu finden, um das Vermögen sicher zu stellen,

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damit es der König nicht etwa in thörichten Unterneh-mungen verbraucht. Ich habe das Interesse der Agna-ten zu vertreten und darf doch auch einer gegen Preu-ßen gerichteten Agitation nicht die Mittel an die Handgeben; das Alles erfordert Zeit – um so mehr, als die Be-vollmächtigten des Königs klagen, daß sie vom GrafenPlaten nur seltene und unklare, oft widersprechendeInstructionen erhalten.«

»Ich bitte, lieber Graf,« sagte Lord Loftus, den Mini-sterpräsidenten mit artiger Verneigung unterbrechend,– »ich bitte Sie, stets festzuhalten, daß ich in dieserganzen Angelegenheit mehr die persönlichen Wünscheder Königin, als ein Interesse Englands vertrete. IhreMajestät wünscht – natürlich – daß Ihr Vetter, der alsPrinz des englischen Hauses geboren wurde, nach demVerlust seines Thrones eine seiner Geburt und seinemRange angemessene Stellung in der Welt behauptenkönne –«

»Und,« sagte Graf Bismarck, »Sie können vollkom-men überzeugt sein, daß die Wünsche der Königin fürmich bestimmend sind, um so mehr, da sie vollkom-men übereinstimmen mit den Intentionen des Königs,meines Herrn, der auf das Innigste wünscht, daß diepolitische Catastrophe, welche er über das hannoveri-sche Welfenhaus hat verhängen müssen, die Stellung

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der hohen Familie nicht berühre. – Auch darf ich hin-zufügen, daß ich selbst dringend wünsche, ein so erha-benes, allen großen Höfen verwandtes Haus in würdi-gen und angemessenen Verhältnissen zu sehen. – DerKönig wird bei dem Abkommen unzweifelhaft das Ver-mögen eines royal duke von England erhalten, damiter dort seiner Würde entsprechend leben kann, wenner, was ja doch zweifellos das Beste wäre, später nachEngland geht. – übrigens,« fuhr er fort, »werde ich mirsogleich über den Stand der Verhandlungen Bericht er-statten lassen und Ihnen Mittheilung machen.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Lord Loftus, »es wird Ih-rer Majestät gewiß angenehm sein, zu hören, wie dieSache steht,« er machte eine Bewegung, um sich zu er-heben, »diese Frage an Sie zu richten war der einzigeGrund meines Besuches.«

»Darf ich Sie bitten, noch einen Augenblick zu blei-ben?« fragte Graf Bismarck in leichtem, fast gleich-gültigem Tone, »Sie können Ihre Regierung auf diePrüfung einer Frage vorbereiten, welche wohl näch-stens Gegenstand einer europäischen Conferenz wer-den könnte.«

Lord Loftus blickte mit dem höchsten Erstaunen auf.»Einer Conferenz?« rief er erstaunt, »wo könnte eine

Veranlassung dazu entstehen?«Graf Bismarck ergriff den Bericht des Grafen Perpon-

cher, welcher vor ihm auf dem Tische lag, und leicht indenselben hineinblickend, sprach er:

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»Der König von Holland hat unserem Gesandten imHaag Mittheilungen über einen vorbereiteten VerkaufLuxemburgs an Frankreich gemacht.« –

Lord Loftus rief mit höchster Spannung: »Also istdoch etwas an jenen Gerüchten gewesen, welche seitkurzem in den Journalen auftauchten und immer wie-der dementirt wurden?«

»Es scheint so,« sagte Graf Bismarck ruhig. – »DieStellung Luxemburgs,« fuhr er dann fort, »ist wesent-lich durch die internationalen Verträge bedingt, soll,nachdem der deutsche Bund nicht mehr existirt, irgendeine Änderung darin eintreten, so müssen die Vertrags-mächte zusammentreten und neue Garantieen schaf-fen, bis dahin müssen wir den status quo verteidigen,«fügte er mit kaltem Tone hinzu.

»Aber das kann ja zu einem ernsten Conflict führen!«rief Lord Loftus erschrocken.

»Wenn die europäischen Mächte nicht interveniren,gewiß,« erwiederte Graf Bismarck mit unerschütter-licher Ruhe, »wir werden vor solchem Conflict, denich auf das Äußerste beklagen würde und gewiß nichtprovociren werde, nicht zurückschrecken. – Es scheintmir übrigens,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort,»daß Sie ein Wenig dabei interessirt sind, Luxemburgist ein Schritt Frankreichs nach Belgien, und früheroder später könnte diese oder vielleicht eine anderefranzösische Regierung –«

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»Sie haben nichts dagegen,« sagte Lord Loftus, »daßich über unsere Unterredung vertraulich nach Londonschreibe?«

»Im Gegentheil,« erwiederte Graf Bismarck, »ver-traulich oder officiell, ich habe weder die Sache nochmeine Ansicht darüber zu verheimlichen. Es wird mirangenehm sein, wenn Sie mir Ihrerseits die Ansicht Ih-rer Regierung über die Sache mittheilen, und es wür-de mich besonders freuen, wenn sie mit der meinigenübereinstimmte.«

Lord Loftus stand auf.»Eine Gefahr für die Ruhe Europas,« sagte Graf Bis-

marck in leichtem Tone, »könnte aus der Sache nurdann erwachsen, wenn wir mit einem fait accompli oh-ne Zuziehung der Vertragsmächte überrascht würden.«

»Ich werde die Frage der schleunigsten ErwägungLord Stanleys empfehlen!« sagte Lord Loftus, indem ersich von dem Ministerpräsidenten verabschiedete, derihn bis zur Thür des Cabinets begleitete und Herrn Be-nedetti durch eine verbindliche Handbewegung zumEintritt aufforderte.

Der französische Botschafter nahm den Platz ein,welchen Lord Loftus soeben verlassen hatte.

»Sie werden sehen, mein lieber Botschafter,« sagteGraf Bismarck freundlich, indem er leicht mit einer Fe-der spielte, »ich habe lang nicht das Vergnügen gehabt,mich mit Ihnen zu unterhalten.«

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»Sie wissen, Herr Graf,« erwiederte Benedetti, »daßich ein Wenig angegriffen bin, ich war nur zurückge-kommen, um am Geburtsfeste Seiner Majestät nichtzu fehlen, und habe mich seitdem schonen müssen, esgiebt übrigens,« fuhr er fort, »bei der tiefen und erfreu-lichen Ruhe, in welcher sich Europa befindet, wenigGegenstände, über welche eine Besprechung nothwen-dig erscheinen könnte.«

Graf Bismarck schwieg, das Auge ruhig und klar aufden Botschafter gerichtet.

»Der einzige Punkt, der mich beunruhigt,« sagte die-ser, »ist der Orient, die Verhältnisse Serbiens nehmeneine gewisse bedenkliche Schärfe an und die HaltungÖsterreichs scheint nicht geeignet, dort beruhigendeinzuwirken, ich möchte glauben, daß alle europäi-schen Mächte, insbesondere auch Sie in Ihrer neuenPosition Ursache haben, auf der Hut zu sein, damit dierussische Politik keinen Schritt nach den Donaumün-dungen hin mache, denn jede Position, welche die Tür-kei dort verliert, fällt der Macht Rußlands zu.«

»Mein lieber Botschafter,« sagte Graf Bismarck ineinem nachlässigen Tone, »ich muß Ihnen gestehen,daß ich zu sehr mit dem Arrangement der etwas ver-wickelten deutschen Angelegenheiten beschäftigt bin,um diese mir ferner liegenden Fragen, welche ja in kei-ner Weise einen acuten Charakter haben, zu verfolgen.– Ich lese,« fuhr er mit einem fast unmerklichen Zucken

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der Augenwinkel fort, »niemals die Correspondenz desGesandten in Constantinopel.«

Ein Zug von Überraschung und Erstaunen fuhr überdas glatte Gesicht Benedettis und ein augenblickliches,schnell unterdrücktes Lächeln spielte um seine Lippen.

»Sollten Sie den Auftrag haben,« fuhr Graf Bismarckfort, »über irgend eine specielle Frage des Orients mei-ne Ansicht zu erfahren, so müßte ich Sie bitten, dieseFrage zu präcisiren und mir die Zeit zu lassen, michdamit zu beschäftigen.«

»Einen solchen Auftrag habe ich durchaus nicht,«sagte der Botschafter, »indes das Interesse, welches alleMächte an diesen Fragen haben müssen –«

»Wenn Rußland übrigens wirklich irgendwelche Schrit-te im Orient beabsichtigte oder vorbereitete,« sagteGraf Bismarck, »so würden doch die Interessen ande-rer Mächte vorzugsweise und in erster Linie engagirtsein, und,« fügte er hinzu, indem er sich emporrichteteund einen scharfen und festen Blick auf den Botschaf-ter richtete, »daß schließlich nichts ohne DeutschlandsWissen und Zustimmung geschehen würde, verstehtsich von selbst.«

Benedetti schwieg.»Es ist mir lieb, daß Sie gekommen sind,« sagte Graf

Bismarck nach einer kurzen Pause im ruhigsten Tone,»Sie können mir vielleicht ein Räthsel lösen, das ichnicht recht durchschaue.«

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Benedetti verneigte sich leicht und blickte den Mi-nisterpräsidenten erwartungsvoll an. »Graf Bylandt,«fuhr Graf Bismarck fort, indem er das Auge voll auf-schlug und den französischen Diplomaten mit unbe-weglichem Blick ansah, »Graf Bylandt hat uns die gu-ten Dienste des holländischen Cabinets angeboten fürdie dort vorausgesetzten Verhandlungen, welche wirmit Frankreich über das Großherzogthum Luxemburgzu führen haben würden.«

Das farblose Gesicht des Botschafters wurde um eineNüance blässer, ein jäher Blitz zuckte aus seinem Auge– schnell senkte er den Blick zu Boden und sprach mitleichtem Beben der Lippen:

»Graf Bylandt, – die niederländische Regierung, –Luxemburg – ich weiß in der That nicht –«

»Auch der König von Holland,« fuhr Graf Bismarckfort, »hat unserem Gesandten Confidenzen über ähnli-che Verhandlungen gemacht.«

»Der König von Holland!« rief Benedetti in einemvon Unwillen und Erstaunen gemischten Ton.

»Vielleicht können Sie mir den Schlüssel zu diesenMittheilungen geben,« sagte Graf Bismarck immer ingleich ruhigem Ton, »die mir nicht vollkommen klarsind, da mir von irgendwelchen Verhandlungen überLuxemburg nichts bekannt ist.«

Herr Benedetti hatte seine vollkommene Ruhe undFassung wieder gewonnen und erwiederte, ohne eine

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Muskel seines Gesichts zu bewegen, den fest auf ihmhaftenden Blick des Grafen Bismarck.

»Ich bin in der That,« sagte er, »in diesem Augen-blick außer Stande, eine genügende Aufklärung zu ge-ben, ich werde indes sogleich nach Paris schreiben undIhnen die Antwort mittheilen.«

»Ich bin gespannt, sie zu hören,« sagte Graf Bismarckruhig und kalt.

»Es möchte vielleicht,« fuhr der Botschafter fort,»sehr zweckmäßig sein, wenn ich im Stande wäre, so-gleich Ihre Ansicht über den Fall dort mitzutheilen.«

»Meine Ansicht?« fragte Graf Bismarck langsam, »eswird mir kaum möglich sein, dieselbe festzustellen, damir die Basis dazu fehlt, jedenfalls aber steht es beimir schon heute fest, daß der König von Holland, odervielmehr der Großherzog von Luxemburg, da man jaim Haag diese beiden Personen so scharf von einanderscheidet,« fügte er lächelnd hinzu, »daß der Großher-zog von Luxemburg kein Recht hat, über die Souver-ainitätsrechte im Großherzogthum zu disponiren ohneKenntniß und Mitwirkung der Mächte, welche die Stel-lung dieses Landes in den Verträgen von 1839 geregeltund garantirt haben.«

Benedetti konnte einen Ausdruck peinlicher Betrof-fenheit nicht verbergen.

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»Es wird also,« fuhr Graf Bismarck fort, »wenn je-ne Verhandlungen wirklich bestehn sollten, eine Con-ferenz jener Mächte erforderlich sein, was ja auch ge-wiß ganz den Ansichten des Kaisers, Ihres Herrn, ent-sprechen muß, der stets dazu neigt, die schwebendenFragen der Entscheidung des europäischen Areopagszu unterbreiten.«

Der Botschafter preßte die Lippen zusammen.»Also würden Sie eine Conferenz vorschlagen?« frag-

te er lebhaft.»Ich?« rief Graf Bismarck verwundert, »wie sollte ich

dazu kommen? Will denn ich etwas an dem status quodes Großherzogthums ändern? Ich bin ja zufrieden,wenn Alles bleibt, wie es ist!«

»Aber Ihre Stellung zu der Frage, die Stellung Preu-ßens?« rief Benedetti mit einer schwer unterdrücktenNüance von Ungeduld in der Stimme.

»Preußen?« fragte Graf Bismarck, »Preußen hatkaum eine Stellung zu derselben, im jetzigen Stadium,Deutschland – der norddeutsche Bund,« fügte er lang-sam hinzu, »das ist etwas Anderes.«

»Herr Graf,« sagte Benedetti wie einem raschenEntschluß folgend, »sprechen wir offen; wenn jeneVerhandlungen bestünden, worüber ich ja wohl baldNachricht haben werde, wenn der König von Hollandentschlossen sein sollte, Luxemburg an Frankreich ab-zutreten, wie würden Sie diese Arrondirung der fran-zösischen Grenzen auffassen, welche doch,« fügte er

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lächelnd hinzu, »verschwindend klein erscheint gegendie Ausdehnung, welche die preußische Macht im vo-rigen Jahre gewonnen hat?«

Graf Bismarck drückte die Fingerspitzen aneinanderund sprach nach einem kurzen Nachdenken:

»Sie vergessen, mein lieber Botschafter, daß ichnicht mehr auswärtiger Minister Preußens bin, son-dern Kanzler des norddeutschen Bundes, und daß ichalso in einer Frage, welche Deutschland angeht,« sag-te er mit Betonung, »keine Ansicht aussprechen kann,ohne die Mitglieder des Bundes befragt zu haben. Au-ßerdem –«

»Außerdem?« fragte Benedetti.»Die staatsrechtliche Stellung Luxemburgs zu Deutsch-

land,« sagte Graf Bismarck, »ist durch die Auflösungdes deutschen Bundes wesentlich alterirt, sie ist zwei-felhaft, Limburg geht uns nichts mehr an, in Luxem-burg ist das Besatzungsrecht der Festung der statusquo, der jedenfalls nicht ohne Weiteres geändert wer-den darf, aber anstelle der staatsrechtlichen Beziehun-gen Luxemburgs zu Deutschland sind die nationalenBeziehungen wesentlich in den Vordergrund getreten.«

Benedetti sah den Ministerpräsidenten mit großenAugen an.

»Sehen Sie, mein lieber Botschafter,« fuhr jener fort,»die Ereignisse des letzten Jahres haben den natio-nalen Stolz und die nationale Empfindlichkeit derDeutschen sehr lebhaft erregt, ich bin, wie ich schon

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bemerkte, nicht mehr preußischer Minister, sondernKanzler des norddeutschen Bundes, ich habe daher dieVerpflichtung, das deutsche Nationalgefühl in Rech-nung zu ziehen, und ich weiß nicht, ob die öffentlicheMeinung in Deutschland über diese luxemburger Fra-ge, wenn sie ernstlich auftauchen sollte, ebenso zwei-felhaft sein wird, als es das Staatsrecht vielleicht seinkönnte.«

»Aber diese öffentliche Meinung weiß nichts davon!«warf Benedetti ein.

»Was wollen Sie!« sagte Graf Bismarck in leichtemTone, »da man im Haag einmal angefangen hat, da-von zu sprechen, so werden morgen alle öffentlichenBlätter davon voll sein. Ich selbst weiß nicht, ob iches jetzt verantworten kann, die Sache der öffentlichenMeinung vorzuenthalten, der Reichstag ist versammelt– und wenn er sich der Frage bemächtigt –«

Benedetti rieb sich mit einiger Ungeduld die Hände.»Wenn ich Sie recht verstehe,« sagte er, »so müssen

Sie die Feststellung Ihrer Meinung abhängig machen–«

»Von der Ansicht der Mächte, welche die Verträgevon 1839 unterzeichnet haben,« sagte Graf Bismarckruhig, indem er bei jedem Satz einen Finger seinerlinken Hand mit der rechten berührte, »von den Ent-schlüssen unserer deutschen Bundesgenossen, von deröffentlichen Meinung, und,« fügte er hinzu, »von den

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Beschlüssen des Reichstags, wenn derselbe die Fragevor sein Forum zieht.«

Benedetti stand auf.»Sie sehen mich ein Wenig erstaunt, Herr Graf,« sag-

te er in ruhigem und verbindlichem Tone, »darüber,daß Ihr sonst so schneller Entschluß sich hier an soviele Bedingungen knüpft.«

»Mein Gott,« sagte Graf Bismarck mit leichtem Ach-selzucken, »meine Stellung ist unter diesen neuen Ver-hältnissen eine so complicirte geworden, ich muß mitso vielen Factoren rechnen –«

»Jedenfalls aber,« sagte Benedetti aufstehend, »darfich bei meiner Anfrage nach Paris schreiben, daß dieganze Frage hier im freundlichsten und versöhnlich-sten Geiste aufgefaßt und behandelt wird, wie es denso vortrefflichen Beziehungen der beiderseitigen Sou-veraine und Regierungen entspricht?«

»Wie könnten Sie daran zweifeln?« sprach Graf Bis-marck im verbindlichsten Ton, indem er den Botschaf-ter zur Thür geleitete. – »So,« rief er, als der französi-sche Diplomat das Cabinet verlassen, »Dank der Indis-cretion oder Besorgniß des Königs von Holland ist dasGewebe der Nacht an das Licht des Tages gebracht,morgen werden alle Cabinette Europas alarmirt sein,jetzt zum Könige – und dann – einen Wink an die deut-sche Nation!«

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SECHSTES CAPITEL.

In seinem hellen Arbeitscabinet im Palais zu Berlinstand König Wilhelm leicht über einen Tisch geneigtund blickte aufmerksam auf eine Reihe von Blättern,welche der vor ihm stehende Geheime Hofrath Schnei-der ihm vorlegte.

Der König, in seinem schwarzen Interimsrock, sahfrisch und blühend aus, der jugendlich kräftige Aus-druck des schönen, männlichen Gesichts im schneei-gen Haar und Bart hatte keine Verminderung erfah-ren durch die Mühen und Aufregungen des Feldzugesim vorigen Jahre, nur lag ein noch tieferer, sinnenderErnst auf diesen kräftigen Zügen, welcher, verbundenmit dem Schimmer einer ruhigen, stillen Milde, Ehr-furcht und Sympathie zugleich jedem einflößen muß-te, der in dies königliche Antlitz blickte.

Der Geheime Hofrath, dessen glatt gescheiteltesHaar noch um eine kleine Färbung weißer geworden,deutete auf ein colorirtes Costümbild, welches er demKönige vorgelegt hatte, und sprach mit seiner schönen,sonoren und ausdrucksvollen Stimme:

»Wie Ew. Majestät befahlen, habe ich die Zeichnun-gen der alten Uniformen, welche in dem Reiterfeste anEw. Majestät Geburtstag zur Vorstellung kamen, mitder genauesten historischen Treue anfertigen lassen.Hier sehen Ew. Majestät,« fuhr er fort, »das Costüm derGrands Mousquetaires des großen Kurfürsten, rother

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Rock mit Gold, die Schöße mit weißer Seide aufge-nommen, blaugoldenes Wehrgehäng, dreieckiger Hutmit weißblauen Federn und weite Stulpstiefel –«

Er legte das Blatt, welches der König aufmerksambetrachtet hatte, zur Seite.

»Und hier,« fuhr er fort, indem er ein zweites Blattvor Seine Majestät hinlegte, »die Dragoner von Fehr-bellin, in ihren weißen Röcken, um den Hals den sil-bernen Ringkragen mit dem rothen kurbrandenburgi-schen Adler, blaue Stulpenaufschläge und blanke Rei-terstiefel, in der Hand den wuchtigen Eisenhauer. –Hier,« sprach er dann, einige andere Bilder vorlegend,welche der König flüchtig betrachtete, »die CostümeLouis XIII. von der Quadrille des Herzogs Wilhelm, undhier die ungarischen Magnatencostüme und die Wala-chen –«

»Es war ein schönes Fest, das man da für mich arran-girt hat,« sagte der König, »und so ganz nach meinemSinne, noch ansprechender für mich als jenes Tournier,welches damals zu Ehren meiner Schwester Charlottegehalten wurde –«

»Dessen Bild auf der schönen Vase in Potsdam ge-malt ist,« bemerkte der Hofrath.

»Wie die Zeiten vergehen!« sagte der König, indemsein Auge freundlichen Bildern der Vergangenheit zufolgen schien und zugleich ein wehmüthiges Lächelnum seine Lippen spielte, »meine Schwester Charlotteist todt – und wie wenige sind noch übrig von jener

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fröhlichen Schaar, die sich damals so lustig tummel-te unter dem ernstfreundlichen Blick meines Vaters! –Wie viele Herzen, die damals in Liebe und Jugendmuthschlugen, ruhen im Grabe – und wie viele Gefühle inden Herzen, die noch schlagen, haben ebenfalls ster-ben müssen!«

Er stand einen Augenblick schweigend, das sinnendeAuge leicht verschleiert. Der Geheime Hofrath blicktevoll Theilnahme zu ihm empor.

Der König nahm das Costümbild, welches den Dra-goner des Großen Kurfürsten darstellte, in die Handund betrachtete es lange.

»Es hat mich wunderbar erfaßt,« sprach er dann,»als ich diese Reiter der vergangenen Tage verkörpertvor mir sah, gleichsam einen lebendigen Blick in dieVergangenheit tauchend, welche die Grundsteine leg-te zu dem Bau der heutigen Größe Preußens. – Daist der rothe Adler von Kurbrandenburg am Ringkra-gen des Reiters von Fehrbellin, hat er es wohl geahnt,der große Brandenburger, der Deutschlands Ehre undGröße so warm im Herzen trug, daß dieser rothe Ad-ler dem schwarzen weichen würde, und daß der Kö-nig von Preußen unter der schwarzweißen Fahne hochhinaus vollenden würde, was der Kurfürst von Bran-denburg begonnen? – Und der große Friedrich, dieserFürst mit der französischen Zunge und dem deutschenHerzen, was würde er sagen, wenn er seinen Enkelhier sehen könnte mit der Hand am Reichsschwert der

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deutschen Nation, die sich um mich schaart unter derschwarz-weiß-rothen Fahne!«

Der Geheime Hofrath schüttelte den Kopf.»Majestät,« sagte er mit leicht mürrischem Tone,

»das Roth ist eine Farbe, die mir nirgends gefällt als anden Kragen königlich preußischer Uniformen, an Fah-nen liebe ich es nicht, und meine Fahne wird immerschwarz-weiß bleiben, und diese Fahne wird Deutsch-land in Ordnung halten, ich hoffe, daß das Roth nie-mals zu viel Platz gewinnen wird in der preußischenFahne!«

Der König lächelte. »Ich weiß, daß Sie nicht leichtfür eine Neuerung zu gewinnen sind, nun – folgen Sienur fest und unbeirrt der alten Fahne – ich glaube, Siewerden in keine Conflicte gerathen, denn wohin ichsiegreich die Fahne Preußens trage, da wird Deutsch-lands Ehre und Größe keinen Schaden leiden. – Hierist übrigens noch eine Neuerung,« fuhr der König fort,indem er sich zu einem Seitentisch wendete, »die Sieinteressiren wird, da Sie ja mit Leib und Seele Soldatsind, die Commission, welche ich unter des Kronprin-zen Vorsitz habe zusammentreten lassen, um nach denErfahrungen des letzten Feldzuges die geeignetste Aus-rüstung der Infanterie in Erwägung zu ziehen, hat mireinige Modelle vorgelegt –«

Und er nahm einen Helm und reichte ihn dem Ho-frath.

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»Sehen Sie ihn an,« sagte der König, »er scheint mirviel zweckmäßiger als der frühere, er ist fast ganz auseinem Lederstück gepreßt, so daß alle Metallstückewegfallen, welche bisher die Nähte verdeckten, daswird ihn viel leichter machen.«

Der Geheime Hofrath wog den Helm in der Handund betrachtete ihn von allen Seiten.

»Im Felde sollen übrigens nur Mützen getragen wer-den,« sagte der König.

»Majestät,« sagte der Hofrath Schneider, indem erden Helm wieder auf den Tisch legte, »wenn dieseKopfbedeckung nicht im Felde getragen wird, so ist siejedenfalls sehr practisch; im Felde, wissen Ew. Maje-stät, welche Kopfbedeckung ich allen übrigen vorzie-he?«

»Nun?« fragte der König lächelnd.»Die alte schwarze Ledertuchmütze mit dem weißen

Landwehrkreuz von 1813, die hat ihre Probe bestan-den – und –«

»– Wilhelm Schultze,« lachte der König.»Auch Wilhelm Schultze hat seine Erfolge gehabt!«

erwiederte der Hofrath.»Und welche Erfolge!« sagte der König, indem er mit

freundlichem Blick dem Hofrath leicht auf die Schul-ter klopfte, »und so Gott will,« fügte er ernster hinzu,»wird der preußische Landwehrmann unter dem altenKreuze mit Gott für König und Vaterland überall und

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immer seinen Erfolg haben – so lange sie grün bleiben,die alten Tannenbäume im märkischen Sande!« –

»Majestät,« sagte der Geheime Hofrath, indem seineklaren, lebendigen Augen sich sinnend auf den Königrichteten, »wenn noch einmal, und ich habe so eineAhnung davon, eine Reprise vom Kurmärker und derPicarde auf dem großen Welttheater kommen sollte,dann nehmen Ew. Majestät mich mit und erlauben Siemir, die alte Mütze mit dem weißen Kreuz zu tragen –und so Gott will, Majestät, den Soufflet bekommen siedoch!«

In tiefem Ernst blickte König Wilhelm vor sich hin.»Wie wunderbar ist diese Zeit!« sprach er nach län-

gerem Schweigen, »welche gewaltigen, tiefen Erschüt-terungen und Veränderungen hat sie gebracht – einenunberechenbaren Schritt hat die Weltgeschichte ge-macht in der kurzen Spanne weniger Wochen! – Und– sonderbar,« fuhr er fort, »wenn sonst gewaltige Um-wälzungen sich vollzogen, so war es der Arm der Ju-gend, welchen die Vorsehung sich zum Werkzeug aus-ersah, jetzt aber bin ich, ein alter Mann, dazu be-stimmt, so Mächtiges und Außergewöhnliches auszu-führen.«

»Majestät,« rief der Hofrath, »der König von Preu-ßen wird niemals alt – denn im umgekehrten Sinnewie Ludwig XIV. kann er von sich sagen: le roi c’estl’état, und der preußische Staat ist immer jung, denn

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er verkörpert sich in der stets frischen Jugendblütheder Armee!«

»Ihre Königliche Hoheit die Frau Herzogin Wilhelmvon Mecklenburg!« meldete der dienstthuende Kam-merdiener und öffnete auf einen Wink des Königs denFlügel der Thüre.

Die frische, jugendliche Herzogin, Prinzeß Alexan-drine von Preußen, trat ein.

Rasch eilte sie auf den König zu und küßte ihmin kindlicher Ehrerbietung die Hand, dann nickte siefreundlich dem Geheimen Hofrath zu, der sich tief ver-neigte.

»Ich bringe Ew. Majestät einige der Photographienvon den Damen, welche am Reiterfeste mitgewirkt ha-ben,« sagte die Herzogin, indem sie eine kleine Mappeöffnete, die sie in der Hand trug, während der Königfreundlich sein Auge auf der schönen, lieblichen Er-scheinung ruhen ließ.

»Schneider hat mir soeben die Costümbilder vorge-legt,« sagte der König, »und wird,« fügte er lächelndhinzu, »mit seiner gewohnten Gewandtheit und Ge-nauigkeit eine Beschreibung der Sache aufsetzen zumGedächtniß dieses schönen Festes, für dessen Arrange-ment ich auch dir, liebe Alexandrine, nochmals herz-lich danke.«

Die Herzogin verneigte sich und warf dann einenBlick auf die Zeichnungen.

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»Vortrefflich!« rief sie, »da werden wir nur die Köpfenach den Photographien hineinfügen dürfen, und wirwerden herrliche Bilder haben.«

Sie zog eine Anzahl Photographien aus ihrer kleinenMappe und reichte sie dem Geheimen Hofrath.

Eine behielt sie in der Hand und betrachtete sie sin-nend.

»Da habe ich auch,« sagte sie mit etwas unsichererStimme, indem sie einen schüchternen Blick auf denKönig warf, »eine Photographie der Königin von Han-nover erhalten, Ew. Majestät wissen, wie sehr ich diehannoverische Familie liebe, die Königin ist ganz weißgeworden.«

Stumm streckte König Wilhelm die Hand aus und er-griff die Photographie, welche die Herzogin ihm reich-te.

Der Geheime Hofrath blickte mit bewegtem Aus-druck forschend auf den König.

Der König betrachtete lange schweigend das Bild.Seine Züge nahmen eine unendliche Weichheit undMilde an.

»Arme, arme Königin!« sagte er leise, »sie hat Schwe-res zu tragen! – Oh wie traurig ist es, daß jeder großeFortschritt in der Geschichte so viel Leiden mit sichbringen muß! – Wie gerne würde ich dieser könig-lichen Familie ihr Loos erleichtern und ihr eine Exi-stenz schaffen, die ihrer würdig ist und ihr eine großeund schöne Zukunft bietet, leider, leider wird mir dies

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durch die unversöhnliche Haltung des Königs Georg sosehr erschwert. – Verbietet er doch der Königin nochimmer, die Marienburg zu verlassen, wo sie sich ineiner so falschen Position befindet und ihr Schicksalschmerzlicher empfindet als irgendwo!«

Große Thränen fielen aus den Augen der Herzogin.»Mein Gott!« rief sie, »ich kann Ew. Majestät nicht

sagen, wie schmerzlich es mir ist, an die arme Königinauf der Marienburg zu denken, wenn ich mich erinne-re, wie ich vor zwei Jahren mit meinem Bruder dortwar, als wir von Norderney zurückkamen, wie schö-ne Stunden wir dort in dem glücklichen Familienkreiseverlebten – mit welchen Wünschen und Hoffnungenich von dort abreiste,« fügte sie seufzend hinzu, »undnun! – Man wird doch nichts Unangenehmes gegen dieKönigin thun?« fragte sie mit bittendem Tone.

Mit einem Blick voll Adel und Hoheit erwiederte Kö-nig Wilhelm:

»Ich war Prinz und Officier, bevor ich König wurde,und niemals werden die Rücksichten vergessen wer-den, welche man einer Dame, einer verwandten – undunglücklichen Fürstin schuldig ist,« fügte er mit Beto-nung hinzu. – »Die Königin wird sich eben darein fin-den müssen,« fuhr er ernst fort, »daß sie mein Gast ist,und die Sicherheit des Staates erfordert es, Vorkehrun-gen zu treffen, daß ihre Anwesenheit von der welfi-schen Agitation nicht als Vorwand oder Stützpunkt be-nutzt werde. – Könnte man doch,« fuhr er fort, »auf

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den König Georg wirken, daß er die Königin abreisenläßt, direct kann ich nichts dazu thun –«

Die Herzogin sann nach. – »Ich wußte,« rief sie,»daß Ew. Majestät stets groß und edel handeln wür-den, möchte es doch möglich sein, ein Wenig versöh-nend auf den König Georg einzuwirken, vielleicht –«

»Doch nun,« sagte der König, »stelle ich Schneiderfür das Arrangement der Bilder zu deiner Disposition,nimm ihn mit – und führt Alles recht hübsch und prä-cise aus!«

Das Gesicht der Herzogin hatte seine ganze frischeHeiterkeit wiedergefunden. Mit schalkhaftem Lächelnblickte sie auf den alten Vertrauten des KöniglichenHauses.

»Ich weiß nicht,« fügte sie, »ob der Herr GeheimeHofrath gern mit mir zu thun hat, ich habe ihm vielzu schaffen gemacht – früher im Garten von Sanssou-ci, wenn er zum König kam, nicht wahr,« sagte sie mitscherzender Frage, »ich war zuweilen eine recht unar-tige kleine Prinzeß?«

Der Hofrath verneigte sich gegen den König und sag-te mit einer feierlichen Stimme:

»Ew. Majestät würden es vermessen finden, wenn ichwagte, Ihrer Königlichen Hoheit der Frau Herzogin vorAllerhöchstdenselben ein Dementi zu geben!«

»Immer der Alte!« rief die Herzogin, »›mit ihm mußman nicht anbinden,‹« sagte schon der hochselige Kö-nig –«

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»Adieu!« rief König Wilhelm lachend.Die Herzogin küßte ihm die Hand und verließ das

Cabinet; mit tiefer Verneigung gegen den König folgteder Geheime Hofrath.

»Minister von Schleinitz steht zu Befehl,« meldeteder Kammerdiener.

Der König neigte zustimmend das Haupt, der Mini-ster des Königlichen Hauses trat ein, eine schlanke, ju-gendlich elastische Gestalt mit vollem dunkelschwar-zen Haar und Schnurrbart, weder in seinem Aussehennoch in seiner Haltung das Alter von fast sechzig Jah-ren verrathend, in welchem er damals stand. Er trugden blauen Interimsfrack der Minister mit dem schwar-zen Sammtkragen, auf der Brust den goldenen Sternder Großkreuze vom rothen Adler.

»Guten Morgen, lieber Schleinitz!« sagte der Königfreundlich, »wie geht es Ihnen, was macht Ihre Frau? –und die Fürstin Hatzfeld?«

»Ich danke Ew. Majestät unterthänigst,« erwiederteHerr von Schleinitz, »für die gnädige Frage, es gehtAlles bei mir nach Wunsch –«

»Machen Sie den Damen mein Compliment,« sagteder König verbindlich, »und nun, haben Sie den Ver-trag festgestellt?«

Herr von Schleinitz zog ein Papier aus seinem Porte-feuille.

»Zu Befehl, Majestät!« sagte er, »der Heirathsvertragzwischen Seiner Königlichen Hoheit dem Grafen von

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Flandern und Ihrer Hoheit der Prinzessin Marie vonHohenzollern ist nunmehr ganz nach der letzten Fas-sung, die ich Ew. Majestät vorgelegt habe, von SeinerHoheit dem Fürsten und dem Baron Notomb geneh-migt, und wenn Ew. Majestät demselben nun die Al-lerhöchste Approbation geben, so kann ich ihn mor-gen mit Notomb unterzeichnen – die Vermählung istauf den 25. April angesetzt, am 23. will des Königs derBelgier Majestät mit dem Grafen von Flandern hier ein-treffen, wie Ew. Majestät dann noch specieller durchdas Auswärtige Amt erfahren werden.«

»Wenn der Fürst von Hohenzollern einverstandenist, und Belgien ebenfalls,« sagte der König, indem erden Vertrag leicht durchflog, »so ist ja Alles in Ordnung– das ist ja eine Fürstlich Hohenzollernsche Familien-angelegenheit, in die ich mich nur, soweit das die Formerfordert, als Chef des Gesammthauses zu mischen ha-be, also unterzeichnen Sie den Vertrag.« –

Ein Schlag gegen die Thür ertönte.Der dienstthuende Flügeladjutant, Rittmeister Graf

Lehndorff, ein hoher, schlanker Mann, trat ein undmeldete in dienstlicher Haltung:

»Der Ministerpräsident Graf Bismarck bittet Ew. Ma-jestät in dringenden Angelegenheiten um Audienz.«

Erstaunt blickte der König auf.»Ich bitte ihn einzutreten,« sagte er.

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»Also, mein lieber Schleinitz, unterzeichnen Sie denVertrag, wie der Fürst von Hohenzollern ihn genehmigthat – und nochmals mein Compliment an Ihre Damen.«

Herr von Schleinitz zog sich mit tiefer Verneigunggegen den König zurück, indem er in der Thür einenleichten Gruß mit dem Grafen Bismarck wechselte,welcher raschen Schrittes hereintrat im weißen Waf-fenrock mit gelbem Kragen und Aufschlägen, den Sterndes Schwarzen Adlerordens auf der Brust, den glän-zenden Stahlhelm unter dem Arm.

»Was bringen Sie, Graf Bismarck?« sagte der König,den Ministerpräsidenten mit freundlichem Kopfnickenbegrüßend, »Sie sehen heiter aus – Sie haben also guteNachrichten.«

»Gute oder schlimme,« sagte Graf Bismarck, »wieman sie nehmen will, Majestät, für mich ist jede Nach-richt gut, welche Licht in eine unklare Situation bringt.Die erste Phase der Auseinandersetzung mit Frank-reich beginnt!«

Das Gesicht des Königs wurde tiefernst. Gespanntblickte er auf den Minister, welcher einige Papiere, dieer in der Hand getragen, auseinander breitete.

»Die Compensationsfrage taucht wieder auf,« sagteGraf Bismarck, »der Kaiser Napoleon will dem Königvon Holland Luxemburg abkaufen.«

»Luxemburg!« rief der König mit flammendem Blick,»deutsches Gebiet?«

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»Zu Befehl, Majestät,« sagte Graf Bismarck, »manwollte das so ganz hübsch im stillen abmachen und unsvor ein fait accompli stellen, glücklicherweise scheintder König Wilhelm III. ein Wenig besorgt geworden zusein und hat uns das Spiel aufgedeckt – wofür man ihmin Paris wahrscheinlich sehr wenig Dank wissen wird.– Befehlen Ew. Majestät, den Bericht des Grafen Per-poncher zu hören?«

»Geben Sie!« rief der König, und schnell den Berichtergreifend, durchlas er ihn aufmerksam.

»Zugleich,« sprach Graf Bismarck lächelnd, als derKönig geendet, »zugleich hat Graf Bylandt im Namendes Königs der Niederlande die Vermittlung bei denVerhandlungen mit Frankreich angeboten.«

»Eigenthümliches Spiel!« rief der König. »Sie habendoch,« fuhr er fort, »sogleich geantwortet, daß von ei-ner Abtretung deutschen Bodens – denn deutscher Bo-den ist Luxemburg – nun und nimmer die Rede seinkann!«

»Das habe ich gedacht, Majestät,« erwiederte GrafBismarck ruhig, »und es bei mir selbst als feste Richt-schnur meines Handelns festgestellt, aber,« fuhr er fort,»antworten möchte ich es noch nicht.«

Der König sah ihn fragend an.»Ich möchte nicht,« sagte Graf Bismarck, »sogleich

und in diesem Augenblick den Conflict provociren, denman unter diesen Umständen in Frankreich kaum wird

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auf die Spitze treiben wollen. – Sollte der Kaiser Na-poleon dies aber thun, so müssen wir ihm vor allemdie Rolle des Angreifers, der den europäischen Frie-den stört, klar vor aller Welt und vor den Cabinet-ten zuschieben, außerdem ist es nach meiner Meinungdie wesentlichste Bedingung für die Zukunft Deutsch-lands, daß der Krieg mit Frankreich – der nach mei-ner Überzeugung früher oder später kommen muß undkommen wird, ein wirklicher und wahrhafter National-krieg sei, ein solcher allein giebt uns die volle Sicher-heit des Sieges – und zugleich die Gewähr, daß durchden Sieg – und das Blut, das dieser kosten wird,« fügteer mit tiefernstem Tone hinzu, »Deutschland wirklicheinig werden wird. Ich möchte also diese Angelegen-heit zunächst weniger als Cabinetssache, vielmehr alseine nationale Frage behandeln und habe mir erlaubt,hier einen Entwurf der Antwort aufzusetzen, welcheich Perponcher geben möchte.«

Er reichte dem Könige das von Herrn von Keudellbeschriebene Blatt.

König Wilhelm las es langsam und aufmerksamdurch.

»Ich verstehe,« sagte er dann lächelnd mit demKopfe nickend, »ich verstehe, Sie haben da mit einemSchlage die Sachlage umgekehrt, gut, gut – ich sehe,Sie haben in der Schule zu Paris gelernt und verstehendie dortige dunkle Politik zu behandeln.«

Er sah einige Augenblicke sinnend zu Boden.

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»Welch’ labyrinthische Fäden dieser geheimnißvolleMann zieht!« sprach er dann mit fast trauriger Stimme,»ich kann es nicht leugnen, er hat für mich etwas An-genehmes, sympathisch Berührendes, ich habe oft dieFeinheit und Schärfe seiner Auffassung bewundert –namentlich, als ich in Baden mit ihm sprach, und gernmöchte ich mit ihm in guten Beziehungen stehen, aberman kann ihm nie trauen!«

»Weil er auch auf dem Throne niemals aufhört, Con-spirateur zu sein!« sagte Graf Bismarck, »das ist stärkerals er, diese ganze Sache ist wieder ganz im Verschwö-rungsstil arrangirt, ich bin übrigens sehr erstaunt, daßAlles so weit gedeihen konnte, ohne daß irgend einAvis darüber von Paris gekommen ist.«

Der König schwieg.»Wenn ich übrigens,« fuhr Graf Bismarck fort, »die

Ansicht auszusprechen mir erlaubt habe, daß bei rich-tiger Behandlung diese ganze Frage keinen kriegeri-schen Charakter annehmen werde, so darf man dochdie Augen nicht vor der Möglichkeit verschließen, daßdennoch ernste Verwicklungen daraus entstehen konn-ten, und da Ew. Majestät entschlossen sind, in keinemFalle zu dulden, daß Luxemburg an Frankreich abge-treten werde –«

»In keinem Falle!« rief der König.»So möchte ich Ew. Majestät unterthänigst bitten, so-

gleich nach dem Grundsätze zu verfahren: si vis pacem,

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para bellum – und Alles vorzubereiten, damit wir durchdie Ereignisse nicht überrascht werden.«

Der König neigte das Haupt und dachte einen Au-genblick nach.

Dann schritt er schnell zur Thür des Vorzimmers, öff-nete dieselbe und rief: »General von Moltke!«

Der berühmte Chef des Großen Generalstabs, aufwelchen damals der Feldzug von 1866 die Augen vonganz Europa gezogen hatte, trat in der Dienstuniformder Generale der Infanterie, den Helm unter dem Ar-me, ein.

In dienstlicher Haltung, das sinnende Auge zum Kö-nige aufgeschlagen, erwartete er die Anrede des Mon-archen.

»Mein lieber General,« sagte der König, »da Sie ge-rade da sind, können wir sogleich eine vorläufige Be-ratung über eine sehr ernste Frage halten. – Graf Bis-marck theilt mir soeben mit,« fuhr er fort, »daß zwi-schen Frankreich und Holland Verhandlungen überden Verkauf von Luxemburg bestehen –«

Der General preßte die feinen Lippen noch fester zu-sammen, und ein schnelles Licht strahlte aus dem tie-fen Blick seines Auges.

»Obwohl ich hoffe,« sprach der König weiter, »über-einstimmend mit dem Grafen Bismarck, daß die Sachesich friedlich ausgleichen wird, so müssen wir doch auf

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Alles gefaßt sein, da selbstverständlich Luxemburg nie-mals französisch werden darf. Überlegen Sie, was ge-schehen muß, um uns für alle Fälle vor Überraschun-gen zu schützen, natürlich dürfen keine sichtbaren Vor-bereitungen stattfinden.«

Das ernste, stille Gesicht des Generals belebte sich,mit ruhiger Stimme sprach er:

»Cöln, Coblenz und Mainz müssen verproviantirtund Alles vorbereitet werden, um diese Plätze sofortarmiren zu können, außerdem muß ein zuverlässigerCommandant von Luxemburg designirt werden, derbei der ersten ernsten Wendung der Sache sofort dort-hin abgeht.«

Der König neigte zustimmend das Haupt.»Wen würden Sie vorschlagen?« fragte er.»Den Generallieutenant von Goeben,« erwiederte

General von Moltke, ohne einen Augenblick zu zögern.»Goeben – Goeben, ja, das ist der rechte Mann da-

für, er hat etwas von Ihnen, lieber Moltke,« sagte derKönig.

»Er wägt wie ein Mann und wagt wie ein Jüng-ling,« sprach der General ruhig. »Natürlich müßtendie Mobilmachungsorders vollständig vorbereitet unddie eventuellen Dislocationen so angeordnet werden,«fuhr er fort, »daß wir in kürzester Frist in Frankreichsind, wenn es zum Kriege kommen sollte.«

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»Moltke ist seiner Sache sicher!« sagte der König, in-dem er mit freundlichem Lächeln den Blick auf demernsten Antlitz des Generals ruhen ließ.

»Es ist nicht Vermessenheit oder übergroßes Selbst-bewußtsein, Majestät,« erwiederte General von Molt-ke ruhig, »die französische Armee ist mitten in einerUmformung begriffen – und das ist der schlimmste Zu-stand für die Schlagfertigkeit einer Truppe, außerdemaber sind sie dort, wie ich meine, so vollständig unfä-hig, sich der Tactik der heutigen Kriegführung anzu-passen, daß ich hoffe, meines Erfolges sicher zu sein,und muß es einmal zum Kriege kommen, wie ich esauch fast glaube, so wünsche ich ihn lieber heute wiemorgen, denn je länger es dauert, je mehr Zeit hat derMarschall Niel, der einzige wirklich organisatorischeFeldherr, den sie dort haben, seine Gedanken und Plä-ne auszuführen.«

»Sie machen große Anstrengungen in Frankreich,«sagte der König nachdenklich, »um ihre Armee zu re-formiren, und unsere Erfahrungen für sich zu benut-zen.«

»Mögen sie machen, was sie wollen, Majestät!« riefGraf Bismarck lebhaft, »eines können sie uns nichtnachmachen – das ist der preußische Sekondelieuten-ant!«

»Graf Bismarck hat vollkommen recht,« sagte Ge-neral Moltke mit feinem Lächeln, »um solche Offi-ciercorps zu schaffen, wie die unsrigen, dazu gehören

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Jahrhunderte – eine Reihe von Regenten, wie wir siegehabt –«

»Und,« unterbrach der König lächelnd, »eine Reihevon Generalen, wie mein Haus sie fand – Winterfeldt –Scharnhorst – Moltke –«

»Und auch ein Wenig, Majestät,« sagte Graf Bis-marck, »das Material der vielverschrienen preußischenJunker –«

»Welche den Gehorsam lernen und die Treue nie ver-gessen!« sagte der König freundlich nickend.

»Ich freue mich ungemein, Majestät,« sprach GrafBismarck nach einer augenblicklichen Pause, »daß Ge-neral von Moltke so klar und sicher die Chancen desKrieges in’s Auge faßt, denn je weniger wir den Con-flict zu scheuen haben, um so sicherer werden wir ihnvermeiden. – Doch,« fuhr er fort, »ich möchte, mit Ew.Majestät Erlaubniß, die Gelegenheit zur sofortigen undvorläufigen Erörterung einer weiteren Frage benutzen.Ew. Majestät wissen, daß Holland schon seit dem vo-rigen Jahre das deutsche Besatzungsrecht von Luxem-burg beseitigt wünscht, man fingirt dort Besorgnisse,welche man wohl in der That nicht hat, welche in-des auch jetzt wieder den Prätext zu dem vorliegen-den Handel geben, und welche vielleicht auf die Cabi-nette nicht ohne Einfluß bleiben, um so mehr, als diestaatsrechtliche Stellung der Festung Luxemburg nachder Auflösung des deutschen Bundes verändert unddiscutabel ist, auch Frankreich wird nicht verfehlen,

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unsere Besatzung von Luxemburg als eine Bedrohungdarzustellen. – Da ich es nun,« fuhr er fort, »für einenrichtigen und nothwendigen Grundsatz halte, bei demBeginn einer Negotiation sich darüber klarzuwerden,welche Concessionen man etwa im Laufe der Verhand-lungen machen wolle und könne, und da es in diesemFalle sehr wesentlich ist, auch den Schein einer Be-drohung des europäischen Friedens, den Frankreich sogern auf uns werfen möchte – abzuweisen, so möch-te ich die Frage aufwerfen, ob Luxemburg als Festungfür das Verteidigungssystem Deutschlands nothwendigsei? – Wäre dies nicht der Fall, so würde es uns nochleichter werden, die Cabinette vollständig auf unsereSeite zu bringen und Frankreich zu isoliren.«

Der König warf ernst einen fragenden Blick auf denGeneral.

»Die Festung Luxemburg,« sagte dieser ruhig und be-stimmt, »darf niemals in französischen Händen sein,sie würde uns sehr hinderlich werden, wir unsererseitsaber bedürfen ihrer nicht, nöthigenfalls könnte man siedurch ein festes Lager bei Trier ersetzen, aber auch dasist nicht nöthig, unsere Festungen genügen vollkom-men.«

»So daß also die vollständige Beseitigung Luxem-burgs als Festung kein Bedenken hätte?« fragte GrafBismarck.

»Keines!« sagte der General.

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»Das müßte aber doch noch sehr genau erwogenwerden,« sagte der König bedenklich und zögernd.

»Ew. Majestät werden gewiß nicht glauben,« riefGraf Bismarck, »daß ich Concessionen entgegentra-gen werde, man muß nur klar darüber sein, ob Zuge-ständnisse überhaupt möglich sind, welche hier unterUmständen unsere politische Stellung sehr verbessernkönnen, und das dürfen wir nicht außer Acht lassen,schon wegen der Süddeutschen.«

»Sollten sie zweifeln können,« rief der König, »obhier der casus foederis vorliege?«

»Bei der Besatzungsfrage der Festung,« sagte GrafBismarck achselzuckend, »möchte ich nicht gewiß neinsagen, eine Frage der Abtretung nationalen Gebietes –das ist etwas Anderes, das ist eine deutsche Ehrensa-che, und daß sie als solche von der Nation erkannt underfaßt werde, dafür kann gesorgt werden!«

»So gehen Sie denn an’s Werk, mein lieber Graf,«sagte der König, »ich billige den von Ihnen genom-menen Standpunkt, behalte mir aber für die weiterenPhasen – namentlich für Concessionen – meine Ent-schließungen vor. – Sie, General von Moltke, bitte ich,die einschlagenden militairischen Fragen zu ausführ-lichem Vortrag vorzubereiten, den Sie mir morgen inGegenwart des Kronprinzen halten sollen. – Und las-sen Sie Goeben kommen!« fügte er hinzu.

»Zu Befehl, Majestät!« sagte der General.

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Der König grüßte freundlich, und beide Herren ver-ließen das Cabinet.

SIEBENTES CAPITEL.

Die Empfangssalons des Auswärtigen Amtes in Ber-lin waren hell erleuchtet – es war einer jener Abende,an welchen der Kanzler des Norddeutschen Bundes dieMitglieder des Reichstages, die Herren der Diplomatieund Alles empfing, was es in der Berliner Gesellschaft,im Civil- und Militairdienst, in der Finanzwelt, in Kunstund Wissenschaft Hervorragendes gab.

Eine zahlreiche Gesellschaft bewegte sich in den miteinfacher Gediegenheit ausgestatteten Räumen. – Ho-he Officiere aller Waffen belebten durch ihre glänzen-den Uniformen die Eintönigkeit des schwarzen Fracksder Herren vom Civil, die Diplomaten mit bunten Bän-dern und funkelnden Sternen standen theils in flü-sternden Gruppen zusammen, theils durcheilten sie dieSäle, hier und da einen bekannten Deputirten anre-dend und aus einem Gespräch über die innere Lage No-tizen sammelnd für ihre Berichte, welche dann je nachder mehr oder minder scharfen Auffassungs- und Com-binationsgabe den fremden Höfen ein mehr oder min-der treues Bild von den Verhältnissen des politischenLebens in Berlin übermittelten.

Trotz der zahlreichen Menge, welche bereits die Sä-le füllte, rollten immer noch neue Equipagen vor dasgroße Thor des Hôtels und zwischen ihnen traten noch

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immer neue Fußgänger ein, denn Niemand von denen,welche eine Einladung erhalten, wollte fehlen bei die-sen Soiréen, bei denen man die politischen und par-lamentarischen Größen sehen und sprechen konntein leichter und ungezwungener Unterhaltung, und woman hoffen durfte, vielleicht einen Blick in das gehei-me Weben und Treiben der großen politischen Maschi-ne zu thun, welche die Welt bewegte.

In dem ersten Salon stand Graf Bismarck, die Ein-tretenden begrüßend, bald mit würdevoller Artigkeiteinige Worte mit einem Mitgliede des Corps diploma-tique wechselnd, bald in cordialer Herzlichkeit einemDeputirten des Reichstages die Hand drückend – ertrug die Cürassieruniform, ungetrübte Heiterkeit lagauf seinem charaktervollen, ausdrucksreichen Gesicht.

Eben hatte er einen kleinen Mann von unscheinba-rer, schwächlicher Gestalt mit scharfem, intelligentemGesicht begrüßt, aus dessen lebhaften, dunklen Au-gen jener feine jüdische Verstand leuchtete, welcherbei den Nachkommen des auserwählten Volkes mit soüberraschender Schärfe sich in der Beurtheilung derFragen der Wissenschaft und Politik zeigt, nachdem er,jahrhundertelang gezwungen, sich ausschließlich demHandelsleben zuzuwenden, dieses seiner Herrschaftunterworfen.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, Herr Doctor Lasker,«sagte der Graf mit verbindlicher Artigkeit, »hoffentlichfinden wir später noch Gelegenheit, einige Worte zu

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wechseln, ich möchte Sie gern von Ihrer Oppositionbekehren,« fügte er lächelnd und mit dem Finger dro-hend hinzu.

Doctor Lasker verneigte sich und sagte: »Das wirdnicht ganz leicht sein, Excellenz!«

Einige in der Thür erschienene Herren traten artigzur Seite, und rechts und links freundlich mit der Handgrüßend schritt der Generalfeldmarschall Graf Wran-gel in den Salon. Freundliche Heiterkeit strahlte vondes alten Herrn charakteristischem faltenreichen Ge-sicht mit dem aufwärts gedrehten Schnurrbart, mit be-weglicher Leichtigkeit trat dieser Veteran der preußi-schen Armee einher in der Uniform seines ostpreußi-schen Cürassierregiments, den Orden Pour le méritemit Eichenlaub um den Hals, auf der Brust die Ster-ne des Schwarzen Adlers und des russischen Andreas-ordens neben dem ehrwürdigen Zeichen des eisernenKreuzes erster Klasse.

Rasch trat Graf Bismarck ihm entgegen, und in mili-tairischer Haltung sprach er im Tone dienstlicher Mel-dung:

»Generalmajor Graf Bismarck-Schönhausen à la suitedes Magdeburgischen Cürassierregiments Nr. 7, com-mandirt zur Dienstleistung als Bundeskanzler und Mi-nister der auswärtigen Angelegenheiten!«

»Danke, danke, mein lieber General!« sagte derFeldmarschall, indem er dem Ministerpräsidenten die

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Hand reichte und seinen Blick mit zufriedenem Lä-cheln über dessen militairisch feste, markige Gestaltgleiten ließ, »freue mir, freue mir sehr, Ihnen untermeinem Commando in den Marken zu haben, und ichfreue mir noch mehr,« fügte er freundlich lächelnd hin-zu, »daß Seine Majestät einen Cürassier bei die aus-wärtigen Angelegenheiten haben – der Pallasch bringtFestigkeit in die Hand, und was der gut gemacht hat,das werden Sie nicht mit die Federn verhunzen lassen,wie die Federfuchser es dazumal dem alten Blüchergethan.«

Graf Bismarck lächelte. »Das haben Eure Excellenzbei mir nicht zu befürchten,« sagte er, sich stolz auf-richtend, »die Loosung der preußischen Cürassiereheißt: Drauf!«

Freundlich mit der Hand grüßend schritt der Feld-marschall weiter.

Der Doctor Lasker war inzwischen in den zweitenSaal getreten und näherte sich einer Gruppe, welchein lebhaftem und eifrigem Gespräch begriffen war.

Hier stand der Geheimrath Wagener, der bekanntefrühere Begründer und Redakteur der »Kreuzzeitung«,eine trockene Gestalt von etwas steifer, bureaukrati-scher Haltung, zu welcher das von lebhaftem, unge-mein ausdrucksvollem Gebehrdenspiel bewegte blas-se, bartlose Gesicht einen gewissen Contrast bildete.Er sprach mit dem Abgeordneten Miquel, dem Bür-germeister von Osnabrück und früheren Führer der

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hannoverischen Opposition, einem mageren, mittel-großen Manne, dessen bleiches, etwas kränkliches Ge-sicht, von einer hohen Intelligenz durchleuchtet, sym-pathisch berührte, und der bei aller Schärfe der Dialec-tik stets in seinen politischen Gesprächen die feinstenFormen der guten Gesellschaft zu bewahren wußte.

»Ich wundere mich, Herr Geheimrath,« sagte Miquel,»daß Sie so lebhaft gegen die Ministerverantwortlich-keit sprechen. Im wohlverstandenen conservativen In-teresse Preußens selbst, sowie im Hinblick auf Süd-deutschland ist jene Verantwortlichkeit dringend nö-thig. – Würden Sie etwa die Interessen Ihrer Partei ei-nem Ministerium, einem mit dem Bundesrath regieren-den Ministerium ohne Verantwortlichkeit anvertrauenwollen? Ministerien können wechseln, und die con-servative Partei findet in einem Ministerium, dessenVerantwortlichkeit nicht gesetzlich genau geregelt ist,ebenso wenig Garantieen wie die liberalen Richtun-gen.«

»Ich bin stets gegen jede Ministerverantwortlich-keit,« erwiederte der Geheimrath Wagener, »weil sieim Princip die Grundsätze des monarchischen Staateszerstört und in der Praxis nichts bedeutet. – Einer star-ken Centralgewalt gegenüber – und ich hoffe, daß dieCentralgewalt des norddeutschen Bundes immer starkund kräftig sein wird – ist die Ministerverantwortlich-keit wirkungslos – und einer schwachen Centralgewalt

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gegenüber,« fügte er mit sarkastischem Lächeln hin-zu, »haben Sie ganz andere und wirksamere Mittel.Der Verfassungsentwurf ist ein Compromiß zwischenden vorhandenen berechtigten Elementen und Facto-ren, die constitutionelle Schablone kann uns hier nichthelfen – alle diese Amendements, welche bei der Be-ratung von den verschiedenen Seiten gestellt werden,sind keine Mittel zur Verbesserung, sondern nur zurVerhinderung.«

»Der Geheimrath hat vollkommen Recht!« sagte derAbgeordnete von Sybel, ein noch junger, starker Mannmit hellblondem Haar und frischem, rothem Gesicht,»die wirkliche Ministerverantwortlichkeit besteht nichtin der criminalistischen Verfolgung, sondern in derjährlich wiederkehrenden Discussion, in der öffentli-chen Meinung, jener sechsten Großmacht, vor der mansich beugen muß, und wenn auch alle anderen Groß-mächte wirkungslos wären. – Sehen Sie,« fuhr er fort,»gleich nach dem Kriege hat sich die Regierung beeilt,mit der öffentlichen Meinung Frieden zu machen. Dar-in liegt für mich die wahre Garantie! – Und dann –das Budgetrecht –, und darin hat der künftige Reichs-tag nach dem Verfassungsentwurf mehr Macht, als daspreußische Abgeordnetenhaus je besessen.«

Miquel schüttelte den Kopf.Lebhaft rief der Geheimrath Wagener: »Ich kann die

Unterstützung des Herrn von Sybel, so sehr ich mich

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freue, mit ihm einer Meinung zu sein, doch nicht in ih-rem Motiv acceptiren. Wir leben in einer Zeit, in wel-cher die Phrase eine gewaltige und sehr bedenklicheMacht hat, und für mich ist die gefährlichste Phra-se von allen die von der öffentlichen Meinung. Wasist öffentliche Meinung?« rief er, umherblickend, »wo-her kommt sie – und wohin geht sie? Ist die öffentli-che Meinung, welche diesen Reichstag beherrscht, ei-ne Parlamentstochter – oder nicht vielmehr eine Regi-mentstochter?«

Herr von Sybel lachte.»Sie sprechen gegen die Phrase,« sagte Miquel ruhig,

»und haben uns da doch soeben eine – in der That sehrhübsch pointirte – Phrase gemacht.«

»Das beweist, wie groß ihre Herrschaft ist, – daßselbst ihre Gegner sich ihr nicht entziehen können,«erwiederte Wagener lächelnd, »um so mehr muß mandiese gefährliche Herrschaft bekämpfen!«

»Da der Herr Geheimrath Wagener uns einmal aufdas Gebiet der Phrasen geführt hat,« rief der Abgeord-nete Braun, welcher ebenfalls zu der Gruppe getretenwar, in einer gewissen Erregung, »so muß ich ihm dochauf seine »Regimentstochter« mit dem Citat eines fran-zösischen Schriftstellers antworten: ›die Bajonette sindfür vieles vortreffliche Dinge – aber sich darauf setzenkann man nicht‹.«

Alle lachten.

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»Ja,« fuhr Braun noch immer lebhaft animirt fort,»blicken Sie in die Geschichte, nicht der Krieg machtdie öffentliche Meinung, sondern die öffentliche Mei-nung macht den Krieg, jeder Krieg ist überhaupt nurdas Ergebniß der vorangegangenen Volksentwicklung– sein Resultat ist nur das quod erat demonstrandumder Geschichte!«

»Meine Herren, meine Herren,« rief der kleine Doc-tor Lasker herantretend, »Sie debattiren ja so lebhaft,als ob der Reichstag hier in diesen Salon verlegt wä-re! – Lassen wir die Deputirten draußen, sie machenschon genug Lärm auf der Tribüne. – Wissen Sie,« fuhrer fort, »daß der Kronprinz von Sachsen angekommenist, um das Commando über das Zwölfte Armeecorpszu übernehmen? Das ist sehr erfreulich – ein mächti-ger Schritt zur militairischen Einheit!«

»Wenn nur die civile Freiheit mit der militairischenEinheit käme!« sagte der Abgeordnete Braun, »aber –«

»Still, still!« rief Lasker. »Alles hat seine Zeit; lassenwir uns die eine Errungenschaft nicht verkümmern,weil wir die andere noch nicht haben, man steigt ei-ne Leiter nicht mit einem Schritt hinauf.«

Eine gewisse Bewegung wurde im ersten Salon be-merkbar. Man sah den Grafen Bismarck schnell zurThüre schreiten – mit ehrerbietigem Gruß empfing erden Prinzen Georg von Preußen, einen großen, schlan-ken Mann von vierzig Jahren; ein blonder, dichter

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Backenbart umrahmte das blasse Gesicht von kränkli-chem, geistig bewegtem, aber etwas schwermüthigemAusdruck. Der Prinz trug die preußische Generalsuni-form, er unterhielt sich längere Zeit mit dem Minister-präsidenten und trat dann, indem er mit artiger Be-wegung dessen weitere Begleitung ablehnte, in denzweiten Salon. Sein Blick schweifte einige Augenblickeüber die Gesellschaft, dann trat er zu einem Herrn imschwarzen Frack mit mehreren Decorationen hin, wel-cher soeben allein in der Mitte des Saales stand. Kaumbemerkte der die Annäherung des Prinzen, als er ihmschnell entgegeneilte und sich tief verneigte.

Der Prinz reichte ihm die Hand.»Guten Abend, Herr von Putlitz!« rief er, »ich hät-

te kaum erwartet, Sie hier zu sehen, – was macht derDichter auf dem Parquet der Politik?«

»Wenn der Dichter sich von dem Boden des Lebensloslöst, Königliche Hoheit,« erwiederte Gustav zu Put-litz mit Ton und Haltung des vornehmen Weltmannes,»so schneidet er die Wurzeln ab, welche die Blüthenseiner Phantasie ernähren müssen, – übrigens,« fuhrer lächelnd fort, »könnte ich Eurer Königlichen Hoheitdie Frage zurückgeben.«

Prinz Georg lächelte mit einem trüben Anflug.»Wenn ein Prinz in seinen Mußestunden einige Versemacht, so darf man ihn noch nicht einen Dichter nen-nen!«

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»Lassen wir also den Prinzen,« sagte Putlitz, sich ver-neigend, »und sprechen wir von G. Conrad! – Ich ha-be sein Schauspiel Elektra gelesen, welches er die Gü-te hatte mir zuzuschicken, und ich kann Eure Königli-che Hoheit versichern, daß ich darin den Geist und dieSprache des wahren Dichters erkannte.«

»Wirklich?« rief der Prinz, indem ein freudiger Strahlsein Auge belebte.

»So gewiß,« fuhr Herr von Putlitz fort, »daß ich denVerfasser bitten möchte, mir zu erlauben, dies Stücknach meiner Bühnenerfahrung für die scenische Auf-führung vorzubereiten.«

»Sie glauben in der That,« rief Prinz Georg, indemsein bleiches Gesicht sich mit heller Röthe färbte, »daßes möglich wäre, die Elektra aufzuführen?«

»Ich bin davon überzeugt und rathe dringend zudem Versuch. – G. Conrad,« fuhr er fort, »hat die Ge-stalt der Elektra, welche Euripides der wahren Wür-de der Weiblichkeit entkleidet, wieder in ihrer Reinheithergestellt und dem Herzen sympathisch gemacht, dieVerse – ich muß es sagen – erinnern zuweilen an denReiz der Sprache Goethes.«

Ein glückliches Lächeln spielte um den Mund desPrinzen. »Sie machen mir eine große Freude, Herr vonPutlitz,« sagte er, »darf ich Sie bitten, mich morgenzu besuchen, wir wollen dann weiter darüber spre-chen. Oh,« fuhr er mit einem Seufzer fort, »es machtso glücklich, eine Thätigkeit zu haben, mit der man

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vielleicht hie und da ein Menschenherz erfreuen kann,das brächte Ziel und Beruf in ein Leben, dem Schwächeund Kränklichkeit den Kreis der harten Arbeit in demRingen und Kämpfen der Welt verschlossen haben.«

Herr von Putlitz blickte mit inniger Theilnahme indas edle, traurig bewegte Gesicht des Prinzen. »DiesesZiel,« sagte er, »ist gewiß eben so groß und herrlich alsirgend ein anderes – und vielleicht noch befriedigenderfür ein so großes, warmes Herz, als es aus den Dichtun-gen Conrads zu uns spricht,« fügte er sich verneigendhinzu.

»Was sagen Sie zu dem Tode von Cornelius?« sagteder Prinz nach einer kurzen Pause.

»Ein harter Schlag für die Kunstwelt,« erwiederteHerr von Putlitz traurig. »Der alte König Ludwig vonBayern hat an Frau von Cornelius aus Rom einenBrief geschrieben, worin er an die Sonnenfinsternißanknüpft und sagt: »Die Sonne verfinsterte sich, alsder erlosch, welcher der Kunst eine Sonne war. Jenescheint wieder, aber schwerlich kommt ein Corneliuswieder.«

»Wahr, wahr!« rief der Prinz, und mit träumerischemAusdruck fügte er hinzu: »Wie schön muß es sein, zusterben nach einem Leben, das solche Schöpfungenhinterläßt! – Also auf morgen!« sagte er dann zu Herrnvon Putlitz und wendete sich nach einem freundlichenKopfnicken zu dem französischen Botschafter Benedet-ti, welcher in seine Nähe getreten war.

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Graf Bismarck war in den Saal getreten und unter-hielt sich kurze Zeit mit den Mitgliedern des diploma-tischen Corps.

Dann trat er auf einen ziemlich großen Mann zu,dessen röthliches Gesicht mit hoch hinauf kahler Stirn,über welche eine breite Narbe lief, und mit dunkle-rem Vollbart, ihm das Aussehen eines einfachen Land-junkers gab, wenn nicht die scharfen, beweglich um-herspähenden Augen von einer lebhaften und erregtengeistigen Thätigkeit Zeugniß abgegeben hätten.

»Guten Abend, Herr von Bennigsen!« sagte der Mini-sterpräsident in äußerst höflichem Tone, jedoch ohnewärmere vertrauliche Nüance, »ich freue mich, Sie beimir zu sehen, fast fürchtete ich, daß Sie sich von hierfernhalten würden.«

»Wie könnten Eure Excellenz das glauben!« erwie-derte Herr von Bennigsen, sich verneigend, »ich habedoch seit Jahren bewiesen, daß ich dem Werke, wel-ches Eure Excellenz ein so gutes Stück vorwärts geför-dert haben, alle meine Kräfte zu widmen bereit bin.«

»Gewiß!« erwiederte Graf Bismarck, »aber dennochhätte ich hoffen können, Ihre Unterstützung bei demAusbau des Geschaffenen zu finden, statt dessen se-he ich mit großem Bedauern, daß bei den Beratungenüber die Verfassung Sie und die hannoverischen Ab-geordneten Ihrer Partei mir ebenso viel Schwierigkei-ten in den Weg legen, als die partikularistischen Rit-terschaften und die Anhänger des Welfenthums. – Auf

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diese Weise kommen wir nicht weiter auf dem Wegezum Ziel, welches Sie als das Ihrige ebenso sehr be-zeichnet haben, wie ich danach strebe.«

»Ich kann meiner Überzeugung in staatlichen Prin-cipienfragen nicht untreu werden,« erwiederte Herrvon Bennigsen, »in der practischen Ausführung desEinigungswerkes werden Eure Excellenz meiner eif-rigsten Unterstützung stets sicher sein, ebenso sehrin Deutschland als in meinem besonderen VaterlandeHannover.«

»Hannover ist sehr schwierig!« sagte Graf Bismarcknachdenklich, ich hatte gehofft, daß das preußischeRegiment dort freundlicher aufgenommen werdenwürde, es scheint, daß auch Ihre Partei sich über dieStimmung des Landes getäuscht hatte, die Agitationendes Königs Georg finden einen fruchtbaren Boden.«

»Der König Georg, Excellenz,« sagte Herr von Ben-nigsen, »ist für die Hannoveraner nur die Verkörperungder Autonomie und Selbstständigkeit oder unabhängi-gen Selbstverwaltung des Landes. Dieses allen Hanove-ranern eingeborene Unabhängigkeitsgefühl wird vonden Agenten des Königs mit Geschick benutzt, wäh-rend die unteren Organe der neuen Verwaltung es oftohne Noth verletzen. Die Dictatur beängstigt die Be-völkerung und läßt ihr das Vergangene in schöneremLichte erscheinen. Das beste Mittel ist eine möglichstschnelle Organisation der Verwaltung auf autonomer

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Basis, man müßte dazu Vertrauensmänner des Landesheranziehen.« –

»Vertrauensmänner!« sagte Graf Bismarck, »wer hatdas Vertrauen des Landes?«

Herr von Bennigsen sah ihn ein Wenig befremdet an.»Wie sollen sie ermittelt werden? Soll das Land sie

wählen? – Das würde eine bedenkliche Bewegung her-vorrufen und vielleicht noch bedenklichere Resultateliefern, soll ich sie berufen? Haben sie dann das Ver-trauen des Landes? Die Frage ist nicht leicht,« fuhrer fort, »ich habe wohl auch schon an Vertrauensmän-ner gedacht, ich will mir das noch überlegen, vielleichtsprechen wir bald wieder darüber.« Herr von Bennig-sen verneigte sich.

Graf Bismarck wendete sich zur Seite und standdem damaligen Kronoberanwalt des Appellationsge-richts zu Celle, früheren hannoverischen Staatsmini-ster Windthorst gegenüber.

Es war kaum möglich, daß zwei Persönlichkeiteneinen schärferen Contrast bildeten, als Graf Bismarckund Herr Windthorst.

Der frühere hannoverische Justizminister, im dama-ligen Augenblick Bevollmächtigter des Königs Georgfür die Verhandlungen über die Vermögensabfindung,

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erschien in seiner auffallend kleinen, durch die ge-bückte Haltung noch niedrigeren Gestalt fast zwerg-haft neben dem hohen, mächtigen Wuchs des Bundes-kanzlers. Ebensoviel freie Offenheit, bewußte und stol-ze Kraft als in den markigen Zügen des Grafen Bis-marck lag, ebensoviel versteckte List und Schlauheitdrückten die geistreichen Züge des eigenthümlichen,charaktervoll häßlichen Gesichts Windthorsts aus. Einsarkastisches Lächeln spielte oft um den breiten, aberbeweglichen und ausdrucksvollen Mund, eine Brillemit großen runden Gläsern schien mehr den Zweckzu haben, die Augen zu verhüllen, als das in der Thatschwache Gesicht zu unterstützen, denn der spähen-de Blick des kleinen grauen Auges richtete sich im Ge-spräch fast immer über den Rand der Brille auf denvor ihm Stehenden. Die breite, runde, mächtig gewölb-te Stirn war überdeckt von sehr dünnen, kurzen grau-en Haaren, die auffallend kleinen, weiblich zierlichenHände, welche aus den weiten, Ärmeln des altmodi-schen Fracks hervorspielten, begleiteten die Rede mitlebhafter Gestikulation, das Kinn begrub sich oft in dieweite weiße Halsbinde, während das Auge von untenherauf den Eindruck der gesprochenen Worte zu ver-folgen versuchte.

Er trug den Stern des österreichischen Ordens dereisernen Krone auf der Brust, das Commandeurkreuzdes hannoverischen Guelfenordens an lang herabhän-gendem blauen Bande um den Hals.

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»Nun, mein lieber Minister,« sagte Graf Bismarck,ihn artig begrüßend, »wie stehen die Vermögensver-handlungen des Königs Georg – sind Sie zufrieden?«

»Excellenz,« erwiederte Herr Windthorst im pronon-cirten Gaumenton des westphälischen Dialects von Os-nabrück, »es geht langsam vorwärts. Ihre Commissari-en sind ein Wenig zäh.« –

»Ah?« rief Graf Bismarck, »das ist gegen ihre Instruc-tion, ich kann es nicht recht glauben; sollte nicht vonIhrer Seite die Sache etwas erschwert werden, Sie be-stehen auf der Herausgabe von Dominalgut –«

»Nicht ich, Excellenz,« sagte Herr Windthorst, überdie Brille hin zu dem Ministerpräsidenten hinauf-blickend, »es ist so die Instruction von Hietzing, wirsind ja hier nur Mandatare –«

»Aber wie ist es möglich, daß man dort halbe undzweiseitige Instructionen giebt?« fragte Graf Bismarck,»und bei der Haltung, die der König einmal einzu-nehmen für gut befunden hat, würde doch ein reinesPrincip richtiger sein und die Verhandlungen beför-dern, was sollen dem König Domänen im preußischenLande? Und auf der andern Seite: Können wir einengroßen Grundbesitz dem Könige in einem Lande ge-ben, in welchem er die Landeshoheit des Königs vonPreußen nicht anerkennt?«

Herr Windthorst zuckte die Achseln. »Eure Excellenzdürfen nicht vergessen,« sagte er mit leichtem Lächeln,

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»daß unsere Instructionen vom Grafen Platen kom-men, es sind da verschiedene Wünsche, der Kronprinzmöchte die Jagdreviere behalten, die Königin will dieMarienburg nicht aufgeben –«

»Die Marienburg ist Privateigenthum Ihrer Maje-stät,« sagte Graf Bismarck ernst, »und wird ihr nie strei-tig gemacht werden, auch Herrenhausen, diese histo-rische Erinnerung des Welfenhauses, soll dem Königegelassen werden, aber die übrigen Domänen – das gehtnicht!«

»Es ist mir lieb, wenn Eure Excellenz mir darübereine bestimmte Erklärung geben, das wird unsere Stel-lung wesentlich verbessern, bis dahin werden wir kei-ne bestimmten Anweisungen erhalten, denn Graf Pla-ten,« er spielte mit den kleinen, spitzigen Fingern andem Bande des Guelfenordens, »schließen Sie ihn inein Zimmer allein mit zwei Stühlen ein, wenn Sie nacheiner Stunde öffnen, so wird er zwischen beiden Stüh-len auf der Erde sitzen.«

Graf Bismarck lachte.»Übrigens, mein lieber Minister,« fuhr er ernster fort,

»muß ich Ihnen sagen, daß auch die fortwährende Agi-tation in Hannover, deren Fäden nach Hietzing offendaliegen, nicht geeignet ist, unser Entgegenkommen inden Vermögensverhandlungen zu unterstützen.«

»Ich beklage diese vollkommen unnützen Agitatio-nen,« sagte Windthorst, »glaube indes nicht, daß sie

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ernsthaft etwas zu bedeuten haben, wenn nicht,« füg-te er mit einem spähenden Blick hinzu, »die Fehler derpreußischen Verwaltung ihnen immer neue Nahrunggeben!«

»Mein Gott!« rief Graf Bismarck, »ich kann nichtin allen unteren Organen stecken, was wäre denn zuthun, um diese Fehler zu vermeiden? Man hat mir vonder Berufung von Vertrauensmännern des Landes ge-sprochen, um mit ihnen die Organisation der Provinzzu berathen –«

»Hm, hm,« machte Windthorst, »ich will nichts da-gegen sagen, das kann vielleicht ganz gut sein, nochbesser aber wäre es nach meiner Ansicht, ernste undbewährte Kräfte aus Hannover direct in die preußischeRegierung zu ziehen, das würde der Provinz Vertrauenund das Bewußtsein geben, im Rathe der Krone vertre-ten zu sein.«

Graf Bismarcks Auge sah einen Augenblick scharfund forschend zu Herrn Windthorst hinab, ein eigent-hümliches Zucken bewegte eine Secunde seine Lippen.»Das wäre ein Gedanke!« sagte er dann wie betrof-fen von dem Worte und nachdenklich vor sich hin-blickend, »aber wie, für die innere Verwaltung? Daswäre schwierig, aber,« fuhr er fort, wie von einer plötz-lichen Idee erfaßt, »die hannoverische Gesetzgebungund Rechtspflege ist ja stets ein Muster gewesen, daswäre etwas – für die Justiz,« und als folgte er einer inihm auftauchenden Gedankenreihe, brach er ab. Herr

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Windthorst schlug das Auge zu Boden – ein unwillkür-liches Lächeln flog über sein Gesicht.

»Die hannoverische Justiz hatte allerdings vortreffli-che Kräfte,« sagte er mit bescheidenem Tone.

»Wie könnte ich das vergessen, wenn ich vor Ihnenstehe?« erwiederte Graf Bismarck verbindlich.

Herr Windthorst verneigte sich.»Ihre speciellen Freunde, die hannoverischen Katho-

liken, sind uns auch nicht günstig gesinnt,« sagte GrafBismarck.

»Ich sehe keinen Grund dafür,« sagte Herr Windt-horst, »allerdings müssen sie mit Vorsicht und Ge-schicklichkeit behandelt werden; kann ich durch mei-ne Erfahrung und meinen Einfluß in dieser Richtungzur Beruhigung und zur Consolidirung der Verhältnis-se beitragen, so werden Sie mich stets bereit finden.«

»Ich danke Ihnen,« sagte Graf Bismarck, »ich hof-fe, wir werden noch Gelegenheit finden, eingehenderüber diese hannoverische Frage zu sprechen, jetzt wir-ken Sie soviel Ihnen möglich dahin, daß man in Hiet-zing, wenn man die neuen Verhältnisse nicht anerken-nen kann und will, ihnen wenigstens practisch Rech-nung trägt, hier werden Sie in der Vermögensfrage diegrößte Liberalität finden.«

Und mit freundlicher Verneigung wendete er sichzur Seite. Sein suchender Blick fand den Dr. Lasker,

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welcher im Gespräch mit dem Geheimrath Wagener ei-nige Schritte vor ihm stand. Der Ministerpräsident nä-herte sich, Herr Wagener trat zurück.

»Nun, mein lieber Doctor,« sagte Graf Bismarck lä-chelnd, »muß ich einmal ein ernstes Wort mit Ihnensprechen. Sind Sie nicht zufrieden mit dem, was inDeutschland geschehen ist?«

»Gewiß, Excellenz,« sagte Doctor Lasker sich vernei-gend und das scharfe, geistvolle Auge zu dem Mini-sterpräsidenten emporrichtend, »gewiß bin ich zufrie-den, glücklich über den mächtigen Schritt, welchenDeutschland durch Ihre Festigkeit und Energie zu sei-ner Einigung gethan hat, und in Ihrer auswärtigen Po-litik werden Sie mich stets an Ihrer Seite finden, aberin den inneren Fragen –«

»Ich begreife Ihre Unterscheidung nicht recht,« sagteGraf Bismarck ernst. »Ich kann Sie versichern, daß iches stets für die Aufgabe einer ehrlichen Regierung ge-halten habe, für möglichste Freiheit des Individuumsund des Volkes zu streben und zu arbeiten, soweit dasmit dem Staatswohl vereinbarlich ist.«

»Es fällt mir nicht einen Augenblick ein,« sagte Doc-tor Lasker, »an dieser ehrlichen und aufrichtigen Über-zeugung und Absicht Eurer Excellenz zu zweifeln, in-des,« fuhr er mit leichtem Lächeln fort, »möchte es viel-leicht schwerer sein, uns über das Maß der mit dem

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Staatswohl vereinbarlichen Freiheit und über die Mit-tel und Wege ihrer Begründung und Erhaltung zu ver-ständigen.«

»Vielleicht ist mein Maß weiter noch und reicher alsdas Ihrige,« sagte Graf Bismarck mit gedankenvoll sin-nendem Ausdruck. »Und die Wege? – Glauben Sie dennernsthaft,« fuhr er lebhafter fort, »daß die Freiheit be-gründet wird, wenn die Regierung den Abgeordnetendes Volkes Diäten zahlt, ist England kein freies Land,ohne daß die Deputirten besoldet werden, und,« riefer erregter, »was soll es heißen, daß die Herren gegenden Militairetat und die Feststellung des Militairbud-gets Opposition machen? Wo wären wir ohne die star-ke Armee? Vor dem Krieg konnte ich das verstehen, Siewollten kein Spielzeug für Paraden machen, aber jetzt?– Sie freuen sich der Früchte des Sieges und wollen dasWerkzeug nicht kräftigen, das dazu berufen war, dieseFrüchte zu erkämpfen, das vielleicht dazu berufen seinwird, sie zu verteidigen?«

Ernst blickte Doctor Lasker auf.»Lassen Sie mich offen sein, Excellenz!« sagte er, –

»ich gehöre nicht zu den Anbetern bei grauen Theori-en, welche die Freiheit nach der Schablone dieser oderjener Doktrin formen wollen, über den Theorien ste-hen mir die Personen, aber,« fügte er mit seinem Lä-cheln und schalkhaftem Blick hinzu, »da liegt’s, wennich Eurer Excellenz so gegenüberstehe, so erinnere ichmich der Sage von den Centauren, man möchte freudig

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in die dargebotene Hand einschlagen, aber man fürch-tet auch den Tritt des eisenbeschlagenen Hufs.«

Graf Bismarck lachte herzlich. »Aber wenn der Cen-taur diese Hufe nicht hätte,« rief er heiter, »wie sollteer vorwärts kommen auf dem coupirten Terrain, woman ihm neben den natürlichen noch so viele künstli-che Hindernisse schafft?«

»Eure Excellenz müssen mir aber zugeben,« sagteDoctor Lasker, »daß wir – ich und meine politischenFreunde, die Liberalen, – in großer Verlegenheit sind.So gern wir Sie unterstützen möchten – wir werdenscheu, wenn wir Ihre Umgebungen sehen. Sie habenGewaltiges vollbracht, Sie haben – Niemand erkenntes mehr und höher an wie wir – der wahren Freiheiteine Gasse in Deutschland gebahnt, aber hier in Preu-ßen bleibt Alles beim Alten. Da ist der Graf Lippe, da istMühler, noch immer Mühler,« fuhr er fort, »können Sieda erwarten, daß wir Vertrauen zu der innern Verwal-tung haben sollen? Diesen Männern gegenüber müs-sen wir in der Opposition bleiben und für uns selbstsorgen. – Und,« sprach er weiter, als Graf Bismarckschwieg, »abgesehen von diesen Ministern, verzeihenEure Excellenz meine Offenheit, kann es uns Vertrau-en einflößen, wenn Sie Männer wie Wagener in Ihreunmittelbare Nähe ziehen? – Ich habe Wagener per-sönlich ganz gern und habe mich eben noch sehr gutmit ihm unterhalten, aber er ist doch zu allen Zeitender Vertreter der äußersten Reaction gewesen, und –«

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Er schwieg.»Glauben Sie denn,« rief Graf Bismarck in heiterem

Tone, »daß ich am Gängelbande meiner Referenten ge-he – und daß,« fügte er lachend hinzu, »der Huf desCentauren in ängstlichem Respect zurückbebt vor demHühnerauge der Bureaukratie? – Wagener!« fuhr erfort, »sehen Sie, mein lieber Doctor, wenn Sie arbeiten,wenn Sie jene geistreichen Reden überdenken, welcheich oft bewundere, so werden Sie öfter Ihr Conservati-onslexikon aufschlagen. Nun sehen Sie, ich habe nochviel weniger Zeit wie Sie, ich kann nicht nachschlagenund lesen, ich bedarf eines lebendigen Conversationsle-xikons –«

Doctor Lasker lachte herzlich.»Nun,« fuhr Graf Bismarck fort, »Sie werden zuge-

ben, daß Wagener unerreichbar in dieser Beziehungist, er hat eine Gewandtheit der Auffassung und Re-production, eine Geschicklichkeit in der Assimilirungfremder Gedanken, die mich oft in Erstaunen setzt,und das habe ich nöthig, die Entschlüsse aber sind diemeinen, mein allein,« fügte er mit stolzem Emporwer-fen des Kopfes hinzu, »und ich will die Freiheit, die ichallen gönne, auch für mich!«

»So lassen Eure Excellenz Ihrem aufrichtigsten Ver-ehrer und Bewunderer auch die Freiheit seiner gewißgut gemeinten Opposition, da ja doch die auswärtigePolitik, in der Sie stets auf mich zählen können – Pausemacht.«

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»Pause?« fragte Graf Bismarck mit dem Ausdruckdes Erstaunens, »Pause, die auswärtige Politik? – mirscheint, die Pause ist vorbei!«

Erstaunt und betroffen blickte Doctor Lasker auf.Graf Bismarck schwieg einen Augenblick gedanken-

voll. »Mein lieber Doctor,« sagte er dann, »ich glaube,die auswärtige Politik steht an einem Punkte, der mirviel Sorge machen wird.«

Mit höchster Spannung sagte Doctor Lasker: »Ichweiß nicht, ob die Discretion mir erlaubt, Eure Excel-lenz zu fragen, was in dieser anscheinend tiefen RuheIhnen Sorge machen kann?«

»Warum nicht?« sagte Graf Bismarck. – »Sehen Sie,der König von Holland will Luxemburg an den KaiserNapoleon verkaufen.«

Doctor Lasker machte fast einen Sprung.»Und das wollen Eure Excellenz dulden?« rief er mit

funkelnden Augen, »Luxemburg ist deutsch, deutschesGebiet an Frankreich?!«

»Ich bin in einer eigenthümlichen Lage,« sagte GrafBismarck achselzuckend, indem sein klares, graues Au-ge scharf zu dem erregten Gesichte des Deputirten her-abblickte, »Sie wissen, der deutsche Bund ist aufgeho-ben, die staatsrechtliche Seite der Frage ist dadurch einWenig verwickelt geworden –«

»Was Staatsrecht!« rief Doctor Lasker zitternd vorAufregung, »dies ist eine Frage des nationalen Rechtes,der nationalen Ehre Deutschlands –«

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»Damit sie das würde,« warf Graf Bismarck ein,»müßte die Nation sprechen –«

»Und wenn sie spräche,« rief Doctor Lasker, »würdenEure Excellenz –«

»Wenn die Nation spricht,« sagte Graf Bismarck mitleuchtendem Blick und metallischer Stimme, »dannwerde ich der Vollstrecker ihres Verdicts sein, so wahrich hier vor Ihnen stehe, und wehe dem, der sich demWillen Deutschlands entgegenstellt!«

»Excellenz,« rief Doctor Lasker, »darf ich von demInhalt unserer Unterhaltung Gebrauch machen?«

»Warum nicht?« fragte Bismarck.»Am 1. April ist Ihr Geburtstag, Excellenz,« sagte

Doctor Lasker, indem er die Hand erhob, »Sie sollenden einmüthigen Ausspruch des nationalen Willens alsGeburtstagsgeschenk erhalten.«

»Ein solches Geschenk wird mich seiner würdig fin-den,« sagte Graf Bismarck.

Und freundlich grüßend, wendete er sich zu einerGruppe von Diplomaten, mit jedem einige Worte wech-selnd.

Doctor Lasker aber durcheilte den Saal, bald hier,bald dort einen seiner Bekannten zur Seite ziehendund eifrig mit ihm sprechend.

Bald bemerkte man überall eine außergewöhnlicheBewegung. Gruppen bildeten sich in lebhaftem Ge-spräch, die hervorragenderen Mitglieder der Parteien

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sahen sich umringt, Bestürzung und Unruhe lag auf al-len Gesichtern.

Bald theilte sich diese Bewegung den Diplomatenmit, man drängte sich zum Grafen Bylandt, welchermit wenigen Worten die Nachricht bestätigte, die wieein Lauffeuer durch die Säle zog. Die Vertreter der grö-ßeren Mächte traten an den Ministerpräsidenten her-an, er antwortete mit ruhigster Miene und leichtemAchselzucken auf ihre Fragen.

Aus einer Gruppe, welche sich um den Doctor Laskergebildet hatte, trat Herr von Bennigsen und nähertesich dem Bundeskanzler.

Graf Bismarck, dessen scharfes Auge jede Nüanceder im Saale entstandenen Bewegung verfolgte, tratihm entgegen.

»Ich bitte um Verzeihung, Excellenz,« sagte Herr vonBennigsen mit leicht zitternder Stimme, »daß ich Sieanrede, aber die unerhörte Nachricht, welche hier dieRunde macht –«

»Der Verkauf von Luxemburg?« warf Graf Bismarckleicht hin.

»Diese schmähliche Geschichte ist also wahr?« fragteHerr von Bennigsen.

»Es scheint etwas daran zu sein,« sagte Graf Bis-marck ruhig, »ich sehe noch nicht klar –«

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»Aber dazu kann, dazu darf,« rief Herr von Bennig-sen, »die Nation, der Reichstag nicht schweigen, wür-den Eure Excellenz etwas gegen eine Interpellation imReichstage zu erinnern haben?«

»Wie sollte ich?« erwiederte Graf Bismarck, »je mehrLicht in diese Sache kommt, desto besser. – Selbstver-ständlich werde ich auf eine solche Interpellation nurantworten können, was ich weiß.«

»Aber der Reichstag muß seinen Standpunkt, seinenWillen klar aussprechen!« rief Herr von Bennigsen.

»Und dieser Wille wird mir maßgebend sein!« sagteGraf Bismarck.

Herr von Bennigsen verbeugte sich und bald verlie-ßen die Führer der Parteien die Säle.

»Es scheint, mein lieber General,« sagte Graf Wran-gel an den Ministerpräsidenten herantretend, »daß daeine Federfuchserei im Werk ist –«

»Der Cürassier ist auf dem Posten, Excellenz,« er-wiederte Graf Bismarck mit festem Ton, »und wenn esNoth thut, wird der Pallasch dazwischen fahren.«

Ruhig und still, mit glattem, lächelndem Gesicht hat-te Herr Benedetti die Bewegung verfolgt, welche denSaal erfüllte. »Er ist ein furchtbarer Gegner!« flüsterteer und glitt mit leichtem Schritt über das Parquet zurAusgangsthür hin.

Die Säle leerten sich immer mehr.Graf Bismarck trat zu Herrn von Keudell.

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»Lassen Sie morgen in allen Zeitungen eine Notizüber die luxemburger Sache erscheinen, einfach undthatsächlich, ohne Alles Raisonnement, äußerst fried-lich und in keiner Weise provocirend.«

Herr von Keudell verneigte sich.»Der Schneeball ist losgelöst,« sprach der Minister-

präsident leise, »warten wir ab, ob der schlaue Cäsar eswagen wird, sich der rollenden Lawine des deutschenNationalwillens entgegenzustellen!«

Artig verabschiedete er sich von den letzten seinerGäste und schritt langsam seinen Gemächern zu.

ACHTES CAPITEL.

Es war um die Mittagsstunde des ersten April.Der Graf von Bismarck hatte im Kreise seiner Fami-

lie die Glückwünsche zu seinem Geburtstage von dennächsten Freunden seines Hauses entgegengenommenund sich dann in sein Arbeitszimmer zurückgezogen,wo er mit großen Schritten auf und nieder ging.

Er überdachte die Erklärung, welche er heute in derSitzung des Reichstages auf die bereits angekündigteInterpellation in Betreff der luxemburgischen Verhand-lungen abgeben wollte.

Sinnend blieb er vor seinem Schreibtisch stehen.»Die Geschichte Deutschlands und Europas steht vor

einer großen Krisis,« sprach er langsam, »und von demWort, das ich heute sprechen werde, hängt der Kriegoder der Frieden ab! – Man wird in Frankreich die

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Wendung verstehen, welche ich der Frage gegeben ha-be, der Kaiser wird den hohen Ernst der Situation be-greifen, er wird begreifen, daß ich in Betreff der Abtre-tung Luxemburgs nicht weichen will und werde; wieich ihn kenne, wird er nachdenken, überlegen – undzurückweichen, freilich mit dem Hintergedanken, spä-ter auf seine Pläne wieder zurückzukommen. – Dazuaber ist es nöthig, daß ich ihm die Möglichkeit desRückzugs lasse. Die Stimmung in Frankreich ist auf dasÄußerste erregt, wenn ich heute ein Wort spreche, daswie eine Provocation, wie ein Verbot gegen Frankreichklingt, das den Verkauf von Luxemburg an Frankreichals geschehen, als feststehend annimmt und von Frank-reich einen Rückzug verlangt– ein Wort, wie es mir aufder Lippe liegt und wie ich es am liebsten spräche nachdem Gefühl meines Herzens, dann würde der franzö-sische Nationalstolz aufwallen und der Kaiser würdewider seinen Willen gezwungen werden, den Krieg zubeginnen. – Den Krieg!« sprach er, wiederum langsamauf und nieder schreitend, – »den Krieg! – Ich habe ihnnicht zu fürchten, ich bin überzeugt, ich weiß es, daßwir siegen werden; nicht nur ist Moltke sowie Roonaus militairischen Gründen dessen sicher – nein,« riefer mit leuchtendem Blick, »ich fühle den Sieg Deutsch-lands in dem Kampf um deutschen Boden – alle die-se trüben Wirrnisse, die jetzt langsam mit Vorsicht unddiplomatischer Kunst der Lösung entgegengeführt wer-den müssen, sie würden verschwinden vor dem großen

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nationalen Athemzug des deutschen Volks, vor demeinstimmigen Kriegsruf, der die Oriflamme des deut-schen Heerbannes begrüßen würde. Mit einem Schlagkönnte ich das leuchtende Ziel meiner Gedanken er-reichen – das geeinigte Reich der deutschen Nation er-stehen lassen, wenn ich jetzt den Handschuh hinwerfe,oder vielmehr, wenn ich ihn aufnehme, der mir bereitshingeworfen ist!«

Er stand still und blickte nachdenkend zu Boden.Tiefer Ernst legte sich auf seine bewegten Züge.

»Aber,« sprach er dumpf, »wenn ich jetzt den Kriegentfessele, wenn ich der Versuchung nachgebe, dieHand auszustrecken nach dem lockenden Kranze desSieges, so gilt es nicht einen Kampf, dessen Leiden undOpfer in einigen Jahren vergessen werden, nein – esgilt die Eröffnung einer fünfzigjährigen Ära des perma-nenten Kriegszustandes. Wir werden Frankreich besie-gen, niederwerfen sogar, aber das besiegte und nieder-geworfene Frankreich wird den Durst nach Rache inseinem Herzen behalten und jede Gelegenheit ergrei-fen, um den Kampf von Neuem wieder aufzunehmen,um das verlorene Prestige wiederzugewinnen, und derFriede, der diesem Kriege folgen wird, wird ein Frie-de sein, der die Hand am Schwert halten und sichvom Kopf zu den Füßen in eherne Kriegsrüstung hül-len muß! – Und dann –« fuhr er fort, »die NiederlageFrankreichs ist der Sturz des Kaiserreichs – und waswird ihm folgen? – die rothe Republik oder der Kampf

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der Parteien, die Gährung, die Auflösung. – Das gäh-rende, kochende Frankreich aber, das ist die stete Un-ruhe Europas – das ist die stete Drohung der Staats-und Gesellschaftsordnung! – Nein,« rief er mit festerStimme, »ich darf der Versuchung nicht weichen – ichwill der Vorsehung nicht vorgreifen. Ich entsage demlockenden Reiz, durch ein kühnes und rasches Vor-gehen alle Knoten der Gegenwart zu durchschlagen,ich will warten, in Ergebung warten auf die FührungGottes. Wenn es nach seinen Rathschlüssen geschehenkann, daß mein großes Werk sich in friedlicher Ent-wickelung vollziehe, ohne das Blut und Elend langerKriege, so will ich die verderbliche Flamme nicht ent-zünden, so lange es anders noch möglich ist, und sollteauch meine Hand dies Werk nicht mehr krönen – sollteauch mein Auge seine Vollendung nicht mehr schau-en.«

Sein klares Auge blickte ruhig in fast weichem Aus-druck aufwärts.

»Diese holländische Indiscretion,« fuhr er nach ei-nigen Augenblicken fort, »erlaubt mir so zu spre-chen, daß der Friede erhalten bleiben kann, daß manin Frankreich ohne Demüthigung zurückgehen kann,wenn man die Situation begreifen und den Wink ver-stehen, das Halt! hören will, das ich ihnen zurufe. Ichkann im Reichstage mit gutem Gewissen sagen, daßich von den Verhandlungen Frankreichs mit Luxem-burg nichts weiß, denn ich weiß in der That officiell

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nichts davon, Benedetti hat mir keine Mittheilung dar-über machen wollen oder können; man hat volle Ge-legenheit, einen äußerlich ehrenvollen Rückzug anzu-treten. Noch ist der Kaiser nicht engagirt, ich bin über-zeugt, er wird es nicht zum Äußersten treiben wollen.«

Er trat an seinen Schreibtisch, ergriff ein Blatt Papier,auf welchem einige Notizen von seiner Hand verzeich-net standen, und las dasselbe aufmerksam, leicht dieLippen bewegend, durch.

»So ist es gut,« sagte er, »das zeigt den festen Wil-len und engagirt doch noch nicht, verletzt nach keinerSeite.«

Er blickte auf die Uhr.»Es ist Zeit,« sagte er, »ich will pünktlich im Reichs-

tag sein, um die Interpellation sogleich zu erledigen.«Er ergriff die Militairmütze mit dem gelben Rand

und seine Handschuhe.Sein Kammerdiener trat in das Cabinet.»Der französische Botschafter bittet Eure Excellenz,

ihn zu empfangen.«Graf Bismarck blickte betroffen zu Boden.»Sollte es zu spät sein?« flüsterte er.»Ich komme,« sagte er dann laut und schritt durch

die Thür, deren Flügel der Kammerdiener offen hielt, inden großen Vorsaal, in welchen Herr Benedetti bereitseingetreten war.

Der Botschafter Napoleons III., in schwarzem Mor-genanzug mit der Rosette der Ehrenlegion, trat dem

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Ministerpräsidenten entgegen. Auf seinem glatten Ge-sicht lag das gewöhnliche, höflich verbindliche Lä-cheln.

Graf Bismarck reichte ihm die Hand und sagte, be-vor Herr Benedetti ihn anreden konnte, in gleichgültigruhigem, artigen Ton:

»Sie sehen mich im Begriff, mein lieber Botschafter,zur Sitzung des Reichstags zu gehen, dessen Eröffnungich heute nicht versäumen darf, wenn daher keine be-sonders dringliche und eilige Angelegenheit den Ge-genstand der Unterhaltung bilden soll, mit welcher Siemich beehren wollen, so möchte ich Sie bitten, diesel-be auf eine andere Stunde zu verschieben, wo wir mitMuße plaudern können.«

In den Zügen des Botschafters zeigte sich eine leich-te Verlegenheit.

»Ich will Ihre Zeit jetzt durch keine lange Unterre-dung in Anspruch nehmen, Herr Graf,« sagte er, »wirwerden ja im Laufe des Tages dazu noch Gelegenheitfinden können, nur möchte ich mich des Auftrages ent-ledigen, Ihnen eine Depesche zu übergeben, die ich so-eben erhalten.«

Und er zog ein Papier aus der Tasche seines Rockes.Graf Bismarck blickte ihn ernst an, er streckte die

Hand nicht aus, das Papier in Empfang zu nehmen.»Und was enthält die Depesche?« fragte er ruhig.»Die Erklärung meiner Regierung in Betreff der lu-

xemburgischen Verhandlungen,« erwiederte Benedetti.

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»Mein lieber Botschafter,« sagte der Graf, einen Blickauf die Uhr werfend, »es ist in der That die höchsteZeit für mich, zur Reichstagssitzung zu gehen, wollenSie mich begleiten, wir können ja unterwegs noch spre-chen. Sie verzeihen meine Eile – aber Sie werden mei-ne parlamentarischen Pflichten begreifen.«

Ein wenig erstaunt, verneigte sich Herr Benedet-ti leicht und schickte sich an, den Grafen zu beglei-ten, der mit artiger Handbewegung den Botschaftervoranschreiten ließ und ihm durch die Ausgangsthürfolgte. Sie stiegen die Treppe hinab, und gingen nachdem Durchgang, welcher durch die Gärten hinter demRadziwillschen Palais vorbei nach der Leipzigerstraßeführt.

Benedetti wartete schweigend auf die Anrede desGrafen Bismarck.

»Mein lieber Botschafter,« sagte dieser, als sie sich indem Gartendurchgang befanden, »ich gehe soeben inden Reichstag, um die Interpellation zu beantworten,welche, wie Sie wissen, dort wegen der luxemburgerAngelegenheit heute gestellt werden wird.«

»Um so mehr möchte ich bitten –« sagte Benedetti,abermals das Papier aus seiner Tasche hervorziehend.

»Erlauben Sie,« unterbrach ihn Graf Bismarck mitleicht abwehrender Handbewegung, »Ihnen zu sagen,was ich auf diese Interpellation antworten werde.«

Erwartungsvoll blickte Benedetti zu dem Grafen em-por.

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»Ich werde sagen,« fuhr der Ministerpräsident fort,jedes Wort scharf betonend, »daß die preußische Re-gierung die Empfindlichkeit der französischen Nation,so weit dies mit ihrer eigenen Ehre vereinbar, auf dasÄußerste zu schonen bestrebt sei, und daß auch in die-ser Frage die gerechte Würdigung des Einflusses maß-gebend sei, welchen die friedlichen und freundlichenBeziehungen zu einem mächtigen und ebenbürtigenNachbarvolke auf die Entwickelung der deutschen An-gelegenheiten ausüben muß.«

Benedetti neigte leicht den Kopf. Sein Gesicht zeigteden Ausdruck erwartungsvoller Spannung.

»Ich werde ferner erklären,« fuhr Graf Bismarck indemselben ruhigen und festen Tone fort, »die Staats-regierung habe keinen Anlaß, anzunehmen, daß einAbschluß über das künftige Schicksal des Großher-zogthums bereits erfolgt sei, ich werde erklären, dieverbündeten Regierungen glauben, daß keine fremdeMacht zweifellose Rechte deutscher Staaten und deut-scher Bevölkerungen zu beeinträchtigen gesonnen seinkönne, ich werde mich daher enthalten, auf die be-stimmte Frage der Interpellation mit Ja oder Nein zuantworten, und die feste Zuversicht aussprechen, daßdie Rechte Deutschlands werden gewahrt werden aufdem Wege friedlicher Verhandlungen und ohne Ge-fährdung der freundschaftlichen Beziehungen, in de-nen sich Deutschland bisher mit seinen Nachbarn be-funden.«

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Benedetti hatte, während der Ministerpräsident sprach,mehrmals nachdenklich auf das Papier in seiner Handgeblickt.

»Herr Graf –« sagte er.»Sie begreifen,« fuhr Graf Bismarck, ihn abermals in

höflichstem Tone unterbrechend, fort, »daß nach die-ser Erklärung, wie ich sie abgeben will, die freund-schaftlichste Verständigung über die ganze Frage nachallen Seiten offen bleibt, der Kaiser wird Gelegenheithaben, über die Angelegenheit – und ihre Consequen-zen,« fügte er mit Betonung hinzu – »nachzudenken,ohne durch die aufgeregte öffentliche Meinung Frank-reichs beunruhigt zu werden, und ich zweifle nicht,daß bei den Gesinnungen, welche für Ihre Regierungebenso maßgebend sein müssen, wie sie mich besee-len, dieser ganze Zwischenfall sich ebenso leicht alsfreundlich erledigen lassen wird.«

»Gewiß, gewiß, lieber Graf,« sagte Herr Benedetti,»aber – mein Gott – diese Depesche, welche über denAbschluß des Vertrages –«

Sie waren an das Ende des Durchganges gekommen.Graf Bismarck blieb stehen und sah den Botschafter,

der das Papier in seiner Hand hin und her drehte, starran.

»Sie werden aber auch begreifen,« sagte er mit me-tallisch klingender Stimme, »daß ich jene Erklärung

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nicht abgeben kann, wenn ich eine Depesche empfan-gen habe, welche mir nicht erlaubt, mit gutem Gewis-sen zu versichern, daß ich über den Abschluß einesVertrages nichts wisse –«

»Mein Gott, Herr Graf,« rief Benedetti, »diese Depe-sche, lesen Sie wenigstens –« und er hielt dem Grafendas Papier hin.

Abermals streckte der Ministerpräsident abwehrenddie Hand aus.

»Sie begreifen,« sagte er kalt und ruhig, »daß wennich von dem Abschluß eines solchen Vertrages etwasweiß, ich dies nicht verschweigen kann, und dann,«fuhr er fort, sich hoch aufrichtend und den schneidi-gen Blick seines klaren Auges auf den Botschafter her-absenkend, »dann muß ich und werde ich hinzusetzen,daß die Ausführung eines solchen Vertrages nicht zu-gelassen werden wird, so lange das deutsche Volk inWaffen gegürtet an den nationalen Grenzen auf derWacht steht!«

Die schmächtige Gestalt des Botschafters bog sich insich zusammen. Die sonst so gleichgültigen Züge sei-nes Gesichts arbeiteten in heftiger Erregung – schlaffhing sein Arm mit dem verhängnißvollen Papier her-ab.

»Nach einer solchen Erklärung aber,« sagte Graf Bis-marck, »würden die zornig entflammten Gefühle bei-der Nationen sich gegenüber stehen, und welche Mög-lichkeit bliebe dann der Diplomatie, den Gang der

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Ereignisse zu beherrschen? – Eine solche Erklärung,«fuhr er fort, »wäre fast der Krieg – den ich nicht will,ebensowenig wie nach meiner Überzeugung der Kai-ser!«

»Wahr – wahr!« rief Benedetti, indem er in heftigerBewegung einige Schritte hin und her that, währendder Blick des Grafen Bismarck stolz und fest auf ihmruhte. – »Oh mein Gott, mein Gott, welche Verantwor-tung, welche entsetzliche Verantwortung! Kann ich ei-ne Depesche, die ich officiell erhalten, um sie zu über-geben, unterdrücken? – Können Sie mir rathen –«

»Ihnen einen Rath zu geben, habe ich nicht dasRecht,« sagte Graf Bismarck, »ich habe Ihnen einfachgesagt, was ich erklären werde bei dem mir jetzt be-kannten Stande der Sache – und, was ich erklärenmüßte, wenn ich auf officiellem Wege anders als bisherüber das Sachverhältniß unterrichtet würde. An Ihnenist es, zu thun, was Sie für die höhere Pflicht gegenIhren Kaiser und Ihr Land halten!«

Benedetti ging unruhig hin und her. In tiefen Athem-zügen arbeitete seine Brust– er zerknitterte fast das Pa-pier in seinen Händen.

»Es ist eine furchtbare Lage!« rief er, »ich wage mei-ne Stellung – meine Zukunft!« rief er, »eine Depeschezu unterdrücken – das ist beinahe unmöglich – wennder Kaiser –«

»Mein lieber Botschafter,« sagte Graf Bismarck in ru-higem Tone, indem er einen Blick auf seine Uhr warf,

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»ich habe in der That keinen Augenblick mehr zu ver-lieren, die Sitzung muß schon begonnen haben – undich möchte Sie bitten, mich nicht länger zu begleiten,denn ich bedarf der Augenblicke, welche mir die weni-gen Schritte bis zum Reichstag noch übrig lassen, ummich zu sammeln. – Erlauben Sie mir daher nun diebestimmte Frage: »übergeben Sie mir eine Depesche?Ja oder Nein?«

Benedetti stand einige Augenblicke schweigend inmächtigem, innerem Kampf, die Augen zu Boden ge-senkt, mit zitternden Lippen. Graf Bismarck machte ei-ne leichte Wendung zum Ausgang des Durchganges.

»Ich nehme sie zurück,« sagte Benedetti tonlos undsteckte das zerknitterte Papier wieder in seine Tasche.

Ein heller Strahl erleuchtete das Auge des GrafenBismarck. »Es ist gesagt!« sprach er ernst, »ein Wortbleibt ein Wort!«

»Ich muß die Verantwortung tragen,« flüsterte Bene-detti mit zitternder Stimme, und rasch die artig darge-botene Hand des Ministerpräsidenten drückend, wen-dete er sich und eilte gedankenvoll mit fast schwan-kenden Schritten die Leipzigerstraße hinab.

Graf Bismarck aber ging langsam in militairisch fe-ster Haltung dem Reichstagsgebäude zu, freundlich dieGrüße der Vorübergehenden erwiedernd, denn jetztblieben sie stehen und blickten ihm nach voll Bewun-derung und sympathischer Theilnahme, diese gutenBerliner, die früher für ihn nur Blicke voll Zorn und

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Unmuth hatten. Der feudale Junker, der Anstifter allerUnruhe und alles Unheils, der Preußen herausgeführthatte an die Spitze Deutschlands, begann vor ihren Au-gen emporzuwachsen zu dem mächtigen Erbauer desneu sich einenden Reichs, und der Hauch der Zukunftbegann die Herzen zu erfüllen mit seinem mächtigenWehen.

»Vielleicht habe ich in diesem Augenblick den Frie-den der Welt erhalten,« sprach Graf Bismarck leise undsinnend vor sich hin, als er die wenigen Stufen zumEingang des damaligen Sitzungsgebäudes des Reichs-tags emporstieg. – »Ruhm und schnelle Vollendungmeiner Lebensaufgabe konnte der Krieg bringen, aberdie Erhaltung von tausend und abertausend Menschen-leben ist wohl des Wartens werth. Gott möge die Eicheder deutschen Macht und Herrlichkeit erwachsen las-sen, wenn es möglich ist, ohne daß sie gedüngt werdendarf mit neuen Strömen von Blut und Thränen!«

NEUNTES CAPITEL.

In einem freundlichen und geräumigen Hause amFriedrichswall, jener breiten Avenue, welche, vom al-ten Schlosse in Hannover ausgehend, an den schönen,sogenannten Maschwiesen hinführt, an einer Seite nurbebaut und an der andern von einer prachtvollen Al-lee alter Bäume begrenzt, wohnte der Oberamtmannvon Wendenstein, welcher mit ehrenvollem Abschiedaus dem Staatsdienst den alten Amtssitz zu Blechow

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im Wendlande verlassen und sich in Hannover etablirthatte. Frau von Wendenstein war noch stiller und ern-ster als früher, ein wehmüthiger Zug lag auf ihrem Ge-sicht, aber die sanft schmerzliche Erinnerung an das al-te, kühle, hallende Haus in Blechow hinderte sie nicht,die neue, vorläufige Heimath in Hannover mit liebe-voller Sorglichkeit für die Ihrigen zu ordnen und zuschmücken.

Hatte sie doch alle ihre Lieben um sich, war dochihr Sohn gerettet und vollständig zu neuem, kräftigemLeben genesen, sollte doch bald durch ihn eine neueHäuslichkeit erblühen, mochten da die Ereignisse derWelt noch so schmerzlich für sie sich gestalten, ihr Le-ben lag im Hause, und mit stiller Hoffnung und Freudebereitete sie Alles vor, um demnächst dem geliebtenSohn die heimathliche Häuslichkeit zu gründen.

Der Oberamtmann ging ernst und schweigend ein-her. Er gehörte der alten Zeit an, welche er seit lan-ge um sich her zerbröckeln – und dann in der gewal-tigen, welterschütternden Catastrophe zusammenbre-chen gesehen hatte, er liebte die eigenartige Selbst-ständigkeit seines hannoverischen Landes, schmerzlichberührte es ihn, die neue Herrschaft zu sehen im Lan-de der Fürsten, denen seine Väter gedient hatten, abersein klarer, practischer und verständiger Geist hielt ihnfern von jenen demonstrativen Äußerungen des Un-muths, von jenem passiven, agitatorischen Widerstand,

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welchen ein Theil des Volkes und ein großer Theil sei-ner Standesgenossen dem preußischen Regimente ent-gegensetzte. Er sah die neue Zeit und verstand sie, oh-ne sie lieben zu können, so lebte er ziemlich allein, zu-rückgezogen im Kreise seiner Familie; von der neuen,um die preußischen Elemente gebildeten Gesellschaftentfernte ihn sein Herz und sein Stolz – von den soge-nannten welfischen Patrioten hielt ihn sein klarer undruhiger Verstand zurück.

Der Lieutenant war vollständig genesen. In der Blü-the kräftiger Gesundheit schimmerten wieder seineWangen, und seine lange Krankheit hatte nur einentieferen, sinnigen Ernst in dem Blick seines Auges hin-terlassen. Schwerer als seinem Vater war es ihm ge-worden, seine Stellung zu den neuen Verhältnissen zunehmen. Im täglichen Umgang mit seinen Kameradenund Freunden, den Officieren der früheren hannoveri-schen Armee, lebte er in einer Sphäre des brennenden,mit jugendlicher Lebhaftigkeit erfaßten und idealisir-ten Schmerzes um die Vergangenheit, der ja auch seinganzes Herz mit allen seinen Fasern angehörte.

Der König Georg hatte allen Officieren erklären las-sen, daß sie auf ihren Wunsch und Antrag sofort denAbschied erhalten würden – die Wohlhabenden hattendiesen Abschied nicht genommen, oder waren dochnicht in preußische Dienste getreten, eine große An-zahl von jungen Leuten, welche weder die Mittel zuselbstständiger Existenz noch die Ausbildung zu irgend

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einem andern Lebensberuf besaßen, hatten die Ver-hältnisse und ihre Nothwendigkeit angenommen.

Während die Kämpfe, welche die Nothwendigkeitdieser Entschlüsse bedingten, nicht nur die Kreise derjüngeren Officiere, sondern auch deren Familien leb-haft bewegten und aufregten, hatte der Hauptmannvon Adelebsen alle jüngeren Officiere, die noch nichtin der preußischen Armee Dienste genommen, zu einerVersammlung berufen. Dort hatte er ihnen ein Schrei-ben des Königs aus Hietzing vorgelesen und gezeigt,in welchem derselbe die Hoffnung ausdrückte, daß al-le Officiere sich seiner Sache erhalten möchten, undzugleich das Versprechen gab, daß jeder eine Jahres-einnahme von fünfhundert Thalern beziehen solle, seies durch Ergänzung der eigenen Mittel, sei es durchvollständige Zahlung aus der Casse des Königs. Die Of-ficiere sollten ruhig im Lande leben und der Befehledes Königs gewärtig sein, welche ihnen durch dazu be-stimmte Vertrauenspersonen zugehen würden.

Diese Botschaft des Königs hatte neue, große Auf-regung und beängstigende Zweifel in die Seelen die-ser armen, jungen Leute geworfen, welche so hart undschwer unter den mächtig daherrollenden Ereignissenzu leiden hatten. – Viele waren der Aufforderung desKönigs gefolgt und hatten opfermuthig das gefahrvol-le, traurige Leben auf sich genommen, zu welchem das

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Festhalten an dem dem Könige Georg geleisteten Fah-neneide sie verurtheilte, sie hatten es auf sich genom-men, ein Leben von Verschwörern zu führen, immerunter der Strafe des Hochverraths stehend, ausgesetztallen Gefahren, ohne die Ehren und den Ruhm, dender frische, fröhliche Kampf dem Soldaten bringt.

In tiefer Bewegung und lebhaftem, innerem Kampfwar der Lieutenant von Wendenstein aus jener Ver-sammlung seiner Kameraden heimgekehrt. Sein Herzzog ihn auf die Seite derjenigen, welche den dornen-vollen Dienst von Verschwörern und Agitatoren für ih-ren bisherigen König und Kriegsherrn auf sich zu neh-men entschlossen waren – nicht die persönliche Ge-fahr, aber der Gedanke an seine Zukunft, an die Hei-math, welche er begründen wollte, machte ihn zittern.Durfte er die Geliebte, welche ihr Leben an das seinegebunden, welche von ihm Schutz und Halt erwartenmußte, den Zufällen und Fährnissen eines solchen Le-bens aussetzen?

Lange war er sinnend im Kampf widersprechenderGedanken und Empfindungen umhergegangen, dannwar er mit allem Vertrauen des Sohnes, mit aller Ehr-furcht des Jünglings vor dem alten, in ehrenfestem Le-ben bewährten Manne, zu seinem Vater gegangen undhatte ihm die Botschaft des Königs und die Kämpfeseines Herzens mitgetheilt, ihm die Entscheidung an-heimstellend.

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Ernst und still ging der alte Oberamtmann auf undnieder, den Blick des treuen, klugen Auges zu Bodengesenkt.

Dann blieb er vor seinem Sohne stehen, blickte ihmvoll und frei in’s Gesicht und sprach mit milder, ruhigerStimme:

»Ich danke dir, daß dein Vertrauen dich zu mir ge-führt. – Du verlangst meine Entscheidung – ich kannsie dir nicht geben. Ich habe meine Söhne erzogen,Männer zu sein – und in Conflicten, wie sie unsereZeit bringt, muß der Mann der eigenen Stimme fol-gen fest und unbeirrt. – Aber,« fuhr er fort, indem erdie Hand sanft auf die Schulter seines Sohnes legte,»meinen Rath und meine Ansicht bin ich dem Sohne,dem Jüngling schuldig, und ich will dir sagen, was ichdenke – frei von allen persönlichen Rücksichten, alleinder Stimme der Ehre und des Gewissens folgend, oh-ne daran zu denken, wie nahe deine Entschlüsse auchmich berühren. – Wenn du,« fuhr er langsam und ru-hig fort, »jetzt mit deinem Eide an die Fahne des Königsgefesselt bleibst, so darfst du nicht vergessen, daß die-se Fahne fortan nicht mehr diejenige der äußeren Ehre,sondern diejenige der Empörung gegen die von Europaanerkannte Obrigkeit ist, daß die Gefahr, der du ent-gegengehst, nicht mehr der Tod auf dem Schlachtfeldist, sondern der Kerker, das Zuchthaus, vielleicht dasSchaffot. Der Schlaf wird deine Nächte fliehen, Sorgeund Angst werden deine Begleiter sein. – Doch davon

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will ich nicht sprechen, ich weiß,« sagte er mit festemund stolzem Ton, »daß mein Sohn keine Gefahr scheut,sie möge Namen haben, welche sie wolle – wenn er ihrauf einem Wege begegnet, den seine Ehre und seine be-schworene Pflicht ihm zu gehen vorschreiben. – Abereine andere, eine größere Gefahr ist da. Stellst du dichdem Könige zur unbedingten Verfügung, so darfst dunicht vergessen, daß der unglückliche Herr heute nichtmehr auf dem von Gesetzen und Landesrechten umge-benen Throne sitzt, von welchem herab er nur Befeh-le geben kann, welche mit den Gesetzen und Rechtendes Landes übereinstimmen. Gibst du dich ihm jetztzu eigen mit dem höchsten und heiligsten Bande, dasdie Erde kennt, dem Fahneneide des Officiers, so ist erdein absoluter Herr, und kennst du seine Umgebung,kennst du diejenigen, welche ohne verfassungsmäßi-ge Verantwortlichkeit – und ohne persönliche Gefahrihm rathend zur Seite stehen? Weißt du, welche Befeh-le du erhalten kannst, kannst du das Ende des Wegesübersehen, wenn du den ersten Schritt tust? Kannst duwissen, ob nicht ein Augenblick kommt, in welchemdein Eid auf der einen Seite und deine Ehre, dein Ge-wissen, dein deutsches Blut,« sagte er mit Betonung,»auf der andern dich in einen furchtbaren Zwiespaltführen können? – Und dann,« fuhr er fort, »stehst dunicht allein. Helene, ich weiß es, wird dich nicht miteinem Wort, nicht mit einem Blick zurückhalten vondem Entschlusse, der dir der rechte scheinen würde,

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aber ihr Herz wird vergehen in der ewigen Sorge undAngst eines Lebens, das dich zum Geächteten macht!«

Der Lieutenant sah traurig zu Boden.»Helene, arme Helene!« sagte er, die Hände fallend,

»aber meine Kameraden, der König!« flüsterte er.Der Oberamtmann sah ihn lange an.»Der König,« sagte er dann, »glaubt an einen Kampf

für sein Recht, er glaubt an eine Wiedergewinnung sei-nes Thrones, und deine Kameraden, welche sich ihmzur Verfügung stellen wollen, theilen diesen Glauben.– Ich theile ihn nicht!« fuhr er nach einer Pause fort,»denn ich sehe in dem Charakter des Königs und in sei-ner bisherigen Haltung nichts, was in einem so unge-heuren Kampf Erfolg versprechen könnte, es wird diemoralische Wiederholung des Feldzuges vom vorigenJahre werden, unglaubliche Hin- und Herzüge, Aufop-ferung heldenmüthiger Hingebung, stetes Versäumender richtigen Mittel und der richtigen Augenblicke –und endlich ein trauriges Ende in selbstgeschaffenerSackgasse, bei welchem den einzigen, schmerzlichenRuhm die Opfer haben werden. – Sieh, mein Sohn,«fuhr der alte Herr fort, »das Unternehmen eines Für-sten, welcher allein mit seinem Recht und mit wenigenGetreuen dasteht, und welcher so gegen eine Macht,vor welcher die Großstaaten Europas zittern, in denKampf tritt für sein Recht, das er nicht aufgeben will –hat etwas so Heldenhaftes, mächtig Ergreifendes, daß

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ich, der alte Mann, welcher gelernt hat, seine Gefüh-le durch Vorsicht und Erfahrung leiten zu lassen, da-von hingerissen werden könnte. Allein – ich müßte dieMöglichkeit eines Sieges, eines ehrenvollen Friedens,oder eines großen, ruhmvollen Untergangs sehen. Einesolche Möglichkeit aber sehe ich nicht. – Um zu siegen,oder um durch ehrenvollen Friedensschluß das verlo-rene Recht ganz oder theilweise wieder zur Geltung zubringen – müßte der König sich furchtbar und mächtigmachen, er müßte sich an die Spitze aller Ideen stel-len, welche in Deutschland der preußischen Herrschaftwiderstreben, damit, wenn sich je eine Bewegung ge-gen dieselbe erhebt, er von dieser Bewegung empor-getragen werde, er müßte die Möglichkeit schaffen,auch den Kern einer von mächtigem Gedanken durch-strömten Armee bilden zu können, wenn es Noth thut,um dann, wenn irgend eine Erschütterung Europas dieGelegenheit bietet, sein Recht zu reclamiren und esdurch Kampf oder Vertrag geltend zu machen. Dazufehlt aber in den bisherigen Manövern, soweit ich siesehe, Alles! Überall dasselbe schwächliche, zweideuti-ge Spiel, man protestirt gegen die Annexion und möch-te doch die Domänen unter der preußischen Herrschaftbehalten, man will kämpfen und sieht ruhig zu, wie dienach London geretteten Papiere, zu deren Verkauf manso lange Zeit hatte, amortisirt werden, überall Negati-on statt der Handlungen, der König weiß zu befehlen,

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aber er versteht nicht zu herrschen! Ich habe hier man-ches gelernt und gesehen,« fuhr der alte Herr nach ei-nigen Schritten durch das Zimmer fort, »das mir in derruhigen und zurückgezogenen Thätigkeit in Blechowverborgen geblieben war, und ich muß sagen, was ichvon dem Treiben in Hietzing höre – gefällt mir nichtund flößt mir wenig Vertrauen ein. Der General vonKnesebeck hat mir Trauriges mitgetheilt. Ihn hat derKönig unglaublich schnöde behandelt, ebenso ist deralte General von Brandis fortgeschickt, und die Per-sonen, welche sich hier als Vertreter des welfischenPatriotismus geriren, in wohlfeilen Demonstrationendurch gelbweiße Cravatten und gelegentliche gelbwei-ße Fähnchen, glaubst du, daß sie die Leute sind, umim großen, geistigen und politischen Kampf Erfolge zuerringen? Mit einem Wort – ich sehe nichts vorher, alsruhmlose Gefahren, verfehltes Streben – und ein kläg-liches Ende. Dies ist meine Ansicht. – Doch,« fuhr erfort, »deinen Entschluß mußt du selbst fassen, – und,«fügte er mit warmem Blick hinzu, »welchen Weg duauch erwählen magst, du wirst ihn mit Ehren gehen,und mein Segen wird mit dir sein.«

Lange stand der junge Mann in schweigendem Nach-denken.

»Ich bleibe hier!« sagte er dann, seinem Vater dieHand reichend, welche dieser herzlich schüttelte. –

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»Ich werde meinen Kameraden meinen Entschluß mitt-heilen, ich will mich nicht heimlich zurückziehen, soll-te jemals ein Augenblick kommen, in welchem der Kö-nig mit Aussicht auf Erfolg und unter günstigen undehrenvollen Umständen sein Recht im Felde wiederzu-erobern versteht, so bin ich da und werde dann beieinem Aufruf nicht fehlen. Für jetzt werde ich meinenAbschied nehmen.«

Und erleichtert durch diesen Entschluß seufzte derjunge Mann auf, ein heiteres Lächeln erleuchtete seinGesicht.

»Hast du Bergenhof genau geprüft?« fragte sein Va-ter nach einer Pause, »Haus und Hofgebäude habenmir wohl gefallen –«

»Ich habe Alles auf das Genaueste angesehen, Bodenund Cultur sind gut, ich glaube, daß der Preis ange-messen ist,« erwiederte der junge Mann.

»So laß uns in diesen Tagen noch einmal hingehen,«sagte der Oberamtmann, »und dann wollen wir ab-schließen, mich drängt es, wieder eine wahre, wirk-liche Heimath zu haben, und dann – kannst du ja balddeine junge Hausfrau heimführen,« fügte er freundlichhinzu und nahm den Arm seines Sohnes, um seinenvom Podagra etwas schwerfällig gewordenen Gang zuunterstützen.

Beide verließen das Zimmer des Oberamtmanns, umsich in den Salon der Damen zu begeben.

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Fast ähnlich waren die Zimmer der Frau von Wen-denstein in dem gemietheten Hause zu Hannover denRäumen im alten Hause zu Blechow. Es waren zumTheil dieselben alten Meubel, es war überall dieselbestille, einfache, saubere Traulichkeit, welche die sanftwaltende Hand der alten Dame um sich her geschaffenhatte.

Helene war gekommen, um Einkäufe für ihre Aus-stattung zu machen, und in diesem stillen Familien-kreise blühte inmitten der großen Catastrophe, welchedie Welt aus den Fugen riß, ein friedliches, selbstgenü-gendes Glück auf, das nur leicht beschattet wurde vonden Wolken der Zeit.

Frau von Wendenstein saß in ihrem Lehnstuhl,freundlich lächelnd blickte sie auf die jungen Mäd-chen, welche verschiedene vor ihnen liegende Stoffemusterten.

Mit innigem Ausdruck blickte Frau von Wenden-stein auf ihre künftige Schwiegertochter, deren sinnen-de Augen mehr inneren Bildern zu folgen schienen, alsdie vor ihr ausgebreiteten Muster zu betrachten. Dasjunge Mädchen war schöner als früher, ein Licht rei-nen Glücks verklärte ihre zarten Züge mit duftigemHauch, aber es war nicht das lachende Glück des fri-schen, fröhlichen Augenblicks, es war ein träumenderAusdruck sinnigen Seelenlebens, der in wunderbaremGlanz aus den klaren Tiefen ihres Auges heraufschim-merte.

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Der Oberamtmann mit seinem Sohne trat ein.Ein flüchtiges Roth überzog Helenens Wangen. Der

Lieutenant führte seinen Vater zu einem Lehnstuhl ne-ben seiner Mutter und küßte dann zärtlich und innigdie Hand seiner Braut, welche mit strahlendem Blickzu ihm aufschaute.

»Nun,« sagte der Oberamtmann mit heiterem Lä-cheln, »ich hoffe, wir werden bald mit unseren Vorbe-reitungen fertig sein, beeilt also die euren, ich stehe inUnterhandlung wegen des Gutes Bergenhof, nicht zuweit von unserer alten Heimath in Blechow und vonunserem Freund Berger, sobald ich abgeschlossen, wol-len wir den Kindern da ihr Nest bauen.«

Erröthend senkte Helene das Haupt.»Wir werden fertig sein,« sagte Frau von Wenden-

stein mit einem leichten Anklang milden Selbstbe-wußtseins, »du weißt ja, daß ich gewöhnt bin, meinenpünktlichen Herrn Gemahl niemals warten zu lassen,«fügte sie lächelnd hinzu.

»Zuweilen auch ihn zu übertreffen und mit ihm zuschmollen, wenn er nicht zur rechten Zeit fertig ist,«lachte der Oberamtmann.

Der alte Diener öffnete die Thür und meldete:»Der Herr Candidat Behrmann.«Der Oberamtmann stand auf und streckte dem ein-

tretenden Candidaten die Hand entgegen, der sie mittiefer Verneigung ehrerbietig ergriff und dann die Da-men und den Lieutenant begrüßte.

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Nichts war verändert in dem Äußern des jungenGeistlichen. Sein einfacher schwarzer Anzug war eben-so sauber und glatt als die Züge seines ruhigen Ge-sichts, die niedergesenkten Augenlider und die würde-volle Bescheidenheit seiner Haltung vereinigten sich zueinem Ausdruck geistlicher Ruhe und Zurückhaltung.

»Ich komme nach Hannover,« sagte er mit leiser, sal-bungsvoller Stimme, »um mir meine Ernennung zumAdjuncten meines Oheims bestätigen zu lassen, wel-che in der Unruhe des vorigen Jahres noch nicht de-finitiv ausgefertigt wurde und bis jetzt immer im Zu-stande des Provisoriums erhalten ist. – Es ist traurigfür mich,« fuhr er fort, »mit den Behörden der neu-en Herrschaft verhandeln zu müssen, aber der Wunschmeines Oheims, diese Sache regulirt zu sehen –«

»Und wie geht es dem lieben Freunde?« rief derOberamtmann.

»Seine Gesundheit ist vortrefflich,« antwortete derCandidat, »aber sein Herz ist schwer bedrückt, er un-terwirft sich, wie es christliche Pflicht ist, der Obrigkeit,die da Gewalt über uns hat, aber sein Herz und seineLiebe gehören dem verbannten Könige – und schwertrauert er über das Schicksal des Landes.«

Der Oberamtmann blickte schweigend und düster zuBoden.

»Der Oheim hat mir die herzlichsten Grüße für denHerrn Oberamtmann und seine Familie aufgetragen,«

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sprach der Candidat, »und mir diesen Brief für Helenemitgegeben.«

Er zog aus der Tasche seines Rockes einen Brief undreichte ihn seiner Cousine.

Das junge Mädchen hatte seit dem Eintritt ihres Vet-ters die Augen zu Boden geschlagen, eine leichte Bläs-se überdeckte ihr Gesicht, rasch nahm sie den Brief,den der Geistliche ihr darreichte, ein scheuer Blick er-hob sich zu ihrem Vetter und senkte sich schnell wiedervor seinem scharfen, stechenden Auge, das sich auf sierichtete.

Sie erhob sich und trat in die Nische des Fensters,um den Brief ihres Vaters zu lesen.

»Und wie geht es sonst in Blechow?« fragte der Ober-amtmann, »was macht der alte, brave Deyke – undFritz?«

»Fritz Deyke und seine junge Frau aus Langensalza,«sagte der Candidat, »führen die Wirthschaft des Hofes,welche der alte Deyke ihnen übergeben, der sich nursein Ehrenamt als Bauermeister vorbehalten – und esherrscht ein neues, munteres Leben aus dem sonst soruhigen und stillen, alten Hofe. – Die junge Frau istfromm,« fuhr er mit salbungsvollem Tone fort, »eineBeschützerin aller Armen des Dorfes, und mein Oheimhat viel Freude an ihrem Thun und Treiben, der Al-te macht sich zuweilen in einigen derben Äußerungen

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über die neue Landesherrschaft Luft, aber ein Blick sei-ner Schwiegertochter bringt ihn wieder zum Schwei-gen. – Wenn überall die alte und die neue Zeit sich inso freundlicher Harmonie die Hand reichen, wie aufdem Bauernhofe des alten Deyke, so wäre der Friedenbald hergestellt!«

»Nun,« sagte der Oberamtmann, ernst die Hände fal-tend, »Gott wird Alles fügen nach seinem Wohlgefal-len! – In Zeiten wie die unsrigen muß der einzelneMensch schweigend erwarten, wohin die Vorsehungdie Schicksale der Völker führt.«

»Amen!« sprach der Candidat, das Haupt neigend.»Herr von Tschirschnitz und Herr von Hartwig!«

meldete der alte Diener, und die beiden Herren, frü-here hannoverische Officiere, traten in den Salon.

Herr von Tschirschnitz, der Sohn des früheren Ge-neraladjutanten des Königs Georg, war ein großer,schöner Mann von hohem, kräftigem Wuchs; die aus-drucksvollen Züge seines von dunkelblondem Vollbartumrahmten Gesichts drückten Intelligenz und Energieaus; Herr von Hartwig, älter als jener, hatte weiche,kränkliche Züge, sein Kopf war ganz kahl und seinehellen, freundlichen Augen blickten jetzt wehmüthigund traurig.

Die Herren setzten sich zu dem Tische, nachdem sieden Oberamtmann und die Damen begrüßt und ihremKameraden, dem jungen Herrn von Wendenstein, herz-lich die Hand gedrückt.

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»Candidat Behrmann aus Blechow,« sagte der Ober-amtmann vorstellend.

Die Herren verneigten sich. »Ein guter Hannovera-ner?« rief Herr von Hartwig mit freiem Ausdruck, »wiees sich ja hier von selbst versteht!« fügte er zum Ober-amtmann gewendet hinzu.

Der Candidat neigte schweigend das Haupt.Herr von Tschirschnitz betrachtete ihn mit forschen-

dem Blick.»Ich habe mit tiefer Theilnahme von dem harten

Schlage gehört, der Sie betroffen,« sagte Frau vonWendenstein mit innigem Ausdruck, sich an Herrn vonHartwig wendend, »wie konnte dies schwere Unglückso schnell kommen?«

»Meine arme Frau,« erwiederte Herr von Hart-wig, indem eine Thräne sein Auge verdunkelte, »warschwer erschüttert durch die Ereignisse, man brach-te mich ihr auf den Tod verwundet, die unermüdlichePflege, die Sorge und Angst haben ihre schon schwan-kende Gesundheit zerrüttet – ein chronisches Brustlei-den nahm schnell eine acute Gestalt an, und als ichmich von meinem Lager erhob,« fügte er mit bebenderStimme hinzu, »da war es – um meine Frau zu Grabezu geleiten.«

»Welche Schmerzen, welcher Jammer!« sagte Frauvon Wendenstein leise, »oh die Kronen der Fürsten

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müßten sich nur mit Perlen schmücken, statt mit Dia-manten und Rubinen, wie viele Thränen haften an ih-rem Glanz!«

»Aber es wird ein Tag der Rache kommen,« rief Herrvon Tschirschnitz, »und vielleicht ist er nahe!«

»Rache?« sprach der Oberamtmann ernst und sin-nend, »die Rache ist des Herrn, vor dessen Blick alleinSchuld und Unschuld offen liegt, menschliche Rachefügt nur immer weiter Ring an Ring in der furchtbarenKette der Leiden. – Doch,« unterbrach er sich, »Wasgiebt es Neues in dieser Zeit, wie sind die Herren zu-frieden, welche in den preußischen Dienst getreten?«

»Sie werden mit aller Zuvorkommenheit behandelt,«erwiederte Herr von Tschirschnitz, »aber sie fühlenselbst mehr, als man es sie fühlen läßt, wie schwer dieStellung ist, in welche die Nothwendigkeit sie gedrängthat, um so mehr, als sie vielleicht bald in der neuenUniform in’s Feld ziehen sollen!«

Der Lieutenant horchte hoch auf.Der Candidat warf einen schnellen Blick auf die Of-

ficiere.»In’s Feld ziehen?« rief der Oberamtmann, »wie

das?«»Seit gestern,« sagte Herr von Tschirschnitz, »spricht

alle Welt von großen Verwicklungen, Frankreich hat

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sich Luxemburg von Holland abtreten lassen, die Zei-tungen bringen die Nachricht von großen, französi-schen Rüstungen, auch hier sollen im stillen Vorberei-tungen getroffen werden, welche auf ernste Ereignisseschließen lassen.«

»Ein Krieg gegen Frankreich?« sagte der Oberamt-mann, »das könnte ja vielleicht die neue Waffenbrü-derschaft fester kitten.«

Die Officiere schwiegen.Der Lieutenant von Wendenstein stand auf und

schritt im Zimmer auf und nieder.»Ich bitte um die Erlaubniß,« sagte der Candidat,

»meinen Geschäften nachgehen zu dürfen, meine Zeitist gemessen, und ich habe viele Gänge zu machen.«

Er stand auf.Die Herren erhoben sich ebenfalls.»Wir müssen Euch allein sprechen,« flüsterte Herr

von Tschirschnitz dem Lieutenant von Wendenstein zu.»Sogleich – wir wollen auf mein Zimmer gehen,« er-

wiederte dieser und trat zu Helene, welche den Briefihres Vaters gelesen hatte.

»Ich hoffe,« sagte der Oberamtmann zum Candida-ten, »daß wir Sie vor Ihrer Rückreise noch sehen?«

»Ich werde nicht versäumen, mich zu empfehlen,und,« fügte er mit einem schnellen Seitenblick auf sei-ne Cousine hinzu, die ihre Hände um den Arm ihresVerlobten geschlungen und ihr Haupt leicht an seine

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Schulter gelehnt hatte, »und eine Antwort von Helenean ihren Vater abzuholen.«

Helene neigte den Kopf, ohne ihre Augen aufzu-schlagen.

Der Candidat verließ das Zimmer mit demüthigerVerneigung, ein mildes Lächeln auf den geschlossenenLippen.

Als er auf die Straße gekommen war, verschwanddieses Lächeln, ein scharfer Strahl blitzte aus seinemAuge, und ein harter, feindlicher Ausdruck legte sichauf seine Züge. Bald aber zeigte sein Gesicht wiederseine gewöhnliche, gleichmäßige Ruhe, und mit ra-schen Schritten ging er nach dem Georgswalle und tratin das große Haus dem Theater gegenüber, in welchemder preußische Civilcommissair, Freiherr von Harden-berg, sein Geschäftslocal eingerichtet hatte.

Ein Bureaudiener führte ihn in das Vorzimmer desCivilcommissairs. Nach einer halben Stunde stand ervor dem Chef der Preußischen Civilverwaltung im ehe-maligen Königreich Hannover.

Herr von Hardenberg, ein Mann von etwa dreiund-vierzig Jahren, mit vornehmen, freundlich wohlwol-lenden Zügen von etwas nervös gereiztem Ausdruck,saß vor seinem Schreibtisch und lud durch eine Hand-bewegung den Candidaten ein, ihm gegenüber Platz zunehmen.

In demüthiger Haltung und mit niedergeschlagenenAugen sprach der junge Geistliche:

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»Ich bin gekommen, um Eure Excellenz zu bitten –«»Ich bin nicht Excellenz,« sagte Herr von Hardenberg

kurz.Der Candidat verneigte sich tief. – »Mir war,« sagte

er, »von der früheren Regierung die Zusicherung ert-heilt worden, daß ich der Adjunct meines Oheims, desPfarrers Berger in Blechow, und demnächst sein Nach-folger werden solle, die Ausfertigung ist in Vergessen-heit gerathen, und ich wollte unterthänigst bitten –«

»Warum wenden Sie sich nicht an die Abtheilung fürCultusangelegenheiten?« fragte Herr von Hardenberg.

»Ich habe es mehrfach vergeblich gethan,« erwieder-te der Candidat, »ich weiß nicht, ob der Drang der Ge-schäfte oder persönliches Übelwollen schuld sind,« erschlug in schnellem Aufblick das Auge empor – »ichkann jenes starre Festhalten an den früheren Zustän-den nicht zur Schau tragen,« fuhr er fort, »vielleicht,daß deshalb die hohen geistlichen Herren –«

»Sie erfassen also die neuen Verhältnisse,« fragteHerr von Hardenberg ihn forschend anblickend, »wiewir wünschen, daß sie erfaßt werden möchten zumWohle des Landes, dem wir alle unsere Sorgfalt wid-men, und dem wir mit aufrichtiger Liebe entgegen-kommen?«

»Gott hat gerichtet!« sagte der Candidat, die Händefaltend, »und dem Diener Gottes kommt es nicht zu,dem Urtheil des Herrn zu widerstreben, seine Pflicht ist

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es, die Härten dieses Urtheils in christlicher Gesinnung,in Ergebenheit und Liebe zu mildern.«

»Ich freue mich aufrichtig, Herr Candidat,« sagteHerr von Hardenberg, ihn forschend anblickend, »wiewir wünschen, daß sie [***] Gesinnungen zu begeg-nen, wenn dieselben allgemein wären – wie viel leich-ter würde es uns werden, dem Willen des Königs ge-mäß, mit schonender und liebevoller Hand das Landin die neuen Verhältnisse hinüberzufahren! – Leider,«fuhr er fort, »theilen nicht alle Ihre Standesgenossendiese Anschauungen, und gerade in den Kreisen derlutherischen Geistlichen begegnen wir einem Wider-stande, der um so bedenklicher ist, als er sich hinterdie Unantastbarkeit der geistlichen Würde stellt.«

Der Candidat schwieg einen Augenblick. – »Ich binnoch jung an Jahren und im Amte,« sagte er dann,»und mein Urtheil mag unrichtig sein, aber – ich glau-be nicht, daß diese widerstrebenden Gesinnungen sichso leicht werden beseitigen lassen« – er hielt inne.

»Und woher glauben Sie denn, daß jene Gesinnun-gen kommen?« fragte Herr von Hardenberg gespannt,»doch nicht aus der bloßen Anhänglichkeit an den Kö-nig Georg – er war ja den meisten persönlich unbe-kannt –«

»Wenn ich mir erlauben dürfte,« sagte der Candidatzögernd, »meine Ansicht über diese Frage, wie über dieganze Lage des Landes auszusprechen –«

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»Ich bitte Sie darum!« rief Herr von Hardenberg,»ein Wort der Aufklärung von jemand, der in den Ver-hältnissen steht, kann für uns nur von größtem Nut-zen sein, und,« fügte er artig hinzu, »uns zur größtenDankbarkeit verpflichten.«

»Ich möchte glauben,« sagte der Candidat, indem erdie Augen aufschlug und den Blick voll auf Herrn vonHardenberg richtete, »daß die feindliche Haltung derGeistlichkeit gegen die neuen Zustände nicht politi-scher, sondern, um mich so auszudrücken, rein theo-logischer Natur ist. – Die preußische evangelische Lan-deskirche,« fuhr er fort, »beruht auf der Union, dieserWiedervereinigung dessen, was der Streit der Reforma-toren geschieden, die hannoverische Kirche steht aufdem Boden des strengen und exclusiven Lutherthums,welches eher noch zur katholischen Kirche zurückkeh-ren würde, als den Reformirten einen Schritt entge-genkommen. Die Geistlichen in Hannover sehen nun,«sprach der Candidat weiter, »in Preußen und allempreußischen Wesen die Verkörperung der Union, dasheißt den Übergang zum reformirten Bekenntniß oderden religiösen Indifferentismus, sie finden die altluthe-rische Kirche bedroht – und,« fuhr er seufzend fort,»um den Grad von fanatischer Erbitterung zu begrei-fen, welchen diese Auffassung hervorruft, muß maninnerhalb der geistlichen Kreise stehen wie ich. – Ichbin,« sagte er nach einer kleinen Pause, »in dieser Fra-ge ein unparteiischer Beobachter. – Seit lange schon

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habe ich die kirchlichen Verhältnisse in Preußen zumGegenstande meines Studiums gemacht, und seit lan-ge schon habe ich jene weise Einrichtung der evan-gelischen Landeskirche bewundert, welche auf demBoden der Union beider Bekenntnisse alle Gehässig-keiten, Feindschaften und Verketzerungen ausschließt,die das exclusive Lutherthum mit sich bringt – die-ses Lutherthum, welches heute so weit abgeirrt ist vondem Geist der evangelischen Freiheit und Liebe, wie erdie ersten Reformatoren erfüllte.«

Herr von Hardenberg hatte aufmerksam zugehört.»In der That,« sagte er, »Sie mögen Recht haben,

aber was ist dagegen zu thun?«»So lange die alte hannöverische Kirche besteht,« er-

wiederte der Candidat langsam, »wird ihr Einfluß im-mer den neuen Zuständen feindlich sein – sie wird sichder Nothwendigkeit beugen, aber die Rückkehr er frü-heren Verhältnisse ersehnen, die Einführung der Uni-on, die Einfügung Hannovers in die preußische Lan-deskirche ist die einzige Möglichkeit, den Einfluß, derGeistlichkeit für das Werk der Assimilirung der Bevöl-kerungen zu gewinnen.«

»Die Einführung der Union?« rief Herr von Harden-berg, »wenn Sie die preußische kirchliche Entwick-lung verfolgt haben, so werden Sie wissen, welche ge-waltsame Erschütterungen die Einführung der Unionin Preußen selbst hervorrief, und zwar in den ruhig-sten Zeiten, unter einer absoluten Regierung. Sollten

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wir in diese gährenden, von Agitationen durchwühl-ten Bevölkerungen noch die furchtbaren Aufregungenwerfen, welche eine gewaltsame Einführung der Unionnach sich ziehen muß?«

»Gewaltsam?« fragte der Candidat, »das ist meineMeinung nicht gewesen, die gewaltsame Einführungwar – wenn ich mir erlauben darf, es auszusprechen– auch in Preußen ein Fehler, man müßte ganz lang-sam und unmerklich vorgehen, wie denn ja überhauptder Proceß, der sich hier vollzieht, ein langsamer ist,der nur allmählich durch geschickte Behandlung derGährungen zur Abklärung führen kann.«

»Und wie würde sich dies unmerkliche und lang-same Vorgehen practisch zu gestalten haben?« fragteHerr von Hardenberg, der mit immer lebhafterem In-teresse zuhörte.

»Die jüngere Geistlichkeit,« sagte bei Candidat,»neigt sich in großer, überwiegender Mehrzahl denje-nigen Anschauungen zu, welche ich mir aus dem unbe-fangenen Studium der kirchlichen Verhältnisse gebil-det habe, sie sehen in der Union einen großen, wirk-lich reformatorischen und protestantischen Gedankenvon segensreichem, mächtigem Einfluß sowohl für diepolitische Stellung, als für die innere freie Entwicklungder Kirche, sie alle würden mit Freuden eine kirchlicheEinigung des ganzen Nordens, des ganzen protestanti-schen Deutschlands begrüßen, eine Einigung, der diepolitische Zerrissenheit bisher im Wege stand. – Man

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müßte also,« fuhr der Candidat nach einer augenblick-lichen Pause fort, »überall, wo und je nachdem die Ver-hältnisse es möglich machen, jüngere, der kirchlichenUnionsidee ergebene, und damit natürlich auch der po-litischen Assimilirung günstige Geistliche an die Stelleder alten, exclusiven Vertreter des starren Lutherthumsbringen, und auf diese Weise ohne alle scheinbare Ab-sicht und ohne schroffe Übergänge den geistlichen Ein-fluß der neuen Ordnung der Dinge gewinnen und si-chern. – Der Erfolg,« fügte er hinzu, »kann nicht einplötzlicher sein – aber ich möchte dafür bürgen, daßer ein sicherer sein wird.«

»Sie sehen die Verhältnisse klar und unbefangen an,«sagte Herr von Hardenberg, »ich freue mich, daß mirGelegenheit geworden ist, mich mit Ihnen zu unterhal-ten. Sie selbst,« fuhr er fort, den Candidaten fixirend,»würden ohne Zweifel in der von Ihnen angedeutetenRichtung zu wirken bereit sein?«

»Ich bin Adjunct meines Oheims und kam hierher,um Ihre Besthätigung dafür zu erbitten.«

»Ich werde sogleich das Nöthige veranlassen,« sagteHerr von Hardenberg, »Ihr Oheim –«

»Der Pastor Berger in Blechow,« sagte der Candidat– Herr von Hardenberg notirte die Namen auf ein BlattPapier – »mein Oheim,« fuhr der Candidat fort, »ge-hört der allerstrengsten und exclusivsten lutherischenRichtung an, er thut gewiß nichts, um Agitationen zu

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befördern, aber er wird niemals die neuen Verhältnissefreundlich ansehen.«

»Aber er ist alt?« fragte Herr von Hardenberg, »undes würde vielleicht seine Emeritirung möglich sein?«

»Herr Baron,« sagte der Candidat mit leiser Stimme,»es ist mein Oheim, den ich wie einen zweiten Vaterliebe, sein Vermögen setzt ihn freilich in den Stand,sorgenfrei zu leben, doch liebt er sein Amt und seineGemeinde.«

Herr von Hardenberg schwieg einen Augenblick.»Seien Sie versichert, Herr Candidat,« sagte er dann,»daß ich für die Erfüllung Ihres Wunsches Sorge tra-gen werde. Ich hoffe, daß Sie zur Beruhigung des Lan-des nach Kräften mitwirken werden, und es wird michimmer freuen, Sie wiederzusehen.«

»Ich bin glücklich,« erwiederte der Candidat, »daßmeine Bemerkungen Ihnen nicht mißfallen haben, undes würde mir zur größten, Befriedigung gereichen,wenn ich durch dieselben hätte dazu beitragen kön-nen, das nach der göttlichen Weltlenkung unabwend-bare Schicksal meines Landes einer freundlicheren undversöhnenden Zukunft entgegenzuführen, um so mehr,als auch auf anderen Gebieten Gefahren drohen – undvielleicht noch manche Opfer einer verderblichen Agi-tation zu verfallen bestimmt sind,« fügte er seufzendhinzu.

Herr von Hardenberg horchte hoch auf.

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»Da Sie mit so scharfem Blick,« sagte er, »die Ver-hältnisse auf dem kirchlichen Gebiete beobachtet undverfolgt haben, sollten Sie sonst nicht auch gesehen ha-ben, was nützlich – oder gefährlich sein könnte?«

»Ich habe hier gehört,« sagte der Candidat ein We-nig zögernd, »daß in Angelegenheiten Luxemburgs ei-ne Verwicklung mit Frankreich in der Luft schwebe, ichfürchte fast, daß die Agitation, welche von dem KönigGeorg oder dessen Umgebung ausgeht, in großer Thä-tigkeit ist, und daß vielleicht irregeleitete junge Leute –Officiere zu bedenklichen Zwecken gemißbraucht wer-den könnten, wodurch viele Familien in Bekümmernißversetzt werden würden.«

Herr von Hardenberg blickte in höchster Spannungauf das gleichmäßig ruhige Gesicht des Candidaten.

»Wissen Sie etwas Näheres darüber?« fragte er leb-haft, »können Sie mir einen Anhaltspunkt für meineWachsamkeit geben, können Sie mir Personen bezeich-nen?«

Der Candidat machte eine abwehrende Bewegungmit der Hand.

»Herr Baron,« sagte er, »ich kann wohl warnen, abernicht denunciren.«

»Die Sache ist ernst!« erwiederte der Civilcommis-sair mit Betonung, »ich hätte ein Recht nach Ihrer An-deutung, Sie nach bestimmten Angaben zu fragen, in-des, ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, daß

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eine Mittheilung, die Sie mir machen könnten, kei-nen denunciatorischen, keinen gehässigen Charakterhaben würde. Auch ich habe Grund zu glauben, daßin den welfischen Kreisen etwas vorgeht, im Interesseder jungen Leute selbst, welche verführt und gemiß-braucht werden könnten, wünschte ich dringend, Prä-ventivmaßregeln treffen zu können, bevor etwas ge-schehen ist, denn jedes wirkliche feindliche Vorgehengegen uns in diesem Augenblick würde mit der vollstenund rücksichtslosesten Strenge der Gesetze geahndetwerden müssen.«

»Das wäre schrecklich!« rief der Candidat mit demAusdruck eines lebhaften Erschreckens, »wenn diese sowürdige Familie –! Herr Baron,« sagte er, die Hand wiein unwillkürlicher Bewegung auf den Arm des Civil-commissairs legend, »wenn es sich um Präventivmaß-regeln handelt – achten Sie auf den Lieutenant vonWendenstein!«

»Von Wendenstein?« fragte Herr von Hardenberg,»der Sohn des Oberamtmanns, der seit dem vorigenJahre hier wohnt?«

»Derselbe,« sagte der Candidat, »ich fürchte, er ver-kehrt viel mit sehr preußenfeindlich gesinnten Officie-ren, Herr von Tschirschnitz, Herr von Hartwig –«

»Herr von Hartwig?« rief der Civilcommissair leb-haft, »das ist ja –« er unterbrach sich – »und Herr von

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Hartwig ist hier bei dem Herrn von Wendenstein ge-wesen, das könnte auf eine Spur fühlen,« murmelte er,»wenn es gelänge, die Fäden zu entdecken –«

»Ich bitte Sie aber um Gottes willen, Herr Baron,«rief der Candidat, »mit Vorsicht zu verfahren – undmich nicht zu compromittiren – vergessen Sie nicht,daß ich in der besten Absicht gehandelt habe!«

»Seien Sie unbesorgt, mein Herr,« sagte Herr vonHardenberg, »und rechnen Sie auf meine Dankbarkeitfür Ihren wohlmeinenden Eifer, uns nützlich zu sein!«

Er stand auf.Der Candidat erhob sich und verließ, sich tief ver-

neigend, mit niedergeschlagenen Augen das Cabinet.»Wenn es gelingt,« flüsterte er, »diese nahe Hochzeit

aufzuschieben, so habe ich noch ein weites Feld vor mirund kann das Verlorene wiedergewinnen. – Alles ge-staltet sich günstig, soll ich das Vermögen des Oheimsverlieren, weil es einem nichtsbedeutenden Officier ge-fällt, einen Roman mit meiner Cousine zu spielen? Wirwerden sehen!«

Und mit einem triumphirenden Lächeln auf seinendünnen Lippen verließ er das Haus.

Herr von Hardenberg hatte inzwischen einige Zeilenauf ein Papier geschrieben, das er faltete und versie-gelte.

»Dies sogleich dem Herrn Polizeidirector Stein-mann!« befahl er dem auf den Schall der hastig ge-zogenen Glocke eintretenden Bureaudiener.

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ZEHNTES CAPITEL.

In dem großen, hellen Cabinet des Palais am Ballhof-platze in Wien saß in seinem Lehnstuhl vor dem brei-ten Schreibtisch, den Rücken der Eingangsthür zuge-wendet, der Minister des kaiserlichen Hauses und desÄußern Freiherr von Beust.

Das leicht ergrauende und etwas dünn geworde-ne Haar war sorgfältig frisirt und fiel in zwei gleich-mäßigen Seitenlocken neben der hohen, weißen Stirnherab. Den an der einen Seite etwas herabhängendenMund umspielte ein leichtes Lächeln, das im Verein mitdem heiteren Blicke der Augen dem ganzen ausdrucks-vollen Gesicht des Ministers den Stempel ruhiger Zu-friedenheit aufdrückte.

Herr von Beust war bequem in seinen Stuhl zurück-gelehnt und durchflog mit aufmerksamem Blick einenBericht, den ihm der Sectionschef von Hofmann, wel-cher zur Seite des Schreibtisches dem Minister gegen-über saß, soeben gereicht hatte.

Herr von Hofmann, eine trockene, bureaukratischeGestalt mit ziemlich unbedeutenden, faltigen Gesichts-zügen, älter erscheinend als er war, beobachtete mitaufmerksamen Blicken das bewegliche Mienenspiel indem Gesicht seines Chefs, der bei seiner Lectüre mehr-mals mit dem Kopfe nickte, als wolle er seine Billigungmit dem, was er las, ausdrücken.

»Ich bin sehr erfreut,« sagte er endlich, indem er dendurchgelesenen Bericht auf den Tisch warf, »daß der

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Fürst Michael sich geneigt zeigt, seine weitgehendenForderungen zurückzuziehen und sich mit der Räu-mung der serbischen Festungen von türkischem Mili-tair zu begnügen – dieser Prinz von Hohenzollern aufdem rumänischen Fürstenstuhl ist eine böse Sache füruns, man hat ihm durch den französischen Einfluß inConstantinopel so große Vorrechte zugestanden, daßnun die anderen tributären Fürsten unruhig werdenund uns mit ihren Querelen über Nacht die orienta-lische Frage über den Hals bringen können. – Das istdas Pulverfaß an unseren Grenzen,« fuhr er fort, in-dem der heitere Ausdruck seines Gesichts einem nach-denklichen Ernst Platz machte, »an welchem Preußendurch seinen Alliirten in Petersburg fortwährend dieLunte hält und das uns in jeder unabhängigen Action,in jeder freien Wahl unserer Allianzen behindert!« –

»Dank der Geschicklichkeit Eurer Excellenz wird esaber gelingen, diese Gefahr zu beseitigen,« sagte Herrvon Hofmann, »Österreich tritt ja jetzt wieder in dieReihe der Staaten, welche wirklich durchdachte undgeniale Politik machen, und der Geist vergangenergroßer Tage weht wieder durch die Räume der altenStaatskanzlei.«

Das Lächeln kehrte auf die Lippen des Herrn vonBeust zurück.

»Wir müssen nun,« sagte er, die Spitze seines zier-lichen Stiefels betrachtend, welche unter dem wei-ten Beinkleid hervorspielte, »wir müssen allen unseren

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Einfluß aufbieten, um die Pforte zu bestimmen, die-se Räumung zu bewilligen. Lassen Sie schleunigst eineInstruction in diesem Sinne an den Internuntius abge-hen, er soll auf schnelle Antwort dringen, damit dieseserbische Frage definitiv geordnet werde.«

Herr von Hofmann verneigte sich.»Doch wir müssen weitergehen,« sagte Herr von

Beust, »diese orientalische Frage muß für lange Zeitihres gefährlichen Charakters entkleidet werden, undzugleich,« fuhr er langsamer und nachdenklicher fort,»können wir sie benutzen, um die Verbindung Ruß-lands mit Preußen zu lösen, diese Verbindung, wel-che uns in jeder Bewegung lähmt. Rußland hält fest zuPreußen, weil es eine Rückendeckung für seine Politikim Orient bedarf, kommen wir ihm unsererseits entge-gen, zeigen wir ihm, daß es hier Eingehen auf seineWünsche findet, so wird es vielleicht gelingen, jene en-ge Verbindung zu lockern. Ich habe schon mit Gramontdarüber gesprochen, daß es nöthig wäre, durch einegemeinsame Vorstellung der Großmächte in die Pfortezu dringen, daß sie die gerechten Anforderungen ih-rer christlichen Unterthanen in Kandia, Thessalien undEpirus durch genaue Ausführung des Hat Humaym be-friedige. – Außerdem aber möchte eine Revision desPariser Tractates von 1856 behufs Abänderung einigerRußland zu stark beschränkender Bestimmungen des-selben anzuregen sein, man wird uns in Petersburg für

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eine solche Anregung danken. Wollen Sie eine vertrau-liche Instruction in diesem Sinne an den Fürsten Met-ternich entwerfen, ich werde ausführlich mit Gramontsprechen.«

»Ich bewundere den genialen Scharfsinn Eurer Ex-cellenz,« sagte Herr von Hofmann, »Ihr Blick umfaßtdas ganze Schachbrett der europäischen Politik undweiß jeden Stein an die richtige Stelle für die großeCombination zu bringen!«

»Ich muß,« sagte Herr von Beust lächelnd, »die Stu-dien und Beobachtungen, welche ich gemacht und alssächsischer Minister nicht verwerten konnte, jetzt fürÖsterreich nutzbar machen. – Dem Kaiser Napoleontraue ich nicht ganz,« fuhr er fort, »ich fürchte, erspielt ein doppeltes Spiel und möchte, wenn er eini-ge Compensationen zur Beruhigung des französischenNationalgefühls erlangen kann, sich mit Preußen undRußland vereinigen und diese Trias als europäischenAreopag constituiren, mit Preußen allein wird er sichnicht zu eng verbinden. Auch aus diesem Grunde istdie Trennung Rußlands von dem Berliner Cabinet nö-thig, und wir bewerkstelligen sie am besten durch diegeschickte Benutzung des Punktes, welcher sie gebil-det, die orientalische Frage. Dies ist eine Giftpflanzefür Österreich,« fügte er lächelnd hinzu, »machen wirsie nicht nur unschädlich – sondern ziehen wir aus ihrHonig, wie die geschickte Biene.«

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Ein Kanzleidiener trat ein und stellte vor den Mini-ster eine große, schwarze Mappe auf den Schreibtisch.

Herr von Beust öffnete dieselbe mit einem kleinenSchlüssel und zog einige Papiere daraus hervor, welcheer eifrig durchflog. Ein Ausdruck von Erstaunen undSchreck überflog sein Gesicht.

»Da sehen Sie,« rief er, »wie recht ich hatte, der fran-zösischen Politik zu mißtrauen! – Graf Wimpffen be-richtet, man sei in Berlin plötzlich über eine projectir-te Abtretung Luxemburgs an Frankreich unterrichtet,die öffentliche Meinung sei auf’s Äußerste erregt, ei-ne Interpellation im Reichstage werde morgen stattfin-den, und trotz der äußeren, fast gleichgültigen Ruhedes Grafen Bismarck müsse die Situation als eine äu-ßerst gespannte und bedenkliche angesehen werden. –Da haben wir,« fuhr er fort, indem er den Bericht, dener soeben gelesen, Herrn von Hofmann reichte, »dahaben wir den Schlüssel zur französischen Politik! –Für die Abtretung Luxemburgs – demnächst vielleichtdie Erwerbung Belgiens – will er die ernste Anerken-nung der preußischen Herrschaft in Deutschland, dieAllianz mit Preußen und Rußland geben, ÖsterreichsZukunft preisgeben! – Glücklicherweise,« fuhr er fort,»täuscht sich dieser schlaue Spieler in seiner Combi-nation, Graf Bismarck ist kein Factor, mit dem er zurechnen versteht, er wird ihm den Preis nicht zahlen– dieser Mann,« fügte er mit unmuthigem Tone hinzu,

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»mit welchem eine regelmäßige vorberechnende Poli-tik gar nicht möglich ist! – Aber,« sagte er nach einerPause, während Herr von Hofmann aufmerksam denBericht des Grafen Wimpffen durchlas, »wenn dieserConflict zu einem kriegerischen Zusammenstoß führte,vielleicht wäre das in Berlin gar nicht so unerwünscht,was würde die Folge sein? – Jedenfalls eine definiti-ve Constituirung der europäischen Zustände, und ohneÖsterreichs Mitwirkung, denn wir sind im Chaos derÜbergänge, wir können nicht handeln! Damit wäre,«fuhr er sinnend fort, »Österreich verurtheilt, für immerunter den Folgen des Schlages vom vorigen Jahre zubleiben, das große Ziel, welches nur durch eine wohl-vorbereitete, kunstvoll und vorsichtig eingeleitete Ac-tion der Zukunft erreicht werden kann, wäre für im-mer verloren. Die große Aufgabe der österreichischenPolitik ist es, ohne den Anschein davon zu haben, je-de definitive Constituirung und Consolidirung der eu-ropäischen, insbesondere der deutschen Zustände zuverhindern, durch das Spiel der entgegengesetzten In-teressen Zeit zur inneren Kräftigung und zu richtigenAllianzcombinationen zu gewinnen, damit dann,« fuhrer fort, indem sein Auge mit lichtem Blick sich weit öff-nete, »dann, wenn die Kraft des neuen Blutes die habs-burgische Monarchie durchströmt, wenn der Bann derIsolirung Österreichs gebrochen ist, dann das Verlore-ne wieder eingebracht und neue, glänzende und festeMacht gewonnen werden könne!«

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Er schwieg einen Augenblick, das Auge wie auf eineinnere Vision gerichtet.

»Doch,« sagte er dann, »bis dahin ist noch ein wei-ter Weg zu machen, für jetzt gilt es, die dunklen WegeNapoleons zu durchkreuzen, er darf Luxemburg nichterhalten, darf auf dieser Basis nicht zur Verständigungmit Deutschland kommen, aber es darf auch kein Kriegaus dieser Frage entstehen, der Österreichs Neugestal-tung hemmen und die Politik der Zukunft abschneidenwürde.«

»Glauben Eure Excellenz, daß man in Frankreich biszum Äußersten vorgehen würde?« fragte Herr von Hof-mann.

»Wer weiß?« sagte der Minister, »bei Napoleon mußman immer mit der Möglichkeit eines coup de tête rech-nen.«

Und er durchblätterte die Papiere, welche er vorheraus der Mappe genommen hatte.

»Da ist ein Bericht von Metternich!« sagte er, lebhafteinen Bogen ergreifend, »wir werden sehen, was in Pa-ris vorgeht.«

Er durchflog das Papier.»Man ist in Paris sehr aufgeregt,« fuhr er fort, »der

Kaiser ist entrüstet über die plötzliche Enthüllung sei-ner Pläne, Moustier drängt zu festem Vorgehen, einestarke, chauvinistische Bewegung umgiebt den Kaiser– das ist schlimm – um jeden Preis muß ein Bruch

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vermieden werden, doch,« sagte er erleichtert aufath-mend, indem er den Schluß des Berichts las und den-selben dann Herrn von Hofmann reichte, »die Kaise-rin arbeitet auf das Lebhafteste für den Frieden – dasist ein Stützpunkt, den man benutzen muß – wir müs-sen alle Thätigkeit aufbieten, um diesen Schlag zu par-iren. – Telegraphiren Sie sogleich an Metternich,« sagteer nach einem augenblicklichen Nachdenken, »daß erauf das Lebhafteste unseren Wunsch, den Frieden zuerhalten, betonen und unsere bons offices nach jederRichtung anbieten solle, ich werde ihm selbst sogleichpersönlich schreiben, damit er seinen ganzen Einflußaufbiete, die Gefahr zu beschwören. Eine gleiche In-struction muß an Wimpffen abgehen. – Dann,« fuhr erfort, »müssen wir mit England eine gemeinsame Ver-mittlung vorbereiten, eine Conferenz vorschlagen, daswird man von beiden Seiten kaum ablehnen können,und,« sagte er lächelnd, »haben wir die Sache erst amgrünen Tisch, so wird sich das Echauffement abkühlen;wollen Sie eine Instruction an den Grafen Apponyi auf-setzen und mir vorlegen!«

Herr von Hofmann verbeugte sich.»Ich müßte die Sachen wohl mit dem Unterstaatsse-

cretär von Meysenburg verabreden?« sagte er.»Gewiß,« erwiederte Herr von Beust mit leichtem Lä-

cheln, »ich wünsche nicht, daß er übergangen oder ver-letzt werde, es ist gut, bei dem neuen Bau einige alteStützen stehen zu lassen – bis wir weiter vorgeschritten

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sind, sprechen Sie sogleich mit ihm, er wird übrigensin diesem Falle ganz einverstanden sein.«

Herr von Hofmann stand auf. Der Minister zog einenüber seinem Schreibtisch hängenden Glockenzug.

»Wer ist im Vorzimmer?« fragte er den eintretendenBureaudiener.

»Der Herzog von Gramont,« antwortete dieser.»Das ist gut,« sagte Herr von Beust, »da kann ich so-

gleich den Anfang machen!« –»Und dann,« sagte der Diener, »ein Herr, welcher mir

diese Karte und diesen Brief für Eure Excellenz gege-ben hat.«

Herr von Beust ergriff die Karte.»Reverend Mr. Douglas,« las er mit dem Ausdruck

des Erstaunens – »kennen Sie den Namen?«Herr von Hofmann zuckte die Achseln.Der Minister öffnete das Billet.»Graf Platen empfiehlt mir Mr. Douglas,« sagte er, »es

würde mir von Interesse sein, ihn zu sprechen, er ken-ne die englischen Verhältnisse genau, und der Königvon Hannover interessire sich besonders für ihn – ichbegreife nicht recht, aber hören will ich ihn. – BittenSie den Herren, einen Augenblick zu warten,« sagte erzu dem wartenden Diener, »und führen Sie den Herzogherein!«

Herr von Hofmann verließ das Cabinet, in der Thürden französischen Botschafter begrüßend, welchemder Minister entgegentrat.

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»Guten Morgen, mein lieber Herzog,« sagte er, ihmdie Hand reichend, in französischer Sprache, »es ist mirsehr lieb, daß Sie kommen, ich hatte Sie um eine Un-terredung gebeten, ich sehe Sturm auf dem BarometerEuropas, und wir müssen uns vereinigen, um ihn zubeschwören.«

Der Herzog, im schwarzen Überrock, die große Ro-sette der Ehrenlegion im Knopfloch, richtete seine ho-he, militairische Gestalt gerade empor, sein fein ge-schnittenes Gesicht mit dem leicht gekräuselten Haar,dem kurzen, aufwärts gedrehten Schnurrbart überflogein stolzes Lächeln, und indem er den Händedruck desHerrn von Beust erwiederte, sprach er:

»Es wird vielleicht leichter sein, dem Sturme zu trot-zen, als ihn zu beschwören.«

Herr von Beust neigte leicht den Kopf zur Seite, einfast unmerklicher Schimmer feiner Ironie glitt über sei-ne lächelnden Lippen, und indem er sich vor seinenSchreibtisch setzte, lud er den Botschafter ein, ihm ge-genüber Platz zu nehmen.

»Den Stürmen zu trotzen,« sagte er, »ist kühn –und klug, wenn es keinen anderen Weg giebt, umein großes, vorgestecktes Ziel zu erreichen, aber ge-gen den Sturm zu kämpfen, wenn dadurch das Zielnicht erreicht – ja seine spätere Erreichung für immergefährdet werden kann, das möchte ich nicht als dieAufgabe der Staatskunst anerkennen können. – Doch,«fuhr er fort, »sprechen wir ohne Metapher, Sie sehen

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mich erstaunt, lieber Herzog, und – ich muß es sagen– bekümmert über die Nachrichten, welche ich soebenvon Berlin und Paris zugleich in Betreff einer Abtre-tung Luxemburgs erhalte, man scheint in Berlin nichtgeneigt, dieselbe ruhig geschehen zu lassen –«

»Dann muß man Ernst zeigen!« sagte der Herzog,das Haupt emporwerfend, »man muß die gebieterischeStimme Frankreichs vernehmen lassen, welche schonzu lange geschwiegen hat.«

Herr von Beust schüttelte leicht den Kopf.»Sie wissen, mein lieber Minister,« fuhr der Herzog

von Gramont fort, »wie sehr ich es persönlich beklagthabe, daß der Kaiser sich nicht hat entschließen wol-len im vorigen Jahre, im Augenblick der großen Be-drängniß Österreichs, ein energisches Veto einzulegenund mit fester Hand in die Ereignisse einzugreifen; Siewissen, wie sehr ich zu solcher Politik gerathen habe,indes,« fuhr er fort, indem er leicht die Achseln zuckte,»sie ist nicht beliebt worden, und mir als Vertreter desKaisers steht es nicht zu, bedauernde kritische Rück-blicke auf das zu werfen, was geschehen ist. Nachdemdies aber geschehen, muß Frankreich thun, was es sichselbst, seiner Sicherheit und Machtstellung und demeuropäischen Gleichgewicht schuldig ist. Das vergrö-ßerte Preußen, an der Spitze der deutschen concen-trirten Militairmacht, hat kein Recht, Positionen zu be-halten, welche dem inoffensiven deutschen Bunde zu-gestanden waren, und Frankreich muß zur Sicherheit

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seiner Grenzen neue militairische Positionen als Garan-tie verlangen. Eine solche Position ist Luxemburg, undwenn man sie uns verweigert,« sagte der Herzog mitstolzem Ton, »so werden wir sie nehmen!«

Herr von Beust wiegte den Kopf hin und her undblickte unter den leicht gesenkten Augenlidern zu demHerzog, welcher rasch und lebhaft gesprochen hatte,hinüber.

»Sie haben soeben,« sagte er dann mit ruhiger Stim-me, »die Passivität Frankreichs gegenüber der deut-schen Catastrophe als einen Fehler bezeichnet, HerrHerzog, ich darf also keinen Anstand nehmen, diesenvon Ihnen selbst gegebenen Ausgangspunkt zu accep-tiren. – Glauben Sie aber,« fuhr er mit leichtem Lächelnfort, »daß es den Fehler verbessern hieße, wenn Frank-reich, das im rechten Augenblick nicht schlug, nun imunrechten Augenblick schlagen würde?«

Der Herzog blickte ihn ein Wenig betroffen an.»Warum wäre es ein unrechter Augenblick?« frag-

te er. »Wenn Preußen diese wahrlich bescheidene undhöchst berechtigte Compensation uns verweigert, sowird das französische Nationalgefühl mächtig entflam-men, und in seiner zornigen Erregung wird Frank-reich unbesiegbar sein, außerdem ist jetzt die Unifi-cation Deutschlands noch sehr wenig vorgeschritten,die neuerworbenen Länder sind voll Erbitterung, inSüddeutschland regt sich gewaltig der antipreußische

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Geist, die Wunden, welche der Krieg Preußen selbst ge-schlagen, sind noch nicht geheilt, kann es eine besse-re Gelegenheit geben, dieser neuen preußischen Groß-macht eine Lection zu geben und uns die so berechtigteGenugtuung zu nehmen?«

Herr von Beust schüttelte abermals, immer lächelnd,den Kopf.

»Und wenn Sie nun siegen, wenn Frankreich eineentscheidende Schlacht gewinnt,« fragte er, »was ha-ben Sie dann erreicht?«

»Wir haben das erreicht, was wir forderten!« rief derHerzog in etwas erstauntem Tone, »vielleicht noch einWenig mehr, wir haben Preußen gezeigt, daß der Au-genblick noch nicht gekommen ist, um Frankreich vonoben herab zu behandeln und seine Stimme zu über-hören, wir haben feste Garantieen für die Sicherheitunserer Grenzen.«

»Wollen Sie, lieber Herzog,« sagte Herr von Beustmit ruhiger Stimme, »mir eine Frage beantworten, –aufrichtig nach Ihrer Überzeugung?«

»Gewiß,« sagte der Herzog. »Sie wissen, daß ich mitmeiner persönlichen Ansicht nicht zurückhalte, auchwenn sie nicht vollständig mit dem übereinstimmt,was ich als Vertreter meiner Regierung aufrecht haltenmuß.«

»Nun wohl,« sagte Herr von Beust, »meine Frage be-trifft Italien. Sie haben Savoyen und Nizza erworben,

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um Ihre Grenzen zu sichern der militairischen Con-centration Italiens gegenüber, glauben Sie, daß dieseSicherung dauernder und fester sei, als wenn Sie ander Ausführung des Vertrages von Zürich festgehaltenund ein föderatives Italien hergestellt hätten, welchesin der Ruhe seines inneren Gleichgewichts niemals hät-te daran denken können, Ihnen durch eine offensiveExpansion gefährlich zu werden?«

Der Herzog von Gramont sagte nach einem augen-blicklichen Schweigen: »Ich habe stets die Grundsätzedes Vertrages von Zürich für die beste und weisestePolitik gegenüber Italien gehalten und bedaure, daß esunmöglich war, sie durchzuführen.«

»Nun,« sagte Herr von Beust, »in ähnlicher Lage sindSie heute Deutschland gegenüber – nur mit dem Unter-schiede, daß die physische Kraft Deutschlands mächti-ger ist als diejenige Italiens, daß Deutschland, in preu-ßischer Militaireinheit concentrirt, Ihnen viel gefährli-cher werden kann als jemals Italien. Machen Sie es mitdem Prager Frieden nicht wie mit dem Vertrage vonZürich.«

Der Herzog blickte nachdenklich zu Boden.»Erlauben Sie mir, ausführlicher zu sein,« sagte Herr

von Beust, »und Ihnen meinen ganzen Gedanken aus-zusprechen, denn wir stehen vielleicht an einem ern-sten Wendepunkt, von dem die künftige Gestaltung Eu-ropas und,« fügte er mit einem scharfen Blick auf den

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Herzog hinzu, »die künftigen Beziehungen zwischenFrankreich und Österreich abhängen.«

»Frankreich und Österreich sind durch gemeinsameInteressen verbunden,« sagte der Herzog mit verbind-lichem Kopfneigen.

»Zunächst durch einen gemeinsamen Gegner,« be-merkte Herr von Beust ruhig, »das ist viel, aber es istein negativer Boden – und,« fuhr er fort, »politischeGegnerschaften können zuweilen wechseln. – Ich se-he indes,« sagte er nach einer augenblicklichen Pause,»eine große Anzahl positiver Verbindungspunkte, wel-che, richtig klargestellt und formulirt, die Grundlageeiner festen und dauernden Verbindung werden kön-nen, einer Verbindung, welche für beide Länder vombedeutendsten und glücklichsten Einfluß zu werdenbestimmt zu sein scheint.«

Die Züge des Herzogs drückten die gespanntesteAufmerksamkeit aus.

»Wenn Sie jetzt Compensationen fordern,« fuhr Herrvon Beust fort, »wenn Sie dieselben mit den Waffenin der Hand erzwingen wollen, so beginnen Sie einenKrieg – verzeihen Sie, daß meine Ansicht der vor-hin von Ihnen geäußerten diametral entgegensteht –einen Krieg unter den ungünstigsten Chancen im al-lerschlechtest gewählten Moment. – Denn Sie greifenPreußen wegen einer Sache an, welche vollkommengeeignet ist, das deutsche Nationalgefühl zu entflam-men, wegen der Abtretung deutschen Gebietes, und

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wenn die süddeutschen Regierungen auch keine Nei-gung haben, preußische Interessen zu verfechten, sowird diese deutschnationale Erregung der Bevölkerun-gen sie um so mehr auf die Seite Preußens treiben,als sie nirgends einen Halt sehen und die traurigenSchicksale der entthronten Fürsten ihnen noch leben-dig vor Augen stehen. – Wir unsererseits,« fuhr Herrvon Beust achselzuckend fort, »sind vollständig außerStande, uns auch nur zu regen, und wollten wir trotzunserer unfertigen, im Werden begriffenen Zuständewirklich eine Action wagen, so würde Rußland undItalien es uns unmöglich machen. Sie würden sich al-so ohne alle Bundesgenossen der deutschen National-aufregung und der mehr oder minder activen Gegner-schaft Rußlands und Italiens gegenüber befinden. WasItalien betrifft, so werden Sie selbst ermessen, wel-che Folgen ein isolirtes Engagement Frankreichs gegenDeutschland auf die römische Frage haben müßte –«

»Ich verkenne das Alles nicht,« sagte der Herzog einWenig zögernd, »aber,« rief er dann in heftigem Tone,»soll man denn diesem unersättlichen, rücksichtslosenEhrgeize Preußens gegenüber immer nachgeben, im-mer zurückweichen, sollen denn alle Großmächte Eu-ropas sich beugen vor diesem Berliner Cabinet?«

Herr von Beust blickte mit ruhigem Lächeln in daserregte Gesicht des französischen Diplomaten.

»Wissen Sie,« sagte er dann, leicht mit dem Fingerauf dem Tisch trommelnd, »wissen Sie, mein lieber

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Herzog, welches unsere schärfste und wirksamste Waf-fe dieser preußischen Macht gegenüber ist? – Die Ge-duld!«

»Das ist eine Waffe,« rief der Herzog, »welche Frank-reich wenig gewöhnt ist zu führen!«

»Und doch,« sagte Herr von Beust ruhig, »kann ichnur dringend rathen, zu dieser Waffe zu greifen, dennsie sichert uns nach meiner Überzeugung den Sieg, dieendliche Erreichung des Zieles. – Sie werden überzeugtsein,« fuhr er fort, »daß ich nicht nur eine negativeGeduld, eine indolente Zurückhaltung empfehlen will,aber ich wünsche die Action so ernst und so folgerich-tig vorzubereiten, daß der Erfolg so sicher als möglichist – ich wünsche den Fehler zu vermeiden, den man inÖsterreich begangen hat, und dessen Folgen ich jetztwieder gut zu machen berufen bin. – Diese vordrän-gende preußische Macht,« sagte er, indem seine Zü-ge sich belebten und der Schimmer einer leichten Rö-the auf seinem bleichen Gesicht erschien, »kann nurmit Erfolg angegriffen werden, wenn man sie isolirtund ihr eine Coalition entgegenstellt, welche sie vonallen Seiten übermächtig umzingelt. Jetzt ist die La-ge umgekehrt. Preußen ist von starken Allianzen flan-kirt – Österreich ist ohnmächtig –, Frankreich steht al-so allein. Unsere erste Aufgabe muß sein, Italien vonPreußen zu trennen. Frankreich, Österreich und Ita-lien bilden eine starke Macht, noch bedeutungsvollerdadurch, daß sie Süddeutschland in eisernem Ringe

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umfassen und von der Einigung mit dem Norden zu-rückhalten können. – Wird es nun möglich sein, Italieneiner österreichisch-französischen Allianz einzufügen?– Ich glaube ja. Der König Victor Emanuel wünschtdringend die Anbahnung eines besseren Verhältnissesmit unserem Kaiserhaus, der französische Einfluß istmächtig in Florenz – das Ministerium wird diesen Ein-fluß unterstützen – und mit einigen Concessionen inder römischen Frage kann man, ohne das Princip auf-zugeben, die öffentliche Meinung günstig stimmen. Istdies erreicht, so stehen wir schon auf einer festen,ernsten Basis. Dann aber muß Rußland von Preußengetrennt werden, und das scheint mir nicht so sehrschwer. Kommt man Rußland ein Wenig im Orient ent-gegen, so fällt der Grund seiner festen Anlehnung anPreußen fort. Sie wissen, daß ich schon eine Revisiondes Pariser Tractats angeregt habe, und ich bemerke in-folgedessen bereits eine fühlbare Verbesserung unseresVerhältnisses zu dem St. Petersburger Cabinet. Gehenwir vorsichtig und geschickt auf diesem Wege weiter,so werden wir, wie ich hoffe, diese compacte Verbin-dung der nordischen Mächte lockern, welche für diePolitik Österreichs so lähmend und erdrückend ist. –Das ist,« fuhr Herr von Beust aufathmend fort, »die di-plomatische Aufgabe, welche wir uns zu stellen haben.Zugleich aber müssen wir unausgesetzt und sorgfäl-tig daran arbeiten, alle antipreußischen Elemente inDeutschland in ihrem Widerstande zu bestärken, sie

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zu sammeln und zu organisiren, um, wenn der Au-genblick des Handelns kommt, auf die schwankendenRegierungen einen starken Druck ausüben zu können.Aber auch dazu ist Zeit nöthig. Wir haben hier denKönig von Hannover und den Kurfürsten von Hessenund damit die Fäden der Agitationen in jenen Gebie-ten, Sie werden auf die katholische Presse in Bayernwirken können, die unangenehmen Berührungen derpreußischen Centralisationsbestrebungen werden dasIhrige thun und so bin ich überzeugt, wird die Zeit,anstatt, wie Sie fürchten, das unvollendete Werk desvorigen Jahres zu consolidiren, dasselbe vielmehr zer-bröckeln.«

»Ich bewundere in der That die weite und tiefe Com-bination, welche sich in Ihren Worten vor mir öffnet,«sagte der Herzog von Gramont.

Herr von Beust lächelte.»Um nun dies Alles vorbereiten und ausführen zu

können,« fuhr er fort, »ist vor allem nöthig, daß dieGrenze zwischen Nord- und Süddeutschland scharfaufrecht gehalten wird, und statt Compensationen zusuchen und zu fordern, sollte die französische Politiksich mit der österreichischen zur festen Aufrechterhal-tung des Prager Friedens verbinden, und die in die-sem Tractat vorgesehene und völkerrechtlich stipulirteHerstellung eines Südbundes anstreben, welcher ja un-ter unseren beiderseitigen Einfluß fallen würde – darinliegt der Schlüssel der Zukunft.«

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»Aber der Prager Frieden ist ja bereits verletzt!«rief der Herzog von Gramont, »die Militairverträge mitden süddeutschen Staaten, welche soeben bekannt ge-macht werden –«

Herr von Beust lächelte fein.»Gerade diese Verträge,« sagte er, »mischen unse-

re Karten. Preußen hat den Prager Tractat schon ver-letzt, und wir haben den Conflict ganz fertig zur Hand,wenn der Moment gekommen sein wird, wo wir sei-ner bedürfen. Wenn aus dieser Frage ein Conflict ent-steht, so greift Preußen ein von ihm selbst geschaffe-nes Vertragsrecht an, und wir sind die Verteidiger des-selben, das ist sehr wichtig, insbesondere für Frank-reich, denn wenn Frankreich sich in die Angelegenhei-ten Deutschlands mischt, so muß es geschehen zur Ver-teidigung deutscher Rechte, nicht, um aus deutschemGebiet Compensationsobjecte zu nehmen. – Da habenSie,« fuhr er fort, »in großen Zügen die Ideen, welchenach meiner Überzeugung für die Zukunft maßgebendsein müssen, die näheren Modalitäten ihrer Ausfüh-rung werden sich Schritt vor Schritt ergeben, wenn wiruns entschließen, gemeinsam und im Einverständnißauf diesem Wege vorzugehen, welcher zwar für jetztuns große Zurückhaltung und Vorsicht auflegt, aberdafür mit Sicherheit endlich zum Ziele führt.«

Herr von Beust hatte lebhaft gesprochen – sein Ge-sicht zeigte die Erregung seines Geistes – erwartungs-voll blickte sein helles Auge auf den Herzog.

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Dieser saß einige Augenblicke stumm, der feine,zierlich geschnittene und fast immer lächelnde Mundwar ernst zusammengepreßt – sein Blick zu Boden ge-richtet.

»Ich glaube, Sie haben Recht,« sagte er endlich. »Siesind der wahre Staatsmann, welcher von persönlichenGefühlen, Neigungen und Erregungen abzusehen ver-steht und ruhig und fest Alles dem großen Ziel un-terordnet und dienstbar macht. Ich erkenne die Weis-heit Ihrer Bemerkungen, die Größe und Klarheit Ih-rer Ideen an, wenn sich auch,« fügte er mit leichtemKopfschütteln hinzu, »mein militairisches Gefühl un-gern dem System der Geduld unterwirft.«

»Seien Sie ruhig, mein lieber Herzog,« sagte Herrvon Beust lächelnd, »auch Ihre Zeit wird kommen, wirhaben eine starke Festung zu besiegen; nach der stillenund mühsamen Arbeit der Ingenieure in den Laufgrä-ben kommt der Augenblick für die stürmenden Batail-lone. – Für jetzt also,« fuhr er fort, »billigen Sie meinenPlan und theilen meine Ansicht?«

»So sehr,« erwiederte der Herzog, »daß ich mir al-le Mühe geben werde, Ihre Anschauungen in Paris zurGeltung zu bringen. Sie erlauben mir, über unsere Un-terredung ausführlich zu berichten?«

»Sie werden mich dadurch verpflichten,« sagte Herrvon Beust, »ich werde den Fürsten Metternich veran-lassen, in gleichem Sinne zu sprechen; vor allem ver-gessen Sie nicht, auf das bestimmteste zu betonen,

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daß, wenn der Kaiser meine Anschauungen, welchevollkommen von Seiner apostolischen Majestät get-heilt werden, nicht zu den seinigen machen könnte,wenn demnach aus dieser Luxemburger Frage ein ern-ster kriegerischer Conflict entstehen sollte, eine Unter-stützung Österreichs in keiner Weise zu erwarten sei.Es ist meine Pflicht, mich darüber sehr klar und be-stimmt auszudrücken, in keiner Weise; Österreich wür-de die absoluteste und vorsichtigste Neutralität zu be-obachten gezwungen sein, man darf darüber in Pariskeinen Augenblick im Zweifel sein.«

Der Herzog verneigte sich leicht.»Doch,« fuhr Herr von Beust fort, »die Sache ist von

so großer Wichtigkeit, daß es vielleicht noch besserwäre, wenn Sie sich entschließen könnten, selbst nachParis zu gehen. Sie kennen die Situation hier genauund das mündliche Wort, die persönliche Einwirkungsind einflußreicher als alle Berichte –«

»Ich bin vollkommen dazu bereit,« sagte der Herzog,»und wenn Sie es wünschen, will ich sogleich abrei-sen.«

»Warten Sie noch einige Tage,« sagte Herr von Beust,»bis ich Mittheilungen über den weiteren Verlauf derSache in Berlin und über die Auffassung des englischenCabinets habe, damit ich meine Ansicht in genauer Er-wägung aller einschlagenden Verhältnisse formulirenkann, vielleicht wird sich dann auch in Paris die ersteErregung etwas gelegt haben.«

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»Sie werden selbst die Güte haben zu bestimmen,wann Sie für meine Reise den Augenblick für den rich-tigsten halten,« erwiederte der Herzog, indem er auf-stand, »ich werde inzwischen sogleich meinen Berichtabsenden und meine Ankunft ankündigen.«

Herr von Beust begleitete den Herzog zur Thür undverabschiedete sich von ihm mit herzlichem Hände-druck.

»Wie schwer wird es sein,« rief er seufzend, »die Ru-he zu erhalten, bis das Werk der Wiedergeburt Öster-reichs vollendet ist, bis alle diese so heterogenen Ele-mente in eine dem gemeinsamen lenkenden Willen ge-horchende Maschinerie vereinigt sind!«

Er stand einen Augenblick sinnend still.»Doch es wird gelingen!« rief er dann lächelnd, in-

dem der Ausdruck freudiger Zuversicht auf seinem Ge-sicht aufleuchtete, »alle diese Factoren, aus denen sichdie politische Welt zusammensetzt, sind lenkbar durchden Geist, durch die Combination, durch die geschick-te Leitung des Widerspiels der Kräfte, es gilt nur, denvorzeitigen Ausbruch der rohen Gewalt zu verhüten.Versuchen wir muthig, was der Geist und die geschick-te Staatskunst vermögen!«

Er trat zu seinem Schreibtisch und bewegte denGlockenzug.

»Lassen Sie den Herrn eintreten, der mir vorhin dieKarte gesendet,« sagte er dem Bureaudiener, und er-wartungsvoll blickte er dem Eintretenden entgegen.

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Reverend Mr. Douglas, wie er sich durch seine Kar-te angemeldet, ein breitschulteriger, kleiner, untersetz-ter Mann von etwa fünfzig Jahren, war eine jener Er-scheinungen, welche man schwer wieder vergißt, so-bald man sie einmal gesehen.

Sein großes, stark markirtes Gesicht mit hoher, brei-ter Stirn, von glatt herabhängendem Haar umgeben,von einzelnen Narben zerrissen, trug einen aus Energieund Schwärmerei gemischten Ausdruck; die Augen, sostark schielend, daß es unmöglich war, jemals ihrenBlick zu erfassen, bildeten im Verein mit dem großen,breiten Mund, den starken Kinnbacken und der mäch-tig hervortretenden, etwas schief im Gesicht stehen-den Nase ein Bild von so ungemeiner Häßlichkeit, wiees schwer zum zweiten Male zu finden gewesen wä-re. Dennoch entbehrte dies auf den ersten Anblick fasterschreckende Ensemble nicht einer gewissen Anzie-hungskraft durch das Licht geistigen Lebens, welchesdiese so absonderlich gebildeten Züge durchschimmer-te.

Mr. Douglas, in einfachem schwarzen Rock, trat inruhiger Haltung herein, verneigte sich und blieb mitjener den englischen Geistlichen eigenthümlichen wür-devollen Zurückhaltung vor dem Minister stehen.

Herr von Beust blickte ihn erstaunt und betroffenvon der eigenthümlichen Erscheinung an.

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Er deutete artig auf den Stuhl, welchen der Herzogvon Gramont soeben verlassen, und setzte sich vor sei-nen Schreibtisch.

»Graf Platen schreibt mir,« sagte er, als Mr. Douglasihm gegenüber Platz genommen, im reinsten Englisch,»daß Sie von England kommen und mir manches In-teressante mitzutheilen haben.«

Mit einer sonoren Stimme, deren Ton ein Wenig andie Gewohnheit kirchlicher Vorträge erinnerte, erwie-derte Mr. Douglas:

»Ich bin beglückt, den großen Staatsmann zu sehen,dessen Name uns Engländern sympathisch ist, dessenGeist ich lange bewundert habe und von dem ich über-zeugt bin, daß er die Ideen, welche mich bewegen, ver-stehen und würdigen wird.«

Herr von Beust neigte lächelnd den Kopf. »Es freutmich sehr,« sagte er, »wenn mein Name in Englandeinen guten Klang hat, ich bin meinerseits stets ein auf-richtiger Bewunderer des Geistes der englischen Nati-on gewesen.«

»Wir verfolgen in England,« sagte Mr. Douglas, »mitgespanntem Interesse Alles, was Eure Excellenz thun,um die große Aufgabe zu erfüllen, welche Ihnen über-tragen ist, und,« fügte er hinzu, »welcher Niemand indem Grade gewachsen wäre als Sie. – Ich insbesonde-re,« fuhr er fort, »habe meine Blicke voll Aufmerksam-keit auf Ihr Werk gerichtet, weil ich dasselbe in Ver-bindung bringe mit einem großen Gedanken, der mich

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erfüllt und mächtig bewegt, so mächtig, daß ich michaufgemacht habe aus meiner Heimath, um auszuzie-hen zur Ausführung dessen, was mit der leuchtendenGewalt der Wahrheit mein Inneres durchdringt.«

Herrn von Beusts erstaunte Blicke drückten dieSpannung aus, mit welcher er den Mittheilungen ent-gegensah, die dieser eigenthümlichen Einleitung fol-gen sollten.

»Ich habe,« fuhr Mr. Douglas fort, »die GeschichteEuropas, wie sie sich in den letzten Jahren gestaltetund entwickelt hat, genau und aufmerksam verfolgt –und ich habe zugleich infolge meines geistlichen Am-tes die heiligen Schriften eingehend studirt, und ausdieser doppelten Beobachtung habe ich die Überzeu-gung gewonnen, daß die Offenbarungen des großenEvangelisten sich erfüllen und daß der Streit mit demgroßen Drachen geführt werden muß, welcher gegenden Himmel anstürmt, damit die endliche Herrschaftdes Reiches Gottes vorbereitet werde!«

Mit großen Augen sah Herr von Beust diesen Mannan, der da vor ihm saß, das scharf markirte Gesichtdurchzittert von dem Ausdruck fanatischer Überzeu-gung, die rechte Hand erhoben mit zwei ausgestreck-ten Fingern, die linke auf die Brust gelegt. – Er wußtein der That nicht, was er mit dieser merkwürdigen Per-sönlichkeit anfangen sollte.

»Der Drache,« sprach Mr. Douglas weiter, »ist Preu-ßen, das die Grundsätze des Rechts zerstört, das die

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Heiligkeit des Glaubens, des Christenthums mit Füßentritt, Thron und Altar zu Boden wirft und dem Unglau-ben, dem Haidenthum die Welt überantworten möch-te. Die aber von ihm niedergeworfen und erwürgt sind,die Männer in den weißen Kleidern, das sind diejeni-gen, die am Recht am Glauben, an der Religion festhal-ten, das sind diejenigen, die sich vereinigen müssen,um dem Erzengel Michael beizustehen in dem großenKampfe gegen den Drachen der Finsterniß.«

Ein eigenthümliches Lächeln zuckte um die Lip-pen des Herrn von Beust. Schweigend und mit immerwachsender Verwunderung betrachtete er den sonder-baren Interpreten der Apokalypse.

Mr. Douglas ließ die Hand sinken, der Ausdruck derbegeisterten Erregung schwand von seinem Gesichtund im Tone ruhiger Conversation fuhr er fort: »DasAlles habe ich gefunden in der sorgsamen Verfolgungder Geschichte und dem Studium der Offenbarungen,es ist mir immer klarer geworden, seit ich eingedrun-gen bin in die Geheimnisse des Spiritismus, ich habeVerkehr gehabt mit den hervorragendsten Geistern derVergangenheit, und alle ihre Mittheilungen haben mirbestätigt, daß der Augenblick gekommen sei, um dengemeinsamen Kampf gegen den großen Drachen zu be-ginnen.«

Herr von Beust schwieg immerfort.»Diejenigen aber, welche berufen sind, diesen Kampf

aufzunehmen, sich zu demselben in engem Bunde zu

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vereinigen, das sind diejenigen Mächte in Europa, wel-che jede in ihrer Weise am positiven Christenthum fest-halten, welche das weiße Kleid der Auserwählten tra-gen: das ist England, die Vertreterin der reinen Hoch-kirche, das ist Österreich und Frankreich, die katholi-schen Mächte, das ist Rußland, welches in seiner Handdas griechische Kreuz trägt, dem der Osten huldigt.Was bedeutet,« fuhr er fort, »der Unterschied, welcherdie englische Hochkirche, den Katholicismus und dengriechischen Cultus voneinander trennt, im Vergleichzu dem Abgrunde, welcher alle diese Vertreter deschristlichen Glaubens von jener Macht trennt, welchedas Recht mit Füßen tritt, die Fürsten von den Thro-nen wirft und die Kirche zu einer Institution der Staats-räson macht? Die großen christlichen Mächte müssensich also vereinigen, um Preußen und seinen SatellitenItalien niederzuwerfen, das Recht, die Autorität undden Glauben auf Erden wiederherzustellen.«

Herr von Beust machte eine leichte ungeduldige Be-wegung.

»Ich glaube nicht recht,« sagte er mit einem kaummerkbaren Lächeln, »daß diese der geistlich-kirchlichenAnschauungsweise entnommenen Gesichtspunkte ge-eignet sein möchten, die Politik der Cabinette Europaszu bestimmen, welche sehr weltlich gesinnt sind,« füg-te er mit leichtem Achselzucken hinzu.

Mr. Douglas lächelte mit überlegener Würde.

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»Die weltlichen Interessen stimmen vollkommen mitden Bedingungen der vorbezeichneten Entwicklungder christlichen Neuordnung überein, wie es ja über-haupt das Wesen der Religion ist, daß ihre Wahrhei-ten auch diejenigen beherrschen und lenken, welchesie nicht erkennen. Betrachten Excellenz,« fuhr er fort,»die Stellung und die nothwendigen Aufgaben der eu-ropäischen Mächte, Sie werden finden, daß sie in ih-rem eigenen, rein politischen, rein weltlichen Interessehandeln müssen, wie sie nach meiner Auffassung derWeltlage handeln sollen. Sie, Excellenz, stehen an derSpitze des österreichischen Staates, welcher niederge-worfen ist von dem gemeinsamen Feinde, beraubt sei-ner heiligsten und unantastbarsten Rechte, dem Verfallund Untergang preisgegeben, wenn er sich nicht auf-rafft zu ernstem, rücksichtslosem Kampf. Sie sind be-droht von Italien, dem Bundesgenossen Ihres Feindes,Sie sind angewiesen auf die Allianz Frankreichs, dasnur bestehen kann, wenn es sich fest stützt auf die Re-ligion und das Recht, denn in seinem Innern gärt schondie Revolution, und die Kraft der Religion, das ewigeRecht allein kann die aus dem Krater heraufdrängen-den bösen Geister bannen. – Die beiden anderen Mäch-te,« fuhr Mr. Douglas seufzend fort, »welche berufenwären, an dem großen Kampfe theilzunehmen, stehenleider abseits. England, mein Vaterland, weil es versun-ken ist in Materialismus, aber es schläft nur, es kommtdarauf an, den alten englischen Sinn zu wecken, und

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England wird von Neuem seine ganze Kraft einsetzen,um das heilige Recht zur Geltung zu bringen. Rußland– ich bin überzeugt, daß man dort mit Besorgniß denUmsturz Alles dessen sieht, was als heilig und ehrwür-dig jahrhundertelang dagestanden hat, aber Rußlandist von denen, welche mit ihm gemeinsam handelnmüßten, zurückgestoßen, man hat ihm den Weg seinernaturgemäßen Entwicklung verschlossen, statt sich mitihm zu vereinigen, um die Haiden aus der alten Haupt-stadt Konstantins des Großen zu vertreiben, dadurchhat man Rußland gewaltsam zu Preußen gedrängt unddie Kraft des allgemeinen Feindes mächtig verstärkt.«

Herr von Beust hatte immer aufmerksamer zuge-hört.

»Sie würden also, um Ihre Ideen, die mich sehr in-teressiren, zur Ausführung zu bringen –« fragte er mitforschendem Blick.

»Rußland vor allem, diese christliche Macht, denBannerträger des Christenthums im Osten, von Preu-ßen trennen; durch eine richtige Behandlung der ori-entalischen Frage würde das sehr leicht sein, Eng-land aufrütteln aus seiner Lethargie, durch zahlreicheFreunde, welche denken wie ich, durch kräftige Be-nutzung der Presse, würde auch das bald geschehenkönnen, und dann,« fuhr er fort, abermals die Handmit den emporgerichteten Fingern erhebend, »den Ver-nichtungskampf des großen europäischen Bundes für

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das christliche Recht gegen das Haidenthum in Staatund Kirche beginnen. Der Sieg kann nicht fehlen.«

Herr von Beust sann einen Augenblick nach.»Haben Sie schon mit jemand über Ihre Ideen und

Ihre Pläne gesprochen?« fragte er.»Ganz im Allgemeinen mit einigen gleichgesinnten

Freunden in England,« erwiederte Mr. Douglas; »ein-gehender und was die Durchführung der Gedanken be-trifft, die mich bewegen, noch nicht, als hier. – Es ließmir keine Ruhe,« fuhr er fort, »Tag und Nacht bewegtemich der immer mächtiger und klarer in mir sich em-porarbeitende Gedanke, ich fühlte die Mission in mir,seine Ausführung den Mächtigen der Erde zu predi-gen, aber wie sollte meine Stimme, die Stimme eineseinfachen Geistlichen, der bisher in stiller Zurückgezo-genheit seinen Studien und den Pflichten seines Am-tes gelebt, dahin dringen, wo die Macht wohnt, in dieGeschicke der Welt einzugreifen? – Da gab mir Gott,den ich anrief, ein,« fuhr er fort, »mich an den Kö-nig von Hannover zu wenden. Er ist geborener Prinzmeines Landes, er ist hart und schwer von dem mäch-tig durch die Welt schreitenden Unrecht getroffen, ermußte besonders berufen sein, mir meinen Weg zuöffnen. Ich erhielt von einer Dame ein Einführungs-schreiben an die Königin Marie, welche in traurigerEinsamkeit auf der Marienburg leidet; ohne Besorg-niß ließen die preußischen Wachen mich, den einfa-chen Geistlichen, zu der hohen Frau, und ich brachte

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ihr Trost und Stärkung, ich erweckte in ihr den Glau-ben und das Vertrauen auf die göttliche Hilfe und deu-tete ihr an, wie durch die Macht des christlichen Ge-dankens die Mächte Europas erweckt werden müßten,um alles Recht und auch das ihrige wieder aufzurich-ten. – Die Königin verstand mich und sendete mich anihren erhabenen Gemahl nach Hietzing, welchem ichin großen Zügen den Gedanken entwickelte, der micherfüllt. Der König,« fuhr er fort, »ergriff meine Ideenmit großem Interesse, er begriff vollständig sowohl diechristlich-religiösen Principien, von welchen ich aus-ging, als auch die politischen Combinationen, durchwelche ich die Erreichung meines großen Zieles mög-lich machen wollte, und er befahl sogleich, mir denWeg zu Eurer Excellenz zu öffnen, ›denn,‹ sagte SeineMajestät zu mir, ›dort werden Sie den großen Geist fin-den, um Ihre Gedanken zu erfassen, und die geschickteHand, um Ihnen den Weg zu ihrer Ausführung zu zei-gen und zu öffnen‹.«

Herr von Beust hatte nachdenkend zugehört.»Ich bin in der That frappirt von Ihrer Auffassung,«

sagte er, als Mr. Douglas schwieg, »Sie fassen mit wei-tem Blick die ganze Gesammtlage Europas zusammenund bezeichnen so scharf und treffend die Punkte, wel-che die Situation bestimmen, daß ich lebhaft bedauernwürde, wenn diese Gedanken lediglich private Refle-xionen blieben. Ich freue mich meinerseits, Ihre Ideengehört zu haben, allein,« fügte er achselzuckend hinzu,

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»ich vertrete nur eine europäische Macht, und zwar ei-ne Macht, welche in diesem Augenblicke sehr wenigmächtig ist. Um Ihren Gedanken ernste practische Fol-gen zu geben, müßten dieselben in Paris und St. Pe-tersburg gehört und erfaßt werden.«

»Ich wünsche nichts mehr,« rief Mr. Douglas, »alsdort Gehör zu finden! – Der König von Hannover hatmir versprochen, mich sowohl beim Kaiser Napoleoneinzuführen als auch in St. Petersburg, wo er und be-sonders die Königin, mit der ich darüber schon sprach,ganz nahe Beziehungen hat. – Ich möchte indes,« fuhrer fort, »nicht ausschließlich als Verfechter der ganz be-sonderen Rechte des Königs von Hannover dastehen,ich möchte eine Macht wenigstens zur Seite haben,deren Zustimmung und Unterstützung meinen Wortengrößeres Gewicht geben würde.«

»Ich bin vollständig bereit, mein lieber Mr. Douglas,«sagte Herr von Beust, »Sie auf jede Weise in IhremWerke zu unterstützen, in der Weise natürlich, in derdas möglich ist, denn Sie werden begreifen, daß, sosehr ich Ihre Gedanken bewundere und billige, ich sienicht officiell als die Formel der österreichischen Poli-tik aufstellen kann. Das würde Ihnen den Eingang er-schweren und vorzeitige Publicität und Wachsamkeitder Gegner hervorrufen. – Ich würde es indes,« fuhrer fort, »für höchst wichtig und bedeutungsvoll halten,

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wenn Sie persönlich mit der eindringenden Beredsam-keit, deren Wirkung ich soeben empfunden,« er ver-neigte sich mit verbindlichem Lächeln, »Ihre Combina-tionen dem Kaiser Napoleon sowie dem Kaiser Alex-ander und dem Fürsten Gortschakoff entwickelten. –Ich glaube nun,« sagte er nach einem kurzen Nachden-ken, »daß es das beste wäre, wenn Sie sich zunächstdurch die Beziehungen des Königs von Hannover, des-sen Sache mir am Herzen liegt und gegen welchenÖsterreich eine Ehrenverpflichtung hat, einführen lie-ßen. Ich werde die Vertreter Österreichs anweisen, Siein jeder Weise zu unterstützen und Ihnen überall, woSie es nöthig finden, den Zugang zu erleichtern. Zu-nächst müßten Sie nach Paris gehen, lassen Sie sicheinen Brief vom Könige von Hannover geben, ich wer-de Ihnen eine Einführung an den Fürsten Metternichmitgeben, demnächst müßten Sie dann Ihr Werk in St.Petersburg beginnen.«

»Ich danke Eurer Excellenz von ganzem Herzen fürdies freundliche Entgegenkommen und diese wirksa-me Unterstützung,« sagte Mr. Douglas, »auf welche ichbestimmt hoffte, und werde sogleich mit dem Köni-ge von Hannover sprechen, er wird sehr erfreut sein,daß ich bei Eurer Excellenz so volles Verständniß ge-funden.«

»Jedenfalls werde ich Sie noch sehen,« sagte Herrvon Beust, »kommen Sie abends zu mir, da werde ichstets für Sie zu Hause sein, wenn keine drängenden

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Geschäfte mich mehr stören, ich werde mich freuen,mit Ihnen noch eingehender und ausführlicher michzu unterhalten. Ich hoffe, daß Sie mich von Paris unddemnächst von St. Petersburg aus fortlaufend und ge-nau über Ihre Unterhaltungen und Ihre Erfolge unter-richten werden!«

»Ich stehe von diesem Augenblick an ganz zu Eu-rer Excellenz Disposition!« sagte Mr. Douglas aufste-hend, »verfügen Sie vollständig über mich und seienSie überzeugt,« fügte er, die Hand erhebend hinzu,»daß ich Alles aufbieten werde, um die Leitung der eu-ropäischen Politik in Ihre Hände zu legen.«

»Haben Sie mit dem Grafen Platen über Ihre Ideengesprochen?« fragte Herr von Beust.

»Wenig,« antwortete Mr. Douglas achselzuckend,»ich hielt es kaum für nöthig.«

Herr von Beust nickte lächelnd mit dem Kopf.»Auf Wiedersehen also!« sagte er aufstehend und

reichte Mr. Douglas die Hand, welcher sich darauflangsam und ruhigen Schritts entfernte.

»Though this be madness – yet there is method in’t!«rief Herr von Beust, indem er sich wieder in seinenLehnstuhl setzte und nachdenklich vor sich hin blick-te. – »Lassen wir diesen sonderbaren Schwärmer alsballon d’essai die Stimmung der Cabinette sondiren, je-denfalls wird er manches sehen und hören, was demBlick der Diplomatie verborgen bleibt und mir als In-formation von hohem Nutzen sein kann. – Und wenn

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er auch von dem Standpunkt theosophischer Schwär-merei ausgeht, seine politischen Gedanken passen voll-ständig in meinen Plan, der Kaiser Napoleon ist zu-gänglich für schwärmerische Mystik, und in Peters-burg, wer weiß, auch Frau von Krüdener hatte einstgroßen Einfluß, und sie zog aus ihren dunklen Prämis-sen nicht so klare Consequenzen als dieser eigenthüm-liche Mensch. Je mehr Fäden, je besser, und am bestenund wirksamsten ist oft derjenige, welcher in verbor-gener Dunkelheit sich hinzieht.«

Er warf einen Blick auf seine Uhr und zog die Glocke.»Sagen Sie meinem Diener,« befahl er dem eintre-

tenden Bureaubeamten, »daß er mein Pferd vorführenlasse, ich will ausreiten!«

ELFTES CAPITEL.

In dem Hause der Rue Notredame de Lorette, des-sen Bel-Etage auf der einen Seite von MademoiselleJulia, der Freundin des Herrn von Grabenow, bewohntwurde, saß auf der anderen Seite, an deren Eingangst-hür man auf einem Schild von Porcellan den Namenlas: Romano, Maler, in einem ziemlich geräumigen,unvollständig meublirten Salon ein Mann über einengroßen Zeichentisch gebückt, eifrig beschäftigt mit ei-ner Zeichnung in schwarzer Tusche.

Er trug einen schwarzen, verschossenen Sammtrock,sein lang an den Schläfen herabhängendes schwar-zes Haar war dünn geworden und zeigte hie und da

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ergrauende Stellen, ja einzelne Silberfäden, obgleichdie Züge seines Gesichts auf kaum mehr als ein Al-ter von vier- bis fünfunddreißig Jahren schließen lie-ßen. Dies Gesicht war von schönem, edlem Schnitt.Unter der Stirn, zu hoch geworden durch das frühzeitigausgefallene Haar, glänzten, von schön gezeichnetendunklen Brauen überwölbt, tiefschwarze Augen, derenBlick in fieberhaftem Glanz leuchtete. Die griechischeNase trat scharf aus dem mageren Gesicht hervor undum den feinen Mund, dessen Lippen sich fest aufein-ander preßten, zuckten in peinlichem Nervenspiel jeneeigenthümlichen Linien, welche tiefer Seelenschmerzdem Menschenantlitz eingräbt.

Neben dem anderen Fenster stand ein altes Canapémit zerrissenem Überzug, daneben eine Staffelei undein Tisch mit einer Palette, Pinseln und einem Blech-kasten voll Ölfarben. Auf der Staffelei sah man eingroßes Bild, die Auferstehung Christi darstellend; dieConturen waren genial gezeichnet, einzelne Parthienfast vollendet, andere kaum angefangen, das Ganzetrug den Stempel des Unvollendeten, Zerrissenen, derkünstlerischen Unsicherheit.

Neben dem Kamin, in welchem die letzten Funkeneines erlöschenden Feuers verglühten, hing ein lebens-großes Bild einer jungen Frau in weißer, idealischerGewandung, welche der jungen Julia sprechend ähn-lich sah.

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Der Maler Romano starrte trübe auf seine Zeichnung– schlaff sank die magere, von blauen Adern durchzo-gene Hand auf das Papier nieder, das brennende großeAuge starrte blicklos auf die Conturen. Dann plötzlicherhob er sich in rascher Bewegung, warf den Stift, denseine Hand mechanisch gehalten, fort und schritt imZimmer auf und ab.

»Welch’ ein Dasein,« rief er, »welch ein jammervol-les Hinsiechen dieser athmenden Maschine, welche be-stimmt war zur edlen Wohnung des nach Gottes Eben-bilde geschaffenen Geistes, und welche nichts weitermehr ist als das öde und jammervolle Gefängniß ei-ner gebrochenen, zerrütteten Seele, die ihren irdischenKerker nur verlassen wird, um dem Abgrund der ewi-gen Qual zu verfallen!«

Er warf sich auf das alte Canapé und starrte düstervor sich hin.

»Wie oft,« flüsterte er, »habe ich die durstigen Lippengeöffnet, um das Ende dieses entsetzlichen Daseins imerlösenden Gift zu trinken, wie oft habe ich den drei-schneidigen Dolch nach diesem verzweifelten Herzengezückt, um seinen bangen Schlägen für immer Haltzu gebieten, aber meine Lippen haben sich angstvollgeschlossen, meine Hand ist zitternd herabgesunkenbei dem Gedanken, daß ich die Qual dieses Lebensnur verlassen würde, um vor dem wetterflammendenThron des ewigen Richters zu erscheinen! – Mein Ver-brechen ist groß – ungeheuer,« rief er, schmerzlich die

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Hände ringend, »aber meine Leiden und meine Reuesind ebenso groß, ebenso furchtbar! Wenn die Lie-be Gottes wägte, nicht die unerbittliche Gerechtigkeit,meine Schuld könnte gesühnt sein, aber habe ich einRecht an die Liebe, ich, der ich das Vertrauen der treue-sten Liebe so schmählich getäuscht? – Er zwar,« sagteer leise, indem eine Thräne in seinem brennenden Au-ge schimmerte, »er, mein verrathener Bruder, er wür-de verzeihen mit seinem großen Herzen von Erbarmenund Milde, und oft habe ich mich aufmachen wollen,um ihn aufzusuchen und zu seinen Füßen seine Verge-bung zu erflehen, aber die Schaam, die Verzweiflunghalten mich zurück!«

Er blickte lange auf das unvollendete Gemälde aufder Staffelei.

»Oh du heilige, göttliche Kunst,« rief er, indem einträumerisch weicher Schimmer seinen Blick erleuchte-te, »wie habe ich dich geliebt, wie rankte sich meineSeele empor an den erhabenen Vorbildern der großenVergangenheit, wie glühte mein Herz von schöpferi-schem Drange, – oh ich hätte Großes und Schönesschaffen können, denn mein Auge war geöffnet demHeiligthum der ewigen Schönheit, und meine Handwar geschickt, die Gesichte meines Innern zu verkör-pern, aber seit ich gefrevelt an der Treue und demVertrauen meines Bruders, seit ich der gebenedeitenJungfrau die Züge des sündigen Weibes gab und sün-dige Gedanken bei dem heiligen Werk meine Seele mit

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Schlangenringen umzogen, seitdem verschließt sichdie Harmonie der Schönheit meinem Auge und mei-ne Hand hat die Schöpfungskraft verloren, sie kannnur sclavisch wiedergeben die Bilder des gemeinen Le-bens! – Ich wollte die Auferstehung des Heilandes ma-len,« murmelte er finster, die brennenden Blicke aufdie Leinwand gerichtet, »ich hoffte Trost zu finden indem gnadenreichen Bilde des Erlösers, der aus dem ir-dischen Grabe zum Throne des Vaters emporsteigt, dieSchuld der ganzen Menschheit in seinen reinen Hän-den tragend, um sie mit dem heiligen Blute, das er amKreuz vergossen, zu sühnen vor dem Stuhl des Rich-ters; aber,« rief er, die Zähne zusammenpressend unddie Hände ringend, »mich berührt der Strahl der Gna-de nicht. Trat auch zuweilen das von Erbarmen leuch-tende Antlitz des Heilandes vor mein inneres Auge, ichkonnte es nicht wiedergeben, es nahm unter meinemPinsel die Züge des erbarmungslosen, strengen, uner-bittlichen Richters an, oder die Dämonen, welche mei-nen Geist umschwebten, ihn erwartend für die ewigeVerdammniß, entstellten des Erlösers himmlisches Ant-litz zur teuflischen Fratze!«

Er sank ächzend in sich zusammen und ließ den Kopfin die Seitenkissen sinken.

Lange lag er so still und unbeweglich, man hörteNichts als die tiefen Athemzüge, welche in schmerz-lichen Seufzern aus seiner Brust hervordrangen.

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Die Thüre des Nebenzimmers öffnete sich, man saheinen reich meublirten Salon, aus demselben trat indas Zimmer des Malers eine Frau von hoher, üppigerund voller Gestalt in einem weiten Kleide von schwe-rem, rauschendem, dunklem Seidenstoff, das volleschwarze Haar in großen Flechten zu einer jener son-derbaren Coiffuren verschlungen, welche jene Zeit inso vielen Formen hervorbrachte, Formen, die keinerEpoche, keinem Geschmack angehörten und höchstensan die Bewohnerinnen ferner, von der Civilisation nochunberührter Küstenstriche erinnern konnten.

Man sah auf den ersten Blick, daß diese Frau dasUrbild des über dem Kamin hängenden Portraits seinmußte, es waren dieselben edlen, klassischen Züge,dieselbe Wölbung der Augenbrauen, dieselbe frappan-te Ähnlichkeit mit der Geliebten des jungen Herrn vonGrabenow.

Aber über das Gesicht dieser Frau waren die Jah-re mit ihrer zerstörenden Macht dahingezogen, undmehr, als die Jahre es vermocht, hatte die zersetzen-de Kraft gewaltiger Leidenschaften die ursprünglichenFormen durchwühlt, und ihrem natürlichen Adel denStempel sinnlicher Niedrigkeit aufgedrückt. Man sah,daß diese Frau vor der Zeit gealtert war, die tiefenLinien des Gesichts, obwohl bedeckt durch geschick-te Auslegung von Roth und Weiß, das starre, ungraci-öse Lächeln, welches zuweilen den von Natur so schöngeformten Mund umspielte, standen nicht im Einklang

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mit den noch weichen und elastischen Bewegungen ih-rer Gestalt.

Diese Frau blieb in der Thüre stehen und ließ ihrenBlick durch das einfache, ärmliche Gemach schweifen,das einen eigenthümlichen Contrast bildete mit demluxuriös ausgestatteten Salon, den sie geöffnet hatte.

Endlich haftete ihr Auge auf dem bewegungslos inder Ecke des Canapés daliegenden Maler. Ein Ausdruckvon Hohn und Verachtung blitzte in ihrem Auge auf,mit einem bitteren Lächeln zuckte sie die Achseln.

»Ist Julia hier?« fragte sie mit einer Stimme, derenursprünglich voller, melodischer Klang scharf und rauhgeworden war.

Beim Tone dieser Stimme fuhr der Maler empor undblickte, wie erschrocken in eine fremde Welt zurück-kehrend, zu ihr hin.

»Ich suchte Julia hier,« sagte sie kalt und scharf, »ichhabe mit ihr zu sprechen und glaubte sie hier zu fin-den. Mr. Mireport wird in einer halben Stunde hiersein, um sie singen zu hören.«

Der Maler stand auf. Der trostlos apathische Aus-druck seines bleichen Gesichts machte einer unwilli-gen Erregung Platz, eine feine Röthe erschien auf deneingesunkenen Wangen, ein krankhafter Glanz entzün-dete sich in seinen dunkeln, tiefliegenden Augen.

»Du hast also die Idee nicht aufgegeben, sie auf dasTheater zu bringen?« fragte er.

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»Wie sollte ich?« sagte sie kurz und scharf. »Ich mußan die Zukunft denken, an die Existenz des Kindes undan die unserige; bis jetzt habe ich dafür gesorgt, wennich alt werde, muß ich diese Sorge auf meine Tochterübertragen.«

»Unsere Existenz?« fragte er, »ich habe dich für diemeinige nie in Anspruch genommen!« fügte er mit ei-ner Aufwallung edlen Stolzes hinzu, »meine Arbeit hatmir stets meine Existenz verschafft!«

»Die Arbeit eines Zeichners für die illustrirten Jour-nale,« sagte sie, spöttisch die Achseln zuckend, »eineExistenz wie diese!«

Und sie ließ ihren Blick verächtlich über die ärmlicheAusstattung des Zimmers gleiten.

»Ich ziehe sie der deinigen vor,« sagte er ruhig,»mein einziger Trost in der Pein meiner Gewissens-angst ist diese Einfachheit und Armuth, an welcher we-nigstens die Sünde keinen Antheil hat, und die Schan-de nicht haftet.«

Ein Lächeln voll kalten Hohnes zuckte um ihre Lip-pen.

»Das sind Phrasen, die ich nicht verstehe,« sagte siein gleichgültigem Tone, »und die keinen Eindruck aufmich machen, ich meinerseits lege an die Forderungenund Bedürfnisse meines Lebens einen andern Maßstabund werde auch in meiner Weise für die Zukunft mei-ner Tochter sorgen. – Hättest du,« fuhr sie in schnei-dendem Tone fort, »dein reiches Talent angewendet,

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um Bilder zu schaffen, aus dem vollen, heitern Lebengegriffen, voll Lust, Kraft und Wahrheit, du hättest dei-ne Leinwand und deine Farben in Gold verwandelnkönnen, genügend, um uns allen eine frohe und sor-genfreie Existenz zu schaffen, statt dessen brütest duträumend über idealen Heiligenbildern, die dir nichtgelingen, und zeichnest, du, der du unter den Erstender Kunst stehen könntest, elende Holzschnitte für dieblöde Menge.«

Er seufzte tief.»Du hast die Schlange gerufen in den blühenden

Garten meines Daseins,« sagte er mit schmerzlichemLächeln, »du hast mir die berauschende Frucht derSünde gereicht, verhöhne jetzt den vom Fluche Getrof-fenen! – Doch,« sagte er nach einem kurzen Schwei-gen, »du weißt, daß Julia das Auftreten auf diesenBühnen verabscheut, welche nichts weiter sind als ei-ne Ausstellung der Schönheit, eine Concurrenz um denhöchsten Preis für dieselbe; sie will den Weg nicht ge-hen, zu welchem diese Bühnen der erste Schritt sind,und ich werde mich widersetzen, daß man sie zu die-sem ersten Schritt überredet!«

»Du?« rief sie höhnisch, »mit welchem Recht? – Wergiebt dir die Befugniß, in das einzugreifen, was ichüber die Zukunft meiner Tochter bestimme? – Den er-sten Schritt?« fuhr sie mit einer verächtlichen Hand-bewegung fort, »hat sie ihn vielleicht nicht gethan, –ist sie nicht, wie das ganze Quartier weiß, die Geliebte

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dieses kleinen, langweiligen Deutschen, der mich mitseiner Sentimentalität zur Verzweiflung bringt?«

»Schlimm genug, daß es so ist!« rief er seufzend, »ichkonnte es nicht hindern, da du ihr alle Freiheit undGelegenheit gabst, aber sie ist nicht innerlich gefallen,es ist die Liebe, die wahre, reine Liebe ihres jungenHerzens, der sie gefolgt ist, die Welt mag urtheilen wiesie will, das Verhältniß der beiden Kinder ist ein gutes –ein reines – und vielleicht –« sagte er leise und sinnend.

»Das ist Alles sehr schön und gut,« rief sie, ihn rauhunterbrechend, »aber wie lange soll das dauern, wo-hin soll das führen? Dieser junge Mann wird abrei-sen, zurückkehren in seine ferne Heimath, ist er un-abhängig, um ihr eine sichere Existenz für das Lebenzu schaffen? – Nein, – er wird sie vergessen, und siewird darauf angewiesen sein, für sich zu sorgen. Dazumuß ich ihr den Weg öffnen – einen Weg, den so vie-le gehen, welche die Welt bewundert, einen Weg, aufwelchem Ruhm, Gold und Diamanten spielend zu ge-winnen sind, und welcher sie zur Unabhängigkeit undzu sorgenfreiem Alter führt.«

»Und wenn er eines Tages wiederkäme,« rief der Ma-ler mit glühendem Blick, »wenn mein Bruder vor dichhinträte und fragte: ›Lucretia, was hast du aus meinerTochter gemacht?‹ – glaubst du ihm dann diesen Ruhm,dies Gold und diese Diamanten zeigen und ihm sagenzu können: ›so habe ich für dein Kind gesorgt?‹«

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Ein leichtes Zittern lief durch die Glieder der Frau.Sie schlug die Augen nieder und schwieg.

»Ich aber,« fuhr er fort, »will nicht ablassen in derMühe, sein Kind vor dem unrettbaren Fall in den Ab-grund zu bewahren, so viel ich kann. Du weißt,« sag-te er düster, »daß nur diese Pflicht, die ich mir vorge-steckt habe als die heiligste Aufgabe meines Lebens,mich bisher an deine Wege gefesselt hat, wie an dasLeben,« fügte er mit dumpfer Stimme hinzu, »ich wer-de suchen, sie zu erfüllen bis zum letzten Augenblick,und sollte ich dazu nicht mehr allein im Stande sein,so werde ich meine Schaam, meine Angst überwinden,ich werde ihn suchen, ihn zu Hilfe rufen – und er wirddie Macht haben, sein Kind zu retten!«

Ein feindlicher, scharfer Blick schoß aus ihrem Au-ge zu ihm herüber. Schnell verbarg sie diesen Blick un-ter den gesenkten Lidern, ein gezwungenes Lächeln er-schien auf ihren Lippen und mit ruhigem, fast sanftemTone sprach sie:

»Du weißt, daß ich meine Tochter liebe und für ihrGlück und ihre Zukunft sorgen will, in meiner Weisefreilich, die nach meiner Überzeugung die beste ist.– Übrigens,« fuhr sie fort, »ist sie frei – und ich kannsie nicht zwingen, sie muß ihren endlichen Entschlußselbst fassen.«

Bevor er antworten konnte, hörte man die Thüre desersten Salons sich öffnen, mit leichtem, elastischemSchritt schwebte die schlanke Gestalt Juliens über den

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weichen Teppich und erschien hinter ihrer Mutter indem Rahmen der Thüre.

Das junge Mädchen trug einen einfachen Anzug vonleichter violetter Seide, in dem einfach geordneten,glänzenden Haar eine Schleife von gleicher Farbe, einkleines goldenes Kreuz an schwarzem Bande um denvon einer leicht gekräuselten Spitze eingefaßten Hals.

Es war ein eigenthümliches Bild, diese beiden sichso ähnlichen und doch so verschiedenen Frauengestal-ten da neben einander zu sehen. Trauer und Wehmuthmußte es erregen, zu denken, daß die Mutter einst ge-wesen, wie die Tochter jetzt war; bange Furcht mußteder Gedanke erwecken, daß die Tochter einst der Mut-ter gleichen könne.

Julia blieb in der Thür stehen, ein Wenig erstaunt,wie es schien, ihre Mutter hier zu finden, welchersie sonst nicht gewohnt war, häufig in dem einfachenWohnzimmer des Malers zu begegnen. Sie ging aufihre Mutter zu und küßte ihr in ehrerbietiger Weisedie Hand, wobei der Blick der älteren Dame wohlge-fällig über die schlanke, biegsame Gestalt des jungenMädchens hinglitt. Dann aber eilte diese schnell zudem Maler hin und bot ihm mit reizendem Lächeln dieStirn, auf welche er mit inniger Zärtlichkeit seine Lip-pen drückte.

»Wie geht es meinem theuren Vater heute?« fragteJulia mit ihrer, reinen, weichen Stimme.

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Der Maler senkte den Blick vor dieser einfachen Fra-ge und antwortete, ohne das junge Mädchen anzuse-hen:

»Mir ist stets wohl, wenn ich die liebe Stimme mei-ner theuren Julietta höre.«

»Noch immer hast du keinen weiteren Strich an die-sem ewigen Bilde gemalt,« sagte Julia, einen Blick aufdie Staffelei werfend, »ich kenne das nun schon seitJahren, warum ist der Kopf des Heilands da immer ineiner Wolke von Grau verborgen? Du würdest ihn dochso schön malen können, lieber Vater, oh, ich wollte, ichkönnte dir das Bild zeigen, das in mir lebt, ich weißganz genau,« sagte sie, den tiefen Blick mit treuherzi-ger Kindlichkeit auf den Maler richtend, »wie er aus-sehen müßte, der gütige Heiland, als er nach der Er-lösung der Menschheit zum Himmel zurückkehrte, umdem Vater zu sagen: ›Ich habe der Welt Sünde auf michgenommen, ich habe die vergangenen und kommen-den Geschlechter der Menschen in meinem Blute reingewaschen von ihrer Schuld, ich habe dem Tode seinenSchrecken, der Hölle ihren Stachel genommen!‹«

Und wunderbare Begeisterung, glaubensvolle An-dacht strahlte von ihrem frischen Gesicht. Der Malerhatte die Hände gefaltet und mit angstvoller Spannungblickte er in die erregten Züge des jungen Mädchens,als hoffe er, das Bild des verzeihenden, alle Sünde undSchuld hinwegnehmenden Christus, das sie beschrieb,

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solle auch seinem heißen, dürstenden Blicke sichtbarwerden.

»Was macht dein Freund,« fragte Madame Lucretiain leichtem Tone, »war er heute noch nicht da? Gehstdu nicht aus?«

Das junge Mädchen senkte den Blick, ein wehmüthi-ger Zug legte sich um ihre Lippen, während eine flüch-tige Röthe ihre Wangen färbte.

»Er war noch nicht hier,« sagte sie, »ich erwarte ihnspäter, es ist mir so peinlich, so angstvoll, in die Welt zugehen, eine stille Spazierfahrt am späten Abend, wennman Niemand mehr in den Alleen des Bois de Boulo-gne begegnet, macht mir mehr Freude!«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Das sind träume-rische Phantasien, die du ablegen mußt, mein Kind,«sagte sie, »im Gegentheil, du solltest dich zeigen, wenndas ganze elegante Paris sich Rendezvous an den Seengiebt, du hast in der That keine Ursache, dich zu ver-bergen,« fügte sie mit einem wohlgefälligen Blick aufihre Tochter hinzu, »und dein Freund kann wahrlichstolz sein, mit dir vor den Blicken der schönen Welt zuerscheinen!«

Ein glühendes Roth stieg in das Gesicht Juliens, eintiefer Seufzer hob ihre Brust. Sie antwortete Nichts aufdie Bemerkung ihrer Mutter.

»Für heute,« sagte diese, »ist es mir übrigens lieb,daß du zu Hause geblieben bist, ich erwarte einenFreund, dem ich von deiner Stimme gesprochen habe

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und der begierig ist, dich zu hören, ich glaube, da ister schon,« fügte sie hinzu, auf ein Geräusch horchend,welches sich vor der Thüre des ersten Salons verneh-men ließ.

Rasch trat sie in diesen Salon zurück, während Juliamit erschrockenem Blick ihr nachsah.

»Ich habe mit dir zu sprechen, mein Kind,« sagte derMaler, zu dem jungen Mädchen herantretend, »wenndu einen Augenblick zu ungestörter Unterhaltung freihast, so komm zu mir oder laß mir sagen, daß ich dichbesuchen könne.«

»Oh ich komme lieber zu dir, mein Vater,« sagte dasjunge Mädchen lebhaft, »hier bin ich so gern, alle dieseeinfachen, kleinen Dinge erinnern mich an meine stille,glückliche Kindheit, welche für immer dahin ist!« fügtesie seufzend hinzu.

»Julia!« rief ihre Mutter aus dem andern Zimmer.Das junge Mädchen folgte dem Ruf und trat in den

reichen, mit dunkelrothen Seidenmeubeln fast zu vollgestellten Salon ihrer Mutter.

Der Maler schloß die Thüre hinter ihr.Madame Lucretia saß auf einer schräg vor dem Ka-

min stehenden Causeuse – vor ihr lehnte in einemkleinen, weiten und bequemen Fauteuil ein Mann vonfünfzig bis sechzig Jahren, nach der neuesten Modegekleidet, das frisirte Haar und den kleinen, spitzenSchnurrbart glänzend schwarz gefärbt. Seine dunkeln,

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stechenden Augen blickten scharf und lauernd um-her, die verwitterten Züge des gelblichen Gesichts con-trastirten merkwürdig mit seiner jugendlichen Haltungund Kleidung, die scharf gebogene Nase erinnerte anden Schnabel eines Raubvogels, der große Mund mitetwas hervorstehender Unterlippe ließ bei dem häu-figen, fast mechanischen Lächeln eine Reihe glänzen-der Zähne sehen, welche eben so sorgfältig gearbei-tet waren als die übrigen Gegenstände seiner Toilette.Der starke Geruch eines durchdringenden Moschuspar-füms umgab wie eine Atmosphäre diese eigenthümli-che und durchaus nicht sympathische Erscheinung.

»Herr Mireport, ein großer Freund der Musik,« sagteMadame Lucretia, den Fremden ihrer Tochter vorstel-lend, »ich sprach mit ihm von deiner Stimme, und erist begierig, dich singen zu hören, willst du so gut sein,uns irgendetwas vorzutragen, aber,« fügte sie lächelndhinzu, »nimm dich zusammen, denn Herr Mireport istein feiner Kenner.«

Herr Mireport erhob sich ein Wenig zu einer kurzenVerbeugung, wobei er aus seinen schwarzen, funkeln-den Augen einen prüfenden Blick auf das junge Mäd-chen warf, der dessen ganze Gestalt umfaßte, einenBlick, wie ihn etwa ein Pferdehändler auf ein Pferdwerfen würde, das man ihm zum Kauf anbietet.

Julia senkte die Augen unter diesem Blick und ver-neigte sich leicht.

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»Ich bin höchst erfreut, Ihre Bekanntschaft zu ma-chen, mein Fräulein,« sagte er mit etwas heiserer Stim-me, indem ein zufriedenes Lächeln seine Lippen um-spielte, und sich zu der Mutter wendend, fügte er halb-laut hinzu: »Ich wette, die Kleine wird Furore machen,wenn sie nur ein Wenig Stimme hat und ihre Blödigkeitablegt.«

»Mein Gesang ist nicht gemacht, um die Prüfung ei-nes Kenners zu bestehen,« sagte Julia in ziemlich kal-tem Tone, der sehr wenig Neigung verrieth, den ihrantipathischen Fremden zum Richter über ihre Stim-me zu machen.

»Falsche Bescheidenheit, falsche Bescheidenheit, mei-ne Kleine,« sagte Herr Mireport, »das müssen Sie able-gen, denn das macht befangen und hindert die Ent-wickelung der Kraft und Geschmeidigkeit der Stimme.Fürchten Sie übrigens nicht,« fügte er lächelnd hinzu,»daß ich ein strenger Richter sein werde, bei so vielSchönheit und Anmuth ist das Urtheil schon zum Vor-aus bestochen.«

»Singe nur, mein Kind,« sagte Madame Lucretia inbestimmtem Tone »wir sind ja ganz unter uns und ichhabe den Herrn gebeten, mir ein Urtheil über deineFähigkeit zu geben.«

Auf diese Aufforderung ihrer Mutter ging das jun-ge Mädchen langsam zu einem in der Nähe des Fen-sters stehenden Pianino, Herr Mireport folgte aufmerk-samen Blickes ihren Bewegungen.

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»Viel Elastizität im Gange,« sagte er mit halber Stim-me, »schöne Bewegung der Hüften, sie wird Furoremachen, ich sehe schon alle jungen Herren in Eksta-se, eine Ernte von Diamanten.

Julia hatte sich vor das Pianino gesetzt, richteteeinen Augenblick das Auge sinnend empor und begannmit ihrer klangvollen Stimme zu singen:

»Quand je quittais ma Normandie –«

Herr Mireport hörte aufmerksam zu; anfangs et-was betroffen über die Wahl dieses einfachen, in weh-müthiger Träumerei anklingenden Liedes, das er nachseinem Gespräch mit der Mutter wohl nicht erwartethaben mochte, schien er immer mehr die Biegsam-keit und den Wohllaut der Stimme und den seelenvol-len Vortrag zu bewundern. Julia hatte vergessen, daßsie Zuhörer hatte, sie folgte dem Liede, das mit ihrerStimmung harmonirte, und sang mit tief wehmüthigerWahrheit:

»Il est un âge dans la vieOù chaque rêve doit finirUn âge, ohù l’ame recueillieA besoin de se souvenir –«

»Bravo, bravo!« rief Herr Mireport, lebhaft in dieHände klatschend, »eine reizende Stimme, wenn siestärker und kräftiger wäre, würde das Fräulein eineZierde der großen Oper werden, aber ich fürchte, dazu

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möchte der Klang nicht ausreichen – doch seien Sie si-cher,« sagte er, sich zu Madame Lucretia wendend, »Ih-re Tochter wird eine glänzende Zukunft haben, ich se-he sie schon auf der Höhe der Bewunderung von ganzParis, und werde mich glücklich schätzen, bei der Ent-deckung dieser Perle betheiligt gewesen zu sein.«

Julia hatte bei der lauten Beifallsäußerung des HerrnMireport plötzlich ihren Gesang unterbrochen und sichnach der Seite gewendet, wo ihre Mutter mit demFremden saß. Sie hörte dessen Bemerkungen, der wei-che, träumerische Ausdruck, welchen ihr Gesicht wäh-rend der letzten Strophe dieses Liedes wiedergestrahlthatte, verschwand von ihren Zügen, eine feste, ent-schlossene Ruhe erfüllte ihren Blick, rasch stand sie aufund indem sie sich leicht gegen Herrn Mireport ver-neigte, sagte sie mit kalter Höflichkeit:

»Ich danke Ihnen, mein Herr, für Ihr freundlichesUrtheil, ich weiß am besten, wie wenig mein einfacherGesang diesen Beifall verdient, den Sie so gütig waren,ihm zu spenden, meine Lieder sind die Freude meinesstillen, eigenen Lebens und niemals werde ich das, wasmir eine Quelle des Glückes und des Trostes im Kum-mer ist, der Critik der gaffenden Menge preisgeben.«

Herr Mireport sah erstaunt die Mutter des jungenMädchens an, dann sagte er mit einem überlegenen Lä-cheln, indem er leicht den kleinen, schwarzen Schnurr-bart empordrehte:

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»Das Fräulein wird von diesem grausamen Ent-schluß zurückkommen, die Blumen sind nicht ge-macht, um einsam zu verblühen, und so viel Reiz undSchönheit darf sich der Bewunderung der Welt nichtentziehen.«

»Es ist natürlich,« sagte Madame Lucretia ruhig,»daß meine Tochter, welche bisher in der Stille desHauses aufwuchs, einige Scheu empfindet bei dem Ge-danken, einmal vor die Öffentlichkeit zu treten, dasist eine Scheu, die wohl alle Künstlerinnen empfundenhaben, übrigens,« fügte sie mit einem bedeutungsvol-len Blick auf Herrn Mireport hinzu, »ist diese ganze Er-örterung vielleicht verfrüht, meine Tochter hat ja voll-kommen Zeit, ihre Entschlüsse zu überlegen, die siedann ganz nach ihrem freien Ermessen zu fassen ha-ben wird.«

»Gewiß, gewiß,« sagte Herr Mireport, »ich habe nurmeine Gedanken ausgesprochen und meinen Rath ge-geben, wie ich ihn nicht anders geben kann! – Jeden-falls aber hoffe ich,« fuhr er fort, »daß das Fräuleinnicht die Bitte abschlagen wird, wenigstens in einemprivaten Kreise vor einigen Kunstfreunden und Ken-nern eine Probe ihres merkwürdigen Talentes abzu-legen. Ich werde Sie um die Erlaubniß bitten, Mada-me,« sagte er zu Frau Lucretia gewendet, »Sie und IhreTochter in einigen Tagen in die Salons einer Freundinvon mir, einer sehr distinguirten Dame, der Marquise

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de l’Estrada, einzuführen, dort wird Ihre Tochter Gele-genheit haben, einen kleinen und gewählten Kreis zuentzücken.«

Julia hatte die Augen niedergeschlagen und die Lip-pen zusammengepreßt.

Als er geendet, erhob sie den Blick mit kaltem, ab-lehnendem Ausdruck zu ihm und schien eine Antwortgeben zu wollen.

Da öffnete sich die Thüre, die Dienerin des jungenMädchens blickte hinein und sagte mit einem bedeu-tungsvollen Wink:

»Man erwartet Mademoiselle in ihrem Salon.«Ein helles Roth flog über das Gesicht Juliens.»Du erlaubst,« sagte sie zu ihrer Mutter, »daß ich se-

he, was es ist,« – und mit einer leichten, kalten Verbeu-gung gegen Herrn Mireport, der ihr überrascht und miteinem forschenden Blick aus seinen stechenden Augennachsah, verließ sie das Zimmer, eilte schnell über denCorridor nach der andern Seite der Etage und trat inihren Salon.

Herr von Grabenow blickte ihr mit strahlenden Au-gen entgegen und breitete die Arme nach ihr aus.

Sie eilte zu ihm hin, warf sich an seine Brust, lehnteden Kopf an seine Schulter und brach in lautes Weinenaus.

Erschrocken rief der junge Mann: »Um Gotteswillen,was fehlt dir, mein geliebtes Leben?«

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»Oh nichts,« flüsterte sie, »wenn ich hier bei dir bin,hier an deiner Brust habe ich wenigstens für den Au-genblick das Gefühl der Sicherheit, des Schutzes! – Ei-ne schöne Täuschung,« sagte sie noch leiser, »denn fürmich giebt es keine Sicherheit – und Niemand kannmich schützen!«

»Mein Gott, was ist geschehen?« rief er angstvoll,»ich bitte dich – sage mir –«

»Jetzt nicht,« rief sie, sich aufrichtend und den Kopfschüttelnd, als wollte sie die Nebelschleier finsterer Ge-danken von ihrem Scheitel entfernen, »du weißt, ichhabe oft trübe Stimmungen, es ist nichts Unmittelba-res, vielleicht kommt der Augenblick, wo ich dir sagenkann, was mich quält, wenn der Schatten der Zukunftzum Körper sich verdichten sollte, jetzt laß uns demAugenblick leben, der Augenblick ist schön, verlierenwir ihn nicht, wer weiß, wie kurz er ist!«

Leicht hauchte sie in ihr Spitzentuch und drückte esauf die Augen. Dann sah sie mit einem reizenden Lä-cheln zu ihrem Geliebten empor, den Blick leicht be-feuchtet vom Duft der Thränen.

»Hast du deinen Wagen hier?« fragte sie, »laß unsin’s Freie – ich sehne mich nach Luft, nach den Blumendes Frühlings, nach dem frischen Grün der treibendenBlätter!«

»Wohin willst du, nach dem Bois de Boulogne, nachden Cascaden?«

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»Nein,« sagte sie, ihn groß anblickend, »laß uns nachdem Bois de Vincennes fahren, dort werden wir Nie-mand begegnen, wir können die Welt vergessen, wirwerden allein sein mit der erwachenden Natur!«

»Süße Julia!« rief er, sie in seine Arme schließend.Sanft machte sie sich los, warf einen dunkeln Mantel

von schwarzem Sammt um und setzte einen kleinenHut auf, dessen dichter, fast undurchsichtiger Schleierdas ganze Gesicht verhüllte.

»Immer dieser Schleier,« sagte er lächelnd, »un-durchsichtig wie die Maske einer Venetianerin, soll ichauf dem ganzen Wege dein liebes Gesicht nicht sehen?«

»Wirst du so schnell vergessen, wie es aussieht?«sagte sie in schalkhaftem Tone, »draußen, wo uns Nie-mand mehr sieht, will ich den Schleier ablegen.«

Sie legte ihren Arm in den seinen und beide stiegendie Treppe hinab und in das unten wartende Coupé desHerrn von Grabenow. Julia lehnte sich in die Ecke undin raschem Trabe eilte der Wagen die Rue Notredamede Lorette hinab.

An der Ecke der Rue Lafayette hatte ein großer Last-wagen eine augenblickliche Stockung der Communica-tion verursacht, die hin und her fahrenden Equipagenwaren gezwungen, einen Augenblick zu halten. Herrvon Grabenow sah plötzlich neben sich die leichte offe-ne Victoria des Grafen Rivero, dessen großes, feurigesPferd ungeduldig über die Verzögerung schnaubte undzitterte.

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Der Graf warf einen kurzen, forschenden Blick in dasCoupé und grüßte dann lächelnd Herrn von Grabenowmit der Hand.

Dieser beugte sich etwas vor und verdeckte das indie Ecke zurückgelehnte junge Mädchen.

»Ich danke diesem ungeschickten Frachtfuhrmann,«sagte der Graf, »das Vergnügen, Sie einen Augenblickbegrüßen zu können,« und abermals lächelnd legte erden Finger auf den Mund.

Ehe noch Herr von Grabenow, welcher mit einigerVerlegenheit den Gruß des Grafen erwiedert hatte, Zeitzu einer Antwort gefunden, war das Hinderniß des Ver-kehrs beseitigt, das ungeduldige Pferd legte sich mäch-tig in’s Geschirr und mit dem Ruf »auf Wiedersehen!«rollte der Graf Rivero pfeilschnell davon, während dasCoupé des Herrn von Grabenow in die Rue Lafayetteeinbog.

»Wer war das?« fragte Julia mit tiefem Athemzug.»Ein Landsmann von dir, meine Freundin,« sagte

Herr von Grabenow, »ein italienischer Graf Rivero.«»Eine eigenthümliche Erscheinung,« sagte das jun-

ge Mädchen nach einem augenblicklichen Schweigen,»der Blick, welchen er hier in den Wagen warf, fiel wieein Lichtstrahl auf mich und der Ton seiner Stimmeberührte mich wie ein electrischer Schlag! Es ist thö-richt,« rief sie, »aber es war, als ob eine Stimme inmeinem Herzen rief, daß dieses Mannes Hand tief in

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mein Leben einzugreifen bestimmt sei, den Blick sei-nes Auges, obgleich ich ihn nur durch meinen Schleiergesehen, werde ich nie vergessen!«

»Der Graf hat einen wunderbaren Einfluß auf alle,die ihm begegnen,« sagte Herr von Grabenow, »auchich habe den sympathischen Strom empfunden, dervon ihm ausgeht, aber,« sagte er lächelnd, »ich möchtenicht, daß er mit dir zu viel in Berührung käme, daskönnte mich eifersüchtig machen.«

»Eifersüchtig?« fragte sie, »welche Thorheit! – das istes nicht, aber ich kann den Eindruck nicht los werden,dieser Mann wird in mein Leben greifen!«

Sie legte ihre Hand in die des jungen Mannes undlehnte schweigend den Kopf in die Kissen der Rückleh-ne.

Bald waren sie aus der innern Stadt und in einerhalben Stunde empfingen sie die schönen, vom ersten,leichten Grün überschimmerten, einsamen Alleen desBois de Vincennes.

Julia schlug den Schleier zurück, der Wagen hieltund die jungen Leute stiegen aus, um sich Arm in Armin die Wege des Parks zu vertiefen. Sonnenhelle Freu-de strahlte vom Gesicht Juliens, wie ein fröhliches Kindlief sie hierhin und dorthin, um ein duftiges Veilchen,eine gelbe Schlüsselblume oder eine kleine Margueri-te zu pflücken; mit strahlendem Blick folgte der junge

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Mann den anmuthigen Bewegungen des schönen Mäd-chens, hell und lieblich ertönte ihr glockenreines La-chen durch die Gebüsche und hin und wieder ließ sieim fröhlichen Jauchzen einen langgehaltenen Trillererschallen, wie die Nachtigall in der Fülle ihres früh-lingssüßen Liebesglücks.

ZWÖLFTES CAPITEL.

Die Kaiserin Eugenie saß in ihrem Salon in den Tuile-rieen, ein halbgeöffneter Fensterflügel ließ die frischeLuft eindringen, welche über die großen, im erstenGrün leuchtenden Bäume des Tuileriengartens hinge-strichen war und sich mit allen Aromen des erwachen-den Frühlings erfüllt hatte.

Der Kaiserin gegenüber saß in einfacher, dunklerToilette ihre Vorleserin, Fräulein Marion, eine hübscheErscheinung von bescheidener Haltung, mit stillen, an-muthigen Zügen, vor ihr lagen einige geöffnete Briefe.

Die Kaiserin hielt in der Hand zwei jener eigent-hümlich gekrümmten Metallstäbchen, welche mandurch geschickte Bewegung ineinanderfügen und wie-der trennen mußte, ohne eine Gewalt anzuwenden, einProblem, mit welchem sich damals ganz Paris beschäf-tigte und welches man »la question romaine« getaufthatte.

Fräulein Marion sah lächelnd zu, wie die schönenFinger ihrer Gebieterin sich vergeblich bemühten, die

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verschlungenen Enden der gekrümmten Stäbe ausein-anderzubringen.

Ungeduldig warf die Kaiserin die »question« auf denTisch.

»Ich werde niemals dahin kommen,« rief sie, »dieserömische Frage zu lösen!«

»Und doch kommt es nur darauf an, einmal die rich-tige Bewegung erfaßt zu haben,« sagte MademoiselleMarion mit sanfter Stimme, »dann ist die Sache sehrleicht. Ich bitte Ew. Majestät, genau herzusehen.«

Sie ergriff die Stäbchen und löste sie mit einer leich-ten Drehung von einander. Die Kaiserin folgte aufmerk-sam der Bewegung ihrer Hände, dann ließ sie den Blicksinnend durch das Zimmer schweifen und sprach miteinem kleinen Seufzer:

»Das ist wieder einmal der rechte Geist der Pari-ser, die ernsteste und schwerste Frage, welche je dieWelt bewegt hat, verwandeln sie in ein Spielzeug! –Ich glaube wirklich,« sagte sie lächelnd, »wenn einerunserer Unterthanen in der guten Stadt Paris den klei-nen Kunstgriff gelernt hat, der diese Stäbchen bindetund löst, so ist er glücklich und glaubt den Schlüsselzur ›römischen Frage‹ gefunden zu haben!«

»Ist es nicht besser, Madame,« sagte Fräulein Ma-rion, »daß die Pariser sich mit dieser römischen Fra-ge beschäftigen, als wenn sie sich die Köpfe erhitzten

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über die große, wirkliche Frage, welche die Cabinet-te in Spannung erhält? Man muß daraus lernen, die-sen großen Kindern stets zur rechten Zeit ein hübschesSpielzeug zu geben, sie werden dann von gefährliche-ren Aufregungen fern bleiben.«

Die Kaiserin blickte vor sich hin, ihre schönen Zügenahmen einen ernsten Ausdruck an.

»Also mein liebenswürdiger Vetter im Palais Royalpredigt jetzt den Krieg?« fragte sie langsam.

»Ich höre es von allen Seiten,« sagte Fräulein Mari-on, »Seine kaiserliche Hoheit soll sich sehr zornig überdie bisherige Nachgiebigkeit gegen Preußen ausspre-chen und den Kaiser bestürmen, fest und energischaufzutreten.

Die Kaiserin lächelte.»Nun, das mag er thun!« sagte sie achselzuckend,

»wenn es einen Eindruck macht, so dürfte es der ent-gegengesetzte sein. – Es ist aber wahrlich traurig,« fuhrsie nach einer kleinen Pause fort, »daß dieser Prinz,der uns eine Stütze sein sollte, Alles thut, um das Kai-serreich zu discreditiren und zu compromittiren. Fastmöchte man glauben, es läge eine böse Absicht dabeizugrunde!«

»Oh Madame,« sagte Fräulein Marion, »wie solltedas möglich sein? – der Prinz hat doch der Wieder-aufrichtung des Kaiserthums nicht wenig zu danken!«

»Er sieht sich als den eigentlichen Erben des erstenKaisers an,« sagte die Kaiserin in ernstem Sinnen vor

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sich hinblickend, »er hat meinem Gemahl vielleichtverziehen, daß er den Thron eingenommen, aber erverzeiht ihm seine Heirath – und meinen Sohn nicht! –Es ist merkwürdig,« fuhr sie fort, »wie stolz diese Kin-der Jérômes darauf sind, daß eine wirkliche purpur-geborene Prinzessin, eine deutsche Königstochter, ih-re Mutter war. Zwar meine Cousine Mathilde ist einegeistreiche Frau von vortrefflichstem Herzen, sie beob-achtet alle Déhors, aber sie liebt mich nicht, ich ver-stehe das,« fügte sie leise hinzu, »der Prinz aber, wo erkann, läßt er mich fühlen, wie feindlich er mir gesinntist, und bei jeder Gelegenheit markirt er die königlicheGeburt seiner Gemahlin, der guten Clotilde, die dar-an gar nicht denkt. – Es liegt etwas darin,« sagte sieseufzend, »der Sohn des Prinzen hat eine Mutter undeine Großmutter aus jener Familie der Könige, welchesich für Wesen anderer Art halten, mein Louis hat nurdie Namen Montijo und Beauharnais in seinem müt-terlichen Stammbaum, an den Höfen Europas vergißtman das nicht! – Aber,« rief sie, indem ihre Lippe sichstolz über den weißen Zähnen kräuselte und ein flam-mender Strahl in ihrem Auge aufblitzte, »ist das Blutder Guzman von Alfarache nicht eben so edel, edlerals das Blut so mancher Könige?«

»Ew. Majestät folgen da Gedanken, welche wohl Nie-mand zu hegen wagt,« sagte Fräulein Marion lächelnd.

»Wer weiß,« flüsterte die Kaiserin, »heute vielleichtnicht, aber es könnte eine Zeit kommen –. Jedenfalls,«

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sagte sie, den Kopf emporwerfend, »ist es traurig, daßdieser Prinz immer Verwirrung und Unruhe in die Fa-milie und in das Land bringt, der Kaiser sollte stren-ger gegen ihn sein, aber er ist von einer merkwürdigenSchwäche diesem Tollkopf gegenüber, er hat eine aber-gläubische Verehrung vor dem Blut des großen Kaisersund die Ähnlichkeit des Prinzen mit seinem Oheim ent-waffnet ihn, wenn er noch so zornig ist. – Ich weiß,«rief sie lebhaft, »daß die beißendsten Bemerkungenüber mich und meine Umgebung im Palais Royal stetswillkommen sind, es genügt, daß ich etwas wünsche,damit mein lieber Cousin das Gegentheil will, ich binüberzeugt, daß nur, weil ich die Erhaltung des Friedenswünsche, er mit aller Macht zum Kriege drängt!«

»Aber ist das nicht natürlich?« fragte MademoiselleMarion, »ebenso wie Ew. Majestät die Vertreterin desFriedens sind, als Frau, als die erste der Mütter Frank-reichs, ebenso muß der Prinz die kriegerische Ehre undden Ruhm vertreten, als Mann, als Soldat –«

»Ein Soldat – er?« rief die Kaiserin, die Achselnzuckend, »oh,« sagte sie, den schönen Hals hoch em-porstreckend und den Kopf zurückwerfend, »handeltees sich um einen Krieg, bei dem wirklich für FrankreichRuhm und Ehre zu gewinnen wäre, – meine Stimmewürde die erste sein, welche laut dazu drängte, – aberhier ist nur ein neuer Fehler zu machen, und alle Fein-de des Kaisers und unseres Hauses, welche sich ja stetsum den Prinzen sammeln, benutzen ihn, um diesen

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Fehler begehen zu lassen. – Dazu die Krankheit mei-nes Sohnes, die Luft von St. Cloud hat noch nicht vielBesserung gebracht, oh, meine liebe Marion,« rief siemit tief schmerzvollem Tone, die Hände faltend, »wenndies Kind stürbe, was wäre ich?!« –

Mademoiselle Marion erhob sich rasch, ließ sich zuden Füßen der Kaiserin niedersinken und drückte ihreLippen auf die Hand ihrer Gebieterin.

»Madame,« rief sie, »welche Gedanken.«»Du bist ein treues Herz,« sagte die Kaiserin sanft

und freundlich, »wie viele solche Herzen habe ich ummich,« fuhr sie mit dumpfer Stimme fort, »wo würdensie sein, alle, die sich vor mir neigen und mich mitden glühendsten Worten ihrer Ergebenheit versichern,wenn jemals ein Tag des Unglücks erschiene? –«

Und in schweigendem Sinnen strich sie sanft mit derHand über das Haar ihrer Vorleserin.

Ein Schlag ertönte gegen die Thüre. Der Kammer-diener Ihrer Majestät trat ein.

»Seine Excellenz der Staatsminister.«Die Kaiserin neigte den Kopf, Mademoiselle Marion

stand auf.»Das ist auch einer der wirklich Treuen und Ergebe-

nen,« flüsterte sie, während der Kammerdiener HerrnRouher die Thür öffnete.

»Weil er mit uns fallen würde,« murmelte die Kaise-rin fast ohne die Lippen zu bewegen.

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Der Staatsminister näherte sich mit ehrfurchtsvollerVerbeugung der Kaiserin, während Fräulein Marion ge-räuschlos durch eine innere Thüre verschwand.

Die große, volle Gestalt des Herrn Rouher, der einenschwarzen Überrock mit der großen Rosette der Eh-renlegion trug, war weder anmuthig noch imponirend,und auch sein Gesicht hatte auf den ersten Anblick we-nig außergewöhnliches, der Mund lächelte freundlich,unter der breiten Stirn blickte das klare Auge scharfhervor, die Züge verschwanden fast in der glatten Run-dung des Gesichts, dieser Mann, dessen Wort so langedie Kammer des Kaiserreichs mit souveräner Überle-genheit beherrschte, machte den Eindruck eines Ad-vocaten oder Bureauchefs, nicht den eines leitendenStaatsmannes.

Nur wenn er zu sprechen begann, zeigte sich aufseinem Gesicht die feste und stolze Sicherheit die-ses außergewöhnlichen Geistes, der mit seiner Arbeits-und Receptionskraft ohne Gleichen alle, auch die ver-wickeltsten Fragen zu durchdringen, zu beherrschenund in lichtvollem Vortrag so darzustellen verstand,wie er wollte, daß sie den Hörern erscheinen sollten;das Auge leuchtete nicht in dem warmen Schimmerder Begeisterung, sondern im klaren, scharfen Lichtdes durchdringenden, analysirenden Geistes, seine

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Worte reihten sich aneinander regelrecht und zusam-menhängend, wie die Steine eines Baues, oder dran-gen scharf und schneidend im dialektischen Kampf ge-gen die Gegner vor, niemals gewann er das Herz derHörer, er unterwarf ihren Verstand.

Die Kaiserin streckte, ohne aufzustehen, Herrn Rou-her ihre schlanke, weiße Hand entgegen, welche dieserehrerbietig an die Lippen zog. Dann setzte er sich aufeinen Wink der Kaiserin ihr gegenüber.

»Ew. Majestät haben mich wissen lassen,« sagte er,»daß Sie mir erlauben wollen, vor meinem Vortrag beidem Kaiser Ihnen meine Ehrfurcht zu bezeigen, ichdanke aufrichtigst für diese Gnade.«

Die Kaiserin sah ihn lächelnd an.»Einem andern Manne gegenüber,« sagte sie, »würde

ich einen Vorwand suchen, um zu dem zu kommen,was ich eigentlich sagen wollte, Ihnen gegenüber, meinlieber Herr Rouher, nützt das nichts, Sie würden michdoch sogleich durchschauen, also will ich Ihnen ohneUmschweife sagen, weshalb ich Sie habe rufen lassen!«

»Ew. Majestät sehen mich glücklich,« sagte Herr Rou-her, »daß ich Ihnen in irgendetwas nützlich sein kann.«

»Sie wissen, mein lieber Minister,« fuhr die Kaiserinfort, »daß die ganze politische Welt wieder in Unru-he versetzt ist. Diese unglückliche luxemburgische Sa-che, ich höre es mit Entsetzen, droht eine böse Wen-dung zu nehmen und uns in einen furchtbaren Kriegzu stürzen. – Ich habe eine große Scheu, mich in die

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Politik zu mischen, das ist nicht die Sphäre, in wel-cher mir die Pflicht bestimmt ist Frankreich zu nützen,aber es ist gewiß die allgemeine Politik der Frauen, fürdie Erhaltung des Friedens zu arbeiten, und ich möch-te meine Stimme erheben so laut ich kann, um dieseKriegsgefahr zu beschwören. – Ich habe den Kaiser in-ständigst gebeten, die Sache nicht auf die Spitze zutreiben, und,« fügte sie mit einem graciösen Lächelnhinzu, indem sie die rosigen Spitzen ihrer Finger an-einanderlegte, »ich möchte nun auch Sie noch beson-ders bitten, Sie, die festeste Stütze des Kaisers, seinentreuesten Rathgeber, helfen Sie mir den Frieden erhal-ten, werfen Sie Ihr gewichtiges Wort in die Wagscha-le, damit Frankreich, das noch aus den alten Wundenblutet, nicht von Neuem einem so grausamen Kampfentgegengeführt werde.«

Der Staatsminister hatte die Kaiserin bei ihren er-sten Worten ein Wenig betroffen angesehen, dann hat-te er mit dem unbeweglichsten Ausdruck ehrerbietig-ster Aufmerksamkeit sie bis zu Ende angehört.

»Es ist natürlich,« sagte er in verbindlichstem Tone,»daß Ew. Majestät edles Herz vor den Schrecknisseneines Krieges zurückbebt, obgleich ich weiß, daß Sieauch mit tapferen und stolzen Wünschen die FahnenFrankreichs begleiten, wenn sie für den Ruhm des Va-terlandes in die Ferne getragen werden –«

Die Kaiserin drückte die Zähne leicht in die Unter-lippe, sie senkte einen Augenblick das Auge zu Boden.

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»Auch ich,« fuhr Herr Rouher ohne Unterbrechungfort, »gehöre gewiß nicht zu denen, welche in chauvi-nistischer Überreizung das Heil Frankreichs nur in ewi-gen Kriegen, in einer unendlichen Aufhäufung blutigerRuhmestrophäen erblicken, aber,« sagte er mit festemTone, »ich habe es niemals verhehlt, weder vor demKaiser, noch vor den Vertretern des Landes, daß dieseralle Dämme des europäischen Vertragsrechts nieder-reißende Sieg Preußens bei Sadowa mir patriotischeBeklemmungen verursacht hat. – Ich habe lebhaft da-von abgerathen,« fuhr er fort, »daß der Kaiser sich da-mals zwischen die erhitzten Gegner stürzen möge, wieviele verlangten, man muß die Finger nicht in sieden-des Wasser thun, ich finde auch nicht, daß die FormDeutschlands, welche als Endresultat des Krieges von1866 übriggeblieben ist, für Frankreich absolut nacht-heilig ist, es lassen sich vielmehr aus den jetzigen Zu-ständen noch manche Vortheile für unsere Politik zie-hen, allein die Gleichgewichtsverhältnisse in Mitteleu-ropa sind so wesentlich gestört, dieser preußische De-gen, dessen Spitze, wie Herr Thiers früher schon sagte,gegen die Brust Frankreichs gerichtet wurde, ist so vielstärker und scharfer geworden, daß in der That eineNothwendigkeit da ist, die Spitze etwas abzustumpfen,um das Gleichgewicht durch eine entsprechende Com-pensation wiederherzustellen. Beides wird durch die

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Abtretung Luxemburgs erreicht. Luxemburg in preußi-schen Händen ist die Spitze des Degens, in den uns-rigen ist es ein starker Schild. – Ich fürchte übrigensnicht,« sagte er nach einem augenblicklichen Schwei-gen, »daß es zum Kriege kommt, man scheut in Berlinvor dem Äußersten zurück, und wenn wir nur fest auf-treten und nicht zurückweichen –«

»Glauben Sie das nicht!« rief die Kaiserin lebhaft,»die preußische Zurückhaltung und Mäßigung ist nurSchein, man bereitet eine mächtige und allgemeineAufwallung des deutschen Nationalgefühls vor, die In-terpellation in der Versammlung des Reichstags ist dasLoosungswort gewesen, und wenn dies gelungen ist –so wird man anders sprechen. Ich bin sicher, daß manzum Kriege entschlossen ist. – Haben Sie den GrafenGoltz gesprochen?« fragte sie.

»Nein,« sagte der Staatsminister.»Nun,« rief die Kaiserin, »ich habe ihn gestern ge-

sehen, Sie wissen, wie tief er es beklagt, daß im vo-rigen Jahre keine endliche volle Verständigung zwi-schen Frankreich und Preußen hergestellt ist, wie sehrer die Erhaltung der guten Beziehungen wünscht, wel-che gesichert waren,« fügte sie nachdenklich mit lei-serer Stimme hinzu, »wenn er die preußische Politikleiten könnte, er ist überzeugt, daß man in Berlin zumÄußersten entschlossen ist, und hat mich beschworen,dahin zu wirken, daß man hier den Conflict nicht aufdie Spitze treiben möge.«

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»Nun,« sagte Herr Rouher mit ruhigem Tone, »undwenn es zum Kriege käme? – wir würden schnellLuxemburg besetzen, die widerstrebenden Elementein Deutschland würden Preußen große Verlegenhei-ten bereiten, und man würde zuletzt in Berlin frohsein, nachdem die Degen gekreuzt sind, um den mä-ßigen Preis von Luxemburg die unbestrittene Führungin Deutschland, die definitive Anerkennung der Erfolgevon 1866 erkaufen zu können.«

»Aber wir haben keine Allianzen!« rief die Kaiserin,»während Preußen Italien hat, Rußland, das heimlicheWohlwollen dieser materiellen englischen Politik –«

»Die Geschichte zeigt,« sagte der Staatsminister,»daß das ängstliche Suchen nach Allianzen Frankreichniemals weder Stärke noch Vortheil gebracht hat, Na-poleon I. hatte keine Allianzen, seine Allianzen warendie Folge seiner Siege –«

»Napoleon I.!« rief die Kaiserin mit einem unbe-schreiblichen Ausdruck. – »Oh ich sehe es wohl,« sagtesie dann traurig mit tiefem Seufzer, »mein Wort fin-det nirgends Gehör, und doch,« fuhr sie fort, das Au-ge emporrichtend und die Hände faltend, »doch habeich nie tiefer und sehnlicher gewünscht, die Schreckendes Krieges beschwören zu können, die Gefahr, welchedas Leben des kaiserlichen Prinzen bedrohte und wel-che noch immer nicht vorüber ist – läßt mich tiefer alsje empfinden, was es heißt, seine Söhne der Todesge-fahr auf den Schlachtfeldern entgegenzuschicken, und

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mehr als je fühle ich mich als Vertreterin der Angstund der Besorgnisse aller Mütter Frankreichs. – Au-ßerdem,« fuhr sie mit einem langen Blick auf das ru-hig unbewegliche Gesicht des Staatsministers fort, »au-ßerdem sehe ich weiter, und die Consequenzen diesesKrieges würden gefährlich zurückwirken auf unsere in-neren Zustände.«

»Ich glaube, ein festes Auftreten nach außen wür-de nur zur Befestigung der inneren Verhältnisse beitra-gen und alle widerstrebenden Elemente zum Schwei-gen bringen,« sagte der Staatsminister ruhig.

»Wenn man im Innern ebenfalls fest bleibt,« erwie-derte die Kaiserin, »aber leider haben diejenigen, wel-che dem Kaiser zum Kriege rathen, ganz besondere Ab-sichten, die ich genau sehe – und die,« fügte sie seuf-zend hinzu, »vielleicht nicht ohne Aussicht auf Erfolgsein möchten.«

»Welche Absichten könnte man haben, die mandurch einen Krieg zu erreichen hoffte?« fragte HerrRouher, indem ein leichter Strahl von erhöhter Auf-merksamkeit in seinem Auge erglänzte.

»Mein Gott,« sagte die Kaiserin, indem sie leicht mitdem einen Stäbchen der question romaine spielte, wel-ches vor ihr auf dem Tische lag, »Sie wissen, ich sehe somanches und muß manches sehen, weil die Interessenvon allen Seiten sich an mich drängen und meine Fein-de durch ihre Bosheit, meine Freunde durch ihren Eiferdafür sorgen, daß mir nichts entgeht, so sehe ich denn

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auch jetzt eine starke Pression, die man gegen den Kai-ser ausübt, um die Zügel der Regierung zu lockern undein System des Parlamentarismus einzuführen, es istda eine lange Linie zum Angriff aufgestellt, an ihrerSpitze steht mein Vetter Napoleon, im Hintergrunderückt Herr Ollivier heran –«

»Emile Ollivier?« rief Herr Rouher, indem er fasteinen Sprung auf seinem Stuhle machte, »dieser Träu-mer, dieser eitle Geck, dessen Kopf voll Phrasen undWidersprüchen und dessen Herz voll kraftlosen Ehr-geizes ist? – Ich kenne ihn,« fuhr er mit höhnischemLächeln fort, »ich weiß, was dieser Spartaner werth ist,aber wie hängt er mit der Kriegsfrage zusammen?«

»Sehr einfach,« sagte die Kaiserin mit einem schar-fen Blick, der schnell unter den leicht gesenkten Au-genlidern hervorblitzte, »man sagt dem Kaiser, daßnun, nachdem das Kaiserreich fast zwanzig Jahre be-steht, das System der straffen Concentrirung der Ge-walt nicht mehr nöthig sei, es erbittere die Gemüther,entfremde sie der Dynastie und lasse den Thron vorden Augen Europas als unsicher erscheinen, man müs-se jetzt ein neues parlamentarisches System inauguri-ren und die Kräfte der Opposition in die Regierungs-sphäre hineinziehen, um für den kaiserlichen Prinzeneine Institution zu schaffen, welche unabhängig vonder persönlichen Überlegenheit des Souverains die Dy-nastie zu tragen und zu stützen geeignet sei.«

Herr Rouher zuckte die Achseln.

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»Um aber das System des persönlichen Regimentsaufzugeben,« fuhr die Kaiserin in fast gleichgültigemTone fort, »muß – so sagt man dem Kaiser – dies Sy-stem auf der Höhe seines Prestige stehen, weil sonstdas Volk nicht an ein freies Geschenk glauben und da-für danken, sondern glauben würde, einen Tribut derSchwäche zu empfangen.«

»Solche Concessionen sind immer Schwäche!« riefder Staatsminister, indem eine zornige Röthe sein Ge-sicht überflog.

»Nun ist aber das Prestige des persönlichen Regi-ments schwer erschüttert,« fuhr die Kaiserin immer indemselben Tone fort, »durch die Zurückhaltung Frank-reichs der deutschen Catastrophe gegenüber –«

»Schon vorher durch den kläglichen Ausgang dermexikanischen Expedition!« rief Herr Rouher in brüs-kem Tone.

Ein jäher Blitz sprühte aus dem Auge der Kaiserin,sie drückte das Metallstäbchen, das sie in der Handhielt, so heftig, daß ein rother Streif ihre weißen Fin-ger färbte, aber kein Zug ihres Gesichts änderte sich,in noch ruhigerem Tone als bisher fuhr sie fort:

»Man hat zum ersten Male gesehen, daß eine solcheErschütterung der europäischen Verhältnisse sich voll-zieht, ohne daß Frankreich gefragt oder gehört wird,dieser Eindruck muß beseitigt werden, wenn aberFrankreich das Prestige wiederhergestellt hat, wennder Kaiser die Compensationen, welche wir bedürfen,

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dem französischen Volk und seinem Selbstgefühl gebo-ten, wenn er dasteht an der Spitze siegreicher Heere,wenn sein Wort wieder gehört wird in Europa, dann– so sagt man – sei der Augenblick gekommen, umdie neuen Institutionen zu begründen, welche einstden Thron unseres Sohnes sichern sollen. – Ich,« fuhrsie seufzend fort, »kann in diesen Institutionen keinHeil erblicken, ich finde, daß das Kaiserreich der ern-sten, festen, concentrirten Gewalt bedarf, um diese un-ruhigen Franzosen zu beherrschen, ich habe deshalbnach allen Kräften gegen diese Ideen angekämpft –und auch aus diesem Grunde Alles gethan, um denKaiser vom Kriege abzuhalten, indes,« sagte sie ach-selzuckend, »vielleicht täusche ich mich, ich bereueschon, daß ich meinem Princip untreu geworden bin,mich jemals, auch in der besten Absicht, in die Politikzu mischen –«

»Und der Kaiser?« fragte Herr Rouher, welcher mitimmer steigender Aufmerksamkeit den Worten derKaiserin gefolgt war, »der Kaiser? – was sagt er zu die-sen Träumereien?«

»Der Kaiser?« sagte die Kaiserin, »mein Gott, Sie ken-nen ihn ja, er sagt nichts, er hört zu, indes bemerke ich,daß er lange und aufmerksam zuhört – Sie wissen ja,welchen Einfluß auf ihn große liberale und civilisatori-sche Ideen stets haben, ich glaube – soll ich sagen, ichfürchte – daß er im Herzen zu jenen Leuten hinneigt,

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welche das Kaiserreich zu einer großen parlamentari-schen Apotheose führen möchten, doch,« unterbrachsie sich, »lassen wir das, ich überschreite den Kreis,den ich mir mit bestimmten Grenzen vorgezeichnet ha-be, außerdem habe ich einen peinlichen Gegenstandberührt,« fügte sie mit dem Ausdruck der Verlegenheithinzu, »denn bei allen diesen Erörterungen kommt jaauch Ihre Person sehr wesentlich in Frage! – Also, meinlieber Minister,« sagte sie mit einem reizenden Lächeln,»vergessen Sie, daß ich mit Ihnen Politik gesprochen,nehmen Sie meine Äußerungen für nichts Anderes, alsfür die ängstlichen Aufwallungen einer Frau, die,« sag-te sie mit leichter Neigung des Hauptes, »einen so star-ken Geist wie den Ihrigen, der so lange gewohnt ist, diePolitik zu übersehen und zu beherrschen – nicht einenAugenblick irremachen sollen. – Ich fürchte und ver-abscheue diesen drohenden Krieg, deswegen sprecheund handle ich dagegen, so viel ich kann, Sie sehen ihnanders an, der Kaiser wird entscheiden und der SternFrankreichs wird Alles zum Guten führen.«

Und sie lächelte mit einer Miene, welche deutlichsagte, daß dies Gespräch nunmehr zu Ende sein solle.

»Haben Sie schon gesehen,« fragte sie, die beidenkleinen Stäbe emporhebend, »auf welche Weise die gu-ten Pariser jetzt die römische Frage lösen? – Sehen Sie,dies kleine Spielzeug hat man die question romaine ge-tauft, es kommt darauf an –«

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»Ich bitte Sie, Madame,« sagte der Staatsminister,ohne die question romaine der Kaiserin zu beachten,»ich bitte Sie, meine Äußerungen vorhin nicht so auf-zufassen, als ob ich den Kaiser wegen dieser luxem-burgischen Frage zum Kriege drängen wolle, der Kriegist das Äußerste und Letzte, und wenn Frankreich sichselbst auch eine feste Haltung schuldig ist, so darf mandie Dinge darum doch noch nicht bis zur Grenze desblutigen Conflicts treiben. – Ew. Majestät können über-zeugt sein –«

»Oh ich bitte Sie, mein lieber Herr Rouher,« rief dieKaiserin, »lassen wir das, Sie dürfen Ihre Ansichtenin keiner Weise durch meine vielleicht recht thörich-ten Befürchtungen beeinflussen lassen, vergessen Siedas Alles, ich bitte darum! – Sehen Sie,« sagte sie,die Stäbchen ungeduldig hinwerfend, »auf diese Wei-se durch geschmeidiges Ineinanderfügen kann ich dierömische Frage nicht lösen. – Niemals, niemals, nie-mals!« rief sie, mit feinem Lächeln in das erregte Ge-sicht des Staatsministers blickend.

»Madame,« rief Herr Rouher aufstehend, »Ew. Maje-stät mögen überzeugt sein, daß, wenn immer die Lageder Dinge eine friedliche Lösung möglich macht, ichAlles thun werde, was in meinen Kräften steht, um Ih-re so natürlichen und edlen Wünsche zu unterstützenund den Frieden nach außen zu erhalten.«

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»Der Friede nach außen,« sagte die Kaiserin mit an-muthigem Lächeln, »das ist die starke Regierung im In-nern – dann sind wir ja Alliirte, mein lieber Minister,ich hatte das kaum gehofft, aber ich bitte Sie noch-mals, nur nach Ihrer Überzeugung zu handeln, nichtsum meinetwillen –«

»Ew. Majestät haben die Gnade gehabt, mich als Ih-ren Alliirten zu bezeichnen,« sagte der Staatsminister,»ich hoffe, daß meine erhabene Alliirte auch hier imInnern mir zur Seite stehen wird gegen die Feinde,welche die starken und festen Institutionen des Kai-serreichs zerbröckeln möchten –«

»Wenn die Zweige des Ölbaumes Europa beschat-ten,« sagte die Kaiserin mit seinem Lächeln, »so bedür-fen wir keinen Ollivier im heimischen Garten Frank-reichs!«

Und mit anmuthigem Lächeln sich erhebend, reichtesie dem Staatsminister die Hand; dieser führte sie andie Lippen und verließ, sich tief verneigend, den Salon.

Die Kaiserin blickte ihm lächelnd nach.»Die einen lenkt man mit der Hoffnung,« fügte sie

leise, »die anderen mit der Furcht. – Dieser hat nichtsmehr zu wünschen, man muß ihn fürchten lassen!«

Während dies im Salon der Kaiserin vorging, saß Na-poleon III. in seinem Cabinet, ihm gegenüber der Mar-quis de Moustier, welcher verschiedene Papiere auf denSchreibtisch des Kaisers gelegt hatte.

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Napoleon sah finster und erregt aus, in sich zusam-mengesunken saß er da, sein Schnurrbart, den er im-mer von Neuem in ungeduldiger Bewegung durch dieFinger gleiten ließ, hing weniger sorgfältig geordnetals sonst über die Lippen herab, er hielt eine Cigarettein der Hand, aber sie war ausgegangen, das Auge desKaisers blickte trübe und verschleiert zu Boden.

»Benedetti hat eine große Verantwortung auf sichgeladen,« sagte der Marquis de Moustier mit leicht er-regter Stimme, »indem er die Depesche, welche ichihm über den Vertrag mit Holland gesendet, zurück-hielt. Sie jetzt noch abzugeben, würde eine fast di-recte Kriegserklärung sein, nachdem die Interpellati-on im deutschen Reichstag stattgefunden, aber jeden-falls müßte,« fuhr er mit eindringlichem Ton fort, »derBotschafter ernstlich getadelt werden, es scheint mirüberhaupt zweifelhaft, ob wir einen Vertreter in Berlinlassen können, der so unter dem persönlichen Einflußdieses Grafen Bismarck steht –«

»Lassen Sie die Sache auf sich beruhen,« sagteder Kaiser, »Benedetti hat vielleicht Frankreich einengroßen Dienst geleistet,« fügte er sinnend hinzu.

Der Marquis verneigte sich schweigend mit unzufrie-dener Miene, welche deutlich ausdrückte, daß er dieAuffassung seines Souverains nicht theile.

»Es ist ein böses Spiel,« sagte der Kaiser nach einerkleinen Pause in dumpfem Ton, »das uns diese Indis-cretion des Königs von Holland da gemischt hat, eine

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so einfache, natürliche Sache, die so leicht zu ordnenschien, bei der ich so wenig ernsten Widerstand vor-aussetzen durfte, ist da hinaufgeschraubt worden zueinem gewaltigen Conflict, zu einer europäischen Fra-ge – bis an die Grenzen des Krieges, oh wenn ich dasgewußt hätte,« rief er seufzend, »ich hätte die ganzeSache nicht angerührt, wenigstens jetzt nicht!«

»Aber glaubten denn Ew. Majestät wirklich,« fragteder Marquis verwundert, »daß die Erwerbung von Lu-xemburg ganz ohne Widerspruch von seiten des Berli-ner Cabinets vor sich gehen könne?«

»Ich glaubte es,« sagte der Kaiser, »oft habe ich frü-her Andeutungen über diese Sache machen lassen, ichhabe nie eine bestimmte Antwort erhalten, aber ebendies ließ mich glauben, daß man in Berlin geneigt sei,diese Concession zu machen, um eine definitive Ver-ständigung zu erreichen, ich habe angenommen, manwolle nicht ausdrücklich zustimmen, aber man würdezufrieden sein, das fait accompli acceptiren zu können– und nun –?«

»Aber halten denn Ew. Majestät,« fragte der Marquis,»diesen jetzigen Widerstand für ernst? – ich glaube,«sagte er lächelnd, »man will durch einiges Sträuben,durch einige Schwierigkeiten den Werth der Concessi-on nur größer machen!«

Der Kaiser schüttelte langsam den Kopf.

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»Sie täuschen sich,« sagte er dann, »dieser Wider-stand ist ernst. Die Interpellation im Reichstag wür-de nicht stattgefunden haben, wenn Graf Bismarck sieernstlich nicht gewollt hätte, und daß er die Frage aufdiesen Weg bringt, beweist mir unwiderleglich, daßer fest entschlossen ist, nicht nachzugeben, denn dasdeutsche Nationalgefühl wird sich mehr und mehr er-hitzen, und das deutsche Nationalgefühl, wenn es ein-mal aufgeregt wird, ist eine furchtbare Waffe in derHand eines Mannes, wie dieser preußische Minister. –Wissen Sie, mein lieber Marquis,« sagte er nach einerkleinen Pause, indem er sich etwas emporrichtete undmit großem, starrem Blick den Minister ansah, »wis-sen Sie, was mich an dieser ganzen Sache so peinlich,ich möchte sagen, unheimlich berührt, das ist nicht diefehlgeschlagene Combination, nicht die Hindernisse,welchen ich in dieser speciellen Frage begegne, mankönnte ja leicht eine andere Combination, ein anderesArrangement finden, aber,« fuhr er mit dumpfem Tonefort, »ich begegne hier abermals jenem festen, kalten,trotz der ruhigsten Form so rücksichtslos abweisendenWiderstand, den dieser preußische Minister allen mei-nen Schritten entgegensetzt, um zwischen dem neu-en Deutschland und Frankreich ein festes, freundlichesVerhältniß herzustellen, eine Allianz zu knüpfen, wel-che nach meiner Überzeugung die Welt beherrschenmüßte! – Er betont stets seinen Wunsch, mit mir inden besten Beziehungen zu leben, aber jedesmal, wenn

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ich die Basis dazu schaffen will, weist er mein Entge-genkommen zurück. – Wohin soll das führen? KannFrankreich ruhig, ohne seinerseits sich zu stärken, die-ses übermächtige Anwachsen der deutschen Macht an-sehen? – Das muß endlich zu einem harten, furcht-baren Kampfe führen, zu einem Kampf der Raçen, inwelchem nicht nur die politische Macht Deutschlandsund Frankreichs gegeneinander streiten werden, son-dern in welchem gerungen werden wird zwischen dergermanischen und der lateinischen Raçe um den erstenPlatz in Europa!«

»Wenn Ew. Majestät überzeugt sind, daß dieserKampf endlich mit unvermeidlicher Nothwendigkeitkommen muß,« sagte der Marquis de Moustier, wäh-rend der Kaiser düster vor sich hinstarrte, »dann istes doch in der That richtiger, die Ereignisse zu be-herrschen, wozu sich jetzt die beste Gelegenheit bietet,statt sie später vielleicht über uns hereinfluthen zu las-sen. – Halten Ew. Majestät fest, zeigen Sie jetzt, bevordie deutsche Macht sich consolidirt hat, dem preußi-schen Cabinet einen ernsten Willen und einen unbeug-samen Entschluß, ich bin überzeugt, daß man dort zu-rückgehen wird –«

Der Kaiser schüttelte langsam den Kopf.»Und wenn nicht,« rief der Marquis, »nun so werden

wir schlagen, so werden wir endlich diesen übermüthi-gen Soldaten von Sadowa zeigen, daß Frankreich nichtÖsterreich ist –«

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»Wir stehen allein,« sagte der Kaiser zögernd.»Nicht ganz, Sire,« erwiederte der Marquis, »wir ha-

ben wirksamere Bundesgenossen, als die Cabinette esvielleicht sein würden, wir haben alle die widerwilligunterworfenen Elemente in Deutschland, die katholi-schen Parteien Süddeutschlands, welche auf ihre Re-gierungen drücken werden, wir haben Hannover, dasunter dem preußischen Zügel schäumt, wir haben dieBevölkerung von Luxemburg selbst, welche nicht er-mangeln wird, vor ganz Europa eine Demonstration zumachen.«

»Sind Sie dessen gewiß?« fragte der Kaiser.Der Marquis ergriff ein kleines Heft, welches vor ihm

auf dem Tische lag.»Hier ist,« sagte er, »ein sehr ausführlicher und inter-

essanter Bericht von Herrn Jaquinot über die Zuständeim Großherzogthum –«

»Herr Jaquinot?« unterbrach der Kaiser mit fragen-dem Ton.

»Er ist Präfect von Verdun, Sire,« erwiederte derMarquis, »Sohn des Generals Jaquinot, er hat ein Fräu-lein Collart aus Luxemburg geheirathet und die Familieseiner Frau dort oft besucht, viel beobachtet und sei-ne Beobachtungen mit großem Geschick zusammen-gestellt; er constatirt, daß die ganze Bevölkerung desGroßherzogthums französisch gesinnt ist, die Bemü-hungen, welche früher zwei Männer besonders« – derMarquis blätterte suchend in dem Bericht, den er in

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der Hand hielt – »zwei Männer, namens Friedemannund Stammer, zur Verbreitung der deutschen Spracheund Literatur gemacht, sind erfolglos geblieben, dieHandels- und Verkehrsbeziehungen ziehen die Bevöl-kerung ebensosehr als Sprache und Sitten zu uns, manwird uns bei lauten Kundgebungen in diesem Sinnenicht vorwerfen können, daß wir deutsches Gebiet be-anspruchen.«

»Wollen Sie mir den Bericht hier lassen,« sagte derKaiser, nahm das Heft aus der Hand seines Ministersund legte es auf den Tisch neben sich. – »Sie sprachenvon Hannover?« fragte er dann, »glauben Sie, daß dortauf etwas Ernstes zu rechnen sei? – das wäre besonderswichtig!«

»Alle Berichte lauten übereinstimmend dahin,« er-wiederte der Marquis, »daß die Bevölkerung Hanno-vers im höchsten Grade widerwillig die preußischeHerrschaft erträgt, auch habe ich heute die Nachrichterhalten, daß eine starke Anzahl früherer hannoveri-scher Officiere und Soldaten sich in Arnheim in mili-tairischer Ordnung sammeln –«

»In der That?« fragte der Kaiser, »das wäre ein wich-tiger Punkt, ein deutsches Volk auf unserer Seite, dieNachkommen der Soldaten von Waterloo, man mußsogleich Kundschafter dorthin schicken und Baudin in-struiren –«

»Zu Befehl, Sire,« sagte der Marquis, »übrigensschreibt der Herzog von Gramont, daß der König von

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Hannover einen persönlichen Vertreter hierher sendenwolle, man wird dann eine nähere Verbindung anknüp-fen können –«

»Ich habe davon gehört,« sagte der Kaiser, »der Kö-nig Georg ist trotz seiner Entthronung einer der vor-nehmsten Herren Europas, und ich kann trotz der völ-kerrechtlichen Stellung zu Preußen persönliche Bezie-hungen zu ihm fortsetzen, man wird seinen Vertretermit den äußersten égards umgeben; diese hannove-rische Frage ist eine Sache,« sagte er lächelnd, »diewir in einem Schubfach unseres politischen Archivssorgfältig bewahren müssen, ohne uns zu engagiren,es kann ein Augenblick kommen, wo wir sie daraushervorziehen werden, – Ich habe,« sprach er langsam,»die Veränderungen in Deutschland, die Annexionender souveränen Staaten acceptirt, nicht anerkannt, dasist eine Nüance,« fügte er mit sarkastischem Lächelnhinzu, »die ich von den legitimen Cabinetten bei derAusrichtung des Kaiserreiches gelernt habe, sollte ausirgend einem Grunde ein Conflict ausbrechen, so habeich das volle Recht, die ganze deutsche Frage als eineoffene zu betrachten und zu behandeln.«

»Nimmt man nun,« fuhr der Marquis fort, »die Zu-stände in Hannover, die Verhältnisse in Süddeutsch-land zusammen, denkt man dann an den Krieg in derWeise, daß eine Armee, durch die Flotte unterstützt,

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von Holland aus auf Hannover hin operirt, daß so-dann die Hauptmacht, den Feldzug Moreaus wieder-holend, vom Süden heraufdringt und immer an derGrenze der süddeutschen Staaten, deren Bevölkerun-gen durch unsere Agenten vorbereitet werden, die Al-ternative stellt: Allianz oder feindliche Invasion, somüssen mir Ew. Majestät zugestehen, daß diese Chan-cen vielleicht schwerer wiegen, als die Allianzen undVersprechungen europäischer Höfe. Preußen wird soviel Truppen brauchen, um seine Feinde im Innern zubewachen und niederzuhalten, daß ihm nur wenigeübrigbleiben werden, um sie unseren Armeen entge-genzustellen.«

Der Kaiser lächelte. »Da ist mein Minister der aus-wärtigen Angelegenheiten, der Kriegspläne macht, Siehaben den Marschall Niel gesprochen?«

»Ich gestehe, Sire,« sagte der Marquis, »daß ichein Wenig den Marschall sondirt habe, indes ergiebtsich jener Feldzugsplan ebensosehr aus politischen Ge-sichtspunkten, wie aus militairischen.«

»In der That,« sprach der Kaiser mehr zu sich selber,als zu dem Marquis, »sind das die Gedanken Niels, nurfür später, er ist noch nicht fertig, auch will er einenWinterfeldzug machen!«

»Ew. Majestät sind also entschlossen,« fragte der Mi-nister, »ernsthaft und rücksichtslos vorzugehen?«

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»Rücksichtslos?« sagte der Kaiser, »das würde unserePosition nicht verbessern; man muß uns nicht vorwer-fen können, die Brandfackel in das politische GebäudeEuropas geschleudert zu haben, auch ist die Situationnoch nicht ganz klar. Gramont wird hierher kommen?«

»In diesen Tagen,« erwiederte der Marquis, »ichkann nach seiner Nachricht ihn heute schon erwarten.«

»Ich bin begierig, ihn zu sprechen,« sagte der Kai-ser, »dieser Herr von Beust macht aus Österreich eineso complicirte Maschine, daß ich fürchte, er wird sehrbald selbst die Direction verlieren und diesen originel-len Mechanismus nicht mehr bewegen können. – Apro-pos,« unterbrach er sich, »Österreich spielt ein merk-würdiges Spiel im Orient! Mich erfüllt das mit einigerBesorgniß. Sollte Herr von Beust, der sich zuweilen inhöchst sonderbaren Gedanken und Experimenten ge-fällt, an eine Wiederaufrichtung jener alten, sogenann-ten heiligen Allianz denken, die wir mit so vieler Mü-he getrennt haben? Er macht Rußland merkwürdigeAvancen – die Revision des Vertrages von 1856 –«

»Ew. Majestät sind ja selbst zu einer solchen Revisionbereit,« warf der Marquis ein.

»Wenn ich,« sagte der Kaiser lächelnd, »eine Basisder Verständigung mit Rußland habe, so ist es darumnicht nöthig, daß Herr von Beust sich das Verdienst

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derselben aneignet, eine östliche Coalition ist dasje-nige, was vor allem um jeden Preis vermieden wer-den muß, sie könnte mit logischer Nothwendigkeit ihreSpitze nur gegen uns kehren.«

»Also würden wir uns gegen die österreichischenProvositionen erklären müssen?« fragte der Marquis.

»Dadurch würden wir gerade das hervorrufen, waswir vermeiden wollen,« sagte der Kaiser, seinen Schnurr-bart drehend, »wir dürfen weder Rußland feindlichgegenübertreten, noch auf der anderen Seite dulden,daß die orientalische Frage irgendwie einer endgülti-gen Lösung oder auch nur einem vorläufigen Abkom-men entgegengeführt werde. – Wir müssen Österreichüberbieten!« setzte er nach einem kurzen Nachdenkenhinzu.

Der Marquis machte eine Bewegung des Erstaunens.»Wir müssen es so weit überbieten, daß – Alles beim

Alten bleibt!« sagte der Kaiser lächelnd.»Ah!« machte der Marquis, indem er mehrmals mit

dem Kopfe nickte.»Lassen Sie uns vorschlagen, daß Kandia, Thessali-

en und Epirus, um der dortigen Unzufriedenheit ein-für allemal ein Ende zu machen, gänzlich von der Tür-kei abgetrennt und mit Griechenland vereinigt werdenmögen! – das wird dann schließlich England erwecken– und es wird Alles bleiben, wie es war. – Jedenfallsdarf Österreich kein Weg zu anderen Allianzen offengelassen werden!«

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Der Marquis verneigte sich.»Aber,« sagte er dann, »um auf die luxemburgische

Frage zurückzukommen, Ew. Majestät befehlen also,daß unsere Sprache in derselben sehr fest und ener-gisch sein solle –«

»Ahmen wir das Beispiel unseres Gegners nach,«sagte der Kaiser, »und hüllen wir uns zunächst in ei-ne kühle Zurückhaltung, echauffiren wir uns nicht vorder Zeit, die Sache wird ja doch vor eine europäischeConferenz kommen, es ist das gar nicht zu vermeiden,engagiren wir uns also nach keiner Richtung –«

»Aber, Sire,« rief der Marquis, »sollen wir denn eineneue directe moralische Niederlage ertragen?«

»Wir wollen Zeit gewinnen,« sagte der Kaiser mitfreundlichem und verbindlichem Lächeln, »und das istein großer Gewinn.«

Der Marquis biß mit unzufriedener Miene auf seinenkleinen Schnurrbart.

»Übrigens,« fuhr der Kaiser fort, »dürfen wir nichtversäumen, eine energische Action vorzubereiten, ichbitte Sie, mein lieber Marquis, sich mit Lavalette zuverständigen, um durch die Presse auf die öffentlicheMeinung wirken zu lassen, damit die nationale Seiteein Wenig anklinge, auch wird es gut sein, die militairi-schen Rüstungen scharf zu betreiben und einige Trup-pen gegen die Grenze zu dirigieren. – Ich werde mitdem Marschall Kriegsminister sogleich darüber spre-chen.«

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Die Züge des Ministers klärten sich auf.»Lord Cowley hat die bons offices Englands angebo-

ten,« sagte er dann, »er hat auch eine Audienz bei Ew.Majestät erbeten und wird wahrscheinlich bald hiersein.«

Napoleon zuckte die Achseln.»Wo es die Verkleisterung eines Conflictes gilt, sei es

auch nur auf sechs Wochen – da ist man der bons officesEnglands sicher!« sagte er, »ich werde ihn empfangen,um die Phrasen zu hören, die ich schon zum vorausgenau kenne! Ich bitte Sie, sogleich wiederzukommen,mein lieber Marquis,« fügte er hinzu, »sobald Sie neueNachrichten von Wichtigkeit haben.«

Der Marquis stand auf, faltete seine Papiere zusam-men und entfernte sich, indem er mit tiefer Verbeu-gung sprach:

»Ich wünsche, daß es Frankreich diesmal vergönntsein möge, Reparation für Sadowa zu erlangen.«

Der Kaiser blickte ihm lange schweigend nach. SeinAuge verschleierte sich tiefer und tiefer, sein Kopf sankfast auf die Brust hinab.

»Sie haben es leicht,« sagte er dumpf, »mich zumKriege zu drängen, was setzen sie ein, was würden sieverlieren, wenn der Würfel des Krieges ungünstig fie-le? – Und halte ich den Sieg in meiner Hand? gebie-te ich dem Gott der Schlachten, wie mein Oheim? –Ich fühle,« sagte er immer leiser und dumpfer, immermehr in sich zusammensinkend, »daß die Fäden eines

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bösen Verhängnisses mich dichter und dichter umzie-hen, ich sehe den Kampf mit Deutschland immer mehrmit zwingender Nothwendigkeit herannahen, diesenKampf, den ich nicht will, von dem eine innere Stimmemir sagt, daß er verderblich sein wird für mein Haus!«

Er richtete sich empor.»Wenn es denn aber sein muß, so sollen wenigstens

alle Chancen des Sieges auf meiner Seite sein,« spracher mit festerer Stimme, »die mächtige Waffe, welchemeinen Oheim niederwarf, will ich für mich benutzen,ich will Preußen die Coalition entgegenstellen, Italienund Österreich, das ist es, an der Spitze dieser dreifa-chen Macht wird es nicht mehr Tollkühnheit sein, dasSpiel zu wagen, aber besser wäre es doch,« fuhr er wie-der leise und sinnend fort, »wenn ich mit Deutschlandmich verbinden könnte, bei diesem Deutschland ist dieKraft, es vereinigt und vertritt alle Ideen, welche ichals wahr und richtig erkannt habe, sollte sich der Wegnicht finden lassen, um diese jugendlich wachsendeMacht zu gewinnen, sollte dieser Mann, den ich fürleicht, für oberflächlich, für einen genialen Sonderlinghielt, den ich zu lenken, zu beherrschen hoffte, sollteer gar keine zugängliche Seite haben?«

Er versank in tiefes Nachdenken.Der Kammerdiener trat ein und überreichte dem Kai-

ser ein versiegeltes Papier. Zugleich meldete er:»Seine Excellenz der Staatsminister steht zu Ew. Ma-

jestät Befehl!«

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Der Kaiser öffnete das Papier, durchflog seinen Inhaltund verbrannte es dann lächelnd an der Kerze, welcheauf seinem Tische stand.

»Die Kaiserin wird ihn friedlich stimmen wollen,«sagte er, »vortrefflich, wenn es ihr gelingt! – Ich bitteden Staatsminister einzutreten!«

Herr Rouher näherte sich dem Kaiser, welcher auf-gestanden war und ihm die Hand reichte.

»Sie waren bei der Kaiserin?« fragte er.»Ja, Sire,« antwortete Herr Rouher mit nicht ganz

unterdrücktem Erstaunen, »Ihre Majestät hatte michrufen lassen,« fuhr er fort, indem er den Blick klarund fest auf das verschleierte Auge des Kaisers richtete,»um mir ihre so natürliche Besorgniß vor dem drohen-den Kriege auszusprechen und mir an’s Herz zu legen,durch meinen Rath für die Erhaltung des Friedens zuwirken.«

»Ich finde das sehr natürlich und löblich von mei-ner Gemahlin,« sagte der Kaiser, »aber sie ist bei Ihnennicht glücklich gewesen, Sie waren wenigstens nichtfür eine Politik des Nachgebens.«

»Gewiß nicht, Sire,« erwiederte Herr Rouher, »eben-sowenig aber möchte ich auch die Verantwortung tra-gen für ein starres Vorgehen bis zum Äußersten, ichhabe viel über die Frage nachgedacht, Sire,« fuhr erfort, »und ich muß Ew. Majestät sagen, daß ich mehrund mehr bedenklich geworden bin –«

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»Die Kaiserin zu contrariieren?« fragte der Kaiser lä-chelnd, indem er die Spitze seines Schnurrbarts drehte.

»Ew. Majestät wissen,« erwiederte Herr Rouher mitAplomb, »daß ich stets bereit bin, Ihrer erhabenen Ge-mahlin nach allen Kräften meine Ergebenheit zu be-weisen, ebenso wie ich Ihre Ideen, Sire, durchzufüh-ren und zu verteidigen keinen Anstand nehme, abermeine politischen Anschauungen und der Rath, den ichEw. Majestät in den Angelegenheiten Frankreichs gebe,sind unabhängig von allen persönlichen Rücksichten.«

»Ich weiß es, ich weiß es, mein lieber Staatsmini-ster!« sagte der Kaiser in herzlichem Tone, ihm leichtauf die Schulter klopfend, während sein Blick sich un-ter den tief niedersinkenden Augenlidern verbarg.

»Sie sind also der Ansicht –?« fragte er.»Ich habe die Überzeugung gewonnen, Sire,« erwie-

derte der Staatsminister, »daß diese luxemburgischeAffaire nicht werth ist, in diesem Augenblick fast un-vorbereitet und ohne Allianzen einen Kampf aufzuneh-men, bei welchem es sich um die Machtstellung Frank-reichs und – um den Ruhm der Dynastie handeln wür-de, um so mehr –«

»Um so mehr?« fragte der Kaiser.»Um so mehr, als ich aus allen Anzeichen sehe, daß

das Land, welches in einem seltenen Aufschwung derIndustrie emporblüht, den Krieg nicht wünscht, wennes auch die unvermeidliche Nothwendigkeit mit dem

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ganzen altfranzösischen Patriotismus acceptiren wür-de! – Ganz insbesondere aber,« fuhr er fort, »wiegt fürmich die schon vorbereitete Weltausstellung besondersschwer –«

Der Kaiser ließ sich, wie ermüdet, auf seinen Lehn-stuhl sinken, indem er den Minister durch eine Hand-bewegung einlud, sich ebenfalls zu setzen.

Herr Rouher verneigte sich, trat zu einem Fauteuildem Kaiser gegenüber, und, indem er die linke Handauf dessen Lehne stützte, blieb er hinter demselben ste-hen.

Mit der leicht erhobenen Rechten seine Worte durchruhige und würdevolle Bewegungen begleitend, fuhrer in eindringendem Tone fort:

»Die Weltausstellung, Sire, dieser große GedankeEw. Majestät, durch welchen Sie dem edelsten Wett-kampfe der Nationen Europas und bei ganzen Welteine herrliche Arena eröffnen, soll unmittelbar aus-geführt werden. Tausende haben ihre Vorbereitungengetroffen, ungeheure Werthe sind aus den entfernte-sten Stätten der Cultur bereits hier angelangt, eben sogroße Werthe schwimmen noch auf dem Ocean undwerden von Caravanen und Eisenbahnzügen Ew. Maje-stät kaiserlicher Residenz zugeführt, Frankreich, insbe-sondere Paris erwartet jene Ströme von Fremden, wel-che ebensoviel Ströme von Gold hierherführen sollen;– wenn nun in diesem Augenblick der Brand eines eu-ropäischen Krieges sich entzündet, eines Krieges, der

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von dem Worte und dem Willen Ew. Majestät abhängigwar, so würden alle die Werthe vernichtet, alle dieseHoffnungen zerstört werden, und alle dadurch Betrof-fenen – das aber ist fast die ganze Welt, und wiederumParis vor allem –, sie alle würden die Schuld davon aufEw. Majestät weisen. – Selbst der glänzendste Erfolgeines Feldzuges aber könnte kaum wieder gutmachen,was diese Stimmung Ew. Majestät schaden würde.«

Der Kaiser nickte schweigend mit dem Kopf, ohneden Blick emporzurichten.

»Auf der anderen Seite aber, Sire,« fuhr der Staats-minister, aufmerksam den Eindruck seiner Worte aufden Kaiser beobachtend, fort, »handelt es sich bei die-ser ganzen Frage in diesem Augenblick weniger umden Besitz von Luxemburg, als um das Prestige Frank-reichs. – Ich komme abermals auf die Weltausstellung –und ich glaube, daß dieselbe dies Prestige höher hebenwird, als es je gestanden –, denn, Sire, sie hat, wie ichEw. Majestät kaum auszuführen nöthig habe, auch ih-re eminent politische Bedeutung. Alle Souveraine Eu-ropas bereiten sich vor, die Wunder der Ausstellung zusehen, selbst der Sultan rüstet sich – eine unerhörteNeuigkeit – zur Reise hierher. – Alle diese Souverai-ne aber besuchen nicht nur die Ausstellung, sie besu-chen Ew. Majestät. Sie werden also, Sire, sich umgebensehen von einem Parterre von Kaisern und Königen,welches weitaus dasjenige an Glanz überstrahlen wird,

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das Ihr großer Oheim einst in Erfurt um sich versam-melte, und das auf keiner Basis von Blut und zertrete-nen Existenzen ruht, sondern im Gegentheil errichtetist auf dem fruchtbaren Boden der edelsten internatio-nalen Arbeit. – Welche Anknüpfungen können da ge-macht, welcher Einfluß kann gewonnen werden, wennalle diese Souveraine, in deren Händen sich die Schick-salsfäden der Welt vereinigen, der so mächtigen Wirk-samkeit der persönlichen Unterhaltung Ew. Majestät«– er verneigte sich gegen den Kaiser – »ausgesetzt wer-den, dieser Wirksamkeit, welcher noch Niemand wi-derstanden hat? Und das französische Volk, das denSouverain seiner Wahl umgeben sehen wird von allem,was die Welt an Macht und Herrlichkeit, an Glanz, anReichthum, an Arbeit und Production umfaßt, welchessehen wird, wie seine Hauptstadt dem ganzen Univer-sum eine strahlende Gastfreundschaft darbietet, wirdes nicht dankbar, wird es nicht stolz sein, daß seinKaiser ein blutiges Lorbeerblatt diesem rauschendenHain der schönsten Lorbeeren des Friedens geopferthat? – Diese Erwägungen, Sire,« fuhr er fort, »bestim-men mich aus vollster Überzeugung, für den Friedenzu sprechen.«

Der Kaiser erhob das Haupt, sein Blick entschleier-te sich ein Wenig, mit einem anmuthig verbindlichenLächeln sagte er:

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»Ich muß Ihnen gestehen, mein lieber Minister, daßIhre Worte einen mächtigen Eindruck auf mich mach-ten, ich war gereizt über diese immerfort feindlicheHaltung des Berliner Cabinets, aber ich fühle, ein Sou-verain darf persönlichen Gefühlen keine Rechnung tra-gen! Doch,« fuhr er sinnend fort, »Sie wissen, daß nichtalle denken und sprechen wie Sie, es würde nöthigsein, die großen, schönen und wahren Ideen, welcheSie mir soeben entwickelt haben, in geeigneter Weiselangsam und vorsichtig in die Öffentlichkeit dringen zulassen.«

»Nichts leichter als das, Sire!« rief Herr Rouher, »ichwerde die Presse –«

»Moustier bedarf,« sagte der Kaiser, ihn unterbre-chend, »um die Sache in würdiger Weise zu führen,einer gewissen kriegerischen Strömung, welche seineWorte in Berlin unterstützt – Sie wissen, daß man dortsehr aufmerksam unsere öffentliche Meinung verfolgt,würde sie zu laut den Frieden predigen, so könntenunsere Gegner zu übermüthig werden. – Lassen Sie al-so,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »lassen Siedas Auswärtige Amt immerhin eine kleine kriegerischeCampagne machen, damit man in Berlin nicht vergißt,daß Frankreich eine militairische Nation ist, aber sor-gen Sie dafür, daß Ihre Ideen daneben immer tieferin das Publikum dringen, und vor allem: sprechen Sie

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selbst dieselben bei jeder Gelegenheit mit derselben Fe-stigkeit und Beredsamkeit aus, mit welcher Sie mir die-selben soeben entwickelten. – Ihre Autorität –«

»Ew. Majestät erlauben also,« fragte der Staatsmini-ster lebhaft, »daß ich mich persönlich engagiere?«

»Ich bitte Sie sogar darum,« sagte der Kaiser.Der Kammerdiener trat ein.»Lord Cowley bittet Ew. Majestät um Audienz.«Der Kaiser nickte mit dem Kopf.»Ich danke Ihnen für den Freimuth, mit welchem Sie

mir Ihre Ansichten entwickelt haben,« fügte er, HerrnRouher die Hand reichend, hinzu.

Der Staatsminister verbeugte sich und verließ mit er-hobenem Haupte, stolze Befriedigung auf den Zügen,das Cabinet.

»Die Kaiserin hat mir einen großen Dienst geleistet,ohne es zu wollen,« flüsterte Napoleon lächelnd, »erwird den Frieden predigen, vielleicht wird mich derStrom der öffentlichen Meinung zwingen, zu thun, wasich thun will, und die moralische Verantwortlichkeitwird auf ihn fallen, ich werde den Bock der Sühne ha-ben, den ich schlachten kann, wenn es nöthig wird.«

In anmuthig höflicher Bewegung trat er dem engli-schen Botschafter entgegen, welcher in der Thür desCabinets erschien.

»Guten Morgen, Mylord,« sagte, ihm die Hand rei-chend, der Kaiser, von dessen Gesicht jede Spur destrüben, präoccupirten Ausdrucks verschwunden war,

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»ich freue mich, Sie zu sehen, haben Sie Nachrichtenüber das Befinden Ihrer Majestät der Königin?«

Lord Cowley, eine vornehme Erscheinung von engli-schem Typus, in einfachem, schwarzem Morgenanzug,ergriff ehrerbietig, aber doch mit jener der englischenAristokratie eigenthümlichen, selbstbewußten Würdedie Hand des Kaisers und erwiederte in jener engli-schen, durch die lange Übung etwas verwischten, aberdoch hörbar anklingenden besonderen Aussprache desFranzösischen:

»Ich danke Ew. Majestät. Der letzte Courier, welchergestern von London kam, brachte ziemlich befriedigen-de Nachrichten über das Befinden Ihrer Majestät, dochaber glaube ich kaum, daß die Königin daran wird den-ken können, wie sie es so sehr gewünscht hätte, dieAusstellung zu besuchen.«

»Die Ausstellung!« sagte der Kaiser, seufzend dieAchseln zuckend, »wird diese Ausstellung, dies schöneund große Werk des europäischen Friedens, überhauptstattfinden können?«

Lord Cowley sah ihn bestürzt an.»Ew. Majestät fürchten?« fragte er.»Ich fürchte vielleicht lebhafter,« erwiederte der Kai-

ser, »weil ich mit großer Liebe an diesem so sorgsamvorbereiteten Werke hing!«

»Ich bitte Ew. Majestät, überzeugt zu sein,« sagteLord Cowley, »daß die Königin, meine erhabene Her-rin, und ihre Regierung mit nicht minderer Besorgniß

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die Möglichkeit in’s Auge faßt, daß der Frieden Euro-pas gestört werden könne, und ich habe den Auftrag,Ew. Majestät die guten Dienste Englands zur Verständi-gung über diese beklagenswerte Frage Luxemburg an-zutragen.«

»Bin ich es, der den Frieden stört?« fragte Napoleonmit einem leichten Anklang von Ungeduld. »Bei mir be-darf es sicherlich keiner vermittelnden und beruhigen-den Einwirkung, in Berlin ist dieselbe mehr am Platze.«

»Ich kann Ew. Majestät versichern,« sagte Lord Cow-ley, »daß auch in Berlin ernste Vorstellungen gemachtwerden.«

»Warum stellt sich das Berliner Cabinet mir immerfeindlich entgegen?« rief der Kaiser, einige Schrittedurch das Zimmer machend. – »Trete ich ihm zu na-he, bin ich nicht vollständig in den Grenzen der Verträ-ge? Ist der König von Holland nach der Auflösung desdeutschen Bundes nicht freier und unabhängiger Sou-verain von Luxemburg? Warum, mit welchem Rechthält Preußen dort sein Besatzungsrecht fest, welchesnur dem deutschen Bunde zugestanden war? – Meinlieber Ambassadeur,« fuhr er fort, vor dem Lord stehenbleibend und ihn mit einem vollen, flammenden Blickseiner plötzlich entschleierten Augen anblickend, »ichhabe schweigend zugesehen, daß man den deutschenBundesvertrag gewaltsam zerrissen hat, ich werde esaber nicht dulden, daß man einen damit zusammen-hängenden Vertrag, ein anderes Glied aus jener 1815

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geschmiedeten Kette, an den Grenzen Frankreichs ge-waltsam aufrecht halte!«

»Aber, Sire,« rief Lord Cowley, erschrocken über die-sen heftigen Ausbruch, »ich bitte Ew. Majestät –«

»Oder halten Sie,« rief der Kaiser, »diese Luxembur-ger Verträge nicht mit dem deutschen Bunde für erlo-schen? Lord Stanley wenigstens hat dem Fürsten La-tour d’Auvergne und ebenso auch dem preußischenund dem russischen Botschafter in London erklärt, daßnach seiner Meinung der König von Holland unbe-streitbar das Recht habe, Luxemburg an Frankreich ab-zutreten.«

»Ganz gewiß, Sire,« sagte Lord Cowley in fast ängst-lichem Tone, »ist das Recht nach der Auffassung mei-ner Regierung unzweifelhaft auf Ihrer Seite, die Aufhe-bung des deutschen Bundes hat die Verträge über dieBesatzung der Festung Luxemburg aufgehoben, undder König von Holland kann darüber disponiren, wieer will, dies unterliegt gar keinem Zweifel, allein –«

»Allein –?« fragte der Kaiser. »Soll ich zurückwei-chen, wenn ich im Rechte bin?«

»Sire,« sagte Lord Cowley in bittendem Tone, »Ew.Majestät hocherleuchteter Geist schätzt nach seinemwahren Werthe den Frieden Europas, die Königin undihre Regierung geben sich der Hoffnung hin, daß Ew.Majestät dem hohen Werth dieses Friedens auch einOpfer zu bringen bereit sein würden.«

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»Ein Opfer an der Ehre Frankreichs?« rief der Kai-ser, einen funkelnden Blick aus seinen weit geöffnetenAugen auf den Botschafter werfend.

»Wer würde es wagen, daran zu denken, Sire!« riefLord Cowley, »aber,« fuhr er fort, indem er sich einenSchritt dem Kaiser näherte, »Ew. Majestät haben so-eben besonders betont, daß hauptsächlich die preußi-sche Besatzung in der Festung Luxemburg Ihnen unbe-rechtigt erscheint und Ihr Mißfallen erregt.«

»Das Großherzogthum Luxemburg selbst ist mirhöchst gleichgültig!« rief der Kaiser in wegwerfendemTone, indem er auf den englischen Botschafter einenscharfen, beobachtenden Blick warf, der sich sogleichwieder unter den schnell sich herabsenkenden Augen-lidern verbarg.

Lord Cowleys Gesicht überzog ein freudiger Schim-mer.

»Ew. Majestät legten also in der That auf den Besitzdes Großherzogthums keinen Werth, und würden miteiner Neutralisation des Landes einverstanden sein?«

Der Kaiser senkte das Haupt. Langsam setzte er sichin seinen Lehnstuhl.

Lord Cowley ließ sich auf seine Aufforderung ihmgegenüber nieder.

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»Sie stellen da eine sehr bestimmt formulirte Fra-ge, mein theurer Lord,« sagte Napoleon nach eini-gem Nachdenken, »um dem Botschafter Großbritan-niens darauf zu antworten, müßte ich den Rath mei-ner versammelten Minister hören, und,« fügte er miteigenthümlichem Lächeln hinzu, »die öffentliche Mei-nung Frankreichs zu Rathe ziehen, denn Sie wissen ja,mein lieber Botschafter, ich bin nicht legitimer Kaiserin jenem alten Sinne, ich bin der Erwählte der Nation,ich muß also dem Willen meiner Mandanten gehor-chen, und ich weiß nicht –«

»Ew. Majestät,« sagte Lord Cowley, »haben ja öftermir schon das ausgezeichnete und mich hoch ehrendeVertrauen bewiesen, mir Ihre persönlichen Anschauun-gen mitzutheilen, sollte es denn jetzt –«

Der Kaiser lehnte sich, den rechten Ellenbogen aufdas Knie gestützt, den Schnurrbart in den Fingerspit-zen drehend, zu dem englischen Botschafter hinüberund sah ihn mit großen Augen und tief eindringendemBlick an.

»Mein theurer Lord,« sagte er, »ich habe kein Be-denken, Ihnen auch diesmal meine persönliche Ansichtüber die schwebende Frage zu sagen.«

Der Lord lauschte gespannt.»Nach meiner Auffassung,« fuhr der Kaiser, immer

den Schnurrbart drehend, fort, »muß Frankreich mitgroßem Bedauern das Herannahen eines Conflicts mitDeutschland sehen, ich stelle mich einzig und allein

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auf den rechtlichen Standpunkt, daß Frankreich nichtzugeben kann, das Luxemburger Land und dessen be-deutsame Festung durch die Preußen, die dort ver-tragsmäßig nichts mehr zu thun haben, besetzt zu se-hen. – Demzufolge würde ich der Meinung sein, daßFrankreich, wenn die preußische Besatzung zurückge-zogen wird, auf die Neutralisation des Landes, unterwelcher Bedingung immer, eingehen könne.«

Lord Cowley athmete auf.»Darf ich diese Ansicht Ew. Majestät nach London

mittheilen?« fragte er eifrig.»Warum nicht!« sagte der Kaiser. »Indes bitte ich Sie,

nicht zu vergessen, daß es meine rein persönliche Mei-nung ist, gegen welche vielleicht meine Minister ge-wichtige Gründe anzuführen haben könnten.«

»Aber wenn es gelingen sollte, ein Arrangement aufder Basis dieser Anschauungen Ew. Majestät in Berlinannehmen zu lassen?«

»So würde ich versuchen, meinen Ministern gegen-über meine Meinung zu verfechten,« sagte der Kaiserlächelnd.

Lord Cowley erhob sich rasch.»Ich bitte Ew. Majestät um Erlaubniß,« sagte er,

»meinen Courier absenden zu dürfen, von einer Minu-te Verzögerung kann die Ruhe Europas abhängen.«

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»Gehen Sie, lieber Ambassadeur,« sagte der Kaiserfreundlich, »ich wünsche Ihren Bemühungen den be-sten Erfolg. Sie wissen wohl, daß Niemand aufrichtigerwie ich den Frieden Europas wünscht.«

Er stand auf und reichte dem Lord die Hand.Dieser verbeugte sich tief und entfernte sich schnell.»So,« sagte Napoleon, als er allein war, »nun wer-

den Rouher, die Presse und England mich drängen, daszu thun, was ich will, und ich werde wohl nachgebenmüssen,« fügte er lächelnd hinzu. Er bewegte eine klei-ne Glocke auf seinem Schreibtisch, welche mit beson-derem Klange durch das Cabinet schallte.

Aus der Thür nach seinen inneren Gemächern tratsein alter Kammerdiener Felix, der Vertraute seinerVerbannung, ein alter Mann mit grauem Haar, scharf-geschnittenem und intelligentem, aber dabei offenemund treuem Gesicht.

»Mein lieber Felix,« sagte der Kaiser, freundlich zuihm hintretend, »ich will ein Wenig spazieren gehen,wo ist Nero, mein guter, braver Freund, der treuestenach dir, du altes Herz ohne Falsch und Hinterhalt?«

Und mit einem warmen, leuchtenden Blick reichte erdem alten Diener die Hand. Dieser drückte sie an seinHerz und führte sie dann an die Lippen.

Dann näherte er sich wieder der Thür und ließ einenzischenden Ton durch seine Lippen dringen.

Nach wenigen Augenblicken erschien in mächtigemSprung ein großer, schwarzer Neufundländer-Hund,

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beschnupperte den Kammerdiener flüchtig und stürz-te dann in einem großen Satze auf den Kaiser zu, hobsich auf den Hinterbeinen empor und legte die Vorder-tatzen auf Napoleons Schultern, indem er mit seinergroßen rothen Zunge zärtlich sein Gesicht leckte.

Der Kaiser ließ es geschehen. Sanft legte er sei-nen Arm um das Thier und ein Ausdruck unendli-cher Weichheit legte sich über sein Gesicht, sein Augestrahlte in feuchtem Schimmer, er war wahrhaft schönin diesem Augenblick.

»Du gutes Thier,« sprach er mit sanfter, metallischklangvoller Stimme, »ich gebe dir Nichts als dein Futterund zuweilen einen freundlichen Blick, und du liebstmich, mich allein, du würdest ebenso freudig an miremporspringen, wenn ich nicht Kaiser wäre, in der Ver-bannung, am Bettelstab, während diese alle, die ichmit Gold und Ehren überhäufte –«

Er seufzte tief, dann drückte er die Lippen auf denglänzend schwarzen Kopf des Hundes.

»Du treuer Freund,« sagte er leise, und der Hund,als verstände er die Worte seines Herrn, schmiegte sichinnig an ihn an.

Felix nahte sich dem Kaiser und ließ sich auf ein Knieneben ihm nieder.

»Vergessen Ew. Majestät mich?« fragte er leise.Der Kaiser reichte ihm die Hand, ohne den Hund los-

zulassen.

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»Nein, ich vergesse dich nicht, du Gefährte der bösenTage, dich habe ich voraus vor allen Souverainen derWelt, einen Freund, den ich im Fischzug aus des LebensTiefen gewann!«

Und lange stand er so, aller Ausdruck von Sorge ver-schwand aus seinem Gesicht, sein Auge leuchtete inwarmem Schein, es war nicht der Kaiser, der vielbe-schäftigte, wachsame, gequälte, mächtige und ermüde-te Imperator, es war der Mensch, der einfache Mensch,der seine Seele badete in rein menschlichem Gefühl.

Dann seufzte er tief auf und ließ den Hund sanft zurErde gleiten.

»Rufe den Adjutanten vom Dienst,« sagte er.Felix stand auf und ging in das Vorzimmer.Wenige Augenblicke darauf kam er mit dem dienst-

thuenden Adjutanten, General Fave, zurück. Er reich-te dem Kaiser seinen Hut, die Handschuhe und einenschönen Stock von spanischem Rohr mit goldenemKnopf.

»Ich will ein Wenig im Garten spazieren gehen,« sag-te Napoleon mit freundlichem Lächeln, nahm den Armdes Adjutanten und stieg die Treppe hinab. – Nero folg-te langsam und gravitätisch.

Felix blickte ihm mit weichem Blicke nach.»Er wird alt,« sagte er mit tiefem Seufzer, »die Zeit

fordert ihr Recht an uns allen. Gott schütze und erhalteden Prinzen!«

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DREIZEHNTES CAPITEL.

In der großen, breiten Allee des sogenannten Ge-orgswalles in Hannover, vor dem großen, weiten Thea-tergebäude gingen etwas vor dem Beginn der Vorstel-lung drei Herren mit langsamen Schritten auf und nie-der; bald stehen bleibend und einem vorübergehen-den Bekannten zunickend, bald laut lachend, zeigtensie in ihrer ganzen Haltung jene sorglose Gleichgültig-keit unbeschäftigter Personen, welche nichts Andereszu thun haben, als ihre Zeit auf die möglichst weniganstrengende Weise todtzuschlagen.

Diese drei Herren, welche auch von den um die-se Stunde hier zahlreich spazierengehenden Bürgernhäufig gegrüßt wurden, waren der Lieutenant vonTschirschnitz, der Hauptmann von Hartwig und derLieutenant von Wendenstein, alle drei natürlich in Ci-vilanzügen, welche sie mit so leichter und natürlicherEleganz trugen, als hätten sie immer sich in dieserTracht bewegt.

»Also Ihr wollt wirklich nicht mit uns gehen, Wen-denstein?« fragte Herr von Hartwig, »besinnt Euchdoch noch einmal, je zahlreicher wir sind, um so mehrkönnen wir zur Entscheidung der Sache beitragen.«

»Laßt ihn,« sagte Herr von Tschirschnitz, »er hat an-dere Rücksichten zu nehmen als wir. – Ihr,« fuhr er fort,Herrn von Hartwig traurig anblickend, »seid frei durchEuren traurigen Verlust und bedürft des Herausreißens

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aus Eurem Schmerz, ich – nun, ein Junggesell, wie ich,hat nichts zu verlassen.«

»Ihr gebt die Compagnie im sächsischen Dienst auf,die Euch zugesichert ist, alter Freund?« unterbrach ihnHerr von Hartwig.

»Was will das sagen?« rief Herr von Tschirschnitz,»ich habe dem Könige mich zur Verfügung gestellt undmuß seinem Ruf folgen, ich thue es gern und leichtenHerzens, aber seht, mit Wendenstein ist es etwas An-deres, er ist verlobt, er will heirathen, er hat anderePflichten.«

»Aber wenn es zum Schlagen kommt,« rief Herr vonHartwig, »so –«

»So werde ich gewiß nicht fehlen,« sagte Herr vonWendenstein ernst, »glaubt mir, wenn ein hannoveri-sches Corps sich bildet, so werdet Ihr meinen Platznicht leer sehen! – Aber wenn nichts daraus wird –«

»Ja, das ist die Sache,« rief Herr von Tschirschnitz,»wenn aus der ganzen Sache nichts wird, so sind wirverbannt, auf lange, vielleicht auf immer, nun, wir kön-nen es darauf wagen, aber das wäre für ihn doch zutraurig.«

»Außerdem sagt mein Vater,« sprach Herr von Wen-denstein ein Wenig zögernd, »Ihr wäret einverstanden,daß ich mit meinem Vater über die Sache sprechenwollte, er meint, daß diese ganze Emigration etwasvoreilig und unüberlegt sei, und daß sie der Sache desKönigs wenig nützen, vielleicht schaden könne –«

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»Aber der König hat es befohlen!« rief Herr vonTschirschnitz. »Ist es unsere Sache, seine Befehle zuprüfen, muß er nicht besser wissen, was zu thun ist?«

»Seid Ihr ganz gewiß, daß der König es befohlen,und daß nicht etwa –«

»Ganz gewiß!« sagte Herr von Hartwig, »ich habeselbst des Königs Ordre gesehen, durch welche er denPersonen, die Ihr kennt, Vollmacht ertheilt. Nun, wenndie Personen jetzt die Emigration anordnen, so mußdoch die Sache nöthig sein.«

»Und Graf Platen sendet Geld auf Geld für die Sa-che!« rief Herr von Tschirschnitz, »hier habe ich drei-ßigtausend Thaler in meiner Tasche, in meinem Lebenhabe ich nicht soviel Geld beieinander gesehen,« fügteer lachend hinzu, »glaubt Ihr, daß diese Summen vonhier kommen oder für einen Scherz gezahlt werden?– Nein, nein, in Hietzing muß man besser wissen, wasnöthig ist, also vorwärts, ich reise heute abend. Briefe,die an mich kommen, laßt Ihr mir wie bisher zugehen,nicht wahr, Wendenstein? – Eine sichere Adresse solltIhr erhalten.«

»Seht Euch nicht um,« sagte Herr von Hartwig, sei-nen Arm in den des Herrn von Tschirschnitz legend,»ich bemerke einen Menschen, der uns fortwährendfolgt, bald geht er auf dem Trottoir, bald in der Mit-te der Allee, aber so oft wir umkehren, thut er’s auch,das hat etwas zu bedeuten, wir müssen uns trennen!«

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»Bah!« rief Herr von Tschirschnitz, »vielleicht einharmloser, zufälliger Spaziergänger, was kann man vonuns wollen? – Wir gehen hier unter freiem Himmelvor den Augen aller Welt spazieren und übrigens ha-ben wir nichts Compromittirendes, alle Papiere, derenüberhaupt nicht viel existiren, sind in Sicherheit.«

»Und Eure dreißigtausend Thaler?« fragte Herr vonHartwig.

»Donnerwetter!« rief Herr von Tschirschnitz, »jeder-mann weiß, daß ich soviel Geld nicht habe – das wäreein angenehmes Corpus delicti. – Ja, Ihr habt recht,«sagte er dann, leicht den Kopf umdrehend, »da stehtder Mensch, den ich schon einige Male gesehen, vor ei-nem Schaufenster, gehen wir auseinander, damit thei-len wir die Spur und können vielleicht auch sehen, aufwen es denn eigentlich abgesehen ist. – Ich werde zurGeorgshalle gehen,« fuhr er fort, »und dort etwas es-sen, heute nacht reise ich. – Auf Wiedersehen,« sagteer, Herrn von Hartwig die Hand drückend, – »und auchEuch hoffe ich bald zu sehen, Wendenstein, wenn esetwas Ernstes giebt.«

Die drei Herren drückten sich die Hände und gin-gen nach verschiedenen Seiten auseinander, Herr vonTschirschnitz trat in das große Restaurationslocal desHerrn Kasten, dem Theater gegenüber, bestellte einkleines Souper und trat dann an das Fenster, mit sorg-losem Ausdruck hinausblickend. Er sah den Lieutenant

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von Wendenstein langsam über den Platz nach der in-neren Stadt hinschreiten. Ein Mann in einfachem grau-en Civilanzug, welcher an einem großen Bilderladengegenüber die ausgehängten Kupferstiche betrachtethatte, verließ das Schaufenster und folgte in weiterEntfernung dem jungen Mann.

»Richtig auf der falschen Fährte!« flüsterte Herr vonTschirschnitz mit zufriedenem Lächeln, »lassen wir ihnruhig den Unrechten beobachten, wir werden bald inSicherheit sein.«

Und mit heiterer Miene nahm er vor dem für ihnbereiteten Couvert Platz.

Der Lieutenant von Wendenstein ging langsam undnachdenkend seinem elterlichen Hause zu.

Er dachte an die Vergangenheit, an den frischen,fröhlichen Krieg im vergangenen Jahre, an die Kame-raden, die da jetzt hinauszogen zu einem Leben vollbunten Wechsels, voll bewegter Abenteuer, und fastwollte ihn schmerzliche Wehmuth überkommen, daßer nun hier zurückbleiben sollte im stillen, häuslichenKreise, in des Lebens ruhigem Gleichmaß abwartend,was die Zukunft bringen werde. Sein Herz schlug sojung und frisch dem glühenden, wallenden Leben ent-gegen, und der Reiz der reichen Fülle ritterlicher Ro-mantik, der seinen Kameraden entgegenschimmerte,lockte und bewegte seine Seele in allem Farbenglanzjugendlicher Phantasie.

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Aber dann trat Helenens Bild vor ihn, mit den tiefen,klaren Augen, mit dem Lächeln voll Liebe und Vertrau-en, er dachte, daß diese Augen sich in Thränen ver-hüllen würden, daß dies Lächeln verschwinden würde,wenn er fortginge, er, an den diese Liebe sich rankte,auf den dies Vertrauen sich stützte, und unwillkürlichschüttelte er den Kopf, wie um die lockenden Bilderdes Lebens da draußen von sich zu werfen, sein Blickleuchtete in weichem Schimmer, und leise sprach er:»Ich bin zum Leben zurückgerufen von den Grenzendes Todes, dies neu geschenkte Leben soll allein ihrgehören, deren sanfter, treuer Blick so tröstend undhoffnungsreich auf mir ruhte, als ich im Todeskamp-fe dalag, deren süßer Gruß mir entgegentönte, als ichzu Kraft und Gesundheit zurückkehrte!«

Raschen Schrittes kehrte er nach Hause zurück undstieg in sein Zimmer hinauf.

Hier öffnete er einen Secretair, nahm ein Packet Brie-fe und ein Blatt Papier mit Adressen, legte Alles in eingroßes Couvert und siegelte es mit seinem Siegelrin-ge zu. Dann verschloß er Alles wieder und steckte denSchlüssel zu sich.

»So,« sprach er, »da sind die Papiere wohlverwahrt,mag man nun den einen oder den anderen der Ab-reisenden arretiren, man wird nichts bei ihnen finden,und ich,« sagte er lächelnd, mit einem leichten Anflugvon Wehmuth, »nun – ich werde ein so ruhiges und

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stilles Leben führen, daß man bei mir wohl schwerlichjemals nachsuchen wird.«

Langsam stieg er hinab in das Familienzimmer.Hier war Alles wie sonst. Der gesellige Theetisch

war bereitet, die Tochter des Hauses und Helene leg-ten eben die letzte Hand an sein Arrangement, das inden alten Familien Hannovers nach der englischen Sit-te einen sehr wesentlichen Mittelpunkt des häuslichenComforts bildet, und Frau von Wendenstein betrachte-te von ihrem Eckplatze im Sopha aus mit wohlgefäl-ligen Blicken die geschickte Geschäftigkeit der jungenMädchen.

Helene strahlte von stiller, lächelnder Glückseligkeit.Zu der besonderen Freude, mit welcher junge Mäd-chen, sobald die Liebe in ihr Herz eingezogen, alle jenekleinen Pflichten der Hausfrau erfüllen, welche ihnenim lieblichen Schimmer der Hoffnung jene künftigenTage näherführen, in denen sie das eigene Haus zuranmuthigen Heimath für den Geliebten zu gestaltenhaben werden, zu dieser stillen, süßen und sehnsuchts-vollen Freude gesellte sich in ihrem Herzen das Gefühleiner überstandenen Gefahr, denn in dem vollen Ver-trauen wahrer und ernster Liebe hatte ihr Verlobter ihrvon dem gesagt, was in den Kreisen seiner Kameradenvorging, sie hatte geschwiegen und kein Wort gespro-chen, um ihn zurückzuhalten, aber mit innerem, ju-belndem Entzücken hatte sie endlich seinen Entschluß

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vernommen, jenen Weg nicht zu betreten, der ihn vonihr und den Hoffnungen der Zukunft trennen mußte.

Der alte Herr ging seiner Gewohnheit gemäß lang-sam im Zimmer auf und ab. Finster blickte er vor sich,traurig der versunkenen Vergangenheit gedenkend, eswollte ihm nicht behagen hier in der Stadt, in derUnthätigkeit, und fast murrte er gegen die Vorsehung,daß all diese Umwälzung und Zerstörung nicht spä-ter gekommen sei, daß er nicht noch hatte heimgehenkönnen nach seinem vollbrachten Lebenswerk im al-ten Hannover, bevor die Zeit, welcher sein Leben, Lie-ben und Wirken gehört hatte, hinabgesunken war un-ter dem Anprall der Wogen einer neuen Strömung imVölkerleben.

Finster blickte er zur Thür, durch welche sein Sohneintrat. Aber als er das frische Gesicht des jungen Man-nes, seine kräftige Gestalt sah, da wurde sein Blickmilder und richtete sich mit weichem Ausdruck nachoben, wie um für das Murren seines alten Herzens dieVerzeihung Gottes zu erbitten, der ihm ja diesen Sohngelassen und in all dem Zusammensturz so vieler Ver-hältnisse seine Familie unversehrt erhalten hatte.

Helene eilte ihrem Verlobten entgegen und reichteihm die Hand. Er schloß sie innig in seine Arme unddrückte einen Kuß auf ihre reine, weiße Stirn. Zittertein seinem Herzen noch ein leiser Klang jenes Rufes ausder Ferne nach, der so lockend zu ihm gedrungen war,

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so verschwand er jetzt in der reinen, lieblichen Harmo-nie, mit welcher der Blick der Geliebten ihn erfüllte.

»Soeben wurde mir ein Brief meines Bruders gege-ben,« sagte der junge Mann, indem er seinem Vatereinen Brief reichte, dann setzte er sich zu seiner Mut-ter, und Helene sanft zu seiner Seite auf einen Ses-sel niederziehend, begann er heiter und scherzend zuplaudern, während der Oberamtmann den Brief seinesSohnes las. »Herbert ist sehr zufrieden mit seiner Stel-lung,« sagte der alte Herr nach einiger Zeit, an denTisch herantretend, »er rühmt wiederholt die Freund-lichkeit, mit welcher man ihm entgegenkommt, – nun,«sagte er lächelnd, »sie werden in Berlin sehen, daß diehannoverischen Beamten in keiner schlechten Schulewaren, und daß die ›Mißregierung‹, von welcher dieZeitungen sprachen, doch so schlimm nicht gewesenist. – Aber,« fuhr er ernster fort, »er schreibt auch, daßman dort von agitatorischen Bewegungen unterrich-tet sei, welche in diesem Augenblick stärker als je hierim Gange wären, man sei bisher nachsichtig gewesen,jetzt aber bei der Verwicklung der auswärtigen Politikseien diese Dinge ernster, und man sei entschlossen,mit rücksichtslosester Strenge allen solchen Bewegun-gen, namentlich in den Kreisen der früheren Officiere,entgegenzutreten und dieselben als Hochverrath nachder Strenge der Gesetze zu bestrafen. – »Man solltedoch,« fuhr der alte Herr mit einem bedeutungsvollenBlick auf seinen Sohn fort, »alle die jungen Herren zur

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äußersten Vorsicht ermahnen; wie leicht kann eine un-vorsichtige Handlung sie für ihr ganzes Leben unglück-lich machen!«

Frau von Wendenstein blickte sorgenvoll zu ihremSohne hinüber, Helene schlug die Augen nieder undzitterte leicht.

»Nun,« sagte der Lieutenant lächelnd, »ich bin dieVorsicht selber, und ich hoffe auch, daß diejenigen mei-ner Kameraden, welche vielleicht etwas zu fürchtenhaben könnten – wenigstens die Vorsicht haben wer-den, sich nicht fangen zu lassen.«

»Ich habe heute einen ausführlichen Bericht vonmeinem Commissionair erhalten,« sagte der alte Herrabbrechend, »und ich denke wegen des Kaufs von Ber-genhof abzuschließen, damit wir zum Herbst dort ein-ziehen und uns für den Winter bereits in der neu-en Heimath behaglich einrichten können. Helene wirdviel zu thun haben,« fügte er mit einem herzlichenBlick auf das junge Mädchen hinzu, »um sich ihr künf-tiges Reich zurechtzumachen, das sie freilich nicht un-getheilt beherrschen wird, denn die Mama wird wohldas Scepter nicht so leicht aus den Händen geben.«

Helene blickte erröthend mit glücklichem Lächeln zuihrem Verlobten empor, dann sprang sie auf, und zuFrau von Wendenstein eilend, küßt sie ihr zärtlich dieHand.

Die alte Dame sah sie liebevoll an. »Nun,« sagte siefreundlich, »allmählich wird mir wohl die Regierung

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aus den Händen gewunden werden, zunächst wollenwir ein constitutionelles Regiment einführen und He-lene soll mein verantwortlicher Minister werden!«

Der alte Diener trat ein und überreichte dem jungenHerrn von Wendenstein ein gefaltetes Papier.

»Für den Herrn Lieutenant,« sagte er.Der junge Mann betrachtete das flüchtig gefaltete

Billet mit einiger Verwunderung.»Von wem?« fragte er.»Ein mir unbekannter Mann übergab es mir,« sagte

der Diener, »mit den Worten: Eiligst abzugeben, undunmittelbar darauf eilte er wieder fort, ehe ich weiterfragen konnte.«

Er entfernte sich.»Sonderbar,« sagte der Lieutenant, der das Billet ent-

faltet und gelesen hatte, »soeben kam eine Warnungvon meinem Bruder, hier ist die zweite, directer unddringender.« Er las:

»Es wird ein großer Schlag gegen die Officiere vor-bereitet. Man kennt ihre Pläne. Alle sind beobachtet.Lieutenant von Wendenstein ist zu besonderer Auf-merksamkeit bezeichnet. Äußerste Vorsicht, wenn et-was zu besorgen – schleunigste Flucht. Ein Freund.«

»Das ist merkwürdig,« sagte der alte Herr, »es mußwirklich etwas im Werke sein, und geht man einmalvor, so wird die preußische Regierung nicht scherzen.«

Angstvoll blickte Helene auf das Blatt Papier – AllesBlut war aus ihrem Gesicht gewichen.

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»Hast du gewiß nichts zu befürchten?« fragte Frauvon Wendenstein, besorgt ihren Sohn anblickend.

»Nicht das Geringste!« erwiederte dieser ruhig miteinem Blick auf seinen Vater, »ich bin ja hier ganzharmlos – und will mich verheirathen,« sagte er lä-chelnd, Helenens Hand ergreifend, »da conspirirt mannicht, man kann mich immer beobachten, selbst arreti-ren, verhören, man wird Nichts an mir finden. Daß ichmit meinen alten Freunden und Kameraden freund-schaftlich umgegangen bin, kann mich ja doch nichtstrafbar machen.«

Ein plötzlicher Gedanke schien ihm zu kommen; erstand auf.

»Ich könnte zu aller Sicherheit –« sagte er.Schnell trat der alte Diener abermals ein. Bestürzung

und Unruhe lagen auf seinem Gesicht.»Ein Polizeicommissair ist draußen und verlangt den

Herrn Lieutenant zu sprechen.«Angstvoll blickten sich die Damen an. Ruhig und

ernst erhob sich der Oberamtmann.»Lassen Sie den Beamten eintreten!« sagte er mit fe-

ster Stimme.Der Polizeicommissair trat ein, er trug Civilkleidung;

in militairischer Haltung grüßte er artig und sprach mitkurzem, aber höflichem Tone:

»Ich bedaure, eine unangenehme Störung zu veran-lassen. Ich habe den Befehl, den früheren LieutenantHerr von Wendenstein zu arretiren.«

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Frau von Wendenstein faltete die Hände und blicktestill vor sich nieder, Helene war in ihren Stuhl zurück-gesunken, blaß und bewegungslos lag ihr Kopf auf derRücklehne.

»Mein Sohn wird Ihnen folgen,« sagte der Oberamt-mann, »hier steht er.«

Und er deutete auf den jungen Mann, der lächelndund ruhig vortrat.

Der Polizeibeamte verbeugte sich artig.»Ist Ihnen bekannt, was meinem Sohne zur Last ge-

legt wird?« fragte der Oberamtmann.»Ich habe nur den Befehl, den Herrn Lieutenant zum

Polizeidirector zu führen,« sagte der Beamte, »der HerrDirector wird ihn selbst verhören, ich hoffe und wün-sche, daß eine Aufklärung erfolge, welche alle weite-ren unangenehmen Folgen abschneidet.«

»Dessen bin ich gewiß,« sagte der Lieutenant, »darfich einige Sachen mitnehmen für den Fall, daß ich viel-leicht einige Tage in Haft bleiben sollte?«

»Es kann Ihnen gebracht werden, was Sie zu IhrerBequemlichkeit bedürfen, denn es ist Befehl gegeben,mit jeder möglichen Rücksicht zu verfahren. – Für jetztaber muß ich Sie bitten, sich ohne Verzug zum HerrnPolizeidirector zu begeben.«

Der Lieutenant nickte mit dem Kopfe. Dann wendeteer sich zu den Damen.

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»Die Sache wird sich sehr bald aufklären,« sagte erruhig und lächelnd, »man wird sich von meiner Harm-losigkeit überzeugen, ich komme vielleicht sogleichwieder zurück, jedenfalls morgen oder übermorgen.«

Er küßte seiner Mutter die Hand, die alte Dameblickte ihn mit thränenden Augen an und legte dieHand wie zum mütterlichen Segen auf sein Haupt.Dann wendete er sich zu Helene und schloß sie in seineArme.

»Adieu, meine Geliebte – auf baldiges Wiedersehen!«sagte er leise und innig.

Das junge Mädchen war noch immer in einer Art vonErstarrung. Bei der Umarmung ihres Verlobten zucktesie zusammen – sie sprach kein Wort – sie umfaßte sei-ne Hand und drückte sie wie krampfhaft in die ihrige,dann heftete sie den Blick starr auf ihn, als wolle siemit der magnetischen Kraft dieses Blickes ihn festhal-ten.

Der Lieutenant reichte seinem Vater die Hand. –»Sende mir etwas Wäsche, irgend ein Buch und einigeCigarren!« sagte er, und zu dem Polizeicommissair sichwendend, fügte er hinzu: »Ich bin bereit, mein Herr.«

Er verließ das Zimmer, der Beamte folgte ihm.Helene hatte ihn mit ihrem starren, unbeweglichen

Blick verfolgt, bis die Thüre sich hinter ihm schloß.Dann ließ sie das Haupt sinken, bedeckte ihr Gesichtmit den Händen und brach in leises Weinen aus.

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»Seid ruhig,« sagte der alte Herr an den Tisch tre-tend und die Hand sanft auf Helenens Kopf legend, »eskann nichts gegen ihn vorliegen, ein falscher Verdacht– vielleicht ist seine Verhaftung ein Glück für die wirk-lich Compromittirten, sie werden Zeit gewinnen, umsich in Sicherheit zu bringen.«

Der Lieutenant war die Treppe herabgestiegen, vordem Hause stand ein verschlossener Wagen. Der Beam-te öffnete den Schlag – ein zweiter Polizeicommissairsaß im Innern.

»Ich bitte Sie, einzusteigen,« sagte sein Begleiter zudem jungen Mann, »mein College hier wird Sie zumPolizeibureau führen.«

Ein wenig betroffen blickte ihn der Lieutenant an, erstieg ein. Der erste der Beamten schloß den Schlag.

Der Wagen rollte rasch davon.Wenige Minuten darauf trat der Polizeicommissair

abermals in das Zimmer der Familie.»Herr Oberamtmann,« sprach er, »ich muß Sie bit-

ten, mich in das Zimmer Ihres Herrn Sohnes zu führen,ich habe Befehl, die strengste Durchsuchung anzustel-len.«

Schweigend neigte der alte Herr das Haupt undschritt dem Beamten voran zum Zimmer seines Soh-nes.

Dort angekommen, setzte er sich in einen Lehnstuhlund sprach:

»Erfüllen Sie Ihre Pflicht, mein Herr.«

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Der Beamte warf einen forschenden Blick umher.Er trat zu dem Secretair.»Haben Sie den Schlüssel hierzu?« fragte er.»Mein Sohn hat ihn wahrscheinlich,« fügte der alte

Herr, »wollen Sie ihn holen oder holen lassen?«»Ich bedaure, keine Verzögerung eintreten lassen zu

können,« erwiederte der Commissar, »ich werde dasMeubel auch ohne Schlüssel öffnen können, der Scha-den soll nicht groß sein.«

Er zog eine starke, schmale Stange von polirtemStahl aus der Tasche, schob sie vorsichtig in die feineSpalte der Schlußplatte, und indem er zugleich einengekrümmten Haken in das Schlüsselloch steckte, öffne-te er mit einer leichten und geschickten Drehung dasSchloß.

Der alte Herr sah ihm ruhig zu.Der Beamte öffnete eine Schublade nach der andern.

Es waren alle möglichen Gegenstände darin, wenigPapiere, einige Blätter mit flüchtigen Notizen. – End-lich zog der Beamte ein großes, versiegeltes Couverthervor. Rasch öffnete er dasselbe, und indem er mitgeschickter und unabsichtlich erscheinender Wendungdem Oberamtmann den Rücken zukehrte, durchflog erschnell die Papiere, welche es enthielt. Er warf eini-ge andere Blätter, Notizen, Rechnungen darauf. Dannwendete er sich, das ganze Packet in der Hand haltend,herum.

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»Ich muß alle Papiere, welche dieser Secretair ent-hält, mitnehmen,« sagte er in dienstlichem Tone.

»Sie werden nicht viel darin finden,« bemerkte derOberamtmann mit ruhigem Lächeln.

Der Commissar erhob ein Wenig die Decken der Ti-sche, blickte darunter, öffnete den Ofen, kurz nahm ei-ne vollständige, aber im ganzen nicht sehr eingehendeDurchsuchung vor.

Dann empfahl er sich höflich und verließ das Hausmit eiligen Schritten, dem Gebäude der Polizeidirecti-on zueilend.

VIERZEHNTES CAPITEL.

Der Lieutenant von Wendenstein war mit seinem Be-gleiter an dem Gebäude der Polizeidirection in der Nä-he des Waterlooplatzes angekommen. Er verließ denWagen, man führte ihn über die große Vorhalle, woeine Anzahl von Beamten fortwährend den Dienst hat-te, auch standen hier zwei Militairposten, weiter dieTreppe hinauf zu dem großen Zimmer, in welchem derPolizeidirector Steinmann ihn erwartete.

Herr Steinmann, früher Landrath in Thorn, warein mittelgroßer, eleganter Mann von fünfunddrei-ßig bis sechsunddreißig Jahren, sein feines, geistvol-les Gesicht mit den lebendigen, schwarzen Augen undschwarzem, kurzem Haar und Bart bewegte sich in leb-haftem, ausdrucksvollem Mienenspiel und zeigte kei-ne Spur von dem Ausdruck eines Bureaukraten. Sein

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Blick war frei und offen, seine Bewegungen hatten je-ne vornehme und ritterliche Leichtigkeit, welche denalten Corpsburschen meist durch das ganze Leben ei-genthümlich bleiben.

Er erhob sich, als der Lieutenant eintrat, von demStuhle hinter seinem großen, in der Mitte des Zimmersstehenden Schreibtisch und lud den jungen Mann ein,auf einem in der Nähe des Fensters stehenden FauteuilPlatz zu nehmen, während er selbst sich ihm gegen-über niederließ.

»Es thut mir leid, Herr von Wendenstein,« sagte ermit einem Tone, in welchem die Höflichkeit des Welt-mannes sich mit der würdevollen Zurückhaltung deshöheren Beamten verband, »daß ich Sie zu diesem Be-such habe veranlassen müssen, ich hätte gewünscht,daß wir uns bei einer angenehmeren Gelegenheit ken-nen gelernt hätten.«

»Es sind Anzeigen über lebhafte erneute Agitationenan mich gelangt,« fuhr der Polizeidirector fort, »und IhrName ist damit in Verbindung – in sehr wesentlicheVerbindung gebracht, ich bin deshalb gezwungen, dadiesen Agitationen durchaus ein Ende gemacht werdensoll,« sagte er mit scharfer Betonung, »Sie in Sicher-heit bringen zu lassen, vielleicht,« fügte er mit wohl-wollendem Tone hinzu, »zu Ihrem eigenen Besten, ichwünschte dringend, alle diese Sachen im Keime er-sticken zu können, bevor sie zu strafbaren Handlun-gen werden, gegen welche wir bei der jetzigen Lage

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der Dinge mit aller Schärfe der Gesetze einzuschreitengezwungen sind. – Stehen Sie mit Hietzing und mitdem König Georg in Verbindung?« fragte er nach ei-ner kurzen Pause, »und wissen Sie etwas von dem Planeiner Emigration von früheren hannoverischen Officie-ren und Soldaten?«

»Herr Director,« erwiederte der junge Mann ruhig,»ich beabsichtige mich zu verheirathen und auf demLande meine Häuslichkeit zu begründen, unter solchenVerhältnissen conspirirt man nicht, ich lebe ruhig imHause meiner Eltern – und denke nicht daran, Hanno-ver zu verlassen.«

»Das ist keine directe Antwort auf meine Frage,«sagte Herr Steinmann, »doch,« fuhr er fort, »ich habeals Polizeidirector fragen müssen, als Gentleman habeich eine Antwort nicht erwarten können. – Ich hoffe,«sagte er nach einem augenblicklichen Stillschweigen,»daß der gegen Sie erregte Verdacht sich nicht bestäti-gen werde, bei dem Ernst der Sache aber muß ich Sieeinige Tage hier behalten. Großen Comfort kann ich Ih-nen nicht bieten,« sagte er lächelnd, »indes können Siesich Alles kommen lassen, was Sie zu Ihrer Bequem-lichkeit bedürfen, nur den Verkehr mit der Außenweltbin ich gezwungen, zu beschränken, Sie können Briefeerhalten und schreiben, nur muß ich die Indiscretionbegehen, sie zu lesen.«

Herr von Wendenstein verneigte sich.

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»Hier habe ich,« fuhr der Polizeidirector fort, »eineAnzahl von Fragen auf diesen Bogen Papier geschrie-ben, ich bitte Sie, sich an diesen Tisch zu setzen unddieselben zu beantworten, ich kann keine Denuncia-tionen von Ihnen erwarten, indes je offener und klarerSie sich aussprechen, um so schneller werde ich dieBeschränkung Ihrer Freiheit beenden können, ich wie-derhole, daß ich Schlimmes zu verhüten wünsche, aberNiemand zu schaden, damit der tragische Conflict, inwelchem wir stehen, so wenig Opfer als möglich forde-re.«

Herr von Wendenstein setzte sich an einen Seiten-tisch und begann das ihm übergebene Blatt aufmerk-sam zu lesen, während der Polizeidirector vor seinemSchreibtisch Platz nahm und sich mit seinen Acten be-schäftigte, von Zeit zu Zeit einen scharfen, forschendenBlick auf den jungen Mann hinüberwerfend.

»Wie schade,« flüsterte er vor sich hin, »um diesetüchtigen Leute, welche mit einem edlen Gefühl sichvon einer verderblichen, zwecklosen und thörichtenAgitation mißbrauchen lassen, wie schwer ist es hier,die Strenge des Amtes zu üben, wo das Gefühl so oftsympathisch für die Gegner spricht!«

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein – dieThür wurde geöffnet und in dienstlicher Haltung tratder Beamte ein, welcher zuerst in dem Zimmer desOberamtmanns erschienen war.

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Er näherte sich seinem Chef und legte ein Packet Pa-piere vor ihn hin.

»Alles beendet?« fragte Herr Steinmann.»Zu Befehl, Herr Director,« erwiederte der Commis-

sar, »hier die Ausbeute.«»Es ist gut – bleiben Sie im Vorzimmer.«Der Beamte entfernte sich.Herr Steinmann durchsah die ihm übergebenen Pa-

piere. Er warf einige achselzuckend bei Seite. Dannwurde der Ausdruck seines Gesichts ernst und finster.Sorgfältig prüfte er ein Blatt nach dem anderen, mitimmer größerer Aufmerksamkeit wieder und wiederden Inhalt durchlesend.

Dann nahm er das Packet, erhob sich und trat zudem Tisch, an welchem der junge Mann saß.

Dieser stand auf.»Herr von Wendenstein,« sagte der Polizeidirector

mit tiefem Ernst, den jungen Mann traurig und mit-leidig ansehend, »ich bedauere, daß Ihre Sache nichtso gut steht, als ich hoffte.«

Der Lieutenant warf einen Blick auf die Papiere, wel-che Herr Steinmann in der Hand hielt, und erbleichteleicht.

»Sind Ihnen diese Papiere bekannt?« fragte der Poli-zeidirector, die Blätter etwas auseinander ziehend.

Herr von Wendenstein zögerte einen Augenblick.»Ich glaube,« sagte er dann, »daß es alte Briefe und

Notizen sind, die in meinem Schreibtisch lagen, in

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meinem verschlossenen Schreibtisch,« fügte er hinzu,»dessen Schlüssel ich hier bei mir habe.«

»Ich habe,« erwiederte der Polizeidirector, »wie diesVorschrift und in Fällen, wie dieser, für die Sicher-heit des Staates unerläßlich ist, bei Ihnen eine Nachsu-chung anstellen lassen müssen, dies hat man gefunden.So alt scheinen die Papiere nicht zu sein, einige sindganz frisch geschrieben. Ich kann Ihnen nicht verber-gen, daß dies Ihre Lage wesentlich complicirt, es sindhier die Schlüssel zu verschiedenen Chiffrecorrespon-denzen, Adressen – zum Theil im Auslande, Briefe, ausdenen deutlich die Absicht und die Vorbereitungen zueiner militairischen Emigration hervorgehen, das Alles,bei Ihnen gefunden, erhebt den gegen Sie vorliegendenVerdacht fast zur Gewißheit und muß eine ernste undscharfe Untersuchung zur Folge haben.«

»Herr Director,« sagte der junge Mann mit freiemBlick und dem Tone der Wahrheit, »ich kann Ihnenmein Wort geben, daß diese Papiere nicht mein sind,fragen Sie nach, man muß sie in einem versiegeltenCouvert gefunden haben, sie sind mir zur Aufbewah-rung gegeben, und ich kann versichern, daß ihr Inhaltmir kaum – ihre Bedeutung mir noch weniger bekanntist.«

Der Polizeidirector sah ihn mit tief forschendemBlick an. Auf den Zügen des jungen Mannes stand dieWahrheit seiner Worte geschrieben.

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Voll Mitleid ruhte der Blick des Polizeidirectors aufdiesem so offenen, so freien und so edlen Gesicht.

Er schwieg einige Augenblicke. Zögernd und als obdie Worte widerstrebend von seinen Lippen sich lösten,sagte er dann:

»Ich wünsche, daß Sie die Wahrheit sprechen, Herrvon Wendenstein, als Mensch mag ich Ihnen glauben,als Beamter darf ich es nicht. – Ich muß,« fügte ernoch zögernder hinzu, »ich muß Sie darauf aufmerk-sam machen, daß, wenn Sie die Wahrheit sagen, esmeine Pflicht ist, Sie zu fragen, wer Ihnen diese Pa-piere zur Aufbewahrung gegeben hat, es ist dies dereinzige Weg für Sie, um der Behörde zu beweisen, daßSie nicht unmittelbar betheiligt sind, und um ihr dieMöglichkeit zu geben, den wahren Schuldigen zu ent-decken und zu verfolgen.«

Herr von Wendenstein erhob stolz den Kopf.»Ich bin hannöverischer Officier und Edelmann,« er-

wiederte er.Ein heller Strahl sympathischer Theilnahme blitzte

in dem Auge des Polizeidirectors auf. Dann verschleier-te sein Blick sich traurig, und mit ernstem Tone spracher:

»Wenn Sie die Mittheilung über den Eigenthümerdieser Papiere ablehnen, so müssen Sie persönlich dieVerantwortung tragen, welche der Besitz derselbennach sich zieht, und – ich sage Ihnen,« fügte er hinzu,»diese Verantwortung ist schwer!«

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»Ich übernehme sie,« sagte der junge Mann ruhig.»Die Fragen, welche ich Ihnen vorher gestellt habe,«

fuhr der Polizeidirector fort, »modificiren sich wesent-lich durch diesen Zwischenfall, ich muß mit dem Ci-vilcommissair conferiren und dem GeneralgouverneurVortrag halten. – Ich muß Sie also bitten, sich zunächstin Ihrem Zimmer einzurichten.« Er zog die Glocke.»Führen Sie den Herrn nach seinem Zimmer,« befahler dem eintretenden Beamten.

Und mit artiger Verbeugung entließ er den jungenMann, welcher dem Beamten folgte, der ihn durcheinen langen Corridor führte. Vor einer verschlossenenThür blieb er stehen und rief aus einem Seitenraumeden Schließer, welcher das große, schwere Schloß öff-nete.

Herr von Wendenstein trat in einen nicht großen,aber hellen Raum, das breite Fenster war mit star-ken Eisenstangen dicht vergittert, die Wände kahl undweiß gestrichen, ein einfaches, rein überzogenes Bettstand an der einen Wand, ein Tisch und zwei Stühle ander anderen, eine Wasserflasche und ein Glas vervoll-ständigten die Ausstattung des Zimmers.

Der junge Officier schauderte leicht zusammen beimEintritt in dieses Gemach, das so scharf abstach vonden eleganten, comfortablen Umgebungen, an welcheer gewöhnt war.

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»Man wird mir Wäsche und Kleidungsstücke brin-gen,« sagte er, »darf ich mir auch ein Sopha kommenlassen?«

»Ich sehe kein Hinderniß,« antwortete der Beamte.»Und darf ich Licht brennen?«»Nach der Hausordnung bis neun Uhr abends, doch

zweifle ich nicht, daß man eine Ausnahme gestattenwird.«

»Wollen Sie dann die Güte haben, dem Diener, wel-cher meine Sachen bringt, zu sagen, daß er mir Kerzenverschaffen solle?«

Der Beamte neigte schweigend den Kopf und ent-fernte sich.

Die Thür wurde von außen verschlossen, ein Riegelvorgeschoben. Der junge Mann blieb allein.

Er ging mit einigen großen Schritten in dem bereitsdunklen Gemach auf und nieder.

Dann blieb er vor dem vergitterten Fenster stehenund blickte zum Himmel hinauf, an welchem die Stei-ne, noch halb überhellt von dem Schein des sinkendenTages, in bleichem Licht zu flimmern begannen.

»Da draußen rauscht das volle, reiche Leben,« sagteer leise, »ich habe es zurückgewiesen, um in häuslicherStille das Glück des Herzens zu finden – und nun? –Eingeschlossen in die öden Mauern des Gefängnisses,vielleicht auf lange –« Er seufzte tief. »Wenn nur wenig-stens die anderen zur rechten Zeit entkommen, die an-deren, welche hinausziehen wollen – in die Freiheit!«

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Er warf sich auf sein Bett und versank in tiefe Träu-mereien, aus denen ihn das Bedürfniß der jugendli-chen Natur bald in wirklichen Schlaf hinüberführte.

Herr von Tschirschnitz hatte inzwischen in dem Re-staurationslocal der Georgshalle mit aller Sorglosigkeiteines vollkommen unbeschäftigten jungen Mannes undmit dem ganzen kräftigen Appetit eines Magens vonsiebenundzwanzig Jahren sein Souper vollendet. – Erhatte sich lange bei dem Dessert aufgehalten, eine hal-be Flasche Portwein getrunken, mit einigen hinzukom-menden Herren geplaudert, kurz, auf die natürlichsteund scheinbar angenehmste Weise von der Welt sei-ne Zeit todtgeschlagen, so daß draußen die Dunkel-heit vollständig herabgesunken war, als er endlich sei-ne Rechnung bezahlte und sich anschickte, das Localzu verlassen.

In diesem Augenblick trat rasch ein kleiner, bleicherMann mit einem nervösen Gesicht und funkelnden,schwarzen Augen herein. Er trug ein kaufmännisch ge-schlossenes Packet mit einer großen Postadresse unterdem Arm.

Er trat rasch an den Schenktisch und rief dem Kell-ner zu: »Ein Glas Bier – aber schnell, ich habe nocheinen Gang zu machen und bin sehr durstig! – GutenAbend, Herr von Tschirschnitz,« sagte er, während derKellner ein Glas füllte, »wie geht es Ihnen? ich habe Sielange nicht gesehen.«

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»Wie Sie sehen, Herr Sonntag, ganz gut,« erwieder-te Herr von Tschirschnitz lachend, indem er dem Ein-getretenen, der sich ihm genähert, die Hand reichte,»man ernährt sich, so gut man kann,« fügte er hinzu,nach den Resten seines Soupers auf dem kleinen Tischehindeutend.

»Ich muß Sie sogleich sprechen – folgen Sie mir,«flüsterte der Kaufmann Sonntag, fast ohne die Lippenzu bewegen, und laut rief er: »Ja, ja, die Herren ha-ben jetzt nichts zu thun. Nun, in Ihren Jahren erträgtsich das leicht, man ist nicht in Verlegenheit, um kleineangenehme Beschäftigungen,« er leerte mit einem dur-stigen Zuge sein Glas und sagte mit einer Verbeugunggegen den jungen Officier: »Ich empfehle mich Ihnen,Herr von Tschirschnitz, ich muß versuchen, ob ich diePost noch offen finde, um dies Packet abzusenden.«

Und schnell entfernte er sich durch eine Seitenthür,welche nach einem Corridor des Hauses führte, der aufeine dem Bahnhof naheliegende Straße ausmündete.

Herr von Tschirschnitz schlenderte langsam in demLocale auf und ab.

»Wenn ich nur wüßte, was man in dieser langwei-ligen Zeit mit seinem Abende anfangen sollte,« rief erlaut und trat zu einer Gruppe von Herren, welche aneinem Nebentische saßen.

Nachdem er sich hier einige Zeit unterhalten, ginger wieder langsam auf und nieder und verschwand

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dann schnell und unbemerkt durch dieselbe Seitent-hür, durch welche sich der Kaufmann Sonntag entfernthatte. Dieser stand in dem matt erleuchteten Corridor.

Rasch trat er in eine Thür, welche zu einer Artvon Domestikenzimmer führte, in welchem ein Lichtbrannte.

Herr von Tschirschnitz folgte ihm.»Die Gefahr ist groß und unmittelbar!« rief der klei-

ne Kaufmann Sonntag, als die Thür geschlossen war,»Sie werden alle überwacht; draußen vor dem Ein-gange der Georgshalle steht ein Polizeibeamter, Herrvon Wendenstein ist soeben verhaftet, Sie dürfen nichtnach Hause, Sie müssen sofort abreisen!«

»Aber mein Gott,« rief Herr von Tschirschnitz er-schrocken – »wie –«

»Haben Sie Geld?« fragte Herr Sonntag, eifrig seinPacket öffnend.

»Genug,« erwiederte Herr von Tschirschnitz, »aber–«

Herr Sonntag breitete den Inhalt seines Packetes aufdem Tische aus.

»Ich bitte Sie um Gottes willen, fragen Sie nicht,« riefer, »thun Sie genau, was ich sage, und Alles wird gutgehen. – Zunächst,« fuhr er eifrig fort, »mit dem Bartherunter, das ist ein zu deutliches Kennzeichen.«

Und er stellte einen kleinen Spiegel auf den Tisch,das Licht daneben, drückte Herrn von Tschirschnitz aufden Stuhl davor und reichte ihm ein Rasirmesser.

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Dann schlug er Seifenschaum und seifte den schö-nen Vollbart des Officiers mit einer Geschwindigkeitund Geschicklichkeit ein, welche dem geübtesten Bar-bier Ehre gemacht hätte.

Herr von Tschirschnitz ließ mit großen, erstauntenAugen diese überraschende Manipulation an sich voll-ziehen.

Endlich konnte er nicht umhin, laut aufzulachen.»Ich bitte Sie um Gottes willen, lachen Sie nicht, son-

dern rasiren Sie sich,« rief der kleine Sonntag, »die Au-genblicke sind kostbar, oder soll ich –«

Er streckte die Hand nach dem Messer aus.»Nein, nein,« rief Herr von Tschirschnitz immer la-

chend, »Sie könnten mir in Ihrem Eifer die Nase fort-nehmen!«

»Diese Herren sind doch nie zum Ernst zu bringen,«rief Sonntag halb lachend, halb unmuthig, »schnell,schnell –«

In einigen Minuten war der schöne, braune Bart vondem Gesicht des Officiers verschwunden.

»Auch den Schnurrbart?« fragte er mit leichtem Zö-gern.

»Mein Gott, der wächst ja so schnell wieder,« riefSonntag ungeduldig, »herunter damit!«

Und auch der lange Schnurrbart fiel unter demscharfen Strich des Messers.

»So,« rief der kleine Sonntag, »jetzt den Rock aus –rasch – rasch – diese Blouse angezogen – hier diese

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Mütze auf den Kopf – so,« sagte er mit zufriedenemTone, »das ist gut, das macht ein neues Signalementnöthig.« – Er drehte den jungen Mann herum und be-trachtete ihn von allen Seiten, es war in der That kaummöglich, in dieser einem Arbeiter ähnlichen Gestaltden schönen, eleganten Officier wiederzuerkennen.

»Und nun?« fragte Herr von Tschirschnitz, einegroße Brieftasche aus seinem Rocke nehmend und indie Tasche der Blouse steckend.

»Nun hören Sie wohl zu,« sagte der Kaufmann Sonn-tag, den Zeigefinger der rechten Hand emporhebend –»Sie gehen hier zur Seitenthür nach der Bahnhofsstra-ße hinaus, ruhig und langsam, an der Ecke gegenüberdem Ernst-August-Denkmal werden Sie einen Dienst-mann finden, Sie werden ihn um den Weg nach derGeorgs-Marienstadt fragen; wenn er Ihnen antwortet:›die Georgs-Marienstadt ist mein Viertel, ich werde Ih-nen den Weg zeigen‹, so folgen Sie ihm und allen sei-nen Anordnungen – jetzt kein Wort weiter – glücklicheReise!«

»Aber?« fragte Herr von Tschirschnitz.»Fort, fort!« rief der Kaufmann Sonntag, »die Augen-

blicke sind kostbar, Sie haben einen Theil der Nacht,Ihr Beobachter glaubt Sie hier in der Georgshalle, ichwerde dafür sorgen, daß bis zum Morgen hier Licht,Lachen und Gläserklirren sein wird, – das wird vieleWahrscheinlichkeit haben und der Mann wird auf sei-nem Posten bleiben.«

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Er drängte Herrn von Tschirschnitz zur Thür hinaus.Dann legte er den Rock, welchen der junge Mann

ausgezogen, in sein Packet, schloß dasselbe wieder undeilte durch das Restaurationslocal zurück, auf die Stra-ße zur Post hin. Hier war die Expedition bereits ge-schlossen. Herr Sonntag klopfte an alle Thüren, tratin verschiedene Bureaux und begehrte, überall seineUhr hervorziehend und zeigend, daß die Stunde desSchlusses noch nicht lange vorüber sei, eine ausnahms-weise Expedition seines sehr eiligen Packets. Als ihmdieselbe überall verweigert wurde, entfernte er sichendlich unter Auswechslung mehrerer wenig verbindli-cher Redensarten mit den Bureaubeamten, welche ihmerklärten, daß sie ihn bei längerer Störung entfernenlassen würden.

Er hatte vor möglichst zahlreichen Zeugen acte deprésence im Postgebäude gemacht.

Herr von Tschirschnitz war unterdessen mit ruhigen,langsamen Schritten die Bahnhofsstraße zu Ende ge-gangen.

An der Ecke des großen Hôtel Royal, gegenüber demauf der Mitte des Bahnhofsplatzes stehenden Denkmaldes König Ernst August, stand gegen die Mauer gelehntein Dienstmann in blauer Blouse, das Blechschild mitder Nummer an der Mütze.

»Guter Freund,« sagte Herr von Tschirschnitz, ge-schickt das Patois des Volkes nachahmend, »könnt Ihrmir den Weg nach der Georgs-Marienstadt zeigen?«

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»Die Georgs-Marienstadt ist mein Viertel,« erwieder-te der Dienstmann, sich langsam von dem Mauervor-sprung aufrichtend, auf den er halb sitzend sich ge-stützt hatte, »ich werde Sie hinführen, heute ist dochnichts mehr für mich hier zu thun.«

Er reckte die Arme aus, dehnte einige Male sei-nen ganzen Körper mit einem lauten Athemzuge, dannging er langsam über den Platz hin. Er sah sich mehr-mals um, der Platz war fast leer, nur vor dem Bahnhofstanden einige Polizeibeamte in Uniform, eine dunkleGestalt in Civilkleidung lehnte am Gitter des Ernst-August-Denkmals.

Als der Dienstmann über den von den großen Gas-laternen überleuchteten Platz gekommen war, bog erin eine kleine, dunkle Nebengasse hinter dem Postge-bäude ein und blieb nach wenigen Schritten vor einemSeiteneingange des Bahnhofs stehen.

Hier erwartete ihn, wie es schien, ein Bahnhofsbe-amter, der ruhig im Schatten der Thür lehnte.

»Hier ist verbotener Weg,« sagte der Beamte, in derDunkelheit einen forschenden Blick auf die heranna-henden Gestalten richtend.

»Der Mann will zur Georgs-Marienstadt,« antworte-te der Dienstmann, »ich wollte ihn gern auf dem kür-zesten Wege dahin führen.«

»Folgen Sie mir,« sagte der Eisenbahnbeamte zuHerrn von Tschirschnitz und schritt ihm in den dunkel-sten Theil dieser entlegenen Abtheilung des Bahnhofs

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voran. Der Dienstmann verlor sich in der Dunkelheitder Straße.

Herr von Tschirschnitz folgte seinem Führer, welcherin einen großen, vollkommen finsteren Güterschuppeneintrat. Er ergriff die Hand des Officiers und leitete ihndurch verschiedene, von großen Kisten gebildete Gän-ge zu einem von ungeheuren Fässern umgebenen klei-nen Raum. Hier zog er eine Blendlaterne unter einemkleineren Fäßchen hervor.

Herr von Tschirschnitz blickte forschend auf denMann, der ihn geführt hatte, er sah ein ihm völlig un-bekanntes Gesicht.

»Sie können mir vertrauen,« sagte sein Führer lä-chelnd und zog unter einem der großen Fässer einenlangen weiten Überrock, eine schwarze Perrücke,einen runden, breitkrämpigen Hut und eine große Rei-setasche hervor.

Herr von Tschirschnitz zog auf die Aufforderung desBeamten schnell seine Blouse aus und legte den Über-rock an. Er befestigte die Perrücke auf seinem Kopf undsetzte den Hut auf; dann brachte er sein großes Porte-feuille in der weiten Tasche seiner neuen Bekleidungunter und nahm die Reisetasche in die Hand.

»Vortrefflich!« rief der Beamte, »Niemand wird Sieerkennen! – Hier,« sagte er dann, beim Schein der La-terne eine Brieftasche öffnend, »ein Billet nach Osna-brück, hier eine Paßkarte auf den Namen Meyerfeld,

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erinnern Sie sich wohl, daß Sie Meyerfeld beißen, ei-nige Geschäftsbriefe an Herrn Meyerfelds Adresse ingestempelten Couverts – zur besseren Legitimation imNothfalle, der hoffentlich nicht eintreten wird, in Os-nabrück nehmen Sie sogleich für den anschließendenZug ein Billet nach Arnheim, und nun kommen Sie, esist keine Zeit zu verlieren!«

Er löschte die Laterne, reichte Herrn von Tschir-schnitz die Hand und führte ihn aus dem Schuppen.Auf den Schienen, weit entfernt von der Halle desBahnhofs, stand ein einzelner Wagen. Zwei Arbeiterwaren in der Nähe.

Der Beamte führte Herrn von Tschirschnitz an die-sen Wagen, öffnete geräuschlos den Schlag und ließden jungen Mann in ein dunkles Coupé zweiter Klassesteigen.

»Verhalten Sie sich hier ganz ruhig,« sagte er, »undglückliche Reise!«

Er schloß den Schlag. »Alles in Ordnung?« fragte erdie beiden Arbeiter, an ihnen vorbeigehend.

»Alles in Ordnung,« erwiederten diese mit leiserStimme. Sie gingen langsam dem belebten Theile desBahnhofes zu. Eine halbe Stunde später läutete manzum ersten Male für den Zug nach Osnabrück.

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An allen Eingängen des Bahnhofsgebäudes nach derStadt zu standen Polizeibeamte, ebenso an allen Aus-gängen nach dem Perron. Die Reisenden, welche anka-men, wurden genau gemustert, – es waren sämmtlichharmlose, unverdächtige Personen.

Man stieg ein. Schnell waren die Coupé’s besetzt, esfand sich, daß nur zwei Personenwagen einrangirt wa-ren. Die Reisenden fanden keine Plätze und zanktenungeduldig mit den Schaffnern.

»Welche Nachlässigkeit!« rief der Zugführer. »HerrBahnhofinspector, es sind nicht genug Personenwagenda!« Zwei Arbeiter traten heran. »Wir haben vergessen,den einen Wagen, der noch für den Zug bestimmt war,heranzuschieben,« sagten sie, die Mützen abnehmend.

»Ihr werdet in Strafe genommen für diese Nach-lässigkeit,« sagte mit strengem Tone der Bahnhofin-spector. »Jeder einen Thaler Abzug, kommt so etwasnoch einmal vor, so werdet ihr entlassen, nun schnell,schnell,« rief er heftig, »daß der Wagen herankommt,und noch einen mehr, es sind viele Reisende!«

Die Arbeiter eilten fort, einige andere folgten ihnen.In kurzer Zeit waren zwei weitere Wagen einrangirt,

die Reisenden drängten sich zu denselben hin und stie-gen ein, das Signal wurde gegeben, der Zug rollte mitschnaubender und pfeifender Locomotive in die Nachthinaus.

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Herr von Tschirschnitz saß in der Ecke eines voll-kommen besetzten Coupé’s. – Der Schaffner hatte dieBillets markirt – Alles war in Ordnung.

Die Polizeibeamten hatten alle Eingänge besetzt,nach der Polizeidirection ging die Meldung:

»Zum Osnabrücker Zug Niemand Verdächtiges zumBahnhof gekommen.«

Und es kam der Befehl zurück, den Bahnhof die gan-ze Nacht besetzt zu halten.

Vor dem Theater aber ging langsamen Schrittes einMann auf und nieder, die Thür zur Georgshalle un-ablässig im Auge haltend. Die Fenster des Restaurati-onslocals waren hell erleuchtet, Gläserklirren und lau-te, fröhliche Stimmen ertönten in die Nacht hinaus,von Zeit zu Zeit sah man Gestalten an den hellen Fen-stern vorbeigehen.

»Das ist ein schlechtes Geschäft,« murmelte derMann draußen, »jemand zu bewachen hier in der kal-ten Nacht, der wohl bis morgen früh hinter dem Glasesitzen wird!«

Und fröstelnd zusammenschauernd nahm er seinenlangsamen Spaziergang wieder auf.

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FÜNFZEHNTES CAPITEL.

Mitten in den engen Gassen des innersten ältestenStadttheiles von Hannover liegt der sogenannte Ball-hof, ein altes Wirthshaus mit großem Vorhof. In längst-vergangenen Tagen gab die erste und vornehmste Ge-sellschaft der Stadt und Umgegend hier ihre Reunions-bälle, und noch zeigten die Decorationen des großenSaales des Etablissements die Spuren der früherenGlanzzeit. – Längst aber hatte sich jetzt die vornehmeWelt von diesem alten Local und aus dem engen, al-ten Stadttheile zurückgezogen, der große Saal, in wel-chem einst der Herzog von Cambridge mit der elegan-testen Gesellschaft seines Hofes sich bewegt hatte, undin welchem die hannoverische Welt die berühmten Bäl-le bei Almaks nachahmte, diente jetzt als Local für dieVergnügungen der kleineren Bürgerschaft, und in denNebenzimmern, in welchen einst auf den Whisttischender Minister und höchsten Beamten hoch gehäuft gol-dene Berge von Doppelpistolen lagen, versammeltensich jetzt die ehrbaren Handwerker, bei einem SeidelLagerbiers oder einer Flasche St. Julien die Ereignis-se des gewerblichen oder politischen Lebens bespre-chend.

Zahlreich war dies Local in jener Zeit besucht. Die inso wunderbar überraschender Schnelligkeit hereinbre-chenden Ereignisse, welche alles Bestandene über denHaufen geworfen hatten, die neuen Zustände, welcheso wenig zu den alten Gewohnheiten passen wollten,

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die souveräne, unnahbare Schnelligkeit und Schärfedes neuen Regiments, bei welchem man so gar nichtmitreden konnte nach altcalenbergischer Weise, dasAlles führte die Bürger zusammen, um ihre Gedankenauszutauschen und sich hier im stillen, altgewohntenKreise so recht nach Herzenslust auszuräsonniren.

Hier kamen nur feste Anhänger des Alten zusam-men, jeder, der irgend im Verdacht stand, den neuenZuständen günstig gesinnt zu sein oder gar mit den»Preußen« in Verbindung zu stehen, sah sich sofort iso-lirt, scheelen Blicken und spitzen Bemerkungen ausge-setzt, und wenn die Köpfe sich mehr und mehr erhitz-ten, wohl gar durch thätliche Beihülfe zum Verlassendes Locals veranlaßt.

An dem Abende, an welchem Herr von Wendensteinverhaftet und Herr von Tschirschnitz auf seine beson-dere Art und Weise fast unter den Händen der Poli-zei abgereist war, befand sich zahlreiche Gesellschaftin den Räumen des Ballhofs. Die Verhaftung des jun-gen Officiers war hie und da bekannt geworden, manhatte sich ergangen in Bemerkungen und Vermuthun-gen über den Fall, den man sich noch nicht erklärenkonnte, der aber in allen das Gefühl einer über ihnenstehenden Wetterwolke erregte, aus welcher der ersteBlitz herabgefahren war und aus welcher jeden Augen-blick ein zweiter Strahl niederzucken konnte.

An einem Tische saßen mehrere Bürger um den al-ten Hofsattlermeister Conrades, einen alten Mann mit

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scharfen, verwetterten Zügen, welcher mit lauter Stim-me und oftmals derb mit der Hand auf den Tisch schla-gend seinem Unwillen über die neuen Zustände Luftmachte.

»Donnerwetter,« rief er, den Deckel seines Seidelsmit lautem Schlag zuklappend, »der alte Ernst Augustsollte noch leben, was der für ein Gesicht gemacht ha-ben würde, wenn sie ihm so mir nichts dir nichts seinLand hätten wegnehmen wollen! – Dann wärs freilichauch nicht so gekommen; mit dem anzubinden hättensie’s nicht riskirt in Berlin, vor dem hatten sie Respectan den größten Kaiser- und Königshöfen, und hier wä-ren auch alle die Dummheiten nicht gemacht worden,an denen wir zugrunde gegangen sind.«

»Aber wenn der König wiederkommt,« sagte einkleiner, untersetzter Mann mit tief in den Schulternund noch tiefer in einem hohen Rockkragen stecken-den Kopfe und rundem, scharf geschnittenem Gesicht,»wenn der König wiederkommt, dann wollen wir allden schlechten Hannoveranern, die da jetzt hinlau-fen zu den Preußen, zeigen wollen wir ihnen,« riefer, ingrimmig die Spitze seiner langen, mit seidenenQuasten verzierten Pfeife zwischen die Zähne beißend,»zeigen wollen wir ihnen – wo sie her sind!«

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Und um sich von der tiefen Entrüstung zu erholen,in welche ihn der Gedanke an die künftige Rache ge-gen die schlechten Patrioten versetzt hatte, deren Be-strafungsart aus seinen Worten nicht mit völliger Klar-heit hervorging, aber seiner Miene zufolge eine sehrgrausame und barbarische sein mußte, nahm er einengroßen Schluck aus seinem Glase und blies dann eineso dichte Tabackswolke vor sich hin, daß seine klei-nen, zornsprühenden Augen einige Augenblicke vonweißem Nebel verhüllt waren.

»Wenn der König wiederkommt!« sagte der alte Con-rades langsam und sinnend, indem er die tief gefurchteStirn in die magere, braune und nervige Hand stütz-te, »Freund,« fuhr er fort, das graue, scharfe Auge mittraurigem Ausdruck auf den alten Zunftmeister rich-tend, »Ihr wißt, daß ich an dem alten Hannover hängewie einer, mir thut es weh, daß ich nicht in die Gru-be gefahren bin, ehe diese neue Zeit hereingebrochenist, aber ich sage euch: es ist Alles Unsinn, was sieda schwatzen und treiben und agitiren, – der Königkommt nicht wieder!«

»Der König kommt nicht wieder?!« rief mit hellerStimme voll Verwunderung und Unwillen ein kleiner,magerer, blasser Mann mit feinem, lebhaftem Gesichtund hellblondem Haar und Bart. – »Ich sage euch, derKönig kommt wieder, und lange wird es nicht mehrdauern, Alles ist vorbereitet, ihr seid hier alle in euremeingeschränkten Kreis, unter dem Druck, ihr sehet und

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höret nicht klar, aber ich bin in Hietzing gewesen, ichhabe einen Blick in die Politik gethan, ich kann euchdas freilich nicht Alles erzählen, aber,« fuhr er fort, sichmit wichtiger Miene gerade auf seinem Stuhl aufrich-tend, »ihr könnt mir glauben, der König kommt baldwieder, Seine Majestät hat es mir selbst gesagt.«

»Lohse,« sagte der alte Conrades derb, »Ihr mögt einganz guter Musikant sein, Ihr nennt Euch ja Musikdi-rector, weil Ihr so einen Gesangverein dirigirt, aber vonder Politik versteht Ihr nichts.«

Der Musikdirector Lohse sah den Sattlermeisterwüthend an, er hatte wohl eine scharfe Entgegnungauf der Zunge, aber er sprach sie nicht aus, denn mitdem alten Conrades war nicht gut anzubinden, er hat-te so scharfe und unangenehme Worte in stets schlag-fertiger Bereitschaft – und dann war er einer der ein-flußreichsten in der Bürgerschaft, man war gewohnt,auf ihn Rücksicht zu nehmen. Herr Lohse begnügtesich daher, mit überlegener, geheimnißvoll bedeutsa-mer Miene die Achseln zu zucken.

»Seht,« sagte Conrades, sich etwas über den Tischvorlegend und die rechte Hand auf und nieder bewe-gend, »seht, das wäre wohl Alles ganz gut und könnteschon gehen, aber es ist kein Nerv und keine Kraft drin,der König Georg ist nicht sein Vater, befehlen kann erwohl, aber nicht herrschen, er versteht nicht zu wollen,ich meine, so recht ernstlich zu wollen, wie der alte

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Ernst August wollte. – Ich habe das Alles wohl ange-sehen,« fuhr er fort, lebhaft weiter sprechend, unbe-kümmert, ob man ihm zuhörte, ob man seine Ansichttheilte oder nicht, »ich habe das Alles wohl angesehenseit der neuen Regierung,« der Alte nannte die Regie-rung Georgs V. nach fünfzehn Jahren noch immer dieneue – »das ist ein ewiges Hin- und Herschwanken ge-wesen, ein Minister nach dem anderen ist verbrauchtund immer sind sie als Feinde fortgegangen, und dieSchreiber da in den Ministerien haben räsonnirt unddie Herren vom Hof haben gelästert und Geschichtenüber Geschichten in Cours gesetzt, und es war keineHerrschaft und keine Zucht in der Sache, denn was hatder König gethan? Wenn’s einer zu arg getrieben hat,so hat er ihm den Rücken gekehrt und ihm den Hofverboten und dann ist der hingegangen und hat denMund noch ärger aufgerissen, und das ganze Land –und ihr alle mit,« rief er laut, mit der geballten Faustauf den Tisch schlagend, »ihr habt über den braven Eh-renmann geschrien und geklagt, der so ungerecht be-handelt worden. – Da war’s anders zu Ernst August’sZeit,« fuhr er fort, indem er sich aufrichtete und denBlick groß und fest von einem zum anderen schweifenließ, »wenn da einer, und wenn es der Höchste undVornehmste war, etwas gethan oder gesagt hatte, wasnicht in Ordnung war, dann hat er ihn kommen las-sen und hat ihn abgekanzelt, so grob, na, ihr wißt garnicht, wie grob der werden konnte, und dann war es

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aus – und der Betreffende wußte, was er zu thun hat-te, und thut gewiß lange nichts wieder, was nicht inder Ordnung war. Und ebenso war’s mit den anderenHöfen, da wußte man immer, wie man mit dem Altendaran war, und solche Doppelspielerei wie im vorigenJahre, die hätte gar nicht vorkommen können. – Ja,ja,« fuhr er seufzend fort, »der Alte, das war ein Herr,von dem sagten sie auf englisch – wir zu meiner Zeitmußten alle etwas englisch können, wegen der hohenHerrschaften – every inch a king, sagten sie, jeder Zollein König, heißt das, und es war gewiß und wahrhaf-tig wahr, aber der jetzige Herr, der hat wohl die Gesin-nung, auch den Stolz und den Muth, aber den Willen,den hat er nicht; und nun der kleine Prinz da – ja, dieHusarenuniform hat er an und Ernst August heißt er,aber every inch a king? Oh mein Gott!«

Und er that einen langen Zug aus seinem Glase.»Darum sage ich euch, fuhr er, den Deckel zuklap-

pend, fort, »es wird aus alledem nichts, was sie da jetzttreiben, sie werden immer zwei Pferde vor den Wagenund zwei dahinter spannen, und zanken werden siesich untereinander und die ganze Geschichte wird einböses Ende nehmen. – Warum sitzt der König in Wien,«rief er, »bei diesen Österreichern, die ihn so schmählichim Stich gelassen und die in ihrem Leben nicht wiederauf die Beine kommen, warum geht er nicht nach Eng-land, wo er seinen rechtmäßigen Platz hat? Na,« sagte

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er mit einem resignirten Seufzer, »mir kann’s gleichgül-tig sein, mein Sarg steht schon offen, ich werde baldhingehen und der neuen Welt den Rücken kehren –und das ist gut. Guten Abend!«

Er stand auf, nahm seinen Hut und ging schweigendhinaus.

»Er weiß ja gar nicht, wie die Sachen stehen,« sagteder Musikdirector Lohse, nachdem der Alte sich ent-fernt, »das kann man ja auch hier gar nicht beurt-heilen, dazu muß man die Fäden kennen,« fügte ermit geheimnißvoller Miene hinzu, »und die kennt ebennicht jeder! – Der König nicht zurückkommen?« rief ernach einigen Augenblicken, »und Seine Majestät hatmir doch selbst gesagt, daß er ganz bestimmt zurück-kommen werde.«

»Hat das der König selbst ganz bestimmt gesagt?«fragte der Mann mit dem hohen Rockkragen, währenddie anderen Bürger näher zusammenrückten und ge-spannt in das Gesicht des Musiklehrers blickten.

»Ganz bestimmt,« erwiederte dieser mit wichtigemTone, »ganz bestimmt! – ›Lohse,‹ sagte Seine Majestätzu mir, ›harren Sie ruhig aus, ich werde nicht ruhenund rasten, nicht Nacht, nicht Winter kennen, bis ichwieder in Hannover und bei meinem beispiellos treuenVolk bin, und ich werde wiederkommen!‹«

»Beispiellos treuen Volk hat er gesagt?« fragte derkleine Mann aus seiner Tabackswolke heraus.

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»Ja, ja, er hat Recht,« riefen mehrere Bürger, »dieHannoveraner sind beispiellos treu, wenn sonstwoheut zu Tage ein König entthront wird, dann ist es einallgemeiner Jubel und die Unterthanen können nichtschnell genug zu dem neuen Herrn laufen. – Nein, wirwollen zeigen, daß wir anders sind.«

»Wie kamen Sie denn nach Hietzing, Herr Lohse?«fragte man dann, und rasch setzte sich der Musikdirec-tor Lohse gerade auf seinen Stuhl zurecht – froh, eineGelegenheit zu seiner Erzählung zu haben, und sprachunter allgemeiner Aufmerksamkeit:

»Sie wissen Alle, daß ich Präsident des Georgs-Marienvereins bin, der hier auch sein Local hat, undda hatten wir ein neues Statut gemacht und mich hat-ten sie deputirt, um Seine Majestät zu bitten, daß erdas Protectorat übernehmen möchte.«

»Und hat das der König gethan?« fragten mehrereStimmen.

»Gewiß,« sagte Herr Lohse stolz, »sogleich hat er’sgethan, und wie ich aufgenommen bin! Der König hatmich sofort zur Tafel dabehalten.«

»Zur Tafel – zur königlichen Tafel?« riefen alle.»Gewiß, ich habe mit dem König und der Prinzeß

und dem Kronprinzen und allen Herren gegessen, ichhatte eine große weißgelbe Schärpe um, und alle frem-den Herren – österreichische Generale, der Herr vonReischach, der des Königs österreichischer Adjutant ist,und andere, alle fragten, wer ich wäre, und da sagten

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Seine Majestät: ›Das ist der Musikdirector Lohse, derPräsident des Georgs-Marienvereins in Hannover!‹«

Alle sahen ihn mit einem gewissen Respect an, einleises Flüstern ging um den Tisch.

»Und die Herren vom Gefolge des Königs,« erzähl-te der Musikdirector weiter, »das sind wirklich ganzvortreffliche, liebenswürdige Leute, den Grafen Wedel,der jetzt da ist, den kennt ihr ja, und dann ist da derRegierungsrath Meding und der Graf Platen, nicht derMinister, sein Neffe, der Graf Georg, das sind zwei aus-gezeichnete Herren, die sind mit mir nach Wien in’sTheater gefahren, in’s Karltheater, ich habe vorn in derLoge gesessen und die Herren haben mir Alles erklärt,da war die berühmte Gallmeier, die spielte reizend diegebildete Köchin, es ist eine ausgezeichnete Person undsehr gut ›hannoveranisch‹, wie sie dort sagen, und dieMusik war auch vortrefflich, namentlich im Zwischen-akt, besonders eine Violine, ich muß das kennen, ichhörte sie gleich heraus, ich applaudirte den Violinistenaber auch nicht wenig, das ganz Theater sah zu mirherauf. – ›Was Teufel‹, fragte mich der Graf Platen,«fuhr Herr Lohse, sich in seine Erzählung immer mehrvertiefend, fort »›was Teufel applaudiren Sie hier imZwischenakt?‹ – ›Herr Graf‹, sagte ich, ›das muß ichverstehen, da ist ein Violinist, der spielt vortrefflich,der verdient’s!‹ – und der Regierungsrath Meding sahmich ganz erstaunt an und sagte: ›Lohse, Sie sind einherrlicher Kerl, ich muß Ihre Photographie haben.‹ Und

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die hab’ ich ihm auch gegeben,« sagte er, sein Glas er-greifend, »und die Herrn haben sich alle für mich auchphotographiren lassen.«

Er that einen langen Zug.»Na – und am andern Tag, da ließ mich Seine Maje-

stät ganz allein rufen,« fuhr er, sein Glas wieder aufden Tisch stellend, fort, »ich bin fast zwei Stundenbei Seiner Majestät geblieben, was da gesprochen wur-de,« sagte er mit großer Würde, »das darf ich natürlichnicht erzählen, aber da war es, daß Seine Majestät mirsagte, daß er wiederkommen würde – und ich sageeuch allen, Er kommt wieder, so wahr ich Lohse hei-ße!«

Stolz blickte er umher, leise tauschten die Übrigeneinzelne Bemerkungen aus, mehrere baten ihn um Auf-nahme in den Georgs-Marienverein, eine gesellige Ver-bindung der kleineren Bürger, welche aber eine höhe-re Bedeutung gewonnen, seit der König ihr Protectorgeworden und ihr Präsident in Hietzing an der Ta-fel des Königs gesessen. Wenn der König wiederkam– und daran glaubten sie alle fest, diese guten Bürger,so mußte ja Herr Lohse eine bedeutende und einfluß-reiche Person werden und es konnte nur nützlich sein,sich als Mitglied in den Verein aufnehmen zu lassen.

Rasch trat der kleine Kaufmann Sonntag, ein Mannmit blassem Gesicht und lebhaft beweglichen schwar-zen Augen, in das Local, er sprach hie und da mit eini-gen Bürgern, winkte dann unbemerkbar einem großen,

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blonden, schlanken Mann, welcher mit Herrn Ebers,dem Wirth des Ballhofs, an einem Seitentische Sechs-undsechzig spielte und Punsch trank, und ging dannlangsam in ein Nebenzimmer, von wo er rasch durcheine Thüre in das Wohnzimmer des Wirths trat.

Nach kurzer Zeit folgte ihm Herr Ebers, ein kleinerMann mit rothem, frischem Gesicht, und der ThierarztHische, sein Partner im Sechsundsechzig.

Vorsichtig schloß der Wirth die Thüre.»Wißt ihr,« rief Herr Sonntag eifrig, aber mit ge-

dämpfter Stimme, »wißt ihr, daß die ganze preußischePolizei im Gange ist, alle Officiere werden überwacht,der Lieutenant von Wendenstein ist verhaftet!«

»Wendenstein?« sagte der Thierarzt Hische, »da ha-ben sie wohl den Unrechten erwischt, den werden siewohl wieder loslassen müssen, das wird nichts zu be-deuten haben!«

»Wohl hat es etwas zu bedeuten,« rief Sonntag, »derarme Wendenstein hat verschiedene Papiere bei sichaufbewahrt, die haben sie gefunden, natürlich sagt derHerr nicht, wem sie gehören, und da muß er denn da-für haften.«

»Schlimm, schlimm!« sagte Hische, traurig den Kopfsenkend.

»Schlimm, schlimm!« rief der kleine Sonntag eifrig,»daß es schlimm ist, weiß ich allein, aber hier gilt’s, esbesser zu machen, der Wendenstein muß fort!«

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»Fort?« rief Hische erstaunt, »fort aus diesem Polizei-gebäude, das wie eine kleine Festung verwahrt ist undwo preußische Soldaten Wache stehen? – Ihr seid nichtgescheidt!«

Sonntag lächelte.»Hört mich an,« sagte er, »ich habe einen Plan, er ist

ganz fertig, es handelt sich nur um die Ausführung.«»Ja, die Ausführung!« sagte der Thierarzt Tische

langsam, »das ist die Sache!«»Es handelt sich um drei Dinge,« sagte Sonntag, die

beiden andern nahe an sich heranziehend, »erstens umGeld – das besorge ich, zweitens,« fuhr er fort, »um einPferd, ein vortreffliches, schnelles Pferd, das müßt Ihrbesorgen, Hische.«

»Aber wie?« fragte dieser.»Das werde ich Euch sagen, es ist ganz leicht,« rief

Sonntag. »Drittens,« fuhr er fort, »und das ist dasSchwerste, gilt es, das Gefängniß zu öffnen und denLieutenant bis auf die Straße zu bringen.«

Herr Ebers lächelte. »Das könnte sich machen las-sen,« sagte er.

»So wollen wir sogleich alles Nähere festsetzen,« riefSonntag, »ich werde hier warten, wenn die Gäste fortsind, kommt zurück, es sind zwar alle gute Patrioten,aber von solchen Dingen muß Niemand etwas wissen,der nicht bei der Ausführung thätig sein soll.«

Ebers und Hische kehrten einer nach dem andern indie Gastzimmer zurück, nach einer Stunde brachen die

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letzten Gäste auf, der Wirth begleitete sie hinaus, sag-te ihnen mit lauter Stimme gute Nacht und verschloßgeräuschvoll das Thor, die Lichter verlöschten im Ball-hofe, das Hausgesinde ging zu Bett.

Im Zimmer des Wirths aber saßen bei kleiner Lampemit dunklem Schirm bis zum frühen Morgen die dreiMänner, welche sich vorgenommen hatten, den Lieu-tenant von Wendenstein aus seinem Gefängniß zu be-freien. Am nächsten Vormittag gegen zwölf Uhr saßFrau von Wendenstein mit ihren Töchtern und Hele-ne in ihrem Wohnzimmer. Der Oberamtmann war aus-gegangen, um sich zu erkundigen, was gegen seinenSohn vorläge, und um Vorstellungen gegen dessen Ver-haftung zu machen. Die alte Dame saß ernst und stillda. Man hatte ihr gesagt, daß die Verhaftung ihres Soh-nes nur auf einem Mißverständniß beruhen könne, dasmachte sie ruhiger und ergebener, aber ihre stille See-le war nichtsdestoweniger tief erschüttert durch diesenplötzlichen, harten Eingriff in das ruhige Leben ihresHauses und in die Hoffnungen, deren Erfüllung sie vonder nächsten Zukunft schon erwartete.

Helene war bleich und schien ruhig und ergeben. Siesprach der alten Dame Muth ein und versuchte mehr-mals mit lächelndem Munde heitere Bemerkungen zumachen, in der Erwartung der baldigen Rückkehr ihresVerlobten, aber der fieberhafte Glanz ihrer Augen, dasunwillkürliche Beben der Lippen, das häufige hastige

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Aufstehen, bei welchem sie sich irgendetwas im Zim-mer zu schaffen machte, bewiesen genügend, daß ihreäußere Ruhe nur die Folge einer Willensanstrengungwar, mit welcher sie die bange Unruhe ihres Herzenszurückdrängte.

Der Diener trat ein und meldete den General vonKnesebeck.

Der frühere hannöverische Gesandte am wiener Ho-fe trat ein im einfachen Civilanzug. Seine hohe Gestaltwar fest und kräftig wie früher, aber auf seinem schar-fen, ausdrucksvollen Gesicht lagen die Spuren der Ein-drücke, welche das letzte ereignißschwere Jahr hinter-lassen hatte; ernst und traurig blickten seine klaren,braunen Augen.

Er begrüßte die Damen, küßte Frau von Wenden-stein mit ritterlicher Artigkeit die Hand und setzte sichan ihre Seite.

»Ich komme,« sagte er, »meine gnädige Frau, um Ih-nen meine herzliche Theilnahme an dem unangeneh-men Fall auszusprechen, der Ihre Familie betroffen hat,zu meiner Freude höre ich von allen Bekannten, daß erin keiner Weise ernstlich compromittirt sein soll und al-so nichts weiter zu besorgen hat, als eine kurze Haft.«

»Gott gebe es!« sagte Frau von Wendenstein seuf-zend. – »Oh welche Zeiten, lieber General,« fuhr siefort, indem ihre Augen sich mit leichtem Thränen-duft verschleierten, »wer hätte das vor einem Jahregedacht, als wir so ruhig in unserm alten Hause in

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Blechow saßen! – Für Sie,« sagte sie sanft lächelnd, »istdieser Eingriff in die häusliche Ruhe weniger empfind-lich, die Diplomaten sind daran gewöhnt, ein Lebenwie die Zugvögel zu führen und ihr Haus nur wie einAbsteigequartier, eine Station auf der Reise des Lebenszu betrachten.«

»Wenn es nur das wäre,« sagte bei General, »sokönnte man freilich leicht darüber hinwegkommen,obgleich trotz unseres wechselnden Lebens sich diemenschliche Natur immer mit den tausend Rankender Gewohnheit an das tägliche Dasein knüpft undschmerzlich davon losreißt, aber,« fuhr er mit schmerz-lichem Tone fort, »hier handelt es sich um mehr als das,eine ganze, schöne und ehrenvolle Vergangenheit wirdbegraben, um nie mehr zu erstehen!«

»Viele hoffen auf eine Auferstehung,« bemerkte Frauvon Wendenstein, »und trösten sich mit der Geschichteder ersten Jahre dieses Jahrhunderts.«

»Ich weiß es wohl,« erwiederte der General, »aber,«fügte er ernst und trübe hinzu, »sie täuschen sich; da-mals brachte die nationale Erhebung des deutschenVolkes folgerichtig die Selbstständigkeit Hannovers zu-rück, heute ist das anders, Hannover ist geopfert derIdee der nationalen Einigung, nur große, weitumfas-sende Ideen, klares, festes und kluges Handeln könn-ten dem Welfenhause seine Bedeutung, vielleicht untergünstigen Umständen seinen Thron wiedergeben, aber

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davon ist man leider sehr weit entfernt,« sagte er seuf-zend, »man beschränkt sich auf kleinliche Agitationen,welche viele in’s Unglück stürzen werden. – Leider hö-re ich, daß in diesem Augenblick solche Agitationenernster und gefährlicher Natur im Gange sein sollen,deshalb auch die strengen Maßregeln. Wie traurig istes, daß alle diese jungen Leute, aus einem in seineminnern Kern so edlen und hochachtungswerten Motiv,sich hinreißen lassen, sie werden es einst bitter bereu-en –«

Er schwieg abbrechend.»Und Sie, Herr General,« sagte Frau von Wenden-

stein, »werden Sie hier bleiben?«»Ich denke mich in eine kleinere Stadt zurückzuzie-

hen,« sagte der General, »und fern von allen Beziehun-gen der Welt und der Politik ruhig meinen Altersstudi-en und meinen Erinnerungen zu leben, leider,« fügteer seufzend hinzu, »schließen dieselben traurig genugab.«

Der Blick der alten Dame ruhte theilnahmsvoll aufdem von schmerzlicher Bewegung durchzuckten Ant-litz des Generals.

»Sie haben keine freundlichen Eindrücke von Hiet-zing mitgebracht?« sagte sie sanft.

Zornige Entrüstung flammte im Auge des Herrn vonKnesebeck auf.

»Ich mag davon nicht sprechen, meine gnädigeFrau,« sagte er mit gepreßtem Tone, »ich habe bis

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zum letzten Augenblick Alles für die Sache des Kö-nigs gethan, ich habe keine Schwierigkeiten und keineMühen gekannt, und endlich hat man mich entlassen– wie einen Übellästigen, es ist das ein Capitel überdie Dankbarkeit der Fürsten,« fügte er mit bitterem Lä-cheln hinzu. – »Ich bin übrigens weit entfernt,« fuhr ernach einem tiefen Seufzer fort, »den armen Herrn ver-antwortlich zu machen, er ist umgeben von Einflüste-rungen aller Art, das Alles kann nur zu traurigem Endeführen. – Doch alle diese Dinge sind zu traurig, umdavon zu sprechen,« sagte er abbrechend, »für michist die Vergangenheit begraben, mein Blick richtet sichhoffnungsvoll in die große Zukunft Deutschlands, ichwerde an dem schönen, herrlichen Gebäude der kom-menden Tage nicht mehr mitarbeiten können, aber ichwerde ihm meine besten Wünsche weihen.«

Der Diener trat ein, er trug ein Packet und nähertesich Helene.

»Der Kaufmann Sonntag sendet hier die Gegenstän-de, welche das Fräulein zu sehen gewünscht haben,«sagte er, »und hier ein Verzeichniß der Preise.«

Er überreichte ihr das Packet und einen verschlosse-nen Brief.

»Einkäufe für die künftige Häuslichkeit,« sagte Herrvon Knesebeck lächelnd.

»Ich weiß in der That nicht,« sagte Helene, erstauntdas Packet betrachtend, »ich erinnere mich nicht, et-was bei Sonntag bestellt zu haben.«

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Und in unwillkürlicher Bewegung öffnete sie das Pa-pier. Kaum hatte sie einen Blick hineingeworfen, alsein helles Roth ihr Gesicht überzog, dem sogleich ei-ne tiefe Blässe folgte. Sie drückte die Hand krampfhaftauf die Lehne des Sessels, und mit gewaltiger Anstren-gung sich zu ruhigem Lächeln zwingend, sagte sie zuFrau von Wendenstein gewendet:

»Ich hatte es vergessen, ich hatte neulich gewünscht,einige Arbeitskörbchen zu sehen, Sonntag sendet mireine Auswahl. – Lassen Sie Herrn Sonntag danken,«sagte sie dem Diener, »ich werde, was ich nicht brau-che, zurücksenden, oder selbst bringen, wenn ich aus-gehe.«

Der General von Knesebeck empfahl sich, indemer nochmals den Wunsch aussprach, daß das Mißver-ständniß, welches die Verhaftung des Lieutenants her-beigeführt, sich bald aufklären möge.

»Was hat man dir da geschickt?« fragte Frau vonWendenstein.

»Es sind einige Arbeitskörbchen, ich äußerte neulichim Laden des Kaufmanns Sonntag, daß ich eines be-dürfte, es ist eine Aufmerksamkeit, daß man mir eineAuswahl hierhersendet.« Sie öffnete das Packet und dieDamen besahen flüchtig den Inhalt.

Bald darauf zog sich Frau von Wendenstein und ihreTochter zurück, um sich zum Ausgehen vorzubereiten,Helene begleitete sie, um sich ebenfalls auf ihr Zim-mer zu begeben. Kaum hatte sie sich von den Damen

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getrennt, so eilte sie zurück und begab sich nach derandern Seite des Corridors, wo das Zimmer des Ober-amtmanns lag. Der alte Diener war im Vorzimmer sei-nes Herrn.

»Ist der Herr Oberamtmann schon zurückgekehrt?«fragte sie in leichtem Tone.

»Soeben,« erwiederte der alte Johann, schnell auf-stehend.

»So fragen Sie, ob ich ihn sprechen kann, ich binbegierig, Nachrichten zu hören.«

Der Diener beeilte sich, der natürlichen Ungeduldder jungen Braut zu entsprechen, trat in das Zimmerseines Herrn und öffnete unmittelbar darauf dem jun-gen Mädchen die Thüre.

Der alte Herr hatte Hut und Stock abgelegt und nochim Überrock ging er mit langsamem Schritt und tiefernster Miene in seinem Zimmer auf und ab, die Händeauf dem Rücken gefaltet und den podagrischen Fußleicht nachziehend.

Bei dem Eintritt des jungen Mädchens flog einfreundlicher Schimmer über sein Gesicht, mit herzli-chem, aber etwas wehmüthigem Lächeln trat er ihrentgegen und sagte:

»Nun, was bringt meine kleine Schwiegertochter? –Das Herz ist ein Wenig in Unruhe, ich soll erzählen,was ich gehört, nun –«

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»Papa,« unterbrach ihn Helene, auf deren Gesicht,sobald sich die Thür hinter ihr geschlossen, der Aus-druck lebhafter Unruhe und banger Besorgniß erschie-nen war, »Papa, es steht sehr schlimm um Karl!«

Ernst blickte der Oberamtmann in die Augen desjungen Mädchens, welche die aufsteigenden Thränenkaum zurückhielten.

»Nun,« sagte er ruhig, »es wird sich ja wohl Alleszum Guten fügen, denn es liegt ja doch im Grundenichts Bestimmtes gegen ihn vor, aber woher hast du–«

»Nein, nein,« rief Helene lebhaft, »es wird nicht gut,er ist in ernster Gefahr, es gilt, ihn zu retten! – Hier,dies habe ich soeben erhalten!«

Sie zog das Papier hervor, welches die Sendung desKaufmanns Sonntag begleitet hatte, und reichte esdem Oberamtmann.

Es war ein Rechnungsformular, beschrieben in ein-zelnen Zeilen, gleich dem Posten einer Rechnung. Ander Spitze stand mit großen Buchstaben: »Zeigen Siekeine Unruhe, wenn Sie diese Zeilen in Gegenwart an-derer lesen!«

Der Oberamtmann las weiter:»Die Sache des Lieutenants von Wendenstein steht

sehr schlimm. Man hat bei ihm compromittirende Pa-piere gefunden, für welche er verantwortlich gemachtwerden wird, wenn er keine Denunciationen macht,

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es soll ein Beispiel statuirt werden. Freunde sind ent-schlossen, ihn um jeden Preis zu befreien. Sprechen Siemit seinem Vater – aber mit Niemand sonst, und schaf-fen Sie so viel Geld als irgendmöglich, in Gold, undbringen Sie dasselbe in den beifolgenden Arbeitskörb-chen, so bald als thunlich.«

Ernst und sinnend betrachtete der Oberamtmanndas Papier, nachdem er es gelesen.

Mit angstvoller Spannung blickte Helene zu ihm em-por.

»Wenn er flieht, gesteht er seine Schuld ein, wenndie Flucht mißlingt, wird seine Lage erheblich ver-schlimmert,« sagte er nachdenklich.

»Aber mein Gott,« rief Helene, »wenn er hier bleibt,wenn er lange in diesem entsetzlichen Gefängniß blei-ben soll, seine Gesundheit ist noch immer nicht ganzfest nach seiner Verwundung, wenn sie ihn dann ver-urtheilen, oh ich mag es nicht denken, ich bitte, ichbitte,« rief sie flehend, »laß ihn fliehen!«

»Wäre die Sache sicher!« sprach der Oberamtmannhalb zu sich selbst, »doch, wenn auch die Flucht ge-lingt, so ist ihm die Heimath für lange, vielleicht für im-mer verschlossen. Bedenkst du das wohl, mein Kind?«

»Ich bedenke nichts,« rief Helene lebhaft, »nichts –als daß er in Gefahr ist, in ernster Gefahr, und daß eseinen Weg giebt, ihn zu retten! – Oh, und wenn ichjahrelang von ihm getrennt sein soll, er muß fliehen,wie viel besser ist es, ihn in der Ferne, in der sicheren

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Freiheit zu wissen, als hier zu vergehen vor Angst –jeden Tag, jede Stunde!«

»Es ist wahr,« sagte der Oberamtmann, »auch seineMutter würde es schwer ertragen – und im Grunde,ein Fluchtversuch, wenn er mißlingt, würde momentanseine Lage verschlimmern, aber darauf allein hin kannman ihn nicht verurtheilen, und wenn es gelingt, nun,es läßt sich ja überall eine Heimath bauen.«

Mit mildem Lächeln wendete er sich zu Helene.»Es sei gewagt,« sagte er, »in einer Stunde sollen dei-

ne Körbchen gefüllt sein, aber Nichts an meine Frauund meine Töchter, sie sollen es erfahren, wenn es ge-lungen ist,« fügte er hinzu, indem er den Finger erhob.

»Dank, Dank!« rief Helene, indem sie die Hand desalten Herrn küßte, »ich bringe die Körbchen hierherund werde sie dann selbst zu Sonntag tragen.«

Während dies im Hause des Oberamtmanns sich be-gab, ging der Thierarzt Hische langsam und ruhig überden Friedrichswall und trat in ein großes und elegantesHaus. An der Thüre der rechten Parterreseite las manauf einem kleinen Schilde: Baron von Eschenberg.

Herr Hische zog die darüber befindliche Glocke.Ein Reitknecht kam aus dem Hofe.»Der Herr Baron zu Hause?« fragte er in gleichgülti-

gem Tone, »ich möchte nach den Pferden sehen.«Der Reitknecht kehrte nach einigen Minuten zurück

und führte den Thierarzt in das Zimmer seines Herrn,

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in welchem der Baron, früherer Officier der hanno-verischen Gardes du Corps, ein junger Mann mit fei-nem, schwarzen Schnurrbart und vornehmen, scharfgeschnittenen Zügen, auf dem Sopha lag und mit ge-langweiltem Ausdruck den Dampf seiner Cigarre gegendie Decke blies.

»Guten Morgen, lieber Hische!« rief der junge Mann,sich ein Wenig erhebend und dem Thierarzt die Handreichend, »was machen Sie in diesen trostlosen Zeiten?– ich vergehe vor Langeweile und,« fügte er, seine Ci-garre zwischen den Zähnen zusammenbeißend, hinzu,»vor Ärger. – Es ist doch entsetzlich, so zum Nichtst-hun verurtheilt zu sein! – Setzen Sie sich zu mir, rau-chen Sie eine Cigarre und erzählen Sie mir etwas, mei-ne Pferde sind gesund wie die Fische!«

Der Thierarzt setzte sich neben den jungen Mann aufeinen amerikanischen Schaukelstuhl und sprach ernst:

»Die Langeweile möchte ich wohl ein Wenig beseiti-gen können, mit dem Arger wird es freilich schlimmeraussehen, der ist incurabel in diesen Zeiten.«

Der junge Mann richtete sich halb auf und sprach,auf den Ellenbogen gestützt:

»Nun, was haben Sie, Sie sehen ja aus, als ob Sie miretwas zu erzählen hätten!«

»Das habe ich auch,« sagte Herr Hische, »und ich willnur schnell zum Ziel kommen, denn wir haben nichtviel Zeit. – Sie wissen,« sagte er, »daß die Polizei auf

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den Beinen ist, man hat Wind bekommen von verschie-denen Plänen, Sie werden alle überwacht –«

»Haha,« lachte der junge Mann, »das ist nichts Neu-es, sehen Sie,« sagte er, nachlässig mit der Hand nachdem Fenster deutend, »ich wette, da draußen steht soeine angenehme Ehrenwache, die nicht von meinemHause weicht, und wenn ich ausgehe, mir auf Schrittund Tritt folgt. – Den armen Wendenstein haben siefestgesetzt,« sagte er nach einer kleinen Pause, »nun,dem werden sie nicht viel thun können –«

»Sie irren, Herr Baron,« sagte Hische ernst, »sie wer-den ihm sehr viel thun, denn sie haben bei ihm Papie-re des Herrn von Tschirschnitz gefunden, der glücklichfort ist, und da wird Herr von Wendenstein die Suppeausessen müssen.«

»Den Teufel auch!« rief der junge Mann aufsprin-gend, »das ist unangenehm!«

»Mehr als unangenehm,« sagte Hische, »aber die Sa-che darf nicht weitergehen, es ist eine Ehrenpflicht füruns alle, den Lieutenant von Wendenstein fortzuschaf-fen.«

»Aber wie?« fragte Herr von Eschenberg lebhaft.»Wie?« sagte Hische, »das müssen nur diejenigen

wissen, welche die Sache ausführen, alle Andern müs-sen mit bestem Gewissen und durch unanfechtbareZeugnisse unbetheiligt sein. – Herr Baron,« sagte ernach kurzem Schweigen, »Sie haben das beste Pferd in

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Hannover – schnell wie der Wind und allen Strapazengewachsen.«

»Mein Hamlet,« rief der junge Mann, »ja das ist einCapitalgaul, er –«

»Wollen Sie mir das Pferd geben, um den Lieutenantvon Wendenstein zu retten?« fragte Hische, »ob Sie eswieder bekommen, weiß ich nicht.«

»Wie können Sie fragen!« rief der junge Mann, »neh-men Sie Hamlet, aber,« fügte er hinzu, indem einwehmüthiger Ausdruck auf seinem Gesicht erschien,»wenn es möglich wäre, daß er erhalten würde, es istein so braves, treues Thier.«

»Herr von Wendenstein wird ihn wahrlich nicht un-nütz zugrunde richten,« sagte der Thierarzt, »aber na-türlich, es ist für nichts zu stehen bei einer solchen Sa-che, und im Grunde,« sagte er, »die Rettung des Herrnvon Wendenstein ist doch immer tausend Louisd’orwerth.«

»Oh – es ist nicht das!« rief Herr von Eschenberg leb-haft, »und hätte es den doppelten Preis, aber Sie wis-sen, für einen Cavalleristen ist ein Pferd keine Sache,es ist ein Freund. – Nehmen Sie Hamlet,« unterbracher sich kurz.

»Kommen Sie in den Stall, Herr Baron,« sagte derThierarzt, »und widersprechen Sie mir in Nichts!«

Herr von Eschenberg verließ das Zimmer und schrittüber den Flur in den Hof. Der Thierarzt folgte ihm.

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An der Stallthüre stand der Reitknecht. Alle traten zuden vier Pferden des Barons, welche glänzend geputztin den sauberen Verschlägen standen.

»Nun sehen Sie nach, ob Alles in Ordnung ist,« sagteder junge Mann in leichtem Tone zu dem Thierarzt, derprüfend auf die schönen Thiere blickte.

»Herr Hische wird nichts finden,« rief der Reitknechtstolz, »sie haben alle vortrefflich gefressen, es ist keineAder an ihnen krank.«

Der Thierarzt besah und untersuchte die Pferde nachder Reihe und nickte zufrieden mit dem Kopf.

Er kam zu dem letzten, an dessen Verschlag sich eineTafel mit dem Namen Hamlet befand.

Freundlich klopfte er den Hals des Thieres und fuhrdann mit der Hand an seinen Beinen herunter.

Mehrmals strich er aufmerksam und den Kopf schüt-telnd über den linken Vorderfuß.

»Nun,« rief der Baron, »ist da etwas nicht in Ord-nung?«

»Ich weiß nicht, Herr Baron,« sagte der Thierarzt,»es ist da eine kleine Verhärtung, die mir nicht rechtgefallen will, bei einem andern Pferde würde ich kaumdarauf achten, aber ein Thier von diesem Werth – dasedle Blut ist weit empfindlicher.«

»Was kann das sein?« rief der Baron.»Er ist doch gestern ganz gut gegangen,« sagte der

Reitknecht, besorgt das Pferd anblickend.

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»Noch ist es nichts,« sagte der Thierarzt, immer dasBein des Pferdes streichend, »aber es könnte wohl et-was werden, man müßte es scharf beobachten, ichwürde dem Herrn Baron rathen, das Pferd einige Ta-ge in meinen Stall zu stellen, damit ich es immer unterAugen habe.«

»Wenn Sie meinen,« sagte der Baron, »aber achtenSie wohl darauf –«

»Sie kennen mich und können sich auf mich verlas-sen!« sprach Herr Hische ruhig, »es ist immer besser, zuvorsichtig zu sein, als daß solchem Prachtpferd etwaswiderführe.«

»Gut, so will ich Ihnen das Thier zuführen lassen,«sagte der Baron.

»Es ist wohl besser, ich nehme es gleich mit,« be-merkte Herr Hische, »ich kann dann am besten seinenGang beurtheilen.«

»Auch gut, lege den Sattel auf, Johann!«»Zuvor aber möchte ich zu aller Sicherheit die Stel-

le mit einer Compresse umlegen,« sagte der Thierarzt,und mit einem schnell herbeigebrachten Stück Leinenschnürte er das Bein des Pferdes über dem Fesselgelenkein.

Nach kurzer Zeit war das Pferd gesattelt, das Hoftorwurde geöffnet und Herr Hische stieg auf.

Der Baron klopfte den Hals des Thieres und legtesein Gesicht sanft an dessen Kopf.

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»Sorgen Sie gut für das brave Thier,« sagte er, undmit wehmüthiger Stimme fügte er hinzu:

»Auf Wiedersehen, mein guter Hamlet!«Herr Hische ritt hinaus. Die festgewickelte, unge-

wohnte Compresse that ihre Wirkung, das Pferd hinkteleicht.

Ein in einfaches Civil gekleideter Mann ging in derAllee, dem Hause gegenüber, langsam umher. Auf-merksam blickte er hinüber, als das Thor geöffnet wur-de, und sah den bekannten Thierarzt auf einem ver-bundenen, hinkenden Pferde langsam hinausreiten. Erwendete sich um und setzte ruhig seinen Weg fort.

Einige Stunden später hielt der Wagen des Ober-amtmanns von Wendenstein vor dem Laden des Kauf-manns Sonntag. Frau von Wendenstein mit ihrer Toch-ter und Helene stiegen aus. Aufmerksam eilte HerrSonntag und seine junge, hübsche und gewandte Frauden Damen entgegen. Helene hielt das Packet, welchesihr am Morgen gesendet war.

»Fräulein Berger bringt Ihnen die Arbeitskörbchenzurück,« sagt Frau von Wendenstein, »sie hat kei-nes nach ihrem Geschmacke gefunden, und zugleichmöchte ich einige Sachen sehen,« fügte sie hinzu,einen Zettel öffnend, auf welchem sie Notizen über ih-re Besorgungen gemacht.

»Was befehlen Sie, gnädige Frau?« fügte MadameSonntag, Frau von Wendenstein verbindlich zum La-dentische führend und ihr einen Stuhl hinstellend, und

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mit großer Gewandtheit unterhielt und bediente siedie alte Dame.

»Es thut mir unendlich leid,« sagte Herr Sonntag lautzu Helene, »daß Sie nichts Passendes unter den Sachengefunden, welche ich Ihnen geschickt, aber vielleichthabe ich doch noch etwas, dort im Magazin, wenn Siedie Güte haben wollen, einen Augenblick hineinzutre-ten.«

Er nahm das Packet, welches Helene zurückgebrachthatte, und ging schnell durch den Laden in ein Hinter-zimmer, in welchem eine Menge Waaren auf Reposi-torien aufgestellt waren, die Thüre zu diesem Zimmerblieb offen stehen, so daß man dasselbe vom Laden ausübersehen konnte.

Herr Sonntag nahm rasch von einem der Repositori-en einige Körbchen und brachte sie dem jungen Mäd-chen.

»Das Packet enthält zweitausend Thaler in Gold,«sagte Helene leise, »genügt das?«

»Vollkommen,« sagte Herr Sonntag, »ich hoffe, daßer heute abend gerettet sein wird.«

»Ich muß ihn sprechen und von ihm Abschied neh-men,« sagte Helene mit leiser Stimme, aber in festemund energischem Tone.

»Unmöglich, mein Fräulein,« rief Herr Sonntag, in-dem er einen Blick in den Laden warf, wo seine Fraumit Frau von Wendenstein beschäftigt war.

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»Warum unmöglich?« flüsterte Helene, indem sieaufmerksam eines der Körbchen betrachtete, »ich willAlles – Alles thun, was die Vorsicht erfordert, aber ichbitte Sie, ich bitte Sie inständigst, machen Sie es mög-lich, daß ich ihn noch einmal sehe.«

Und mit thränenschimmerndem Auge blickte sie indas intelligente Gesicht des kleinen Kaufmanns.

Dieser sah sie voll Theilnahme an und dachte einenAugenblick nach.

»Gut – mein Fräulein,« sagte er dann, »vielleicht istes sogar nützlich, wenn er mit Ihnen die Stadt verläßt,das erregt noch weniger Aufmerksamkeit. – KönnenSie heute abend um neun Uhr hier sein?«

»Ich werde pünktlich kommen,« sagte Helene.»Noch eins,« sagte Herr Sonntag, indem er durch ei-

ne Wendung dem Laben den Rücken zuwendete undihr eine Stearinkerze reichte, »senden Sie Herrn vonWendenstein heute Abend diese Kerze, diese allein.«

Helene verbarg die Kerze in ihrer Mantille.»Gut denn, kehren wir jetzt in den Laden zurück –

nehmen Sie ein Körbchen.«Beide verließen das Magazin, nachdem Herr Sonn-

tag das Packet mit dem goldgefüllten Arbeitskörbchenin ein Schubfach geworfen und verschlossen hatte.

»Wie freue ich mich,« rief er Frau von Wendensteinzu, »daß das Fräulein endlich doch etwas Passendesgefunden!«

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Lächelnd zeigte Helene das Arbeitskörbchen, wel-ches sie in der Hand hielt, der alten Dame.

»Auch ich bin mit meinen Einkäufen fertig,« sagtediese aufstehend, Herr Sonntag und seine Frau beglei-teten die Damen bis an den Wagen und reichten diegekauften Sachen hinein.

Traurig saß am Abend der Lieutenant von Wenden-stein in seinem Zimmer. Der Abend dunkelte herein,in traurige Gedanken versenkt, stützte der junge Mannden Kopf auf den Tisch und blickte hinaus in das blasseAbendroth, welches matt den wolkenumzogenen Him-mel erhellte.

Es war die Stunde, in welcher sich sonst die Familieum den traulichen Theetisch versammelte, und je hel-ler dies freundliche Bild in der Seele des jungen Man-nes heraufstieg, um so trüber und trauriger trat ihmdie dunkle Einsamkeit um ihn her entgegen.

Er seufzte tief. »Arme Helene!« sagte er leise. »Wieanders, wie viel schöner war es doch,« flüsterte er, »derSchlacht entgegenzureiten, und doch lag in ihr die Dro-hung des Todes, eine größere Gefahr, als hier mir ent-gegentritt! Ich erinnere mich, einmal ein Bild gesehenzu haben,« sagte er, düster vor sich niederblickend,»einen jungen Mann in einer Zelle – mit der Unter-schrift: ›Die erste Viertelstunde von fünfundzwanzigJahren‹, daran erinnert mich meine jetzige Lage, dochich bin ja schon einen Tag hier – und,« rief er, wieder

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muthig aufblickend, »fünfundzwanzig Jahre wird es jawohl auch nicht dauern!«

Ein Geräusch von Schlüsseln wurde draußen hörbar,das Schloß knirschte, der Riegel wurde zurückgescho-ben, die Thüre öffnete sich. Der alte Diener des Ober-amtmanns traf ein vom Schließer und einem Beamtenbegleitet, er trug einen Korb und stellte denselben aufden Tisch.

»Viele Grüße von der gnädigen Herrschaft und Fräu-lein Helene,« sagte er, den jungen Mann mit tieferTheilnahme anblickend.

»Wie geht es?« rief der Lieutenant lebhaft, »ist meineMutter sehr unruhig – und Helene, was sagt sie? –«

»Die Herrschaften sind betrübt über das Unglück desHerrn Lieutenants,« sagte der alte Diener, »aber sie ha-ben guten Muth – und hoffen, daß der Herr Lieutenantbald wieder frei sein werden.«

»Nun und was bringst du?« rief der junge Mann,neugierig den Korb öffnend.

»Ich bitte um Verzeihung,« sagte der Beamte, »ichmuß jeden Gegenstand untersuchen.«

Der Diener zog aus dem Korbe einige Brödchen, wel-che der Lieutenant auf das Ersuchen des Beamten vordessen Augen zerbrach, dann einiges kaltes Fleisch, be-reits zerlegt, eine Flasche Bordeaux und ein Glas, einenLeuchter, eine Kerze und Schwefelhölzchen. Der Beam-te betrachtete jeden Gegenstand aufmerksam und schi-en an keinem etwas auszusetzen zu haben.

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»Darf ich Sie bitten, auch diesen Bordeaux zu unter-suchen?« sagte der Lieutenant, ein Glas einschenkend.

Der Beamte zögerte einen Augenblick, dann trank erden Wein und sagte höflich: »Auf baldige Freilassung!«

»Ich kann nicht anstoßen, da ich nur ein Glas habe,«rief der Lieutenant heiter, indem er das Glas wiederfüllte, »allein daran sind wir Soldaten gewöhnt, wennich frei bin, werde ich Sie einladen, mit mir ein fröhli-cheres Glas zu leeren.«

Der Abend war immer dunkler geworden.Johann steckte die Kerze auf den Leuchter und zün-

dete sie an.»So sparsam?« rief der Lieutenant, »nur eine Kerze?«»Der Herr Oberamtmann glaubten, daß nicht mehr

erlaubt wäre, morgen sollen der Herr Lieutenant mehrhaben, wenn es nicht verboten ist?« sagte er mit fra-gendem Blick auf den Polizeibeamten.

»Ich sehe kein Bedenken dabei,« bemerkte dieser.»Und hier noch ein Buch,« sagte der Diener, einen

Band aus der Tasche ziehend.»Ich bitte,« rief der Beamte, das Buch ergreifend und

sorgfältig schüttelnd.Ein Zettel fiel heraus.Der Beamte hob ihn auf und las: »Herzlichste und

innigste Grüße, Helene.«»Von meiner Braut!« rief der junge Mann, die Hand

ausstreckend.

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»Ich bedaure, Herr von Wendenstein,« sagte der Po-lizeibeamte, »ich darf Ihnen das Papier nicht lassen, eskönnte eine geheime Schrift darauf sein, man hat der-gleichen,« fügte er mit feinem Lächeln hinzu.

Traurig sah der junge Mann das Papier, welches dieHand seiner Geliebten berührt hatte, in der Tasche desBeamten verschwinden.

»Nun gute Nacht, Sie bedürfen nichts mehr?« fragtedieser.

»Nichts, ich danke, gute Nacht, Johann, herzlicheGrüße zu Hause!«

Der Schlüssel knirschte im Schloß, die Riegel klirr-ten, der junge Mann blieb allein.

Traurig setzte er sich nieder, die Einsamkeit istschmerzlicher, wenn sie einen Augenblick durch einenLichtstrahl aus der lebensvollen, bewegten Welt erhelltworden ist.

Er schlug das Buch auf. Es waren die Papiere desPickwickclubs von Boz, jene unerschöpfliche Fundgru-be humoristischer Welt- und Menschenkenntniß.

Der Lieutenant begann zu lesen und bald zog unwill-kürlich ein leichtes Lächeln über sein Gesicht, er lasweiter und weiter und vergaß über diesen fröhlichen,ewig jungen und frischen Lebensbildern seine Lage.

Plötzlich begann das Licht trübe zu brennen und er-losch nach kurzem Flackern gänzlich.

Überrascht erhob sich der junge Mann, suchte ta-stend die Zündhölzchen und wollte die Kerze wieder

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anzünden; statt des Dochtes fand er einen harten Ge-genstand, welcher die Flamme nicht annahm.

Herr von Wendenstein nahm die Kerze vom Leuch-ter, um sie zu untersuchen, und fand an der Stelle desDochtes einen kleinen, schmalen Zylinder von Metall,am untern Ende offen und so in die Mitte der Kerze ge-fügt, daß dieselbe äußerlich vollkommen glatt und anbeiden Enden brennbar war.

Rasch kehrte der junge Mann die Kerze um, stecktesie verkehrt in den Leuchter und zündete den Dochtdes unteren Endes an.

Die kleine Metallröhre enthielt ein fein zusammen-gerolltes Blatt Papier.

Herr von Wendenstein las von einer ihm völlig unbe-kannten Hand die Worte:

›Entkleiden Sie sich nicht und bleiben Sie wach, dieBefreiung naht.‹

»Was ist das,« rief er erstaunt, »die Befreiung naht? –wie ist das möglich – aus diesem Hause? – Doch gleich-viel, genug, daß die Hoffnung mir winkt, der Winkkommt von einem Freunde – warten wir.«

Und er ergriff abermals sein Buch und begann vonNeuem zu lesen.

Aber sein Geist folgte den Zeilen nicht, welche seinAuge las, fieberhafte Unruhe bewegte seine Nerven, erhörte in der tiefen Stille den Schlag der Uhren von denThürmen der Stadt jede Viertelstunde herüberschallen,und jede Viertelstunde schien ihm eine Ewigkeit.

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Es schlug zehn Uhr, das Geräusch von Tritten undStimmen, welches bis dahin noch durch die Corridoredumpf und unklar zuweilen zu ihm heraufgedrungenwar, verstummte, die Unruhe des jungen Mannes ver-mehrte sich.

Es schlug ein Viertel nach zehn Uhr. Ein leises Ge-räusch am Schloß der Thür ließ sich hören.

Der junge Mann stand auf und blickte starr auf dieseThür, welche ihn von der Welt trennte.

Man hörte leise, kaum vernehmbar, langsam undvon sicherer Hand bewegt die Feder des Schlosses spie-len.

Die Thür öffnete sich ebenso langsam und geräusch-los. Ein Mann trat ein mit einem Packet unter demArm.

Der Lieutenant sah diesen Mann mit forschenderNeugier an.

Er erblickte ein völlig unbekanntes Gesicht.»Hier, Herr von Wendenstein,« sprach der Mann flü-

sternd, »der Überrock eines Polizeiwachtmeisters unddessen Dienstmütze, ziehen Sie das schnell an, hier einschwarzer Backenbart und Schnurrbart, so, jetzt denÜberrock zugeknöpft, hier eine Civilmütze, stecken Siedieselbe in die Tasche. Jeder andere Ausweg aus demHause ist unmöglich, als allein der durch den großenHaupteingang. – Sie gehen die große Treppe hinab,

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unten stehen zwei Posten, der große Flur ist hell er-leuchtet, die Thür nach der Straßentreppe offen. – Al-les kommt darauf an, daß Sie schnell, fest und sicherhinausgehen, einmal aus dem Hause, sind Sie gebor-gen. – Hören Sie genau zu,« fuhr der Mann fort, sichnahe zu dem jungen Mann neigend und in leisem Tonin sein Ohr sprechend, »Sie gehen in das erste Bos-quet am Waterlooplatz, dort werfen Sie den Überrockund die Mütze fort, setzen die Civilmütze auf, behal-ten aber den Bart, dann gehen Sie langsam und in ru-higem Schritt nach der Brücke, welche zum Friedrichs-wall führt, dort werden Sie Weiteres hören. – FragenSie nicht,« sagte er, als der junge Mann eine Bewegungmachte, »befolgen Sie genau, was ich gesagt, und nun– glückliche Reise!«

Herr von Wendenstein, der in seinem falschenschwarzen Barte, seinem Dienstüberrock und seinerPolizeimütze völlig unkenntlich war, ging mit leisenSchritten bis an das Ende des Corridors, dann stieg errasch und fest die große Treppe hinab.

Fast hörbar schlug sein Herz, als er den großen, er-leuchteten Flur betrat, auf welchem zwei Militairpo-sten auf und ab gingen. Aus der in der Nähe gelegenenPolizeiwachtstube schallte das Geräusch ruhig sich un-terhaltender Stimmen.

Der junge Mann ging mitten zwischen den beidenPosten hindurch, öffnete die äußere Thür, vor welcher

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auf dem Trottoir abermals ein Militairposten auf undnieder ging, und schritt in die kühle Nachtluft hinaus.

Nichts rührte sich in dem weiten Polizeigebäude,man hörte nur den ruhigen, gleichmäßigen Schritt derSchildwachen.

Herr von Wendenstein ging in ein ganz in der Nä-he am Waterlooplatze befindliches Bosquet, warf sei-ne Verkleidung zur Erde, setzte die Civilmütze aufund schritt langsam der kleinen Brücke zu, welche derMann ihm bezeichnet.

Eine dunkle Gestalt löste sich von einer Ecke derzum Waterlooplatze führenden Straße, trat in das Bos-quet, welches der Lieutenant verlassen, machte ausden von ihm weggeworfenen Gegenständen ein Packetund schritt dann, dies Packet unter dem Arm, langsamder inneren Stadt zu.

Der junge Mann schritt über die Brücke. WenigeMenschen gingen dort im zitternden Schein der zwi-schen den Bäumen hervorleuchtenden Gaslaternen.

Ein kleiner Mann mit einer bürgerlich gekleidetenweiblichen Gestalt am Arm trat dem Lieutenant entge-gen.

»Guten Abend!« rief er mit lauter Stimme, »endlichkommst du, Vetter, wir haben dich lange erwartet, washast du noch in der Gesellschaft getrieben? – jetztschnell nach Hause!«

Und leise fügte er hinzu, dicht an den Lieutenantherantretend:

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»Kein Wort, keine Bewegung, geben Sie der Dameden Arm!«

Eine zitternde Hand legte sich auf den Arm des jun-gen Mannes.

»Herr Sonntag – Helene!« flüsterte dieser, aber schonschritt der kleine Kaufmann Sonntag eilig die von Bäu-men eingefaßte Straße entlang, und Helene zog ihrenVerlobten in raschem Schritt mit sich fort.

Bald erreichten sie das Ende des Friedrichswalls undschritten rasch dem Gehölz zu, welches man die Eilen-riede nennt und das mit seinem schönen Kranze vonalten, hohen Bäumen die Stadt Hannover umgiebt.

Der kleine Sonntag schnitt jeden Versuch des Lieu-tenants, zu sprechen, schnell mit der kurzen Bemer-kung ab: »Warten Sie, bis wir aus der Stadt sind!«

So begnügte sich denn der junge Mann damit, in die-sem eiligen, unruhevollen Gange, immerfort vorwärtsschreitend, den zarten Arm sanft zu drücken, welcherauf dem seinen ruhte, und zuweilen die Hand, welcheleise diesen Druck erwiederte, liebevoll mit der seini-gen zu berühren.

Die drei Personen hatten die letzten Häuser derStadt erreicht, Niemand hatte sie beachtet, sie schie-nen aus einer Gesellschaft zurückkehrende Bürger zusein.

Vorsichtig spähte Herr Sonntag umher. Niemand warauf weite Entfernung zu erblicken.

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»Jetzt schnell in den Schatten der Bäume!« rief erund schritt den beiden jungen Leuten voran aus demLichtkreis der letzten Laterne hinaus.

Der Schatten der Eilenriede nahm sie auf.»So,« rief Herr Sonntag, tief aufathmend, »die erste

und dringendste Gefahr ist überwunden, mein Fräu-lein, Sie haben uns viel genützt, ein Mann, der eineDame führt, erscheint niemals verdächtig, jetzt über-lasse ich Sie,« fügte er lächelnd hinzu, »Ihrer Unterhal-tung, wir haben noch zehn Minuten zu gehen, ich gehezwanzig Schritt voraus, aber unter der Bedingung, daßSie mich nicht aus den Augen verlieren und mir imTempo meines Schrittes folgen, die Augenblicke sindkostbar.«

Und schnell schritt er auf dem in der Dunkelheit er-kennbaren weißen Wege voran.

Die jungen Leute folgten ihm in leise flüsterndemGespräch, aber sie mußten schnell schreiten, denn diedunklen Umrisse der Gestalt des Herrn Sonntag be-wegten sich in unaufhaltsamer Eile vorwärts, einemWege folgend, der zur großen, die Eilenriede durch-schneidenden Chaussee führte.

Es waren Augenblicke von eigenthümlicher, tieferBewegung, welche die beiden durchlebten. Die Freu-de über den glücklich gelungenen Anfang der Ret-tung, der Schmerz der Trennung für eine Dauer, dienicht zu bemessen war, die bange Sorge um die Ge-fahren der nächsten Tage, denn noch mußte ja der

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Flüchtling das ganze Land bis zur Grenze durchzie-hen, das Alles füllte und schwellte diese jungen Her-zen bis zum Zerspringen und schnürte sie wieder zu-sammen mit den eisigen Ringen einer krampfhaften,angstvollen Unruhe, es waren nur abgerissene Worte,welche sie sprachen, Worte der Liebe, Versicherungender Treue, wehmüthige Erinnerungsklänge aus der Ver-gangenheit, Angst und Hoffnung, Glück und Schmerzin wundersam durcheinander klingenden Tönen.

So schritten sie weiter und weiter in fliegender Ei-le, schnell athmend in der Erregung des hastigen Gan-ges und der inneren Unruhe, der frische Nachtwindstrich über ihre glühenden Wangen, und vom dunklenHimmel, durch die fliegenden Wolkenstreifen, schim-merten die ewigen Sterne herab, in majestätischer Ru-he und Stille niederbückend auf diese zitternden, ei-lenden Menschen da unten, welche flohen vor ande-ren Menschen, denen sie nichts Böses gethan – unddie ihnen weder Haß noch Rache geweiht; des unauf-haltsam daherschreitenden Völkerschicksals verhäng-nißvolle Gewalt trieb die Verfolgten vor sich her, wiesie ihre Gegner trieb, sie zu verfolgen. Die Sterne aberda oben wußten nichts von diesen Kämpfen und Lei-den der Bewohner der Erde, jene Steine, deren lichteBahnen, in ewiger Ordnung und Harmonie verschlun-gen, sich niemals kreuzen und feindlich durchschnei-den, wie die Wege der ringenden Menschen, die an der

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Grenze des Licht- und des Schattenreiches sich in har-ten Kämpfen emporringen müssen aus den Wollen derFinsterniß zur ewigen Klarheit und Ruhe.

Der Weg machte eine Wendung, man sah die Öff-nung der Bäume erscheinen, welche zu der großenChaussee führte.

Herr Sonntag stand still. In wenigen Augenblickenhatten die jungen Leute ihn erreicht. Aus dem dunklenSchatten zur Seite des Weges trat ein Mann, ein Pferdam Zügel führend.

»Gott sei Dank, daß Sie glücklich da sind, Herr vonWendenstein,« sagte der Thierarzt Hische, an den jun-gen Mann herantretend und ihm die Hand schüttelnd,»ich habe nicht wenig Angst ausgestanden, nun, da dasSchlimmste überstanden ist – wird ja Gott weiter hel-fen.«

»Jetzt schnell, schnell zu Pferde!« rief Herr Sonntaglebhaft drängend, »in den Halftern stecken zwei Dop-pelpistolen und hier,« – er zog zwei gefüllte Börsenhervor – »ist Gold, mit einer Tasche voll Gold und vierSchüssen kann man weit kommen. – Hier,« fuhr er fort,»noch einige Hände voll kleines Silbergeld, stecken Siedas in die Taschen, Sie werden es bedürfen, wo dasGold auffallen könnte. – Nun fort, suchen Sie das Meeroder die holländische Grenze zu erreichen, vor allemseien Sie bis zum Morgen irgendwo in vorläufiger Si-cherheit, im dichten Walde oder bei einem Bauern, dieverrathen Sie nicht. Vor morgen früh wird Ihre Flucht

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nicht entdeckt, Sie haben Acht bis neun Stunden, amTage dürfen Sie nicht reisen, vorwärts, vorwärts!«

Der junge Mann klopfte den Hals des Pferdes.»Das ist ja der ›Hamlet‹ von Eschenberg,« sagte er,

»warum nicht mein Pferd?«»Welche Idee!« rief Herr Sonntag, »Ihr Pferd aus dem

Stall holen, das hätte ja die ganze Polizei hinter unshergezogen.«

»Wenn es nöthig ist,« sagte Herr Hische, »so opfernSie das Pferd, aber,« fügte er hinzu, den Hals des schö-nen, unruhig scharrenden Thieres klopfend, »wenn esmöglich ist, so erhalten Sie den braven ›Hamlet‹, ge-ben Sie ihn irgend einem Bauern, so wird er sicher zuseinem Herrn zurückgelangen.«

»Seien Sie versichert,« sagte Herr von Wendenstein,»daß ich das Pferd so sehr schonen werde als möglich,meinen Dank an Eschenberg für diesen Freundschafts-dienst, und vor allem auch Ihnen meinen Dank, meineHerren!« Er drückte Sonntag und Hische die Hände.

Dann wendete er sich zu Helene, welche stumm da-stand, die Hände über der Brust gefaltet.

»Lebe wohl, meine Geliebte!« sprach er mit tief be-wegter Stimme.

Helene breitete die Arme aus und umschlang ihnfest, das Haupt schluchzend an seine Brust gelehnt.

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»Du sangst mir einst – auf Wiedersehen,« sagte er, ihrGesicht leise emporrichtend, »als ich zum Kriege aus-zog, und wenn auch nach schweren Leiden, so habenwir uns doch glücklich wiedergefunden.«

»Auf Wiedersehen!« hauchte das junge Mädchen lei-se.

»Fort, fort, um Gottes willen!« rief der kleine Sonn-tag.

Herr von Wendenstein drückte sanft und innig einenKuß auf Helenens Lippen. Dann löste er leise ihre Armevon seinen Schultern und sprang in den Sattel.

Leicht grüßte er mit der Hand, das Pferd sprang an,und in scharfem Trabe dahinreitend, verschwand er inwenigen Secunden in der Dunkelheit.

»Gott schütze ihn!« lief Helene laut, dann brach siein heftiges Schluchzen aus, die bange Aufregung mach-te nun dem tiefen Schmerze der Trennung Platz, siebrach kraftlos in sich zusammen.

»Muth, Muth, mein Fräulein,« sagte der kleine Sonn-tag, ihr den Arm reichend, »fassen Sie sich, er ist ja zu-nächst über die größte Gefahr hinaus, fassen Sie sichwenigstens, bis wir Sie nach Hause gebracht haben!«

Helene richtete sich auf und legte ihren Arm in dendes Kaufmanns Sonntag.

Schweigend gingen alle Drei zur Stadt zurück.

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SECHZEHNTES CAPITEL.

In der Rue de Cambacérs, gegenüber dem hinterenAusgang des Ministeriums des Innern, liegt ein kleinesHaus von zwei Stockwerken, im Parterre ein Einfahrts-thor nach dem Hofe.

Ein kleiner Mann zwischen vierzig und fünfzig Jah-ren mit scharf geschnittenem Gesicht vom olivenfarbe-nen Teint der Südfranzosen, mit kleinem, schwarzemSchnurrbart und glänzenden, klugen Augen, nähertesich mit raschen Schritten dem Thore und zog den ander Seite desselben befindlichen Glockenknopf.

Schnell öffnete sich das Thor, der kleine Mann tratein und fragte den öffnenden Concierge, indem er sichzu einer in den oberen Stock führenden Treppe wen-dete:

»Der Herr Herzog ist zu Hause?«Auf die bejahende Antwort stieg der Eingetretene

die mit einem dicken Teppich belegte Treppe hinaufund sagte dem in einem kleinen Vorplatz ihm entge-gentretenden Kammerdiener:

»Fragen Sie, ob der Herzog Herrn Escudier empfan-gen wolle.«

Der Kammerdiener trat in die inneren Räume undöffnete einige Augenblicke darauf die Thür mit denWorten:

»Treten Sie ein, mein Herr.«Herr Escudier, der intelligente und gewandte Redak-

teur des Journals »La France«, trat in einen kleinen,

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vollständig im Stil Louis XV. meublirten und ausge-statteten Salon, welcher mit den Vergoldungen seinerMeubel, mit seinen Pendulen, den alten Familienbil-dern an den Wänden, den bunten Teppichen, welcheden Boden bedeckten und hier und da das zierlich ge-arbeitete Parquet sehen ließen, einen ebenso reichenals behaglichen Anblick darbot.

Diese ganze elegante und alterthümlich vornehmeAusstattung harmonirte vollständig mit der hohen, ari-stokratischen Gestalt und den feinen, altfranzösischenZügen des Herzogs von Gramont, welcher, trotz derfrühen Morgenstunde, völlig angekleidet Herrn Escu-dier entgegentrat.

»Ich habe gehört, daß Sie hier sind, Herr Herzog,«sagte dieser, »und wollte nicht verfehlen, Ihnen so-gleich meinen Besuch zu machen. Sie kommen aus Wi-en und einige Renseignements können Ihnen vielleichtnützlich sein, ich war im Hôtel de Gramont,« fuhr erfort, »dort hat man mich hierher gewiesen.«

Der Herzog deutete auf einen Sessel und sagte lä-chelnd umherblickend, indem er sich in einen weitenFauteuil niederließ:

»Ich ziehe die behaglichen Räume dieses kleinenHauses, das ich bewohnte, als ich noch Guiche war,dem großen, schallenden Palais im Faubourg SaintGermain vor, wenn ich allein in Paris bin, doch ichfreue mich vor allem, Sie zu sehen, mein lieber Herr

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Escudier, wie steht es hier, was sagt die öffentliche Mei-nung – und die politische Welt? – Niemand kann überAlles das so gut unterrichtet sein wie Sie,« fügte er mitleichtem Neigen des Kopfes hinzu.

»Die politische Welt, Herr Herzog,« sagte Escudier,»ist in diesem Augenblick ein Chaos, in welchem diewiderstreitendsten Elemente miteinander kämpfen –leider, leider,« fügte er seufzend hinzu, »denn niemalswar ein Moment glücklicher gewählt als jetzt, um miteinem Schlage das Prestige wiederherzustellen, wel-ches wir – wir mögen sagen was wir wollen – durchdie Schlacht von Sadowa eingebüßt haben.«

Der Herzog zuckte die Achseln.»Ich habe gethan, was ich konnte, um damals eine

andere Politik einschlagen zu lassen,« sagte er leicht-hin.

»Gewiß, gewiß,« rief Herr Escudier, »aber was hilftder Rückblick in die Vergangenheit, wir müssen wie-dergewinnen, was wir verloren haben!«

»Nun, und was denkt der Kaiser?« fragte der Herzogim Conversationston, indem ein schneller Blick seinesAuges forschend über die lebhaften Züge des kleinenJournalisten flog. – »Herr von Laguerronière pflegt da-für ein feines Verständniß zu haben –«

»Herr von Laguerronière ist überzeugt,« rief Escu-dier, »daß der Kaiser eine ernste Action will und nureinen Anstoß bedarf, um über alle Hindernisse hinweg-zugehen, mit welchem man ihn umringt.«

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»Man ihn umringt?« fragte der Herzog, »wer, ichglaubte, daß hier Alles kriegerisch wäre.«

»Durchaus nicht,« sagte Herr Escudier eifrig, »derMarquis de Moustier will den Krieg, ich bin davon festüberzeugt, er spricht sich ziemlich unverholen darüberaus, noch mehr der Graf von Saint Ballier, sein Cabi-netschef, aber Rouher und Lavalette – und Alles, wasdazu gehört,« fügte er achselzuckend hinzu, »arbeiteneifrig und unermüdlich am Frieden, das heißt,« sag-te er mit bitterem Tone, »an einer neuen ErniedrigungFrankreichs.«

Der Herzog hörte aufmerksam zu.»Rouher und Lavalette?« fragte er, »hat denn Herr

Rouher wieder so großen Einfluß, man hörte eine Zeit-lang, daß sein Stern im Sinken sei?«

»Er steht höher am Himmel als je,« rief Herr Escu-dier, »denn,« fuhr er leiser, den Kopf ein Wenig zumHerzog hinüberneigend, fort, »die Kaiserin unterstütztihn mit allen Kräften.«

»Die Kaiserin?« rief der Herzog erstaunt, »Ihre Maje-stät arbeitet für den Frieden?«

»Mit aller Macht,« sagte Herr Escudier, »Niemandweiß sich das zu erklären, Ihre Majestät hat plötzlicheinen so großen Abscheu vor dem Schall der Kanonen,eine solche Furcht vor vergossenem Blut –«

»Ah!« machte der Herzog und senkte nachdenkendden Kopf.

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»Das bouleversirt alle Welt,« sagte Herr Escudier eif-rig, »Herr von Laguerronière ist in großer Verlegenheit,es ist eine bedenkliche Sache, die Wege Ihrer Majestätder Kaiserin zu durchkreuzen, wir alle hier, die wir aufeine männliche und muthige Wiedererhebung Frank-reichs hoffen und für dieselbe arbeiten, sind vollstän-dig décontenancirt, und wir erwarten,« fügte er sichverneigend hinzu, »kräftigen Beistand von Ihnen, HerrHerzog, und von Österreich.«

»Österreich?« sagte der Herzog langsam und achsel-zuckend.

»Ich habe in meinen Correspondenzen,« sagte HerrEscudier schnell – »Sie wissen, Herr Herzog, daß ichregelmäßige Correspondenzen dorthin sende –«

Der Herzog nickte leicht mit dem Kopf.»Ich habe in diesen Correspondenzen,« fuhr Herr Es-

cudier fort, »auf das Lebhafteste die Nothwendigkeitbetont, schnell und ohne Zögern jede Gelegenheit zuergreifen, um das unvollendete Werk des vorigen Jah-res zu zertrümmern, bevor die Constituirung Deutsch-lands unter Preußens Militairherrschaft sich vollziehtund consolidirt, denn ist dies einmal geschehen, sowird Österreich für immer und ewig aus Deutschlandausgeschlossen sein.«

»Wird diese Constituirung aber verhindert, wennman jetzt eine Compensation fordert und vielleicht er-zwingt?« sagte der Herzog halb für sich.

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»Ist nur einmal der Krieg ausgebrochen,« rief HerrEscudier, »ist einmal diese preußische Macht gebro-chen, dann wird es sich nicht mehr um Compensa-tionen handeln, es kommt nur darauf an, den erstenSchritt zu thun, um aus der Lethargie herauszukom-men, in welche wir seit dem vorigen Jahre versunkensind, seit Drouyn de Lhuys nicht mehr Minister ist.«

»Ist Herr Drouyn de Lhuys in Paris?« fragte der Her-zog, »ich will ihn besuchen, wie steht er mit dem Kai-ser?«

»Äußerlich sehr gut,« sagte Herr Escudier, »der Kai-ser überhäuft ihn mit Aufmerksamkeiten, und HerrDrouyn de Lhuys ist zu sehr Patriot und vornehmerHerr, um den Unzufriedenen zu spielen, allein im In-nern ist er sehr böse – und sieht sehr schwarz.«

»Er steht also mit dem gegenwärtigen Ministeriumauf gutem Fuß?« fragte der Herzog.

»Vollkommen,« erwiederte Herr Escudier, »die ein-zige kleine Malice, die er sich erlaubt hat, ist, daß erseinen Empfang in seinem Hôtel der Rue de FrançoisI. am gleichen Tage mit dem auswärtigen Minister halt–«

»Und?« fragte der Herzog lächelnd.»Und,« sagte Herr Escudier, »alle Welt ist bei Drouyn

de Lhuys, selbst die Beamten des auswärtigen Ministe-riums, und die Salons am Quai d’Orsay bleiben leer.«

Der Herzog lachte.

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»Das ist ja eine eigenthümliche Situation,« sagte er.– »Sie glauben also, daß der Kaiser im Innern für denKrieg ist und mit dem Gedanken des Herrn Drouyn deLhuys übereinstimmt?«

»Ich bin überzeugt,« sagte Herr Escudier, »daß derKaiser den Krieg will, er hat vielleicht irgend ein Hin-derniß gefunden, man sprach viel von den Mängelnder Armeeorganisation, und daß er die Idee hat, imMoment der Action, die er vorbereitet, Herrn Drouynde Lhuys wieder zur Leitung der Geschäfte zu berufen,aber Seine Majestät täuscht sich darin, denn Drouyn deLhuys, der im vorigen Jahre um jeden Preis den Kriegmachen wollte, will ihn jetzt nicht mehr, er sagt, derrechte Moment ist versäumt – und unwiederbringlich,Sie wissen, Herr Herzog, er ist etwas eigensinnig, ichglaube nicht, daß er jemals sich dazu verstehen wird,eine Action zu leiten.«

»Das Alles ist mir sehr interessant zu hören, mein lie-ber Herr Escudier,« sagte der Herzog aufstehend, »Siewissen, man verliert ein Wenig den Faden der Situati-on, wenn man lange im Auslande gelebt hat. Ich hoffeSie noch öfter zu sehen, machen Sie mein Complimentan Herrn von Laguerronière, ich werde ihn sehen, wieich hoffe.«

Und mit artiger Verbeugung entließ er Herrn Escu-dier, ihn einige Schritte bis zum Ausgang des Zimmersbegleitend.

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»Die Situation ist complicirt,« sagte der Herzog,nachdenklich vor sich hinblickend, »die Kaiserin, derKaiser, Moustier, der officielle Minister mit der reser-vation mentale Drouyn de Lhuys, das Alles erfordertgroße Vorsicht. – Nun,« sagte er lächelnd und einigeSchritte durch das Zimmer gehend, »ich komme viel-leicht gerade recht, um jedem gefällig zu sein und dieverwickelten Fäden in einer allseitig befriedigendenWeise zu lösen.«

Ein Geräusch wurde auf dem Vorflur hörbar. Raschöffnete sich die Thür, und an dem meldenden Kam-merdiener vorbei trat eine Dame von ungefähr acht-undzwanzig Jahren in den Salon.

Diese Dame trug einen kleinen, mit Pelz verbrämtenHut mit kurzem Federstutz auf den reichen Flechtenihres ebenholzschwarzen Haares, das scharfgeschnitte-ne Gesicht von frischen und lebhaften Farben mit denrothen, etwas starken Lippen würde Intelligenz, Feu-er und Leben ausgedrückt haben, auch wenn in dem-selben nicht so wunderbar eigenthümliche Augen ge-leuchtet hätten, Augen, welche schwer zum zweitenMale in ähnlicher Farbe und ähnlichem Schnitte zufinden sein möchten. Die Pupille dieser merkwürdiggroßen, von scharfgezeichneten dunklen Brauen über-wölbten Augen war vom tiefsten Schwarz, dabei aberleuchtend und schimmernd wie schwarze Edelsteine,das Weiße glänzte in bläulich angehauchtem Perlmut-terschimmer und war von einer Klarheit und Reinheit

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ohnegleichen, diese Augen aber, welche man auf ei-nem Bilde für eine Erfindung des Malers gehalten hät-te, blickten nicht sinnend und schmachtend, sie fun-kelten und blitzten von Geist, Leben und Willenskraft,voll Feuer und flimmernder Bewegung.

Diese Dame, welche, in einen eleganten, mit Pelzund Schnüren besetzten Mantel gehüllt, in den Salondes Herzogs trat, war Madame Marie Alexandre Du-mas, die Tochter des berühmten Romanciers, welchenach einer kurzen, unglücklichen Ehe mit einem Spa-nier den Namen ihres Vaters wieder angenommen hat-te und bei ihm lebte, mit aufopfernder Sorgfalt sein Al-ter pflegend und seine genialen ökonomischen Unord-nungen mit unermüdlichem Eifer wieder in das Geleisehäuslichen Comforts und ruhiger, eleganter Behaglich-keit zurückführend.

»Guten Tag, mein theurer Herzog,« rief sie lebhaftmit wohlklingender, metallischer Stimme, »ich höre,daß Sie angekommen sind, und eile, Sie zu begrüßen– als guter Kamerad, Sie wissen, ich bin ein Mann fürmeine Freunde, ich beanspruche nicht jene lächerli-chen, faden Redensarten, die man den Frauen machenzu müssen glaubt, also ohne Umschweife und Redens-arten – seien Sie herzlich willkommen in Paris, unterIhren Freunden!«

Und sie ergriff die Hand des Herzogs und schütteltesie mit ungezwungener Herzlichkeit.

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Der Herzog führte sie mit anmuthiger Artigkeit zu ei-nem Canapé mit vergoldeter Lehne und sagte lächelnd:»Ich würde glücklich sein, wenn alle meine Freundehier mir ein ebenso freundliches Andenken bewahrenund mich ebenso herzlich begrüßen, wie geht es IhremVater? – ich werde ihn besuchen, sobald ich frei bin.«

»Mein armer Vater wird älter und älter,« sagte Ma-rie Dumas seufzend, indem sich ihr reines, glänzendesAuge mit leichter Wolle trübte, »nicht sein Herz undsein Kopf, die bleiben immer jung, aber er geht seltenaus und seine Kräfte vermindern sich, es ist für micheine schöne Pflicht, den Abend dieses glänzenden undreichen Lebens so friedlich und freundlich als möglichzu gestalten.«

»Es ist traurig,« sagte der Herzog, »daß die Unsterb-lichkeit des Geistes – und des Ruhms,« fügte er mit ar-tiger Verneigung hinzu, »die Herrschaft des Alters überden Körper nicht besiegen können.«

»Doch ist das Bewußtsein der Unsterblichkeit ein ho-her Trost für die Leiden des Alters,« sagte Marie Du-mas mit leuchtendem Blick, »aber,« fuhr sie dann ab-brechend mit lebhaftem Thun, ihre Hand auf die desHerzogs legend, fort, »aber, mein lieber Herzog, nichtwahr, Sie bringen uns einen schönen, guten Krieg mit,die Rache für den Schlag, unter dem Österreich – meinliebes Österreich im vorigen Jahre zusammengebro-chen ist?«

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Der Herzog wurde ernst. Nach einem kurzen Schwei-gen hob er den Blick zu dem bewegten Gesicht der Da-me empor und sagte mit einem halben Lächeln:

»Sie, meine schöne Freundin, eine Dame, eine Frauaus der Welt der Dichtung und Kunst, wünschen denKrieg?«

»Gewiß wünsche ich ihn,« rief Madame Marie Du-mas lebhaft, »und zwar so schnell als möglich und sokräftig als möglich. – Soll Frankreich länger ruhig mitansehen, daß dies Preußen, dem ich einen guten undtüchtigen Haß geschworen habe, ganz Deutschland inseine Regimenter einreiht und Österreich, das Land derPoesie – der Religion – der historischen Erinnerung,hinausdrängt, um es in den Sümpfen der Moldau undWalachei zu ertränken? – Wir haben viel verbrochenan Österreich,« fuhr sie schnell und erregt sprechendfort, »wir haben es aus Italien hinausgeworfen, magdas sein,« sagte sie achselzuckend, »mag dafür ein poli-tischer Grund gewesen sein, obgleich wir noch sonder-bare Beweise von Italiens Dankbarkeit erhalten wer-den, wir haben den edlen, ritterlichen, herrlichen Ma-ximilian in jene mexikanische Räuberwüste gelockt, inder sie ihn vielleicht morden werden,« rief sie schmerz-lich, indem eine Thräne ihr Auge erfüllte, »wir habenSadowa mit untergeschlagenen Armen angesehen, sol-len wir denn jetzt, wo die Gelegenheit sich darbietet,nicht endlich ihm die Hand reichen, um es wieder zuerheben – und um uns einen Alliirten zu schaffen, den

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einzigen, den wir haben können? – Sie wissen, Her-zog,« sagte sie, leicht mit dem Taschentuch die feucht-gewordenen Augen trocknend, »daß ich für Herrn Na-poleon niemals große Liebe empfunden habe, und fürMadame Napoleon noch weniger –«

Der Herzog lachte.»Aber, meine theure Freundin,« rief er, die Hand er-

hebend, »Sie sprechen zu einem Ambassadeur des Kai-sers!«

»Was frage ich danach,« sagte sie, mit den Fingernschnippend, »ich habe wohl das Recht, zu sagen, wasich will, bin ich ein Diplomat – ich?« –

Der Herzog lachte noch mehr.»Ich liebe also Ihren erhabenen Kaiser nicht,« fuhr

sie fort, sich lächelnd gegen der Herzog verneigend,»ja, ich gestehe, daß ich ihn recht von Herzen ver-wünscht habe wegen seiner thörichten und treulosenExpedition nach Mexico, wegen seines unwürdigenComparsenspiels auf der Bühne des Herrn von Bis-marck, aber,« sagte sie, sich etwas zurücklehnend unddas glänzende Auge fest auf den Herzog richtend, »ichbin bereit, ihm zu vergeben, ich will für ihn arbeiten,da wir ja am Ende doch Nichts an seine Stelle zu set-zen haben, wenn er dem maßlosen Ehrgeiz dieses un-ersättlichen Preußens ein Ziel setzt, wenn er Österreichwieder aufrichtet, wenn er an Franz Joseph gutmacht,was er an Maximilian verbrochen hat. – Apropos,« rief

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sie nach einem Augenblick, »was glaubt man in Wi-en, wird dieser arme Maximilian wenigstens sein edlesLeben aus diesem blutigen Schlamm retten, in den erimmer tiefer und tiefer versinkt?«

»Man ist sehr besorgt um ihn,« sagte der Herzog,»man hat versucht, ihn zur Rückkehr zu bewegen, erwill durchaus den Kampf bis zu Ende führen, übrigensist auch die Rückkehr für ihn schmerzlich und schwer,er hat auf alle seine Rechte als österreichischer Erzher-zog verzichtet, sein Vermögen verloren –«

»Während alle anderen aus dieser Expedition Goldgeschöpft haben!« rief Marie Dumas, »Gott schütze denarmen, unglücklichen, edlen Fürsten,« fügte sie hinzu,die Hände faltend und den ausdrucksvollen Blick nachoben richtend. – »Aber nicht wahr, Sie werden uns denKrieg machen?« rief sie dann, »Österreich –«

»Österreich ist sehr schwach,« sagte der Herzog ach-selzuckend, »was sagt denn aber hier die öffentlicheMeinung?« fragte er, »das ist doch von großer Wichtig-keit für die Entschlüsse des Kaisers.«

»Die öffentliche Meinung?« rief Madame Marie Du-mas, indem sie den Kopf zurückwarf, »was ist die öf-fentliche Meinung? Wir haben zunächst zwei öffentli-che Meinungen, das ist diejenige, welche man drucktund in den Zeitungen liest, und dann diejenige, welcheman wirklich im Herzen trägt, welche die ernsthaftenund ehrenwerten Franzosen hegen und aussprechenin den Salons, in den privaten Conversationen, diese

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letztere ist für den Krieg – nicht für den Krieg quandmême, aber man ist überzeugt, daß weder das Kai-serreich, noch Frankreichs Stellung in Europa auf dieDauer auf diese Weise erhalten werden können. Ent-weder muß man mit Preußen sich verständigen, umzu erhalten, was uns gebührt, oder man muß diesesneue Deutschland wieder zerschlagen und die Födera-tion unter Österreich wiederherstellen. So sprechen,«fuhr sie fort, »alle vernünftigen Personen, und sie wün-schen vor allem irgend einen festen und klaren Ent-schluß, statt dieses ewigen Schwedens in einem be-waffneten Frieden, welcher tausendmal schlimmer istals der Krieg.«

Der Herzog hörte aufmerksam zu.»Diejenige öffentliche Meinung aber,« fuhr Madame

Dumas fort, »welche in den Journalen erscheint, theiltsich in zwei Kategorien: die dem Kaiserreich und demKaiser ergebenen und die demselben feindlichen Blät-ter; die ersten wagen aus lauter diplomatischen Rück-sichten nicht vom Krieg zu sprechen, aus Furcht, daßman der Regierung die Störung des Friedens vorwerfenmöchte, und die anderen – nun sie predigen den Frie-den, weil sie überzeugt sind, daß, je mehr das PrestigeFrankreichs unter dem Kaiser sinkt, je weniger die Ar-mee in’s Feld geführt wird, und je mehr sie dagegen,den zersetzenden Wühlereien im Innern ausgesetzt,sich vom Kaiser und der kaiserlichen Tradition loslöst,daß nur desto schneller der Moment kommen wird, in

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welchem man – Seine Majestät Napoleon III. einladenwird – zu gehen, woher er gekommen. – Sie sehen also,mein lieber Herzog,« rief sie lachend, »wenn Sie Ihrensehr erhabenen und sehr gnädigen Souverain auf sei-nem Thron erhalten wollen, so müssen Sie uns schnellfür einen guten Krieg sorgen.«

Der Herzog saß tief nachdenkend.»Apropos,« rief Madame Marie Dumas, »Sie haben

ja in Wien den König von Hannover, diesen armen Für-sten, für den ich so viel Sympathie habe, mein Vaterschreibt einen Roman über dieses unglückliche Jahr1866, darin soll auch der König von Hannover eineRolle spielen; wie ist er, wie trägt er sein traurigesSchicksal?«

»Sehr würdig und muthig,« sagte der Herzog, augen-scheinlich etwas präoccupirt, »der König ist eine sym-pathische Erscheinung, wenn Sie nach Wien kommen,müssen Sie ihn kennen lernen.«

»Ich werde kommen!« rief sie lebhaft, »aber der Kö-nig hat einen Vertreter hierher geschickt, wie man mirsagt, ich möchte –«

»Ich bin mit ihm von Wien hierher gereist,« sagte derHerzog, »er ist hier – er wird noch nicht installirt sein–«

Der Kammerdiener trat ein und brachte eine Karteauf einer silbernen Platte.

Der Herzog lächelte.

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»Sie sollen sogleich die Bekanntschaft Ihres Hanno-veraners machen,« sagte er, »und zu dem Kammerdie-ner gewendet fügte er hinzu: »Lassen Sie den Herrneintreten.«

Er stand auf und trat einem mittelgroßen, blondenMann mit leicht gebogenem Schnurrbart im schwar-zen Morgenanzug, mit der weiß und gelben Schleifeder Medaille von Langensalza im Knopfloch, entgegen,welcher in der Thür erschien.

»Ich freue mich, Sie in Paris wiederzusehen,« sagteder Herzog, dem Regierungsrath Meding, dem vertrau-ten Diener des Königs Georg von Hannover, die Handreichend, »haben Sie sich von den Strapazen der Reiseerholt?«

»Ich danke, Herr Herzog,« erwiederte Herr Meding,»ich bin vorläufig noch im Hôtel und überladen durcheine Fluth von Besuchen und Besorgungen, indes ha-be ich jetzt etwas Athem geschöpft und komme, michnach Ihrem Befinden zu erkundigen.«

»Erlauben Sie mir vor allem,« sagte der Herzog, »Siemit einer warmen Freundin Ihrer Sache bekannt zumachen« – er wandte sich zu der Dame, welche denBlick ihrer großen Augen forschend auf den Geschäfts-träger des Königs von Hannover richtete, »MadameMarie Dumas, die Tochter unseres großen Romandich-ters,« fügte er, »welche ganz besondere Sympathie fürIhren König hegt, Herr Meding –«

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Der letztere verneigte sich artig gegen die Toch-ter Alexander Dumas’, und sagte: »Ich bin glücklich,Madame, Ihre Bekanntschaft zu machen, ich hoffe,daß die Sympathie für das Unglück meines ritterlichenHerrn, welche bei einer Dame, die Ihren Namen trägt,so natürlich ist, sich ein Wenig auf mich übertragenwerde.«

Madame Marie Dumas war aufgestanden und reich-te Herrn Meding die Hand.

»Nehmen Sie einen herzlichen Händedruck, meinHerr,« rief sie, »ich bin ein guter Freund meiner Freun-de, wie der Herzog hier bestätigen wird, ich hoffe, wirwerden uns öfter sehen und gute Freunde werden.«

Herr Meding verbeugte sich.»Nun, mein lieber Herzog, leben Sie Wohl!« rief Ma-

dame Dumas, »ich wollte Ihnen nur guten Tag sagen –und Sie ein Wenig in Feuer setzen,« fügte sie lächelndhinzu, »also – bald einen guten, tüchtigen Krieg. – AufWiedersehen, auf Wiedersehen, mein Herr,« sagte sie,sich zu Herrn Meding wendend, und schnell eilte sieaus der Thür.

»Nun,« sagte der Herzog, »wie sind Sie zufriedenhier?«

»Ich habe soeben dem Marquis de Moustier meinenersten Besuch gemacht,« sagte Herr Meding, nebendem Herzog Platz nehmend, »und habe bei ihm einvolles und richtiges Verständniß für die delicate, reinpersönliche Natur meiner Mission gefunden, ich habe

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nur Grund, in jeder Beziehung zufrieden zu sein, mankommt mir mit allen Aufmerksamkeiten und Rücksich-ten entgegen, während ich doch vollständig den pri-vaten Charakter meiner Anwesenheit in Paris behalte,es ist nicht ganz leicht,« fügte er mit einem traurigenLächeln hinzu, »die so zarten Grenzen der Stellung ei-nes Gesandten in partibus infidelium zu ziehen, übri-gens habe ich den Marquis sehr kriegerisch gefunden,er glaubt an den Ausbruch des Conflicts und rechnetauf sympathische Strömungen und Actionen in Süd-deutschland und den annektirten Ländern.«

Der Herzog blickte nachdenklich zu Boden.»An der holländischen Grenze soll sich ein hannove-

risches Corps sammeln,« sagte er.»Es findet dort allerdings eine Emigration von han-

noverischen Officieren und Soldaten statt, über welcheich jedoch nur äußerlich und ungenügend informirtbin,« sagte Herr Meding, »ich habe indes dem Marquisde Moustier nicht verhehlt, daß mir sowohl der jetzi-ge Augenblick als auch die Veranlassung des Conflictserhebliche Bedenken einflößt.«

Der Herzog erhob den Blick mit dem Ausdruck for-schender Spannung.

»Diese luxemburgische Frage,« fuhr Herr Medingfort, »ist, wie es mir scheint, eine ganz specifisch fran-zösische Frage, und wenn auch die Aussicht auf einenKrieg die unzufriedenen Elemente in Hannover und

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vielleicht noch in anderen Theilen Deutschlands in Un-ruhe und Bewegung versetzt, so glaube ich doch kaum,daß die nationalen Interessen der föderativen Partei-en Deutschlands dabei irgendwie ihre Rechnung findenkönnen. – Die Frage,« sagte er nach einer augenblick-lichen Pause, als der Herzog schwieg, »ist wesentlicheine Compensationsfrage, bei welcher die definitiveAnerkennung alles Geschehenen zugrunde liegt, unddann, wenn dieselbe zum kriegerischen Conflict vor-schreitet, handelt es sich dabei einfach um eine Erobe-rung deutschen Gebietes, das heißt um eine Sache, beiwelcher allen denen, die durch die letzten Ereignissebetroffen sind und eine andere Constituirung Deutsch-lands wünschen, das nationale Gefühl jede active Bet-heiligung schwer – fast unmöglich machen wird.«

»Aber die Hannoveraner wollen schlagen,« sagte derHerzog.

»Einzelne junge Officiere und Soldaten,« erwiederteHerr Meding; »würde aber hinter einer solchen Erhe-bung bei dieser Veranlassung Deutschland stehen, ste-hen können? – Frankreich muß sich vor allem hüten,«fuhr er fort, »die Frage zu stellen: Deutschland gegenFrankreich, denn bei einer so gestellten Frage bin ichüberzeugt, daß alle, auch die heterogensten Elemen-te Deutschlands einig werden würden, und Sie selbst,Herr Herzog – jeder Franzose müßte uns verachten,wenn es anders wäre.«

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Der Herzog stand auf und that einige Schritte durchdas Zimmer.

»Es ist eine sehr schwierige Situation,« sagte er.»Die die äußerste Vorsicht erfordert,« sprach Herr

Meding, sich ebenfalls erhebend, »doch Sie werden se-hen, Herr Herzog,« fügte er hinzu, »wie die Verhältnis-se sich entwickeln, vor allem aber muß ich hier stetsmeinen Rath und meine Ansicht dahin aussprechen,was man auch thun möge, jeden Gedanken an Erobe-rung deutschen Gebietes aus der französischen Politikfernzuhalten, wenn Frankreich sich mit den autono-mischen und föderativen Elementen Deutschlands ver-bünden will. – Wir können arbeiten – und kämpfen,«fuhr er fort, »für die Wiederherstellung des föderativenDeutschlands und der Rechte der einzelnen Stämmeund Fürsten – ein Bündniß aber mit denjenigen Ele-menten, welche bei einem Eroberungskriege Sie unter-stützen möchten, würde Ihnen weder ehrenvoll nochnützlich sein.«

»Ich freue mich,« sagte der Herzog nach einer kurzenPause, »Sie noch gesehen und Ihre Anschauung gehörtzu haben, wir werden weiter darüber sprechen, sobaldich mich noch mehr orientirt haben werde. – Apropos,«fuhr er fort, »wann wird Ihr Journal »La Situation« er-scheinen, welches Herr Holländer vorbereitet, der imWinter in Wien und Hietzing war?«

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»Ich weiß es nicht,« erwiederte Herr Meding, »ichwill überhaupt mit diesem Unternehmen nichts zuthun haben.«

»Sind Sie denn nicht der Ansicht, daß der König Ge-org hier auf die öffentliche Meinung wirken müsse?«fragte der Herzog ein Wenig erstaunt.

»Gewiß,« erwiederte Herr Meding, »und ich habeauch durchaus nichts gegen die Gründung dieses Jour-nals, doch ist Grund genug für mich vorhanden, michabsolut fern davon zu halten, denn meine Stellung hierist ohnehin schon diffizil genug! – Doch, Herr Herzog,ich will Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen, Siebleiben noch einige Tage hier?«

»Einige Tage gewiß,« sagte der Herzog, »und ich hof-fe, Ihnen noch Gewisses über die Entwicklung der Si-tuation mittheilen zu können. – Wo haben Sie Ihr vor-läufiges pied à terre?«

»Im Hôtel de Bade am Boulevard des Italiens,« sagteHerr Meding, und sich vom Herzoge verabschiedend,verließ er den Salon.

Der Herzog ging auf und nieder.»Es ist eine sehr schwierige Situation,« sagte er für

sich, »die Kaiserin, die den Frieden will, der Kaiserund Moustier, die den Krieg wollen, Österreich, das ge-lähmt ist und jedenfalls mit diesem Herrn von Beustniemals irgend etwas nach irgend einer Seite hin thunwird, welche Haltung ist da zu beobachten? – Aber willder Kaiser wirklich den Krieg, will er ihn jetzt?« sagte

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er, plötzlich stehenbleibend, »da liegt die Frage, welchedas ganze Spiel regiert, und welche schwer zu lösen ist.– Doch versuchen wir immerhin, Licht in dieses Dunkelzu bringen.«

Er bewegte die Glocke.»Meinen Wagen,« befahl er dem Kammerdiener,

einen Blick auf die Uhr werfend, »ich muß nach denTuilerien fahren.«

SIEBZEHNTES CAPITEL.

Napoleon III. hatte den Bericht des Doctor Conneauüber das Befinden des kaiserlichen Prinzen erhalten,der noch immer nicht günstig lautete; noch immer ver-langte der Arzt die höchste Schonung und Abgeschlos-senheit für dieses Kind, auf welchem die Hoffnung derDynastie und aller derer ruhte, welche auf die Dyna-stie ihre Hoffnungen für eine geordnete und sichereZukunft Frankreichs setzten.

Langsam ging der Kaiser, als der Arzt ihn verlassen,in seinem Cabinet auf und nieder.

»Fast möchte ich verzagen,« sagte er leise mit trübemAusdruck, »an der Arbeit für die Zukunft dieses Kindes,ist es nicht, als ob die Hand des Schicksals alle meineBerechnungen durcheinander wirft? – Tiefer und tiefersinkt mein Einfluß, der Einfluß Frankreichs in Europa,ich fühle es wohl, diese schwarze Wahrheit tritt mirin den verschiedensten Gestalten in jedem Augenblickentgegen. – Oft will es mir vorkommen, als wäre die

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Aufmerksamkeit, mit welcher Europa meinen Wortenlauscht, nur wie der succès d’estime eines Schauspie-lers, man bestreitet mir meine Rolle auf der Weltbühnenoch nicht, aber – aus Gewohnheit, das eigentliche In-teresse wendet sich ab von mir, wendet sich nach Ber-lin, diesem preußischen Minister zu, den ich glaubtein meiner Hand zu halten – wie Cavour – und der mirnun plötzlich so drohend auf seinen eigenen Füßen ge-genübersteht.«

Er setzte sich in einen Fauteuil und drehte langsameine Cigarette.

»Alle Versuche, die ich mache, um diesen Mann ein-zuschüchtern, schlagen fehl, alle Wege, um zu einerVerständigung mit ihm zu kommen, führen zu keinemZiel, er läßt sich weder aufhalten, noch ablenken, erverlangt absolute Freiheit, die Constituirung Deutsch-lands in seinem Sinne zu vollenden, und doch kann ichdas nicht Zulassen, wenn ich nicht die Wurzeln meinerDynastie zerschneiden will, denn Frankreich verlangtvon dem napoleonischen Kaiserthum die erste Stellungin Europa, und es hat ein Recht dazu,« sagte er, stolzden Kopf erhebend. – »Aber wie? – Wie diese Frage an-fassen? Diese luxemburgische Sache war ein Fehler, ichdarf sie nicht auf das Äußerste treiben, allein diesengewaltigen Kampf aufnehmen? – Ja, wenn ich mein

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Oheim wäre, wenn ich selbst mit dem Degen dieses fa-talistisch mich umspinnende Netz zerschneiden könn-te! – Und dann,« fuhr er fort, seine Cigarette anzün-dend und wieder im Zimmer auf und nieder gehend,»ich will nicht mit Preußen kämpfen, ich will mich lie-ber mit dieser Macht alliiren, ich will den ersten undursprünglichen Gedanken des großen Kaisers aufneh-men und ausführen, der heute um so mehr richtig ist,als diese Macht vom Strahl des Glückes beleuchtet ist,und das Glück ist ein sonderbarer Factor in diesem ge-heimnißvollen Leben,« fügte er sinnend hinzu, »in derPolitik wie im Spiel muß man nie gegen das Glück an-kämpfen, man muß mit ihm gehen, auch wenn manseine Laune nicht versteht.«

Er schwieg längere Zeit, in tiefes Nachsinnen verlo-ren.

Dann erheiterten sich seine Züge ein Wenig.»Ich muß das Spiel anders mischen,« sagte er, »ich

muß mich rüsten für einen möglichen Kampf mit die-sem Preußen, durch eine Coalition starker Allianzen,aber ich will mir,« fügte er lächelnd hinzu, »die Handfreihalten, um im letzten Moment, wenn ich die Chan-cen des Erfolges auf meine Seite gebracht habe, nocheinmal die Verständigung, das heißt die gemeinsameHerrschaft in Europa anzubieten. – Es wird ein langer,mühsamer Weg sein, den ich gehen muß, aber siche-rer als das Würfelspiel des unvorbereiteten Krieges, zudem man mich drängen möchte, und der Besuch aller

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dieser Souveraine, welche die Ausstellung Hieher füh-ren wird,« sagte er mit zufriedenem Lächeln, »wird mirdies Spiel erleichtern.«

Der dienstthuende Kammerdiener trat ein und mel-dete:

»Der Herr Graf Walewski.«Der Kaiser winkte lebhaft mit der Hand.Der Graf Colonna Walewski trat in das Cabinet des

Kaisers.Die edlen Züge seines Gesichts erinnerten in ih-

rem Schnitt leicht an Napoleon I., nur waren sie wei-cher und sanfter, der sinnige, zuweilen träumend undschwärmerisch schimmernde Blick seines großen Au-ges hatte nichts von dem flammenden Feuer, das ausdem Blick des großen Imperators strahlte, auch dersanft lächelnde Mund zeigte nicht jenen Ausdruck trot-ziger Energie, den man um die Lippen der Portraits desersten Kaisers zucken sieht, – seine hohe und elegante,obgleich etwas volle Gestalt drückte in allen Bewegun-gen Anmuth und vornehme Würde aus.

Der Graf näherte sich ehrfurchtsvoll dem Kaiser.»Ew. Majestät haben befohlen,« sagte er, sich tief ver-

neigend.»Sie lassen sich nicht sehen, mein lieber Vetter,« sag-

te Napoleon, ihm herzlich die Hand drückend, »darummuß ich Sie bitten, zu mir zu kommen, ich muß Ihnennoch besonders und persönlich ausdrücken, wie tief es

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mich schmerzt, daß Sie darauf beharrt haben, Ihre De-mission als Präsident des Senats zu nehmen –«

»Sire,« sagte der Graf, »Ew. Majestät kennen meineAnschauungen über parlamentarisches Leben, das ichin unserer Zeit für die festeste und sicherste Grundla-ge der Monarchien halte, ich finde die Ansichten nichtvereinbar mit der Art und Weise, wie Ihre Regierungdie parlamentarische Bewegung leitet, ich habe michalso zurückziehen müssen, da ich dem Dienste Ew. Ma-jestät wohl meine Kräfte, meine Arbeit, mein Leben,wenn es sein muß, zu opfern bereit bin, aber nicht mei-ne Überzeugung.«

»Ich erkenne darin von Neuem Ihren edlen undgroßen Sinn,« sagte der Kaiser, den entschleierten Blickhell und warm auf das schöne Antlitz des Grafen rich-tend, »und ich bin um so stolzer auf einen Freund, derso denkt und fühlt. On ne peut s’appuyer que sur ce quirésiste,« fügte er freundlich lächelnd hinzu.

Graf Walewski verneigte sich. »Das können Ew. Ma-jestät mit aller Sicherheit,« sagte er. »Sie sind der Rich-ter, Sire, über die Art und Weise, Frankreich zu regie-ren, und kann ich auf dem Platz, auf welchen Sie michgestellt hatten, Ihnen nicht mit Überzeugung, also mitErfolg, dienen, so bleibt doch meine Hingebung an IhreDynastie und an Frankreich dieselbe, ich habe nur zubedauern, daß ich sie nicht in Thaten beweisen kann.«

»Und doch hatte ich gehofft,« sagte Napoleon, indemer sich niederließ und den Grafen einlud, sich neben

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ihn zu setzen, »daß Sie mir einen großen Dienst nichtabschlagen würden, um den ich Sie bitten wollte.«

Der Graf sah den Kaiser erstaunt und fragend an.»Ich will Sie nicht zu einer Thätigkeit im Innern

überreden,« fuhr der Kaiser lächelnd fort, »vielleichtwird eine Zeit kommen, in der wir uns auch in dieserRichtung besser verstehen werden als jetzt, aber in derauswärtigen Politik hoffe ich auf Ihre Unterstützung.«

»Ich erwarte Ew. Majestät Befehle,« sagte Graf Wa-lewski mit einer leichten Zurückhaltung in der Stim-me.

Napoleon lehnte sich ein Wenig nach der Seite desGrafen hin und sprach, indem er die Spitze seinesSchnurrbarts leicht durch die Finger gleiten ließ, mitein Wenig gedämpfter Stimme:

»Es muß etwas Ernstes geschehen dieser preußi-schen Gefahr gegenüber, welche immer drohender inDeutschland heranwächst.«

Graf Walewski blickte erstaunt auf.»Ew. Majestät wollen den Krieg, um Luxemburg zu

erobern?« fragte er in einem Tone, der bewies, daß erwenig mit einem solchen Entschluß des Kaisers einver-standen sein würde.

Der Kaiser lächelte.»Nein, mein Vetter,« sagte er, »die Parthie steht nicht

günstig genug und der Preis ist den Einsatz nichtwerth, – bei dieser Luxemburger Sache handelt es sichfür mich nur noch um einen geordneten und würdigen

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Rückzug von einem Wege, der vielleicht niemals hättebetreten werden sollen.«

»Ich muß gestehen, Sire,« sagte der Graf, »daß ichfür diese ganze Angelegenheit niemals ein rechtes Ver-ständniß gehabt habe. Dieser deutschen Frage gegen-über, wie sie sich nun einmal gestaltet hat, ist nachmeiner Ansicht nur zweierlei möglich: vollständigePassivität oder eine groß angelegte Action.«

»Um unter der verhüllenden Maske der Passivität dieumfassendste Action vorzubereiten, bedarf ich IhresBeistandes, mein Vetter,« sagte der Kaiser.

Graf Walewski richtete sein großes Auge erwar-tungsvoll auf das Gesicht Napoleons, welcher den Blicksenkte, wie um seine Gedanken zu sammeln und denrechten Ausdruck für dieselben zu suchen.

»Hören Sie mich an,« sagte er dann, »ich bin ge-sonnen, dieser in gefährlichem Wachsthum drohendenpreußischen Macht gegenüber das gewaltige Mittel an-zuwenden, welches des großen Kaisers Macht erdrück-te: die Coalition.«

»Aber wie?« fragte der Graf.»Die Mächte, welche diese große Aufgabe zu erfüllen

berufen scheinen,« fuhr der Kaiser langsam und ein-dringlich sprechend fort, »sind Frankreich, Österreichund Italien –«

»Italien!« rief der Graf erstaunt, »glauben Ew. Maje-stät –«

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»Italien ist absolut nothwendig in diesem Bunde,«sagte der Kaiser, »ein feindliches, mit Preußen verbün-detes Italien würde unsere Action lähmen, diejenigeÖsterreichs unmöglich machen. – Italien kann – viel-leicht – wenig nützen, aber es kann unendlich vielschaden, und eine ernste und active Allianz mit Öster-reich ist unmöglich, wenn ein feindliches oder zweifel-haftes Italien zwischen uns liegt.«

»Das ist unleugbar,« sagte der Graf, »aber wie glau-ben Ew. Majestät, daß es möglich sein sollte, Österreichund Italien einander zu nähern, auf welcher Grundla-ge?«

»Die Sache ist nicht so schwer, wie sie scheinenmöchte,« sagte der Kaiser, »wenn man auf den Grundder Dinge hinabsteigt, – Österreich,« fuhr er fort, »des-sen bin ich gewiß, hat definitiv jeden Gedanken ei-ner Wiedereroberung seiner italienischen Besitzungenaufgegeben, wenigstens in seinen politischen Gedan-ken, und wenn auch vielleicht die persönlichen Gefüh-le des Kaisers noch tiefer Erbitterung voll sein mögen,so wird auch er doch jedes Mittel schließlich ergreifen,um nach Deutschland hin Revanche zu nehmen. – Wasnun Italien betrifft, so hat man dort noch zwei Wün-sche,« sagte er, leicht den Kopf zur Seite neigend, »dasist zunächst Rom, und sodann das italienische Tyrol.Dieser letztere Wunsch, allerdings der minder lebhafte,kann nur durch Österreich erfüllt werden, das thöricht

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wäre, ihn zu versagen, nachdem es die politisch be-deutungsvollen Besitzungen in Italien aufgegeben hat,Rom aber –«

»Ew. Majestät werden doch nicht den Papst opfernwollen?« rief Graf Walewski lebhaft.

Ein fast unwillkürliches feines Lächeln umspielte dieLippen Napoleons.

»Der Papst, mein lieber Vetter,« sagte er, mit derHand über seinen Knebelbart streichend, »ist für mich– ganz abgesehen von meinen persönlichen religiösenGefühlen – eine ernste politische Frage, welche ichnicht so leicht, selbst nicht um großen Preis aus derHand geben kann. Sie wissen, daß Frankreich sehr ka-tholisch ist, der Klerus ist eine große Macht in die-sem Lande und ich kann seine Stütze nicht entbeh-ren, ich kann nicht die große Kraft aufgeben, welcheden Beherrschern Frankreichs aus ihrer Mission er-wächst, der älteste Sohn der Kirche zu sein, ich kannauch nicht den Einfluß Frankreichs in Italien und sei-ne Führung der lateinischen Raçen aufgeben, aber ichkann,« fuhr er fort, indem sein Auge sich langsam er-hob, »dennoch den Wünschen Italiens entgegenkom-men und den Papst und die Kirche mit der neuen Ord-nung der Dinge versöhnen.«

Graf Walewski schüttelte langsam den Kopf. Ein Aus-druck des Zweifels erschien auf seinem Gesicht.

»Hören Sie mich an,« sagte der Kaiser, »denn diesist der Punkt, in welchem ich auf Ihre Mitwirkung und

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Ihre Thätigkeit, Ihre überzeugende Beredsamkeit hof-fe. – Jeder Versuch,« fuhr er fort, »den jetzigen Papstzu einer Verständigung mit dem Königreich des eini-gen Italiens zu bringen, würde thöricht sein, Pius IX.glaubt die liberalen Wallungen der ersten Jahre seinesPontifikats wieder gut machen zu sollen durch ein ab-solutes Negieren der Zeitströmung und ihrer Nothwen-digkeiten. Das ist ein Faktum, welches man bei allenpolitischen Combinationen als unabänderlich und un-umstößlich annehmen muß. – Indes,« sagte er etwasleiser, die lange Spitze seines Schnurrbarts kräuselnd,»wie lange kann das Leben dieses alten, kranken Man-nes noch dauern? – Und wenn er stirbt, nun, ich darfhoffen, wenn namentlich die feste Allianz mit Öster-reich zustande kommt und der Einfluß von dortherebenfalls in dieser Richtung geltend gemacht wird, daßaus dem Conklave ein Papst hervorgehen werde, wel-cher meine Ideen begreifen und zu ihrer Ausführungdie Hand bieten wird.«

»Und in welcher Weise halten Ew. Majestät eine Ver-söhnung der Rechte und der Würde des heiligen Stuh-les mit den Wünschen, den Forderungen des nationa-len Königreichs Italien für möglich?« fragte der Graf.

»Wenn der Papst,« sagte der Kaiser, »seine Souver-ainität über das eigentliche Patrimonium Petri behält,dagegen dies Land durch Verfassung, Gesetze und ins-besondere durch Verkehrseinrichtungen als ein homo-genes Glied dem nationalen Organismus einfügt, wenn

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er auf Militairmacht ganz verzichtet, die ja doch im-mer ihm keine selbstkräftige Stellung geben kann, unddafür unter den Schutz der katholischen Mächte ge-stellt wird, – wenn dann für große nationale Fragenein gemeinsames Parlament in Rom errichtet wird, sowird doch Rom die Gesammthauptstadt Italiens, undder König wird, ohne seiner eigenen Würde zu scha-den, wie es ja jeder katholische Souverain thut, demPapste den Vorrang lassen können, der ihm vor demAltare von Sanct Peter die Krone Italiens auf das Hauptsetzen wird.«

Die Augen des Grafen leuchteten, mit Spannunglauschte er den Worten, welche der Kaiser in jenemtief anklingenden Tone gesprochen hatte, der ihm ingewissen Augenblicken zu Gebote stand.

»Es handelt sich also für Italien,« fuhr der Kaisernach einem kurzen Stillschweigen fort, »nur darum,zu warten, die Entscheidung nicht zu überstürzen unddemnächst eine Lösung zu acceptiren, welche die na-tionale Einigung Italiens mit der Würde und der eu-ropäischen Stellung des Oberhauptes der Kirche ver-einigt und versöhnt. – Ich glaube,« sagte er, »daß derKönig Victor Emanuel, dessen Gewissen jedes schar-fe Vorgehen gegen den Papst peinlich berührt, diesenGedanken sehr zugänglich sein wird, es wird nur dar-auf ankommen, sie den politisch einflußreichen Per-sönlichkeiten in Florenz annehmbar zu machen, und

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dazu,« fuhr er fort, »bitte ich Sie um Ihre Unterstüt-zung, mein lieber Vetter, ich bitte Sie, nach Florenz zugehen und allen Ihren persönlichen Einfluß und Ihre sowirkungsvolle Beredsamkeit aufzubieten, um meinenIdeen dort Eingang zu schaffen und von italienischerSeite die große Triple-Allianz vorzubereiten – in Öster-reich werde ich zugleich wirken lassen –, Graf Beust istmeinen Ideen, ich setze natürlich voraus,« fügte er infragendem Tone hinzu, »daß auch Sie dieselben billi-gen –«

»Ich bewundere, wie schon so oft, Sire, sagte GrafWalewski, »den weiten Blick, mit welchem Ew. Maje-stät die Interessen zu verbinden und die verworrenstenSituationen in ihren bewegenden Ursachen zu durch-schauen vermögen. Vor allem bin ich hoch erfreut, daßich Ew. Majestät bereit finde, wegen dieser untergeord-neten Frage von Luxemburg Frankreich nicht in einenübereilten Krieg zu stürzen, und den Papst nicht preis-zugeben. Ich hoffe sehnlichst, daß die großen Pläne,welche Ew. Majestät für die Zukunft hegen, sich er-füllen mögen, und was ich dazu beitragen kann, sollmit Aufbietung alles Eifers und aller Kräfte geschehen.Mit Freuden und in voller Überzeugung nehme ich dieMission an, welche Ew. Majestät mir zu übertragen sognädig sind.«

»Ich danke Ihnen,« sagte der Kaiser, dem Grafen dieHand drückend, »Sie werden bei Ratazzi eine kräfti-ge Unterstützung finden, wenn ich ihm meine Ideen

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auch nicht in allen Details entwickelt habe, so weißich doch, daß er in diesem Sinne disponirt ist.«

»Trauen Ew. Majestät Ratazzi?« fragte der Graf Wa-lewski.

»Ich glaube es politisch zu können,« sagte der Kaiser,»er will die Macht behalten und ist klug genug, um ein-zusehen, daß dies nur möglich ist, wenn er die Grund-lagen eines festen Gebäudes für die Zukunft legt, dierevolutionäre Actionspartei, die ohnehin sehr schwachin Italien geworden ist, seit Mazzini sich von ihr ge-wendet, kann ihn nicht stützen, und in der Allianz mitFrankreich und Italien, in der Ausführung meiner Ide-en wird er sich eine große Rolle und einen großen Na-men schaffen durch die Vollendung des Werkes von Ca-vour. Übrigens,« fügte er lächelnd, »ist er – sonderbargenug – sehr abhängig von dem Einfluß seiner Frau –und sie wird für uns arbeiten, – ich habe sie gesehenund ihr eine Aussöhnung in der Ferne gezeigt, welcheihrem Ehrgeiz als höchstes Ziel vorschwebt.«

»Nun,« sagte der Graf, »immerhin wird er zunächstnützlich sein; was mich betrifft, fügte er lächelnd hin-zu, »so habe ich immer gefunden, daß für Ratazzi– ebenso wie für Madame Ratazzi, jenes italienischeSprichwort gemacht scheint:

›Con arte e con ingannoSi vivi mezzo l’annoCon inganno e con arteSi vive l’altra parte‹«

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Der Kaiser lachte. »Um so besser,« sagte er, »wennSie ihm nicht trauen, Sie werden um so weniger über-listet werden. – Doch noch eins,« fuhr er fort, »wennSie das Terrain günstig finden, der Kronprinz Humbertsucht eine Frau, das Haus Savoyen ist ja mit den Habs-burgern verwandt, gegen das Blut kann man keine Ein-wendungen erheben, es wäre ein vortrefflicher Gedan-ke, die neue Allianz durch eine Familienverbindung zubesiegeln, ich habe daran gedacht, eine solche Verbin-dung würde sowohl in Florenz wie in Wien von großerWirkung sein.«

»Aber,« sagte der Graf, »welche Prinzessin?«»Die Erzherzogin Mathilde,« sagte der Kaiser, »die

Tochter des Erzherzogs Albrecht paßt im Alter voll-kommen für den Prinzen Humbert, es soll eine sehrschöne und liebenswürdige Prinzessin sein.«

»Die Tochter des Erzherzogs Albrecht!?« rief derGraf, »die Tochter des Siegers von Custozza, des stol-zesten dieses stolzen Hauses, glauben Ew. Majestät –«

»Ist doch die Gemahlin des Kaisers Ferdinand einePrinzessin von Savoyen,« sagte Napoleon, »doch wasÖsterreich betrifft, so lassen Sie mich dort handeln,suchen Sie die Sache in Florenz anzubahnen, ich legegroßen Werth gerade auf diese Verbindung, sie würdedie wahre Versöhnung sein.«

»Ich werde thun, was in meinen Kräften steht,« sag-te der Graf, »doch,« fuhr er fort, »da Ew. Majestät die

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Gnade gehabt haben, mich in Ihre Pläne für die Zu-kunft einzuweihen, und da ich diese Pläne mit vol-ler Überzeugung erfasse, so kann ich nicht unterlas-sen, Ew. Majestät meine Bedenken über einen Punktauszusprechen, der ohne Zweifel Ihrer Aufmerksam-keit nicht entgangen ist,« sagte er sich verneigend, »ichmeine die drohende und gefährliche Stellung, welcheRußland in seiner sichtlich hervortretenden engen Ver-bindung mit Preußen einnimmt. – Wenn die Allianz ge-schlossen wird, welche Ew. Majestät beabsichtigen, sowird die Bedeutung Österreichs in derselben und seinAntheil an der Action sehr wesentlich gehemmt wer-den durch jene geheimnißvoll sich concentrirende nor-dische Macht, welche mit dem ganzen Gewicht ihrergesammelten Kraft auf Österreich herabdrücken wird.«

Der Kaiser erhob das Haupt. Sein Auge öffnete sichweit und aus seiner aufleuchtenden Pupille strahlte eineigenthümlich ausdrucksvoller Blick auf den Grafen.

»Ich wäre ein schlechter Spieler,« sagte er leise,»wenn ich daran nicht gedacht hätte, aber ich habeauch jene furchtbare Waffe nicht vergessen, welche,richtig benutzt, die russische Macht in’s Herz trifft undzugleich ihre Spitze gegen Preußen kehrt, jene Waf-fe, welche bis jetzt niemals in vollem Ernste gebrauchtist, »welche selbst der große Kaiser nur zögernd undhalb gebrauchte, welche aber dennoch Rußland so tie-fe Wunden schlug, wenn sie von den Mächten ernstlich

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in die Hand genommen, von Österreich insbesonde-re, welches das Heft dieses zweischneidigen Schwerteshält, von Österreich, welches die historische Pflicht, einUnrecht gut zu machen, welches Maria Theresia nurwider Willen beging –«

Der Graf sprang auf.»Polen!« rief er mit bebenden Lippen und flammen-

den Augen, »Ew. Majestät denkt an Polen?«»Und warum nicht,« sagte der Kaiser, lächelnd auf

den Grafen blickend, der die gewöhnliche vornehme,fast phlegmatische Ruhe seiner Haltung verloren hat-te und in zitternder Erregung vor ihm stand, »warumnicht, mein Vetter? Schon die letzten der Valois hattendie hohe Bedeutung eines eng mit Frankreich verbun-denen Polens erkannt, der unerstickbare Klageruf die-ser edlen Nation hat später stets das Herz Frankreichserzittern lassen, die französische Politik ist aber stetsnur mit unsicheren und schwankenden Schritten die-sem sympathischen Instinct gefolgt – und es war viel-leicht einer der verhängnißvollsten Fehler des großenKaisers, daß er jenes Wort nicht aussprach, welches Po-niatowski von ihm erbat, – jenes Wort: Que la Pologneexiste! Es war die Rücksicht auf Österreich, welches ihndaran verhinderte, auf Österreich, dessen falsche Poli-tik seine Stützen suchte in widerwillig festgehaltenenfremden Elementen, statt seine eigenen Kräfte zu ord-nen und zu freier Ausdehnung zu bringen; nun,« fuhr

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er fort, »wenn Österreich von diesem Fehler zurück-kommt, nachdem es sich von dem Krebsschaden seineritalienischen Besitzungen befreit hat, wenn es sich zudem großen Entschluß erheben kann, dem wiederge-borenen Polen Galizien als Pathengeschenk zu geben,dann,« – er blickte wie träumend vor sich hin und seineStimme sank zu einem leisen Tone hinab, »dann könn-te vielleicht jenes belebende Wort, das der Kaiser aufder Höhe seiner Weltmacht auszusprechen zögerte, alsein Vermächtniß des Märtyrers von St. Helena aus demDome der Invaliden hervortönen, und wenn es ertön-te,« fuhr er mit lauterer Stimme fort, den Blick fest aufden Grafen gerichtet, »ausgesprochen von Frankreich,Österreich und Italien, wo bliebe dann die drohendeMacht Rußlands? – Sie würde vor diesem Flammen-worte zerschmelzen, wie die Eisblöcke vor dem Strahlder Sonne.«

»Sire,« rief der Graf in tiefer Erregung, indem er bei-de Hände auf seine Brust legte, »ich beuge mich be-wundernd vor Ew. Majestät und ich danke Ihnen innig,daß Sie die Gnade haben, mir diesen Blick in das weiteReich Ihrer großen Idee zu erschließen.«

Der Kaiser lächelte und sprach, immer vor sich hin-blickend, als folge er weiter den Bildern, die sich vorseinem inneren Auge entrollten:

»Ich kann nur langsam Stein auf Stein fügen zur Auf-richtung des großen Gebäudes, welches das kaiserli-che Frankreich zu bauen berufen ist, aber es wird auch

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der Augenblick seiner Krönung kommen, wenn Frank-reichs Fahne hoch auf der Zinne der europäischen Ci-vilisation weht, wenn auf dem Stuhle Petri ein SohnFrankreichs die katholische Christenheit beherrscht.«

»Der Abbé Lucian!« rief der Graf, die Hand an dieStirn legend.

»Sollte dann nicht,« fuhr der Kaiser fort, indem eraufstand und nahe zu dem Grafen hintrat, »sollte dannnicht das als mächtiges Bollwerk gegen die asiatischeBarbarei wiedererstandene Polen mit Stolz seine Kroneauf einem Haupte sehen, von dessen Stirn der Abglanzdes großen Kaisers leuchtet –«

»Zu viel, Sire, zu viel,« rief der Graf, den Kopf auf dieBrust senkend, »mein Auge wird geblendet durch denHorizont von Licht, den Ew. Majestät in immer wei-teren Kreisen vor mir öffnen, und ich habe doch dieSchärfe des Blickes nöthig, um meinen Theil der Arbeitan Ew. Majestät gigantischem Werke auszuführen!«

Der Kaiser legte ihm die Hand auf die Schulter undsagte mit freundlichem und ruhigem Lächeln:

»Ich sehe, wir verstehen uns vollkommen, und Siewerden im Sinne meiner Gedanken wirken, als ob ichselbst dort wäre, es versteht sich von selbst,« fügte erhinzu, »daß die letzten dieser Gedanken unser Geheim-niß bleiben, ein Familiengeheimniß.«

»Sire,« rief der Graf, »es giebt Dinge, welche zu großfür die Sprache sind, sie müssen geschehen wie diegroßen Naturerscheinungen, die Schranke des Wortes

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faßt sie nicht ein. So sind die Gedanken Ew. Majestät,sie werden meinen Geist erleuchten und mein Herz er-wärmen, aber sie werden niemals auf meine Lippentreten. – Doch nun,« fuhr er fort, »erlauben mir Ew.Majestät, die Vorbereitungen zu meiner Abreise zu tref-fen; jede verlorene Minute thut mir weh.«

»Gehen Sie, mein lieber Vetter,« sagte der Kaiser, »ichwerde Ihnen eine Instruction senden, welche das ent-halten wird,« sagte er lächelnd, »was sich in Worte klei-den läßt. – Sie wird zugleich die Grenze bezeichnen,bis zu welcher Ihre Mission Moustier und Malaret be-kannt ist. Die Welt mag glauben, daß Sie sich von denAufregungen und Widerwärtigkeiten der Politik im An-blick bei schönen Kunstwerke von Florenz erholen wol-len.«

Er drückte dem Grafen herzlich die Hand und gelei-tete ihn bis zur Thür des Cabinets.

»Er wird reüssiren,« sagte er, ihm nachblickend,»denn er wird mit Überzeugung und Begeisterung ar-beiten.«

Sinnend machte er mehrere Gänge durch das Zim-mer.

»Ich muß mich an die Spitze einer geschlossenenCoalition stellen,« sagte er, »um den Einfluß wieder zugewinnen, der mir entschlüpft, um handeln zu können,ohne meine Dynastie auf’s Spiel zu setzen, dann,« fuhrer fort, sich aufrichtend und den Schnurrbart aufwärts

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drehend, »dann wird man vielleicht in Berlin mehr Ei-fer zeigen, die Hand zu ergreifen, die man jetzt zurück-stößt. Denn,« er versank in tiefes Nachdenken, »denn– diese Gedanken alle sind sehr schön, sehr groß, aberkann ich sie ausführen?« Ein schmerzliches Zucken flogüber sein Gesicht.

»Meine Kraft ist gebunden,« sagte er düster, »durchdiese Krankheit, deren Schmerzen ich verbergen muß,der Wille und der Entschluß bricht unter dem schmerz-lichen Beben der Nerven, unter der erschöpften Ab-spannung der Muskelfasern, oh wieviel lieber möchteich mich verständigen zu ruhigem und sicherem Bünd-niß mit diesem aufstrebenden Deutschland, in wel-chem die nationale Jugendkraft wohnt, als mit demzerfallenden Österreich eine glänzende Zukunftsideeverfolgen, die vielleicht eine trügerische Fata Morganaist! Oh daß das Schicksal und mein glücklicher Sternmich leiten wollte in zwingend unwiderstehlicher Füh-rung und mir die Qual des eigenen Entschlusses erspa-ren,« rief er tief aufseufzend, »ich habe das Heimwehnach Ruhe.«

Er ließ sich auf seinen Lehnstuhl sinken, sein Kopffiel auf die Brust herab und in matter Abspannung saß

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er da, die Augen geschlossen, das Gesicht schmerz-lich verzogen, die Hände schlaff herabhängend, der ge-fürchtete Imperator, dessen Wink die Armeen und Flot-ten Frankreichs bewegte und dessen doppelsinnig ge-heimnißvolle Worte wie Orakelsprüche das lauschendeEuropa durchflogen.

Der Kammerdiener trat ein.»Der Herzog von Gramont steht zu Ew. Majestät Be-

fehl.«Der Kaiser fuhr zusammen.Mit gewaltsamer Anstrengung erhob er das Haupt

und rief den ruhigen, lächelnden Ausdruck auf sein Ge-sicht zurück.

»Lassen Sie den Herzog eintreten,« sagte er aufste-hend.

ACHTZEHNTES CAPITEL.

Der Herzog von Gramont nahm auf einen Wink desKaisers neben demselben Platz.

»Nun, lieber Herzog,« sagte Napoleon mit heiteremAusdruck und im ruhigsten Tone, »Sie haben hier dieLage der Dinge gesehen, und ich wünsche nun nocheinmal, dieselbe ernstlich zu überlegen, damit Sie voll-ständig klar über die Situation und meine Auffassungderselben nach Wien zurückkehren.«

Der Herzog verneigte sich.

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»Sire,« sagte er, »die äußere politische Lage scheintmir klar zu sein, Ew. Majestät befinden sich in der Lu-xemburger Frage in einer isolirten und verschobenenStellung. – Der schnellste Rückzug, sobald er ehrenvollgeschehen kann, ist der beste, und dazu habe ich, wieich die Ehre hatte, Ew. Majestät mitzutheilen, den Auf-trag, im Namen Österreichs dringend zu rathen, dasjetzt nicht handeln kann, wohl aber Alles thun wird,um den Rückzug so ehrenvoll als möglich zu machen.– Weniger klar,« fuhr der Herzog achselzuckend fort,»scheint mir die Lage der inneren Verhältnisse, unddieselbe läßt sich nicht ganz von der äußeren Politiktrennen.«

»Leider nicht,« sagte der Kaiser, langsam den Kopfschüttelnd, »nun,« fuhr er fort und richtete das halbge-schlossene Auge auf den Herzog, »und wie denken Sieüber diesen Einfluß der inneren Lage auf die auswärti-ge Politik?«

»Sire,« erwiederte der Herzog, »mir scheint, daß hierein Doppelspiel stattfindet. Das französische Gefühl,die eigentliche nationale Fiber, klingt sehr kriegerischan, immer aber noch nicht genug, um einen mächtigenAufschwung zu veranlassen, die Presse, die der Regie-rung im Herzen feindliche Presse spricht friedlich, die-se Leute möchten die Regierung zu einer unpopulärenPolitik veranlassen und würden demnächst die erstensein, welche über dieselbe das bitterste Urtheil fällen.«

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Der Kaiser nickte langsam mit dem Kopf. »Sie habenscharf beobachtet, lieber Herzog,« sagte er mit verbind-lichem Lächeln.

Der Herzog fuhr fort:»Dem nationalen Gefühl muß der Rückzug daher als

ein Sieg erscheinen, und ich glaube, Sire, daß sich daswird machen lassen. Das Wiener Cabinet hat sich ver-gewissert, daß die Forderung einer vollständigen Neu-tralisirung des Großherzogthums Luxemburg von Eng-land aus auf das Lebhafteste und Ernstlichste unter-stützt werden würde.«

»Mit Aufhebung der preußischen Besatzung?« fragteder Kaiser.

»Mit Schleifung der Festung,« erwiederte der Her-zog.

Der Kaiser wiegte den Kopf hin und her und drehtelangsam den Schnurrbart.

»Es wäre besser, die Festung bliebe stehen – mit lu-xemburgischer Besatzung,« sagte er halb für sich, »mankönnte, indes,« fuhr er fort, »immerhin mit Schleifungder Festung – man wird dies der öffentlichen Meinungja leicht als eine Niederlage Preußens darstellen kön-nen, und das ist für den Augenblick die Hauptsache. –Nun aber,« fuhr er fort, »mein lieber Herzog, eine Fra-ge, die wichtiger ist als der Moment, was soll künftigaus dem allen werden?«

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»Sire,« antwortete der Herzog von Gramont, sichstolz aufrichtend, mit funkelnden Augen, »das fran-zösische Gefühl empört sich unter dem Drucke derSchlacht von Sadowa und ihren Folgen, dieser Druckmuß aufhören, Frankreich sich freimachen von demAlp, der auf ihm lastet, es muß diesen drohenden De-gen zerbrechen, der bis jetzt gegen uns gezückt war,und dessen Spitze jetzt schon in unser Fleisch zu drin-gen beginnt!«

»Sie haben auch meine Politik im vorigen Jahre ge-tadelt?« fragte der Kaiser mit leichtem Lächeln.

»Sire,« erwiederte der Herzog, »mein Bedauern hates nie gewagt, sich in Worte des Tadels zu kleiden.«

»Ich war allein,« sagte der Kaiser nachdenklich, »wassollte ich thun? – ich war allein – und ich bin es noch!– Sie wollen handeln,« fuhr er fort, »und wer möchtees nicht, der französisches Blut in den Adern und imHerzen hat, aber um handeln zu können, muß manzunächst Allianzen haben!«

»Sie sind gegeben, Sire,« sagte der Herzog, »Öster-reich –«

»Österreich,« sagte der Kaiser sinnend, »ja – aber daliegen viele ernste Fragen in diesem Wort. Wird Öster-reich die Kraft haben, sich von den Schlägen, die esgetroffen, zu erholen, um jemals ein wirklich mächti-ger Alliirter zu sein?«

»In einem bis zwei Jahren, Sire,« sagte der Herzog,so hofft Herr von Beust.«

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»Herr von Beust,« sagte der Kaiser langsam, »er iststets ein Wenig sanguinisch gewesen. – Sie haben janun Gelegenheit gehabt, ihn zu beobachten, was hal-ten Sie von ihm?«

Der Herzog lächelte. »Sire,« sagte er, »man pflegtefrüher in der diplomatischen Welt zu sagen, Herr vonBeust habe eine zu enge Jacke an – und man hatte viel-leicht Recht, nun – er hat diese enge Jacke ausgezogenund ich glaube, man könnte jetzt sagen, der Mantel,der jetzt um seine Schultern hängt, sei ein Wenig zugroß, er läuft Gefahr, sich in den Falten zu verwickeln.«

Der Kaiser lachte. »Das heißt?« fragte er.»Wie es mir scheint,« sagte der Herzog, »war Sach-

sen zu klein für Herrn von Beust – und Österreich istihm zu groß.«

»Aber er hat viel Geist,« sagte der Kaiser.»Vielleicht zu viel, Sire, was Österreich bedarf, ist ein

Charakter, eine starke Hand, um alle die verschiedenenElemente zu einen, nicht ein feiner, dialektischer Geist,der damit beginnt, sie zu trennen.«

Der Kaiser richtete einen forschenden Blick auf denHerzog. »Was Sie sagen,« sprach er, »ist aber wenig er-muthigend für eine Allianz mit Österreich!«

»Ich bitte Ew. Majestät,« erwiederte der Herzog,»meine Worte nicht in diesem Sinne aufzufassen, ichzweifle,« fuhr er fort, »ob es Herrn von Beust jemalsgelingen werde, die innere Organisation Österreich in

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feste, sichere und dauernde Formen zu bringen, wo-bei seine Stellung als Protestant und als Fremder ihmganz besondere Schwierigkeiten macht, auf der ande-ren Seite bin ich aber überzeugt, daß er die äußerePolitik Österreichs zu kräftiger und wirkungsvoller Ac-tion befähigen wird, indem er die militairischen Kräf-te entwickeln, besonnenes und vorsichtiges Vorgehenveranlassen und alle die von ihm sehr wohl erkannten– und in der Catastrophe des vorigen Jahres schmerz-lich empfundenen – Fehler des früheren österreichi-schen Systems verbessern wird. – Will er seine Aufga-be erfüllen, will er sich dauernd in seiner Stellung er-halten,« fuhr der Herzog lebhafter fort, »so muß er jadie äußere Erstarrung Österreichs, seinen glänzendenWiedereintritt in die Reihe der maßgebenden Mäch-te Europas – und auch seine historische Stellung inDeutschland wiedererringen, Österreich, Sire,« sagteder Herzog, während der Kaiser aufmerksam zuhörendden Kopf zur Seite neigte, »Österreich kann überhauptnur durch die Wiedererringung seiner äußeren Macht-stellung von seinen inneren Schäden geheilt werden.Diese vielen heterogenen und untereinander feindli-chen Elemente, aus denen der Kaiserstaat besteht, beu-gen sich einer siegreichen, machtvoll in Europa da-stehenden Regierung, die zerrütteten Finanzen, derenGrund nicht im Mangel innerer Hilfsquellen, sondernin dem Mangel an Vertrauen in die Existenzfähigkeit

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des Staates beruht, werden nur wiederhergestellt wer-den durch die Wiedererlangung einer großen europäi-schen Stellung, welche Österreich den internationalenCredit wiedergiebt. Die Schlacht von Novara, Sire, heil-te alle inneren Schäden Österreichs mit einem Schla-ge, nur ein großer, äußerer Erfolg also kann Herrnvon Beust die innere Regeneration Österreichs mög-lich machen und seiner persönlichen Stellung die fe-ste Grundlage geben, denn diese Grundlage, Sire, istdie Bedingung: Österreich von dem Schlage von Sa-dowa wieder aufzurichten, um diesen Preis, Sire, wirdman Herrn von Beust vielleicht verzeihen, daß er nachÖsterreich gekommen ist und dort auf dem Stuhle Met-ternichs sitzt – als ein lebendiges testimonium pauper-tatis für die österreichische Aristokratie und die öster-reichischen Staatsmänner. Herr von Beust muß alsohandeln – und um handeln zu können, braucht er un-sere Allianz.«

Der Kaiser neigte den Kopf ein Wenig.»Und wird Herr von Beust handeln können, wie er

will?« fragte er dann. »Die actionsfähige Macht Öster-reichs,« fuhr er fort, »liegt in Ungarn, und diese selbst-ständige Macht wird sich vielleicht nicht nach denWünschen der Wiener Hofburg richten. – Graf An-drassy,« sagte er nachdenklich, »steht schweigend undmit verschränkten Armen hinter dem Herrn von Beust– und es will mir den Anschein haben, als ob die-ser schweigende und entschlossene Repräsentant der

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wirklichen Macht des heutigen Österreichs die letzteInstanz sei in dem künstlichen Getriebe dieses Staats-mechanismus, als ob er jeden Augenblick bereit sei, mitfester Hand in die Zügel zu fallen, sobald der Wagennicht dem Wege folgt, der ihm genehm ist.«

»Ich glaube, Ew. Majestät überschätzen die Bedeu-tung des Grafen Andrassy,« sagte der Herzog, »er hatnicht die politische Gewandtheit des Herrn von Beust.«

»Die Magyaren sind sehr fein und geschmeidig,«sprach der Kaiser kopfschüttelnd, »dabei von festemMark und zäh, ich fürchte, ich habe von Herrn vonBeust zu viel erwartet.«

»Doch,« warf der Herzog ein, »ich weiß nicht, Sire,wenn auch der Einfluß des Grafen Andrassy ein so be-deutsamer sein sollte, als er dem Blick Ew. Majestäterscheint, so sehe ich nicht ein, warum der ungarischeMinister einer Allianz mit Frankreich entgegenstehensollte, Frankreich hat stets Sympathieen in Ungarn ge-habt, während das deutsche Element dort stets undtraditionell verhaßt war, ich zweifle nicht, daß GrafAndrassy hierin mit Herrn von Beust ganz einig seinwerde.«

Der Kaiser schüttelte hartnäckig den Kopf. »Ungarnhaßte das deutsche Element in Österreich, weil diesesElement seine nationale Selbstständigkeit unterdrück-te, Deutschland, das preußische Deutschland, kannden Ungarn nur sympathisch sein, denn ihm verdan-ken sie jetzt ihre nationale Autonomie, und wenn

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Österreich je seine Stellung in Deutschland wiederge-winnen sollte, glauben Sie, daß Ungarn seine heutigeStellung und Bedeutung behielte? – Doch,« fuhr er fort,»das Alles sind Bedenken, die uns nicht hindern dürfenzu handeln, nur bitte ich Sie, diese ungarische Rich-tung in Österreich sehr scharf im Auge zu behalten,ich werde daran denken, einen tüchtigen Diplomatennach Budapest zu schicken, um Ihnen, lieber Herzog,zur Seite zu stehen,« fügte er verbindlich hinzu, »undnach Ihren Instructionen dort zu wirken und zu be-obachten. – Wissen Sie eine geeignete Persönlichkeitdafür?« fragte er, »ich möchte, daß der Delegirte IhrerBotschaft in Budapest Ihnen vollkommen genehm seiund ganz in Ihrem Sinne handle.«

Der Herzog dachte nach.»Der junge Graf Castellane, Sire,« sagte er nach ei-

nigen Augenblicken, »möchte vielleicht eine sehr pas-sende Wahl sein, er ist vortrefflicher Cavalier, sehr ge-schmeidig und intelligent und wird sich mit großer Ge-wandtheit in diese etwas delicate Stellung zu findenwissen.«

»Castellane?« sagte der Kaiser, »ich werde mich in-formiren, man muß ein diplomatisches Generalconsu-lat in Budapest errichten, die neue SelbstständigkeitUngarns macht das ganz natürlich. – Doch,« fuhr erfort, »nun die Hauptsache, mein lieber Herzog! – Soll

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die Allianz mit Österreich wirksam werden, so muß Ita-lien voll und ganz in die Combination eintreten, so al-lein wird Frankreich und Österreich die volle Actions-freiheit gegeben, und außerdem schließt diese dreifa-che Allianz die Südstaaten Deutschlands in einen zwin-genden Ring, bei sie vor dem Einfluß Preußens schüt-zen und sie nöthigenfalls zwingen kann, mit uns zu ge-hen. – Glauben Sie, daß eine Verständigung, eine inni-ge und aufrichtige Verständigung zwischen Österreichund Italien möglich sei, eine Verständigung mit vollerVergessenheit Alles dessen, was geschehen ist?«

»Soweit Herr von Beust dabei in Frage kommt,« sag-te der Herzog, »unbedenklich, die Combination, wel-che Ew. Majestät soeben als nothwendig bezeichnethaben, liegt vollständig in seinen Ideen, auch zweifleich nicht, daß der Kaiser, so sehr seine Gefühle auch,wie natürlich, gegen Italien erregt und erbittert seinmögen, die politische Nothwendigkeit einer solchenVergessenheit des Vergangenen erkennen werde, wennItalien –«

»Was Italien betrifft,« sagte der Kaiser, »so hoffe ich,daß man dort leicht in meine Ideen eingehen wird,dort liegt die Schwierigkeit in der revolutionären Par-tei, deren Einfluß im Sinken ist, in Österreich liegt siein dem Schmerz über die Verluste, in dem gekränktenStolz, in den tief verwundeten Familieninteressen, dasist schwieriger, doch,« sagte er mit artigem Lächeln,

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»dafür liegt die Aufgabe dort auch in um so geschick-teren Händen.«

Der Herzog verneigte sich und sprach:»Ich werde Alles thun, um Ew. Majestät großen Ge-

danken zur Ausführung zu bringen.«»Es ist die größte Aufgabe,« sagte der Kaiser, in-

dem er mit dem vollen Blick seines geöffneten Au-ges den Herzog ansah, »welche dem Kaiserreiche bis-her gestellt wurde, von ihrer Erfüllung hängt die Stel-lung Frankreichs für die Zukunft ab, es handelt sichhier in der That darum, das Gebäude zu krönen, des-sen Grundstein bei Sebastopol gelegt wurde. Ich hof-fe, mein lieber Herzog, daß, wenn die stillen Vorberei-tungen getroffen sind, und wenn die Combination, anwelche wir jetzt herantreten, in kräftiger Vollendungeinst mächtig eingreift in die schwankenden Verhält-nisse Europas, daß Sie dann neben mir stehen werden,um die Action zu leiten, welche Sie vorbereitet habenwerden.«

Der Herzog neigte das Haupt, indem ein Lächeln derBefriedigung seine Lippen umspielte.

»Sire,« sagte er, »Ew. Majestät wissen, daß ich nichtdanach strebe, die Leitung der Geschäfte zu erlangen,um einen gewöhnlichen Ehrgeiz zu befriedigen, dieStellung, welche das Vertrauen Ew. Majestät mir ge-geben hat, bietet mir größere Annehmlichkeiten undweniger Verantwortung, als ein Portefeuille, wenn aberin einem Augenblicke einer so großen Zukunft, als Ew.

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Majestät Worte sie enthüllen, mir die Ehre werden soll-te, Ihre großen Gedanken. Sire, auszuführen, so wirdes mein höchster Stolz sein, alle meine Kräfte im Dien-ste Ew. Majestät und Frankreichs aufzubieten.«

»Wir verstehen uns also vollkommen,« sagte Napole-on, indem er dem Herzog die Hand reichte, »die Loo-sung heißt jetzt: warten und arbeiten. Bereiten Sie dasTerrain vor, wenn der Kaiser Franz Joseph zur Ausstel-lung kommt, so wird hoffentlich Alles so weit klar sein,daß wir feste Grundlagen schaffen können. – Jetzt abermüssen wir uns diese luxemburgische Sache vom Hal-se schaffen,« fuhr er fort, »der Marquis de Moustierwird da sein, er ist sehr kriegerisch, unterstützen Siemich ein Wenig,« fügte er lächelnd hinzu, indem er dieGlocke bewegte.

»Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten,«befahl er dem Kammerdiener.

Der Marquis de Moustier trat ein.Der Kaiser hatte sich erhoben und trat dem Minister

einen Schritt entgegen.»Der Herzog von Gramont,« sagte er, indem er sich

wieder niederließ und die beiden Herren einlud, ihmgegenüber Platz zu nehmen, »hat mir soeben noch-mals die Lage Österreichs geschildert und mir alle Vor-stellungen wiederholt, welche Herr von Beust für diefriedliche Lösung dieses luxemburgischen Conflicts zumachen ihn ersucht hat.«

Der Marquis zuckte fast unmerklich die Achseln.

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»Und ich muß gestehen,« fuhr der Kaiser fort, »daßich ein Wenig befolgt geworden bin, bei reiflicher Über-legung der Gründe des Herrn von Beust und bei genau-er Erwägung der Situation.«

»Sire,« fügte der Marquis, »die Gründe des Herrnvon Beust resümiren sich alle in dem einen Wort:›Österreich bedarf Frieden!‹ Nun wohl,« rief er, »wennÖsterreich des Friedens bedarf, so mag es versuchen,wie weit es damit kommt, nach meiner Überzeugungnicht weit; darf uns das abhalten, unseren Interessenzu folgen? Wie Österreich den Frieden bedarf nachder Theorie des Herrn von Beust, so bedarf – ich spre-che dies nach meiner vollen Überzeugung aus – Frank-reich den Krieg, das heißt,« setzte er hinzu, »wenn ei-ne Wiederherstellung seines Prestige ohne Krieg nichtzu erreichen ist, denn dies Prestige muß um jedenPreis wieder erworben werden. – Ich für meine Personaber,« sagte er nach einer kleinen Pause, als der Kaiserschweigend seinen Schnurrbart drehte, »ich für mei-ne Person glaube aber, daß der Krieg nicht nöthig seinwird, wenn man nur sehr fest auftritt und sehr deutlichzeigt, daß man den Krieg nicht fürchtet.«

Er warf einen fragenden Blick auf den Herzog vonGramont. Dieser senkte die Augen zu Boden undschwieg.

»Mein lieber Marquis,« sagte der Kaiser nach einemminutenlangen Stillschweigen, »ich theile Ihr Gefühl,

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es ist dasjenige eines französischen Herzens, ich thei-le auch Ihre Ansicht, aber nur bis auf einen gewissenPunkt – denn ich kann nicht glauben, daß ein übereiltbegonnener Krieg, ein Krieg ohne Bundesgenossen unsdie Garantie der Wiederherstellung des französischenPrestige giebt. Bis jetzt erheben sich mir leise Zwei-fel gegen dasselbe, ein kriegerisches Mißgeschick, oderein nicht vollständiger Erfolg würde dasselbe vernich-ten. Nur der wirkliche durchschlagende Erfolg kannuns nützen, und um diesen zu erreichen, scheint es mirunerläßlich, daß wir wenigstens die Bundesgenossen-schaft Österreichs haben.«

»Dann ist der Krieg unmöglich,« sagte der Marquisde Moustier, »denn nach der Auffassung des Herrn vonBeust werden wir diese Bundesgenossenschaft niemalshaben.«

»Warum nicht?« warf der Kaiser ein, »der Haupt-grund, welcher Herrn von Beust bestimmt, zum Frie-den zu rathen, ist die Nichtbereitschaft Österreichs,wenn man nun Österreich zu Hilfe käme in wesentli-chen Punkten der Actionsfähigkeit – was meinen Sie,Herr Herzog, sollten sich die Ansichten des Wiener Ca-binets nicht modificiren lassen?«

Der Herzog sah den Kaiser erstaunt an.»Ich weiß nicht, Sire,« sagte er, »in welcher Weise –«

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»Ich meine,« sprach der Kaiser weiter, »daß es Öster-reich wesentlich an zwei zum Kriegführen nothwen-digen Dingen fehlt, erstens an dem Arkanum des al-ten österreichischen Generals Montecuculi, am Gelde,und sodann an Waffen, an Artillerie, sie haben vieleingebüßt im letzten Feldzuge – in beiden Richtungenkönnten wir aushelfen. – Wenn wir,« fuhr er nach ei-nigen Augenblicken fort, »eine österreichische Anleihean unserer Börse unterstützten und zugleich unserenÜberschuß an Kriegsmaterial zur Verfügung stellten,– ich werde eine Aufstellung dessen, was wir entbeh-ren könnten, machen lassen – glauben Sie nicht, daßÖsterreich sich zu einer ernsten Action aufraffen könn-te?«

Er wandte den Kopf dem Herzog von Gramont zu,ohne daß sein Blick aus dem Schleier seiner tief ge-senkten Augenlider hervortrat.

»Es wäre möglich, Sire,« sagte der Herzog, »es kämeauf den Versuch an.«

»Wohlan,« rief der Kaiser, »so machen wir diesen Ver-such, bieten Sie, Herr Herzog, sobald Sie zurückkom-men, Österreich die financielle und militairische Unter-stützung an, ich werde meinerseits durch das Kriegs-ministerium alle Vorbereitungen zur militairischen Ac-tion und zur Concentrirung der Armeen an den Gren-zen treffen lassen, damit man in Berlin sich nicht dem

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Gedanken an eine unbedingte Nachgiebigkeit unse-rerseits hingeben könne, und während dies Alles ge-schieht, führen Sie die diplomatischen Verhandlungenmit Festigkeit und im Sinne Ihres französischen Ge-fühls, mein lieber Marquis. – Sie haben mich vollkom-men verstanden, lieber Herzog,« sagte der Kaiser, sichzum Herzog von Gramont wendend, indem ein schar-fer Blick eine Secunde lang aus seinem Auge hervor-brach.

»Vollkommen, Sire,« erwiederte der Herzog sich ver-neigend.

Der Marquis schwieg.»Wir haben die Conferenz angenommen,« sagte der

Kaiser, »und müssen auf derselben Alles vermeiden,was wie eine Provocation aussieht und den MachtenGelegenheit geben könnte, uns eine Störung des Frie-dens vorzuwerfen. Ich bitte Sie, lieber Marquis, in dendiplomatischen Besprechungen durchaus die Frage derErwerbung Luxemburgs für Frankreich bei Seite zu las-sen, dagegen lebhaft und bestimmt zu betonen, daßdieser unseren Grenzen so drohend nahe Platz unmög-lich in den Händen eines Deutschlands bleiben kön-ne, das nicht mehr das ruhige, inoffensive Deutschlandvon 1815 sei. – Lassen Sie deutlich fühlen, daß überdiesen Punkt hinaus wir nicht zurückgehen würden,und instruiren Sie unsere Diplomaten in gleichem Sin-ne.«

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»Zu Befehl, Sire,« sagte der Marquis mit einer lei-sen Nüance von Unzufriedenheit auf seinem vorneh-men bleichen Gesicht.

»Sie sind nicht ganz zufrieden, mein lieber Minister,«sagte der Kaiser lächelnd, »aber lassen Sie mir meineVorsicht, wir haben zu viel zu wagen, um nicht mit äu-ßerster Klugheit zu Werke zu gehen, die Hauptsacheist, daß das Ziel endlich erreicht wird.«

Der Marquis verneigte sich.»Sire,« sagte er dann, dem Kaiser ein Papier über-

reichend, »erlauben Ew. Majestät mir, Sie auf diesenBericht aus St. Petersburg aufmerksam zu machen; dieEröffnungen, welche ich auf Ew. Majestät Befehl überdie Abtrennung von Kandia, Thessalien und Epirus vonder Türkei und über die Vereinigung dieser Länder mitGriechenland habe machen lassen, sind auf das freund-lichste aufgenommen worden, und das russische Ca-binet hat den Wunsch ausgedrückt, daß Ew. MajestätIhre so entgegenkommenden Intentionen durch eineAnregung der Frage in Constantinopel der Ausführungentgegenführen möchten.«

Der Kaiser sann nach.»Das wäre ein sehr schneller Schritt,« sagte er, »wür-

den wir dabei auf Österreich rechnen können?« fragteer zum Herzog von Gramont gewendet.

»Es ist mir lieb, Sire,« sagte dieser, »daß ich hierdie Gelegenheit finde, über diesen Gegenstand zu spre-chen, über welchen ich mich noch am Tage vor meiner

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Abreise mit Herrn von Beust unterhalten habe. Ich fandihn sehr unangenehm berührt durch die Mittheilung,welche ich ihm über Ew. Majestät Gedanken machte, ererklärte, daß er durch seine Vorschläge über die Aus-führung des Hat Humaym die fortwährend gährendeGefahr der orientalischen Frage habe beruhigen wol-len, daß aber so weitgehende und so tiefgreifende Ver-änderungen der Verhältnisse im Orient gerade geeig-net seien, diese für Österreich so gefährliche Frage zueinem acuten Ausbruch zu treiben.«

Der Kaiser drehte langsam den Schnurrbart, wie un-willkürlich spielte ein feines Lächeln um seine Lippen.

»Zugleich,« fuhr der Herzog fort, »machte mich Herrvon Beust darauf aufmerksam, daß der Fürst Micha-el von Serbien, der sich einen Augenblick zu einerEinschränkung seiner Forderungen bereit gezeigt ha-be, sich plötzlich wieder zu sehr weitgehenden An-sprüchen erhebe und sich mit dem Abzüge der türki-schen Besatzungen aus den serbischen Festungen nichtmehr begnügen wolle, sondern die volle Unabhängig-keit Serbiens und dazu noch Bosnien, Montenegro unddie Herzegowina verlange. Herr von Beust sprach diebestimmte Vermuthung aus, daß der Fürst zu einemsolchen weitgehenden Verlangen von Rußland ermun-tert sei, und deutete zugleich an, daß er die von Ew.Majestät kundgegebenen, für das russische Cabinet so

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günstigen Intentionen als die eigentliche und letzte Ur-sache dieser erneuten und lebhaften Bewegung im Ori-ent betrachten zu müssen glaube.«

Abermals flog jenes seine eigenthümliche Lächelnschnell über das Gesicht des Kaisers.

»Und was war die Ansicht des Herrn von Beust überdiese Lage der Dinge?« fragte er.

»Herr von Beust,« erwiederte der Herzog, »sprachsich mit einer ihm sonst nicht in solchem Grade ei-genen Energie gegen alle diese Pläne aus, er erklärtesehr bestimmt, daß Österreich die Bildung eines groß-serbischen Reiches an seiner Grenze unter keiner Be-dingung dulden könne, daß es ihm als eine Lebens-frage gelten müsse, jeden derartigen Versuch mit allenMitteln zu bekämpfen, daß er aber auch in die gänzli-che Abtrennung Thessaliens und Epirus’ von der Türkeinicht willigen könne, weil er darin den ersten Schrittzur völligen Zerstückelung des türkischen Reiches er-blicken müsse. Herr von Beust fügte hinzu,« fuhr derHerzog fort, »daß, so lange solche die Ruhe des Ori-ents bedrohenden Absichten beständen, Österreich ge-zwungen sei, an der serbischen Grenze militairischeVorsichtsmaßregeln zu treffen, er bat mich zugleich,Ew. Majestät die dringendsten Vorstellungen über dieGefahren einer Erweckung der orientalischen Frage indiesem Augenblick zu machen und Ew. Majestät zu be-schwören, Österreich nicht in so schwere und unbere-chenbare Verwicklungen zu stürzen.«

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»Herr von Beust denkt also nicht an die Aufrichtungeiner östlichen Coalition im Sinne der alten heiligenAllianz?« fragte der Kaiser rasch, wie unwillkürlich sei-nen inneren Gedanken aussprechend.

Der Herzog sah ihn erstaunt an.»Ich habe nie Veranlassung gehabt, einen solchen

Gedanken zu fassen,« sagte der Herzog, »wie kommenEw. Majestät darauf?«

»Es schien mir einen Augenblick so etwas in der Luftzu liegen, Sie schrieben mir von gewissen Sondirun-gen durch einen Herrn von der Recke, auch der GrafTauffkirchen –«

»Ich glaube nicht,« sagte der Herzog, »daß dieseSondirungen in Österreich irgendwelche ernste Folgegehabt haben, Herr von Beust hat vielleicht in seinerVorliebe, Alles zu hören – und über Alles ein Wenig zusprechen, Gedanken erweckt, denen er wohl kaum dieAbsicht haben kann, Folge zu geben.«

»Um so besser,« sagte Napoleon, »nun,« fuhr er fort,»Frankreich hat, wie ich glaube, keinen Grund, sich al-lein in diese orientalische Frage hinein zu engagiren.«

»Gewiß nicht,« sagte der Marquis de Moustier.»Lassen wir also unsere Ideen fallen,« fuhr der Kaiser

fort, »oder beschränken wir sie ein Wenig, die Vereini-gung Kandias mit Griechenland würde ja schon die fla-grantesten Beschwerden der christlichen Bevölkerungheben, würde Österreich so weit mit uns gehen?« frag-te er den Herzog.

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»Vielleicht, Sire,« erwiederte dieser, »was Österreicham nächsten und unmittelbarsten berührt – und be-ängstigt, ist die serbische Frage. Herr von Beust hofftübrigens dort beruhigend einwirken zu können. Er hatden Grafen Edmund Zichy, der seit lange mit dem Für-sten Michael persönlich befreundet ist, nach Belgradgeschickt, um dem Fürsten Vorstellungen zu machen,und er hofft auf deren Erfolg, wenn die russischen Ab-sichten nicht zu sehr durch Ew. Majestät unterstütztwerden.«

»Also,« sagte der Kaiser, »beschränken wir unsereProposition auf die Abtretung Kandias an Griechen-land. – Sie werden, mein lieber Herzog, in Wien dieseModification meiner Anschauungen als einen besonde-ren Beweis meiner Rücksicht auf Österreich hervorhe-ben und betonen, daß es mir vor allem daran liege,auch in dieser Frage die Interessen Österreichs zu denmeinigen zu machen. – In Petersburg,« sagte er, sichan den Marquis de Moustier wendend, »muß man daslebhafte Bedauern ausdrücken, daß unsere ersten In-tentionen in Wien auf so entschiedenen Widerstandgestoßen seien. Lassen Sie dabei hervorheben, daßbei der muthmaßlich feindlichen Haltung Englands dieMitwirkung Österreichs bei jedem Schritt im Orientnothwendig und es daher nicht rathsam sei, weiterzu-gehen, als man es in voller Gemeinsamkeit mit Öster-reich thun könne. Wenn Österreich aber zustimme, sosei ich bereit, mit dem Wiener Cabinet und Rußland

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gemeinschaftlich die Abtretung Kandias in Constanti-nopel zu beantragen.«

»Ich glaube nicht, daß England irgend einer Verän-derung des status quo im Orient zustimmen wird,« sag-te der Marquis. »Nach Äußerungen, welche mir LordCowley gestern machte, scheint man dort mit beson-ders aufmerksamen Augen auf den Orient zu blicken.«

Des Kaisers Auge blitzte einen Augenblick forschendzu dem Minister hinüber.

»Und haben Sie Lord Cowley von den Ideen gespro-chen, welche wir hier discutirt und in St. Petersburgangedeutet haben?« fragte er.

»Ich hatte keinen Grund dazu,« erwiederte der Mar-quis, »es ist diesen Ideen ja noch nach keiner Richtungeine officielle Folge gegeben, ich habe mich in großerReserve gehalten.«

»Wohlan,« rief der Kaiser aufstehend, »wir haben al-so die Grundzüge für die nächste Behandlung der we-sentlichen Fragen festgestellt, ich freue mich,« sagteer mit verbindlichem Lächeln, »daß wir Ihre Ansichtund Ihren Rath, Herr Herzog von Gramont, dabei ha-ben hören und in Betracht ziehen können, Sie werdensich mit dem Herrn Marquis über die Details der Aus-führung unserer Politik in Wien verständigen. Ich seheSie noch vor Ihrer Abreise.«

Und mit freundlicher Neigung des Hauptes grüßte erdie beiden Herren, welche das Cabinet verließen.

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Ein heiteres Lächeln umspielte die Lippen des Kai-sers, als er allein war. Behaglich lehnte er sich in sei-nen Lehnstuhl zurück, nahm aus einem kleinen EtuiSeidenpapier und türkischen Taback, bereitete sich mitgroßer Aufmerksamkeit eine Cigarette und zündete sievorsichtig an.

»Wenn man einen Fehler begangen hat,« sagte er,den Kopf mit halbgeschlossenen Augen an den Rückenseines Fauteuils lehnend und langsam die seinen, blau-en Ringe des aromatischen Rauches von sich blasend,»wenn man einen Fehler begangen hat, so ist es diegroße Aufgabe, ihn so zu verbessern, daß er sich zumNutzen wendet. – Nun,« fuhr er fort, »ich glaube, ichhabe diese Aufgabe einigermaßen gelöst. Die luxem-burgische Frage war ein Fehler, es war ein Fehler, die-sen preußischen Minister überrumpeln zu wollen, nun,sie wird gelöst werden in einer Weise, die sich alsein Sieg darstellen laßt – und das ist die Hauptsache,denn in Wahrheit bedeutet die Räumung der Festungnichts, darüber kann man sich nicht täuschen. – Dieseheißblütige Kriegspartei, deren Unterstützung ich imInnern bedarf, wird mich zu den Ihrigen zählen, in-dem sie glaubt, daß ich wider Willen nachgebe, undihr Zorn und ihre Erbitterung wird in steigender Pro-gression wachsen bis zu dem Augenblick, wo ich ih-rer bedarf, die Cabinette aber werden mir für meineMäßigung Dank wissen, welche den Frieden erhält.

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– Rußland bedarf ich nicht mehr,« fuhr er nach eini-gem Nachdenken fort, indem er aufstand und lang-sam auf und nieder ging, »doch aber ist es gut, daßman dort an meinen guten Willen glaubt und Öster-reich die Schuld giebt, wenn man im Orient keinenSchritt vorwärts kommt. – Nun,« sagte er lächelnd,»mag Herr von Beust Pläne haben, welche er will, erwird in Petersburg die Thüren verschlossen finden undÖsterreich wird die Wege gehen müssen, die ich ihmvorzeichne. Vor allem aber,« rief er tief aufathmend,»werde ich noch den Frieden behalten, jene äußer-ste Entschließung, jenes rohe Würfelspiel der Kanonenwird hinausgeschoben, und ich werde Frankreich dasgroße, berauschende Schauspiel der Souveraine undNationen Europas vorführen können, welche sich ummeinen Thron versammeln, um den Glanz von Paris,dieses farbenschimmernden Prismas der Welt, zu be-wundern.«

Er richtete sich stolz auf und ein Blitz jugendlichenFeuers leuchtete in seinem Auge auf.

Dann aber ließ er seufzend das Haupt sinken undflüsterte: »Mein schlimmster Feind ist in mir selber, dasAlter, das meine Kraft bricht, die Schmerzen, welchedie Spannkraft meiner Nerven zerstören, ich darf michnicht mehr dem Genuß des glänzenden Augenblickshingeben, ich muß arbeiten, arbeiten, daß mein Werknicht mit mir zerfalle, oh,« rief er tieftraurig, den Blickfragend emporrichtend, »werden die Sterne auch alt

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wie die Menschen, oder liegt es nur an dem getrübtenBlick meines alternden Auges, daß mir mein Stern, dereinst so hell über meinem Haupte leuchtete, jetzt sichin Nebel zu hüllen scheint?«

Er blieb still und nachdenkend stehen. »Das Alterbringt anderen die Ruhe,« seufzte er, »den Genuß derFrüchte ihrer Jugendarbeit, mir bringt jeder Tag neueKämpfe, während er mir die Kraft nimmt, sie zu füh-ren, und doch habe ich so tiefe Sehnsucht nach Ruhe!«

Der Kammerdiener trat ein und meldete: »Herr Con-ti.«

Leicht neigte der Kaiser das Haupt, und der Staats-rath Conti, Chef des kaiserlichen Cabinets, der Nach-folger jenes alten Vertrauten des Kaisers, Herrn Moc-quard, trat ein.

Die Erscheinung dieses Mannes trug den Stem-pel südlicher Abstammung. Sein intelligentes, fei-nes Gesicht zeigte bei allem in seinen Zügen liegen-den Scharfsinn, bei aller beobachtenden Kälte in dendunklen Augen, bei aller listigen Klugheit in den Lini-en des Mundes einen gewissen Hauch von Schwärme-rei, von fatalistischem Glauben. Herr Conti hatte fastdie Schärfe des Verstandes seines Vorgängers, fast sei-ne divinatorische Geschicklichkeit, die wahren Trieb-federn in den menschlichen Charakteren zu erkennenund in Thätigkeit zu setzen, fast seine gewandte Uner-schöpflichkeit im Auffinden von Auswegen aus verlege-ner Situation, nur in einem Punkte unterschied er sich

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wesentlich von jenem alten Freunde aus der Jugend-und Verschwörungszeit Napoleons III. – er glaubte andas Kaiserreich und seine Zukunft, ein Glaube, welcherHerrn Mocquard stets ferngelegen hatte, der bis zu sei-nem Tode gegen intime Vertraute oft seine Verwunde-rung ausgedrückt hatte, daß die Sache so lange daue-re. Und vielleicht hatte gerade der Mangel dieses Glau-bens ihm die Fähigkeit gegeben, durch seine Vorsicht,Unermüdlichkeit und seine stets guten Rathschläge sowesentlich zur Erstarkung und zur Dauer des Kaiser-reichs beizutragen.

»Sire,« sagte er, den Kaiser mit einer tiefen Verbeu-gung seiner geschmeidigen Gestalt begrüßend, »ich ha-be, wie Ew. Majestät befahlen, den Mr. Douglas herge-führt, von welchem der Fürst Metternich Ew. Majestätgesprochen, und von welchem Herr von Beust meint,daß man sich seiner bedienen könne, um die Stimmun-gen zu sondiren und gewisse Gedanken zu verbreiten,ohne sich zu engagiren und zu compromittiren.«

»Ah,« sagte der Kaiser, »dieser Engländer mit der fi-xen Idee, welche Art von Mensch ist es?«

»Ich habe wenig mit ihm gesprochen,« sagte HerrConti lächelnd, »kann also nur über den äußeren Men-schen urtheilen – und der,« fügte er achselzuckend hin-zu, »ist von einer niederschmetternden Häßlichkeit.«

»Um so besser,« sagte der Kaiser, »die häßlichenMenschen verfolgen ihre Ideen mit großer Hartnäckig-keit, weil sie sich mehr in sich selbst zurückziehen und

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von der Außenwelt zurückgestoßen werden, ich willihn sogleich sehen. – Apropos, mein lieber Conti,« fuhrer fort, näher zu seinem Cabinetschef herantretend,»was macht die Arbeiterbewegung, die Internationale,ich habe seit einiger Zeit nichts davon gehört?«

»Die Organisation breitet sich immer mehr aus, Si-re,« erwiederte Conti, »die Arbeitersectionen gliedernsich eine an die andere, sie sind gebildet unter derFirma der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung, derKrankenkassen, ja selbst unter dem Vorwande der Her-stellung von Bibliotheken zur Belehrung und Fortbil-dung, und alle diese Sectionen gipfeln in einer Art voninternationalem Großmeisterthum. – Aber es ist keineSection in Frankreich, in welcher nicht einer unsererAgenten als Mitglied sich befindet. – Ich habe Ew. Ma-jestät früher eine Übersicht darüber gegeben, seitdemhat die Organisation der Sache und,« fügte er lächelndhinzu, »unseres Einflusses auf dieselbe Fortschritte ge-macht, ich behalte mir vor, Sire, Ihnen genaue Listendarüber vorzulegen. Wir lenken die Feinde aller höhe-ren Klassen an unsichtbaren Fäden und können dieseletzteren jederzeit durch einen nützlichen und wohlt-hätigen Schrecken beherrschen.«

»Vortrefflich, vortrefflich, mein lieber Conti,« sagteder Kaiser, sich leicht die Hände reibend, »ich freuemich, daß Sie in diesem Punkt so vollkommen mei-ne Gedanken verstehen, die Furcht vor der Revoluti-on muß die europäischen Cabinette sowie Frankreich

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jeden Tag von Neuem von der Nothwendigkeit über-zeugen, daß das Kaiserreich erhalten werde, welchesallein im Stande ist, die drohende Gefahr zu beschwö-ren.«

Er blickte vor sich nieder und indem seine Zügeeinen ernsten Ausdruck annahmen, fuhr er fort:

»Es ist das im Grunde kein macchiavellistischesSpiel, sondern wirklich ehrliche und wahre Politik,denn nur indem ich diese furchtbaren, von untenherauf gährenden Elemente selbst in meine leitendeHand nehme, kann ich die Gesellschaftsordnung er-halten und diese Revolution des vierten Standes, wel-che sich langsam vollzieht, vor den entsetzlichen Aus-brüchen bewahren, welche die Revolution des drit-ten Standes begleiteten, die man in thörichter Ver-blendung sich selbst überließ. Nur durch ein vorsich-tiges Erfassen und Überwachen dieser Bewegung kannman die berechtigten Forderungen, welche in ihr lie-gen, zur Geltung bringen und zugleich den bedrohtenKlassen heilsame Winke geben, um sie zu verhindern,daß sie nicht an dem Umsturz aller Ordnung und Au-torität mitarbeiten. – Doch, mein lieber Conti,« fuhrer nach einem kurzen Stillschweigen fort, »es ist mirwünschenswerth, daß meine gute Bourgoisie von Parissich nicht zu viel mit der auswärtigen Politik beschäf-tige und in die richtige Stimmung gebracht werde, umdie Lösung der schwebenden luxemburgischen Frage,wie sie wahrscheinlich nach der Lage bei Verhältnisse

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nothwendig werden wird, so zu acceptiren, wie ich eswünsche. Die Presse wird das Ihrige thun, indes wärees immerhin gut, wenn die Dankbarkeit gegen das Kai-serreich, welches die Ordnung schützt und erhält, einWenig aufgefrischt würde. Könnte man,« sagte er mitfeinem Lächeln, indem er langsam über seinen Kne-belbart strich und aus dem Winkel seines Auges einenschnellen Blick auf seinen Cabinetschef warf, »könnteman das rothe Gespenst einen Gang über die Bühnemachen lassen? – aber leise auftretend und in nicht zuerschreckender Gestalt, um die Fremden nicht abzu-halten und die Ausstellung nicht zu stören, vor allemmuß es das Stichwort genau kennen, auf welches hines in der Versenkung zu verschwinden hat.«

»Ich habe schon daran gedacht, Sire,« erwiederteHerr Conti, »Ew. Majestät wissen, wie sehr ich vonder Zweckmäßigkeit des Systems durchdrungen bin,die Pariser in Augenblicken, wo die auswärtige Politikvielleicht eine übelwollende Critik hervorrufen könn-te, rechtzeitig an ihre eigenen Angelegenheiten zu er-innern, ihnen in’s Gedächtniß zu rufen, wie sehr siedes Schutzes einer starken Regierung bedürfen. – Ichglaube,« fuhr er fort, »das Geeignete wird sich sehrleicht machen lassen, es werden während der Ausstel-lung vor allen anderen die Schneider ein großes Ge-schäft machen, denn alle Fremden, die hierher kom-men, werden einen Pariser Anzug mitnehmen wollen,es ist bereits eine Verstimmung unter den Gesellen und

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Arbeitern vorhanden, daß dieser Gewinn den Meisternund Magazinen allein zufallen soll, ein klein WenigNachhilfe und Direction, und eine Arbeitseinstellungder Schneider wird da sein.«

Napoleon lachte laut.»Das ist vortrefflich – ganz vortrefflich,« rief er, »Pa-

ris in der Gefahr, sich nicht mehr ankleiden zu können,welch ein Gegenstand für die Presse, die Cafés, dieFeuilletons, man wird von nichts Anderem sprechen!«

»Die Sache müßte gerade in dem Moment eklati-ren,« bemerkte Herr Conti, »in welchem diese luxem-burgische Frage beendet wird, und Niemand wird vondieser sprechen, die Frage der Gilets und Pantalonswird Alles andere absorbiren.«

»Aber man wird doch die Sache vollständig in derHand behalten?« fragte der Kaiser, ein Wenig bedenk-lich.

»Vollständig, Sire,« erwiederte Herr Conti, »Ew. Ma-jestät werden sie dauern lassen, so lange Sie wol-len, dann wird die Regierung interveniren, die Mei-ster werden eine Lohnerhöhung bewilligen, die Arbei-ter werden zufrieden sein, daß sie dieselbe erhalten,die Meister, daß sie nicht mehr geben müssen, Pariswird glücklich sein, sich von der Gefahr befreit zu se-hen, im Costüme der Wahrheit zu erscheinen, alle Weltwird Ew. Majestät dankbar sein, und – die Fremdenwerden Alles bezahlen! – Hinterher aber wird Luxem-burg und die ganze auswärtige Politik längst von der

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Tagesordnung verschwunden und völlig aus der Modesein.«

»Nun denn,« sagte der Kaiser noch immer lächelnd,»arrangiren Sie mir diese ›Frage der Schneider‹, die Fä-den aller dieser Arbeiterbewegungen laufen doch nochimmer im Palais Royal zusammen?« fragte er dann miternstem Tone.

»Gewiß, Sire!« sagte Herr Conti.»Es ist aber doch dafür gesorgt,« sagte der Kaiser,

»daß die Fäden, welche dorthin gehen, nicht die ei-gentlich leitenden sind, und daß mein theurer Vetter,indem er seine Mußestunden mit kleinen conspirato-rischen Unterhaltungen ausfüllt, nicht im Stande sei,irgend wirklich Unheil anzurichten?«

»Ew. Majestät können vollständig außer Sorge sein,«erwiederte Herr Conti, »die Lunte, welche im PalaisRoyal liegt, führt zu keinem Pulvermagazin.«

»Nun wohl,« sagte der Kaiser, »so bereiten Sie dasvor, aber nicht zu früh, die luxemburgische Conferenzmuß erst an dem entsprechenden Punkte ihrer Arbei-ten angekommen sein. – Auf Wiedersehen, mein lieberConti,« fuhr er mit freundlichem Lächeln fort, indem erseinem Cabinetschef die Hand reichte, »lassen Sie densonderbaren Engländer eintreten.«

Herr Conti entfernte sich, und unmittelbar darauföffnete der Kammerdiener die Thür für Mr. Douglas.

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Dieser trat in das Cabinet des Kaisers in derselbengeraden, selbstbewußten Haltung, in welcher er vordem Herrn von Beust gestanden hatte.

Er näherte sich dem Kaiser bis auf einige Schritte,neigte den Kopf und blieb dann stehen, den doppeltgetheilten Blick seiner Augen gerade vor sich hin ge-richtet.

Napoleon blickte einen Augenblick ganz erstaunt indieses so eigenthümliche Gesicht, welches mit der Un-beweglichkeit einer Maske sich ihm gegenüber befand.

Dann setzte er sich, deutete artig auf einen Sesselgegenüber und sprach, indem ein leichtes, kaum merk-bares Lächeln um seine Lippen spielte:

»Ich bin mit Vergnügen bereit gewesen, Sie zu emp-fangen, mein Herr, da der Fürst Metternich mir viel vonIhren eigenthümlichen und neuen Anschauungen überdie Lage Europas erzählt hat.«

»Ich bitte Ew. Majestät, mir zu erlauben,« sagte Mr.Douglas, »daß ich in meiner Muttersprache rede, ichweiß, sie ist Ew. Majestät geläufig – und ich bin desFranzösischen nicht genug mächtig, um meine Ideenzu entwickeln.«

»Es macht mir immer Freude,« sagte der Kaiser infließendem Englisch, »mich in der Sprache Ihres Vater-landes zu unterhalten, dessen edle und großmüthigeGastfreundschaft ich so lange genossen habe.«

»Ich bin von England aufgebrochen,« sagte Mr. Dou-glas, den Blick starr auf den Kaiser gerichtet, mit lauter

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Stimme und monoton pathetischem Ausdruck, »weildie Ereignisse, welche sich vollzogen haben und wel-che die Ordnung in Europa verwirren, zugleich demChristenthum den Untergang bereiten, wenn sich die-jenigen Mächte nicht vereinigen, welche berufen sind,das christliche Princip zu vertreten und zu verteidi-gen.«

Der Kaiser sah ihn schweigend und erwartungsvollan, er schien nicht recht zu wissen, was er mit diesemEingang machen sollte.

»Diese Mächte sind,« fuhr Mr. Douglas fort, »Eng-land, welches die positive evangelisch-protestantischeKirche vertritt, Frankreich und Österreich, die Schutz-mächte der katholischen Kirche, und Rußland in derVertretung des griechischen Christenthums. Alle dieseMächte,« sagte er, die drei Finger der rechten Hand er-hebend, »haben das dringende Interesse, sich zu ver-binden, um diese preußische Macht zu brechen, wel-che Deutschland unterwerfen will, diese preußischeMacht, welche den negativen, critisirenden Protestan-tismus vertritt, dessen Sieg das Ende des Christent-hums sein wird.«

Napoleon drehte langsam seinen Schnurrbart.»Alle diese Mächte haben ihre Aufgabe nicht er-

kannt,« fuhr Mr. Douglas fort, »sie stehen erstaunt undunthätig den vollzogenen Ereignissen gegenüber undwagen es nicht zu handeln, obgleich sie doch stark ge-nug wären, ihren Willen zur Ausführung zu bringen.

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England, geleitet von einer schwachen Regierung, wel-che unter der Herrschaft einer Partei steht, die in ro-hem Materialismus den Frieden um jeden Preis erhal-ten will, wagt sich nicht zu rühren und hüllt seine un-würdige Unthätigkeit in das Princip der Nichtinterven-tion, Frankreich – Ew. Majestät hat den großen Fehlergemacht, Italien zu unterstützen und in Deutschlandnicht zu interveniren.«

Das Auge des Kaisers hüllte sich in undurchsichtigenSchleier, kein Muskel seines Gesichts bewegte sich, undmit der Hand seinen Bart streichend, verdeckte er einunwillkürliches Zucken seiner Lippen.

»Rußland,« fuhr Mr. Douglas immer in demselbenTone fort, »verblendet durch die Hoffnung, im Orientvorzuschreiten, erzürnt über die frühere Undankbar-keit Österreichs, begeht den großen Fehler, Preußen zuunterstützen, indem es ihm den Rücken deckt. – Öster-reich allein kann jetzt nichts thun, nachdem es denFehler gemacht hat, im vorigen Jahre den Kampf ohneAlliirten aufzunehmen. Herr von Beust ist indes voll-kommen durchdrungen von der Nothwendigkeit ge-meinsamen Handelns, um das Geschehene wieder gutzu machen, und ich bin fest überzeugt, daß Ew. Ma-jestät ebenfalls jetzt klar erkennen, welche GefahrenFrankreich aus den Ereignissen des letzten Jahres er-wachsen, welche Sie nie hätten sich vollziehen lassensollen.«

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Er hielt einen Augenblick inne, wie eine Antwort er-wartend, indem der doppelte Blick seiner Augen sichstarr auf den Kaiser richtete.

Dieser sah unbeweglich, sein undurchdringlichesAuge erwiederte müde und ausdruckslos den forschen-den Blick des Engländers.

»Um nun ein gemeinsames Handeln Frankreichs undÖsterreichs zu ermöglichen,« fuhr dieser nach einigenAugenblicken fort, »ist die erste Bedingung, Englandaus seiner Lethargie aufzurütteln und – Rußland vonPreußen zu trennen.«

»Und Sie glauben, daß diese Bedingung erfüllbarist?« fragte der Kaiser in ruhigem Tone.

»Ich bin davon überzeugt,« erwiederte Mr. Douglas,»und um sie zu erfüllen, bin ich entschlossen, Alles zuthun, was in meinen Kräften steht. Ich habe,« fuhr Mr.Douglas fort, »nach beiden Richtungen zum Ausgangs-punkt meiner Bemühungen den König von Hannovergewählt, welcher in seiner Person die englische Natio-nalität und das legitime Recht vereinigt, diese beidenPrincipien, durch welche man das Volk und die öffent-liche Meinung in England – und das kaiserliche Cabi-net von St. Petersburg bewegen kann. – Es sind vielein England,« fuhr er fort, »welche empört sind, daßdie Regierung so stillschweigend und gleichgültig dieEntthronung eines englischen Prinzen angesehen hat,wenn alle diese Elemente vereinigt werden, wenn in

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richtiger Weise durch die Presse, vielleicht von der Tri-büne herab auf die öffentliche Meinung in England ge-wirkt wird, wenn vor allem der König selbst dorthinkäme, so –«

»Sie glauben, daß der König Georg Sympathieen, dasheißt thätige Sympathieen, mehr als bloßes Bedauern,dort erregen würde?« fragte der Kaiser ein Wenig auf-merksamer.

»Ich bin davon überzeugt,« sagte Mr. Douglas.»Doch,« fragte der Kaiser, den Kopf leicht auf die Sei-

te neigend. – »Sie sprachen von Rußland –«»Dies ist die größte Aufgabe Ew. Majestät,« sagte Mr.

Douglas, »in meinem Plan – Rußland von Preußen zutrennen, und,« fuhr er fort, »ich bin überzeugt, daß ichsie lösen werde.«

»Ah!« rief der Kaiser unwillkürlich.»Ja, Ew. Majestät,« sagte Mr. Douglas, die Hand er-

hebend, »ich werde in Rußland die Gefahren zeigen,welche die deutsche Bewegung dem russischen Reichspäter bringen muß, die Gefahren, welche sie dem le-gitimen Recht schon gebracht hat, ich werde zeigen,«fuhr er lebhafter fort, »daß Rußland Preußens nicht be-darf, wenn es sich mit Österreich über die Frage derDonauländer und mit England über den Handel desschwarzen Meeres verständigt.«

Eine urplötzliche Bewegung zuckte über die Ge-sichtszüge des Kaisers, ebenso schnell aber nahmen

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dieselben wieder ihre frühere Ruhe an und noch tiefersenkten sich die Lider auf seine Augen herab.

»Ich weiß,« fuhr Mr. Douglas fort, »es giebt viele, diediesem Gedanken in St. Petersburg zugänglich sind,und auch hier wird mir die Sache des Königs von Han-nover als Einführung dienen, der Kaiser selbst ist inseinem inneren Gefühl unangenehm berührt durch dieEntthronung des Königs, mehr noch der Hof des Groß-fürsten Konstantin, und der Großfürst-Thronfolger er-blickt in dem preußischen Deutschland große Gefah-ren für Rußland.«

»Ist man in Wien davon unterrichtet?« fragte der Kai-ser leichthin.

»Es war in Wien,« sagte Mr. Douglas, »wo ich daraufbesonders aufmerksam gemacht bin.«

»Und Herr von Beust theilt Ihre Anschauungen?«fragte der Kaiser.

»Er hat mir alle Unterstützung versprochen und derösterreichische Vertreter wird mich dort – neben denEmpfehlungen des Königs von Hannover einführen.«

Der Kaiser schwieg.»Ich bitte nun Ew. Majestät,« sagte Mr. Douglas,

»auch um Ihre Unterstützung und um eine Empfehlungan Ihren Gesandten, in der Hoffnung, daß Sie meineAnsichten richtig finden, und meine Bemühungen zuihrer Durchführung fördern wollen.«

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»Es ist mir sehr interessant gewesen,« sagte der Kai-ser verbindlich, »Ihre weiten und durchdachten An-schauungen über die europäische Politik gehört zu ha-ben,« er drehte leicht die Spitze seines Schnurrbarts,»ich werde mit nicht geringem Interesse vernehmen,welche Aufnahme dieselben in St. Petersburg findenwerden, mein Gesandter wird Sie gewiß freundlichempfangen, allein, Sie begreifen, schon der Nationa-lität wegen – kann eine eigentliche Einführung durchihn nicht stattfinden.«

»Es ist auch nicht die formelle Einführung, die ichwünsche,« sagte Mr. Douglas, »wenn ich nur die Ge-wißheit habe und dort aussprechen kann, daß Ew. Ma-jestät meine Auffassungen und Bestrebungen theilen.«

»Herr von Beust,« antwortete der Kaiser, »wird wis-sen, wie große Sympathie ich für Österreich hege undwie sehr ich von dem Wunsche durchdrungen bin, mitdem wiener Cabinet im Einverständniß zu handeln, al-le Ansichten, die er zu den seinigen macht, haben des-halb für mich die größte Bedeutung.«

»Aber –« sagte Mr. Douglas.»Doch,« sprach der Kaiser rasch mit dem Ausdruck

verbindlicher Aufmerksamkeit, »Sie sprachen von ei-nem Einfluß auf die englische Presse zugunsten Ihrer

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Ideen – und der Sache des Königs von Hannover. Ha-ben Sie die Fäden bereits angeknüpft, um einen sol-chen Einfluß zu begründen? – ich kenne England ge-nau und weiß vollkommen die Macht zu schätzen, wel-che die englische Presse dort über das Volk und die Re-gierung ausübt.«

»Ich werde die mir gleichgesinnten englischen Geist-lichen zu vereinigen suchen,« sagte Mr. Douglas, »siewerden ihren bedeutenden Einfluß auf unsere Aristo-kratie, welche große Theilnahme für den König vonHannover hat, anwenden und ich bin gewiß, daß sieeine sehr wirksame Propaganda für meine Ideen ma-chen werden – bis zur Königin hinauf.«

Abermals zuckten die Lippen des Kaisers in unwill-kürlichem Lächeln, er beugte den Kopf herab und fuhrmit der Hand über den Bart.

Dann erhob er sich und sagte im artigsten Tone:»Ich danke Ihnen, daß Sie die Freundlichkeit gehabt,

hierher zu kommen und mir Ihre Ideen mitzutheilen,einem so überzeugungsvollen Eifer muß man den be-sten Erfolg wünschen, und ich kann nur wiederholen,daß es mich sehr interessiren wird, zu erfahren, welcheAufnahme Ihre Gedanken in England und Rußland fin-den werden.«

Mr. Douglas, der sich ebenfalls erhoben hatte, öffne-te den Mund mit einem Ausdruck, als sei er mit derBeendigung der Unterredung noch nicht ganz einver-standen.

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»Sie gehen von hier nach St. Petersburg?« fragte derKaiser immer in demselben verbindlichen Tone.

»Ich habe es so mit Herrn von Beust verabredet,« er-wiederte Herr Douglas, »ich will sogleich nach meinerRückkehr nach Wien dorthin gehen, wenn meine An-sichten bei Ew. Majestät –«

»Ich bitte Sie, wenn Sie nach Wien zurückkehren,Herrn von Beust meine Complimente zu machen,« sag-te der Kaiser, »und auch den König von Hannover mei-ner freundschaftlichsten Sympathie zu versichern, ichhabe diesen liebenswürdigen Fürsten in Baden-Badenkennen gelernt und beklage aufrichtig das unglückli-che Schicksal, das ihn betroffen hat. – Vor allem bitteich Sie nochmals, überzeugt zu sein, wie sehr es michfreut, Sie kennen gelernt zu haben, ich hoffe, Sie spä-ter noch wiederzusehen und weiter mit Ihnen über IhreIdeen zu sprechen.«

Und mit anmuthiger Höflichkeit neigte er das Haupt.Mr. Douglas, immer die weitgeöffneten Augen starr

auf den Kaiser gerichtet, zog sich langsam zur Thürzurück, verbeugte sich und verließ das Cabinet.

Der Kaiser blickte ihm eine Weile schweigend nach.»Was will Herr von Beust,« sagte er sinnend, »mit

diesem neuen Peter von Amiens, der den allgemeinenKreuzzug gegen Preußen predigt – und mit der Mieneeines Inquisitors meine Erklärung über sein originellesProgramm fordert, ist das ein ballon d’essai – oder einePropaganda für wirkliche Pläne? – Metternich hat mir

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so dringend empfohlen, diesen sonderbaren Engländerzu hören, es muß doch irgendetwas dahinter sein. –Ich glaube,« sagte er nach einigen Augenblicken nach-denklichem Sinnens, »ich habe sehr wohl gethan, dieseorientalische Frage ein Wenig auf die Spitze zu treiben,Herr von Beust wollte Rußland die Hand reichen, wiedieser politische Clergyman in seinem Eifer ausgeplau-dert, nun,« fügte er lächelnd hinzu, »daraus wird nunwohl nichts werden, und im Orient wird Alles beim Al-ten bleiben. – Jede auch nur provisorische Lösung je-ner Frage würde mir ein wirksames Mittel rauben, umdem Spiel meines Einflusses in London und St. Peters-burg Nachdruck zu geben.«

Er ging nachdenkend einigemale im Cabinet auf undnieder.

Der geheime Secretair Pietri trat durch die Portièreder innern Thüre.

Napoleon blieb stehen und nickte ihm freundlich zu.»Haben Ew. Majestät Zeit, einige Correspondenzen

zu erledigen?« fragte Pietri.Der Kaiser neigte zustimmend das Haupt.Pietri näherte sich dem Tische, seine Papiere in der

Hand.»Schreiben Sie eine vertrauliche Notiz an Baron Tal-

leyrand nach Petersburg,« sagte der Kaiser, »es wird einenglischer Geistlicher, Mr. Douglas, dorthin kommenund ihn aufsuchen, er möge ihn freundlich empfangen,

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aber äußerst vorsichtig in seinen Äußerungen sein undsich in Nichts engagiren.«

Pietri notirte den Namen mit seinem Crayon auf einBlatt Papier.

»Avisiren Sie zugleich,« fuhr der Kaiser fort, »unserngeheimen Agenten dort –«

»Madame de Ronqueur?« fragte Pietri.»Dieselbe,« sagte Napoleon. – »Sie ist sehr gewandt

und nützlich?« fragte er sich unterbrechend.»Ungemein gewandt, Sire,« sagte Pietri, »sie leistet

große Dienste und weiß jeden Schein einer politischenThätigkeit zu vermeiden –«

»Schreiben Sie ihr also: es läge mir sehr viel dar-an, genau zu wissen, was dieser Mr. Douglas dort thut,wen er sieht, wenn es möglich ist, – was er mit denpolitischen Persönlichkeiten spricht und wie weit erdurch die österreichische Vertretung soutenirt wird, ermuß sehr genau überwacht werden.«

»Zu Befehl, Sire,« sagte Herr Pietri.Der Kaiser trat einen Schritt näher zu ihm.»Haben Sie einen Weg in die englische Presse?« frag-

te er.»Gewiß, Sire,« erwiederte der geheime Secretair,

»Chronicle, – Herald –«»Ein Blatt, in welchem Niemand irgendwie einen

hiesigen Einfluß vermuthen könnte, wäre mir lieber,könnte nicht Daily News –?«

Pietri sann nach.

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»Auch das würde sich machen lassen,« sagte er, »esmüßte nur kein Gegenstand von specifisch französi-schem Interesse sein.«

»Nein, nein,« rief der Kaiser, »das ist es nicht. – Siewissen,« fuhr er fort, noch näher zu Herrn Pietri tre-tend und die Stimme ein Wenig dämpfend, »Sie wis-sen, daß ich in Petersburg ein Wenig weitgehende Ide-en habe aussprechen lassen – in Betreff des Orients, ichwünsche jetzt aber dieser Sache keine weitere Folge zugeben, ohne meinerseits officiell und spontan meineAnsichten zu modificiren, es wäre der Augenblick, daßEngland intervenirte und sich gegen jede Änderungdes status quo erhöbe, um jede weitere Erörterung die-ser bedenklichen Frage abzuschneiden und zugleichdem Petersburger Cabinet gegenüber die Gehässigkeitauf sich zu nehmen, von welcher Herr von Beust schoneinen Theil bereitwilligst übernommen hat,« fügte erlächelnd hinzu.

»Ich verstehe,« sagte Pietri, »eine kleine diplomati-sche Indiscretion –«

»Welche aber dem Anschein nach aus Wien kommenmüßte,« warf der Kaiser ein, »oder aus Berlin,« sag-te er nach einem augenblicklichen Nachdenken, denSchnurrbart drehend. »Dann einige Winke über die Ge-fahren, welche dem europäischen Frieden aus einemgegenwärtigen Antasten der orientalischen Frage er-wachsen könnten,« fuhr Pietri fort, »über die Aufgabe

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Englands, dem Vordringen Rußlands im Orient entge-genzutreten –«

Der Kaiser nickte mehrmals mit dem Kopf.»Die englische Presse wird Feuer fangen und die eng-

lische Diplomatie wird sofort ihre Schuldigkeit thun,«sagte Pietri.

»Schreiben Sie den Artikel und zeigen Sie ihn mirfranzösisch,« sprach der Kaiser, »Sie glauben ihn inDaily News erscheinen lassen zu können?«

»Einen solchen Artikel unbedenklich,« erwiedertePietri, »und ohne daß die Redacteure selbst ahnen sol-len, woher er kommt.«

»So lesen wir denn die Briefe,« sagte der Kaiser,»aber nur das Nothwendigste, ich möchte ein Wenigausfahren.«

Und er setzte sich an seinen Schreibtisch, währendPietri die Papiere auseinander breitete, welche er in derHand hielt.

NEUNZEHNTES CAPITEL.

Die Abendsonne sank auf das stille Dorf Blechow imhannoverischen Wendlande nieder, langsam zogen sichdie Bauern in die Häuser zurück, hie und da entzünde-te sich ein Licht im Innern und schimmerte in den im-mer tiefer herabbunkelnden Abend hinaus, mit seinemzitternden Strahl einzelne Gruppen von jungen Bur-schen und Mädchen beleuchtend, welche bald lachendund scherzend, bald leise flüsternd und kosend vor

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den Thüren der Häuser sich zusammengefunden hat-ten und diese Stunde des geselligen Beisammenseinsso lange als möglich ausdehnten. Dann folgten dieMädchen langsam und zögernd, mit leichtem Hände-druck Abschied nehmend oder kichernd und erröthendvor einem kecken Scherz flüchtend, den wiederholtenRufen, welche aus dem Innern der Häuser mahnendertönten – und bald lag Alles in tiefer Stille und Dun-kelheit, nur die allmählich überall erleuchteten Fensterund die hier und dort anschlagenden Hunde zeugtenvon dem Dasein der Bewohner in dem schweigendenDorfe.

Oben auf der Anhöhe zeichneten sich gegen denmehr erblassenden Abendhimmel die mächtigen Um-risse des Amtshauses mit seinen hohen Bäumen ab,aber in dem großen Gebäude, das sonst, als der Ober-amtmann von Wendenstein hier Haus hielt, in hellemLichtglanz strahlte, hatten sich nur wenige Fenster er-leuchtet, der neue preußische Verwalter des Amtes warohne Familie und wohnte allein mit seinem Diener indem weiten Hause, auf der andern Seite schimmerteein Licht von dem stillen Pfarrhause herab, dort obensaß der Pastor Berger in ruhigem Gespräch mit demCandidaten Behrmann. Wehmüthig folgten seine Ge-danken den feinen Freunden, mit denen er hier ei-ne lange Reihe froher und ernster Tage durchlebt hat-te, mit Trauer gedachte er der vergangenen, auf im-mer dahin geschwundenen Zeit, aber mit Dankbarkeit

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und stiller Freude dachte er auch daran, daß dieseneue Zeit, wenn sie ihm auch schmerzliche Trennungvon lieber Gewohnheit auferlegte, doch seinem KindeGlück und eine frohe, sonnige Zukunft gebracht habe.

Im Innern der Häuser erklangen auch fast an jedemHeerde in den Gesprächen der Familien die Erinnerun-gen an die Vergangenheit, mehr oder minder vermischtmit zornigen Ausbrüchen gegen die neuen Zustände,welche an die Stelle jener lieben Vergangenheit getre-ten waren und das, was früher alltäglich und selbst-verständlich gewesen war, nun in höherem, verklärtemReiz erscheinen ließen.

In dem großen, reichen Hause des BauermeisterDeyke war das Abendessen fast beendet.

Der alte Deyke saß an dem Ende des Tisches, dasBrod mit dem großen Messer vor sich, ihm zur Seiteseine junge Schwiegertochter Margarethe, welche seitden Weihnachtstagen als glückliche, junge Frau ein-gezogen war und mit ihren geschickten Händen demalten, wohlgeordneten Haushalt neues Leben eingeflö-ßt hatte. Sie trug die kleidsame Tracht der Bäuerinnendes Landes sauber und zierlich von feinerem Stoff ge-arbeitet und mit sicherer Gewandtheit versah sie ihrePflichten als Hausfrau, den Knechten und Mädchen diekräftigen Speisen zutheilend, strahlendes Glück leuch-tete aus ihren Augen, ihr Mann, der ihr gegenüber zurandern Seite des Vaters saß, folgte mit den entzück-ten Blicken seiner blauen, treuen Augen den anmuthig

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geschäftigen Bewegungen der jungen Frau, und diestrengen, scharfen Züge des Alten verklärten sich infreundlichem Schmunzeln, wenn seine Schwiegertoch-ter ihm mit sorgsamer Aufmerksamkeit die besten Bis-sen auswählte und auf den Teller legte. Wenn dann diejunge Frau den Blicken ihres Mannes oder seines Vatersbegegnete, dann überflog wohl eine flüchtige Röthe ih-re Wangen und in lieblicher Verschämtheit schlug siedie Augen nieder, befangen durch die noch neue Wür-de ihrer Stellung.

Der Alte warf einen scharfen Blick über die Tafel hin,als er sah, daß alle Teller geleert waren, erhob er sich,faltete die Hände, und nachdem alle seinem Beispielegefolgt waren, sprach er langsam mit ernstem, kräf-tigem Tone das alte, einfache Tischgebet des lutheri-schen Katechismus, alle sprachen, das Haupt neigend,das »Amen« mit, so war es unvordenkliche und unab-änderliche Sitte in dem alten Bauernhause.

Dann nahm die junge Hausfrau das Brod vom Tisch,das »liebe Brod«, dem man in den rechten, alten Bau-ernhäusern eine Art von religiöser Ehrfurcht zollt,als der unmittelbarsten und reinsten Gottesgabe, derFrucht bäuerlicher Arbeit, der Grundlage Alles bäuer-lichen Wohlstandes, sie trug es selbst an seinen Ort imgroßen Schranke, die Knechte entfernten sich mit ei-nem kurzen, ehrerbietigen »Gute Nacht« – und baldhatten die Mägde unter der Aufsicht Margarethens dasGeschirr und Tischtuch abgeräumt und fortgetragen.

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Der alte Deyke setzte sich in einen weiten, beque-men Lehnstuhl mit braunem Leder überzogen, seineSchwiegertochter stellte die Lampe mit der Glocke vonweißem Milchglas – eine städtische Neuerung, wel-che sie in das alte Bauernhaus gebracht hatte, welcheaber von dem Alten sehr wohlgefällig aufgenommenwar – auf den Tisch und reichte ihrem Schwiegerva-ter mit freundlichem Lächeln die gestopfte, halblangePfeife, zugleich mit einer kleinen Zange die rothglü-hende Kohle auf den Taback legend. Der alte Deykethat einige große Züge und blickte dann mit einemso milden Ausdruck, dessen man sein hartes, schar-fes Gesicht gar nicht für fähig gehalten hätte, auf dieanmuthige, junge Frau hin, welche zwei Gläser mitschäumendem Braunbier füllte und dann vor den Altenauf den Tisch die große Hausbibel in schwarzem Le-derband niederlegte, in welcher er des Abends, wenner nicht den Plaudereien seiner Kinder lächelnd zuhör-te, wohl ein oder das andere Capitel zu lesen pflegte.

Dann rückte sie einen Stuhl nahe zu ihrem Manne,welcher dem Vater gegenüber saß, und indem sie zumersten Male am Tage in dieser traulichen Abendstun-de die fleißigen Hände im Schooße ruhen ließ, lehntesie ihr Haupt leicht an die Schulter des kräftigen, jun-gen Bauern, der sanft und leise mit seiner starken, ar-beitsfesten Hand über ihr reiches, zierlich gescheiteltesHaar strich.

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»Bald ist’s ein Jahr,« sagte der alte Deyke sinnend,indem er einen langen Schluck aus seinem Glase thatund bedächtig die ringelnden Rauchwolken von sichblies, »bald ist’s ein Jahr, daß wir hier des braven Ober-amtmanns Geburtstag zum letztenmale feierten, dergute, vortreffliche Herr, er ahnte damals wohl nicht,was das Jahr bringen würde, ihm, dem König und demLande!«

Margarethe neigte das Haupt tiefer an die Brust desGatten, es bewegte sie stets schmerzlich, wenn diegroßen Ereignisse berührt wurden, welche ihr angebo-renes preußisches Vaterlandsgefühl in Conflict brach-ten mit den Empfindungen, welche sie bei all den bra-ven und treuen Menschen fand, die sie in ihrer neuenund lieben Heimath umgaben.

Fritz Deyke biß die Zähne zusammen, ein zornigerAusdruck flammte über sein Gesicht und mit gepreßterStimme sprach er:

»Ich muß nicht daran denken, was dies Jahr überuns gebracht hat, sonst erfaßt mich ein wüthenderGrimm, wenn ich an den König denke, der da fernin der Verbannung lebt, wenn ich an unsere Soldatendenke, die sich so tapfer geschlagen haben – überallund immer, bis zuletzt, und wenn ich dann die frem-den Uniformen sehen muß, da möchte man an der Ge-rechtigkeit Gottes verzweifeln!«

Ernst sprach der Alte: »Das muß man niemals, kön-nen wir die Wege des Herrn ermessen? – wohl blicke

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ich mit Schmerz in die Vergangenheit, in welcher meinaltes Leben fester gewurzelt ist, als das deine, meinSohn, aber ich vermesse mich nicht, Gott zu meisternin seinen großen Urtheilen über Fürsten und Völker.– ›Seid Unterthan der Obrigkeit, die über euch Gewalthat‹,« fuhr er nach einigen Augenblicken fort, »sagt un-ser würdiger Pastor Berger, der ja wahrlich die alteZeit in treuer Erinnerung trägt und von ganzem Her-zen unserem armen Könige ergeben ist, und wir ha-ben ja auch hier gewiß nicht über die neue Obrigkeit,der Gott die Gewalt gegeben, zu klagen, der Herr vonKlentzin, das muß man ihm lassen, ist ein tüchtiger, ge-rechter und wohlwollender Mann, wenn er auch nichtso versteht zum Herzen des hannoverischen Bauern zureden, wie der Oberamtmann, er meint es doch gut,und was mir am besten gefällt, er achtet unsere Liebeund Anhänglichkeit für das Alte –«

»Aber –« rief Fritz in unwilligem Tone.Schnell erhob Margarethe ihren Kopf von seiner

Schulter, ihr Auge blitzte und indem eine flüchtige Rö-the ihre Wangen überzog, sprach sie lebhaft:

»Es ist nicht recht von dir, zu murren über dasSchicksal, und du hast auch keinen Grund dazu, hatdas letzte Jahr, das so viel verändert in der Welt, unsnicht zusammengeführt, und hat uns und unseremHause der Segen Gottes gefehlt? – Was haben wir hin-auszusehen in die Welt, wenn Frieden und Glück inunserem Hause wohnt! – Laß den Streit der Könige, er

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liegt uns nicht so nahe, als unser Haus und Hof und– unsere Liebe, Gott ist Richter über sie, und ist einUnrecht geschehen, so wird er es zu finden und zu ver-gelten wissen! – Sieh,« sprach sie sanfter, »dort hängtdas Bild deines Königs, ich ehre es – und ich bete oftfür den armen Herrn, aus Liebe zu dir, ich habe nichtverlangt, auch das Bild meines Königs dort aufzuhän-gen, wie es mir Gewohnheit ist, seit ich denken kann,aber es thut mir weh im Herzen, wenn ich Zorn undHaß bei dir sehe, wenn ich sehe, daß du nicht darandenkst, daß – wir beide doch vor allem Eintracht, Ver-söhnung und Liebe in diese Zeit des Streites und derFeindschaft tragen sollten.«

Ihre klaren Augen schimmerten in feuchtem Glanzund eine Thräne rann langsam über ihre Wange herab.

Rasch reichte der junge Bauer ihr die Hand, zog siean sich und küßte ihre Augen. Er sagte nichts, aberder zornige Ausdruck verschwand von seinem Gesichtund mild und freundlich ruhte der warme Blick seinesblauen Auges auf ihrem erregten Gesicht.

»Margarethe hat Recht,« sagte der Alte, ernst zu denKindern hinüberblickend, »pflegen wir den Frieden desHauses, wenn da draußen die Stürme brausen, sorgenwir, daß auch unter der neuen Obrigkeit Recht und Ge-rechtigkeit im Lande walten, und danken wir Gott fürdas Gute, das er uns gab, hat er uns doch viel Segenin’s Haus geführt.«

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Sein Blick ruhte freundlich auf der jungen Frau,dann schlug er wie unwillkürlich die Bibel auf, dasgroße Buch öffnete sich an der Stelle der Psalmen, woder Alte so oft Trost und Erbauung gesucht hatte, lang-sam wendete er einige Blätter um, dann hielt er inne,sein Blick heftete sich auf eine Stelle des aufgeschlage-nen Buches und mit ruhiger, fester Stimme las er:

»Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürch-ten, daß in unserem Lande Ehre wohne; daß Güteund Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Frie-de sich küssen; daß Treue auf der Erde wachse undGerechtigkeit vom Himmel schaue; daß uns auch derHerr Gutes thue, damit unser Land sein Gewächs ge-be; daß Gerechtigkeit dennoch vor ihm bleibe und imSchwange gehe!«

Sanft drückte Fritz seine junge Frau an sich, dannerhob sich diese, eilte hinüber zu dem Alten, der lang-sam das Buch wieder geschlossen hatte, und küßte inlieblich, demüthiger Bewegung seine Hand, währender die andere liebevoll auf ihr Haupt legte.

Während so das Leben des Dorfes Blechow sich indas Innere der Häuser zurückzog und tiefe Stille sichauf den Straßen und weit umher auf den Feldern ver-breitete, erschien am Saume des dunkeln Föhrenwal-des, welcher sich ganz nahe an das Dorf heranzog, einReiter auf einem schlanken, schönen Pferde.

Langsam bog er sich vor und spähte rechts und linksam Walde hin und die Straße hinab.

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Als sich seinem Blick nichts zeigte, als die stillenBäume und der weiße Strich des zum Dorfe hinab-führenden Weges, da stieg er langsam ab, klopfte seinPferd auf den schlanken, schweißbebeckten Hals, führ-te es ein Wenig von der Straße in den Wald hinein undband es sorgfältig mit den Zügeln an einen Baum.

»Dank, mein tapferes Thier, sagte er, während dasPferd ihn erstaunt mit den großen, klugen Augen an-sah, »du sollst bald geholt werden und den Lohn fürdeine Mühe erhalten, wir haben einen schönen Rittgemacht, und einen guten Vorsprung gewonnen, frei-lich,« sagte er seufzend, »hilft das nicht viel in der heu-tigen Zeit der Telegraphen, nun immerhin vorwärts,hier bin ich auf bekannten Wegen.«

Er zog die Pistolen aus den Halftern und schritt lang-sam den Weg zum Dorfe hinab, von wundersam wech-selnden Gefühlen bewegt. Tiefe Wehmuth erfüllte ihn,wenn er der vergangenen Zeit gedachte, da er hier alsKnabe gespielt, da er von der Garnison her froh demelterlichen Hause zugeeilt war, das jetzt dort oben sofinster und schweigend da lag, während er flüchtig,verfolgt dieser Straße folgte, an welcher jeder Stein,jeder Strauch ihn heimisch begrüßte. Mit Schmerz undTrauer dachte er an das Glück, das er hier gefunden,dessen höchster Blüthenkranz ihm so nahe gewesenwar und von dem er nun so plötzlich fern hinaus indie unbekannte Zukunft geschleudert wurde, aber beidem allem schlug sein Herz doch mit einer gewissen

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freudigen Erregung unter dem Reiz dieser abenteuerli-chen Lage. Diese Flucht mit ihren Gefahren, das Lebenvoll bunten Wechsels, voll reicher Bewegung, dem erentgegenging, das Alles sprach zu seinem jungen, le-bensdurstigen Herzen mit geheimnißvollen Zaubertö-nen, welche um so tiefer in seiner Seele wiederklan-gen, da sie sich mit der wehmüthigen Erinnerung andie Vergangenheit vermischten.

Leichten Schrittes, die aus den Fenstern fallendenLichtstreifen sorgfältig vermeidend, schritt der jungeMann durch die Dorfstraße und erreichte, ohne je-mand zu begegnen, das Haus des alten Deyke. Er gingzur Seite nach dem erleuchteten Fenster hin, der Haus-hund sprang laut anschlagend gegen ihn an, erkann-te aber sogleich den früher oft gesehenen Freund desHauses und richtete sich freundlich wedelnd an ihmempor.

Der junge Mann näherte sein Gesicht den Scheibenund sah den alten Deyke mit der Bibel in der Hand,er sah Margarethe aufstehen und die Hand des Altenküssen, die Familie war allein, rasch eilte er zur Thür,öffnete dieselbe so geräuschlos als möglich und trat imnächsten Augenblick in das Wohnzimmer unter diesedrei braven und treuen Menschen, welche noch bewegtwaren von der vorhergegangenen Scene.

»Mein Gott, der Herr Lieutenant!« rief Fritz aufsprin-gend und eilte dem jungen Mann entgegen.

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Der alte Deyke richtete mit tiefem Erstaunen denKopf empor und erhob sich langsam, während Marga-rethe ihre Schürze glatt strich und in zögernder Verle-genheit ihrem Manne folgte.

Herr von Wendenstein drückte Fritz herzlich dieHand und trat dann zu dem Alten in den hellen Licht-kreis der Lampe.

»Willkommen, Herr Lieutenant,« rief dieser, kräf-tig die Hand des jungen Mannes schüttelnd, »herzlichwillkommen! was führt Sie hierher, zu so später Stun-de, wohin –«

»Aber um Gotteswillen,« rief Fritz, »wie sehen Sieaus, bestaubt, erschöpft, Pistolen in der Hand, wasgiebt es, was ist passirt –?«

»Ruhig, meine lieben Freunde,« sagte der Lieuten-ant, »ruhig, sprecht nicht so laut,« und mit einem ei-genthümlichen, halb heitern, halb wehmüthigen Lä-cheln setzte er hinzu: »ich bin auf der Flucht –«

»Auf der Flucht!?« rief Margarethe in angstvollemTone, wählend der alte Deyke und sein Sohn in stum-mem Erstaunen den jungen Mann ansahen, dessen au-ßergewöhnliche Lage und plötzliche Anwesenheit sienicht begreifen konnten.

»Ah,« sagte der Lieutenant, sich schnell zu der jun-gen Frau wendend, »da ist ja die liebe Margarethe, derich auch einen guten Theil meines Lebens danke, undhübscher als je in der neuen Würde als Hausfrau, mei-nen herzlichen Glückwunsch!«

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Er reichte der jungen Frau die Hand und sagte lä-chelnd zu Fritz hinüberblickend: »Dir vor allem mei-nen Glückwunsch, uns beiden hat der Krieg Glück ge-bracht, du hast das deine in Sicherheit, während ich–«

»Aber nun, ich bitte, Herr Lieutenant,« rief Fritz, »er-zählen Sie, was giebt es? – ist es Ernst oder Scherz –?«

»Es ist Ernst, wirklicher Ernst,« sagte der Lieuten-ant, »ich bin auf der Flucht und die ganze Polizei, alleGensd’armen sind wohl jetzt schon auf meiner Fährte!«

»Warum, mein Gott, was ist geschehen?«»Warum?« sagte Herr von Wendenstein, »ich weiß es

selbst kaum, was geschehen ist – das ist einfach, manhat mich arretirt, in das Polizeigefängniß in Hannovergesetzt, und ich bin geflohen, meine Rettung hängt da-von ab, daß ich so schnell als möglich Hamburg errei-che und dort auf ein Schiff gelange, bis hierher bin ichglücklich gekommen, jetzt mußt du mir weiter helfenund mir diesmal die Freiheit retten, wie du mir das Le-ben gerettet hast, ich werde niemals aus deine Schuldherauskommen. – Doch vor allem bitte ich die jungeFrau, mir etwas zu essen zu geben, denn ich verkom-me vor Hunger und Durst.«

Margarethe eilte hinaus.Der Lieutenant setzte sich an den Tisch.»Nun aber sagen Sie uns, was diese traurige Sache

bedeutet,« sprach der alte Deyke, ich habe wohl etwasgehört von Dingen, die im Werke sind, verzeihen Sie

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die Frage, Herr Lieutenant, sind Sie unvorsichtig gewe-sen und haben sich in Verschwörungen eingelassen?«

Mit fast väterlicher Theilnahme und sorgenvollerSpannung ruhte sein Blick auf dem jungen Mann.

»Nein, guter Deyke,« antwortete dieser, »ich binnicht unvorsichtig gewesen und habe mich auf Nichtseingelassen, wißt Ihr,« fuhr er fort, »es sieht nach Kriegaus in der Welt und bald vielleicht kann der Momentkommen, wo der König wieder in’s Feld zieht, um seinLand wieder zu erobern, da sind denn viele Officiereund Soldaten ausgezogen, um sich jenseits der Grenzezu vereinen und bereit zu halten; ich aber hatte michentschlossen, ruhig abzuwarten, ob wirklich der Kriegausbräche, wie mein Vater es rieth.«

»Er hat Recht gehabt wie immer, der Herr Oberamt-mann,« rief der alte Deyke, kräftig auf den Tisch schla-gend, »auch hier im Dorfe spukte so etwas herum –und mancher junge Bursche sind zu mir gekommenund haben mich um Rath gefragt, ich habe aber allengerathen, hier zu bleiben und zu warten –«

»Aber,« sagte Fritz, der mit lebhafter Spannung demLieutenant zugehört hatte, »früher, zur Franzosenzeit,da waren doch so viele junge Burschen ausgezogenund dienten in der deutschen Legion, Ihr habt unsselbst oft davon erzählt, Vater.«

»Das war etwas Anderes,« sagte der Alte ernst, »da-mals hatte der König sein englisches Land und seineArmee im Felde, und die hannoverischen Jungen, die

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da auszogen, waren rechtliche Soldaten und standenim offenen Felde, jetzt aber sollen sie herumziehen infremden Ländern ohne regelrechte Thätigkeit und Ord-nung, ohne Heimath und Schutz, das thut nicht gut,wenn der König wieder dasteht im Felde und seine Sol-daten ruft, dann werde ich keinen zurückhalten, derhingehen will zu der alten Fahne, aber so weit ist esnoch nicht, und so weit wird es auch wohl nicht kom-men,« sagte er das Haupt neigend. – »Doch,« fragte ernach einem kurzen Schweigen, das sein Sohn nicht zuunterbrechen wagte, obgleich seine Mienen deutlichzeigten, daß er die Ansicht seines Vaters nicht theilte,»warum hat man Sie denn verhaftet, Herr Lieutenant?«

»Ich weiß es nicht, man muß Verdacht geschöpft ha-ben, und dann nach meiner Verhaftung hat man meineWohnung durchsucht und Papiere gefunden, die mei-nen Freunden gehörten, da muß ich denn nun die Ver-antwortung tragen, und wie es scheint, will man sehrstrenge vorgehen, darum bin ich mit Hilfe von Freun-den, die ich zum Theil selbst nicht kenne, geflohen,und gelingt es mir nicht zu entkommen, so sehe ichlanger, langer Haft entgegen.«

Der Alte schüttelte traurig den Kopf.»Welcher Schmerz für Ihre Frau Mutter!« sagte er

leise.»Wir bringen Sie fort, Herr Lieutenant,« rief Fritz,

»durch die Haide, da findet Sie kein Mensch.«

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Margarethe kam zurück. Sie trug eine große Plattemit kalten Fleischspeisen und eine Flasche Wein, brei-tete ein schneeweißes Tuch auf den Tisch, und baldwar der Lieutenant eifrig beschäftigt, durch die kräftig-sten Angriffe auf die Erzeugnisse der Küche des wohl-habenden Hauses seine erschöpften Kräfte wieder zuersetzen.

Der alte Deyke sah einen Augenblick mit zufriede-nem Lächeln und mit jener fast ehrerbietigen Rück-sicht, welche in den alten rechten Bauernhäusern demAppetit des Gastes gezollt wird, der eifrigen Thätigkeitdes jungen Mannes zu, dann sprach er langsam undbedächtig:

»Da das Unglück nun einmal geschehen und es soweit gekommen ist, so muß Alles geschehen, um Sieso schnell als möglich in Sicherheit zu bringen, klärensich die Sachen später zu Ihren Gunsten auf, so ist esimmer besser, Sie warten das in sicherer Ferne ab. –Mein Rath ist,« fuhr er fort, »Sie ruhen eine Stundeaus, dann spannen wir den kleinen Korbwagen an undFritz fährt Sie durch die Haide, er kennt die Wege, und,so Gott will, sind Sie morgen in Hamburg.«

»Vortrefflich, vortrefflich,« rief der junge Mann,»aber,« fügte er zögernd hinzu, »ich möchte gern, daich einmal hier bin, den alten Pastor Berger sehen, vonihm Abschied nehmen, ihm Grüße für Helene auftra-gen, wer weiß, wann ich alle wiedersehe,« sagte er mitweichem Tone.

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»Ich will gleich zum Pfarrhause gehen,« rief Fritz,»der Pastor kommt gewiß gern her, Sie dürfen nichtausgehen, man könnte Sie doch sehen, und wenn Siehier auch gewiß Niemand mit Absicht verräth, so ist esdoch besser, daß Sie vollkommen ungesehen bleiben–«

»Ich weiß nicht, ob es gut ist,« sagte der Alte, »denarmen Herrn in Unruhe zu versetzen und die Gefahrder Entdeckung zu vermehren,« doch schon war Fritzhinausgegangen, leichten Schritts das Dorf durchei-lend stieg er die sanfte Anhöhe zum Pfarrhause hinauf.

Er fand den Pastor in seinem Lehnstuhl, seine langePfeife im Munde, auf dem Tische befanden sich mehre-re Zeitschriften und einige Bogen Papier. Der Candidatlas aus einem der Hefte vor und der alte Herr hörteaufmerksam zu, machte von Zeit zu Zeit einige Bemer-kungen zu dem Gelesenen, welche der Candidat mitruhiger, freundlicher Aufmerksamkeit entgegennahm,und notirte auch wohl hie und da einen Gedanken, derihm während der Lectüre gekommen war.

Bei dem Eintritt des jungen Bauern zu dieser un-gewöhnlichen Stunde erhob der alte Herr verwundertden Kopf.

Fritz Deyke drehte mit einem Seitenblicke auf denCandidaten verlegen die Mütze hin und her.

»Herr Pastor,« sagte er zögernd, »mein Vater, der ger-ne mit Ihnen über etwas gesprochen hätte, läßt Sie

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recht freundlich bitten, ob Sie nicht die Güte habenwollten, einen Augenblick zu ihm zu kommen.«

Es war eine so ungewöhnliche Bitte, die der jungeBauer da aussprach, daß der alte Deyke zu dieser fürdie Gewohnheiten des Landlebens so späten Stundeden Pastor sprechen wollte, daß er dazu dann nichtselbst kam, das lag so ganz außerhalb der gewohntenVerhältnisse, daß der Pastor einen Augenblick schwei-gend den jungen Menschen ansah, während der schar-fe Blick des Candidaten von der Seite forschend aufihm ruhte.

»Der Herr Pastor werden verzeihen,« sagte Fritz miteiniger Verlegenheit, »es ist eine Familienangelegen-heit, der Vater hat eben eine Nachricht bekommen under ist nicht ganz wohl, da möchte er Ihren Rath ha-ben, und wenn die Bitte, noch jetzt zu ihm zu kommen,nicht zu unbescheiden ist –«

Der Candidat stand auf.»Es ist wohl eine Sache, die nur an dich persönlich

gerichtet ist, lieber Oheim,« sprach er mit sanfter Stim-me, »ich lasse dich mit Fritz allein, soll ich dich abho-len?« fragte er, »der Weg ist uneben –« und abermalsrichtete sich sein Blick forschend auf den jungen Bau-er.

»Ich werde den Herrn Pastor zurückführen,« rief die-ser, »ich bitte den Herrn Candidaten, sich nicht zu be-mühen.«

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Dieser senkte die Augen und leicht den Kopf gegenFritz neigend, verließ er das Zimmer durch die Thür,welche in das Nebengemach führte.

Diese Thür schloß sich langsam hinter ihm, man hör-te das laute Klappen des Schlosses. War es Zufall, daßdas Schloß nicht faßte und die Thür zurückspringendeine kleine Spalte offen ließ?

Fritz bemerkte es nicht, denn kaum hatte der Candi-dat sich entfernt, so trat er eilig einen Schritt naher zudem Pastor und rief mit einer Stimme, welche durchdas seiner einfachen Natürlichkeit so ungewohnte Be-streben, sie zu dämpfen, nur noch lauter wurde:

»Der Herr Lieutenant von Wendenstein ist auf derFlucht hier, sie haben ihn in Hannover verhaftet, ermuß schnell durch die Haide weiter und wünscht denHerrn Pastor zu sprechen, um von Ihnen Abschied zunehmen!«

»Mein Gott!« rief der Pastor, erschrocken aufsprin-gend, »warum, – wie?«

»Kommen Sie, kommen Sie schnell, er wird IhnenAlles erzählen, es ist keine Zeit zu verlieren.«

Fast mechanisch vertauschte der Pastor sein Haus-käppchen mit dem Barett, zündete eine kleine Laternean und verließ, auf den Arm des jungen Bauern ge-stützt, das Haus.

Kaum war er hinausgegangen, so öffnete sich lang-sam die Thür des Nebenzimmers, der Candidat tratherein.

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Der Ausdruck evangelischer Milde war von seinemGesicht verschwunden, hart und streng waren die Zü-ge, feindlicher Haß zuckte um seine festgeschlossenenLippen, sein scharfes Auge blickte sinnend gerade vorsich hin.

»Er ist entflohen,« flüsterte er in leise zischendem To-ne, »er ist auf dem Wege zur Rettung, aber ein glückli-cher Zufall giebt sein Schicksal vielleicht in meine Hän-de.«

Er schritt schweigend einige Male auf und nieder.»Ist es nicht besser,« sprach er, »ihn fliehen zu las-

sen, er kann nicht wieder zurückkommen, wenigstenslange nicht, die Zeit ist mein. – Doch,« fuhr er nach län-gerem Nachdenken fort, »die Familie wird ihm folgen,sie können in der Schweiz eine Heimath gründen, He-lene wird ihm folgen. – Nein, nein,« rief er dann, »erdarf nicht entkommen, man wird mit Strenge vorge-hen, sein Fluchtversuch compromittirt ihn noch mehr,der Hochverrath wird mindestens mit einer langen Ge-fängnishaft bestraft werden, und im Gefängniß heirat-het man nicht,« fügte er mit einem bleichen, kalten Lä-cheln hinzu, er darf nicht entkommen. – Aber wie esverhindern?« sagte er dann, »ich darf persönlich nichthervortreten.«

Und finster die Augenbrauen zusammenziehendging er abermals auf und nieder.

Endlich glitt ein leichter Ausdruck von Zufriedenheitüber seine Züge.

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»Das Mittel ist nicht sicher,« flüsterte er stehen blei-bend, »er wird vielleicht einigen Vorsprung gewinnen,es ist indes das Einzige, das mir zu Gebote steht.«

Er trat an den Tisch, nahm ein Blatt Papier undbeschrieb es eifrig, sorgsam seine Handschrift durchrückwärts gelehnte Buchstaben verstellend.

Dann faltete er das Blatt zusammen, schloß es mit ei-ner Oblate und schrieb auf die Rückseite mit derselbeverstellten Handschrift: »Dem Herrn Baron von Klent-zin. – Eilig und dringend!« nahm dann seinen Hut undgeräuschlos die Thür öffnend, schritt er in die dunkleNacht hinaus.

Schnell, aber vorsichtig ringsum spähend eilte erdem Amtshause zu, das in tiefer Stille dalag, er nähertesich dem großen geschlossenen äußeren Thor, lehntedas Papier gegen dasselbe und zog dann mit raschem,starkem Zug an dem Glockenknopf.

Ein schriller Ton durchzitterte die tiefe nächtlicheStille, während der Candidat mit eiligen Schritten inder Dunkelheit verschwand.

Der Lieutenant von Wendenstein hatte inzwischenein Wenig auf dem Bett des alten Deyke geruht und mitjener wunderbaren Elastizität der Jugend, in welcherdie körperliche Natur selbst unter den schwersten Auf-regungen und Bekümmernissen der Seele ihre Rechtegeltend macht, hatte ein kurzer Schlummer seine er-müdeten Glieder erquickt.

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Schnell fuhr er empor, als der alte Deyke an sein La-ger trat, um ihm zu sagen, daß der Pastor gekommensei.

Er eilte dem Vater seiner Geliebten entgegen undumarmte ihn in tiefer Bewegung.

Während er dann dem geistlichen Herrn, der nochimmer diesen so plötzlich und unerwartet hereinbre-chenden Ereignissen gegenüber seine ruhige Fassungnicht wiedergefunden hatte, in schnellen Worten sei-ne Erlebnisse der letzten Zeit erzählte, brachten Fritzund der alte Deyke einen kleinen Korbwagen in Ord-nung und spannten eins der kräftigen, wohlgepfleg-ten Pferde davor, Margarethe aber füllte einen Korbmit mancherlei Speisevorräthen, einer der ältesten undvertrautesten Knechte war geweckt worden und leiste-te hilfreiche Hand. Alles geschah schweigend und ohneGeräusch.

Es war Mitternacht, als der alte Deyke hereintrat,um zum Aufbruch zu mahnen. Der Pastor hatte ruhigdie Erzählung des jungen Officiers angehört. In stillerErgebung hatte er die Hände gefaltet und mit tiefemSeufzer leise gesagt: »Arme Helene!«

»Wenn ich in Sicherheit bin,« rief der Lieutenant, »sosenden Sie ihr meine Grüße, meine treuesten, liebe-vollsten Grüße, noch weiß ich nicht, wie die Zukunftsich gestaltet, aber was sie auch bringen möge, meinHerz gehört ihr für ewig, und wenn es nicht anders ist,so wird sich ja auch in fremdem Lande eine Heimath

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gründen lassen, die unserer Liebe und unserem Glückeine Stätte bietet.«

Mit wehmüthigem Lächeln sprach, der Pastor: »Got-tes Wille geschehe, auch wenn er so schmerzlich ein-greift in unsere Hoffnungen und Wünsche. Ich habeseit lange,« fuhr er ernst fort, »meine Gedanken ge-wöhnt, ihre Richtung nach unserer ewigen Heimathdort oben zu nehmen, aber das Herz zieht sich dochrecht traurig zusammen, wenn so die gewohnte irdi-sche Heimath mit ihren Erinnerungen und Hoffnungenzerstört wird.«

»Es ist Zeit zum Aufbruch,« sagte der alte Deyke,»wenn Sie noch vor dem Morgen die schützende Haideerreichen wollen, so ist keine Minute zu verlieren.«

Der Lieutenant sprang auf.»Ihren Segen, mein Vater!« rief er, das Knie vor dem

Pastor beugend.Der geistliche Herr legte die Hand auf sein Haupt

und sprach:»Der Herr segne deinen Ausgang, und beschere dir

dereinst wiederum einen gesegneten Eingang, wennaber sein heiliger Wille es anders beschlossen hat, sosei er mit dir auf deinen Wegen. Amen.«

Dann breitete er die Arme aus und schloß den jun-gen Mann innig an seine Brust.

»Sie müssen sich auf den Boden des Wagens in’sStroh legen,« sagte der Alte, »damit Niemand Sie sieht,

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bis Sie ganz aus der Umgebung des Dorfes heraussind.«

»Wird aber nicht diese nächtliche Fahrt Aufsehen er-regen,« fragte der Lieutenant, »und Eure Knechte undMägde, sie müssen doch etwas merken?«

»Mein Sohn bricht immer nachts auf, wenn er zurStadt fährt,« sagte der Alte, »um früh dort zu sein,und meine Leute sind gute und treue Hannoveraner,sie werden schweigen wie das Grab.«

»Aber Margarethe, die kleine Preußin?« sagte derLieutenant lächelnd.

Eine unmuthige Röthe flog über das Gesicht der jun-gen Frau.

»Hier ist sie nur die Frau Ihres Jugendgespielen,« riefsie lebhaft, »übrigens,« sagte sie, stolz den Kopf auf-werfend, »ist es in Preußen nicht Sitte, seine Freundezu verrathen!«

Rasch trat der junge Mann zu ihr.»Ich bitte um Verzeihung,« sagte er mit herzlichem

Tone. »Du erlaubst es, mein alter Fritz,« fuhr er dannfort, legte seinen Arm um die Schulter der jungen Frauund drückte einen Kuß auf ihre reine, weiße Stirn.

»Noch eins,« sagte ei, »oben am Ausgang des Wal-des dicht neben dem Wege steht das brave Pferd, dasmich bis hierher, getragen, es gehört dem Herrn vonEschenberg in Hannover, holt es herein und pflegt esgut in eurem Stall, aber verbergt den Sattel, und habtIhr Gelegenheit, so laßt Eschenberg wissen, daß es hier

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ist. – Und nun Gott mit euch!« Er nahm seine Pistolen,stieg in den Wagen und legte sich auf dessen Bodennieder, Fritz folgte ihm, ergriff die Zügel, ein Zungen-schlag und dahin rollte der Wagen in die Nacht hinaus.

Lange sahen die Zurückbleibenden ihm nach. Dannführte Margarethe den Pastor nach Hause, währendder alte Deyke zum Walde hinausging, um das Pferddes Flüchtlings zu holen und ihm ein gastliches Asyl inseinem Stalle zu gewahren.

Der Baron von Klentzin war in seinem Zimmer be-schäftigt gewesen, die Arbeiten des täglichen Amtswal-tung zu erledigen, und schickte sich eben an, die Ruhezu suchen, als jener heftige plötzliche Klingelzug dasweite Haus durchschallte.

Erstaunt horchte er auf, nach einiger Zeit wurde eslangsam im Hause lebendig, der Amtsdiener ging mitschweren Schritten durch den Corridor, dann hörteHerr von Klentzin die Thür öffnen, lange Zeit daraufwieder schließen, sein Schritt kam herauf und lebhafteWorte wurden im Vorzimmer gewechselt. Der Dienerdes Herrn von Klentzin trat ein, ihm folgte der Amts-bedienstete.

»Der Herr Baron,« sagte der letztere, »haben gewißden heftigen Glockenzug gehört, ich habe nachgese-hen, es war Niemand da, nur dieser Brief war gegendie Thür gelehnt.«

Und er reichte das Papier dem Amtsverwalter.

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Dieser nahm es kopfschüttelnd, öffnete es unddurchflog den Inhalt. Ein Zug tiefen Unmuths erschi-en auf seinem Gesicht.

»Ein Drohbrief, wie einige in der letzten Zeit gekom-men sind,« sagte er leichthin, das Papier auf den Tischwerfend, und auf seinen Wink entfernten sich die bei-den Personen.

»Welche Niedrigkeit!« rief Herr von Klentzin, als erallein war, »nie hätte ich geglaubt, daß unter diesemVolk, dessen Treue und Zähigkeit ich so hoch achtengelernt habe, obgleich sie mir mein Amt so schwermacht, sich diese gemeine Angeberei finden könnte!«

Er ergriff nochmals das Papier und las: »Der frühe-re Lieutenant von Wendenstein, in Hannover wegenHochverraths verhaftet, ist entflohen, er befindet sichhier im Hause des Bauern Dyke und wird wahrschein-lich seine Flucht selbst durch die Haide nehmen?«

Herr von Klentzin sann nach.»Noch ist mir amtlich nichts davon mitgetheilt,« sag-

te er, »die Sache ist möglich, eine Bewegung unter denjungen Officieren und Soldaten ist im Gange, aber istes meine Aufgabe, freiwillige Polizeidienste zu thun,diesen Leuten gegenüber, die ja doch,« sagte er seuf-zend, »im Grunde aus Motiven handeln, die ich achtenmuß, auf anonyme Denunciationen hin? – Nein, ge-wiß nicht!« rief er lebhaft, »ist etwas an der Sache, soist es ja wahrlich auch für uns besser, wenn der Ver-folgte entkommt. Was kann es uns nützen, Märtyrer

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zu schaffen, welchen die Sympathie des Landes gehörtund deren Strafe die Erbitterung gegen uns nur stei-gern kann? Und warum? Weil sie nicht von heute zumorgen die Treue vergessen können, welche sie be-schworen hatten. Wahrlich, nicht durch Abschreckungund Einschüchterung werden wir die Herzen in diesemLande gewinnen, die wir nur mit uns versöhnen kön-nen, wenn wir ihnen Achtung und Vertrauen zeigen,wenn wir ihren Schmerz ehren und sie mit schonenderHand in die neuen Verhältnisse einführen.«

Er warf das Papier auf den Tisch und ging in seinSchlafzimmer.

Eine Stunde mochte vergangen sein, als abermalsmit lautem Ton die Glocke durch das Haus schallte.

Diesmal war es ein Bote mit einem expressen Briefan den Amtsverwalter.

Herr von Klentzin, der sich schnell erhoben und an-gekleidet hatte, öffnete denselben und seufzte tief, alser ihn gelesen.

»Der Gensd’arm soll sogleich kommen!« befahl erdem Amtsdiener, der sich eilig entfernte. »Die Sacheist richtig,« sagte er dann traurig, »hier ist die Requi-sition und der Steckbrief, armer junger Mann, den ichso glücklich hier im Kreise der Seinigen sah, soll ichihn hier vielleicht von dem Hause seiner Heimath ausdem Gefängniß, der Verurtheilung ausliefern? Es istein trauriges, trauriges Amt! – Doch meine Pflicht muß

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ich erfüllen,« fügte er, »der dienstliche Befehl ist da, ichwerde ihn ausführen, – aber nicht mehr!«

Er ergriff den Brief des Candidaten, näherte ihn derFlamme der Kerze und ließ ihn langsam zu Asche ver-brennen.

Der Gensd’arm trat ein.»Hier ist eine Requisition und der Steckbrief, es ist

wahrscheinlich, wie man schreibt, daß der Verfolgtesich in die Haide gewendet hat, reiten Sie sofort ausund suchen Sie ihn zu erreichen.«

Er gab dem Gensd’arm die Papiere, dieser blickte inden Steckbrief, mit finsterem Ausdruck biß er die Zäh-ne in den Schnurrbart. – Dann grüßte er militairischund ging hinaus, kurze Zeit darauf hörte man den Huf-schlag seines Pferdes, das im scharfen Trabe davoneil-te.

»Und nun,« rief Herr von Klentzin, »gebe Gott, daßer ihn nicht erreiche.«

Fritz Deyke war in kurzem, ruhigem Trabe zum Dor-fe hinausgefahren auf der Straße nach Lüchow zu. Alsdie letzten Häuser des Dorfes in der Dunkelheit ver-schwunden waren, hielt er sein Pferd an und ließ denLieutenant auf den Sitz neben sich steigen, dann wen-dete er in einen Seitenweg, und das Dorf seitwärts lie-gen lassend, fuhr er mit aller Schnelligkeit, welche daskräftige Pferd zu entwickeln im Stande war, der Lüne-burger Haide zu.

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Beide sprachen wenig, Fritz achtete sorgfältig aufden in der Dunkelheit nur wenig erkennbaren Weg,und der Lieutenant folgte, seinen Gedanken, welchebald zurückträumten in den Kreis der Lieben, die erverlassen, bald weit vorausflogen in den geheimnißvol-len Reiz der unbekannten Ferne, der er entgegenging.

In einer Stunde hatten sie den Anfang dieses wei-ten wogenden Meeres von Haidekraut erreicht, in wel-chem wie auf dem wirklichen Meer nur der Horizontdem Blick sich als Grenze darbietet, der Horizont, derwie eine große Glocke rings diese weite, in kräuseln-der Bewegung zitternde Fläche von kleinen Blättcheneinfaßt.

Wer nie in dieser Haide war, verbindet mit ihr denBegriff des Wüsten, Öden, traurig Einsamen. So aberist sie nicht, diese weite, weite, gleichmäßige Fläche;ein reges, wunderbares Leben webt da unten in die-sen Wellen der kleinen, zierlichen beweglichen Pflan-zenblättchen, welche im Hauch des Windes hin undher beben mit einem leisen, säuselnden Flüstern, undauch noch unter diesen Pflänzchen, da lebt es wiederso reich und mannigfaltig, da bauen kleine Ameisen,unberührt von dem zerstörenden Schritt des mensch-lichen Lebens, ihre kunstreichen Städte und Magazi-ne, da gehen die kleinen Käfer, die bunten Fliegeneinher, und blickt man aufmerksam hinab an irgendeiner Stelle, so glaubt man das mikroscopische Bildeines Urwaldes zu sehen, in der freien Entwicklung

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der schaffenden Natur. Und wenn das Haidekraut inder Blüthe steht und dies ganze graugrün wogendeMeer sich mit röthlich schimmerndem Hauch über-zieht, dann ruht ein süßer, lieblich seiner Duft überdieser weiten Ebene, alle jene kleinen Blüthenkelchein ihrer zierlichen Unscheinbarkeit strömen ihre Wohl-gerüche wie ein dem Schöpfer dargebrachtes Dankop-fer zum Himmel empor, summende Bienenschwärmeziehen darüber hin und farbenschimmernde Schmet-terlinge gaukeln und schaukeln auf den Blüthen.

Fährt man dann durch diese Welt des stillen Pflanzen-und Insektenlebens, sorgfältig der Spur folgend, wel-che der letztvorhergehende Wagen das Kraut nieder-drückend zurückgelassen hat, so begegnet man hieund da den Heerden der Haidschnucken, jener dicht-wolligen Schafe mit dem Hirten in seinem Räderkar-ren, und lange vorher am Horizont auftauchend trittnäher und naher das Gehöft eines Haidebauern heran,eine kleine Oase cultivirten Landes. Man hält an, er-frischt sich, wechselt freundliche Grüße, läßt sich dieSpur und Richtung zur nächsten Etappe zeigen undfährt wieder weiter hinaus in die stille Ebene, auf de-ren unveränderte Ruhe seit Jahrhunderten der Himmelherabblickt, während ringsumher die Welt in schaf-fendem und zerstörendem Wechsel ihre Gestalt immervon Neuem formt und wieder zerbricht.

Rasch und sicher lenkte Fritz sein Pferd durch dieschweigende Haide hin, er konnte die Spur nicht sehn

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in dem Kraut am Boden, aber er kannte die Sternbil-der, welche ihm die Richtung angeben mußten, wiealle Bewohner und Anwohner der Haide, und tieferund tiefer drangen die Flüchtlinge in die gleichförmigwogende Ebene, umhaucht von dem kräftig tannenar-tigen Geruch der Haidekräuter. In einiger Entfernungfolgte dem Wagen der Gensd’arm von Blechow.

Er ritt langsam an die Grenze der Haide vor, hieltsein Pferd an und lauschte aufmerksam dem immerschwächer werdenden Geräusch des in die schweigen-de Nacht hinausfahrenden Wagens.

»Dorthin fahren sie,« sagte er dann, »gut – so werdeich sie nach jener Richtung suchen, wo ich sicher bin,sie nicht zu finden. – Glauben sie etwa, die Herren daoben,« murrte er, sich im Sattel zurechtrückend, daßich den Sohn meines alten Oberamtmanns arretirenwürde, den braven jungen Herrn – wegen des neuer-fundenen Hochverraths? Ich will ordentlich und pünkt-lich die Spitzbuben fangen, aber zu solchen Diensten,da mögen sie andere Leute suchen.«

Mit scharfem Schenkeldruck ließ er das Pferd hinge-hen und ritt rasch in die Haide hinein, weit seitwärts abvon der Richtung, welche der Wagen genommen hatte.

Fritz mäßigte den Schritt seines Pferdes ein Wenig,um das Thier nicht zu sehr anzustrengen.

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»Hier hat’s keine Gefahr,« sagte er, »ich glaube nicht,daß uns irgend jemand hier begegnen wird, die Haupt-sache ist, daß wir auf der anderen Seite glücklich her-aus und nach Hamburg kommen.«

»Ich bin müde,« sagte der Lieutenant, »laß mich dieZeit benützen, um zu schlafen.«

Fritz hielt an, dem Lieutenant wurde auf dem Bo-den des Wagens ein Lager aus Stroh bereitet, auf wel-ches er sich so behaglich als möglich niederstreckte,dann nahm der junge Bauer dem Pferde das Gebiß abund reichte ihm etwas Brod und Branntwein aus demVorrathskorbe, und nach kurzem Aufenthalt ging dieFahrt weiter, der Lieutenant von Wendenstein war baldin tiefen Schlaf versunken, in welchem ihn die leichteBewegung des flüchtig über die weiche Ebene hinrol-lenden Wagens nicht störte.

Die wenigen Stunden bei Nacht flogen dahin, gegenfünf Uhr morgens erhob sich ein gelblicher Schein zurRechten der Flüchtigen, ein scharfer Wind strich überdie Haide hin, das Kraut in rauschenden Wirbeln bewe-gend, allmählich verblaßten die Sterne, man beganndie Linie des aus den äußersten Grenzen des Blickesauf der Ebene ruhenden Horizonts zu erkennen, immerklarer wurde das Licht, leichte Nebel wallten auf undzogen vor dem schärfer wehenden Winde in vielgestal-tigen weißen Streifen über die weite Fläche. Gelbroth

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erhob sich endlich die Sonnenscheibe über den Hori-zont, im klaren Morgenlicht glänzten die Spitzen derkleinen Blättchen des Haidekrauts.

Fritz ermunterte das Pferd durch einen leichten Zun-genschlag zu schnellerem Lauf, zog eine Branntwein-flasche hervor und that einen kräftigen Schluck.

Er hatte einen Reiter nicht bemerkt, welcher hinterdem Wagen von der Seite herkommend durch die Hai-de hinritt.

Als das erste Licht die weite Ebene erhellte, konnteman die Knöpfe der Uniform dieses Reiters blinken se-hen, er hielt sein Pferd einen Augenblick an und folgtedann in schnellem Trabe dem Wagen.

Als der Reiter dem Wagen etwa auf fünfzig Schrittnahe gekommen war, hörte Fritz das Klirren des Sä-bels, welcher im scharfen Ritt gegen den Steigbügelschlug.

Er blickte schnell rückwärts, erkannte im Strahl derMorgensonne den Gensd’arm, ein scharfer Peitschen-hieb sauste durch die Luft, das Pferd zuckte zusam-men, schüttelte schnaubend den Kopf und flog überdie Haide dahin, den leichten Wagen fast in Sprüngennach sich reißend.

Der Gensd’arm setzte sein Pferd in Galopp.Herr von Wendenstein fuhr empor, geweckt von den

heftigen Bewegungen des Wagens.»Bleiben Sie liegen, Herr Lieutenant, bleiben Sie um

Gotteswillen liegen,« rief Fritz, »wir werden verfolgt,

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ein Gensd’arm!« und indem er mit der einen Hand denjungen Mann, der sich halb aufgerichtet hatte, in dasStroh zurückdrückte, führte er einen sausenden Peit-schenschlag.

Das Pferd, solcher Behandlung ungewohnt, schi-en instinctmäßig zu begreifen, daß es sich um einenhöchst außergewöhnlichen Fall handle, den Kopf weitvorstreckend, öffnete es schnaubend die Nüstern undflog in langen Sätzen dahin, das leichte Gefährt nachsich reißend.

Aber das Gefährt, so leicht es war, hemmte dieSchnelligkeit seiner Bewegung, der Gensd’arm, dessenPferd in seinem Laufe durch nichts gehemmt war, ge-wann Terrain, er war dem Wagen bis vierzig Schrittnahe gekommen.

»Halt! – da vorn der Wagen!« rief er mit lauter Stim-me.

»Geben Sie die Pistolen, Herr Lieutenant,« rief Fritz,»wir können ihm nicht entkommen, und selbst wennsein Pferd ermüdete, er verliert uns meilenweit nichtaus dem Gesicht –«

Er nahm eine der doppelläufigen Pistolen aus demStroh vom Boden des Wagens, und die Zügel mit denZähnen haltend, spannte er die Hähne.

»Halt da!« rief der Gensd’arm, »oder ich gebe Feuer!«Er ließ die Zügel auf den Sattelknopf fallen, man

hörte das Knacken des Hahnes an seinem Karabiner.Mit scharfem Ruck hielt Fritz sein Pferd an.

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In wenigen Secunden war der Gensd’arm an der Sei-te des Wagens.

»Halt – zurück!« rief Fritz seinerseits, seine Pisto-le schußgerecht erhebend, »die Sache ist ernst, meinFreund, ich bin nicht gesonnen, mich ohne Weitereshier anhalten zu lassen, die erste Kugel für Euer Pferd,die zweite für Euch, wenn Ihr mich nicht meines Wegesziehen laßt!«

Der Gensd’arm erhob den Karabiner und schlug an.Die Mündungen der Waffen befanden sich in beina-

he unmittelbarer Nähe einander gegenüber.In schneller Bewegung sprang Herr von Wenden-

stein empor und stand aufrecht im Wagen.»Ab das Gewehr!« rief er laut im militairischen Com-

mandoton.Der Gensd’arm nahm den Karabiner von der Backe

und wie in unwillkürlicher Bewegung rückte er indienstlicher Haltung sich im Sattel zurecht.

»Kennen Sie mich?« fragte der junge Mann ruhig.»Zu Befehl, Herr Lieutenant,« sagte der Gensd’arm,

»ich bin zuweilen mit Meldungen nach Blechow ge-kommen, und auch nach Lüchow und habe den HerrnLieutenant öfter gesehen!«

»Haben Sie Ordre, mich zu arretiren?« fragte Herrvon Wendenstein weiter.

»Zu Befehl, Herr Lieutenant, an alle Ämter ist eineRequisition und ein Steckbrief gekommen, und von al-len Seiten wird nach dem Herrn Lieutenant gesucht.«

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»Wo haben Sie gedient?«»Bei den Cambridge-Dragonern, Herr Lieutenant,

aber lange vor Ihrer Zeit bin ich zur Gensd’armeriecommandirt.«

»Ihr seht,« rief Fritz mit ungeduldiger Lebhaftigkeit,»Ihr seid einer und wir sind zwei, Ihr habt einen Schußund wir haben vier, jetzt kommt an und wagt es einWenig, uns aufzuhalten!«

Der Gensd’arm hob seinen Karabiner und schlug ge-gen das Wagenpferd an.

»Sei still, Fritz und sprich keinen Unsinn!« rief Herrvon Wendenstein, »glaubst du, daß ein alter Cavalleristsich fürchtet? – Hören Sie mich an,« sagte er, zu demGensd’arm gewendet, der seine Waffe wieder sinkenließ, »glauben Sie, daß ich eine gemeine Handlung, einehrloses Verbrechen begangen habe?«

»Nein, Herr Lieutenant, das glaube ich nicht!« riefder Gensd’arm mit lauter, fester Stimme.

»Nun denn,« sagte Herr von Wendenstein, »ich sa-ge Ihnen, ich weiß nicht, weshalb man mich verfolgt,ich bin im Herzen meinem alten Herrn treu, aber ichhabe auch von allem dem Nichts gethan, was manjetzt Hochverrath nennt, aber wenn man mich fängt,so wird man mich verurtheilen, zum Zuchthaus ver-urtheilen – mit Dieben und Fälschern. Wollen Sie, einalter Soldat, einen Officier Ihres früheren Regimentsdem Zuchthaus ausliefern, so greifen Sie mich an, ver-suchen Sie mich zu arretiren, aber ich bitte Sie um eins,

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wenn Sie schießen, so zielen Sie gut, denn ich will lie-ber von der Kugel eines alten Soldaten fallen, als imehrlosen Gefängniß zugrunde gehen.«

Tiefe Bewegung zuckte über das Gesicht des Gensd’armen.»Ich habe Weib und Kind, Herr Lieutenant,« sagte er,

»wenn man erführe –«»Was soll man erfahren?« rief Fritz. »Seht, um uns

ist die alte treue Haide, über uns der Himmel und dar-in der alte Gott, kein Mensch sieht und hört uns, undich bin auch Soldat gewesen, kurze Zeit freilich, ichhabe meinen Lieutenant da zum Tode verwundet vomSchlachtfeld von Langensalza getragen, glaubt Ihr, daßich Euch verrathen werde, wenn Ihr helft, ihn zu ret-ten?«

Der Gensd’arm schwieg einen Augenblick.»Glückliche Reise, Herr Lieutenant, der liebe Gott sei

mit Ihnen!« rief er dann, wendete schnell sein Pferdund jagte seitwärts in die Haide hinein.

»Gott segne den braven Kerl,« rief Fritz. »Nun vor-wärts, hoffentlich begegnen wir keinem zweiten!«

Und sie fuhren schnell weiter.Nach einiger Zeit erschien in der Ferne, schräg durch

die Haide kommend, ein anderer Wagen, eine Chaisemit Halbdeck, mit zwei Pferden bespannt.

»Sollen wir ausweichen?« fragte Fritz, »wir würdenviel Zeit verlieren.«

»Der Wagen sieht nicht bedenklich aus,« sagte derLieutenant, »also immer vorwärts!«

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Der zweite Wagen hatte etwas hinter den Flüchtlin-gen die in das Haidekraut eingedrückte Wegspur er-reicht, auf welcher sie sich befanden, und dieser eben-falls folgend, näherte er sich ihnen schnell, da seinezwei kräftigen Pferde ihn schneller vorwärts brachten,als das bereits ermüdete Pferd des jungen Bauern zulaufen vermochte.

Ein Kutscher in der Tracht der Landleute saß aufdem Bock der Chaise, er nickte freundlich, als er anFritz und dem Lieutenant vorbeifuhr.

Ein junger Mann, in einen Mantel gehüllt, mit blon-dem Bart, sah unter dem Halbdeck hervor.

»Mein Gott!« rief er, »Herr Lieutenant, wie kommenSie hierher?«

Sein Kutscher hielt an.Fritz brachte sein Pferd zum Stehen – und griff un-

willkürlich nach der Pistole.»Guten Tag, mein Herr!« sagte der Lieutenant, »ich

erinnere mich, Sie gesehen zu haben, aber ich kannmich in der That nicht besinnen –«

»Sie standen auf Feldwache, Herr Lieutenant, vorGöttingen,« sagte der junge Mann in der Chaise, »ichpassirte die Vorposten als Courier, ich bin der KanzlistDuve, Sie waren mit einem andern Officier Ihres Re-giments – und gaben mir ein Glas Grogk auf den Weg–«

»Der arme Stolzenberg,« sagte Herr von Wenden-stein seufzend, »ja, ja, ich besinne mich, Sie gingen zu

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den Hessen, und nun,« fuhr er abermals seufzend fort,»treffen wir uns hier in der Haide.«

Herr Duve sah ihn mit feinem Lächeln an.»Sollten wir uns vielleicht in gleicher Lage befin-

den?« fragte er.Herr von Wendenstein blickte ihn forschend an.»Was mich betrifft,« fuhr Herr Duve fort, »so bin ich

auf der Flucht, hier dieser Mann« – er deutete auf denKutscher – »ist ein braver Bauer, der Niemand verräth,ich gehe nach Altona, um mich nach England zu ret-ten.«

»Man hat Sie arretirt?« fragte Herr von Wendensteinein Wenig zögernd, »und wie sind Sie entkommen?«

Herr Duve lachte. »Zwei preußische Polizeibeamteholten mich von meinem Bureau,« sagte er, »da manPapiere bei mir vermuthete, die man haben wollte, sieführten mich nach dem Ministerium des Innern, woman mich vernehmen sollte, da sie aber mit den Loca-litäten unbekannt waren, so führte ich sie durch einenwenig betretenen Gang in ein abgelegenes Zimmer,sprang schnell hinaus, drehte von außen den Schlüs-sel um und überließ sie einstweilen ihrem Schicksale,während ich bei einem ganz unbeobachteten und un-verdächtigen Freunde Zuflucht suchte.«

»Und hat man Sie nicht gesucht und verfolgt?« fragteHerr von Wendenstein lachend.

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»Man hat mich gesucht und verfolgt durch das gan-ze Königreich,« sagte Herr Duve, »aber ich bin vier Wo-chen in Hannover geblieben, jetzt glaubt man wohl, ichsei längst fort! – Sie können mir trauen,« sagte er dann,»und wenn ich Ihnen vielleicht behilflich sein kann –«

»Wohlan, mein Herr,« sagte der junge Officier, »ichbin der Lieutenant von Wendenstein – und –«

»Ich weiß Alles,« rief Herr Duve, »denn in meinemVersteck bin ich immer gut unterrichtet gewesen, dieganze Polizei ist nach Ihnen auf den Beinen, kommenSie mit mir, Alles ist für meine Flucht vorbereitet, wennwir nicht ganz besonderes Unglück haben, so bringeich Sie glücklich durch, steigen Sie in meinen Wagen,Ihr Pferd ist ohnedies müde, lassen Sie uns keine Zeitverlieren!«

Fritz hatte den jungen Mann und den Kutscher for-schend beobachtet.

»Thun Sie es, Herr Lieutenant,« sagte er, »Sie kom-men schneller fort, und wir haben ja auch noch nichtsfür die Überfahrt vorbereitet, da würden Sie nochgroße Gefahr laufen, ich werde so schnell als möglichnach Lüchow fahren und von dort mit Einkäufen zu-rückkommen, das wird allen Verdacht ablenken –«

Der Lieutenant stieg ab, Fritz sprang ebenfalls zurErde.

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»So lebe denn wohl, mein alter Freund,« rief Herrvon Wendenstein, »tausend Dank für diese zweite Ret-tung, und tausend Grüße an alle – alle!« sagte er mitinniger, wehmüthiger Stimme.

Fritz ergriff ehrerbietig seine Hand, der Lieutenantbreitete seine Arme aus und drückte ihn an seine Brust.

»Gute Reise, Herr Lieutenant – und glückliches Wie-dersehen!« sagte er mit halb erstickter Stimme, die sichin ein leises Schluchzen verlor.

Herr von Wendenstein sprang in die Chaise, raschzogen die Pferde an und dahin rollte der Wagen in dieFerne.

Lange sah ihm Fritz mit seinen treuen, klaren Augennach, dann stieg er auf seinen Wagen, und seinem Pfer-de Zeit zur Erholung gönnend, fuhr er langsam seineneinsamen Weg rückwärts durch die schweigende Hai-de.

Der Lieutenant von Wendenstein fuhr mit Herrn Du-ve ohne jede bedenkliche Begegnung in die Gegendvon Hamburg. Hier verließen sie den Wagen, ließenMantel und Pistolen in demselben zurück und schlen-derten lachend und plaudernd wie harmlose Spazier-gänger in die alte Hansestadt hinein. Ebenso lang-sam, oft die Schaufenster der glänzenden Läden be-trachtend, durchschritten sie die Straßen, und als dieAbendsonne unter dem Horizont zu sinken begann, ge-langten sie an den Hafen.

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Langsam gingen sie auf dem Quai auf und nieder,als mit nachlässigem Gruß ein Mann mit rothem, wet-terrauhem Gesicht auf sie zutrat und neben ihnen her-ging.

»Lassen Sie uns noch einige Augenblicke auf undniedergehen, wenn jemand da sein sollte, der uns be-obachtete, was ich aber nicht glaube.«

Er zog ein Cigarrenetui von Panamastroh aus der Ta-sche und offerirte ihren Inhalt den beiden Flüchtlin-gen, indem er einen leicht forschenden Blick auf Herrnvon Wendenstein warf.

»Ein Leidensgefährte, den Sie auch in Sicherheitbringen müssen,« flüsterte Herr Duve, indem er seineCigarre an der des Fremden anzündete und sie dannan Herrn von Wendenstein reichte.

»Gut,« sagte der Mann, »aber warten wir noch etwas,bis es dunkler wird.«

Der Abend sank immer mehr herein, die Gaslater-nen entzündeten sich. Die Häuser und Schiffe warfenihre langen Schatten über den Kai. Der Fremde blieban einer Landungstreppe stehen.

Mit leichtem, kaum hörbarem Ruderschlag schoß einkleines Boot heran, von zwei Matrosen bedient.

Die drei Personen stiegen ein.Wie ein Pfeil schoß das Boot durch das Labyrinth von

nebeneinanderliegenden Schiffen hin und legte sich inkurzer Zeit an die Seite einer Brigg, an deren Spiegel

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mit großen goldenen Buchstaben: »Johanna von Em-den« stand.

Man stieg hinauf. Schweigend folgten die beidenFlüchtlinge ihrem Führer in die Kajüte.

»Hier,« sagte dieser, eine kleine Lampe anzündend,»sind Sie in Sicherheit, glänzend ist die Gastfreund-schaft meiner Kajüte nicht, aber sie wird Sie schützen.– Nur müssen Sie noch zwei Tage hier bleiben unddie Kajüte nicht verlassen, die beiden Matrosen, dieuns hergerudert, sind zuverlässig und treu, die übri-ge Mannschaft habe ich heute an Land beordert. Über-morgen werde ich klar zum Auslaufen sein, dann müs-sen Sie auf eine Stunde in den Holzraum, wenn die Ha-fenpolizei an Bord kommt. Jetzt aber eine kleine Stär-kung, das wird Ihnen Noth thun.«

Und mit geschäftigem Eifer brachte der Capitän sei-ne kräftigen Speisevorräthe und einige Flaschen vor-trefflichen Bordeaux herbei, die jungen Leute erwie-sen seiner Gastfreundschaft alle Ehre – und versankendann auf Lagerstätten, die man am Boden der Kajü-te aus den Bettvorräthen des Capitäns improvisirte, ineinen so tiefen und süßen Schlaf, wie ihn die Jugendund das Gefühl überstandener Gefahren nur verleihenkann.

Am dritten Tage lief die Brigg aus, alle Formalitätenwaren erfüllt, die Beamten der Hafenpolizei hatten alleRäume genau durchsucht und Alles in Ordnung gefun-den.

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Die Brigg segelte die Elbe hinab an Cuxhaven vorbei,und als sie auf der hohen See angekommen war, datraten der Lieutenant von Wendenstein und Herr Duveauf das Verdeck heraus und blickten ernst hinüber nachdem grauen Landstreif der Küste, der immer mehr mitdem Horizont zu verschwimmen begann.

»Leb’ wohl, mein Vaterland, leb’ wohl, Deutschland!«flüsterte Herr von Wendenstein, »wann werde ich dichwiedersehen? leb wohl, Helene!« sagte er noch leiser,während ein tiefer Seufzer seine Brust hob.

Der Capitän trat heran und klopfte ihm auf dieSchulter.

»Jetzt sind Sie gerettet,« sagte er, indem ein hellesLächeln über sein rothes, ehrliches Gesicht flog, »nunlassen Sie das Land hinter sich liegen und sehen Sievorwärts, kommen Sie, wir wollen ein Glas trinken –auf gute Fahrt in Ihre Zukunft!«

ZWANZIGSTES CAPITEL.

Heller Sonnenschein strahlte vom wolkenlosen Him-mel auf die große Ebene von Longchamps herab, glän-zender als je strömten die bunten Wogen von Equi-pagen und Reitern durch die Avenüen der Champs-Elysees und der Kaiserin nach dem Bois de Boulognehinaus, um das Frühlingsrennen zu sehen, und all-mählich füllte sich der weite Rennplatz dichter unddichter. Die zahlreichen Fremden, welche die bereitseröffnete Ausstellung in schnell steigender Zahl nach

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Paris geführt, sahen sich hier staunend zum erstenMal in vollem Reichthum, umgeben von jener funkeln-den, schimmernden, brausenden und wogenden Weltdieses wunderbaren Paris, dieser Welt, deren zauberi-scher Farbenglanz das Auge entzückt, ohne es zu blen-den, deren feines duftiges Parfüm wie ein unsichtbarerHauch die Atmosphäre durchdringt, die Nerven berau-schend, ohne Schwerfälligkeit und Ermüdung zurück-zulassen.

Die langen Reihen der Tribünen waren besetzt mitDamen in den neuesten Frühjahrstoiletten, wehendeFedern und farbenschimmernde Blumen zitterten aufden rastlos bewegten, kleinen Hütchen, funkelnde Au-gen, blitzten nach allen Richtungen – Freunde su-chend und begrüßend, und weithin war die sonnen-warme Luft erfüllt von jenen feinen und zarten Düften,welche die Kunst der Destillationen von Pivar aus al-len Blüthen des Abends- und Morgenlandes vereinigt,und welche die vornehme Damenwelt von Paris um-schweben wie ein Athem von Anmuth und Reiz. Vordem Eingange zu den Tribünen hielten in langer Rei-he die prachtvollen offenen Kaleschen mit den hohen,schnaubenden Pferden, die Kutscher in unbeweglicherWürde auf dem Bock, die Lakaien neben den mit glän-zenden Wappen bemalten Schlägen.

Die Herren tummelten sich zu Pferde oder in leich-ten Victorias innerhalb des weiten, abgeschlossenenRaums, der den Tribünen gegenüber die Rennbahn

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umgiebt, nur wenige Damen sah man hier, vorzüglichdie Damen der Demimonde, und von der wirklichen,großen Welt nur diejenigen, welche durch besondersglänzende und tadellose Equipagen in der Lage waren,sich den kritischen Blicken des ganzen, versammeltenSports auszusetzen.

Hin und wieder sprengte auf schlankem Renner einJockey in der eleganten Seidenjacke mit den Farbenseines Pferdes durch die Bahn, und aufmerksam rich-teten sich die Blicke der Kenner auf die Bewegungender edlen Thiere, um aus denselben Anhaltspunkte fürdie Beurtheilung ihrer Leistungsfähigkeit und Disposi-tion zu gewinnen.

Die eifrigsten Mitglieder des Jockeyclubs und frem-de Sportsmen umstanden die Wagen, ihre Wettbücherin der Hand, in eifriger Unterhaltung, die oft unge-heuren Summen notirend, welche auf dieses oder je-nes Pferd gewettet wurden. Große Aufregung herrsch-te überall, der große Preis der Stadt Paris stand heutezu gewinnen, und es war nicht der hohe Betrag die-ses Preises allein, sondern die mit seinem Gewinn ver-bundene höchste Ehre der Frühjahrsrennen von Long-champs, welche Alles, was zum Sport gehörte, in fie-berhafte Spannung versetzte.

In einer Victoria von fast zerbrechlicher Zierlichkeitrollte die Marchesa Pallanzoni in den abgegrenzten

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Raum. Schnaubend und tänzelnd paradirten vor ih-rem Wagen, mit frischen Veilchen und Maiblumen ge-schmückt, die wunderbar schönen, schwarzen Pferde,welche sie von Madame Musard gekauft, das ganze Ge-fährt schien kaum den Boden zu berühren. Die hell-blaue, mit Silber eingefaßte Livrée ihres Kutschers undihres Grooms, welche in gelb aufgeschlagenen, lackir-ten Stulpstiefeln, mächtige Bouquets von Veilchen undMaiblumen vor der Brust, auf dem Bock saßen, diezarte Toilette der Marchesa in Violett und Weiß, ih-re ausgezeichnete durch die Wirkung der frischen Lufterhöhte Schönheit, das Alles konnte nicht verfehlen,die Augen dieser ganzen eleganten und lebenslustigenWelt auf die junge Frau zu richten, welche die Neugieraller jungen Herren erregte und nur wenigen bisherbekannt geworden war.

Langsam fuhr die Marchesa hin und her, plötzlichberührte sie leicht mit der Spitze ihres Sonnenschirmsdie Schulter des Kutschers, die Pferde standen unbe-weglich und die Dame grüßte anmuthig mit der Handnach einem leichten, offenen Wagen hinüber, in wel-chem der Graf Rivero allein saß und ruhig in das bunteTreiben hineinblickte.

Der Graf erwiederte den Gruß mit ausgezeichneterArtigkeit, stieg schnell aus und eilte an den Schlag desWagens der Marchesa.

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»Ich mache Ihnen mein Compliment,« sagte er lä-chelnd, »Ihre Equipage ist jetzt tadellos, Sie haben injeder Beziehung reüssirt.«

»Das Alles verhindert nicht,« sagte die Marchesa mitleichtem Seufzer, »daß ich mich langweile.«

»Ich werde Ihnen heute noch ein Mittel gegen dieLangeweile geben,« erwiederte der Graf mit ernstemBlick, »das Ihnen etwas romantische Abwechselungbringen wird, ich bitte um einen Platz in Ihrem Wagenbei der Rückfahrt, ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Ein halb freudiger, halb forschender Blick zuckte ausden schönen Augen der Marchesa über das ruhige Ge-sicht des Grafen, schweigend neigte sie das Haupt.

Rasch trat der Herzog von Hamilton, welcher dasGespräch des Grafen mit der Marchesa bemerkt hatte,aus der Gruppe von Herren, welche die Loge umstan-den, heran.

»Guten Morgen, Herr Graf!« rief er, mit der Handgrüßend, und indem er näher trat und den Hut ab-nehmend, sich tief vor der Marchesa verneigte, fügteer hinzu: »Ich freue mich um so mehr, Ihnen hier zubegegnen, als sich mir zugleich die Gelegenheit bietet,Sie um die Erfüllung eines Versprechens zu bitten. –Sie wollten die Güte haben, mich Ihrer schönen Lands-männin vorzustellen.« Er trat an den Wagenschlag.

»Der Herr Herzog von Hamilton,« sagte der Graf,den jungen Mann vorstellend, »meine schöne Freun-din, die Frau Marchesa Pallanzoni, wird erfreut sein,

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Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Herzog,« fuhr erfort, »sie beklagte sich soeben über Langeweile in die-sem bunten, lebensvollen Paris; wenn Sie dem Sport ei-nige Stunden entreißen können, so wird die Frau Mar-chesa sich freuen, einen so vortrefflichen Cavalier inihrem Salon zu sehen.«

Die Marchesa neigte mit liebenswürdiger Zustim-mung das Haupt und unter ihren halbgesenkten Au-genwimpern hervor traf den jungen Engländer einwunderbar aus vornehmer Sicherheit und halb verle-gener Schüchternheit gemischter Blick.

»Ich werde mich stets glücklich schätzen, bei derFrau Marchesa erscheinen zu dürfen,« rief er in einemTone, dessen feuriger Ausdruck weit über diese so ge-wöhnliche Phrase der Höflichkeit hinausging.

Eine leichte Victoria mit dunkler Livrée und Kokar-den in den hannoverischen Farben rollte rasch durchden Eingang der Longchampswiese und hielt in derNähe. Der Regierungsrath Meding, der, den Lieuten-ant von Wendenstein zur Seite, darin saß, grüßte artigzum Grafen Rivero herüber. Dieser verließ mit leich-ter Verbeugung den Wagen der Marchesa, welche ihnmit einem schnellen, forschenden Blick verfolgte, undtrat zu den beiden soeben angekommenen Herren. –Der Herzog von Hamilton blieb im Gespräch mit derMarchesa – bald traten mehrere Herren heran und inkurzer Zeit war der Wagen der schönen Frau wie derThron einer Königin von einem Kreise dienstbereiter

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Höflinge umgeben, unter welche sie mit der liebens-würdigsten Anmuth und der vornehmen Würde einerwahren Fürstin ihre Worte, ihre Blicke und ihr Lächelnvertheilte – alle entzückend und alle zugleich in ehrer-bietiger Ferne haltend.

»Sie betheiligen sich nicht an den Wetten, HerrGraf?« fragte Herr Meding, »nach den schönen Pfer-den, die ich bei Ihnen gesehen, hätte ich Sie für einender ersten Sportsmen gehalten –«

»Ich liebe die Pferde,« erwiederte der Graf, »aber ichbeschäftige mich nicht eigentlich mit dem Sport, dieJahre dafür sind bei mir vorüber, ich bin vom Ernst desLebens schon zu sehr berührt.«

»Wer wäre es nicht in dieser erschütternden Zeit,welche die Menschen durcheinander weht, wie derHerbstwind die fallenden Blätter!« sagte Herr Medingseufzend, »doch,« fuhr er fort, »erlauben Sie mir, Ihnenhier Herrn von Wendenstein, einen Landsmann, vor-zustellen, der soeben von Hannover auf einigermaßenungewöhnlichen Wegen angekommen ist. Die preußi-sche Polizei hatte ihn sorgfältig encoffrirt, er hat einWenig das Beispiel Casanovas nachgeahmt und seineneigenen Weg in die Freiheit gesucht.«

Die beiden Herren wechselten einen höflichen Gruß,forschend ruhte der Blick des Grafen auf dem fri-schen, gebräunten Gesicht des jungen Officiers, dessenblaues, freies Auge durstig die schimmernden Bilder

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des reichen, bewegten Lebens ringsumher einzusaugenschien.

»Es ist eine merkwürdige Zeit,« sagte Herr Medingmit leichtem, traurigem Lächeln, »die loyalsten Legiti-misten wie wir, sehen sich plötzlich in verfolgte Hoch-verräther und Verbannte verwandelt.«

»Und haben Sie,« fragte der Graf, »die hiesigen Ver-hältnisse befriedigend gefunden, glauben Sie Hoffnun-gen für Ihre Sache schöpfen zu können?«

»Mein Gott,« sagte Herr Meding, indem er nach ei-nem schnellen, durchdringenden Blick auf den Grafendas Auge senkte, »es ist schwer, sich in diesem krei-senden Wirbel des Pariser Lebens zurechtzufinden, ichbeobachte und orientire mich, das ist ja auch Alles, waswir jetzt in unserer Lage thun können.«

In offener, prachtvoller Kalesche, Kutscher und La-kai gepudert und in weißen Strümpfen, fuhr MadameMusard in den abgeschlossenen Raum. Ihre herrlichenPferde glichen denen, welche sie der Marchesa Pallan-zoni abgetreten, auf ein Haar, kaum hätte man einenVorzug des einen Gespanns vor dem andern bemerkenkönnen, sie grüßte verbindlich, aber wenig auffallendzu der von dem eleganten Herrenkreise umgebenenjungen Frau hinüber, welche mit einer gewissen Verle-genheit den Gruß erwiederte, und fuhr dann langsamin die Nähe der Rennbahn.

Der Graf Rivero umfaßte mit einem kurzen Blickdiese Begegnung und den flüchtigen Gruß der beiden

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Frauen, ein eigenthümliches Lächeln kräuselte seineLippen.

Eine leichte Bewegung machte sich unter der Mengebemerkbar.

Vom Bois de Boulogne her fuhren die kaiserlichenEquipagen in raschem Trabe heran, die grüngoldenenPiqueurs voran, in offenem Wagen von vier tadellosenPferden gezogen, saß der Kaiser und die Kaiserin, Ba-ron de Pierres ritt am Schlage, der General Fleury saßdem kaiserlichen Paar gegenüber.

Napoleon trug schwarzen Überrock und Hut; in sichzusammengesunken saß er in die Ecke gelehnt, leichterhob er hin und wieder die Hand, wenn die Häupterder am Wege dicht gedrängten Menge sich entblößtenund zuweilen aus den Gruppen ein mehr oder mindervollstimmiges Vive l’Empereur! sich hören ließ, aufge-richtet in freier, anmuthiger Haltung saß die Kaiserin indunkelgrauer, unendlich einfacher Toilette neben ihm,weithin über die bunte, in farbenreicher Bewegungschimmernde Ebene schweifte der stolze Blick ihresgroßen Auges, unablässig grüßte sie nach allen Seitenin unnachahmlicher, reizender Wendung des schlankenHalses, den Kopf rechts und links neigend.

Eine Hofdame und ein Adjutant, ebenfalls in Civil,folgten in einen zweiten Wagen. In einiger Entfernungkonnte man das einfache und unscheinbare Coupé desChefs der Palastpolizei bemerken.

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Die kaiserlichen Wagen fuhren um den Platz undhielten vor dem großen Eingange zu den Tribünen.

Bald erschienen die Majestäten in dem großen, mitt-leren Pavillon, die Kaiserin setzte sich in ihren Fauteuil,der Kaiser nahm ein Opernglas und blickte nach ver-schiedenen Richtungen über den Platz hin, ohne daßder müde, abgespannte und gleichgültige Ausdruckeinen Augenblick von seinem Gesicht gewichen wäre.

»Sehen Sie diese bunte, summende und schwirrendeMenge,« sagte der Graf Rivero ernst, »sehen Sie diesenbleichen, träumenden Imperator, diese strahlende Kai-serin; das Alles scheint versammelt, um seinen Glanzder Bewunderung – und dem Neide – zu zeigen, AllesInteresse scheint sich auf die Schnelligkeit der Pferde,auf die Chancen des Rennspiels zu concentriren, unddoch, welch eine zahllose Menge ernster Fäden durch-ziehen dies leichte, heitere Treiben, Fäden, welche inwunderbar gekreuzten Beziehungen die Schicksale derVölker Europas bewegen und lenken.«

»Ja,« sagte Herr Meding, »es ist ein großes Laby-rinth, dieses Paris mit seinem vielgestaltigen Leben,aber wer giebt uns den leitenden Faden in diesen We-gen voll Finsterniß und dunkeln Abgründen, die sichunter der schönen, sonnigen Oberfläche bergen?«

»Kein Theseus findet den leitenden Faden,« erwie-derte der Graf Rivero lächelnd, »wenn er ihn nichtaus Ariadnes Hand empfängt, glauben Sie mir, nur dieHand der Frauen kann Sie hier in Paris richtig leiten, es

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ist anders hier als bei Ihnen in Deutschland, haben Siehier die Damen zu Verbündeten, so werden Ihnen alleGeheimnisse sich öffnen, alle Ziele erreichbar werden,dies ist ein Rath, den ich mir erlaube, Ihnen zu geben,ich glaube, daß er gut ist.«

»Ich danke Ihnen und werde mich bemühen, ihnnutzbar zu machen,« sagte Herr Meding sich leicht ver-neigend, »doch das Rennen beginnt, treten Sie herauf,Herr Graf.«

Er schwang sich rasch auf den Bock, der Graf Riveround Herr von Wendenstein stellten sich in dem Wa-gen auf, Alles blickte mit gespannter Erwartung nachden bereits in einer Linie aufgestellten Pferden, ob-gleich man über die Equipagen und die darauf stehen-den Menschen hinweg in der That nur wenig von demWettkampf sehen konnte, der diese ganze Menge hierversammelt hatte.

Nach einem falschen Départ, der die Spannung desPublikums noch mehr steigerte, flogen die Pferde mitihren Jockeys in den buntfarbigen Seiden- und Sam-metjacken durch die Bahn hin und verloren sich baldin der Ferne, hier und da am äußersten Ende der wei-ten Bahn, am Saume des Gehölzes oder am Fuße einesHügels wieder auftauchend.

Alle Lorgnetten und Doppelgläser richteten sich aufdiese Punkte des weiten Bogens der Rennbahn, an wel-chem man die Pferde zuweilen erscheinen sah. Fast

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schweigend erwartete die vorher so laute und unruhi-ge Menschenmenge die Rückkehr der Renner, und nurhier und da hörte man einen lauten Ausruf der Freudeoder des Ärgers, je nachdem der eine oder der anderein der Reihenfolge der Pferde, welche er zu erkennenglaubte, Aussicht auf den Gewinn oder den Verlust sei-ner Wette erblickte.

Endlich erschienen die Pferde auf der, am Bois deBoulogne her, den Tribünen gegenüber zurück an’s Zielführenden Seite der Bahn, athemlose Stille lag auf die-ser ganzen, weiten Ebene, als der erste Renner den an-deren weit voraus heranflog, ein lauter Ruf begrüßteihn, als er durch das Ziel ging, Alles, was zum Sportgehörte, lief und drängte nach der Wage hin, das Publi-kum begann sich wieder zu bewegen und jenes eigent-hümliche, schwirrende Geräusch einer großen Men-schenmenge stieg wieder über der Ebene empor.

»Ich dachte es,« sagte der Graf Rivero, »daß dasPferd des Grafen Lagrange den Preis gewinnen würde,ich habe die Renner zwar nur flüchtig gesehen, aberdieses Thier war den übrigen weit überlegen.«

»Dies ist Alles sehr schön,« sagte Herr von Wen-denstein lächelnd, indem er seinen leuchtenden Blicküber das weite, glänzende Schauspiel schweifen ließ,»aber vom Standpunkt des Pferderennens aus betrach-tet, scheint es mir doch ein Wenig naiv.«

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»Herr von Wendenstein war hannoverischer Officierder Cavallerie,« bemerkte Herr Weding, »er nimmt Al-les, was die Pferde betrifft, sehr ernst.«

»Das thun nun die Pariser eben nicht,« sagte der GrafRivero, »man kommt hierher, wie man in die Oper geht– um zu sehen und gesehen zu werden, und ich binüberzeugt, daß das große Publikum sich für die buntenJockeys mehr interessirt als für die Pferde. Der wirk-lich ernste Sport, wie er in England getrieben wird, istkeine französische Nationalleidenschaft, doch,« unter-brach er sich, »wer kommt dort in den Pavillon des Kai-sers?«

Man sah in dem kaiserlichen Pavillon einen großenund schlanken, jungen Mann in leicht vornüber geneig-ter Haltung, schwarz gekleidet, erscheinen. Sein fei-nes, blasses Gesicht war von einem dunklen Vollbartumrahmt, er drückte die Hand Napoleons, der ihm ei-nige Schritte entgegengetreten war, und näherte sichdann der Kaiserin, welche ihn mit freundlicher Nei-gung des Kopfes begrüßte.

»Es ist der Prinz Oskar von Schweden,« sagte HerrMeding, der durch sein Glas hinüber gesehen, »derPrinz ist seit einigen Tagen hier, um die Ausstellungzu sehen, er beginnt den Reigen der europäischen Für-sten, die sich hier versammeln werden.«

Der schwedische Prinz war neben den Kaiser an dieBrüstung der Loge getreten, Napoleon deutete mit derHand über die Ebene hin, er schien seinem Gaste etwas

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zu erklären, und zum ersten Mal erhellte der Schim-mer eines Lächelns seine müden, abgespannten Züge,als er an der Seite dieses Prinzen, der vom Blute einesder Kriegsgefährten seines Oheims stammte, auf diesezu seinen Füßen wimmelnde Elite der Bevölkerung desschönen Frankreichs herabblickte, dessen kaiserlichenThron er in so blendendem Glanze wieder aufgerichtethatte.

Mit der Entscheidung über den großen Preis derStadt Paris war der Höhepunkt des Interesses vorüber,die große Menge schenkte den noch folgenden kleine-ren Rennen nur geringere Aufmerksamkeit, der Kaiserstieg von seiner Loge herab und unterhielt sich mit ei-nigen Damen auf den Tribünen, und überall bildetensich lachende und plaudernde Gruppen.

»Ich sah Sie vorhin am Wagen jener schönen und ele-ganten Dame,« sagte Herr von Wendenstein, indem ereinen langen Blick zu dem Kreise hinüberwarf, dessenMittelpunkt noch immer die Marchesa bildete, »ich ha-be selten etwas Distinguirteres gesehen, als diese Equi-page – und etwas Schöneres und Anmuthigeres als die-se Dame!«

»Es ist eine Bekannte aus Italien,« erwiederte derGraf, »welche hier als ein neues Gestirn am Himmelder eleganten Welt von Paris aufgeht. Wenn Sie ihreBekanntschaft zu machen wünschen,« fügte er in ver-bindlichem Tone hinzu, »so will ich mir erlauben, Sieihr vorzustellen, wir können sogleich hinübergehen.«

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Herr von Wendenstein verließ den Wagen. »Ich wer-de Ihnen sehr dankbar sein,« sagte er rasch, sich gegenden Grafen verneigend.

»Sie wollen meinen kaum dem Kerker entronnenenLandsmann sogleich in neue Fesseln schlagen, HerrGraf,« sagte Herr Meding lächelnd, »dagegen müßteich eigentlich protestiren.«

»Diese Fesseln,« erwiederte der Graf, werden jeden-falls angenehmer zu tragen – und,« fügte er lächelndhinzu, »leichter abzustreifen sein; begleiten Sie uns zumeiner schönen Freundin?« fragte er mit einem schnel-len, forschenden Blick.

»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit,« erwieder-te Herr Meding, später vielleicht werde ich von IhrerGüte Gebrauch machen, für jetzt möchte ich mich nachallen Richtungen sehr zurückhalten.«

Der Graf und Herr von Wendenstein traten zu demWagen der Marchesa, welche sie mit reizendem Lä-cheln empfing, und bald war der junge hannoverischeOfficier in das heitere, leichte Gespräch engagirt, wel-ches die schöne Frau umspielte, er gab sich freudigenund leichten Herzens dem Zauber dieser sprudelndenCauserie hin und trug durch seine etwas fremdartigeAussprache der französischen Worte und seine eigent-hümlichen Redewendungen viel zur allgemeinen Hei-terkeit bei.

Das letzte Rennen war vorbei – der Kaiser verließseine Loge und man sah die kaiserliche Equipage, in

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welcher der Prinz von Schweden jetzt den Platz des Ge-nerals Fleury eingenommen, schnell dem Bois de Bou-logne zueilen. Die Tribünen leerten sich, eine Equipa-ge nach der andern löste sich aus der Reihe und rolltean den Cascaden vorbei der Stadt zu, zugleich verlie-ßen langsam nach einander die Wagen den innern ab-geschlossenen Raum und diese ganze glänzende undbunte Menge strömte nach diesem großen ReservoirParis zurück, das so viel schimmernden Glanz auf sei-ner Oberfläche zeigt und so viel furchtbare und schau-erliche Elemente des Entsetzens in seinen Tiefen birgt.

»Ich hoffe Sie bei mir wieder zu sehen, mein Herr,«sagte die Marchesa Pallanzoni mit liebenswürdigemLächeln zu Herrn von Wendenstein, »wir sind bei-de Fremde und müssen zusammenhalten in diesemgroßen Paris, auf Wiedersehen, meine Herren!« fuhrsie fort, sich gegen die übrigen ihren Wagen umstehen-den jungen Leute leicht verneigend, »Herr Graf, darfich Sie bitten, sich zu mir zu setzen und mich unterIhrem Schutz nach Paris zurückzuführen?«

Der Graf gab seinem in der Nähe haltenden Kutschereinen Wink und stieg in den Wagen der Marchesa, dieHerren traten zurück, die Pferde zogen an und nocheinmal grüßend fuhr die schöne Frau schnell über diebereits leer gewordene Wiese der Stadt zu.

»Wie finden Sie den jungen Deutschen, den ich Ih-nen vorgestellt?« fragte der Graf, als sie in die große

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Allee einbogen und langsam in der Menge von Wagender Stadt zufuhren.

»Allerliebst,« erwiederte die Marchesa, »er hat etwasso Frisches und Ritterliches, so viel natürliche Eleganzund fast unschuldige Naivität, er erinnerte mich –« sag-te sie halblaut, mit einem leisen Seufzer abbrechend.

Der Graf sah sie scharf von der Seite an.»Würde es Ihnen unangenehm sein, diese Erinne-

rung zu cultiviren?« fragte er lächelnd, »vielleicht fän-de sich hier ein Heilmittel für eine Wunde der Vergan-genheit.«

»Lassen wir die Vergangenheit,« sagte sie finster, in-dem ein scharfer und kalter Ernst sich auf ihre Zügelegte, »ich habe aller Schwäche entsagt und will starkund ruhig sein.«

»Wenn aber hier ein ernster Zweck sich mit einer an-genehmen Unterhaltung verbinden ließe?« fragte derGraf.

Sie hob ihr Auge erstaunt zu ihm empor und sah ihnfragend an.

»Die ganze Welt ist in Gährung in diesen Zeiten, de-ren gewaltige Erschütterungen noch nicht abgeschlos-sen sind, und mir liegt daran, alle durch einander undgegen einander arbeitenden Kräfte genau zu kennenund in ihren Ursachen zu verfolgen. Es entwickelt sichhier eine Thätigkeit von Seiten der in Deutschland be-siegten Parteien, der König von Hannover hat einen

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Vertreter hierher gesendet und es bildet sich ein Mittel-punkt einer stillen und nachdrücklichen Action, welcheernste Dimensionen annimmt; mir liegt sehr viel dar-an, so genau als möglich darüber unterrichtet zu sein,was man in jenen Kreisen wünscht und hofft, was manthut und vorbereitet und wie man hier auf die Regie-rung und die Parteien in Frankreich wirkt.«

Ein Lächeln zuckte um die Lippen der Marchesa.»Und dieser junge Mann?« fragte sie, indem ein ei-

genthümlicher Strahl aus ihrem Auge blitzte.»Dieser junge Mann,« sagte der Graf, »steht im Mit-

telpunkt der Verhältnisse, welche mich interessiren, erwird das letzte Wort der Geheimnisse nicht haben, aberer wird genug sehen und hören, um aus dem, was mandurch ihn erfährt, die Basis zu bilden für die Schlüs-se auf dasjenige, was sich verbirgt, nun,« fuhr er fort,»dieser junge Mann wird schwerlich ein verschlossenesBuch bleiben für die schönen Augen einer so geistvol-len Frau wie Sie, welche als italienische Legitimistinauch seines Vertrauens und seiner politischen Sympa-thie sicher ist. – Er wird einen schönen Traum träumen– und so auf die angenehmste Weise zum Werkzeugmeiner Absichten werden.«

»Ich verstehe vollkommen,« sagte die Marchesa,»führen Sie ihn an einem dieser Tage zu mir, wenn ichallein bin. – Ich bedaure nur,« fügte sie achselzuckendhinzu, »daß die Aufgabe, welche Sie mir stellen, nichtschwerer ist.«

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Der Graf blickte nachdenkend vor sich hin.»Sie sollen nicht lange auf die schwerere Aufgabe

warten,« sagte er in ernstem Tone, »sie liegt bereit, undes war diese Aufgabe, welche ich mit Ihnen besprechenwollte.«

Ihre Züge belebten sich wie durch einen electrischenSchlag, gespannt hing ihr funkelndes Auge an den Lip-pen des Grafen.

»Ich habe diesen Ort dazu gewählt,« sagte er, »weilein Geheimniß, ein ernstes Geheimniß nur in der freienLuft besprochen werden kann, neigen Sie sich ein We-nig hierher, damit die Leute auf dem Bock nichts hörenkönnen, der allgemeine Lärm der Equipagen hüllt oh-nehin jeden Schall der Worte ein.«

Sie lehnte sich nachlässig in den Fond des Wagenszurück, so daß ihr Ohr seinem Munde nahe kam, undmit gedämpfter Stimme sprach er, fortwährend auf sei-nem Gesicht den Ausdruck heiterer, gleichgültiger Con-versation festhaltend:

»Der ganze Schwerpunkt bei Gegenwart und der Zu-kunft liegt in diesem Augenblick in dem VerhältnißPreußens zu Frankreich, dies Verhältniß so klar undscharf zu durchschauen als möglich, ist daher für michvon allergrößter Wichtigkeit. Nun liegt aber in die-sem Verhältniß ein dunkler Punkt, der sich meinemBlicke verbirgt und dessen Aufhellung ich um jedenPreis wünsche.«

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»Und der Schlüssel zu diesem Geheimniß?« fragtedie Marchesa mit blitzenden Augen und zitternden Lip-pen.

»Der Schlüssel dazu liegt in der geheimen, persön-lichen Correspondenzen des preußischen BotschaftersGrafen Goltz, diese Correspondenz ist verwahrt in ei-ner Cassette, welche sich auf dem Schreibtisch seinesArbeitszimmers befindet.«

»Ah!« machte die Marchesa.»Und soll zum Inhalt dieser Cassette ein ähnlicher

Weg führen,« fragte sie dann lächelnd mit einem fastmuthwilligen Blick, »wie zur Ermittelung der hanno-verischen Geheimnisse? – Das dürfte weniger unterhal-tend sein.«

»Vielleicht aber vortheilhafter,« sagte der Graf, indesseien Sie ruhig, jener Weg, an den ich anfangs gedacht,würde kaum zum Ziel führen, es muß ein Umweg ge-macht werden, der etwas Mühe macht, aber vielleichtauch einige Unterhaltung gewährt.«

»Ich bin begierig zu hören,« sagte sie.»Das Gedränge hat sich verloren,« sagte der Graf

umherblickend, »der Lärm hat aufgehört, ich besorge,daß ein Wort zu den Ohren der Domestiken dringenkönnte, lassen Sie uns ein Wenig aussteigen, hier dieseweite Allee isolirt uns vollkommen.«

Sie berührte leicht mit dem Sonnenschirm die Schul-ter des Kutschers, der Wagen stand.

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Beide stiegen aus; die Marchesa legte ihre Hand inden Arm des Grafen und der Wagen folgte langsamdem in lebhafter Unterhaltung dahinschreitenden ele-ganten Paar.

In dem Salon der Wohnung des Grafen Rivero in derChaussee d’Antin ging um dieselbe Stunde ein jungerMann in der Tracht der Weltgeistlichen auf und nieder.Seine schlanke Figur bewegte sich mit ruhiger Leich-tigkeit in dem geistlichen Gewande, das zwar etwasbleiche, aber gesunde und frische Gesicht mit feinen,geistig belebten Zügen, das dunkle Auge, das sorgfäl-tig gepflegte, leicht gelockte Haar, welches die kleineTonsur fast ganz verdeckte, das Alles vereinigte sichzu einer vornehmen, ansprechenden Erscheinung, er-innernd an jene Abbés des ancien régime, welche einso anregendes Element der Conversation, eine so hüb-sche Staffage der Rokokosalons bildeten.

Der junge Abbé Rosti, welcher dem Grafen Riverovon Wien nach Paris gefolgt war, hielt einige Briefe inder Hand und ging im Salon auf und nieder, die Rück-kehr des Grafen erwartend.

Nach einiger Zeit, während welcher der junge Mannohne alle Ungeduld bald einen Blick in einen der Briefegeworfen, bald einige Augenblicke durch das Fensterauf das belebte Treiben der Straße herabgeblickt hatte,trat der Kammerdiener des Grafen herein und sagte:

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»Der Commandeur Klindworth aus Wien ist drau-ßen. Soll ich ihn hereinführen, um den Herrn Grafenzu erwarten, der gewiß bald zurückkehrt?«

»Es wird dem Grafen gewiß sehr angenehm sein,Herrn Klindworth sogleich zu sehen, sagte der Abbé,»ich glaube, Sie werden wohl thun, ihn zu ersuchen,daß er hier warten möge.«

Der Kammerdiener verneigte sich und öffnete ei-ne Minute später die Thür des Salons dem StaatsrathKlindworth.

Das verflossene Jahr hatte in der Erscheinung diesesmerkwürdigen alten Nachtfalters der Diplomatie nichtdie geringste Veränderung hervorgebracht.

In seiner gewohnten bescheidenen, fast demüthigenHaltung trat er herein, der weite, braune Rock war fastbis an den Hals zugeknöpft, aus der weißen Cravatteblickte das scharf markirte, in seiner geistvollen Häß-lichkeit so eigenthümliche Gesicht hervor, ein schnellerBlick seiner kleinen, scharfen Augen umfaßte den Sa-lon und ruhte eine Secunde prüfend auf der elegantenund angenehmen Erscheinung des jungen Geistlichen,der ihn mit artiger Zuvorkommenheit begrüßte.

Der Staatsrath näherte sich ihm und sagte mit seinergleichmäßigen, fast flüsternd leisen Stimme:

»Herr Abbé Rosti, wenn ich nicht irre, ich habe inWien das Vergnügen gehabt, Sie zu sehen?«

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»Ich hatte die Ehre, Ihnen bei dem Herrn Grafen Ri-vero dort zu begegnen,« erwiederte der Abbé mit leich-ter Verbeugung, »der Graf,« fuhr er fort, »ist ausgefah-ren, ich glaube indes, daß er jeden Augenblick zurück-kommen kann, und bat Sie deshalb, ihn hier zu erwar-ten, da ich vermuthe, daß Sie ihn bald zu sehen wün-schen.«

Der Staatsrath neigte das Haupt und ließ sich ineinen Fauteuil nieder, während der Abbé ihm gegen-über auf einem kleinen Sessel Platz nahm.

»Nun,« sagte der Staatsrath, indem er einen scharfenBlick auf den jungen Geistlichen warf und mit den Fin-gern auf der Lehne des Sessels trommelte, »wie siehtes hier in Paris aus? – ich mußte einmal kommen undmich selbst unterrichten, der Graf wird nicht unthätiggewesen sein, ich bin überzeugt, daß Sie hier inmit-ten der Bewegung stehen – oder vielmehr der Stagna-tion, denn,« fuhr er achselzuckend fort, »man hat, wiees scheint, in der heutigen Welt das Handeln verlernt,man sitzt still und träumt, während die Gegner uner-müdlich thätig sind, so muß man freilich ein Terrainnach dem anderen verlieren!«

»Wie ich glaube, herrscht hier jetzt allerdings voll-ständige Ruhe,« sagte der Abbé, »die luxemburgischeFrage, welche einen Augenblick Alles in Bewegungsetzte, ist in den stillen Hafen der Conferenz eingelau-fen und wird wohl die Ruhe Europas und das interna-tionale Rendezvous der Ausstellung nicht mehr stören.

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– Doch haben Sie ja von Wien aus,« fügte er hinzu,»ganz besonders eifrig an der Beruhigung dieses Inter-mezzos gearbeitet –«

»Natürlich,« rief der Staatsrath lebhaft, »ganz natür-lich, sollten wir denn ruhig zusehen, daß dies thörich-te Spiel weitergespielt wurde, das entweder zu einemArrangement mit Preußen führen mußte und alle Zu-kunftspläne zerstören, oder die ganze Welt in einenunübersehbaren Krieg gestürzt hätte, aus welchem un-ter diesen unvorbereiteten Verhältnissen nichts Guteshätte kommen können! – Glauben Sie,« fuhr er nacheinem kurzen Stillschweigen fort, indem ein rascherBlick zu dem jungen Manne hinüberfuhr, »glauben Siehier, daß der Kaiser Napoleon entschlossen sei, Frank-reichs Prestige, das heißt die Grundlage der Berechti-gung seiner Dynastie, wiederherzustellen, ernstlich –in kraftvoller und planmäßiger Action, oder schwankter wie gewöhnlich hin und her zwischen widerspre-chenden Entschlüssen? – Mir hat es vorkommen wol-len, als ob er zuweilen ganz besondere Lust hätte, sichmit Preußen zu alliiren, er täuscht sich,« fügte er ach-selzuckend hinzu, »man wird ihm dort für seine Allianzkeinen Preis bezahlen!«

Des Abbés ruhiges und freundliches Gesicht hattekeinerlei Bewegung bei den Worten des Staatsraths ge-zeigt, in einfachem, höflichem Ton antwortete er:

»Nach der Sprache, welche die Blätter führen, dieder Regierung nahestehen, kann ich kaum annehmen,

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daß die Gesinnung des Kaisers gegen Preußen freund-lich sei, die officielle Haltung der Regierung ist eineüberaus artige und freundliche der preußischen Bot-schaft gegenüber, man legt großen Werth auf den Be-such des Königs Wilhelm, und ich bin ganz überzeugt,daß man ernstlich Alles vermeiden will, was die gutenBeziehungen stören könnte.«

»Das Alles sind äußere Dinge, Nothwendigkeiten deraugenblicklichen Lage, aber was ist der innerste, letz-te Gedanke? – diesen müßte man kennen, um danachzu operiren,« sagte der Staatsrath, die letzten Wortehalb leise zu sich selbst sprechend, »oder,« fuhr er fort,»sollte hinter alledem gar kein Gedanke stecken? – diewunderbaren Blasen, welche dieses Gehirn treibt, spot-ten aller Berechnung, der klare Verstand und der con-sequente Willen ist allein in Berlin zu finden,« flüsterteer in kaum hörbarem Tone, indem ein Zug tiefen Un-muths sich auf sein Gesicht legte.

Ein Geräusch im Vorzimmer wurde hörbar.Der Graf Rivero trat rasch ein und reichte dem lang-

sam aufstehenden Staatsrath die Hand.»Giebt es irgend eine Unordnung in der politischen

Maschine Europas,« rief er lachend, »daß Sie eine In-spectionsreise für nöthig halten?«

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Der Staatsrath schlug schnell seine grauen, scharfenAugen empor und sagte dann, indem er den Blick wie-der zu Boden senkte und die Hände über der Brust fal-tete, mit einem in eigenthümlicher Weise aus Salbungund Ironie gemischten Tone:

»Die Maschine ist in so guten Händen und unter sokluger Leitung, daß sie mit der bewunderungswürdig-sten Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit arbeitet; ich binhierher gekommen, um mich ein Wenig in der Pflegemeiner Tochter zu erholen, man ist Vater, Herr Graf,und sehnt sich zuweilen nach der stillen Ruhe der Fa-milie.«

»Und Madame Street – wie befindet sie sich?« fragteder Graf in verbindlichem Tone und mit fast unmerkli-chem Lächeln.

»Vortrefflich, Herr Graf,« sagte der Staatsrath, »siehat sich vom weltlichen Leben und seiner Unruhe undAufregung zurückgezogen, ich erhole mich in der Ru-he, die sie umgiebt.«

»Ich hoffe,« sagte der Graf, indem er dem Staatsratheinen Fauteuil bezeichnete und sich selbst neben ihmniederließ, »daß Sie nicht so sehr allen weltlichen Din-gen fremd geworden sind, um mir nicht ein Wenig er-zählen zu können, was dort unten in Wien vorgeht,und – wie der neue Besen kehrt, wenn ich diesen trivia-len Vergleich gebrauchen darf, mit welchem die altenHemmnisse der österreichischen Kraft beseitigt werdensollen.«

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»Dort geht es gut,« sagte der Staatsrath, indem dergleichgültige Ausdruck aus seinem Ton verschwand,»der Ausgleich mit den Ungarn ist fertig, in Kurzemwird der Kaiser sich auf dem Königshügel in Buda-pest die Stephanskrone aufsetzen, und damit wird die-ses Ungarn, das so lange wie ein Bleigewicht die Be-wegungen des österreichischen Staates hemmte, zueinem neuen Factor lebendiger Kraftentwicklung ge-macht sein. – Im inneren Verfassungsleben,« fuhr erachselzuckend fort, »wird viel liberaler Wind gemacht– und der weht uns schon ganz hübsch die Sympa-thieen aus Deutschland zu – wir spielen mit Erfolg dasSpiel, welches Preußen jahrelang gegen Österreich ge-spielt hat, und,« sagte er mit höhnischem Lächeln, »dieRegierung in Berlin ist durch die Verhältnisse gezwun-gen, die Rolle des starren, rücksichtslosen Absolutis-mus zu übernehmen, zu deren Schreckbild man so lan-ge das österreichische Cabinet gestempelt hatte.«

Mit tiefem Ernst blickte der Graf in das Gesicht desSprechenden.

»Reden Sie im Ernst, mein lieber Staatsrath?« fragteer mit ruhiger Stimme.

»Gewiß,« erwiederte Herr Klindworth etwas er-staunt aufblickend, »warum zweifeln Sie daran?«

»Weil ich,« erwiederte der Graf langsam nach einemaugenblicklichen Schweigen, »in Ihren Worten nicht

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jenen scharfen, durchdringenden Verstand, nicht je-ne unerbittlich folgerichtige Logik wiederfinde, welcheich stets so sehr an Ihnen bewunderte.«

Der Staatsrath trommelte in schneller Bewegung mitden Fingern seiner rechten Hand auf der äußeren Flä-che der Linken.

»Was wollen Sie,« sprach er mit einem scharfen,schnellen Seitenblick auf den Grafen, »Verstand undLogik regieren heute nicht mehr die Welt, die unver-nünftige Masse ist mündig geworden, wie sie das nen-nen, das heißt, man hat ihr Zügel und Gebiß abge-nommen, um sie nun zu lenken, um diese unverstän-digen Riesenungeheuer, die man Majorität und öffent-liche Meinung nennt, dienstbar zu machen, muß mansie mit dem Futter ködern, das sie am liebsten fressen.«

Der Graf schüttelte schweigend mit fast traurigemLächeln den Kopf.

»Das ist eine Ansicht, die ich nicht theilen kann,«sagte er, »die ich bedauern muß. Sind die Völker freigeworden, so wird man sie mit falschem Köder nichtmehr regieren, man muß ihnen gesunde und kräftigeNahrung bieten. – Doch,« fuhr er mit leichtem Seufzerabbrechend fort, »wie ich höre, beabsichtigt man auchÄnderungen in der Stellung Österreichs zur Kirche, dasConcordat –«

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»Das Concordat,« sagte Klindworth lebhaft, »ist einPopanz, gegen welchen man die sogenannte öffentli-che Meinung gesetzt hat, ganz Deutschland blickt mit-leidig auf dieses vom Concordat beherrschte Österreichherab, und diese guten Österreicher selbst schreienund declamiren gegen das Concordat, das doch kei-ner – kein einziger von ihnen kennt, man muß dieserRichtung, die ich bedauere, aber die jetzt einmal nichtzu ändern ist, ein Opfer schlachten, die Einführung derfakultativen Civilehe –«

Graf Rivero schüttelte abermals den Kopf.»Auf diese Weise glauben Sie,« sagte er, den Staats-

rath unterbrechend, »Österreich verjüngen und zu neu-er Kraft erstarken lassen zu können?«

»Das Volk wird jubeln,« erwiederte Herr Kindworth,»und wird für jede große politische Action der Regie-rung alle Opfer bringen.«

»Selbst diese Voraussetzung als richtig angenom-men,« sagte der Graf, »was werden die Folgen sein? –Haben Sie in Österreich die eiserne Hand, welche die-sem Fortschritt auf der schiefen Ebene Halt gebietenkann?«

»Diese Hand wird sich dann später vielleicht finden,«sagte der Staatsrath mit einem schnellen, stechendenBlick.

Verwundert blickte der Graf ihn an.»Vielleicht?« fragte er, »und auf dieses Vielleicht bau-

en Sie Ihre Zukunft? – Doch,« fuhr er fort, »davon jetzt

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abgesehen, ist Herr von Beust mit der Kirche, mit derrömischen Curie über die Aufhebung des Concordatseinig?«

»Einig?« rief Klindworth, »wie könnte man darübereinig werden, wie könnte Herr von Beust überhaupt je-mals mit der Kirche einig werden! – Nein,« fuhr er leb-haft fort, »hier kann von einer Einigung nicht die Redesein, man wird zwar unterhandeln, das versteht sichvon selbst, aber man wird schließlich einseitig vorge-hen müssen, man wird einen großen Coup durch denReichstag machen, und wenn dann später mit Hilfedieser Volksaufwallung die Macht Österreichs wiederin Europa glänzend aufgerichtet ist, dann –«

»Dann –?« fragte Graf Rivero.»Dann werden sich Männer finden,« sagte Klind-

worth mit einem eigenthümlichen Lächeln, »welcheden Frieden mit Rom machen und der Kirche wiederzu ihrem Rechte verhelfen werden.«

Der Graf sah ihn scharf an, sein klarer Blick ruhte tiefforschend auf diesem listig verschlossenen Gesicht.

»Nennen wir die Sache bei ihrem rechten Namen,«sagte er, »das ist ein falsches Spiel nach allen Rich-tungen, gegen das Volk, gegen die Kirche – und gegenHerrn von Beust.«

»Haben Sie vielleicht gesehen, daß man mit Ehr-lichkeit eine politische Parthie gewinnt?« fragte Klind-worth.

Der Graf schwieg einen Augenblick.

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»Graf Bismarck dürfte vielleicht das Gegentheil be-weisen,« sagte er sinnend. – »Wir leben in einer ei-genthümlichen Zeit,« fuhr er nach einem Augenblickfort, »neben der alten Staatskunst, der Politik der Cabi-nette, welche mit geheimen, tief verborgenen Factorenihr seines Spiel spielte, ersteht heute eine neue Politik,nachdem die Völker selbst als lebendige, beseelte Ele-mente in die Action getreten sind, und ich glaube, daßman jetzt mit größeren, machtvolleren Mitteln operi-ren muß.«

Der Staatsrath neigte das Haupt ein Wenig und blick-te von unten herauf erwartungsvoll in das geistdurch-leuchtete Gesicht des Grafen.

»Ich glaube,« sagte der Graf ruhig, »daß diese Frage,die Sie berührt und die allerdings für das innere LebenÖsterreichs von hoher Wichtigkeit ist, anders erfaßtund behandelt werden muß. – Auch ich,« fuhr er fort,indem er sich erhob und die Hand leicht auf die Leh-ne seines Sessels stützte, »auch ich glaube, daß demGeiste der Freiheit, welcher durch die Welt weht undden Athem der heutigen Völker bildet, Rechnung getra-gen werden muß, aber nicht durch halbe – und falscheZugeständnisse, sondern dadurch, daß man sich selbstmit diesem Geiste durchdringt, daß die Regierungenund die Kirche in dem Geiste der Freiheit ihre Herr-schaft wieder neu und kräftiger als jemals befestigen.«

»Herrschaft – und Freiheit? – wie wollen Sie dasvereinen?« fragte Klindworth, der mit einem gewissen

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neugierigen Erstaunen den Worten des Grafen gefolgtwar.

»Ich glaube, daß das nicht so unvereinbar ist,« sag-te dieser im Tone der Überzeugung, »die Völker müs-sen immer beherrscht sein, wollen beherrscht sein undwerden beherrscht sein, aber die Mittel der Herrschaftmüssen die richtigen sein. Die Materie wird durch dieMaterie beherrscht, der Geist durch den Geist – unddie Kirche vor allem ist berufen, auf diesem Gebietezu herrschen. – Ich bin der Meinung, daß ein Vertrag– ein Gesetz, nennen Sie es, wie Sie wollen, wie dasConcordat, nichts bedeutet, sobald die Geister sich da-gegen mit Recht oder mit Unrecht auflehnen; hat dieKirche die Macht, die Herzen zu lenken, die Gewis-sen zu führen, die Seelen zu durchdringen, so bedarfsie dieses Mittels nicht, ein starres Festhalten dessel-ben kann ihre Herrschaft nur gefährden, hat sie jeneMacht nicht mehr, so kann kein Concordat der Welt sieihr wiederbringen. Wenn also die Stimmung in Öster-reich so ist, wie Sie sagen, so ist es allein richtig, infreiem Einverständniß mit der Kirche jene äußere Fes-sel zu lösen, damit das innere Band immer kräftigererstarke und die Geister umschlinge, nicht aber soll-te man Staat und Kirche in unklarem Spiel entzweien– mit dem Hintergedanken, sie später wieder vereini-gen zu können. – Ich habe viel über die Forderungennachgedacht,« fuhr er sich mehr und mehr belebendfort, »welche unsere Zeit an die Lenker der Staaten

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und der Kirche stellt, und ich bin zu der klaren Über-zeugung gekommen, daß es die große Aufgabe allerkatholischen Mächte ist, ihren Einfluß und ihre Arbeitzu vereinigen, um die schwer erschütterte Macht derKirche neu zu beleben durch eine innige Verbindungmit dem Geiste der Völker, welcher sich immer weiterund freier in selbstständiger Bewegung entwickelt undsich nicht mehr gehorsam den aus dem verschlosse-nes Sanctuarium hervortönenden Befehlen unterwirft.– Man müßte zurückkehren,« sagte er, den klaren Blickvor sich hin richtend wie in unwillkürlichem Verges-sen seiner Umgebung, »man müßte zurückkehren zuden eigentlichen ersten Grundprincipien der christli-chen Gemeinde, ihre drei zu organischem Leben ver-bundenen Glieder waren: die Priester, die Presbyter –und die versammelte Gemeinde, diese drei Factorenbestimmten und regelten das kirchliche Leben, das mitlebendigem Pulsschlag alle Glieder durchdrang. – DasLeben der Kirche ist in Stagnation gerathen und nurdurch die Rückkehr zu den ersten gesunden Elementenkann man es wieder in Fluß bringen und die Herrschaftder Kirche über die Geister wieder begründen!«

»Sie vergessen,« sagte der Staatsrath Klindworth,welcher noch immer voll Erstaunen auf den Grafenblickte, »daß die patriarchalischen Zustände des Le-bens, unter welchen jene ersten christlichen Gemein-den erstanden und bestanden, nicht mehr existiren,heute –«

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»Jede Institution,« fiel der Graf ein, »auch die höch-ste und heiligste, kann nur in demselben Geiste amLeben erhalten werden, welcher sie geboren hat, undder Geist des Christenthums, der Geist der christlichenKirche ist die Freiheit, nicht jene Freiheit, welche manheute so viel im Munde führt und welche vom Gesetzsich lösen möchte in roher Willkür, sondern die Frei-heit, welche in kindlichem Gehorsam danach stirbt,den Sinn des Gesetzes zu erkennen und dasselbe inliebevoller Hingebung zu erfüllen. Führt die Kirche denMenschengeist nicht auf den Weg der wahren, der gött-lichen Freiheit, so wird er abirren in dunklem Drangund Streben zu den falschen Götzen, welche die so-phistische Vernunft mit so lockendem Schmuck beklei-det.«

Mit leuchtenden Blicken hatte der junge Abbé zuge-hört, er war hinter den Sessel getreten, in welchem derStaatsrath zusammengebückt saß, der Graf trat einenSchritt näher und das Gesicht von Begeisterung durch-schimmert, sprach er mit voll aus dem Innern heraus-tönender Stimme:

»Ich sehe ein großes, herrliches Bild vor dem Augemeines Geistes sich erheben, das Bild der wiedergebo-renen Kirche, welche mit der gewaltigen, Himmel undErde durchströmenden Macht des Wortes, des heiligenLogos, die Welt vereinigt und ihre Herrschaft wiederausdehnt über die Geister, und um dies Bild zur Wahr-heit werden zu lassen, genügt heute noch ein Wink

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vom Vatican, bald vielleicht wird es zu spät sein. –Sehen Sie,« fuhr er nach einem tiefen Athemzug fort,»die ganze große katholische Welt, das ist heute dieGemeinde der Kirche, der Papst, umgeben von den Bi-schöfen, ist ihr Priester, die katholischen Mächte sindihre Presbyter. Diese große Gemeinde muß zusammen-treten, um in gemeinsamer Arbeit den Geist der Kir-che zu regeneriren, um von Neuem durch das öffent-liche Bewußtsein sich ergießen zu lassen. Der Papstmüßte um seinen Stuhl versammeln die Bischöfe derChristenheit, die Vertreter der Mächte und die Vertre-ter der Völker, um in dieser Versammlung die Satzun-gen und Ordnungen der Kirche, die Fragen, welche daskirchliche Leben bewegen, in mächtiger, gemeinsamerArbeit zu erörtern; diese Versammlung müßte, wennauch vielleicht nur durch Delegationen, in bestimmtenZeiträumen wiederkehren, damit der freie Hauch desLebens zum Mittelpunkt der Kirche hinströmt und da-mit von dort aus wieder Licht und Wärme sich weithinaus in die so viel verzweigte menschliche Gesell-schaft ergießt. Was die Völker auf dem politischen Ge-biet in den Angelegenheiten des materiellen Lebensverlangen, das thut noch mehr noth in der großen Sa-che der Religion, welche die Seele mit ihrer ewigenHeimath verbindet.«

»Sie wollen ein Concil?« sagte der Staatsrath Klind-worth, »man hat diesen Gedanken schon erwogen –«

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»Nicht eigentlich ein Concil,« erwiederte Graf Ri-vero, »im Sinne der früheren Kirchenversammlungen,doch mag man diesen Namen beibehalten, was ich imSinne habe, ist mehr – um diesen profanen Ausdruckzu gebrauchen – ein Kirchenparlament.«

Der Staatsrath lachte leicht.»Und damit glauben Sie die Herrschaft der Kirche,

die Herrschaft des päpstlichen Stuhls wieder begrün-den zu können, durch ein Mittel, welches schon aufdem weltlichen Gebiet alle Autorität untergraben hat?«

Langsam schüttelte der Graf den Kopf. »Weil die Re-gierungen den Geist unterdrücken wollen, statt ihn zubeherrschen und zu lenken. Der Geist aber ist das Le-benselement, das eigentliche Gebiet der Kirche, und,«fügte er düster hinzu, »wenn sie es nicht versteht, mitall der großen Summe von höchster Intelligenz, vonHingebung und Begeisterung, über welche sie Herrinist, auf diesem Gebiete zu herrschen, dann ist ihreMacht überhaupt dahin, der Bannstrahl zündet nichtmehr, das Sonnenlicht des Geistes aber wird zu jederZeit siegreich durch alle Wolken brechen, und gegendie Herrschaft des Geistes wird die Macht der Regie-rung ebenso vergeblich kämpfen, wie die sophistischenPhrasen atheistischer Philosophie!«

Mit einem leichten Anklang von Ungeduld sagte derStaatsrath:

»Es sind sehr große, weite und schöne Ideen, dieSie da aussprechen, Herr Graf, und dieselben werden

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jedenfalls bei den Erwägungen, welche man im Vati-can über die Berufung eines Concils anstellt, Beach-tung finden, indes für den Augenblick liegt das nochsehr fern, und ich muß gestehen, daß ich meinerseitsallen diesen Fragen ziemlich fremd bin,« er warf einenschnellen, scharfen Blick zu dem Grafen hinauf, »mirliegt die politische Welt mit ihren materiellen Macht-bedingungen näher, und wir dürfen sie nicht aus denAugen verlieren.«

Mit einem leichten, schmerzlich wehmüthigen Lä-cheln ließ sich der Graf wieder auf seinen Stuhl niederund sagte in ruhigem Tone:

»Und was glauben Sie, steht jetzt im Vordergrunddes politischen Interesses?«

Der Staatsrath richtete sich ein Wenig empor, undder durchdringende Blick seines Auges richtete sichlänger als gewöhnlich auf den Grafen.

»Sie sind nun längere Zeit bereits hier,« sagte er,»und einer so scharfen Beobachtung wie die Ihrigekann die wahre Lage der Dinge hier nicht entgangensein, glauben Sie, daß der Kaiser an eine ernste Acti-on denkt, daß er bereit ist, eine solche vorzubereiten,oder trägt er sich mit dem Gedanken, sich mit dieserneuen preußischen Macht verbinden zu können?«

Der Graf schwieg einen Augenblick auf diese directeFrage.

»Der Fürst Metternich steht den leitenden Kreisennäher als ich,« sagte er dann, »der Kaiser hat großes

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persönliches Vertrauen zu ihm, man sollte in Wien voll-ständig durch ihn unterrichtet sein.«

Ungeduldig rückte Herr Klindworth auf seinen Stuhlhin und her.

»Sie wissen so gut wie ich,« rief er, »daß Napoleonseinen letzten Gedanken, wenn ein solcher bei ihmfeststeht, dem Fürsten Metternich nicht aussprechenwird, und ihn zu errathen –« Er zuckte leicht die Ach-seln.

»Der Grundgedanke dieser luxemburgischen Sache,«sagte der Graf ruhig, »war jedenfalls ein Arrangementmit Preußen.«

»Er hat sich getäuscht, diese Sache ist beseitigt, erhat seinen Zweck nicht erreicht, sollte er nicht tiefer alsje erbittert, mehr als je von der Nothwendigkeit einergroßen und combinirten Action durchdrungen sein?«fragte der Staatsrath.

Der Blick des Grafen ruhte einen Augenblick sinnendauf dem gespannten Gesicht des alten Agenten.

»Ich glaube es,« sagte er dann, »jedenfalls ist in sei-ner nächsten Umgebung der Wunsch nach einer sol-chen Action sehr lebhaft. – Sie wissen aber selbst, wieschwer der Kaiser bestimmte Entschlüsse faßt, wie vielschwerer noch er sie ausführt.«

»Ich werde ihn morgen sehen,« sagte Herr Klind-worth, »und möchte gern ein Wenig vorher informirtsein, daher meine Fragen. Sie wissen,« fuhr er fort, »ichbin aus einer Zeit, in welcher man die Politik als ein

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Rechenexempel mit klar benannten Zahlen behandel-te, und ich möchte in meine Rechnung so wenig unbe-kannte Größen als möglich einführen.«

»Und welches ist die Formel der Aufgabe, welche Siejetzt lösen wollen?« fragte der Graf lächelnd.

»Sie ist einfach,« sagte der Staatsrath. – »Wir müs-sen Frankreich, Österreich und Italien zu fester Coaliti-on vereinigen, um Deutschland aus den Händen Preu-ßens zu reißen, zu dieser Coalition will ich Napole-on vorbereiten. Der Kaiser Franz Joseph wird hierherkommen, ich möchte, daß er noch vor dem Königevon Preußen kommt, und dann muß diese Tripelalli-anz besiegelt werden, welche mächtig genug ist, ummit sorgfältiger Vorbereitung und mit wohlerwogenemdiplomatischen und militairischen Plan eine erfolgrei-che Action zu beginnen. Ein Bund der süddeutschenStaaten wird der erste Schritt derselben sein. WennFrankreich und Österreich eng verbunden dastehen, sowerden die süddeutschen Staaten wieder den Muth zuernster Verteidigung gewinnen, und sollten sie zögern,so wird,« fügte er lächelnd, die Hände reibend, hinzu,»der Druck von beiden Seiten und von Italien genügen,um sie zu bestimmen.«

Der Graf hatte das Auge zu Boden geschlagen. Sei-ne ruhigen, nachdenklichen Züge zeigten keine Bewe-gung bei den Worten des Staatsraths.

»Ich kann nur wiederholen,« sagte er, »daß es sehrschwer ist, vorher zu bestimmen, welche Stellung

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dieser räthselhafte, aus schneidenden Widersprüchensich zusammensetzende Charakter des Kaisers in derDurchführung einer weitgehenden Combination ein-nehmen werde, disponirt aber werden Sie ihn für ei-ne solche Idee, die ja ohnehin ganz in den Verhältnis-sen begründet ist, in hohem Grade finden, und der Un-terstützung der Kaiserin werden Sie sicher sein. – Obfreilich,« fuhr er mit einem tiefen Blick fort, »Italien indiese Combination eintreten wird, ohne Bedingungenzu stellen, welche Österreich und Frankreich als katho-lische Mächte in schwere Verlegenheit setzen werden,das möchte mir zweifelhafter erscheinen.«

»Bah,« sagte der Staatsrath, »das wird sich machenlassen, man wird etwas geben, viel versprechen, undwenn erst dies Deutschland wieder in Ordnung ge-bracht ist, thun, was man will. – Doch,« fuhr er auf-stehend fort, »ich verlasse Sie, wir werden uns nochöfter sehen und eingehender alle diese Dinge bespre-chen, jetzt muß ich mich noch ein Wenig orientirenund dann etwas ausruhen, um meine Kräfte zu sam-meln, man fühlt doch allmählich das Alter.«

»Darf ich Ihnen meinen Wagen anbieten?« fragte derGraf.

»Ich danke, ich danke, ich werde einen Fiacre neh-men,« sagte der Staatsrath mit einem schnellen, for-schenden Blick, und mit einer leichten Verbeugung ver-abschiedete er sich von dem Abbé und dem Grafen Ri-vero, der ihn bis zur Thür des Vorzimmers begleitete.

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Als der Graf wieder in das Zimmer zurücktrat, lagtiefer Ernst auf seinen Zügen.

Er ging einige Male sinnend auf und nieder und bliebdann vor dem Abbé Rosti stehen.

»Mein Freund,« sagte er, seine Hand auf die Schulterdes jungen Mannes legend, mit tiefernstem Ausdruck,»was mir in Wien bereits vorschwebte, ist mir hier im-mer klarer geworden und steht jetzt in unumstößlicherÜberzeugung fest: der Weg, welchen Österreich geht,führt zum Unheil! – Zum wahren Heil des Christent-hums und der Kirche müssen wir mit aller Kraft dar-an arbeiten, daß die Durchführung dieser Combinationverhindert werde, sie würde die Welt in Flammen set-zen und – selbst wenn ihr Zweck erreicht würde, nurdie allgemeine Auflösung nach sich ziehen.«

»Ich habe mit Bewunderung die großen und wei-ten Ideen verfolgt,« sagte der junge Priester, »welcheSie vorhin entwickelten, aber,« fügte er zögernd hinzu,»sollte es möglich sein, daß dieselben bei dem heili-gen Stuhle Eingang fänden? – werden nicht die altenAuffassungen von der absoluten, unantastbaren Auto-rität einer solchen Entfesselung der geistigen Bewe-gung entgegenstehen?«

»Wer den Geist fürchtet, wird ihn nie beherrschen,«erwiederte der Graf, »wer vermag das Meer in Däm-me zu schließen und der Bewegung seiner brandendenWogen Fesseln anzulegen?« fuhr er fort, »aber der Hei-land schritt, getragen von der Kraft des ewigen Wortes,

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herrschend über die Wellen hin, die sich demüthig zuseinen Füßen schmiegten. So soll die Kirche, durch-drungen vom ewigen Geiste Gottes, in siegreicher Zu-versicht ihren Fuß auf die Wogen der geistigen Strö-mung setzen, die rauschende Fluth wird sich gehorsamzu ihren Füßen legen. – Der heilige Vater war diesemGedanken nicht fern,« sagte er sinnend, »am Anfangeseines Pontifikats, und wäre früher kraftvoll in diesemSinne gehandelt worden, so wäre vielleicht heute dieMacht Gregors VII. in reinerer, edlerer und herrlichererForm wieder erstanden, doch noch ist es nicht zu spät,wenn auch spät – sehr spät.«

»Aber,« sagte der Abbé, »wenn auch eine Durchfüh-rung dieser großen Idee möglich wäre, wenn man ingroßartiger Kühnheit diesen Weg einschlüge, um diefreie Geistesherrschaft der Kirche zu begründen, sowürde es doch um so mehr die Aufgabe der katholi-schen Mächte sein, diese immer gewaltigere Erhebungdes protestantischen Preußens zu bekämpfen und inDeutschland wieder die Hoheit Österreichs zu befesti-gen, und doch wollen Sie –«

»Katholische Mächte?« rief der Graf, indem er sin-nend den Blick erhob, »wo sind die katholischen Mäch-te? – Ist der Name ›katholisch‹, wie er gewöhnlich ge-braucht wird, noch gleichbedeutend mit wahrem Chri-stenthum, mit der Kirche, wie sie Gott zum Heile derMenschheit auf Erden erbaut sehen will? – Ist eineMacht eine katholische, eine christliche, weil in den

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Kirchen ihres Landes die Messe gelesen wird? Ist Öster-reich eine katholische Macht, Österreich, welches imvorigen Jahre in eiliger Überstürzung die Existenz, dieMacht und das Recht der alten Kirche aufgab, Öster-reich, das jetzt nicht daran denkt, an einer wahren gei-stigen Regeneration der Kirche zu arbeiten und dazuin inniger Verbindung mit dem römischen Stuhl seinenganzen Einfluß aufzubieten, sondern statt dessen demseichten Liberalismus zuliebe eine wohlfeile Concessi-on macht und der Kirche einfach den Krieg erklärt, mitHintergedanken nach allen Seiten? – Ist Frankreich ei-ne katholische, eine christliche Macht? Frankreich, dasseit lange in dem Leben seines Staatsorganismus undseiner Gesellschaft alle Grundelemente des Christent-hums zerstört hat, Frankreich, das die Göttin Vernunftzwar nicht mehr auf den Straßen und öffentlichen Plät-zen einherfährt, dafür aber ihren Götzendienst pflegtin seinen Journalen, in seinen öffentlichen Versamm-lungen, auf dem Heerde seiner Familien? Frankreich,das seine Hand auf Rom legt, nicht zum Schutz der Kir-che, sondern um jede wahrhaft nationale Entwicklungunseres armen Vaterlandes zu verhindern? – Ist Itali-en eine christliche Macht, Italien, das eine Beute ge-worden dem piemontesischen Ehrgeiz und dem rothenWahnsinn eines Garibaldi? – Spanien etwa, dessen na-tionale Kraft sich nur noch in sporadischen Zuckungenerhebt, um den eigenen Leib zu zerfleischen?«

Er hielt inne und seufzte tief auf.

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»Blicken Sie dagegen hin auf dieses Deutschland,«fuhr er dann langsam mit voller Stimme fort, »auf die-ses Deutschland, das man uns als die ketzerische Machtbezeichnen möchte, dort ist der wahre Katholicismus,das wahre Christenthum, ich spreche nicht nur von denkatholischen Gebieten, sondern auch von den prote-stantischen, in Deutschland ist das Christenthum le-bendig sowohl im Staat und in der Gesellschaft, wiein der Familie. Das Heil der Kirche kann nur erwach-sen, wenn man dies in Rom erkennt, wenn man festund klar sich auf die deutsche Kraft stützt, an derenSpitze ich so gern das neugeborene Österreich gese-hen hätte, welche aber jetzt, und zwar für immer inden Händen Preußens ruht. Deutschland muß der ma-terielle Boden sein, auf welchen die Wiedergeburt derKirche sich stützt, anknüpfend an die ersten Gedan-ken Leos X. und Karls V. bei der Reformation. Wenndie päpstliche Curie es versteht, in inniger Verbindungmit Deutschland die freie, geistige Herrschaft der Kir-che wieder aufzurichten, dann wird auch der irdischeFelsen ihrer Unabhängigkeit mitten in den Brandungender italienischen Bewegung feststehen, das piemonte-sische Werk der Nacht wird nicht vollendet werden,wenn der erste Priester der Christenheit sich stützt aufden Arm des deutschen Kaisers.«

»Des deutschen Kaisers?« rief der Abbé mit tiefemErstaunen, »Sie glauben, daß das deutsche Reich wie-der erstehen werde durch Preußen?«

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»Ich glaube es,« fügte der Graf mit fester Stimme,»und ich erblicke darin, wie jetzt die Dinge gekom-men sind, das einzige Heil des Christenthums, der Kir-che, der Civilisation. Und daß dies geschehe, dafür willich arbeiten mit Eifer und Wachsamkeit, denn nichtohne schwere Kämpfe wird das Ziel erreicht werden,Gott gebe, daß dies nur Kämpfe der Geister sein mö-gen, denn wenn die Waffen entscheiden sollten, wenndie Gedanken und Pläne dieses alten Klindworth Wirk-lichkeit würden, so würde die Welt von Blut über-schwemmt werden.«

»Doch, was wird man in Rom zu dieser Auffassungsagen?« fragte der Abbé Rosti schüchtern und zögernd,»wenn man sie nicht billigte?«

»Dann wird die zweite Ära der Weltherrschaft Romsbeendet sein,« sagte der Graf mit düsterem Tone,»dann werden die Legionen des heutigen Rom inDeutschland ebenso ihr Grab finden, wie einst die stol-zen Kolonnen des Varus, doch,« fügte er hinzu, »ichhabe Andeutungen, daß die Stellung und BedeutungDeutschlands in Rom wenigstens empfunden, wennauch noch nicht klar erkannt wird, ich hoffe auf denscharfen Blick Antonellis, ich hoffe, daß der große undfreie Geist des heiligen Vaters die Schwingen, die ereinst so mächtig regte, wieder ausbreiten werde, umin siegreichem Adlerflug die Kirche hinüberzuführen indie neuen Jahrhunderte des Lichts und der Freiheit!«

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Der Abbé hatte die Hände gefaltet und blickte wieträumend in das von prophetischem Schimmer er-leuchtete Antlitz des Grafen.

»Sie öffnen mir Gesichte,« sagte er, »deren Hellemich blendet.«

»Möchten sie sich einst erfüllen,« sprach der Grafsanft, »zur immer größeren Ehre Gottes!«

EINUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Weit hinaus im alten Paris – in jenen Gegenden, wel-che der Fuß des Touristen selten betritt, und welchevielen, die jahrelang die glänzende Metropole bewohnthaben, unbekannt bleiben, in jenen Gegenden, in wel-chen man das leichte Rollen der eleganten Equipagennicht hört, in welchen man jenen bunten, reichen Toi-letten der Boulevards niemals begegnet, liegt die al-te enge Straße, an deren Ecken man auf dem blau-en Schilde mit weißen Buchstaben liest: »Rue Mouf-fetard«.

Wenn man diese Straße durchschreitet, so würdeman sich hundert Meilen von jener schimmernden,blitzenden, heitern und fröhlichen Welt glauben, wel-che zwischen der Place de la Concorde und dem Bou-levard Saint Martin hin und her wogt, plaudernd, la-chend, sehend und sich sehen lassend, getragen vonder moussirenden Oberfläche des Lebens, von gestern

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träumend in freundlicher Erinnerung, das Heute um-armend in reizendem, flüchtigem Genuß, dem Morgenzulächelnd in hoffnungsvoller Erwartung.

Dort herrscht die Freude, der Frieden mit dem blu-mengeschmückten Leben, und über all’ dem schnellenHin- und Hertreiben, über all’ der zitternden Bewe-gung liegt der Hauch glücklicher Ruhe, wie der stil-le Sonnenschein über den zitternden Blüthenhäupterneiner Frühlingswiese, welche die leichtbeschwingtenSchmetterlinge in der immer wechselnden Unruhe ih-res heiteren Spiels tändelnd umschweben.

Hier aber, in dem Viertel der Rue Mouffetard, daherrscht der schwere Kampf mit dem Leben, das seinekargen Genüsse sich nur durch harte Mühe abringenläßt, der Kampf auf allen Gebieten, der Kampf der ern-sten, unablässigen Arbeit, die im Schweiß des Ange-sichts das Brod erwirbt, der Kampf aber auch der Auf-lehnung gegen die Gesellschaftsordnung, welche dieGüter des Lebens so ungleich vertheilt, der Auflehnungin offener Revolution, wenn der Barometer des Staatesund der Gesellschaft auf Sturm zeigt, der Auflehnungin listiger Verschlagenheit, wenn die Macht der Autori-tät die gährenden Elemente kraftvoll zurückdrängt.

Aus diesen Quartieren sieht man am frühen Morgendie Arbeiter in ihren einfachen Blousen nach den Fa-briken und Werkstätten ziehen, um den Unterhalt fürsich und ihre Familien zu erwerben, ehernen Ernst aufden Zügen oder ruhige, stille Heiterkeit, je nachdem sie

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leichter oder schwerer das strenge Loos der ewig glei-chen Arbeit ertragen, denn hier herrscht nicht der Ge-nuß, sondern das Bedürfniß, und Genuß ist es schon,wenn der müde Arm ausruhen kann, ohne daß dasHerz unruhig schlägt in der Sorge um Nahrung undObdach, hier denkt man aufathmend an das überwun-dene Gestern, hier ringt man mit dem Heute in harterThätigkeit, hier sieht man fast bangend dem Morgenmit seinen neuen Bedürfnissen entgegen.

Neben den Arbeitern aber, die da ausziehen zum fe-sten und mannhaften Kampf mit dem Leben, sieht manaus diesen Quartieren hervorschleichen jene zweifel-haften und dunklen Existenzen, welche voll finsterenHasses in die helle, lachende Welt des Genusses her-aufsteigen, um durch Schlauheit und List ihren Ant-heil an den lachenden Freuden des Lebens zu gewin-nen, jene Herzen voll Grimm und Hohn, jene Köpfevoll Verschlagenheit und Tücke, welche in ewigem, un-versöhnlichem Kriege mit dem Gesetz und der Gesell-schaft dahinleben wie das Wild des Feldes, verfolgt vonden Spürhunden und Jagdnetzen der Polizei, welcheebenso zahlreich, listig und fein verschlungen sind wiedie künstlich gegliederte Thätigkeit derjenigen, welchesie überwachen und fangen sollen.

Denn hier wohnt das Volk, das wirkliche wahre Volkmit all’ seinem tiefen, großen Heroismus und mit al-len jenen schrecklichen Instincten, welche aus den Tie-fen der Hölle in die Menschenseele heraufsteigen. Von

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hier aus marschieren sie heran, jene ernsten, unerbittli-chen Schaaren, die unter den Klängen der Marseillaisedie Königspaläste zertrümmern, aber denjenigen töd-ten, der zwischen den Trümmern einen in den Staubgetretenen Edelstein aufhebt und in die Tasche steckt,von hier aber auch wälzen sie sich her unter dem wü-sten Geheul des Ça ira, jene grimmigen Horden, wel-che hohnlachend über die Leichen hinschreiten, wel-che mit gieriger Lust im Blute waten, welche in un-versöhnlich wüthendem Haß gegen Alles, was auf denHöhen des Glückes, des Lichtes und der Freude wohnt,die Herzen aus den zuckenden Leibern reißen und wiedie Dämonen der Vernichtung über die Gesellschafthereinbrechen.

So sind die Bewohner der Viertel, in welchen die RueMouffetard liegt. Die Häuser stehen fast alle offen indieser Straße, denn hier sind keine Schätze zu holen,und wenn auch zahlreiche Personen da sind, für wel-che die Grenzen des Eigenthums keineswegs den Nim-bus der Unverletzlichkeit haben, so liegt deren Thätig-keit weit außerhalb in den Gebieten des Reichthumsund des Luxus. Hier sieht man keine glänzenden Maga-zine, einfache Läden befinden sich in den Erdgeschos-sen der Häuser, meist gefüllt mit alten Sachen odereinfachen Lebensmitteln, den Bedürfnissen der Bevöl-kerung angemessen, hie und da kleine Restaurants, inwelchen die Arbeiter ihre bescheidene Nahrung finden,

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marchands de vin, bei welchen man in dunklen, niedri-gen Stuben jenes zweifelhafte rothgefärbte Getränk zusich nimmt, das von dem Wein eben nur den Namenund die berauschende Kraft besitzt; diese berauschen-de Kraft, welche der Mensch unter allen Zonen und inallen Lagen des Lebens sucht, um die Freude zu erhö-hen oder das Elend zu vergessen.

In einer der Vormittagsstunden, in denen man au-ßer den regelmäßig auf ihren Stationen einhergehen-den Sergents de Ville wenig Menschen hier begeg-net, bog eine junge, einfach und ärmlich gekleideteFrau in die Rue Mouffetard ein. Sie trug ein hochan-schließendes Kattunkleid, einen alten wollenen Shawlund einen Hut von dunklem Strohgeflecht mit einemziemlich verschossenen Sammtband. In der Hand hieltsie eine nicht zu große Tasche, welche ihre nothwen-digsten Gepäckstücke enthalten mochte. Denn augen-scheinlich war diese Frau hierher gekommen, um indiesem Quartier der Arbeit eine Wohnung zu suchen,sie ging langsam vorwärts und betrachtete prüfend dieHäuser. Wo sie eine Tafel mit der Anzeige sah, daß hiermeublirte Zimmer zu vermiethen seien, blieb sie einenAugenblick stehen und ließ ihren Blick über die Frontder Gebäude und die Fenster der einzelnen Stockwerkelaufen, es schien aber bis jetzt diese Prüfung nicht zuihrer Befriedigung ausgefallen zu sein, denn sie schrittimmer weiter, ohne daß sie Miene gemacht hätte, ineines der Häuser einzutreten, welche auch in der That

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nicht besonders dazu einluden und durch den eigent-hümlichen dumpfen, kalten Hauch, der aus ihren ge-öffneten Thüren drang, sehr wenig Reinlichkeit undBehaglichkeit in ihrem Innern versprachen.

Endlich war die junge Frau bis fast zur Mitte derStraße gekommen und blieb vor einem Hause stehen,das ein Wenig ordentlicher und eleganter erschien,wenn dieser Ausdruck überhaupt für die Verhältnissein jener Gegend passen könnte, als die übrigen.

Die junge Frau betrachtete aufmerksam die Fensterder drei Etagen dieses schmalen Hauses, warf einenforschenden Blick auf die Hausnummer und trat dann,wie einem plötzlichen Entschlusse folgend, durch dieschmale offenstehende Thür in einen dunklen Flur. Ei-ne Art von Zimmer oder Laden im Erdgeschoß; unmit-telbar neben dem Eingang von der Straße saß ein alterMann beschäftigt mit der Ausbesserung defekter Stie-fel und Schuhe, die in allen Größen und Formen umihn her standen.

Beim Eintritt der jungen Frau hob er den Blick voneinem derben Schuh empor, dessen Sohle er mit demharten und vielgefalteten Oberleder wieder in festenZusammenhang zu bringen bestrebt war, und sah dieEintretende durch die großen Gläser seiner auf die Na-se geklemmten Brille fragend an, denn neben seinemHandwerk übte er die Functionen eines Concierge desHauses aus.

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»Sie wünschen, Madame?« fragte er mit jenemgleichgültig ruhigen Tone, welcher den Concierges inallen Häusern, den elegantesten und vornehmsten wieden einfachsten, gemeinsam ist.

Die junge Frau trat mit etwas schüchterner Bewe-gung an den Eingang des Zimmers, in welchem der Al-te arbeitete, und sprach mit bescheidenem Tone: »Ichmöchte die Zimmer sehen, welche auf der Tafel vor derThür zum Vermiethen angeboten werden.«

Das volle Licht fiel auf das Gesicht der Eintretenden,und wenn auch deren Anzug vollkommen mit demCharakter der Straße und des Hauses übereinstimmte,so flog doch der Ausdruck eines gewissen Erstaunensüber die Züge des alten Schuhflickers, als er dies zar-te Gesicht vom edelsten griechischen Schnitt erblick-te, der sanfte Blick der großen, schwarzen Augen, dashalb verlegene, halb verbindlich höfliche Lächeln desfrischen Mundes schien ihn sympathisch zu berührenund freundlich antwortete er:

»Im dritten Stockwerk, bei Madame Raimond – Ma-dame; Mademoiselle,« fügte er sich verbessernd mit ei-nem Blick auf die so jugendliche Erscheinung der Woh-nungsuchenden hinzu.

»Madame,« sagte sie, die Augen niederschlagend.Er nickte leicht mit dem Kopfe. »Ich hoffe, Mada-

me, daß Sie finden mögen, was Sie suchen, es ist eingutes, ordentliches Haus,« und er grüßte freundlicher

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als sonst die junge Frau, die mit einem kurzen, höfli-chen: »Ich danke, mein Herr!« sich nach dem Innerndes Hauses wendete und die engen und dunkeln, aberverhältnißmäßig reinlichen und gut gehaltenen Trep-pen hinaufstieg.

Im dritten Stock angekommen, zog sie den einzi-gen dort befindlichen Glockenzug und nach einigenAugenblicken erschien eine alte Frau mit hoher wei-ßer Schürze und einfacher, das ganze stark geröthete,freundlich blickende Gesicht umschließender Haube.

»Ich wünsche die Zimmer zu sehen, welche Sie ver-miethen wollen, Madame.«

Zuvorkommend öffnete die alte Frau die Thüre desVorplatzes und führte die Fremde in ein kleines, ein-fensteriges Zimmer nach dem Hofe hinaus, welchesmit einem einfachen, rein überzogenen Bett, einemSchrank, einem einfachen Tisch und einigen Stühlenmeublirt war.

Die Fremde ließ ihren Blick über das Ganze gleitenund schien von dem Eindruck desselben befriedigt.

»Das genügt, Madame,« sagte sie, »ich bedarf nichtviel und mache wenig Ansprüche.«

»Ich habe noch ein Zimmer auf der anderen Seitenach der Straße hinaus,« sagte die Alte, »es ist größerund schöner – aber auch theurer.«

»Oh nein, dies genügt vollständig, und der Preis?«»Fünfzehn Franken den Monat.«

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Nach einem kurzen Nachdenken erwiederte die jun-ge Frau:

»Gut – das würde mir conveniren, indes,« fuhr sieetwas zögernd fort, »ich bin allein, Madame, ich wün-sche still und zurückgezogen zu leben, ich bin Wittwe,bin aus besseren Verhältnissen in unerwartete Noth ge-rathen und auf den Ertrag meiner Arbeit angewiesen,wer wohnt sonst noch bei Ihnen? – Ich lege Werth dar-auf, die Umgebung zu kennen, in welcher ich lebe,«sagte sie mit einiger Verlegenheit an ihrem Shawl zup-fend.

»Oh,« rief Madame Raimond, indem ein freundlicherBlick aus ihren kleinen grauen Augen über die schlan-ke Gestalt der Fremden glitt, »Sie kommen bei mir inein gutes Haus, ich nehme keine schlechte Gesellschaftauf, sehen Sie, hier neben Ihnen wohnt ein sehr or-dentlicher, braver junger Mann, fleißig und sparsam,George Lefranc, er ist Schornsteinfeger, eine einträgli-che Arbeit, er verdient viel Geld für seine Verhältnisse,aber er verschwendet es nicht. Sie werden sich viel-leicht einmal erschrecken, wenn Sie ihn kommen se-hen im Anzug seiner Arbeit, aber eine halbe Stundedarauf, da ist er so rein und sauber – und ein so braver,guter Junge, er liest mir zuweilen vor und pflegt mei-ne Blumen, oh Sie werden gewiß zufrieden sein, ihnkennen zu lernen.«

Die Fremde neigte leicht den Kopf.

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»Und dort?« fragte sie, auf die gegenüberliegendeThür deutend.

»Das ist das Zimmer nach der Straße,« sagte die Alte,»von welchem ich Ihnen vorher sprach, es ist noch frei,aber Sie können ganz ruhig sein –, es wird nur an ganzordentliche Leute vermiethet, ich halte streng darauf,genau zu wissen, wen ich bei mir aufnehme. – Doch,«fuhr sie etwas stockend fort, »darf ich nach Ihren Ver-hältnissen fragen? – Sie verzeihen,« sagte sie und aber-mals fuhr ihr Blick wohlgefällig über die so einfache,ärmliche, aber saubere und zierliche Erscheinung derFremden, »nicht, daß ich irgend einen Zweifel hätte –«

»Sie haben Recht, Madame,« sagte die junge Frau lä-chelnd, »und Ihre Vorsicht beruhigt mich, ich bin ausdem Elsaß, mein Name ist Madame Bernard, ich bindie Wittwe eines unteren Beamten, mein Mann starbnach kurzer Ehe und ließ mich allein, ich bin nach Pa-ris gekommen, da man mir sagte, daß ich hier leichterGelegenheit finden würde, durch meine Arbeit meinBrod zu verdienen, ich bin seit vier Wochen hier, durchEmpfehlungen habe ich ausreichende Arbeit gefundenin Weißnäherei und Stickerei, ich wohnte in der Nä-he der Boulevards, aber dort waren mir die Preise zuhoch, ich möchte etwas erübrigen für unvorhergesehe-ne Fälle, man sagte mir, daß ich in dieser Gegend wohl-feiler leben könnte, ich kam hierher, sah dies Haus, dasmir gefiel und Vertrauen erweckte, und hoffe hier einUnterkommen zu finden, meine Arbeit liegt freilich in

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den reichen Quartieren, aber,« sagte sie lächelnd, »dasmacht mir nur eine Stunde früheres Aufstehen nöthig,und das ist wenig, wenn man jung und gesund ist. –Dies ist meine Lage, Madame,« fuhr sie fort, indem sieihre Handtasche öffnete und daraus ein einfaches Por-tefeuille in schwarzem Leder hervorzog, »hier meineLegitimation.« – Sie reichte Madame Raimond ein Pa-pier, welches sie aus dem Portefeuille nahm.

Diese warf einen Blick hinein und gab es freundlichmit dem Kopf nickend zurück.

»Vortrefflich – sehr gut, meine liebe Madame Ber-nard,« sagte sie, »Alles in bester Ordnung, ich freuemich, Sie als Hausgenossin aufzunehmen, ich hoffe,Sie werden sich bei mir wohlfühlen, ich werde Sie mitHerrn George Lefranc bekannt machen, er ist heutefrei, und wird bald nach Hause kommen.«

»Ich danke, Madame,« sagte die in ihrem Legitima-tionspapier als Madame Bernard bezeichnete Fremdemit ruhigem, fast abwehrendem Tone, »ich habe kei-nen Wunsch, Bekanntschaften zu machen. – Doch,«fügte sie nach einigem Nachsinnen hinzu, »ich möchteSie bitten, mir irgend jemand nachzuweisen, der mei-nen Koffer holen könnte, den ich bei dem Conciergeeines Hauses, in welchem ich arbeite, stehen ließ, erist mir zu schwer, ich will den Fiacre bezahlen, wennHerr George vielleicht –«

»Thorheit, Thorheit, mein liebes Kind,« rief MadameRaimond lebhaft, »Sie verzeihen, daß ich Sie so nenne,

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aber ich habe vom ersten Augenblick an eine ganz be-sondere Sympathie für Sie, Thorheit sage ich, das un-nütze Geld für einen Fiacre auszugeben, Herr Georgewird mit einem kleinen Handkarren, den ich für solcheFälle unten im Hause stehen habe, Ihren Koffer holen.«

»Madame,« sagte die junge Frau zögernd, »für eineFremde –«

»Ich sage Ihnen, er thut es gern,« rief die Alte, »mei-ne Hausbewohner haben noch immer auf einem sehrguten Fuß miteinander gestanden und ich wette, Siewerden auch freundlich und gefällig sein, wenn es ein-mal gelten sollte, dem guten Burschen die Wäsche aus-zubessern oder eine Cravatte zu machen.«

Ein ganz eigenthümliches Lächeln zuckte einen Au-genblick um die Lippen der Madame Bernard, dann er-griff sie schnell mit kindlichem Ausdruck die Hand deralten Frau und rief mit herzlichem Tone: »Oh gewißwerde ich Alles thun, um gute Nachbarschaft zu hal-ten, bei Ihnen können ja nur brave Leute wohnen, wiefreue ich mich, daß ich hier in dieses Haus ging, ichwerde hier gewiß ein Asyl finden, um so ruhig und zu-frieden zu leben – als – es mir überhaupt noch möglichist,« fügte sie seufzend hinzu.

Die Alte sah sie freundlich und mitleidig an.»Nun, nun,« sagte sie, ihr leicht auf die Schulter

klopfend, »wenn man so jung ist wie Sie, muß manden Muth nicht verlieren, auch wenn man schwer vomSchicksal geprüft wird, doch,« fuhr sie heiterer fort,

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»nun richten Sie sich ein in Ihrem Stübchen, wenn Sienoch etwas bedürfen, so sagen Sie es, ich werde für Siethun, was möglich ist.« Und sie führte die junge Frau inihr Zimmer, mit aufmerksamem Blick die Meubel mu-sternd und hie und da geschäftig den Staub abputzend.

»Da ich nun von meinem Zimmer Besitz nehme,«sagte Madame Bernard, »so muß ich auch meinerseitsmeine Verpflichtungen erfüllen,« sie nahm aus ihrerHandtasche eine wollene Geldbörse, zählte von demInhalt derselben vier große silberne Fünffrankenstückeab und legte sie auf den Tisch, »hier, Madame, die fünf-zehn Franken für den Monat und fünf Franken als Vor-lage für meine kleinen Bedürfnisse, ein Wenig Milcham Morgen, ein Weißbrod.«

»Oh es wäre nicht nöthig gewesen,« sagte MadameRaimond, »ich habe Vertrauen zu Ihnen.« Doch zeig-te der Ausdruck ihres Gesichts deutlich, daß der Be-weis, welchen ihre neue Mietherin von der pünktlichenErfüllung ihrer Zahlungsverpflichtungen gegeben, derSympathie, welche sie ihr eingeflößt, keinen Abbruchgethan habe.

»Es ist so meine Gewohnheit, ich bitte,« sagte diejunge Frau.

Ein kräftiger, rascher Schritt, welcher die Treppe her-auf ertönte, unterbrach das Gespräch. – Madame Rai-mond nahm die vier Geldstücke, ließ sie in ihre Taschegleiten und rief rasch nach der Thür hineilend:

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»Da kommt Herr George, ich werde ihn gleich bitten,Ihren Koffer zu holen.«

Langsam folgte ihr die junge Frau und blieb im Rah-men der Thür stehen, den Blick des großen dunklenAuges forschend und gespannt auf einen kräftigen,schlanken Mann von ungefähr sieben- bis achtund-zwanzig Jahren richtend, welcher soeben die letztenStufen der Treppe heraufgestiegen war und auf denVorplatz trat, den Madame Raimond noch nicht wie-der verschlossen hatte.

»Gut, daß Sie kommen, Herr George,« rief die Al-te lebhaft, »Sie haben eine Nachbarin, es wird wiederetwas mehr Leben in das Haus kommen, ich habe so-eben das Zimmer neben dem Ihrigen vermiethet, ichbin überzeugt, Sie werden sich ebenso freuen, wie ich;ich habe schon über Ihre Gefälligkeit disponirt, es han-delt sich darum, den Koffer unserer neuen Hausgenos-sin zu holen, sie wollte einen Fiacre dazu anwenden,die Übermüthige; aber ich sagte sogleich: Herr Georgeist da, Herr George ist die Gefälligkeit selbst, er wirdIhnen Ihren Koffer holen.«

Der junge Mann, an welchen diese lebhafte Rede ge-richtet war, trug eine blaue Blouse, aus der ein wei-ßer frischer Hemdkragen, von einer schwarzen Cravat-te zusammengehalten, hervorragte. Sein starkes, locki-ges Haar, von einer leichten, kleinen Mütze bedeckt,ließ nur wenig die niedrige und schmale, aber schöngewölbte Stirn frei, die etwas tief liegenden großen,

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dunklen Augen blickten streng in fast düsterem Feu-er unter starken Augenbrauen hervor, die leicht gebo-gene Nase, der fest geschlossene Mund und das kräf-tig hervortretende Kinn gaben diesem ganzen magerenund blassen Gesicht den Ausdruck innerer verschlosse-ner Energie, gestählt und gehärtet im Kampf mit demLeben, aber auch einseitig und starr geworden in derBeschränkung enger Verhältnisse. Es war das einer je-ner Köpfe, wie man sie auf den Bildern der Puritanerfindet, einer jener Köpfe, welche starre Willenskraft,grausame Harte in sich bergen, aber auch ebenso vielglühende, verzehrende Leidenschaft.

Der junge Mann nahm seine Mütze ab und sagte, in-dem der tiefe Blick seines Auges sich durchdringendauf die neue Mitbewohnerin dieser ärmlichen Häus-lichkeit richtete:

»Mit Vergnügen, Madame, werde ich Ihnen gefälligsein, – es ist das ja so natürlich unter uns armen Ar-beitern, es ist bei uns nicht wie bei den Vornehmenund Reichen, die sich gegenseitig verfolgen und ver-leumden, wir müssen zusammenhalten und einanderunterstützen.«

»Nun, nun,« rief Madame Raimond, »es giebt auchhier unter uns Verfolgung und Verleumdung, aber dasist nun einmal ein Glaubensartikel des Herrn George,«sagte sie mit gutmüthigem Lächeln, »wenn man ihnhört, so müßten alle reichen Leute durch einen neuen

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Feuer- und Schwefelregen von der Erde vertilgt wer-den.«

Die junge Frau hatte mit lebhafter Neugierde das socharaktervolle Gesicht des Arbeiters betrachtet, wel-ches bei seinen Worten einen feindlichen, bitteren Aus-druck angenommen hatte.

Sie trat einen Schritt zu ihm hin und sagte mit sanf-ter, trauriger, aber herzlich anklingender Stimme:

»Sie haben Recht, mein Herr, ich bin eine Arbeite-rin wie Sie, ich gehöre ebenfalls zu denen, welchendiese Erde keine freundliche, lächelnde Heimath ist,welchen sie ihre Freuden und Genüsse nur um denPreis schwerer Sorge und Mühe zögernd darreicht. –Wir müssen uns unterstützen, wir müssen uns beiste-hen, wir sind ja Brüder und Schwestern,« fügte sie miteinem reizenden, wehmüthigen Lächeln hinzu, »unddarum, mein Herr, nehme ich Ihren Dienst, den ich vor-her kaum zu erbitten wagte, jetzt mit freudigem Dankan, – Sie werden es mir ebenso sagen, wenn ich Ih-nen etwas helfen kann, wir sind Verwandte in Armuth,Arbeit und Entbehrung.«

Und mit einer anmuthig bescheidenen Bewegungreichte sie dem jungen Manne die Hand.

Dieser ergriff sie mit einem Ausdruck leichten Er-staunens. Er hörte seine Grundsätze, die er so oft aus-gesprochen, von denen er so überzeugungsvoll durch-drungen war, hier so natürlich, so wohlthuend freund-lich von einer Stimme aussprechen, deren weicher

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Wohlklang nicht zu den Umgebungen paßte, in wel-chen er zu leben gewohnt war, und die ihm wohl-thuend zum Herzen drang.

Er hielt die Hand der jungen Frau einen Augenblickfest, ihr Blick begegnete dem seinen mit einem wun-derbar innigen, magnetischen Strahl, sein Auge senktesich und eine flüchtige Röthe färbte einen Augenblickdies blasse, strenge Gesicht.

»Erlauben Sie, Madame,« sagte er dann mit etwasleiserer, fast befangener Stimme, »daß ich Sie um dieAdresse bitte, von welcher ich Ihren Koffer holen soll,ich bin heute frei und kann das sogleich besorgen, Siewerden Ihrer Sachen bedürfen.«

Sie öffnete das Portefeuille, aus welchem sie vorherbereits ihr Legitimationspapier genommen, und reichteihm einen beschriebenen Papierstreifen.

»Chaussée d’Antin Nr. 37« las er.»Beim Concierge,« sagte sie erläuternd, »für Mada-

me Bernard, er kennt mich weiter nicht, auf Empfeh-lung einer Bekannten, der Kammerjungfer einer vor-nehmen Dame, hat er meine Effekten solange in seineLoge gestellt, bis ich sie abholen lassen würde.«

»Es ist gut, Madame, ich gehe.«Und schnell sich umwendend stieg der junge Mann

die Treppe hinab.Madame Bernard aber trat in ihr neugemiethetes

Zimmer, dankte ihrer Wirthin für alle weitere Hilfe,welche sie ihr freundlich anbot.

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»Heute abend werde ich Sie um eine Tasse Milch undein Weißbrod bitten,« sagte sie, »das wird nicht zu vielMühe machen?«

»Bewahre, bewahre,« rief die Alte, »richten Sie sichimmer hier ein Wenig ein. – Heute abend kommen Siezu mir in mein Zimmer, um Ihre Milch zu nehmen, wirplaudern ein Wenig, Herr George leistet mir auch Ge-sellschaft, oh, wir werden sehr vergnügt und zufriedensein, Sie werden sich hier gewiß bald heimisch fühlen.«

Und mit freundlichem Kopfnicken verließ sie dasZimmer.

Kaum war die junge Frau allein, als der demüthig be-scheidene, wehmüthig stille Ausdruck von ihren Zügenverschwand; ein feuriger Blitz zuckte aus der erweiter-ten Pupille ihrer großen Augen, stolz kräuselte sich dieLippe empor und ließ eine Reihe weißer und zierlicherZähne erblicken, sie warf den Kopf ein Wenig zurück,schritt einige Male durch das Zimmer und warf einenprüfenden Blick auf diese so friedliche, einfache undtrotz ihrer Ärmlichkeit anheimelnde Umgebung.

»So bin ich denn auf dem Terrain,« flüsterte sie, »undmeine Aufgabe beginnt! – Es thut wohl,« fuhr sie nacheinem Augenblick aufathmend fort, »aus diesem wei-chen, erschlaffenden Nichtsthun einmal die Kräfte an-zuspannen zu ernster Thätigkeit. Ich liebe den Genuß,«sagte sie sinnend, »den Luxus des Reichthums, aber dasAlles ist nur das weiche Lager, auf welchem wir aus-ruhen zur höheren Anspannung der Kraft des Geistes

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und des Willens, der wahre Genuß, der einzige, derbefriedigen kann, das ist die Herrschaft, die Herrschaftüber das Leben und seine Verhältnisse, über die Men-schen und ihre Schicksale! Den freien Willen der Men-schen zu lenken zu meinen Zielen, durch die Machtdes Geistes jene Saiten des Organismus, die man Ge-fühl, Denken, Wollen, Hassen und Lieben nennt, mitmeinen Händen in Schwingung zu setzen, damit denTon geben, den ich bedarf, das ist eine Aufgabe, diemich reizt, die meiner würdig ist! – Erzählen nicht,«fuhr sie fort, den Kopf auf die Brust senkend, »erzäh-len nicht jene Märchen, welche immer und immer wie-der die Jugendträume der wechselnden Generationenbeleben, von den Feen, die da herabsteigen aus ihrenglänzenden Regionen, um sich in vielfachen Gestaltenunter die Menschen zu mischen und mit der Spitzeihres Zauberstabes die Fäden des Schicksals zu len-ken, zu knüpfen und zu lösen in unsichtbar mächti-gem Spiel? – Nun,« rief sie, sich stolz ausrichtend mittief aufleuchtendem Blick, »womit die Märchendich-tung die Einbildungskraft reizt, damit will ich mein Le-ben schmücken, in unsichtbarer Macht die Menschen-schicksale zu lenken an geheimnißvoll zarten Fäden,das soll meine Freude und meine Lust sein. Geist undWillen sind die Zauberkräfte, welche mir dienen sollen,und so lange dieser Zauber mir die Macht giebt zur un-sichtbaren Herrschaft, will ich gern verzichten auf alle

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jene zarten Blüthen der Freude, welche das Leben an-derer Menschen in stiller Genügsamkeit schmücken.«

Sie blieb stehen, die Hand auf den Tisch gestützt,den Kopf erhoben, die brennenden Lippen geöffnet,die strahlenden Augen weit aufgeschlagen, und wersie hatte sehen können in dieser bescheidenen Umge-bung, diese ärmlich gekleidete Frau mit dem wunder-bar glühenden Blick, in der stolzen Haltung einer weit-herrschenden Königin, der hätte wohl daran denkenmögen, daß einst die Feen, die mächtigen Bewohnerdes Reiches der Dämonen, hinabstiegen, um verwir-rend oder segnend einzugreifen in die Schicksale derim Staub der Erde sich mühenden Menschen.

Sie trat vor den kleinen Spiegel und warf einen Blickauf ihre Gestalt, die ihr das etwas fleckige Glas zurück-warf. – Ein heiteres Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Wenn mich hier die Bewunderer der MarchesaPallanzoni sehen könnten,« rief sie in heiterem To-ne, »diese Verkleidung ist in der That unendlich ko-misch! Aber die Sache ist ernst,« fuhr sie sinnend denKopf senkend fort. »Werde ich meine Aufgabe erfüllenkönnen? – Der Kopf dieses jungen Mannes,« fuhr sieflüsternd fort, »ist sehr merkwürdig, er ist nicht wiedie anderen Köpfe aus seinem Kreise, er ist originellerselbst als die meisten, denen ich in anderen Sphärendes Lebens begegnet bin, viel Willen, viel Muth, vielMißtrauen,« sie hielt an und blickte ernst vor sich nie-der, »aber auch viel Gluth und Leidenschaft,« rief sie

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mit einem triumphirenden Lächeln, »und wo die Lei-denschaft aufflammt, da beginnt meine Herrschaft!«

Sie ließ sich langsam auf den Stuhl nieder, strich mitder schönen weißen Hand über die Stirn und blickte inlächelndem Nachdenken vor sich hin.

»Es wird ein schönes und interessantes Spiel wer-den,« sagte sie dann, »hier in den Tiefen des Lebensdiesen menschlichen Charakter zu studiren, zu um-schlingen und zu beherrschen, eine Studie, die mei-ne Macht wieder erhöhen und vergrößern wird, dennim Grunde sind sie doch alle gleich, die Regungenund Neigungen des Menschenherzens in den dunklenTiefen und auf den sonnigen Höhen, nur daß hierdie Leidenschaften in gewaltiger Naturkraft toben undringen, während dort oben,« sagte sie achselzuckendmit einem unendlich verachtungsvollen Aufwerfen derLippen, »während dort oben sie matt, kraftlos undentnervt sich dahinschleppen in lächerlichem Mario-nettenspiel! Wenn man des Menschenherzens Leiden-schaften hier zu beherrschen und zu leiten gelernt hat,dann ist man dort oben unumschränkte Königin mit ei-nem Wink des Fingers, mit einem leichten Hauch desMundes. – Und hier unten,« fuhr sie fort, »wie dortoben wird doch die übermüthige Kraft, das selbstbe-wußte Hochgefühl der Männer, die sich die Herrender Schöpfung nennen, immer gebrochen und gelei-tet durch jene Macht, welche man die Liebe nennt,

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und welche die Natur uns gab, um die Welt zu be-herrschen in unserer scheinbaren Schwachheit! – DieLiebe,« sagte sie leise, indem sie in sich selbst zusam-mensank, »hat sie doch auch mein festes Herz besiegt,kann doch auch ich selbst sie nicht vergessen!« Träu-merisch das Haupt tief herabneigend bedeckte sie diein sanftem Schimmer sich verschleiernden Augen mitden Händen und blieb stumm und regungslos sitzen,den Bildern folgend, welche die Erinnerung in ihrerSeele aufsteigen ließ.

Ein starker Glockenzug an der äußeren Thüre er-weckte sie nach längerer Zeit aus ihrer Träumerei.

Sie hörte die Thüre öffnen, ein kräftiger Schritt er-tönte auf dem Vorplatz – rasch erhob sie den in dieHände gestützten Kopf und der bescheidene, kind-lich wehmüthige Ausdruck trat wieder auf ihrem Ge-sicht hervor, während in ihrem Auge noch ein weich-schimmernder Glanz zurückgeblieben war, ein letzterStrahl der Erinnerungsbilder, die sie tief in’s Herz hin-abdrängte, sie war wunderbar schön, ein Bild der de-müthigen Ergebung, der stillen Resignation.

Nach einem kurzen Klopfen öffnete sich ihre Thürund herein trat Madame Raimond, der junge Arbeiterhinter ihr, einen kleinen Koffer auf der Schulter tra-gend.

»Hier, meine Liebe,« rief die freundliche alte Frau,»sind Ihre Sachen, Herr George ist unglaublich schnellwieder zurückgekommen, oh er ist so gern gefällig.«

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George stellte den Koffer zu Boden und erwieder-te mit einem artigen schweigenden Kopfnicken denDank, welchen ihm die junge Frau in herzlichen Wor-ten aussprach. Sein Blick ruhte dabei fest in fast düste-rer Gluth auf ihrem anmuthigen Gesicht.

»Nun lassen wir sie,« sagte Madame Raimond, denjungen Mann zur Thür hinausdrängend, »Sie werdensich in Ihrer neuen Heimath ein Wenig einrichten. –Heute abend aber,« fuhr sie dann fort, »kommen Sie zumir, Herr George kommt auch, nicht wahr, wird wer-den ein Wenig plaudern oder Herr George wird unsetwas vorlesen, und dabei werden wir die Grundla-gen guter Geselligkeit und Nachbarschaft legen, oh wirwerden ebenso heiter und zufrieden sein, wie man esin den Gesellschaften der großen Welt nur immer seinkann. Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen, meine Lie-be, wenn Sie nur halb soviel Zuneigung zu mir gewin-nen, wie Sie mir schon eingeflößt haben, so werdenwir die besten Freunde werden.« Sie verließ mit demjungen Mann, der noch einen langen Blick auf die neueMitgenossin dieser so armen und einfachen Häuslich-keit warf, das Zimmer.

Die junge Frau, welche einst in Wien Madame Bal-zer war, welche auf den Promenaden des eleganten Pa-ris als Marchesa Pallanzoni erschien und welche jetzthier als die arme Arbeiterin Madame Bernard in diesen

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kleinen stillen Kreis des armen, glanzlosen Lebens ein-getreten war, diese allen Verhältnissen mit so anmuthi-ger Sicherheit sich anschmiegende Frau packte ihrenkleinen Koffer aus, welcher in geschickter und sorgfäl-tiger Auswahl Alles enthielt, was zur fahrenden Habeeiner armen Arbeiterin gehören mag. Sie breitete aufdem Tisch einige feine Arbeiten aus und begann eif-rig und mit gewandter Geschicklichkeit zur Vollendungderselben die Nadel zu führen – tief in ihre Gedankenversunken, zuweilen den Blick träumerisch emporrich-tend, zuweilen finster vor sich hinstarrend, bald aberwieder die schönen, feinen Lippen zu siegesgewissemLächeln öffnend.

Als mit der sinkenden Sonne Madame Raimond zuihr eintrat, staunte sie über die Feinheit der kostbarenStoffe, welche ihre neue Mietherin vor sich ausgebrei-tet hatte, noch mehr aber über die kunstvollen Sticke-reien, welche die fleißige Arbeiterin auf diesen Stoffenhervorgebracht hatte.

»Ah,« rief sie, »welch eine Kunstfertigkeit! Bei soviel Geschicklichkeit und solchem Fleiß kann es Ihnennicht fehlen. – Sie werden reich werden. Doch jetztist es genug für heute, die Sonne sinkt und Sie dür-fen Ihre Augen nicht anstrengen, kommen Sie zu mir,Sie sollen hier nicht einsam sitzen, und mir thun Sieauch einen Gefallen, ich bin eine alte, gesellige Frauund mag nicht gern abends allein sitzen.«

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Sie ergriff in freundlicher Geschäftigkeit den ArmAntoniens und führte sie über den Vorplatz in ihr eige-nes Wohnzimmer, das mit jener in Frankreich auch denbeschränktesten Verhältnissen eigenthümlichen behag-lichen Sauberkeit eingerichtet war. Vor dem mit einemgehäkelten wollenen Vorhang bedeckten Kamin stan-den einige alte, aber bequeme und gut erhaltene Lehn-stühle, der Kaminsims war geschmückt mit einfachenVasen, aus welchen zwei Büschel von Pfauenfedernhervorragten, ein einfacher Teppich bedeckte den Bo-den, auf einem Tisch zwischen den Lehnstühlen standeine kleine Lampe, im Hintergründe sah man in einemAlkoven das breite, mit dunklen Vorhängen umzogeneBett der alten Frau.

Diese drückte ihren Besuch sanft in einen der Lehn-stühle nieder und sagte, indem sie sich ihr gegenübersetzte:

»So – nun ruhen Sie aus, bald sollen Sie Ihre Milchhaben, wenn Sie nicht vorziehen, eine Tasse von mei-nem Kaffee zu nehmen, Herr George wollte auch kom-men, er ist vorhin noch ausgegangen. – Ah! da ist erschon!«

Und mit freundlichem Kopfnicken begrüßte sie denjungen Arbeiter, welcher nach einem kurzen Klopfenan die Thüre in das Zimmer trat.

Er trug einen kleinen Handkorb und näherte sich mitein wenig zögernder Verlegenheit den beiden Frauen.

Antonie stand auf und reichte ihm die Hand.

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»Guten Abend, mein lieber Nachbar!« sagte sie mitsanfter Stimme.

Der junge Mann ergriff die dargebotene Hand undindem sein Blick dem warmen Strahl begegnete, deraus dem Auge seiner neuen Nachbarin ihm entgegen-kam, färbten sich abermals seine Wangen mit einerleichten Röthe.

»Madame Raimond,« sagte er, den Korb auf denTisch setzend, »da wir heute die Ankunft einer neu-en Hausgenossin feiern, so habe ich mir erlaubt, einenkleinen Beitrag zu unserem Souper zu bringen, Sie er-lauben es mir, nicht wahr?«

Er öffnete den Korb und brachte daraus eine je-ner schönen, goldbraun gebackenen Kalbfleischpaste-ten hervor, welche man in den Bäckereien von Parisso vortrefflich zu machen versteht und welche niemalsauf dem Tisch der kleinen Bürger und Arbeiter fehlen,wenn es gilt, der gewöhnlichen Nahrung einen festli-chen Zuwachs zu geben.

Dann stellte er eine Flasche leichten rothen Burgun-derweines daneben, und indem er sein dunkles Augevon Madame Raimond auf seine junge Nachbarin hinwendete, sagte er mit treuherzigem Tone:

»Die Damen werden meinen kleinen Beitrag nichtverschmähen, es ist mir eine große Freude.«

Freundlich mit offenem Blick sagte Antonie: »Ein Ge-schenk des Überflusses würde ich niemals annehmen,eine Gabe aus der Hand eines Mannes, der wie ich von

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seiner Arbeit lebt, nehme ich stets gern und dankbaran, sie drückt mich nicht, ich kann sie erwiedern undich weiß, daß, wenn die Gelegenheit sich bietet, auchdas, was ich einmal anbieten kann, ebenso offen undherzlich wird angenommen werden.«

Der junge Mann schwieg, aber sein feurig ernsterBlick sagte, daß die Worte nach seinem Herzen waren.Madame Raimond sprang auf und rief lebhaft:

»Es ist zwar eigentlich eine thörichte Verschwen-dung von diesem guten George, aber nun, da die schö-nen Dinge einmal da sind, lassen Sie uns dieselben ge-nießen.« – Sie zog den Tisch in die Mitte des Zimmersund holte ein Tischtuch aus einem Schrank. Schnelleilte Antonie zu ihr hin, mit freundlicher Herzlichkeitdrückte sie die alte Frau in ihren Stuhl zurück, breite-te dann mit gewandter Hand das Tuch aus, holte ausder Küche Teller, Messer, Gabeln und Gläser und in we-nigen Minuten stand der Tisch sauber und mit einergewissen Eleganz gedeckt da.

George folgte allen ihren Bewegungen mit einemAusdruck voll sinnender Bewunderung, Madame Rai-mond schlug einmal über das andere die Hände zu-sammen und rief: »Wie geschickt, wie hübsch Sie dasmachen, mein Kind, und wie Sie sich zurecht finden, esist wunderbar, oh ich habe wahres Glück, eine solcheMietherin gefunden zu haben!«

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»Es ist servirt,« sagte die junge Frau lächelnd mit ei-nem letzten Blick auf den Tisch, in dessen Mitte sie ei-ne der Kaminvasen mit den Pfauenfedern gestellt hat-te, »wollen Sie Platz nehmen, Madame hier, Sie erlau-ben, daß ich Honneurs mache, ich bin ja jünger alsSie und bedarf weniger der Ruhe, Sie hier, mein lieberNachbar, an meiner anderen Seite.«

Herr George setzte sich, noch immer ein Wenig be-fangen, das sichere, ruhige und doch so bescheideneWesen dieser so schönen jungen Frau erfüllte ihn mitErstaunen, er hatte so etwas noch nicht gesehen in denKreisen der Frauen, mit welchen er in Berührung kam.

Sie begannen ihr einfaches Souper, Antonie schenk-te den Wein ein, legte ihnen vor und plauderte dabeiso heiter und unbefangen, daß bald die heiterste undfröhlichste Stimmung an dem kleinen Tische herrsch-te. Auch die düstere Stirn des jungen Arbeiters glättetesich mehr und mehr, und aus seinen dunklen Augenverschwand jenes düstere Feuer, um einem Ausdruckstiller, glücklicher Zufriedenheit Platz zu machen, derseine strengen Züge freundlich erleuchtete.

»Nun,« rief die junge Frau mit heiterem Tone, »ha-ben sie jetzt Ursache, stolz auf uns herabzusehen, jeneReichen, welche in ihren glänzenden Palästen an üp-pigen Tafeln sitzen? Sie können wahrlich nicht froherund zufriedener sein als wir, und unsere Genüsse ha-ben wir uns selbst geschaffen, mit der Arbeit unsererHände, haben wir Ursache, sie zu beneiden?«

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George senkte das Haupt, ein bitteres Lächeln erschi-en auf seinen Lippen und aus der Tiefe seines Augesflammte wiederum jene düster sprühende Gluth her-auf.

»Oh ich beneide sie nicht,« rief er, »um ihre ge-schmückten Säle, nicht um ihre perlenden Weine undihre reich besetzten Tafeln; wenn man dem Körperdie Nahrung giebt, die er bedarf, um Kraft zur Thä-tigkeit und Arbeit zu sammeln, so ist man glücklich,und verzichtet gern auf jenen flüchtigen Sinnenreiz,aber,« fuhr er mit dumpfem Tone fort, »um was ichsie beneide, das ist der Genuß, den die freie Ausbil-dung und Bewegung des Geistes allein gewähren kann.Ihnen, die da geboren sind im Schooße des Überflus-ses, werden spielend von den Tagen der Kindheit andie weiten, großen Gebiete des Wissens geöffnet, freifliegt ihr Geist umher in den Reichen des Geistes, imSonnenlicht der Kunst, und selbst, was die Schöpfungallen Menschen, ja den Thieren gemeinsam gegebenhat, die Schönheit der Natur, das Rauschen der Bäu-me, das Wehen der Lüfte, der Schmelz der Blumen, derGlanz des Sonnenlichts, ist es nicht fast ihr ausschließ-liches Eigenthum? – Wir müssen arbeiten und uns mü-hen in den dunklen, engen und kalten Tiefen des Le-bens,« fuhr er lebhafter fort, indem ein fast wilder Aus-druck zorniger Erregung aus seinem Blick hervorbrach,»und was ist der Preis unserer harten Arbeit und Mü-he? Die Befriedigung unserer niedrigsten materiellen

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Bedürfnisse, Nahrung, Kleidung und ein schmucklosesObdach, die große Welt des Wissens, der Künste, nachwelcher der Geist und das Herz des Menschen in ewi-ger Sehnsucht ringt, bleibt uns verschlossen, denn nurdas Geld öffnet die Pforten zu dieser lichten, reichenWelt, der wahren Heimath aller Menschen, und der Er-trag unserer Arbeit giebt uns dieses Geld nicht! – Undselbst,« sagte er immer finsterer in bitterem Tone, »umin die freie Natur hinauszudringen aus der Grabesluftder Werkstätten und der Städte, bedarf es wieder desdie Welt beherrschenden Metalls, und wie viel bleibtuns übrig, wenn wir die rohesten Bedürfnisse befrie-digt haben, wie oft können wir uns die Freude am Ge-nuß der freien Athemzüge in der großen reinen Na-tur gönnen, diese Freude, welche selbst dem Wild desFeldes und Waldes von der Schöpfung als unveräußer-liches Recht gegeben wurde? Man beklagt den Vogel,der gefangen im Käfig sein Leben vertrauert, das Pferd,das zusammenbricht in dem Geschirr des Lastwagens,aber wer fühlt mit dem Menschen, diesem Ebenbildedes schaffenden Weltgeistes, wie die Priester sagen,wenn er an unsichtbarer Kette gefesselt ist in dem en-gen Käfig der Nothwendigkeit, wenn er gebrochen zu-sammensinkt unter der Last seiner Arbeit, die er biszur Grenze seiner Kraft tragen muß, um nichts weiterin fruchtlosem Cirkel zu erreichen, als diese Kraft zuerhalten, zu ergänzen zu neuer Anstrengung!«

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Seine Hand, welche er auf den Tisch gelegt hatte,ballte sich zusammen, sein starrer Blick richtete sichbrennend in das Leere.

Madame Raimond schüttelte leicht lächelnd denKopf, sie war solche Ausbrüche an ihrem Miethsmanngewohnt, Antonie hatte mit sanftem Blick den jungenMann während seiner erregten Rede angesehen, etwaswie ein forschend spähender Ausdruck war zuweilenunter der innigen und herzlichen Theilnahme, welchein ihrem Auge schimmerte, hervorgebrochen; als er ge-endet, legte sie ihre feine, zarte Hand auf die seine,neigte sich ein Wenig zu ihm hinüber und sprach mitweicher, aber ernster Stimme:

»Wie wahr ist es, was Sie sagen, mein lieber Nachbar,wer empfände das nicht, der zum harten Loos der Ar-beit durch seine Geburt verurtheilt ist! Und doch,« füg-te sie noch milder hinzu, »kann ich Ihnen in Ihrem fin-stern Zorn, in Ihrer traurigen Erbitterung nicht Rechtgeben. Die weite, lichte Welt dort oben hat ihre Blu-men, sie sind die Kinder des Tages und verblühen mitdem Tage und gedankenlos tritt der Fuß der Günstlin-ge des Reichthums über sie hin, aber die dunkle Tiefe,in welcher wir mühsam den Weg unseres Lebens unsbahnen, hat ihre Edelsteine, es kommt nur darauf an,sie zu finden und zu heben, und wenn wir sie gehobenhaben, so verblühen sie nicht wie die Blumen, sondernleuchten in dauerndem, unzerstörbarem Glanz.«

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Langsam richtete George sein Haupt empor, seinBlick ruhte mit Überraschung auf den belebten Zügenseiner schönen Nachbarin, seine geballte Hand löstesich unter dem sanften Druck der ihrigen, dann seufz-te er tief auf und sagte leise:

»Wenn wir sie finden und heben, aber wie selten sindsie zu finden, wie schwer zu heben!«

»Nicht so schwer,« erwiederte sie, »wenn wir nur su-chen und finden wollen. – Sehen Sie,« fuhr sie fort, »je-ne Reichen gehen einher, einsam in der rauschenden,bewegten Welt, im Haschen nach flüchtigen Genüssenfinden sie den Menschen und das Menschenherz nicht,wir aber im dunklen Einerlei der Armuth und Arbeit,wir finden unseren Nebenmenschen, wir verstehen denHerzschlag des anderen, wir schließen uns aneinan-der in uneigennütziger, aufrichtiger Freundschaft undthätiger Liebe, ist das nicht schon ein Edelstein, hellleuchtend in unvergänglichem Glanz? – Sehen Sie denstillen Kreis der Häuslichkeit bei uns, wie bindet da diegemeinsame Arbeit, wie werth wird das gemeinsam Er-rungene, wie viel höher der gemeinsame Genuß! – Unddas Reich des Wissens, ja es ist wahr, schwer und müh-sam nur können wir es uns erschließen, aber wenn esunserer Mühe gelungen ist, eine seiner Perlen zu ge-winnen, ist sie nicht ein größerer, reicherer, liebererSchatz für uns, als für jene, denen diese Perlen in denSchooß geworfen werden, und die sie nur zu benutzenverstehen als Spielwerk leichter Tändelei?«

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Er hatte aufmerksam und gedankenvoll ihren Wor-ten zugehört.

»Die Häuslichkeit!« sagte er dann seufzend. – »Siesprechen von der Häuslichkeit, ist denn auch diesenicht für uns verschlossen? Die Weiber sind geschaf-fen von der Natur mit der Liebe zum Schönen, zumLicht, zur Freiheit, und können sie diese Lebensbedin-gungen ihres Wesens finden in einer Häuslichkeit, wiewir – die Männer der Arbeit – sie ihnen bieten kön-nen? Wohin wenden sich die Weiber unseres Standes,wenn in ihrer Seele etwas von der wahren Weiblich-keit lebt? Dorthin wenden Sie sich, nach jenen Regio-nen, wo sie das finden können, was jede weibliche See-le erstrebt; sie werfen sich in die Arme der Reichenzum flüchtigen Spielball ihrer Launen, weil sie davorzurückschaudern, in der dunklen Zelle der Armuth zuverkümmern. Ich will nicht über sie alle den Stab bre-chen, welche hervorflattern aus der Welt der Arbeit indas verlockende Licht und dann mit verbrannten Flü-geln sinken von Fall zu Fall, bis sie zuletzt im Schlammuntergehen, nicht alle folgen der Gier nach materiel-lem Genuß, nein, nein, viele, vielleicht die meisten,werden auf ihre Bahn hingerissen durch die unbewuß-te Sehnsucht nach Freiheit, Geisteslicht und Schönheit,die sie hier nicht finden können. – Was aber bleibtuns, um unsere Häuslichkeit zu schaffen und zu erwär-men? Diejenigen allein, welche keinen Sinn haben fürjene höhere Sehnsucht der weiblichen Seele, welche in

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gleichgültigem Stumpfsinn das Joch der Arbeit ertra-gen und zufrieden sind, wenn sie dem tierischen Or-ganismus seine tägliche Nahrung verschaffen können,oder diejenigen,« fügte er bitter hinzu, »welche nachkurzem Aufschwung in die Regionen des Lichts undder Freiheit vorsichtig sich zurückziehen in die Woh-nung der Arbeit, in welche sie seufzend einziehen wiein das Grab!«

Die junge Frau schüttelte ernst den Kopf.»Sie denken gering von meinem Geschlecht,« sag-

te sie, »vielleicht haben Sie recht, daß es so ist, wieSie sagen, aber es ist gewiß nicht richtig, daß es sosein muß. Das glänzende Licht des sonnigen Tages, derweite Flug in der unbeschränkten Freiheit haben ge-wiß hohen Reiz für jedes weibliche Herz, aber,« fuhrsie fort, indem ihr Blick sich mit innigem Ausdruck inden seinen tauchte, »die heilige Flamme des stillen He-erdes ist wärmer noch als das Licht der Sonne, wennman sie mit Liebe pflegt und unterhält, und das Schaf-fen und Wirken, um Schönheit und Harmonie in denengen Kreis einer beschränkten armen Häuslichkeit zutragen, oh es muß einen so großen Reichthum an hei-ligen, süßen Freuden öffnen, man muß nur nicht al-len Reichthum vom Leben verlangen, man muß auchden warmen Willen und den festen Muth haben, denReichthum des Herzens in das Leben hineinzutragen.«

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Der Blick des jungen Mannes, der unablässig ausdem bewegten Gesicht der Sprecherin ruhte, war im-mer weicher und sanfter geworden, er athmete tief aufund machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand er-greifen; sie bemerkte es und sagte, indem eine flüchti-ge Röthe ihre Wangen überzog, mit leichterem, heite-rem Tone:

»Sind wir denn nicht der beste Beweis, daß die Woh-nungen der Armuth nicht des Reizes entbehren? Kannes eine freundlichere Häuslichkeit geben als dies kleineZimmer, diesen einfachen Tisch? – Und,« fügte sie lä-chelnd hinzu, »hat uns denn unsere Unterhaltung nichtgeistige Anregung gegeben, haben wir uns denn nurmit den rohen Bedürfnissen des materiellen Lebens be-schäftigt, mein Herr?«

Ein leichter Zug von schalkhafter Laune erschien wieein flüchtiger Blitz auf ihrem ernsten Gesicht und gabdemselben, verbunden mit dem sanften, weichen Blickder Augen, einen wunderbaren Reiz.

George senkte die Augen, ein leises Zittern bebtedurch seine Gestalt.

»Und vor allem,« fuhr die junge Frau fort, »sind wirnicht der beste Beweis, daß in den Kreisen der Ar-muth der Mensch sich leichter zum Menschen findet?– Wir hatten uns gestern noch nie gesehen, wir wuß-ten nichts von unserer Existenz, und heute sprechenwir wie alte Freunde, frei und offen, wie wir denken,Sie haben mich in Ihrem Herzen lesen lassen, ich sage

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Ihnen, was in mir lebt, ist das nicht auch ein Glück,würden wir es finden, wenn wir nicht verbunden wä-ren durch die heilige Brüderschaft der Arbeit?«

»Ja,« sagte er, offen und fest den Blick auf sie rich-tend, »es ist ein Glück, und ich danke Ihnen dafür, Siemüssen mir aber auch zugeben, daß es selten ist, nichtüberall findet man sich so, wie wir uns hier gefundenhaben.«

Er reichte ihr die Hand.Ohne Zögern reichte sie ihm die ihrige und erwie-

derte den kräftigen Druck, mit welchem er ihre Fingerumschloß.

Madame Raimond war eingeschlafen.Die junge Frau stand auf.»Wir bedürfen unserer Zeit morgen früh,« sagte sie,

mit leichtem Schlag auf die Schulter ihre Wirthin er-weckend, »es ist Zeit, zur Ruhe zu gehen. Ich dankeIhnen, Madame, für den freundlichen Abend, auch Ih-nen, Herr George.«

»Wir werden hoffentlich öfter zusammensein,« sagteGeorge in bittendem Tone.

»Gewiß – gewiß,« rief die alte Frau lebhaft, »es plau-dert sich so traulich mit Ihnen.«

»Und,« sagte Antonie lächelnd, »vielleicht gelingt esuns noch, Herrn George zu überzeugen, daß die Ar-muth und Arbeit eine heitere und herzliche Häuslich-keit nicht unmöglich machen.«

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»Wenn Sie ›Herr George‹ sagen,« erwiederte der jun-ge Mann lächelnd, »so müssen Sie mir erlauben, auchmeine freundliche Nachbarin mit ihrem Vornamen zunennen, Madame –«

»Louise,« sagte die junge Frau einfach, »gute Nacht,mein lieber Nachbar!«

Und mit leichtem, elastischem Schritt verließ sie dasZimmer.

»Eine vortreffliche, ordentliche, geschickte Person,«rief Madame Raimond, »welch’ ein Glück, daß dasSchicksal sie in mein Haus geführt!«

George sagte nichts, still und sinnend ging er in sei-ne Kammer und in seinen Träumen tauchte wieder undimmer wieder das Bild der jungen Frau auf, die soplötzlich wie eine lichte Erscheinung in sein einsames,dunkles Leben getreten war.

ZWEIUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Die Fenster des dritten Stockwerkes eines Hauses amEnde des Boulevard du Temple waren um die zehnteAbendstunde eines der letzten Maitage hell erleuchtetund vor der Thür des hohen, nicht besonders ansehnli-chen Hauses hielten nach einander Fiacre, auch einzel-ne elegante Coupés, aus denen Damen in bunten Toi-letten, Herren im Salonanzuge ausstiegen, und durchden schmalen, schlecht erleuchteten Hausflur sich dengewundenen Treppen ohne Teppiche zuwendeten, wel-che in die oberen Stockwerke führten. War man von

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dem Licht einzelner an den Treppenwänden befestig-ter Petroleumlampen bis zur dritten Etage gelangt, sobefand man sich einer Glasthüre gegenüber, welcheheute geöffnet war und den Einblick in einen ziemlichdunkeln und engen Vorplatz gestattete, in welchemHerrenüberröcke und Damenshawls in ziemlich bun-ter Unordnung theils aufgehängt, theils über Stühle ge-worfen waren, und die dumpfe Luft des kleinen Raum-es war durchzogen von einem Gemisch jener starkenParfüms, welche von der guten Gesellschaft sorgfältigvermieden werden.

Durch die niedrigen Flügelthüren, welche von die-sem Vorplatz in die inneren Räume der Wohnung führ-ten, drang jenes verworrene Geräusch, welches die Un-terhaltung einer größeren Gesellschaft hervorbringt.

Auf dem Vorplatz selbst stand einer jener Lohnla-kaien, welche man unter dem stolzen Namen maîtresd’hôtel in den kleinen pariser Häusern engagirt, umeinen »Empfangsabend« würdig herzustellen. Diesermaître d’hôtel machte mit einem den Umgebungen, inwelchen er sich befand, entsprechenden, ziemlich anden Kellner eines geringeren Restaurants erinnerndenAnstand die Honneurs der dramatisch-musikalischenSoirée, welche die Dame des Hauses, die sich Marquisede l’Estrada nannte, bei sich vereinigte.

In rauschender, schwerer Seidenrobe, die üppigeMenge falschen Haares mit Federn und Bandschleifen

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geschmückt, glänzende Geschmeide mit großen Stei-nen von äußerst zweifelhafter Echtheit um Hals undArme, schritt Frau Lucretia Romano in den Vorsaal. Siehatte bereits auf der Treppe ihre weite, dunkle Mantilleabgenommen und warf sie dem ihr entgegentretendenLohndiener zu, indem sie vor den durch zwei dünneKerzen erleuchteten Spiegel trat und einen Blick aufihre mehr glanzvolle als frische Toilette und ihr in denlebhaftesten Farben gemaltes Gesicht mit den durchfeine, schwarze Striche unter den Wimpern noch grel-ler hervortretenden, dunkeln Augen warf.

In wunderbarem Contrast zu dieser mit selbstbe-wußter Sicherheit auftretenden Dame stand die äthe-risch einfache Erscheinung ihrer Tochter Julia, welchehinter ihr den Vorplatz betrat und deren distinguirteSchönheit und Eleganz selbst den maître d’hôtel er-staunt aufblicken ließ, welcher eine derartige Erschei-nung in den Häusern, deren Gesellschaft er zu empfan-gen gewohnt war, nicht häufig sehen mochte.

Das junge Mädchen hatte die glänzenden Flechtenihres mit äußerster Einfachheit geordneten, schwarzenHaares nur mit einer einzigen, kleinen, rothen Schleifegeschmückt, ein duftig frisches, weißes Kleid mit fei-nen, kaum sichtbaren, rothen Streifen umschloß ihreschlanke Gestalt, und um Schultern und Arme wallteein leichter Umhang von feiner Seidengaze.

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Statt allen Schmuckes trug sie ein kleines, goldenesMedaillon an einem schmalen Bande von der Farbe ih-rer Haarschleife.

Zögernd und schüchtern trat sie auf den Vorplatzund legte ihren weiten, faltigen Burnus auf einen Stuhlnieder, ihr scheuer Blick umfaßte diese ganze so wenigvornehme und so wenig elegante Umgebung und senk-te sich dann zu Boden, während eine schnelle, flüchti-ge Röthe ihre Wangen überflog. Stumm wartete sie, bisihre Mutter die Inspection ihrer Toilette vollendet hat-te, ohne ihrerseits Miene zu machen, deren Beispiel zufolgen, der Lohndiener öffnete die Flügel der mittle-ren Thüre, nachdem er seine Instruction über die Na-men der Angekommenen erhalten, und rief mit einerschnarrenden Kehlstimme: »Madame Lucretia Romanound Mademoiselle Julia Romano.«

Frau Lucretia rauschte über die Schwelle eines klei-nen, von Menschen erfüllten Salons, dessen heiße, aus-geathmete und von starken Parfüms durchzogene Lufteine betäubende Dunstwolke auf den Vorplatz hinaus-sendete, zitternd, mit niedergeschlagenen Augen folg-te ihre Tochter.

Der Salon war durch eine Anzahl dünner Stearinker-zen ziemlich hell erleuchtet, große Goldrahmen blink-ten von den Wänden, bunte Vasen mit künstlichen Blu-men und Pfauenfedern standen auf dem Kaminsims,und in diesem ganzen Ensemble bewegte sich eine

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zahlreiche, plaudernde und lachende Gesellschaft, de-ren einzelne Gruppen die merkwürdigsten und wun-derbarsten Contraste zeigten. – Da waren junge Her-ren, gekleidet in jener so schwer zu erreichenden, na-türlichen Einfachheit der höchsten Eleganz, mit jenerso leichten, ungezwungenen Tournüre, welche nur dieGewohnheit der besten Gesellschaft zu geben vermag,daneben sah man junge Damen von jener eigenthüm-lichen Freiheit des Benehmens, jener äußersten Extra-vaganz der Toiletten, welche man in Paris nur in jenerganz besondern Sphäre findet, die man die Halbweltzu nennen übereingekommen ist, und die, während siedie wirkliche Welt in ihren Äußerlichkeiten nachzuah-men sich bemüht, ihrerseits leider dieser wirklichenWelt in ihrem inneren Wesen nur zu oft als Beispieldient.

An den Wänden her saßen ältere Damen in stei-fer Haltung und angethan mit Roben, deren schwe-ren und kostbaren Stoffen der Reiz der Neuheit längstfehlte; sie gaben sich alle Mühe, ihre Stellung als Müt-ter und Tanten mit entsprechender Würde auszufüllen,während ihre Töchter und Nichten, in tiefe, niedrigeFauteuils zurückgelehnt, mit der Miene von Königin-nen sich von den sie umringenden, jungen Herren un-terhalten ließen, bald mit einem leichten Lächeln derhochmüthig aufgeworfenen Lippen ein Bonmot beloh-nend, bald mit einem leichten Fächerschlag einen zukühnen Scherz lächelnd zurückweisend.

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Rechts und links sah man zwei kleinere Salons, ineinem derselben ein Pianino mit angezündeten Kerzen.

Bei dem Eintritt der Madame Lucretia und ihrerTochter richteten die Herren ihre Lorgnons auf die Ein-tretenden, während die jungen Damen sie mit leichthingleitenden Blicken aus den halbgeöffneten Augenstreiften.

Eine ziemlich korpulente Dame mit markirten Zü-gen in tiefrothem Damastkleide, mit einem turbanar-tigen Kopfputz, erhob sich von einem Divan, auf wel-chem sie in der Mitte des Salons saß, und trat den An-kommenden einige Schritte entgegen. An ihrer Seitebefand sich Herr Mireport, der Bühnenagent, welcherMadame Lucretia so eifrig beigestanden hatte, um ihreTochter zu überreden, daß sie sich der Bühne widmenmöge; er trug einen schwarzen Salonanzug, dessen ex-trem modischer Schnitt ein Wenig mit seinem verwit-terten Gesichte contrastirte, und im Knopfloch seinesFracks eine kleine Rosette von einer ziemlich unbe-stimmten, rothen Farbe mit kaum sichtbarer, dunklerEinfassung, welche bei Abendbeleuchtung und in ei-niger Entfernung wohl für die Ehrenlegion angesehenwerden konnte.

Herr Mireport eilte mit großem Eifer den eintreten-den Damen entgegen und sprach, indem er sich mittheatralischem Anstande zunächst gegen Frau Lucretiaund dann gegen die Dame des Hauses verbeugte:

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»Ich habe die Ehre, bei Frau Marquise de l’EstradaMadame Lucretia Romano vorzustellen, eine Dame ausdem Vaterlande der schönen Künste, welche den klas-sischen Boden Italiens verlassen hat, um hier in Parisdie Ausbildung ihrer Tochter zu vollenden, die, wie ichüberzeugt bin, bestimmt ist, eine hervorragende Künst-lerin zu werden.«

Und indem er dem jungen Mädchen, das hinter ih-rer Mutter stand, die Hand reichte, zog er sie schnell inden freien Raum, welcher sich vor der Dame des Hau-ses gebildet hatte.

»Ich freue mich sehr,« sagte diese mit einer Stimme,deren Klang ein Wenig an die Cafés chantants erinner-te, »daß Sie meine Einladung haben annehmen wollen,ich hoffe, Sie werden einige Kunstgenüsse finden, diezu den ersten in Paris zählen, und,« fuhr sie fort, indemsie sich zu Julia wendete, und deren ganze Gestalt miteinem scharfen Blick musterte, »ich freue mich ganzbesonders, eine junge Dame kennen zu lernen, von de-ren ganz außergewöhnlichem Talent mir unser FreundMireport so viel erzählt hat, ich hoffe, wir werden soglücklich sein, eine Probe davon bewundern zu kön-nen.«

Sie führte Madame Lucretia zu dem Divan, von wel-chem sie sich erhoben hatte, und lud sie ein, sich anihrer Seite niederzulassen.

Julia stand allein, ein helles Roth brannte auf ih-ren Wangen, sie zitterte und wagte den Blick nicht

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aufzuschlagen, sie fühlte alle diese auf sie gerichtetenBlicke, welche sie wie den Gegenstand einer Ausstel-lung musterten, ein unendlich peinliches und schmerz-liches Gefühl überkam sie in dieser Gesellschaft, derenAtmosphäre ihr so fremd und antipathisch entgegen-wehte, die sie nur mit Widerstreben auf das inständigeDrängen ihrer Mutter zu besuchen sich entschlossenhatte und in welcher sie nun allein und isolirt dastand.

Es war fast ein Gefühl der Dankbarkeit, mit welchemsie die Hand des Herrn Mireport, des einzigen bekann-ten, wenn ihr auch sonst so wenig sympathischen Ge-sichts, ergriff und sich von ihm zu einem kleinen Sophaführen ließ, auf welchem eine junge Dame in reicherToilette ihr neben sich Platz machte, während drei bisvier elegante, junge Herren ihren Kreis öffneten undmit leichter Verbeugung die neue Erscheinung begrüß-ten.

»Madame Pamela,« sagte Herr Mireport, »wird ge-wiß die Güte haben, einer jungen Novize bei ihrem er-sten Schritt in die Welt freundlich die Hand zu reichen.– Madame Pamela,« fuhr er gegen Julia gewendet fort,»ist eine unserer ersten Künstlerinnen, gegenwärtig amVariététheater – und,« fügte er lächelnd hinzu, »glänztso hell am Himmel der Kunst und der Schönheit, daßsie gewiß einen neuen Stern neidlos begrüßen wird,der, so hell er auch strahlen mag, ihr Licht niemals ver-dunkeln kann.«

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Mit zufriedenem Lächeln über dies doppelte Compli-ment, durch welches er glauben mochte, das Gleichge-wicht zwischen den beiden Damen hergestellt zu ha-ben, zog er sich zurück.

Madame Pamela, wie sie von ihren Vertrauten ge-nannte wurde, Madame de St. Améthyste, wie ihre Do-mestiken sie titulirten, verneigte sich leicht gegen Ju-lia, halb mit der Verbindlichkeit einer Dame von Welt,halb mit dem Ausdruck einer ziemlich impertinentenNeugier, und fragte, indem sie den Kopf ein Wenig zu-rücklegte und ihren großen Fächer von Perlmutter undweißen Federn hin und her bewegte:

»Das Fräulein will sich ebenfalls dem Theater wid-men?«

Julia vermochte kaum zu sprechen. Die Bestim-mung, welcher ihre Mutter sie zuführen wollte, welcheihr in so hohem Grade widerstrebte, und welche siemit aller Entschiedenheit zurückgewiesen hatte, wurdehier als etwas fest Beschlossenes, Abgemachtes hinge-stellt, während gerade an diesem Orte ihre ganze Na-tur mehr als je vor dem Wege zurückbebte, auf welchenman sie drängen wollte.

»Ich weiß nicht,« sagte sie leise mit unsicherer Stim-me, »meine Mutter wünscht es, aber ich –«

»Nun,« rief Madame Pamela, »dann haben Sie Gele-genheit, meine Herren, Ihre Protection einem jungenTalente zu schenken, ich hoffe,« fügte sie mit überlege-nem Lächeln hinzu, »daß Sie Ihre alten Freundinnen

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nicht ganz vergessen werden, – Herr Charles,« sagtesie zu einem jungen, schlanken Mann, welcher in derGruppe vor ihr stand, »ich empfehle Ihnen das Fräuleinbesonders, Sie sind ja frei in diesem Augenblick?«

»Meine Freiheit,« sagte dieser mit einem bewun-dernden Blick auf Julia, »wird nicht lange dauern, ichfühle schon die Kette, welche mich zum Gefangenenmachen wird.«

»Wir werden alle unser Möglichstes thun, um demFräulein ein vortreffliches Debüt zu bereiten,« sagte einHerr mit einem zierlichen Schnurrbart, der neben Ma-dame Pamela auf einem niedrigen Tabouret sah, indemer sein goldenes Monokel in’s Auge warf und das jungeMädchen forschend ansah.

»Sie nicht – Ungeheuer!« rief Madame Pamela, in-dem sie ihren Fächer zusammenfallen ließ und ihremNachbar einen nicht allzu zarten Schlag auf die Schul-ter versetzte. – »Nehmen Sie das Glas fort,« sagte siein kurzem, scharfem Tone, »es schickt sich nicht, jungeDamen so anzusehen, ich will das nicht!«

Lächelnd lehnte sich der junge Mann zu ihr hinüber,indem er sein Lorgnon aus dem Auge fallen ließ, undflüsterte ihr etwas in’s Ohr, das sie zu versöhnen schien,denn mit einem noch halb schmollenden Blick lachtesie laut auf und sagte nach einem abermaligen Fächer-schlag:

»Lügner – man ist zu gut gegen Sie, wenn man Ihnenglaubt!«

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Julia saß schweigend mit gesenkten Augen da, kaumkonnte sie ihre Thränen zurückhalten, tiefer Unwillenerfüllte sie, daß man sie unter der Vorspiegelung einerKünstlervereinigung in diese Gesellschaft geführt hat-te. – Entsetzen überkam sie bei dem Gedanken, daßdiese Gesellschaft der erste Schritt eines langen Wegessein sollte, den man sie zu gehen zwingen wollte, unddaß dieser Weg eine Fortsetzung – und – ein Ende ha-ben solle.

Sie hörte kaum die um sie her schwirrende Unterhal-tung, die feurigen Complimente, welche die Herren ansie richteten, und athmete erleichtert auf, als die FrauMarquise de l’Estrada der Gesellschaft ankündigte, daßihre Nichten, die Fräulein Matoletti, einen Pianovor-trag zu vier Händen dem so kunstverständigen Urtheilder Versammlung darzubieten wagen würden.

Die beiden Fräulein Matoletti, junge Damen von sehrzuversichtlichem Auftreten – trotz der von ihrer Tantemehrfach erwähnten Schüchternheit – und von einemDialect, der nichts Ausländisches an sich hatte, son-dern sehr entschieden an den Boulevard Montmartreerinnerte, rauschten in den Nebensalon und begannenauf dem nicht ganz rein gestimmten Pianino einen Vor-trag, der sich mehr durch sein schallendes Fortissimo,als durch die Klarheit der Töne und durch den Zusam-menklang der beiden Stimmen auszeichnete.

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»Sie sind nicht übel,« sagte der Herr mit demSchnurrbart, welcher neben Madame Pamela saß,»sind es wirklich Nichten von der Alten?«

»Ich finde, mein Herr Gaston,« erwiederte die schönePamela, »daß Sie heute ungeheuer neugierig sind, wasdie jungen Damen betrifft, ich finde es vor allem ab-scheulich von diesen beiden – Nichten, daß sie einensolchen unangenehmen Lärm auf diesem miserablenPiano machen, würde man noch etwas Lustiges spie-len, aber diese Musik ist ja entsetzlich.«

»Eine musikalische Soirée,« sagte Herr Gaston lä-chelnd.

»Ah bah!« rief Madame Pamela mit jenem unnach-ahmlichen Tone, welchen nur die Pariserin hervorzu-bringen versteht. Die jungen Virtuosinnen hatten auf-gehört, mehrere junge Herren traten zu ihnen, das Ge-spräch aber, welches sie mit Complimenten über ihrenVortrag begannen, schien nach dem lauten Lachen undden einzelnen Worten, welche davon herüberdrangen,sich nicht um musikalische Gegenstände, sondern umdie Verabredung einer Parthie nach Asnières zu dre-hen.

»Diese miserable Sonate, mit der man unsere Ohrenzerrissen hat,« sagte Madame Pamela lachend und ach-selzuckend, »hat sich doch als ein guter Angelhakenbewährt, dort beißen die Fische schon an!«

Und sie deutete mit dem Fächer auf einen Winkeldes Salons, in welchem sich soeben die eine der beiden

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Fräulein Matoletti in eifrigem, flüsterndem Gesprächmit einem Herrn, dessen Äußeres den Fremden errat-hen ließ, auf einer Causeuse Platz nahm.

Die Frau Marquise de l’Estrada hatte mit ziem-lich gleichgültiger Miene einige Complimente über dasSpiel ihrer Nichten von einigen der älteren Damenentgegengenommen, dann winkte sie mit den AugenHerrn Mireport zu sich heran.

»Graf Raschkoff ist nicht hier,« sagte sie dem dienst-eifrig herantretenden Agenten mit unzufriedenem To-ne.

»Er wird gewiß kommen,« erwiederte Herr Mireportim Salon umherblickend, »es ist noch nicht spät.«

»Es wäre mir sehr unangenehm,« fuhr die Dame fort,»wenn er nicht käme, ich wünschte ihn mit Ihrer klei-nen Italienerin bekannt zu machen, ich hoffe, daß ersich nicht von meinem Hause entwöhnt,« sagte sie miteinem strengen Blick auf Herrn Mireport.

»Oh, das wird er nicht,« fiel dieser lächelnd ein, »sei-en Sie ganz ruhig.«

»Und Fräulein Hagar wird kommen?« fragte die Da-me weiter, »es ist in der That nicht mehr früh.«

»Ich habe meine ganze Beredsamkeit verschwendet,um sie zu bewegen,« erwiederte Herr Mireport, »ichhabe ihr Ihren Cirkel als eine ausgewählte Vereinigungvon Kunstfreunden dargestellt – und sie hat mir ver-sprochen, zu kommen.«

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»Mir liegt sehr viel daran, daß man Künstler von Be-deutung, wirkliche Namen in meinem Cirkel findet,«sagte Madame de l’Estrada, »es ist das Alles noch im-mer nicht auf der rechten Höhe, mir liegt daran, diewirklich ersten und vornehmsten Kreise der Herren-welt bei mir zu versammeln, und was sie hier finden,kann sie wohl hie und da anlocken, aber nicht fesseln,einen wirklich großen Aufschwung kann die Sache sonicht nehmen.«

»Ich thue, was ich kann,« erwiederte Herr Mireport,»Renommée bildet sich erst allmählich, übrigens dieErscheinung der kleinen Romano ist immerhin etwaswerth.«

»Hoffnungen, Hoffnungen,« sagte die Dame achsel-zuckend; »apropos,« fuhr sie fort, »wenn MademoiselleHagar kommt, sorgen Sie dafür, daß Pamela keine Toll-heiten macht, Alles muß mit größter Dezenz verlaufen,man muß eine Notiz in den Courier der großen Zeitun-gen lancieren.«

»Ich habe Pamela instruirt,« sagte Herr Mireport,»und Alles vorbereitet, damit Herr Pivot –«

Der maître d’hôtel öffnete die Thüre und rief mit sei-ner Gutturalstimme:

»Der Herr Graf Raschkoff!«Ein Mann von ungefähr vierzig Jahren trat ein. Die

Haltung seiner hohen und schlanken Gestalt war leicht

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und ungezwungen, seine Toilette von einfacher, vor-nehmer Eleganz, die Züge seines bleichen und ab-gespannten Gesichts mit hervortretenden Backenkno-chen schlaff und ausdruckslos, ein langer, sorgfältiggepflegter, graublonder Backenbart hing zu beiden Sei-ten dieses Gesichts herab, in welchem nur die stechen-den, von unruhigem Feuer blitzenden Augen Lebenund Bewegung verriethen, seine schmale und niedri-ge Stirn war hoch hinauf kahl und das dünne blondeHaar kunstgerecht frisirt.

Mit ruhiger Sicherheit und gleichgültiger Noncha-lance trat der Angekommene zu der Dame des Hau-ses, welche ihm entgegenging. Herr Mireport verneigtesich tief, während der Graf ihn mit leichtem Kopfnickenbegrüßte.

»Ich bin sehr glücklich, Herr Graf, daß Sie mir nochdie Freude machen, zu kommen, fast hatte ich dieHoffnung aufgegeben,« sagte Madame de l’Estrada mitverbindlichem Lächeln.

»Ich war engagirt,« erwiederte der Graf, indem ersein Lorgnon zum Auge erhob und einen flüchtigenBlick über die Gesellschaft gleiten ließ, »ein Diner miteinigen Freunden, aber dieser Mireport hat mir so vielerzählt von einer merkwürdig schönen und interessan-ten jungen Debütantin –«

»Sie ist hier, Herr Graf,« erwiederte die Dame desHauses in leiserem Tone, »Sie werden sie sogleich sin-gen hören – und ich werde sie Ihnen dann vorstellen.«

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»Ich bin neugierig,« sagte Graf Raschkoff leichthin.– »Guten Abend, Vicomte!« rief er dann, sich ziemlichbrüsk von Madame de l’Estrada abwendend, und reich-te dem jungen Manne die Hand, welcher neben derschönen Pamela saß.

»Guten Abend, Graf,« erwiederte dieser, »ich wün-sche Ihnen Glück, so spät gekommen zu sein, wir ha-ben ein Clavierconcert gehört, das Pamela nervös ge-macht hat.«

»In der That,« sagte Madame Pamela, indem sie denGrafen mit einer Bewegung ihres Fächers begrüßte,»wir hätten tauschen sollen, Graf Raschkoff, Ihre sibi-rischen Nerven hätten diese Musik besser ertragen, alsich es im Stande bin.«

Abermals öffnete sich die Thüre des Salons und derLohndiener rief mit einer gewissen Feierlichkeit in dieGesellschaft hinein:

»Mademoiselle Hagar.«Eine hohe, prachtvolle Erscheinung trat ein. Das

bleiche, edel geschnittene, stolze und ausdrucksvol-le Gesicht war umgeben von tiefschwarzen, reichenLocken, deren natürlich einfacher Fall jeden Gedan-ken an eine Ergänzung der Natur durch die so allge-mein künstlichen Haartouren ausschloß. Eine schwar-ze Robe von reichstem Faltenwurf umhüllte die schlan-ke, kräftige Gestalt und ließ den schimmernden Glanzder Arme und des Halses um so reiner hervortreten; ei-ne einfache Schnur weißer Perlen bildete den einzigen

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Schmuck dieser Toilette, welche merkwürdig abstachgegen die grellen, leuchtenden Farben, die den Salonerfüllten.

Madame de l’Estrada eilte der langsam über dieSchwelle tretenden Künstlerin des Théâtre de l’Odéonentgegen, welche ruhig den klaren Blick ihres großen,schwarzen Auges über die Gesellschaft gleiten ließ.

»Ich bin entzückt,« rief sie, »daß Sie mir die Ehre Ih-rer Gegenwart haben schenken wollen, mein Fräulein,Sie finden hier einen Kreis von aufrichtigen Verehrernder Kunst und von glühenden Bewunderern Ihres soeminenten Talentes versammelt, im Namen aller mei-ner Freunde danke ich Ihnen von ganzem Herzen.«

»Ich bin immer gern bereit,« sagte Fräulein Hagarruhig, »mit meinem geringen Talent denen Freude zumachen, welche die Kunst lieben, und ich bin deshalbIhrer gütigen Einladung gefolgt, obgleich ich wenig indie Welt gehe.«

Und sie ließ mit dem Ausdruck eines gewissen Er-staunens ihre Blicke über die Gruppen in dem Salongleiten.

»Außerdem,« fuhr sie fort, »liebe ich die Musik,wenn ich sie auch nicht ausübe, und man hat mir einengroßen, musikalischen Genuß bei Ihnen in Aussicht ge-stellt.«

Madame de l’Estrada antwortete nicht, eifrig führtesie die junge Künstlerin zu dem Divan, auf welchemMadame Lucretia Romano saß, und nachdem sie ein

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Gespräch zwischen beiden eingeleitet, rauschte sie zuJulia hin, welche der Graf Raschkoff durch sein Augen-glas mit sichtbarer Verwunderung musterte.

»Nun, meine Theure,« rief sie, die Hand des jungenMädchens ergreifend, »Ihre Mutter hat mich hoffen las-sen, daß Sie uns Ihre schöne Stimme hören lassen wür-den, von der Herr Mireport mir so viel Wunderdingeerzählt hat, wollen Sie uns ein Lied hören lassen; spä-ter,« sagte sie mit besonderer Betonung, indem sie ih-ren Blick umherwarf, »wird uns Fräulein Hagar durcheinen Vortrag erfreuen.»

Julia stand auf. Fast war sie der Dame dankbar fürdie Aufforderung, die es möglich machte, sich aus demKreise zu entfernen, dessen Unterhaltung sie mit tie-fem Widerwillen erfüllte. Mechanisch folgte sie Mada-me de l’Estrada zum Pianino und ließ sich vor demsel-ben nieder.

Einen Augenblick sann sie nach – was konnte sievor dieser Gesellschaft singen? Eines jener zarten, wei-chen, gefühlsinnigen Lieder, in welchen sie in denStunden ihrer Einsamkeit die Träume ihrer Seele wie-derklingen ließ, oder ihrem lauschenden Geliebten dieTiefen ihres Herzens öffnete, konnte sie hier nicht ent-weihen.

Nach einigen Augenblicken schlug sie einen Akkordan und begann das Trinklied Orsinos aus Lucretia Bor-gia:

»Il segreto per esser felice –«

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Alles war still geworden in dieser lachenden, lär-menden Gesellschaft, wenn es auch weniger die Mu-sik war, welche man mit Spannung erwartete; die ein-fache, von dem ganzen Kreise so scharf verschiedeneErscheinung dieses jungen Mädchens, auf dessen Ant-litz das Erröthen noch heimisch war, hatte bei allen einmit Erstaunen gemischtes Interesse erregt, jedermannfühlte, daß da ein fremdes Element in diese Gesell-schaft gerathen war, fremd und abstoßend berührt vonder Umgebung, wie die Rose, welche unter des Gärt-ners sorglicher Pflege sich dem Licht erschloß – unddann von einem Stutzer gekauft auf dem Toiletten-tisch einer Dame à la mode zwischen Schminktöpfenund falschen Chignons traurig das Haupt senkt und ih-ren zarten Duft verhaucht in der schweren Atmosphärevon Moschus und cuir de Russie.

Julia begann ohne innere Empfindung correct undsicher die erste Strophe der Arie, während sie aberweiter sang, zog unter dem Eindruck der übermüthigemporsprudelnden Töne eine Empfindung durch ih-re Seele, welche diese auf der schäumenden Oberflä-che des Sinnenlebens taumelnde Gesellschaft in Ver-bindung brachte mit der glühenden, kecken Lebenslustdes sprühenden Trinkliedes, unter dessen Klängen dieVerurtheilten aus vergifteten Bechern den Tod trinken,sie hörte in ihrer Seele hinter der verschlossenen Pfor-te der Zukunft das mahnende de profundis – und als

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die Strophe geendet, schlug sie mit mächtigem, tiefer-schütterndem Klange, der selbst aus dem nicht ganzrein gestimmten Instrument seine Wirkung nicht ver-fehlte, den furchtbaren Grabgesang an, der das lusti-ge Gelage der dem Tode geweihten Venetianer unter-bricht.

Dann erhob sie sich, ohne die zweite Strophe zu sin-gen.

Eine tiefe Stille herrschte einige Augenblicke in demSalon, der Eindruck war überall sichtbar, selbst Mada-me Pamela spielte schweigend mit ihrem Fächer undFräulein Hagar warf nach dem jungen Mädchen einentiefen Blick hinüber, in welchem Theilnahme und Er-staunen sich vermischten.

Dann brach, dem Beispiel des Herrn Mireport fol-gend, Alles in einen lauten Beifallsruf aus; die Herrendrängten sich heran, um der Sängerin ihre Complimen-te zu machen, während Madame Lucretia lächelnd dieüberschwenglichen Lobeserhebungen anhörte, welchedie Marquise de l’Estrada ihr über den Gesang ihrerTochter machte.

Julia hörte schweigend an, was die Herren ihr inmehr oder weniger fein pointirten Phrasen sagten, ihrBlick sah starr über diese Gesellschaft hin, welche ihrvom Todeshauch eines offenen Grabes durchweht er-schien, langsam ging sie zu einem in der Nähe des Pia-ninos stehenden Fauteuil und ließ sich in denselben

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niedersinken, der junge Mann, welchen Madame Pa-mela vorhin mit dem Namen Charles angeredet hatte,setzte sich neben sie und blickte voll Theilnahme in ihrernstes Gesicht.

»Mein Fräulein,« sagte er in einem Tone, der sichwesentlich von dem sonst in diesen Salons üblichenGenre der Conversation unterschied, »ich kann kaumglauben, nachdem ich Ihre Stimme und Ihren Vortraggehört, daß Sie wirklich die Absicht haben sollten, aneinem dieser kleinen Theater zu debütiren und Ihr Ta-lent in dem burlesken Possenspiel zu verschwenden,wie uns Herr Mireport und Madame de l’Estrada sag-ten.«

»Auch ist dies durchaus nicht meine Absicht,« erwie-derte Julia in kaltem Tone, »ich bin überhaupt gar nichtgesonnen, die Bühne zu betreten.«

Erstaunt blickte der junge Mann sie an. Dann spracher mit dem Ausdruck herzlicher Offenheit:

»Mein Fräulein – Sie scheinen zum ersten Male indieser Gesellschaft zu sein – und – aufrichtig gespro-chen – Sie scheinen mir wenig für dieselbe zu passen;wollen Sie für Ihr Talent eine Laufbahn finden, so mußes eine andere sein, als diejenige, welche hier ihren An-fang nimmt. – Ich bin der Marquis von Valmory,« fuhrer mit leichter Verbeugung fort; »ich habe viele Bezie-hungen in der Welt, in der wirklichen, großen Welt;bedürfen Sie eines Freundes, der Ihnen mit Rath undSchutz zur Seite steht, ich biete Ihnen meine Hand an,

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aufrichtig und ohne Hintergedanken,« fügte er raschhinzu, als er einen abwehrenden Ausdruck auf Julienserröthendem Gesicht bemerkte, »erlauben Sie mir zuIhnen zu kommen und über Ihre Zukunft zu sprechen,das Vertrauen kann nicht plötzlich kommen, aber ichhoffe, Sie werden sich überzeugen, daß Sie mir ver-trauen können.«

Julia schlug langsam das Auge zu ihm auf. »Ich dan-ke Ihnen, Herr Marquis,« sagte sie in sanftem, ruhigemTone, »ich werde allein stark genug sein, um meinenWeg zu gehen, über den ich mir klar bin.«

Bevor der junge Mann antworten konnte, entstandeine gewisse Bewegung im Salon, Madame de l’Estradaging umher und ersuchte die Gesellschaft, einen Kreiszu bilden, dann führte sie Mademoiselle Hagar in dieMitte des freien Raums und verkündete mit besonderswichtiger Miene, daß die große Künstlerin einen Vor-trag zu halten die Güte haben wolle.

Fräulein Hager ließ einen Blick über die Gesellschaftschweifen, ein leichtes, feines Lächeln zuckte um ih-re Lippen, und nach einem kurzen Schweigen begannsie mit ihrer volltönenden, an Modulationen so reichenStimme das gewaltige Gedicht Victor Hugos »1811« zudeclamiren. – Die mit so wunderbarer Meisterschaftgefügten Verse rauschten von ihren Lippen, man sahdie Gestalt Napoleons titanengleich emporsteigen, denFuß auf die Stufen des Schicksalsthrones setzend und

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bereit, den Herrscherstab den Händen des ewigen Fa-tums zu entreißen, wie er die Scepter den Königen derErde entrissen hatte mit dem stolzen Wort: die Zukunftist mein! Und als dann, dem Bilde des himmelstür-menden Weltherrschers gegenüber, diese hohe, bleicheFrau, in dem schwarzen Gewände wie eine Marmor-statue dastehend, die Hand erhoben, das strahlendeAuge aufgeschlagen, in leisem, tief durchdringendemTone die einfache Antwort sprach, welche der Himmeldem gigantischen Cäsar zuruft: l’avenir est à Dieu! –da zog selbst durch diese Gesellschaft, welche sich sowenig mit Gott und der Zukunft zu beschäftigen ge-wohnt war, ein leiser Schauer, Julia aber war in sichzusammengesunken, ihr Herz erbebte in seinen Tie-fen und wie eine Vision erschien vor ihr der Engel mitdem Flammenschwert, welcher sich auf der schwarzenWetterwolke der Zukunft auf diese von innerer Fäulnißzerfressene Gesellschaft niederließ, ihr das Urtheil derVernichtung verkündend.

Niemand schien die Worte zu finden, um der Künst-lerin, als sie geendet, die Complimente über ihren Vor-trag zu sagen, auch schien Fräulein Hagar das nichtzu erwarten, in sinnendem Schweigen stand sie eini-ge Augenblicke allein, dann wendete sie sich zu Julia,welche aufgestanden war und auf das Pianino gestütztmit ernsten Blicken zu der Künstlerin hinüberblickte,deren Vortrag sie so mächtig ergriffen hatte.

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»Ich habe Ihnen noch zu danken, mein Fräulein,«sagte sie mit freundlichem Lächeln, »für den Genuß,den Sie mir durch Ihr Lied bereitet haben, diese Musikund Ihr Vortrag ist durch meine Declamation fortwäh-rend in meinem Innern hindurchgeklungen.«

»Sie sind zu gütig,« erwiederte Julia, indem ihrBlick bewundernd auf dem schönen, ernsten Gesichtder Schauspielerin ruhte, »ich vermag das rechte Wortnicht zu finden, um Ihnen meinerseits den Eindruckauszusprechen, den Ihre Declamation auf mich ge-macht.«

»So plaudern wir ein Wenig, wenn es Ihnen recht ist,ich muß mich einen Augenblick erholen, das Sprechengreift mich immer etwas an, ziehen wir uns in jenenstillen Winkel zurück.«

Sie legte leicht ihren Arm in den Juliens und führtedas junge Mädchen in ein kleines, nur matt erleuchte-tes und durch eine halbgeschlossene Portière verdeck-tes Cabinet neben dem zweiten Salon.

»Ich glaube, mein Fräulein,« sagte sie dann, das jun-ge Mädchen sanft neben sich auf einen kleinen Sophaniederziehend, »ich glaube, Sie sind hier ebensowe-nig an Ihrem Platz als ich, verzeihen Sie diese offe-ne Sprache einer Fremden,« fuhr sie fort, den halb er-schrockenen, halb dankbar freudigen Blick bemerkend,

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welchen Julia auf sie richtete, »aber Ihre ganze Erschei-nung, Ihr Gesang, der zu meinem Herzen als Künstle-rin gesprochen hat, drängt mich zu Ihnen – und sagtmir: Sie gehören nicht hierher.«

»Mein Fräulein,« flüsterte Julia, ich –«»Jener Herr,« fuhr Mademoiselle Hagar fort, »wel-

cher hier, wie es scheint, als Freund des Hauses dieHonneurs macht und mir als Theateragent flüchtig be-kannt war, kam zu mir und bat mich auf das Drin-gendste, in dem Salon einer Fremden, einer vorneh-men Dame aus Italien, zu erscheinen – und einem aus-gewählten Kreise von enthusiastischen Kunstfreundendurch eine Declamation eine Freude zu machen, zu-gleich stellte er mir einen großen, musikalischen Ge-nuß in Aussicht, und da ich die Musik sehr liebe, so binich gekommen, aber,« sagte sie achselzuckend, »ich binunwürdig getäuscht worden, diese Dame hier ist eben-sowenig fremd als vornehm und diese Gesellschaft hatmit der Kunst nichts gemein, ich vermuthe, daß es Ih-nen ähnlich ergangen ist.«

»Oh mein Fräulein,« rief Julia, lebhaft ihre Hand er-greifend, »ich danke Ihnen für Ihr freundliches Entge-genkommen und ich versichere Sie, ich wäre nicht hier,wenn ich genau gewußt hätte – wohin man mich führ-te.«

Voll inniger Theilnahme blickte Fräulein Hagar indas erregte Gesicht des jungen Mädchens.

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»Hören Sie meinen Rath,« sagte sie dann, »ich binälter als Sie und kenne die Welt, Sie sind jung und un-erfahren, vor Ihnen liegt das Leben noch unerschlos-sen, mögen Sie nun sich der Kunst widmen wollen,wozu Ihr schönes Talent Ihnen alle Veranlassung undBerechtigung giebt, oder mag welch’ ein Weg auch im-mer vor Ihnen liegen, fliehen Sie dies Haus und alleähnlichen, setzen Sie nie wieder Ihren Fuß über dieSchwelle eines Salons, in welchem eine Gesellschaftwie diese sich versammelt, denn damit betreten Sieeinen Boden, in welchem Sie versinken wie in demTriebsand des trügerischen Meeresstrandes, tiefer undtiefer, ohne jemals wieder sich losreißen zu können. –Ich,« fuhr sie fort, »habe meine Stellung, meinen Na-men, meinen Ruf, ich kann mich durch einen Irrthumeinmal hierher verirren, man weiß, wer ich bin,« sag-te sie mit stolzem Ausdruck, »und der Schlamm haftetnicht an mir, aber Sie, man kennt Sie nicht, Sie sindjung und neu, hat man Sie hier gesehen, würde manSie gar hier wiedersehen, so werden alle diese Damen,welche ganz Paris kennt, Sie als eine der Ihrigen be-trachten, alle die Herren, welche in diesem Kreise denReiz einer pikanten Zerstreuung suchen, würden Siebehandeln wie diese Damen, und mag dann Ihr Herznoch so rein sein, Ihr Sinn noch so hoch emporstreben,Sie sind dem Schlamm verfallen, es wird der Verdrußder Verzweiflung, die Ermattung kommen, Sie werden

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den Kampf aufgeben und versinken, wie so viele ver-sanken, die rein und gut waren wie Sie. Noch ist esZeit, fliehen Sie – und kehren Sie nie wieder hierherzurück!«

Fräulein Hagar hatte warm und eindringend mitihrer metallreichen Stimme gesprochen, Julia beugtesich zu ihr hinüber und drückte ihre Hand, eine war-me Thräne fiel auf dieselbe herab.

»Sie sind unglücklich,« sagte die Schauspielerin mil-de, »folgen Sie meinem Rath – und bedürfen Sie je ei-ner starken und treuen Freundin, so kommen Sie zumir, ich habe für mein Wollen und Fühlen festen Grundim Kampfe des Lebens gewonnen, und ich halte es fürmeine Pflicht, allen die Hand zu reichen, welche in die-sem schweren Kampfe nicht unterliegen wollen.«

Sie berührte leicht mit den Lippen das glänzendeHaar des jungen Mädchens und verließ still das Ca-binet.

Julia blieb in sich zusammengesunken sitzen. Tiefer,brennender Schmerz durchzuckte ihre Seele; das Ge-fühl tiefer, trostloser Einsamkeit überkam sie mitfurchtbarer Bitterkeit und während bisher eine sanfte,stille Trauer ihr Herz erfüllt hatte, regte es sich jetzt inihr wie das Aufwallen eines feindlich grimmigen Zor-nes gegen das Schicksal. – Die fremde Künstlerin hattemit dem instinctiven Wohlwollen einer edlen, weibli-chen Seele ihr warnend die Hand gereicht, um sie zu-rückzuziehen von diesem vergifteten Sumpfboden mit

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seinen Abgründen voll Fäulniß und Elend, von diesemBoden, auf welchen die eigene Mutter sie geführt, unddas Gefühl, an welchem sich sonst die Seele der Fraufesthält und emporrichtet, die Liebe, der sie mit derganzen Gluth ihres jungen Herzens sich hingegeben,mußte für sie ein vorüberfliegender Traum bleiben,nach dessen Ende die Finsterniß um sie her dunklerund kälter als je sie in tiefe, endlose Nacht einhüllenwürde.

Sie ließ den Kopf an die Lehne des Sophas zurücksin-ken und schloß die Augen vor dem entsetzlichen Bilde,unter welchem sich ihre Zukunft ihr zeigte.

»Unsere schöne Debütantin sucht die Einsamkeit?«sagte der Graf Raschkoff, welcher die Portière erhe-bend, in die Thüre des Cabinets trat, »das ist unrecht,solche Blumen müssen im vollen Sonnenlicht blühen,bald sollen ja die bewundernden Blicke von ganz Pa-ris auf Sie gerichtet sein,« fuhr er fort, indem er sichneben dem jungen Mädchen auf den Divan niederließ.

Julia fuhr zusammen, richtete schnell den Kopf em-por und wollte aufstehen.

Der Graf ergriff ihre Hand und hielt sie zurück.»Ich bin übrigens in diesem Augenblick mit Ihrer

Neigung zur Einsamkeit nicht unzufrieden,« fügte erlächelnd, »denn dadurch wird mir die Gelegenheit, einWenig mit Ihnen zu plaudern.«

»Mein Herr,« sagte Julia, ihre Hand losmachend undeinen unruhigen Blick nach der durch die Portière halb

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verdeckten Thüre werfend, »ich weiß in der That nicht–«

»Ich habe soeben mit Mireport über Ihr Debüt ge-sprochen,« fuhr der Graf fort, »für das ich mich lebhaftinteressire, nachdem ich Sie gesehen und eine so glän-zende Probe Ihres Talents gehört habe.«

»Ich habe nicht die Anmaßung zu glauben, daß ichals Künstlerin etwas leisten könnte, und es ist nichtmeine Absicht, die Bühne zu betreten,« sagte Julia mitkaltem Tone, »deshalb –«

Sie machte eine Bewegung, um aufzustehen.Abermals ergriff Graf Raschkoff ihre Hand und hielt

sie zurück.»Falsche Bescheidenheit,« sagte er, »Ihr Erfolg ist si-

cher, wir werden Alles thun, um ihn zu einem Triumphzu machen, auch das größte Talent braucht eine kräf-tige Protection,« fuhr er fort, »und Mireport wird Ih-nen gesagt haben, daß ich in dieser Beziehung viel zuleisten im Stande bin, die Kunstkritiker loben meineDiners ganz besonders,« sagte er lachend, »doch manmuß Sie vorher sehen, von Ihnen sprechen, Sie müssenempfangen, öffentlich erscheinen, erlauben Sie, daßich Ihnen dazu meine Dienste anbiete, ich werde mor-gen ein Appartement suchen, Sie werden die Einrich-tung auswählen, die beste Equipage, die zu finden ist,soll zu Ihrer Verfügung stehen, in acht Tagen könnenSie Ihre Salons öffnen, nicht wahr, mein Fräulein, Sie

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erlauben mir, Ihnen diese kleinen Dienste zu leisten? –Hier ein Pfand unserer beginnenden Freundschaft!«

Er zog einen Ring mit einem prachtvollen Solitärvom Finger und reichte ihn dem jungen Mädchen, dieStrahlen der Kerzen, welche den Salon matt erhellten,brachen sich in feurigen Farbenreflexen in den Facet-ten des Diamants.

»Mein Herr,« sagte Julia zitternd und mit gepreß-ter Stimme, indem sie ihn starr und entsetzt anblickte,»Sie vergessen –«

»Ah!« rief der Graf mit leichtem Lachen, »ich erin-nere mich, dieser Mirepoit sprach mir von einem klei-nen romantischen Verhältniß, ein kleiner Fremder, derbald wieder fortgeht, der Sie einsperrt und bewacht,das ist nichts für Sie, Sie müssen auf der Höhe stehen,auf der höchsten Höhe, ich biete Ihnen die Stellung,die für Sie paßt, ich bleibe hier in dem schönen Paris,was kann Ihnen an dem kleinen, passagèren Liebhaberliegen, geben wir ihm den Abschied.«

Und lächelnd führte er mit ungezwungener Vertrau-lichkeit ihre Hand an seine Lippen.

Julia sprang auf, ihre Augen flammten, hörbar drangihr Athem aus den geöffneten Lippen, der Graf woll-te sie zurückhalten, sie schleuderte seine Hand zu-rück und eilte der Thür zu, während der Graf erstauntauf dem Sopha sitzen blieb und ihr mit großen Augennachsah.

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»Mein Herr,« rief Julia im Nebensalon dem Marquisvon Valmory zu, welcher dort im Gespräch mit einemanderen Herrn stand, »führen Sie mich zu meiner Mut-ter!« Sie legte ihren Arm in den des jungen Mannes,welcher sie verwundert ansah und sie mit artiger Be-reitwilligkeit in den ersten Salon führte, wo MadameLucretia in eifrigem Gespräch mit Herrn Mireport saß.

Julia hatte mit gewaltiger Anstrengung ihre Aufre-gung niedergekämpft, die Augen zu Boden geschlagen,feste Entschlossenheit in den Zügen des bleichen Ge-sichts, trat sie am Arm des Marquis zu ihrer Mutterheran.

»Ich habe einen unerträglichen Kopfschmerz,« sag-te sie mit ruhigem Tone, »und wünsche sogleich nachHause zu gehen.«

Madame Lucretia sah sie erstaunt an. »Welche Lau-ne, mein Kind!« sagte sie mit strengem Blick und un-zufriedenem Ton, »beherrsche dich – es wird vorüber-gehen.«

»Wenn Sie mich nicht begleiten wollen, so gehe ichallein,« sprach das junge Mädchen ganz leise, abermit einer Festigkeit, welche keinen Zweifel an ihremunbeugsamen Entschluß erlaubte, »ich wünsche einenEklat zu vermeiden, aber ich werde nicht eine Secundelänger hier bleiben.«

Madame Lucretia warf einen feindlichen Blick aufihre Tochter, eine heftige Entgegnung schien auf ihrenLippen zu schweben, aber sie unterdrückte dieselbe,

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stand auf und sagte mit ruhigem Lächeln zu Herrn vonValmory gewendet:

»Das arme Kind, die Ruhe wird sie wiederherstellen,wollen Sie Ihre Güte vollständig machen, mein Herr,und uns zu unserem Wagen führen.«

Der Marquis verbeugte sich. »Die erstickende Hitze,«sagte er artig, »die vielen Menschen werden die Nervendes Fräuleins angegriffen haben.«

Die Marquise de l’Estrada rauschte heran.»Mein Gott, Madame,« rief sie, »Sie wollen schon

aufbrechen? – Alles geht so früh auseinander, ichfürchte, man unterhält sich nicht, auch Fräulein Hagarist verschwunden.«

»Meine Tochter ist leidend,« sagte Madame Lucre-tia, »ihre Gesundheit ist nicht stark, ich bitte dringend,derangiren Sie sich nicht, lassen Sie uns ganz still ver-schwinden,« und die Hand der ganz erstaunten Damedes Hauses drückend, ging sie langsam der Ausgangst-hür zu. Julia folgte am Arm des Marquis, ohne denBlick zu erheben, ohne die Marquise de l’Estrada zugrüßen, welche sich kopfschüttelnd zu Herrn Mireportwendete.

Der Graf Raschkoff trat langsam aus dem zweitenSalon heran.

»Ihre kleine Italienerin ist eine Wilde,« sagte er la-chend zu Herrn Mireport, »sie beißt und schlägt wieein Steppenpferd.«

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»Das zähmt sich mit der Zeit,« erwiederte der Agentachselzuckend, »man muß nur ein Wenig Geduld ha-ben.«

»Was ist denn da vorgefallen?« fragte Madame Pa-mela, nach der Thür blickend, durch welche soebenFrau Lucretia mit ihrer Tochter verschwunden war.

»Der kleine Vogel flattert ein Wenig, nachdem er dasNetz gefühlt hat,« sagte ihr Nachbar lachend, »späterlernt er das Ding umkehren und selbst das Netz hand-haben, in dem wir gefangen werden.«

»Voilà comment cela commence!« sprach die schö-ne Pamela, das Lied der Königin Clementine aus demBlaubart citirend, und den Kopf zurücklehnend, richte-te sie ihren Blick empor mit einem sinnenden, trauri-gen Ausdruck, bei einen seltsamen Contrast bildete zuden geschminkten Wangen und zu den gefärbten Au-genwimpern ihres Gesichts.

Der Marquis von Valmory hatte Julia und ihre Mutterzu dem unten auf sie wartenden Fiacre geführt undsich von ihnen verabschiedet, Madame Lucretia warfsich in eine Ecke des engen und unbequemen Wagens– schweigend fuhr sie eine Zeitlang dahin.

»Ich begreife nicht,« rief sie dann mit zornigem To-ne, »wie du deinen Launen so nachgeben kannst, ichwar in äußerster Verlegenheit über diesen plötzlichenAufbruch.«

Julia schwieg und saß unbeweglich in ihren Shawlgehüllt da.

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Ihre Mutter richtete sich empor und sah ihr mitscharfem Blick in’s Gesicht. Sie mochte fühlen, daßeine weitere Conversation zu keinem Resultat führenkönne, vielleicht fürchtete sie auch, die zu scharf an-gezogene Saite auf das Äußerste zu spannen, vielleichtwar sie trotz alledem mit dem Resultat des Abends zu-frieden, nach einigen Augenblicken lehnte sie sich mitruhigem Lächeln wieder zurück und unterbrach dasSchweigen nicht mehr, bis sie vor ihrer Wohnung an-gelangt waren.

Mit schnellen und festen Schritten stieg Julia, ohnesich um ihre Mutter zu kümmern, die Treppe hinaufund trat, den vorderen Salon durchschreitend, in dasZimmer des Malers Romano.

Dieser war noch auf, eine kleine Lampe brannte aufeinem Tisch, den er vor die Staffelei mit seinem unvoll-endeten Bilde gerückt hatte. Er saß auf einem Stuhl zu-sammengesunken und starrte mit weitgeöffneten, mü-den Augen das Bild an.

Erschrocken zuckte er zusammen, als Julia zu ihmeintrat, mühsam zwang er sich zu einem freundlichenLächeln, er erhob sich ein Wenig aus seiner zusammen-gebrochenen Stellung und streckte dem jungen Mäd-chen seine magere Hand entgegen.

»Ich danke dir, Kind,« sagte er mit wehmüthigem Lä-cheln, »daß du noch kommst, hast du dich gut unter-halten?«

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Julia antwortete nicht, sie sah den schwachen, ge-brochenen Mann lange mit tiefem, ernstem Blick anund sprach dann: »Gute Nacht, Papa, du liebst mich,nicht wahr?«

»Welche Frage – Kind!« sagte der Maler, unruhig indas starre Gesicht seiner Tochter blickend, »kannst duzweifeln?«

»So segne mich, wie du es thatest, als ich Kind war,«sagte sie, vor ihm die Knie beugend, »und bitte Gottfür mich, daß er gnädig auf meine Zukunft hernieder-blicke.«

Erschrocken stand der Maler auf. Er legte die Händeauf das Haupt des jungen Mädchens und richtete denBlick des fieberhaft brennenden Auges nach oben.

»Kann von mir Segen kommen,« flüsterte er mit be-benden Lippen, »von mir, der den Fluch an das Lebendieses Kindes geheftet hat? – oh mein Gott,« rief erlauter, »segne – segne dieses Haupt in deiner ewigenGnade, welche die Sünden vergiebt um der Reue wil-len, und laß mich – mich allein Alles Leid tragen, dasauf dieses Kindes Leben sich herabsenken möchte!«

Julia hörte die Worte nicht, welche er sprach, lan-ge blieb sie vor ihm auf den Knieen liegen, es that ihrwohl, auf ihrem Haupte die Hand dieses Mannes zufühlen, der ihr von ihrer frühen Jugend an liebevolleTheilnahme und treue Sorge entgegengebracht hatte,sie sah nicht das schmerzvolle Zucken seines bleichenGesichts, sie sah die Thräne nicht, welche schwer aus

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seinem brennenden Auge sich losringend über seinewelke Wange hinabrollte.

Dann stand sie rasch auf, drückte seine Hand an ih-re Lippen und eilte an ihrer Mutter, welche ihre Toilet-te abzulegen beschäftigt war, vorüber nach ihrer Woh-nung.

Ihre Dienerin empfing sie; ohne ein Wort zu spre-chen, ohne eine Frage zu beantworten, ließ sie sichentkleiden und legte sich zu Bett. Sie öffnete das Me-daillon, welches sie am Halse getragen hatte, es ent-hielt ein Bild ihres Geliebten, ihre Lippen zitterten inschmerzlich krampfhafter Bewegung.

»Verlorenes Leben,« hauchte sie kaum hörbar, »ver-loren – verloren für immer, und doch ist das Leben soschön! – warum, warum, mein Gott, hast du mich ver-lassen?«

Starr und still lag sie, den Blick auf das Bild geheftet,da, bis das Licht des Morgens durch die Vorhänge indas Zimmer drang, und zitternd fuhr sie oft aus demunruhigen Schlummer empor, der sich endlich auf ihremüden Augen senkte.

DREIUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Die Villa Braunschweig in Hietzing, jenes kleine,nach der Straße durch eine einfache hohe Mauer vor-nehm abgeschlossene Haus, welches von seinem frü-heren Besitzer, dem Baron Hügel, so reich mit Kunst-schätzen und Seltenheiten ausgestattet und von dem

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Herzog von Braunschweig mit fürstlich reicher Eleganzerfüllt war, umschloß den kleinen Hof des Königs Ge-org V., der mit dem Kronprinzen Ernst August undder ältesten Prinzessin Friederike in diesem reizen-den buen retiro des Herzogs, seines Vetters, seine Re-sidenz aufgeschlagen hatte, während die Königin mitder Prinzessin Mary noch immer auf ihrem einsamenBergschlosse Marienburg verweilte.

Im Morgensonnenschein schimmerte das frischeGrün der hohen Bäume des Gartens, die großen Glast-hüren des chinesischen Vorsaales standen weit offenund ließen den Duft der Frühlingsblumen und der er-sten aufknospenden Frührosen eindringen, und selbstdie lebensgroßen chinesischen Pagoden schienen le-bendiger mit den bezopften Köpfen zu wackeln unterdem frischen Geruch der Frühlingsluft, deren Wehenhier und da eines der zahllosen kleinen Silberglöck-chen am Plafond in zarter Schwingung erzittern ließ.

Nichts ließ in diesem tief stillen, friedlichen, blü-henden und sonnigen Aufenthalt vermuthen, daß hierein Fürst wohnte, dessen Thron die gewaltigen Wet-ter der Zeit zertrümmert hatten, und auf welchem dieaufmerksamen Blicke der Cabinette und der Parteienin Europa ruhten. Lakaien in den scharlachrothen Li-vréen des Welfenhauses gingen in dem langen, zu deninneren Räumen des Hauses führenden Gange auf undnieder, ein angespannter Wagen stand im Hof – Allesmachte den Eindruck einer vornehm aristokratischen

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Villeggiatur, deren ruhig dahinfließendes Leben eben-so heiter und licht wäre, wie der helle Frühlingshim-mel und der goldene Sonnenschein, der auf den safti-gen Rasen und den Farbenglanz der Blumenparterresherabfiel.

Auf dem mit feinem gelben Sande bestreuten We-gen des unmittelbar an den Ausgang der inneren Räu-me stoßenden Gartens ging die Prinzessin Friederi-ke in einfacher Morgentoilette langsam auf und nie-der. Das edle Gesicht der Prinzessin mit den großen,blauen Augen war ernster geworden in dieser ernstenZeit, deren Hand so schneidend tief eingegriffen hat-te in das erwachende Leben ihrer Jugend, aber wennauch die frischen Lippen nicht lächelten in der sorglo-sen Heiterkeit ihres Alters, ganz hatte die Jugend ihrRecht nicht verloren, über dem sinnenden, wehmüthi-gen Ernst der stolzen Züge dieser Tochter des alten Ge-schlechts Heinrichs des Löwen lag ein leichter Duft desFrühlingsschimmers, der die ganze Natur erleuchtete,und ihr Auge erfüllte sich mit sanftem Glanz, wenn sieden Blick hingleiten ließ über all diese erschlossenenBlumen, welche ihre zarten Kelche den Sonnenstrah-len öffneten und den Wohlgeruch ihres Athems in diewarme Luft emporhauchten. Neben der Prinzessin gingdie Staatsdame Gräfin Wedel, welche wie ihr Sohn ge-kommen war, um am Hofe des Unglücks den Ehren-dienst zu thun; der milde, weiche Blick der alten Da-me mit den sanften Zügen und der edlen, vornehmen

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Haltung ruhte oft mit inniger Theilnahme auf diesemjungen Mädchen, dem der Purpur, in welchem sie ge-boren, so schweres Leid gebracht hatte.

»Wie habe ich heute morgen wieder meinen Bruderbeneidet, liebe Gräfin,« sagte die Prinzessin mit leich-tem Seufzer, »als ich die Pferde im Hofe hörte, die fürseinen Morgenritt vorgeführt wurden, wie gern wäreich mit zu Pferde gestiegen, um durch die frische, freieNatur hinzufliegen, den Athem der Freiheit einzusau-gen und den Blick zu baden in reinem Morgenlicht!«

»Sollten denn Eure Königliche Hoheit nicht reiten?«fragte die Gräfin, »ich glaubte, daß Seine Majestät da-von gesprochen hatte.«

»Ach nein, rief die Prinzessin abermals seufzend,»Mama will es nicht erlauben, schon in Hannovernicht, und jetzt habe ich schon zweimal nach der Ma-rienburg geschrieben und darum gebeten, aber es istmir abgeschlagen.«

»Nun,« sagte die Gräfin mit freundlichem Lächeln,»dann müssen Eure Königliche Hoheit resigniren, es istja im Grunde kein so großes Opfer, das Leben fordertgrößere und schwerere. Sehen Sie um sich, hier ha-ben wir ja auch die Natur, so schön, so frisch – undzugleich so geordnet, das ist ja unser Loos als Frauen,im beschränkten Kreise zu leben und zu wirken, wohluns, wenn dieser Kreis sich so freundlich mit Blumenschmückt, wie dieser Garten.«

Die Prinzessin schwieg einige Augenblicke.

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»Im beschränkten Kreise,« sagte sie dann halb flü-sternd, »ja, ja, das ist das Loos der Frauen, aber,« riefsie lebhafter, »ich muß Ihnen sagen, Gräfin, daß mirdas gar nicht gefällt!«

Sie blieb stehen.»Glauben Sie nicht,« fragte sie, das ausdrucksvolle

Auge mit einer gewissen kindlichen Naivität auf dieruhigen Züge der alten Dame richtend, »glauben Sienicht, liebe Gräfin, daß es Menschen giebt, die ihre Be-stimmung verfehlen?«

Die Gräfin lächelte.»Gewiß, Prinzessin, giebt es solche Menschen,« sagte

sie, »man sieht –«»Nun,« rief die Prinzessin halb scherzend, halb un-

muthig, »ich glaube, ich habe meine Bestimmung ver-fehlt, ich glaube, ich war bestimmt, ein Mann zu wer-den.«

Die Gräfin lachte.»Welche Gedanken!« rief sie.»Oh ich hatte diese Gedanken schon als Kind,« sag-

te die Prinzessin, »in Herrenhausen hatte ich nur denWunsch, die Spiele und Beschäftigungen meines Bru-ders theilen zu können, ich habe oft geweint, daß ichein Mädchen sein sollte.« –

»Aber, Prinzessin,« sagte die Gräfin Wedel fast er-schrocken, »das waren kindliche, verzeihen Sie, kindi-sche Phantasien, geben Sie sich,« fügte sie ernst hinzu,»solchen Neigungen nicht hin, Sie wissen, wie streng

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Seine Majestät der König die Grenzen dessen festgehal-ten wissen will, was die hergebrachte Form und Sittegebietet.«

Ein leichtes Roth färbte die zarte Wange der Prin-zessin. Stolz erhob sie den Kopf, mit einem Ausdruckfürstlicher Hoheit, aus welchem das ganze Bewußtseinihres tausendjährigen Geschlechts hervorblitzte, sagtesie:

»Sie verstehen mich nicht, Gräfin, nicht die Grenzender Form und Sitte sind es, die mich beengen. – Siewissen,« fuhr sie dann in herzlich freundlichem Tonefort, indem sie ihren Arm leicht in den der Staatsdamelegte und ihren Spaziergang wieder aufnahm, »Sie wis-sen, wie tief mir jedes, auch das leiseste Überschreitenjener Grenzen, jenes emancipirte Wesen zuwider ist,aber abgesehen von diesen Grenzen – warum schränktman den Lebenskreis der Frauen so eng ein in ihremWirken, Streben, Schaffen? – warum soll es uns ver-schlossen bleiben das große Reich des Wissens, in wel-chem der Geist der Männer den herrlichen, leuchten-den Bahnen folgt? – warum sollen wir nicht die Handlegen dürfen an das mächtige Rad der Geschichte, dasdoch auch uns nicht schont in seinem gewaltigen Rol-len?« fügte sie seufzend hinzu. »Und nun gar,« rief sienach einer kurzen Pause, »wenn man Prinzessin ist. –Der enge Kreis, der das Leben der Frauen überhaupteinschließt, wird bei uns so sehr zusammengezogen,daß uns kein Athemzug Luft übrig bleibt, wahrhaftig,

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die Flügel des Geistes müssen erlahmen, wenn man sieniemals ausbreiten kann! – Sehen Sie,« sagte sie leb-hafter, »ich habe den Drang, die Sehnsucht in mir, zulernen, die Welt und das Leben zu verstehen, das Ge-biet des Wissens zu durchdringen, aber wo finde ichBeistand, wo finde ich eine freundliche Hand, die michführt? – Die Arbeit des Geistes wird mir schwer, aberje schwerer sie ist, um so mehr liebe ich sie, aber wiesoll ich es anfangen, mich zu befreien von dem Bann,mit dem mich meine Stellung umgiebt – Ich sprechemit irgend jemand,« rief sie mit zornigem Ausdruck,»ich überwinde meine Verlegenheit, denn ich bin sehrverlegen, wenn ich es auch vielleicht nicht scheine, ichsage irgend etwas und fühle, weiß sehr genau, daß esunrichtig, unklar ist, ich hoffe, daß man mich berichti-gen, belehren, aufklären werde, aber – was höre ich?«

Sie stellte sich vor die Gräfin und sagte in parodiren-der Bewegung, sich tief verneigend:

»Sehr wahr, Eure Königliche Hoheit haben vollkom-men recht, es ist zu bewundern, wie Eure KöniglicheHoheit die Dinge so scharf zu beurtheilen verstehen. –Das höre ich, Gräfin,« rief sie, die Lippen zusammen-pressend, »ich mag gesagt haben, was ich will, und andieser ehernen Mauer der ewigen Ehrerbietung undDevotion fällt der Flug meines Geistes zu Boden!«

Die Gräfin lachte herzlich.»Eure Königliche Hoheit behaupten die Welt nicht zu

kennen,« sagte sie, »und doch haben Sie den Ton der

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Höfe so genau studirt, daß der größte Schauspieler ihnnicht besser copiren könnte.«

»Ja, diesen Ton kenne ich zur Genüge,« rief die Prin-zessin selbst lächelnd, »aber ich bin seiner auch wahr-haftig herzlich überdrüssig. – Und jetzt,« fuhr sie dannwieder ernst fort, indem sie ihre großen Augen mit tieftraurigem Ausdruck zur Gräfin aufschlug, »jetzt, in die-ser Zeit, in der unser Haus so schwer getroffen ist vonder Hand des Schicksals, da schmerzt es doppelt, soin trauriger Unthätigkeit sich in stillem Schmerz undKummer zu verzehren. – Gräfin,« sagte sie mit gepreß-ter Stimme, während ihr Auge in feuchtem Schleiersich verhüllte, »wenn ich meinen lieben Vater vor mirsehe, auf dessen theurem Haupt so schweres Leid ruht,dann möchte ich weinen vor bitterem Zorn, daß ich sogar nichts thun kann für ihn und seine Sache, für seinHaus, dessen Blut doch auch in meinen Adern fließt,für sein Recht, das doch auch das meine ist – Oh wä-re ich ein Prinz!« rief sie lebhaft, leicht mit dem Fußauf den Boden tretend, »könnte ich ringen, arbeiten,kämpfen! – mein Bruder nimmt das leichter,« sagte sieseufzend und das Auge zu Boden schlagend.

Mit inniger Theilnahme blickte die Gräfin Wedel aufdie Prinzessin, auch ihr Auge wurde feucht.

Starke Schritte ertönten auf dem Wege, der aus dentieferen Theilen des Gartens herführte.

König Georg V. erschien, auf den Arm des Flügelad-jutanten Oberstlieutenant von Heimbruch gestützt.

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Der König trug die hannöverische Uniform der Gar-dejäger, ohne Epaulettes und Orden, er rauchte eineCigarre aus einer langen, hölzernen Spitze.

»Prinzeß Friederike,« sagte Herr von Heimbruch.»Guten Morgen, mein Töchterchen!« rief der König

mit seiner hellen Stimme.Die Prinzessin eilte ihrem Vater entgegen und drück-

te die Lippen auf seine Hand, der König nahm ihrenKopf und küßte sie zärtlich auf die Stirn, indem erlangsam ihr glänzendes, aschblondes Haar streichelte.

»Ein herrlicher Morgen,« rief der König tief aufath-mend, »wie wohl thut mir diese reine, frische Luft! –ich bin schon lange gegangen, während mein Töchter-chen noch schlief,« fügte er lachend hinzu.

»Auch ich bin schon seit einiger Zeit hier im Gartengegangen, mit der Gräfin Wedel,« fügte sie mit einemBlick auf die Staatsdame, welche mit einigen Schrittenbis dicht an den König herantrat.

»Ah, Frau Gräfin, guten Morgen!« rief Georg V., in-dem er die Hand der Gräfin ergriff und sie mit rit-terlichem Anstand an seine Lippen erhob, »wie befin-den Sie sich heute? – ich bedauere immer von Neuemdie Unbequemlichkeiten, die Sie hier ertragen müssen,aber – Sie haben es gewollt, wir sind im Campagnezu-stand, da muß man sich in manches finden!«

»Majestät,« sagte die Gräfin, »es fehlt mir nicht dasGeringste, und,« fuhr sie mit innigem Tone fort, »ich

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bin glücklich, in diesem Augenblick die Pflichten mei-nes Ehrenamts erfüllen zu können, Prinzeß Friederi-ke,« sagte sie abbrechend mit leichtem Lächeln, »waraber nicht ganz mit unserer Morgenpromenade in demschönen, blühenden Garten zufrieden, sie möchte zuPferde steigen und hinausreiten in die freie Ferne.«

»Die Königin erlaubt es nicht,« sprach Georg V. ernst.»Graf Alfred Wedel,« sagte Herr von Heimbruch.Der Hofmarschall Graf Wedel trat heran in einfa-

chem Morgenanzug.»Mein lieber Alfred,« sagte der König, sich freund-

lich nach der Seite wendend, von welcher die Trittedes Kommenden erschallten, »Ihre Mutter ist zufriedenmit ihrem Aufenthalt, das freut mich herzlich, sorgenSie ja fortwährend, daß es ihr an nichts fehlt; ist derKronprinz schon zurück?«

»Noch nicht, Majestät,« sagte Graf Wedel, »Seine Kö-nigliche Hoheit dachte einen weiten Ritt zu machen.«

»Haben Sie Nachrichten von der Gräfin?« fragte derKönig, »wird sie bald kommen?«

»Ich hoffe es, Majestät,« erwiederte der Graf, »ichhabe heute Morgen einen Brief erhalten, sie denkt baldim Stande zu sein, die Reise zu unternehmen.«

»Schreiben Sie ihr viel – viel Freundliches von mir,«sagte der König, »wie sieht es sonst in Hannover aus?«fragte der dann, indem ein tiefernster Ausdruck auf sei-nem Gesicht erschien.

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»Trübe – gedrückt, Majestät,« erwiederte der Graf,»die Zeit lastet auf allen Verhältnissen, und man machtmanche wunderbaren Erfahrungen, ich habe aucheinen Brief vom Professor L’Allemand, Majestät,« fügteer hinzu, »der –«

»Was schreibt er?« fragte der König rasch und ge-spannt.

»Er hatte den preußischen Generalgouverneur umErlaubniß gebeten, das wunderbar schöne Bild, das ergemalt, nach Paris zur Ausstellung senden zu dürfen,es stellt Ew. Majestät zu Pferde, die Front des Gar-deregiments herunterreitend, dar, die Ausführung istmeisterhaft, alle Köpfe von frappanter Portraitähnlich-keit.«

»Ich erinnere mich,« sagte der König, »nun?«»Dies Bild befindet sich unter den mit Beschlag be-

legten Vermögensobjecten.«Der König biß die Zähne aufeinander.»Und der General von Voigts-Rhetz hatte sogleich

bereitwillig die Erlaubniß ertheilt, das Bild auszustel-len, als er durch einen Bericht darauf aufmerksam ge-macht wurde, daß diese Ausstellung höchst bedenklichsei, da das Bild in Paris Sympathieen für Ew. MajestätPerson und Allerhöchstihre Sache erwecken könne.«

»Und wer hat diesen Bericht gemacht?« fragte derKönig.

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»Herr von Seebach, der frühere Generalsecretär desFinanzministeriums, so schreibt man mir,« sagte GrafWedel.

Der König schwieg lange, er athmete tief, und eintrauriges Lächeln spielte um seine Lippen.

»Preußischer als die Preußen!« sagte er leise, »obman in Berlin wohl glaubt, mit solchen Elementen dieHerzen des Landes zu gewinnen? – Und was hat derGeneral von Voigts-Rhetz gethan?« fragte er dann.

»Er hat nichtsdestoweniger die Ausstellung des Bil-des erlaubt,« erwiederte Graf Wedel.

»Er ist Soldat!« sagte der König.»Und ich wollte nun für L’Allemand die Erlaubniß

Ew. Majestät erbitten, das Bild nach Paris senden zudürfen.«

»Gewiß, gewiß soll er es hinsenden,« rief der König,»ich wünsche ihm von Herzen Erfolg und Anerkennungfür sein Kunstwerk, schreiben Sie ihm das und grüßenSie ihn und seine Frau von mir, ich will sogleich an Me-ding schreiben, damit er dem Bilde einen guten Platzverschafft.«

Der alte Kammerdiener des Königs näherte sich undsprach einige Schritte vom Könige stehen bleibend:

»Graf Platen und Herr von Düring sind im Vorzim-mer und fragen, ob Ew. Majestät sie empfangen wolle.«

»Düring!« rief der König, »er kommt von Holland,ich will die Herren sogleich sehen!«

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»Darf ich dann Ew. Majestät vielleicht um die Befehlefür das Diner bitten?« sagte Graf Wedel, »der Graf unddie Gräfin Waldstein haben sich gemeldet.«

»Der Graf und die Gräfin Waldstein!« sagte der Königlebhaft, »wie werde ich mich freuen, sie zu sehen! –lassen Sie sie sogleich einladen, Reischach natürlich,Graf Platen und Herr von Düring – das genügt. – AufWiedersehen, mein Töchterchen! – auf Wiedersehen,Frau Gräfin!«

Leicht mit der Hand grüßend, schritt er am Arm desHerrn von Heimbruch schnell dem Hause zu.

In dem chinesischen Vorzimmer fand er den GrafenPlaten den Hauptmann von Düring in der Uniform derFlügeladjutanten seiner warten.

Graf Platen war schlank und geschmeidig in seinerHaltung wie früher, sein Schnurrbart und sein Haartrugen nicht mehr die glänzend schwarze Farbe, wel-che sie in Hannover gezeigt hatten, und der leicht in’sGraue fallende Ton stand mit den etwas gealterten undnervös abgespannten Gesichtszügen im Einklang.

Der König grüßte die beiden sich tief verneigendenHerren und bat sie, ihm in sein Cabinet zu folgen, wel-ches zur Seite des Vorzimmers lag, und in welchem aufschottischen Seidentapeten herrlich gearbeitete Hoch-landswaffen zwischen meisterhaften Ölgemälden hin-gen, welche Sujets aus Walter Scotts Romanen darstell-ten.

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Georg V. setzte sich in seinen Lehnstuhl vor den Tischin der Mitte des Zimmers und sagte, indem er den Rockausklopfte und sich bequem zurücklehnte:

»Nun, ich freue mich sehr, daß Sie wieder da sind,mein lieber Düring, wie also haben Sie die Emigrationgefunden, was ist dort zu thun?«

»Ew. Majestät Befehl gemäß,« erwiederte der Haupt-mann von Düring, mit der Hand leicht über den blon-den Schnurrbart fahrend, »habe ich mich über Parisnach Arnheim begeben und dort eine ziemlich bedeu-tende Anzahl von Mannschaften und verschiedene Of-ficiere gefunden, welche aus Hannover ausgewandertwaren, um sich Ew. Majestät zur Verfügung zu stellen.Sie hatten vorausgesetzt, daß aus der luxemburgischenAngelegenheit kriegerische Verwicklungen in Europaentstehen würden, und sich deshalb beeilt, neutralesGebiet zu erreichen, da sie voraussetzten, daß Ew. Ma-jestät jetzt Ihre Armee wieder bilden würden.«

»Es ist ja leider jetzt nichts zu machen,« sagte der Kö-nig achselzuckend, »wer hat nur den Leuten den Befehlgegeben, jetzt gerade aufzubrechen? – ich weiß nichtsdavon und bedauere diese vorzeitige Auswanderung.«

»Ew. Majestät hatten einzelnen Herren Vollmachtenertheilt,« erwiederte Herr von Düring, »es scheint, daßsie nun den Moment für gekommen erachtet und dieEmigration in’s Werk gesetzt haben; in solchen Augen-blicken,« fügte er mit fester Stimme hinzu, »muß man

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ja allerdings auch nach eigenem Ermessen und auf ei-gene Verantwortung handeln.«

»Gewiß, gewiß,« sagte der König, »ich bin auch weitentfernt, den Herren irgend einen Vorwurf zu machen–«

»Sollte nicht von Paris aus ein Wink an sie ergangensein?« sagte Graf Platen, sich in sich selbst zusammen-schmiegend, »waren ja zwei Officiere gerade in Parisanwesend, als die Emigration begann.«

»Das ist ganz unmöglich,« sagte Herr von Düring,»ich war damals ja selbst gerade in Paris und habe dieHerren gesehen, sie sind zurückgereist, um die Aus-wanderung anzuhalten, was ihnen auch theilweise ge-lungen ist, freilich strömen noch immer genug Leutenach Holland.«

»Doch nun,« fügte der König, »handelt es sich dar-um, was geschehen soll, wie die Leute organisirt wer-den, wo sie bleiben sollen.«

»Majestät,« erwiederte Herr von Düring, »es sinddrei Kategorien da, erstens wirkliche Deserteurs, wel-che bereits in die preußischen Regimenter eingereihtwaren, sodann Militairpflichtige, welche schon die Ein-berufungsorder erhalten hatten, endlich junge Leute,welche zwar im militairischen Alter stehen, aber nochnicht einberufen waren. Die beiden ersten Kategori-en können nicht zurückkehren, ohne sich den schärf-sten Strafen auszusetzen, die ganz jungen Mannschaf-ten könnten allerdings zurückkehren, aber sie wollen

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es nicht, sie bestehen darauf, sich dem preußischenDienst nicht unterwerfen und sich Ew. Majestät erhal-ten zu wollen.«

»Nach meiner Meinung,« sagte Graf Platen, »sollteman die Unterofficiere und die gedienten Leute erhal-ten, um daraus die Cadres zu bilden für den Fall, daßEw. Majestät wieder mit gewaffneter Hand den Kampffür Allerhöchst ihre Rechte aufnehmen, die übrigenaber, ich sehe nicht ein, was sie nützen sollen, und siewerden viel Geld kosten.«

Der König sann nach.»Die Kosten,« sagte er, »so lange sie nicht factisch un-

erschwinglich sind, können nicht in Betracht kommen,wie viel Leute waren dort?« fragte er, sich zu Herrn vonDüring wendend.

»Vier- bis fünfhundert,« erwiederte dieser, »doch warder Zugang, als ich abreiste, noch immer ein ziemlichstarker, so daß, wenn auch so schnell als möglich al-le Maßregeln ergriffen werden, um der weiteren Aus-wanderung Einhalt zu thun, man immer auf sechs- bissiebenhundert Mann wird rechnen müssen.«

»Gut,« sagte der König, »sie sollen unterhalten wer-den,« er sann einen Augenblick nach und fuhr dannfort: »Ich war anfangs ein Wenig bestürzt über die-se schnelle und zahlreiche Auswanderung, welche zu-nächst das arme hannoverische Land vielleicht nochhärterem Druck aussetzen wird, indes je mehr ich dar-über nachdenke, um so mehr sehe ich ein, wie nützlich

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diese ganze Sache ist, es ist eine Demonstration desVolkes, ein Zeugniß, welches die Hannoveraner able-gen, daß sie an mir festhalten wollen, und in der heu-tigen Zeit, in welcher das suffrage universel ein Dogmader Politik geworden, fällt das in’s Gewicht, außerdemgiebt dieses Corps immer die Basis für ein künftigesselbstständiges Handeln. – Doch,« fuhr er fort, »wo sol-len die Leute bleiben? – werden sie sich in Holland hal-ten können?«

»Das glaube ich nicht, Majestät,« sagte Herr von Dü-ring, »die holländische Regierung wird, ihrer neutra-len Stellung entsprechend, nicht dulden können, daßeine Ansammlung von Leuten, welche immerhin einenmilitairischen Charakter durch ihre Organisation hat,an der preußischen Grenze sich festsetze. Ich bin nachdem Haag gegangen und habe mit dem holländischenMinister des Auswärtigen, dem Grafen Zuijlen, undauch mit dem Minister des Innern, Herrn Heemskerk,gesprochen, beide Herren waren der Sache Ew. Ma-jestät durchaus sympathisch und bedauerten tief dasSchicksal Hannovers, sie versprachen auch eine äu-ßerst wohlwollende und freundliche Behandlung derhannoverischen Emigranten, allein beide erklärten mirauch ebenso bestimmt, daß sie ein Zusammenbleibenderselben an einem Ort unter einer bestimmten Orga-nisation Weber nach den Gesetzen des Landes, nochnach den Pflichten, welche die neutrale Stellung desKönigreichs bedinge, dulden könnten. Bis jetzt sei von

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der preußischen Regierung keine Forderung in dieserBeziehung gestellt, allein man wünsche auch dringend,eine solche zu vermeiden und so bald als möglich je-de Veranlassung dazu zu beseitigen. Daher werde sichdie Regierung genöthigt sehen, in wenigen Tagen dieLeute zu trennen und einzeln in verschiedene Orte desKönigreichs zu interniren. Der Graf Zuijlen bemerktemir dabei, daß er mir sehr dankbar sein werde, wennich die Regierung auch dieser ihr peinlichen Nothwen-digkeit überhebe – durch eine schleunige Entfernungder Emigranten. – Denselben Rath gab mir der franzö-sische Gesandte Baudin, mit dem ich ebenfalls über dieSache sprach. Er interessirte sich lebhaft für die Leu-te und zeigte die wärmsten Sympathieen für die Sa-che Ew. Majestät, indes fehlte ihm selbstverständlichjede völkerrechtliche Basis, um irgendwie zugunstender Emigranten etwas zu thun.«

»Aber wohin mit den Leuten?« fragte der König.»Majestät,« sagte der Hauptmann von Döring, »die

Schweiz bietet allen Flüchtlingen ein offenes Asyl,dort, wo die Vertreter der extremsten rothen Demokra-tie aller Nationen sicheren Aufenthalt und völlig freieBewegung finden, wird ja auch Raum für Anhängereines unglücklichen Königs sein, wenn Ew. Majestätnicht vorziehen, sie nach England gehen zu lassen, dasja auch bis jetzt allen Flüchtlingen unbedingt freie Auf-nahme gewährt. Ich darf Ew. Majestät bemerken, daßdie Leute selbst vielleicht am liebsten nach England

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gehen, die Tradition von des Königs deutscher Legionliegt ihnen im Sinn, und sie sehen sich gewissermaßenals eine neue Auflage dieser Legion an, die bei der Oc-cupation Hannovers am Anfange dieses Jahrhundertsunter englischen Fahnen sich bildete.«

»In England würde aber der Unterhalt der Leute vielmehr kosten,« bemerkte Graf Platen.

»Dafür würde sich aber auch dort mehr Gelegenheitfinden, ihnen Beschäftigung und eigenen Erwerb zuschaffen. Ew. Majestät kennen die Sympathie, welcheviele Kreise in England – die Damen der Aristokratiean der Spitze – der hannoverischen Sache beweisen,schon ist den seit dem vorigen Jahre nach England ge-flüchteten Hannoveranern durch das Comitee, welchessich in London gebildet hat, so viel Beschäftigung zu-gewiesen, daß sie fast gar keiner Unterstützung mehrbedürfen, und ich glaube –«

»Nein,« unterbrach der König, »nach England sol-len sie nicht gehen, die Sympathieen, welche sie dortfinden, sind einfaches Mitleid, und den Hebel für denKampf um meine Rechte kann ich nicht in einem Landeansetzen, das für mich und das Stammland seiner glor-reichen Könige nichts übrig hat als Mitleid und Bedau-ern. – Die Leute sollen sofort nach der Schweiz gehen,wer führt das Commando?«

»Der Hauptmann von Hartwig, Majestät,« sagte Herrvon Düring, »und ihm zur Seite steht Herr von Tschir-schnitz.«

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»Dann ist die Sache in guten Händen,« rief der Kö-nig, »Hartwig wird mit seinem biederen, braven Cha-rakter großen moralischen Einfluß auf die Leute aus-üben, und Tschirschnitz ist ein sehr tüchtiger Officiervon großer Intelligenz und reichen Kenntnissen, ichhatte ihn zum militairischen Erzieher des Prinzen Her-mann gewählt, und er hat ihn vortrefflich gebildet. –Schreiben Sie also unverzüglich, daß die Emigrationsofort nach der Schweiz gehen solle.«

»Ich glaube, daß Zürich der beste Ort wäre,« sagteHerr von Düring.

»Also nach Zürich!« rief der König, »dort angekom-men, sollen sie sofort über ihre Installation und Or-ganisation berichten, vor allem aber sollen sie jedenSchein einer militairischen Organisation äußerlich ver-meiden.«

»Sie müssen die einfache Emigration bleiben,« sagteGraf Platen, »und Ew. Majestät müssen zu ihnen nur indem Verhältniß stehen, daß Allerhöchst dieselben IhreUnterthanen in der Noth des Exils unterstützen, viel-leicht wäre es gut, wenn man in Hannover selbst einUnterstützungscomitee bildete, um eine offenkundige,sozusagen officielle Verbindung Ew. Majestät mit denFlüchtlingen dadurch zu vermeiden.«

»Ich habe keinen Grund, zu verbergen, was ichthue,« sagte der König, stolz den Kopf emporrichtend.

»Aber Ew. Majestät haben auch gewiß nicht nöthig,ohne Noth die Critik Europas herauszufordern – und

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den Gegnern Allerhöchst ihre Vorbereitungen vor Au-gen zu stellen.«

»Gut,« sagte der König, »suchen Sie also ein solchesUnterstützungscomitee zu bilden, ich glaube, practischwird es eine geringe Bedeutung haben, denn der Geld-beutel ist bei meinen guten Hannoveranern ein sehrkitzlicher Punkt.«

»In wenigen Tagen, Majestät,« sagte Graf Platen,»werden sich darüber Anknüpfungen machen lassen,zu Ew. Majestät Geburtstagsfest sind, wie mir gesterngeschrieben wurde, sehr viele Besuche in Aussicht ge-nommen, wir werden hier die einflußreichsten Persön-lichkeiten unter den hannoverischen Patrioten versam-melt sehen und zwar aus allen Kreisen und Ständen.«

»Es hat mich immer hoch erfreut,« sagte der Königmit bewegter Stimme, »wenn an den Familienfestenmeines Hauses das Volk so innigen Antheil nahm, dochin Hannover hatte ich die Macht und man hatte viel-leicht materielle Gründe, seine Anhänglichkeit zu be-weisen, jetzt aber,« er fuhr leicht mit der Hand über dieAugen, jetzt rührt mich das doppelt, denn jetzt,« sagteer schmerzlich seufzend, »kann ich keine Gunst gewäh-ren, und alle, die mir Beweise treuer Anhänglichkeitgeben, setzen sich vielleicht peinlichen Verfolgungenaus, jetzt lerne ich meine wahren Freunde kennen! –Sie haben also Meding in Paris gesehen,« sagte er nach

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einem augenblicklichen Schweigen zu Herrn von Dü-ring gewandt, »und mit ihm über die Lage gesprochen,was war seine Ansicht über die nächste Zukunft?«

»Majestät,« sagte Herr von Düring, »der Regierungs-rath war überzeugt, daß für die nächste Zukunft, zu-nächst für die Dauer der Ausstellung, der Frieden ganzunzweifelhaft erhalten werden würde, schon damals,als ich dort war, sagte er mir, daß aus der LuxemburgerFrage keine kriegerische Verwicklung entstehen wür-de, nachdem sie einmal auf das diplomatische Gebietgeführt ei, und er war damit im Interesse Ew. Majestätsehr zufrieden, denn diese Frage hätte, auf die Spitzegetrieben, entweder zu einer Allianz zwischen Frank-reich und Preußen geführt, wenn man in Berlin aus-schließlich und specifisch preußische Politik hätte ma-chen wollen, oder zu einem deutschen Krieg, in beidenFällen wäre jede Aussicht, das Recht Ew. Majestät in ei-ner oder der anderen Form jemals wieder zur Geltungzu bringen, für immer verloren gewesen.«

Der König stützte den Kopf in die Hand und fragtehalb leise:

»Und für die Zukunft?«»Der Regierungsrath Meding ist ganz fest und uner-

schütterlich überzeugt,« sagte Herr von Düring, »daßder Krieg nur eine Frage der Zeit ist, er kann hinaus-geschoben werden, ein oder zwei Jahre selbst, aberer wird mit der Nothwendigkeit eines Naturereignisseskommen, allein –«

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»Allein?« fragte der König, ohne den Kopf aufzurich-ten.

»Allein,« fuhr Herr von Düring fort, »er sieht die-sem Ereigniß mit großer Sorge entgegen, denn diesogenannten chauvinistischen Anschauungen sind vongroßer Macht in Frankreich und bei jeder kriegerischenVerwicklung wird das Geschrei nach Eroberung desRheins sich laut und betäubend erheben, dann aberwürde jede Action für Ew. Majestät äußerst schwierig– ja unmöglich werden, selbst ein Frieden mit Preußenwürde sich dann nur sehr schwer schließen lassen.«

»Und der Kaiser?« fragte der König, immer in dersel-ben Stellung.

»Der Kaiser Napoleon,« antwortete Herr von Düring,»hegt für seine Person nicht diese chauvinistischenAnsichten und die Eroberungsgelüste gegen Deutsch-land, aber wird er der nationalen Strömung widerste-hen können? Der Regierungsrath Meding,« fuhr er fort,»legt darum den höchsten Werth auf eine völlig selbst-ständige Stellung Ew. Majestät nach allen Richtungenhin, Frankreich sowohl als Österreich gegenüber, da-mit Ew. Majestät zu jeder Zeit die volle Freiheit desHandelns haben; nach seiner Ansicht, die er mich ge-beten hat, Ew. Majestät ganz besonders dringend per-sönlich an’s Herz zu legen, ist es vor allem jetzt dieAufgabe unserer Politik, an maßgebender Stelle undin der öffentlichen Meinung Frankreichs den Chauvi-nismus und die Eroberungsgelüste gegen Deutschland

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zu bekämpfen, sodann aber legt er ganz besonderenWerth darauf, daß Ew. Majestät so bald als möglichmit den hervorragenden Führern derjenigen Parteienin Deutschland in innige Verbindung treten, welchedas Princip der autonomen Freiheit und Selbstbestim-mung vertreten, daß Ew. Majestät diese Parteien umsich versammeln, sie organisiren und leiten, damit,wenn der Moment der Action eintritt, Allerhöchstdie-selben von einem großen und achtungswürdigen Theilder deutschen Nation umgeben sind und Principien aufIhre Fahne schreiben, welche der deutschen Nation liebund heilig sind, auch in Paris liegt ihm daran, nichtausschließlich als der Vertreter der bloßen Legitimitätdazustehen, für welche man dort, wie überhaupt imAllgemeinen in der Welt, sehr wenig Sinn mehr hat!«

»Der Regierungsrath Meding,« sagte Graf Platen lä-chelnd, »gefällt sich ein Wenig in den Anschauungendes Marquis Posa, ich sehe darin sehr viel Theorie undmöchte doch die practische Unterstützung der Cabinet-te von Wien und Paris höher anschlagen.«

»Ich glaube, daß diese Unterstützung dem bloßenlegitimen Recht niemals zutheil werden wird,« sagteHerr von Düring lebhaft, »wenn aber ein beachtens-werther Theil der deutschen Nation sich um Ew. Maje-stät gruppirt, dann werden Allerhöchstdieselben eineGroßmacht sein, deren Allianz in’s Gewicht fällt – undwelche auch Frieden zu schließen unter Umständen inder Lage sein wird.«

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Graf Platen schlug unmerklich lächelnd die Armeübereinander und blickte forschend auf den König.

Georg V. saß schweigend da, den Kopf in die Handgestützt.

Endlich erhob er das Haupt und sprach mit festerStimme:

»Ja, ich muß völlig selbstständig dastehen, Deutsch-land darf nie der Preis sein, welchen ich zur Erringungmeines Rechts einsetze, wir werden darüber weitersprechen, wenn Meding demnächst herkommt, doch esmuß zur völlig selbstständigen Action Alles vorbereitetwerden, nach allen Richtungen, auch in militairischerBeziehung. Sie, mein lieber Düring,« fuhr er fort, »ste-hen meiner Person zu nahe, als daß Sie, da die Emigra-tion keinen öffentlich militairischen Charakter habensoll, unmittelbar und inmitten derselben ihre Organi-sation leiten können, ich habe deshalb beschlossen, Sienach Paris zu senden, von dort haben Sie leichten undfreien Verkehr mit der Schweiz und können Alles orga-nisiren. Wegen der übrigen Vorbereitungen dazu wer-den Sie mir dann Ihre Vorschläge machen. Zugleichsollen Sie in Paris alle militairischen Verhältnisse ge-nau beobachten, das ist von höchster Wichtigkeit zurBeurtheilung der Situation, und wird Ihnen leicht wer-den, da Sie ja drei Jahre in der französischen ArmeeDienste gethan und daher genaue Kenntniß aller Ein-richtungen haben.«

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»Ich danke Ew. Majestät,« sagte Herr von Düringmit bewegter Stimme, »unterthänigst für diesen Be-weis des Vertrauens, der mir zugleich eine meiner Nei-gung so sehr entsprechende Thätigkeit giebt! Ew. Ma-jestät dürfen überzeugt sein, daß ich Alles aufbietenwerde, um die so schöne und große Aufgabe zu erfül-len – so schwer dieselbe immer sein mag.«

»Ich werde Meding sogleich instruiren,« sagte derKönig, »damit er Sie überall einführt, und ich bitte Sie,so leid es mir thut, Sie nicht bei mir behalten zu kön-nen, so bald als möglich abzureisen.«

»Majestät,« sagte Graf Platen, indem er ein Papieraus seinem Portefeuille nahm, »durch Zufall ist hier derRapport des brandenburgischen Husarenregiments Nr.3 an mich gekommen, ich darf ihn wohl dem dienst-thuenden Flügeladjutanten übergeben?«

»Ew. Majestät sind noch immer Chef des preußi-schen Regiments!« rief Herr von Düring erstaunt.

»Glaubten Sie denn, daß mir der König von Preußenden Abschied gegeben?« fragte der König lächelnd.

»Nein,« sagte Herr von Düring, »aber ich glaubte,daß vielleicht Ew. Majestät Ihrerseits –«

»Preußen hat mein Recht verletzt,« sprach der Königernst, »und ich werde für mein Recht kämpfen bis zumletzten Athemzuge, das ist meine Pflicht gegen meinHaus und gegen Gott, der mir meine Krone gegeben,das kann aber alte Beziehungen nicht zerreißen, wel-che aus ruhmreichen Traditionen stammen, und was

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auch geschehen ist, was noch geschehen möge, derpreußischen Armee anzugehören wird mir, wie jedemFürsten der Welt, stets hoch ehrenvoll sein.«

Er nahm den Rapport des preußischen Regiments anseinen königlichen Chef aus der Hand des Grafen Pla-ten und steckte ihn in die Brusttasche seiner Uniform.

»Warum hat es dahin kommen müssen?« sagte Herrvon Düring halb leise, indem sein feuchtes Auge vollLiebe und Bewunderung auf dem Könige ruhte.

»Treffen Sie alle Einrichtungen,« sagte der Königzum Grafen Platen gewendet, »damit die braven Han-noveraner, welche zu meinem Geburtstage hierherkommen, gut aufgenommen werden.«

»Zu Befehl, Majestät,« erwiederte Graf Platen aufste-hend.

»Seine Kaiserliche Hoheit der Erzherzog Albrecht,«meldete der Kammerdiener und öffnete auf einen Winkdes Königs die Flügel der Thüre.

Der König nahm den Arm des Hauptmanns von Dü-ring und trat in das Wohnzimmer, an dessen Eingangst-hür bereits der Erzherzog erschien.

Der Sieger von Custozza schritt rasch in leicht ge-bückter Haltung dem König entgegen, sein blasses Ge-sicht mit dem kurzen, grauen Haar und dem vollenSchnurrbart zeigte stark ausgeprägt den Typus deshabsburgischen Hauses, und die weichen, fast schlaff

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ineinander fließenden Züge hätten nicht den energi-schen, thatkräftigen und willensstarken Feldherrn er-rathen lassen, wenn nicht das lebhafte, scharfe undhelle Auge aus diesem weichen Gedicht hervorgeblitzthatte; in dein Blick dieses Auges vereinigte sich derStolz des Fürsten, die weite Umsicht des Generals, diefeste, unerschütterliche Ruhe des Soldaten.

Der Erzherzog trug den grauen Rock der Feldmar-schallsuniform, das Maria Theresien-Kreuz und denStern des hannoverischen St. Georgsordens. Ehrerbie-tig ergriff er die Hand des Königs, welche dieser ihmentgegenstreckte, legte dann den Arm des Königs inden seinen und schritt, den Grafen Platen mit freund-lichem Kopfnicken grüßend, in das Cabinet Georgs V.,dessen Thüren der Kammerdiener verschloß, währendsein Adjutant bei den beiden Herren im Vorzimmerblieb.

»Ich komme,« sagte der Erzherzog, nachdem er denKönig zu seinem Sessel geführt hatte, »um Ew. Maje-stät für übermorgen um die Ehre Ihrer Gegenwart inmeinem Hause zu bitten, unser Familiendiner ist beimir.«

»Der Kaiser und Sie alle sind zu gütig,« sagte derKönig, »daß Sie uns so liebenswürdig im Schooße IhrerFamilie aufnehmen.«

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»Nun,« erwiederte der Erzherzog, indem er sich ne-ben dem Könige niederließ, »uns verbindet halt, abge-sehen von allem andern, die Verwandtschaft des ge-meinsamen Unglücks und wir sind wahrlich sehr stolz,unseren tapferen und ritterlichen Bundesgenossen un-ter uns zu sehen, lieber freilich – weiß Gott – sähe ichEw. Majestät auf Ihrem Throne.«

Er seufzte tief.»Wie geht es der Herzogin von Württemberg?« frag-

te der König.»Ich danke Ew. Majestät,« erwiederte der Erzherzog,

»ganz nach Wunsch, meine kleine Mathilde habe ichmitgebracht, sie ist drüben bei der Prinzessin Friederi-ke und wird nachher noch die Ehre haben, Ew. Maje-stät ihren Respect zu bezeigen. – Es ist merkwürdig,«fuhr er fort, »was die beiden Mädchen für eine Freund-schaft miteinander geschlossen haben, meine Tochterschwärmt für die Prinzeß; übrigens hat sie vollkom-men recht,« fügte er hinzu, »denn ich muß Ew. Maje-stät bekennen, daß ich noch nie eine so liebenswürdigeund dabei so bescheidene und zugleich charaktervollePrinzessin kennen gelernt habe.«

Der König lächelte, ein glücklicher Ausdruck erschi-en auf seinem Gesicht.

»Ja, es ist ein gutes, liebes und treues Kind,« sagteer mit sanftem Tone, »meine Antigone,« fügte er leisehinzu, mit der Hand leicht über die Augen fahrend.

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Der Erzherzog beugte sich vor und drückte in unwill-kürlicher Bewegung stumm die Hand des Königs.

»Übrigens,« fuhr Georg V. mit heiterem Tone fort, »istdie Schwärmerei gegenseitig, ich höre meine Tochterden ganzen Tag von ihrer Freundin Mathilde sprechen,und nichts hat bei ihr Geltung, was nicht die Billigungder Erzherzogin gefunden hat.«

Der Erzherzog seufzte. »Glückliche Kinder,« sagte er,»sie lachen und tändeln noch über den tiefen, furcht-baren Ernst des Lebens dahin, der die Prinzessin Frie-derike schon so schwer erfaßt hat, und meiner Tochterauch nicht erspart bleiben wird.«

»Der Erzherzogin wird eine Prüfung erspart bleiben,wie sie meine Kinder in ihrer frühen Jugend betroffenhat,« rief der König.

»Es giebt auch andere Prüfungen, die ebenso schwer– oft schwerer sind,« sagte der Erzherzog mit trübemTone. – »Haben Ew. Majestät von der politischen Com-bination bereits gehört, durch welche jetzt die künf-tige Größe Österreichs wieder neu geschaffen werdensoll?«

»Die Allianz mit Italien?« fragte der König, »ich habedavon sprechen gehört, und ich muß aufrichtig geste-hen, daß, nachdem einmal das italienische Gebiet auf-gegeben worden ist, es mir am besten erscheint, mitdem Nachbarstaat auf gutem Fuß zu stehen, um we-nigstens nach jener Seite für alle Fälle Sicherheit undRuhe zu haben.«

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»Mag sein, mag sein,« rief der Erzherzog, »die Politikist ja ein Wesen, das keine Erinnerung und kein Gefühlhat, aber es wird schwer, sich zu gleich abstrakter Höhezu erheben, und das müssen wir Fürsten doch, so kannich auch nicht ohne tiefen Schmerz daran denken, daßes gerade mein Blut sein soll, welches dies neue Bünd-niß kitten soll mit dem Lande, das ich auf unseren altenEhrenfeldern das Schwert Österreichs fühlen ließ, mitdem Lande, das jetzt unsere schönen, reichen Provin-zen, unser Festungsviereck besitzt.«

Der König neigte in tiefem Ernst das Haupt.»So ist es wahr,« sagte er, »was ich neulich andeuten

hörte, daß die Idee einer Verbindung besteht?«»Es ist wahr,« erwiederte der Erzherzog.»Das Haus Savoyen ist aber eines der vornehmsten

Häuser und mit dem kaiserlichen Hause nahe ver-wandt,« bemerkte der König, »auch soll der Kronprinzein liebenswürdiger Herr von vortrefflichem Charaktersein.«

»Gewiß, gewiß,« rief der Erzherzog, »allein – Ew.Majestät werden begreifen, daß sich – Custozza nichtso leicht vergessen läßt.«

»Der Sieger kann es leicht vergessen, wenn die Be-siegten es vergessen,« sagte der König.

Schweigend und ernst schüttelte der Erzherzog denKopf.

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»Gott gebe,« fuhr Georg V. fort, »daß alle dieseSchritte zum Heile Österreichs, zur Wiederherstellungseiner Macht und Größe führen.«

Lebhaft rief der Erzherzog: »Ja, wenn ich des-sen gewiß wäre! Welches Opfer könnte mir zu groß,zu schwer sein, um mein Haus und Österreich ausdem Unglück wieder emporzureißen und das herrli-che Reich wieder auf die Höhe zu führen, die es einsteinnahm in Europa, aber,« fuhr er erregt fort, »führendie Wege, die man jetzt einschlägt, zu diesem Ziel? Ichvermag diese Überzeugung nicht zu gewinnen,« sag-te er mit finsterem Ausdruck, »man hat da halt eineHast, eine Unruhe zu uns importirt, die mit dem Cha-rakter und den Traditionen von Österreich nicht har-moniren.«

Er schwieg und blickte seufzend zu Boden.»Aber der Ausgleich mit Ungarn ist doch schon ein

gewaltiger Fortschritt,« sagte der König, »die Stellungder Ungarn war ja immer – und leider noch im letztenKriege ein Hinderniß der österreichischen Machtentfal-tung.«

»Ausgleich mit Ungarn?« rief der Erzherzog. »Ja frei-lich, alle Welt spricht davon, auch die Krönung wirdstattfinden in Pesth; auf dem Königshügel werden sieEljen rufen, aber ist das ein Ausgleich? Wir geben denUngarn Alles, was sie verlangen, und was erhalten wir

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dafür? Ich sehe bis jetzt nichts Reelles, nichts Greifba-res. – Aus Italien sind wir verdrängt,« fuhr er in bitte-rem Tone fort, »aus Deutschland ausgeschlossen – unddieser jetzige Ausgleich mit Ungarn legt uns nur eineFessel mehr auf, wenn wir je daran denken könnten,unsere verlorenen Positionen wieder zu gewinnen. –Ich habe wahrlich hohe Sympathie für die edle magya-rische Nation, aber mit künstlich parlamentarischenMaschinerien wird man ihr Herz nicht gewinnen, dies-seitige und jenseitige Reichsräthe und Delegationenwerden den österreichischen Fahnen nicht zum Siegeverhelfen, und,« sagte er mit festem Tone, »da liegt’s,da liegt’s allein, die Armee muß wieder schlagfertig ge-macht werden, ohne eine siegreiche Armee wird die al-te Blüthe und Macht nicht wiederkehren. – Und dann,die schiefe Stellung, in welche wir mehr und mehr zurKirche kommen –«

Er brach ab.»Ew. Majestät verzeihen, ich spreche da von Dingen,

um die ich mich grundsätzlich nicht kümmern will, ichbin Soldat; und des Kaisers erster Soldat zu sein, istmeine Lebensaufgabe und mein Beruf, hier werde ichmeine ganze Kraft und meine volle Arbeit einsetzen,im übrigen – möge Gott Alles zum Besten für Öster-reich lenken und den Kaiser und seine Räthe erleuch-ten, daß sie den rechten Weg zum Heil der Zukunftfinden. – Doch,« sagte er nach einer augenblicklichen

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Pause, »ich darf Ew. Majestät nicht länger stören, mei-ne Tochter scheint bei ihrer Freundin den Lauf der Zeitzu vergessen.«

Der König stand auf.»Die Prinzessinnen werden im Garten sein, wollen

Eure Kaiserliche Hoheit mir erlauben, sie aufzusuchenund die Erzherzogin zu begrüßen?«

Er bewegte die Glocke. Der Kammerdiener öffnetedie Türflügel; der König legte seinen Arm in den desErzherzogs und beide Fürsten schritten in den Gartender Villa hinaus.

Während der Erzherzog sich nach dem Cabinet desKönigs begeben hatte, war seine Tochter in Begleitungihrer Oberhofmeisterin, der Gräfin von Eltz, nach denZimmern der Prinzessin Friederike gegangen, und alssie dort erfahren, daß die Prinzessin im Garten sei, hat-te sie die Anmeldung verbeten und war hinausgegan-gen, um ihre Freundin zu suchen.

Die jugendliche Erzherzogin trug eine helle Früh-lingstoilette, eine Mantille von dunkelviolettem Sammtund eine zierliche Garnitur von Veilchenbouquets aufdem kleinen Hut, die ganze Erscheinung dieses Kin-des aus dem alten Hause der Cäsaren war umhauchtvon einem Duft frischer Jugendblüthe, die wunderbarschönen Farben des feinen, lieblichen Gesichts mit denAugen, die zugleich so tief sinnend und so hell und reinin die Welt hinausblickten, traten durch die dunklenFarben, welche sie umgaben, in lichter Helle hervor;

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als die junge Fürstin in den blühenden Garten hin-austrat, da erschien diese auf den Sonnenhöhen desLebens erschlossene menschliche Blume schöner, fri-scher und leuchtender als die bunten Kelche, die ausfrischem Grün dem Sonnenstrahl und den tändelndenSchmetterlingen sich öffneten.

Die Erzherzogin bemerkte in einiger Entfernung diePrinzessin und die Gräfin Wedel und schnell in an-muthig ungeduldiger Eile lief sie ihrer Oberhofmeiste-rin voraus, die Prinzessin hörte den leichten Schritt aufdem Kies des Weges, sie wendete sich um – und imnächsten Augenblick hatte die Erzherzogin sie in ihreArme geschlossen.

»Mein Vater ist bei dem Könige,« rief sie, den strah-lenden Blick voll inniger Liebe auf die ernsten Zügeder Tochter des Welfenhauses richtend, »und da bin ichmit herausgekommen, um Dich zu begrüßen. – Über-morgen, hoffe ich, werdet ihr bei uns sein, wie freueich mich,« fuhr sie lebhaft fort, »Dich wiederzusehen,Du glaubst nicht, wie glücklich es mich macht, daß Duhier bist. Ich habe mich immer so nach einer Freun-din gesehnt, nach einer wirklichen, wahren Herzens-freundin, und nun habe ich mehr gefunden, als ich jegehofft, wäre nur die Veranlassung nicht so traurig,«flüsterte sie, und indem sie den Arm um die Schulternder Prinzessin legte, streichelte sie sanft ihre Wangeund blickte voll tiefen Gefühls zu der etwas größerenFreundin empor.

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»Du liebe, gute Mathilde!« sagte die Prinzessin sanft,»wie danke ich dir für deine Theilnahme in dieser Zeit!– Es ist ja unser Loos, schwerer die Last des Lebens zutragen, als andere Menschen.«

»Ach ja – ja,« sagte die junge Erzherzogin plötz-lich ernst und traurig zu Boden blickend, »es ist unserLoos.« – Sie seufzte tief auf.

Die Prinzessin machte sich sanft vom Arm der Erz-herzogin los und reichte der herantretenden GräfinEltz die Hand, während die Erzherzogin mit freund-lichen Worten die Gräfin Wedel begrüßte.

»Wollen wir in mein Zimmer gehen?« fragte danndie Prinzessin Friederike.

»Nein,« rief die Erzherzogin, »ich bitte, bleiben wirhier, ich habe dich hier aufgesucht, weil es so schöndraußen ist, laß uns ein Wenig umhergehen, ich mußnachher noch dem König meinen Respect bezeigen.«

Sie legte ihren Arm in den der Prinzessin und diebeiden jungen Mädchen gingen mit der elastisch ra-schen Bewegung ihres Alters in die schattigen Gängedes Gartens, während die Gräfinnen in ruhigem Ge-spräch langsam nachfolgten.

»Du hast vorhin so schwer geseufzt,« sagte die Prin-zessin Friederike lächelnd, »als ob auch dich ein Kum-mer drückte, hast du etwas auf dem Herzen?«

Die Erzherzogin blickte schnell nach den Damen zu-rück, welche sich bereits in ziemlich weiter Entfernung

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befanden, und sprach mit fast flüsternder Stimme, in-dem sie den Arm der Prinzessin fester drückte und denKopf näher zu ihr hinüber neigte:

»Ach mein Gott, ja. Ich habe recht viel und rechtSchweres auf dem Herzen.«

»Du machst mir fast bange,« sagte die Prinzessin,noch immer lächelnd in scherzendem Tone.

»Oh lächle nicht!« rief die Erzherzogin mit bitten-dem Ausdruck, »es ist mir wirklich nicht zum Lächelnzumuthe; sieh, als du vorhin davon sprachst, daß un-ser Stand uns bestimmt, dem Schicksal schwerere Op-fer zu bringen als andere, das fiel mir brennend auf dasHerz, denn – denn –« fuhr sie zögernd fort.

»Nun?« fragte die Prinzessin in ernsterem Tone, in-dem sie ihren Blick erwartungsvoll auf das rosige Ant-litz der Erzherzogin richtete, in welchem der heitereSonnenschimmer der Jugend mit einer angstvoll unru-higen Erregung kämpfte, »nun?«

»Auch ich soll jetzt schon das Opfer meines Standeswerden,« sagte die Erzherzogin leise, »du weißt ja,«fuhr sie mit zitternden Lippen fort, »daß wir Prinzes-sinnen dazu bestimmt sind, bei den Verbindungen fürdas Leben nicht das Herz fragen zu dürfen, sonderndaß die Politik –«

»Mein Gott!« rief Prinzeß Friederike, so ernst ist dieSache?«

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»So ernst!« erwiederte die Erzherzogin mit bebenderStimme, »ich habe Andeutungen gehört – von verschie-denen Seiten, selbst von meinem Vater schon, welchemir keinen Zweifel lassen, daß – man daran denkt,über meine Hand zu bestimmen.«

Mit tiefernstem Blick drückte die Prinzessin dieHand ihrer Freundin.

»Und wer?« fragte sie leise.»Der Kronprinz von Italien,« hauchte die junge Erz-

herzogin, indem ihre Wangen sich mit Purpur färbten.Die Prinzessin schwieg und drückte nochmals zärt-

lich die Hand der Erzherzogin.»Man will, wie ich glaube, eine Allianz mit Italien

machen,« sprach diese rasch und lebhaft, »und um dasBand fester zu knüpfen, soll ich –«

»Kennst du den Prinzen?« fragte Prinzeß Friederike.»Nein!« rief die Erzherzogin, »ich habe Bilder von

ihm gesehen, du wirst begreifen,« fügte sie mit flüchti-gem Lächeln hinzu, »daß ich ein Wenig neugierig bin,er hat ein gutes, freundliches Gesicht, aber – ich bin sodaran gewöhnt, das Haus Savoyen als unseren Feindanzusehen, mein Vater ist gegen sie in’s Feld gezogen –und hat sie geschlagen,« sagte sie mit lebhafterer Stim-me, indem der ganze Stolz einer Tochter von Habsburgaus ihren Augen blitzte, »sie haben uns unsere Provin-zen entrissen, unsere Vettern entthront – und wollenauch den heiligen Vater von Rom verjagen, wie soll ich

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mich daran gewöhnen, dies Haus, vor dem ich gezit-tert, das ich zu hassen gelernt habe, als das meinigezu betrachten, und dann,« fuhr sie seufzend fort, »ichbin eben erst in das Leben getreten, Alles lächelt mirhier so freundlich in der lieben Heimath, ich habe dichgefunden, eine Freundin, dies seltene Glück für einePrinzessin, und nun soll ich das Alles schon verlassen,so schnell, und hinausgehen in den kalten Glanz einesfremden Hofes.«

»Früher oder später,« sagte die Prinzessin Friederi-ke sinnend, »einmal mußte es ja doch kommen, und,«fuhr sie mit leuchtenden Augen fort, »wenn du das Be-wußtsein hast, deinem Hause und deinem Lande zunützen, das ist doch auch eine schöne und große Sa-che, und für uns, die wir als Frauen auf die Welt ge-kommen sind, ist dies ja der einzige Weg, der uns er-laubt, für die große Sache zu handeln, für welche diePrinzen mit dem Schwert in der Hand kämpfen.«

Die Erzherzogin blickte mit dem Ausdruck liebevol-ler Bewunderung in das ernste, stolze Gesicht der Prin-zessin.

»Oh du bist viel größer und stärker als ich!« rief sie,»du hast einen männlichen Geist, du bist zum Herr-schen geboren.«

»Könnte ich meinem Hause, meinem Vater und sei-ner Sache ein Opfer bringen,« sprach die Prinzessin mitfestem Tone und strahlendem Blick, »nichts – nichtsin der Welt wäre mir zu schwer! – Leider kann ich

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nichts thun, als wünschen, hoffen und beten. – Sieh,«sagte sie nach einem Augenblick, »deine Zukunft kannschön und groß werden, du steigst auf einen glänzen-den Thron und mächtiger Einfluß wird vielleicht einstin deine Hand gelegt, du kannst vieles, was sonst zuschroffem, scharfem Riß führen würde, freundlich lö-sen, du kannst es zur Aufgabe deines Lebens machen,für dein Haus zu wirken.«

»Und für meine Freunde!« rief die Erzherzogin leb-haft, »für euch. – Oh wenn ich einmal die Macht habe,irgend etwas zu thun, glaube mir, für euch will ich ar-beiten mit aller Kraft.«

»Für uns!« sagte die Prinzessin mit traurigem Toneund ein tiefer Seufzer stieg aus ihrer Brust empor. –»Doch außerdem,« fuhr sie abbrechend und mit leich-tem Lächeln fort, »warum solltest du denn nicht auchglücklich werden, der Prinz –«

»Oh,« rief die Erzherzogin abermals tief erröthend,»das ist es ja, was mir so schwer auf dem Herzen liegt,sieh, den Prinzen kenne ich nicht, man hat mir viel Lie-bes und Gutes von ihm gesagt, und ich will das Allesgern glauben, aber das Haus Savoyen und dies Italienhat unserem Hause so viel Unheil gebracht, und dann,«sagte sie mit einem gewissen wichtigen Ernst, »merkeich wohl, hinter der ganzen Sache steckt Frankreich,und von Frankreich ist uns auch noch nichts Gutes ge-kommen, die arme Königin Marie Antoinette, MarieLouise, alle österreichischen Erzherzoginnen sind die

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Opfer der Allianz mit Frankreich geworden, und jetztmein armer Vetter Maximilian, den sie dort in Mexi-co verfolgen, oh das kann keinen Segen bringen, und,«fuhr sie mit tieftraurigem Tone fort, indem ihre Augenstarr in das Leere blickten, »es will mich zuweilen wieeine tödtliche Angst überkommen, es ist, als ob einekalte Hand sich auf mein Herz legte, oh mein Gott,mein Gott, das nimmt kein gutes Ende!«

»Du bist eine kleine Thörin,« sagte die Prinzessin,zärtlich die Hand ihrer Freundin drückend, mit leich-tem Lächeln, »du mußt,« fuhr sie in heiterem Tone fort,»die Sache auch von einer anderen Seite ansehen. Sooft klagst du über die fortwährende Last der Etiquet-te, die dir niemals erlaubt, dich so recht von Herzenfrei zu bewegen, nun, wenn du einmal Kronprinzessinund dann Königin bist, so kannst du selbst dein Lebenbestimmen, dann kannst du auch deine Cigaretten rau-chen,« setzte sie mit schalkhaftem Lächeln hinzu.

»Oh,« rief die Erzherzogin, indem plötzlich dertraurige, angstvolle Ausdruck von ihrem Gesicht ver-schwand, mit heiterem, triumphirendem Lachen, »dasthue ich auch jetzt, wenn ich einmal allein bin, esmacht mir so viel Vergnügen, die blauen hübschenWölkchen in die Luft zu blasen!«

Und schnell zog sie aus der Tasche ihrer Robe einkleines, zierliches Etui hervor, öffnete es und zeigte derPrinzessin eine Reihe kleiner, zierlicher Damencigaret-ten.

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»Ein merkwürdiges Vergnügen,« sagte die Prinzessinlächelnd, »für eine so zarte und ätherische kleine Erz-herzogin.«

»Ist es denn nicht ein sehr ätherischer Genuß, es istso gar nichts Materielles dabei, – die kleinen, zierlichenRinge –« erwiederte die Erzherzogin.

»Seine Majestät!« rief die Gräfin Wedel, schnell her-ankommend, die Prinzessinnen blieben stehen; raschverbarg die Erzherzogin das kleine Cigarrenetui, danneilten beide dem Könige entgegen, welcher am Armdes Erzherzogs Albrecht rasch durch die Allee heran-schritt und schon in unmittelbarer Nähe war.

Die Erzherzogin wendete sich zum König, währenddie Prinzessin Friederike die herzliche Begrüßung desErzherzogs erwiederte.

»Ich muß meine Tochter selbst holen,« sagte dieserscherzend, »denn wenn sie einmal unter dem Zauberder Unterhaltung mit ihrer Freundin steht, so vergißtsie Zeit und Stunde, sogar ihre Pflicht gegen Ew. Maje-stät.«

»Das wird mir Seine Majestät gewiß verzeihen,«sprach heiter die Erzherzogin, »meiner lieben Friederi-ke kann Niemand widerstehen. Der Kaiser und die Kai-serin sind auch stets unter dem Zauber, von welchemmein Papa spricht, dann kann man von einer kleinenErzherzogin nicht verlangen, daß sie sich demselbenentziehe.«

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»Sie verziehen alle mein Töchterchen,« sagte der Kö-nig mit glücklichem Lächeln, dann reichte er der Erz-herzogin den Arm, der Erzherzog bot der Prinzessinden seinen und alle schritten dem Hause zu.

Der König führte die Erzherzogin zum Wagen, verab-schiedete sich mit herzlichem Händedruck vom Erzher-zog und kehrte am Arm des Hauptmanns von Düring,der mit dem Adjutanten des Erzherzogs zum Wagengefolgt war, in sein Cabinet zurück.

Die Prinzessin Friederike winkte noch dem fortrol-lenden Wagen nach, aus welchem die Erzherzogin ihreinen Kuß zuwarf, dann ging sie langsam in das Inneredes Hauses.

»Ich möchte mich einen Augenblick zurückziehen,ich bin etwas müde,« sagte sie zur Gräfin Wedel, »aufWiedersehen nachher, liebe Gräfin!«

Sinnend, das Haupt gedankenvoll geneigt, ging siein ihr Zimmer.

VIERUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

In der stillen Wohnung der Madame Raimond imkleinen Hause der Rue Mouffetard hatte sich in denwenigen Tagen, seit die Arbeiterin Madame Bernarddort eingezogen war, ein immer freundlicher sich ge-staltendes Leben entwickelt.

Die junge Hausgenossin dieses kleinen, einfachenKreises hatte vom ersten Abend ihrer Anwesenheit aneine Atmosphäre von Reiz und Sympathie um sich her

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zu verbreiten gewußt. Oftmals kam die alte Frau Rai-mond während des Tages in das Zimmer ihrer Miethe-rin und jedesmal machte sie ihr im Tone der aufrichtig-sten Überzeugung ihre Complimente über die saube-re Reinlichkeit sowohl, welche in der so bescheidenenUmgebung herrschte, als auch über die Geschicklich-keit und den unverdrossenen Fleiß, mit welchem diejunge Frau ihre Arbeit förderte. Sie saß da an dem Fen-ster ihres Stübchens, das sie schon am ersten Tage miteiner ganz leichten, aber frisch und anmuthig arran-girten Gardine von weißem Mull decorirt hatte, undobwohl sie, so lange die alte Frau bei ihr war, unauf-hörlich freundlich und harmlos mit ihr plauderte, soruhten doch ihre Augen immer auf der zarten, weißenStickerei, an der sie arbeitete, und ihre feinen, schlan-ken Finger bewegten sich so eifrig und sicher in unun-terbrochener Thätigkeit, daß Madame Raimond bei je-dem Besuch, den sie ihrer Mietherin machte, den Fort-schritt der Arbeit bemerken konnte, und daß die ferti-gen Arbeiten schon zweimal in wenigen Tagen hattenfortgetragen werden können, um für einen für die ärm-lichen Verhältnisse dieses Haushalts sehr erheblichenBetrag abgeliefert zu werden. Und dabei war die jungeFrau so mäßig und anspruchslos – fast ohne Bedürfnis-se als die zierliche und feine Wäsche, welche sie trug.Sie trank morgens ihre Milch, sie frühstückte mittagsein Ei und etwas Brod, nur abends ließ sie es sich nichtnehmen, zu dem einfachen Diner, welches sie mit ihrer

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Wirthin und dem jungen Arbeiter theilte, immer deneinen oder andern Leckerbissen herbeizubringen, undwas auch die sparsame Frau Raimond sagen mochte,sie bestand darauf, diesen Beitrag zu liefern, der, wiesie sagte, ihre eigene Neigung zur Gourmandise be-friedigen solle, obgleich sie von den kleinen, zierlichenPâtes, welche sie aus einem jener hübschen, einladendausgestatteten Charkuterieläden mitbrachte, nur ebenso viel kostete als nöthig war, um die Honneurs ihrerGabe zu machen.

Und George Lefranc, der finstere, brütend ernsteMensch? Er war wie verwandelt, es war, als ob ein lich-ter, sonniger Schimmer über sein ganzes Wesen ausge-gossen sei; wohl blickte sein dunkles, brennendes Au-ge noch tief und sinnend vor sich hin, aber ein mildesund weiches Leuchten lag über dieser stillen, dunklenGluth und seine sonst so fest und streng geschlosse-nen Lippen öffneten sich oftmals zu einem hellen, fastkindlichen Lächeln. Rasch hörte man um die Stundedes Arbeitsschlusses seinen leichten Schritt die Treppehinaufeilen, schnell vertauschte er in seinem Zimmerden Arbeitsanzug mit frischer Wäsche und einer rei-nen Blouse, um in dem kleinen Raum zu erscheinen,welchen Madame Raimond ihren Salon nannte und inwelchem sie abends ihre Miether bei sich versammelte.

Der junge Arbeiter mit seinem sorgfältig geordneten,reichen Haar, das magere, blasse und strenge Gesicht

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von einem glücklichen Lächeln überstrahlt, entwickel-te hier gesellige Eigenschaften, die man nie vorheran ihm bemerkt hatte, er bediente die Frauen mit ei-ner gewissen natürlichen Anmuth bei ihrem einfachenDiner, er nahm Theil an dem leichten, heiteren Ge-plauder, welches die neue Mitbewohnerin so allerliebstfortzuführen verstand, nicht ohne zuweilen einen lei-sen Seufzer zu unterdrücken und einen wie unwillkür-lich traurigen Augenaufschlag unter den schnell ge-senkten Augenlidern zu verhüllen. Mit tiefer Theilnah-me blickte dann jedesmal der junge Mann zu ihr her-über, oft schien es, als ob eine Frage auf seinen Lippenschwebe, aber sie wurde nicht ausgesprochen, dennrasch kehrte das Lächeln wieder auf das Gesicht seinerschönen Nachbarin zurück und mit verdoppelter, lie-benswürdiger Beflissenheit plauderte sie weiter, gleichals wolle sie ihrer Umgebung den Schatten verbergen,welcher wohl aus den Tiefen einer schmerzlichen Ver-gangenheit hervorstieg.

Madame Raimond betrachtete mit glücklichen undzufriedenen Blicken diese beiden so harmlos mit ein-ander plaudernden jungen Leute, sie schien sich überderen Zukunft ihre ganz besonderen Gedanken zu ma-chen, welche sie jedoch auszusprechen keine Gelegen-heit fand. Wohl richtete sie zuweilen an Herrn Georgedie Frage, ob er noch immer der Ansicht sei, daß inden Kreisen der Armuth und Arbeit keine heitere undfröhliche Häuslichkeit möglich sei; der junge Mann

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antwortete auf solche Fragen nicht anders als durcheinen tiefen Blick auf die neben ihm sitzende und auchhier immer mit einer leichten Handarbeit beschäftigteNachbarin, es lag in diesem Blick ein Schimmer war-mer Dankbarkeit, verbunden mit dem Ausdruck einerschüchternen Frage, und wenn die junge Frau auchdiesen Blick nicht sah, ihre Augen waren ja stets aufihre Arbeit gerichtet, so schien sie ihn doch zu fühlen,denn jedesmal flog es wie der Hauch eines leichtenErröthens über ihre zarten Wangen und dann wurdedas Lächeln auf den Lippen des ernsten Arbeiters nochglücklicher, noch hoffnungsvoller.

So waren einige Tage vergangen und während dieserwenigen Tage hatte sich das stille Leben der drei Men-schen so ineinander gefügt, daß es schien, als ob sieimmer miteinander gelebt hätten, als ob sie immer mit-einander fortzuleben bestimmt wären. Madame Rai-mond sprach dies wenigstens oft in sehr zufriedenemTone aus, der junge Mann schwieg, aber der Ausdruckseines Gesichts zeigte, daß seine Ansicht durchaus mitder seiner freundlichen Hauswirthin übereinstimmteund die Blicke beider ruhten dann mit sympathischerFreude auf der schönen und anmuthigen Frau, welchein ihrer harmlosen Einfachheit es gar nicht zu ahnenschien, daß der stille Reiz ihrer Persönlichkeit alleindas Zauberband war, das diesen kleinen, in sich zufrie-denen Kreis zusammenschloß.

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Dieser Kreis hatte sich einige Tage nach dem Ein-zug der jungen Weißstickerin noch um eine Person ver-mehrt; Madame Raimond hatte auch ihr letztes Zim-merchen an einen alten, kränklichen und fast ganztauben Herrn vermiethet, welcher sich durch seineLegitimationspapiere als Herr Martineau ausgewiesenund der gutmüthig zuhörenden Frau in einer langenund sehr ausführlichen Auseinandersetzung die an sichziemlich einfache Geschichte erzählt hatte, daß er sichvor zehn oder fünfzehn Jahren mit einem hübschenVermögen aus dem kaufmännischen Geschäft zurück-gezogen, das er früher betrieben; seine Frau und einSohn, den er gehabt, seien gestorben, durch unglück-liche Capitalanlage habe er sein Vermögen fast ganzverloren und er suche nun, allein in der Welt daste-hend, eine Wohnung in einem rechtschaffenen Hause,das ihm einige Pflege in seiner Gebrechlichkeit bieteund ihm erlaube, mit den geringen ihm übrig gebliebe-nen Mitteln ruhig das Ende seines Lebens zu erwarten.

Das war ganz der Miether, wie Madame Raimondihn sich wünschen konnte, und so war denn der alteHerr Martineau in das noch freistehende Zimmer ein-gezogen, hatte dasselbe mit einigen alterthümlichen,von früherer Wohlhabenheit zeugenden Mobilien aus-gestattet, die Schränke mit dem Inhalt seiner eben-falls alten, aber gut erhaltenen Koffer gefüllt und war

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freundlich in den kleinen Kreis der Hausgenossen auf-genommen worden, in den der stille, alte Mann üb-rigens außer seiner persönlichen Anwesenheit keinenennenswerthe Veränderung brachte.

Denn nicht nur war der alte Mann mit den scharf-geschnittenen Gesichtszügen, welche zuweilen nochkräftiger und fester erschienen, als seine Jahre es hät-ten vermuthen lassen, so taub, daß eine Theilnahmean der Conversation für ihn unmöglich wurde, son-dern auch waren seine Augen so leidend, daß er nurwenig mehr sehen konnte. Er trug stets eine Brillemit großen, dunkelblauen Gläsern, welche seinen Blickvollständig verdeckten und auf seinem Gesicht kei-nen andern Ausdruck bemerken ließen, als ein stil-les, freundlich wohlwollendes Lächeln, das in stereo-typer Gleichmäßigkeit auf seinen Lippen ruhte. Er hat-te Madame Raimond sehr ausführlich die Geschichteder Entstehung dieses Augenleidens erzählt und ihr dieBrille abnehmend, seine gerötheten und entzündetenAugenlider gezeigt, die gute Frau hatte ihm sofort, vollMitleids für den so hart heimgesuchten, alten Mann,das Recept zu einer vortrefflichen Augensalbe gegeben,welche er auch mit bereitwilligster Gewissenhaftigkeitihrer Vorschrift gemäß anwendete, ohne daß indes ei-ne Besserung eingetreten wäre, die ihm erlaubt hätte,einen Augenblick die blaue Brille abzunehmen.

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So saß denn der alte Mann, die gebückte Gestalt ineinen altmodischen, hoch hinauf zugeknöpften Über-rock gehüllt, um den Hals eine weite, fast das Kinneinschließende, weiße Halsbinde, auf dem Kopf einekurze Perrücke von verschossen brauner Farbe, unterwelcher an den Schläfen einzelne dünne Locken desnatürlichen, weißen Haares hervorsahen, so saß er daam Abend in dem kleinen Wohnzimmer der MadameRaimond, still lächelnd und durch die großen, dun-kelblauen Brillengläser bald den einen, bald den ande-ren anblickend. Die junge Frau Bernard erzeigte ihmmit vieler Liebenswürdigkeit alle jene kleinen Dienste,welche das Alter von einer gut erzogenen Jugend zubeanspruchen das Recht hat, und er machte ihr da-für oft eines jener altfränkischen, förmlichen Compli-mente, das sie mit einem höflichen und verbindlichenLächeln erwiederte. Schnell hatte man sich an seineAnwesenheit gewöhnt: Madame Raimond, an jedemAbend anfangs so heiter und gesprächig, ließ bald einWenig, dann immer mehr das Haupt sinken und ver-fiel in einen leichten Schlummer, der alte Herr saß ru-hig und still da, und so blieb dann die Unterhaltungden beiden jungen Leuten überlassen, denen übrigensder Stoff dazu selten ausging, und selbst wenn sie zu-weilen einige Zeit in sinnendem Nachdenken dasaßen,so schien ihnen dies keine Langeweile zu verursachen.Mit skrupulöser Pünktlichkeit erhob aber um zehn UhrMadame Raimond das sanft eingenickte Haupt, stand

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auf und schloß das Beisammensein mit der Bemer-kung, daß es Zeit sei, zu Bett zu gehen. Denn manstand früh auf in dieser kleinen Welt der Arbeit, schonum fünf Uhr morgens saß die junge, fleißige Weiß-stickerin bei ihrer Arbeit zur großen Freude der sorg-samen Wirthin, welche bei ihrer Einwohnerin, wennsie ihr das Milchfrühstück brachte, stets schon einenbemerkenswerthen Fortschritt der Arbeit fand, Georgeaber ging oft schon zu noch früherer Stunde zu seinerArbeit hinaus.

Eines Morgens hatte sich, als er in seinem Arbeitsco-stüme sich anschickte, die Treppe hinabzusteigen, dieThüre seiner Nachbarin geöffnet, und die junge Frauwar auf dem Vorplatz erschienen, ihre Flasche in derHand, um etwas Wasser aus der Küche zu holen.

Fast erschrocken blieb der junge Mann stehen, alsin dem hellen Rahmen der geöffneten Thür vor ihmdas reizende Bild dieser zarten, frischen Frau erschi-en, in dunklem, einfachen Morgenrock, den schlankenHals mit weißer, sauber gefalteter Krause umgeben,das glänzende Haar halb bedeckt von einem zierlichenHäubchen, welches das schöne Oval des Gesichts ein-schloß.

»Guten Morgen, mein lieber Nachbar!« rief sie ihmmit ihrer Stimme, die er so gern hörte, entgegen, »ichfreue mich, Ihnen zu begegnen und Ihnen Glück zu

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Ihrer Tagesarbeit wünschen zu können, ich denke im-mer, die Mühe des Tages trägt sich leichter und freudi-ger, wenn man den Gruß und den guten Wunsch einesFreundes mit sich hinausnimmt!« Und sie reichte ihmmit einem hellen Lächeln voll herzlicher Freundlichkeitdie zarte, weiße Hand.

Zögernd und befangen trat der junge Mann zu ihrund nahm diese Hand in die seine.

»Gewiß freut mich Ihr lieber Morgengruß, Mada-me,« sagte er mit etwas befangenem Ausdruck, »aber,«fuhr er fort, indem sein Blick über seinen schwar-zen, rußigen Arbeitsanzug hinabglitt, »was denken Sie,mich in dieser Gestalt zu sehen, Sie, die Sie immer sozart, so frisch sind, meine Arbeit –«

»Welch’ ein Gedanke!« rief sie, fest seine Handdrückend, und indem sie ihr Auge einen Augenblickmit fast liebevollem Ausdruck über seine auch in dieserentstellenden Umhüllung schön und kräftig hervortre-tende Gestalt gleiten ließ, fügte sie in lebhaftem Tonehinzu:

»Wie finde ich ihn schon, diesen Anzug, er ist dieTracht der Arbeit, des ehrlichen, festen Kampfes mitdem Leben um den Preis seiner reinsten und edelstenFreude, der Zufriedenheit und Selbstachtung, kann esfür den Mann eine schönere Tracht, eine würdigere Er-scheinung geben?«

Ein Blitz heißen Glückes, unendlicher Dankbarkeitsprühte aus seinem Auge, in rascher Bewegung hob er

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ihre Hand empor und drückte sie fest und innig an sei-ne Lippen.

Es schien, als wolle er in feurigem Ausbruch glühen-de Worte sprechen, aber er sagte nur mit einer Stimmevoll tiefen Gefühls: »Dank, Dank, Sie wissen nicht, wieglücklich mich dies gute, liebe Wort macht, welchenStolz und welches Selbstgefühl es in mein Herz gießt!«

Sie stand da, die Augen wie in überraschter Verwir-rung zu Boden gesenkt, aber sie zog ihre Hand nichtzurück, und mit einem leichten Druck ihrer zarten Fin-ger sagte sie leise:

»Auf Wiedersehen also – diesen Abend!«Noch einmal umfaßte sein Blick voll innigen Feuers

die schlanke Gestalt, dann sagte er mit gepreßter Stim-me: »Auf diesen Abend!« und eilte schnell zur Thüredes Vorplatzes hinaus die Treppe hinab. Sie sah ihmeinen Augenblick nach mit dem Ausdruck stolzen Tri-umphes, dann senkte sie ein Wenig den Kopf und esschien fast, als ob ein leichter Schimmer mitleidigerTheilnahme über ihre Züge glitt, rasch aber wendetesie sich dann zurück und füllte ihr Wassergefäß. Als ei-ne Stunde später Madame Raimond in das Zimmer derjungen Frau trat, fand sie bereits eine am Abend vor-her begonnene Stickerei weit vorgeschritten und konn-te nicht genug den unermüdlichen Eifer der so fleißi-gen Arbeiterin loben.

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Von diesem Morgen an hatte der junge Arbeiter anjedem Morgen, bevor er ausging, leicht und schüch-tern an die Thüre dieser so zierlichen und fast elegan-ten Frau geklopft, die sich nicht scheute, ihn im Costü-me seiner Arbeit zu begrüßen, und hatte ihr durch dieThüre zugerufen: »Guten Morgen, liebe Nachbarin!«Jedesmal aber war sie ebenfalls schon auf, freundlichhatte ihre Thüre sich geöffnet, sie hatte George dieHand gereicht, seinen Morgengruß mit reizendem Lä-cheln erwiedert und mit herzlichem Tone hinzugefügt:»Viel Glück zu Ihrem Tagewerk, mein lieber Freund.«Dann war er hingezogen zu seiner Arbeit, ganz erfülltvon diesem lichten und ihm schon zur lieben Gewohn-heit gewordenen Bilde, und während er in den dun-keln Tiefen der Kamingänge der großen Hôtels undder Werkstätten arbeitete in mühevoller und schwe-rer Thätigkeit, begleitete ihn die Erinnerung an denMorgengruß seiner Freundin, während er zugleich dieStunden zählte, die ihn dem freundlichen, geselligenAbend näher brachten, an welchem sie neben ihmsitzen würde, durch ihre anmuthige Geschicklichkeitdie ärmliche Umgebung mit tausend kleinen Reizenschmückend und durch ihr sanftes und herzliches Ge-plauder tausend Gedanken in seinem Geist erweckend,tausend liebliche Bilder aus dem Grunde seiner Seelehervorzaubernd.

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So hatte sich das tägliche Leben in dem kleinen Krei-se gestaltet. Madame Raimond bemerkte wohl die im-mer traulichere Freundschaft, welche die beiden jun-gen Leute verband, aber sie freute sich derselben vonHerzen, bildeten doch der kräftige, tüchtige und solidejunge Mann und die fleißige und geschickte Frau einPaar, wie es besser gar nicht zusammengebracht wer-den konnte, ein Paar, dem Glück und Wohlstand nichtfehlen konnte, und im Geiste malte sich die alte Frauschon aus, wie sie den beiden ihren kleinen Haushalteinrichten wollte, denn bei ihr mußten sie bleiben, dasstand bei ihr fest, sie konnte sich gar nicht denken,wie sie wieder ihre Abende ohne diese liebe Gesell-schaft zubringen solle. Herr Martineau, der alte, blindeMann, aber sah von dem allem nichts, er saß still in sei-nem Zimmer, machte um die Mittagszeit einen kleinenSpaziergang, von welchem er nach einer Stunde, müh-sam die Treppe hinaufsteigend, zurückkehrte, und saßam Abend still und freundlich lächelnd in seiner Ecke,die gute Madame Raimond bedauerte den Alten herz-lich, für den ja die beiden wichtigsten Fäden, welchedie menschliche Seele mit dem Leben der Außenweltverbinden, das Gehör und das Gesicht, fast abgeschnit-ten waren.

Es waren kaum zehn bis zwölf Tage vergangen, seit-dem Madame Bernard in das Haus der Rue Mouffe-tard eingezogen war, als eines Abends die kleine Ge-sellschaft um den Tisch ihrer Wirthin versammelt saß.

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George hatte, als er in das Zimmer der Madame Rai-mond trat, einen prachtvoll blühenden Rosenstock mit-gebracht, den rothen Blumentopf sauber in weißes Pa-pier gewickelt und mit einem rothen Seidenband um-wunden.

»Sie erlauben mir, Madame Bernard,« sagte er,zwar noch immer mit einer gewissen zurückhaltendenSchüchternheit in dem Tone seiner Stimme, doch miteinem vertraulich offenen Blick, »daß ich ein Wenig zurAusschmückung Ihres Zimmers beitragen darf, ich sahdiese schöne Blume auf dem Markt an der Madeleineund glaubte, es würde Ihnen Freude machen, sie anIhrem Fenster zu haben.«

Mit dem Ausdruck kindlicher Freude wendete sichdie junge Frau zu ihm, und schnell ihm die Hand rei-chend, rief sie: »Oh wie schön, wie danke ich Ihnen,mein lieber Freund, wissen Sie, eine Blume hat eigent-lich nur dann Werth, wenn sie uns von Freundeshandgeschenkt wird, jede Blüthe bringt uns dann in ihremDuft den Gruß eines andern Menschenherzens, das anunsern Freuden und Leiden Theil nimmt!«

Lächelnd nahm sie eine kleine Scheere von einemSeitentisch, auf welchem die Arbeit der Madame Rai-mond lag, schnitt eine voll aufgeblühte Rose ab undsteckte dieselbe an ihre Brust.

»Diese Blüthe hatte nicht lange mehr zu leben,« riefsie, »ich kann mir wohl die Freude erlauben, mich einWenig zu putzen, die andern dort, welche sich eben

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erst erschließen, darf ich ihres Daseins noch nicht be-rauben.«

George blickte mit entzücktem Auge zu ihr herüber,Madame Raimond aber sagte in sorglichem Tone: »Siedürfen aber nachts die Blume nicht in Ihrem Zimmerbehalten, liebes Kind, man hat Beispiele, daß der DuftPersonen getödtet hat.«

»So werde ich sie abends auf den Vorflur stellen,«rief die junge Frau, immer mit freudigen Blicken dieschönen Rosen betrachtend, »und Herr George wirdgewiß die Güte haben, wenn er zur Arbeit geht undmir guten Morgen wünscht, mich daran zu erinnernund mir mein Pflegekind wieder hereinzureichen, sowerde ich die Freude des Geschenks immer von Neu-em haben,« fügte sie mit einem reizenden Blick auf denjungen Mann hinzu. Dann stellte sie den Blumentopfin die Mitte des Tisches, so daß das Licht der kleinenLampe in wunderbar schönem Farbenspiel die grünenBlätter und die rothen Blüthen durchleuchtete.

»Welch’ schöne Blume,« sagte Herr Martineau mitseinem stereotypen Lächeln, und langsam aufstehend,näherte er seine Nase vorsichtig jeder einzelnen Blü-the, langsam den Duft einziehend, als wolle er sichdurch den Geruchssinn entschädigen für die Genüsse,die er bei dem mangelhaften Zustande seines Gehörsund Gesichts entbehren mußte.

Niemand antwortete ihm, es war ja doch vergeblich,zu ihm zu sprechen, aber mit freundlicher Theilnahme

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blickte die junge Frau zu ihm hinüber und nickte ihmlächelnd zu, als wolle sie ihre Befriedigung darüberausdrücken, daß das Geschenk ihres Freundes auchdem armen, alten Mann eine harmlose Freude berei-tete.

Bald war das Diner beendet, in leichtem, heiteremGeplauder war eine halbe Stunde verflossen, als Ma-dame Raimond wie gewöhnlich langsam ihr Haupt aufdie Brust niedersinken ließ, und nachdem sie nochdurch einige kurze, abgerissene und immer seltene-re Bemerkungen ihre Theilnahme an der Conversati-on darzuthun versucht hatte, sanft in ihren kleinenSchlummer versank, durch welchen sie sich zu ihrerNachtruhe vorzubereiten pflegte.

Eine kleine Pause trat ein, während welcher die jun-ge Frau wie träumerisch ihren Blick auf dem vom Lam-penlicht durchzitterten Blumenstock ruhen ließ, wäh-rend George sie mit fast andächtigem Ausdruck an-schaute.

»Ich kann Ihnen nicht genug danken,« sagte Mada-me Bernard endlich, »für dies liebliche, freundliche Ge-schenk, diese Blume bringt mir einen Gruß von derschönen, weiten, freien Natur da draußen, die ich sosehr liebe, und von der man hier so weit ist in demgroßen, heißen und staubigen Paris, so weit, ach, soweit!«

Sie senkte die Augen und seufzte tief.

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»Sehen Sie,« fuhr sie fort, »wenn ich diese Blume anmeinem Fenster sehen werde, so malt sich meine ge-schäftige Einbildungskraft einen schönen, grünen Ra-sen dazu, und Bosquets von dunkeln, schattigen Bäu-men, und das freie Sonnenlicht, das draußen so ganzanders ist, als hier in den geschlossenen Häusermas-sen, und die kleinen Schmetterlinge, und die Luft, ohdie schöne, freie Luft!«

Und abermals seufzte sie lief mit leicht zitterndenLippen.

»Madame Bernard –« sagte der junge Mann, der mitsteigender Bewegung ihren Worten gelauscht hatte.

»Herr Lefranc?« unterbrach sie ihn, den Blick ein We-nig erhebend mit dem lächelnden Ausdruck schelmi-scher Neckerei.

»Louise, meine Freundin!« fuhr er mit entzücktenBlicken fort.

»Mein Freund George!« erwiederte sie mit treuherzi-gem Ausdruck, »ich glaube, so war es abgemacht?«

»Oh wie gut Sie sind!« rief er, ihre Hand ergrei-fend, »ich habe meine Freundin, die so gütig mein klei-nes Geschenk angenommen, noch um etwas zu bitten!Ich hätte es nicht gewagt,« fuhr er fort, indem er wieschüchtern die Augen niederschlug, »aber da Sie ebenso sehnsüchtig von dem Glück sprachen, das die fri-sche Luft und die freie Natur da draußen in Wald und

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Feld gewährt, so – möchte ich um die Erlaubniß bit-ten, Sie morgen, am Sonntage, hinausführen zu dür-fen nach dem Bois de Boulogne, oder weiter hin nachSaint Cloud oder Ville d’Avray.«

Sie blickte ihn wie forschend an und zögerte mit derAntwort.

»Wir kennen uns noch nicht lange Zeit,« sagte er einWenig betroffen von ihrem Schweigen, »aber ich hof-fe doch genug, daß Sie mich Ihres Vertrauens würdighalten sollten?«

»Oh mein lieber Freund,« rief sie, »es ist nicht das,ich zögerte,« fuhr sie fort, einen Blick auf Madame Rai-mond werfend, deren Haubenbänder sich in Überein-stimmung mit ihren gleichmäßigen Athemzügen be-wegten, »zunächst – weil ich nicht weiß, wie unse-re gute Madame Raimond von einem solchen Ausflugdenkt – und weil ich ohne ihre Zustimmung –«

»Sie kennt mich,« rief George, »länger schon als Sie,«sagte er leiser im Tone leichten Vorwurfs, »und siewird sich freuen, wenn wir uns gemeinschaftlich einenso schönen und reinen Genuß verschaffen, nachdemwir lange in strengem Arbeitskreise eingeschlossen wa-ren.«

»Und dann,« sagte sie leise mit gesenktem Blick,während die zarten, seinen Fingerspitzen mit den Blät-tern der Rose vor ihrer Brust spielten, »es ist nicht dasallein –«

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»Nicht das allein?« rief er, erschrocken zu ihr auf-blickend, »und was –«

»Hören Sie mich an, mein Freund,« sagte sie immer-fort in ihren Schooß blickend, »ich will Ihnen nicht ver-bergen, was ich denke, nur weiß ich nicht, ob es mirgelingt, es so klar auszudrücken, wie ich es möchte, obich mich richtig verständlich machen kann.«

»Ich werde Alles verstehen, was Sie mir sagen,« riefer, »habe ich doch schon so vieles gelernt, was mir frü-her unverständlich war,« setzte er in fast unhörbaremTone hinzu.

»Glauben Sie nicht,« sagte sie sinnend, als suche siedie Worte, um ihren Gedanken richtig auszudrücken,»daß es zwischen zwei Personen eine gewisse, von derNatur in sie gelegte, sympathische Anziehungskraft ge-ben könne, welche in unbestimmter Sehnsucht schlum-mert, wenn beide getrennt von einander durch das Le-ben gehen, welche aber in rascher und mächtiger Wir-kung sie zu einander zieht, wenn ihre Wege sich ein-ander nähern?«

»Ich glaube es,« sagte er mit glänzenden Blicken.»Wenn nun,« fuhr sie fort, »zwei Menschen, deren

Seelentöne in harmonischer Beziehung zu einanderstehen, vom Schicksal einander näher geführt werden,so muß – glaube ich – ein Augenblick kommen, in wel-chem man fühlt, daß die Schranken, welche die äuße-ren Verhältnisse zwischen ihnen aufrichten, durchbre-chen müssen, daß sie sich einander ganz nähern, ganz

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verstehen, ganz kennen müssen, um entweder zu fort-dauernder, voller und untrennbarer Harmonie ineinan-der zu klingen, oder,« fügte sie seufzend, »in schrillemMißklang für immer wieder auseinander gerissen zuwerden.«

»Wie wäre das Letztere möglich,« sagte er, sie ver-wundert anblickend, »bei zwei Seelen, die sympathischfür einander geschaffen sind?«

Ein tiefer Athemzug hob ihre Brust. Ihre Finger zer-drückten in unruhig zitternder Bewegung ein Rosen-blatt, das sich von der Blüthe an ihrer Brust gelöst hat-te.

»Wenn nun aber,« sagte sie langsam in noch leise-rem Tone, »wenn nun aber trotz aller sympathischenNeigung, bei vollständiger Kenntniß des ganzen Le-bens, der ganzen Vergangenheit, Punkte hervortretenkönnten, welche – welche – vor denen der Zug deseinen Herzens zu dem andern zurückschrecken könn-te, welche eine Trennung der – Freundschaft bewirkenkönnten, wenn solche Punkte bei voller Annäherung,bei freiem Aussprechen nicht umgangen und verbor-gen werden können, ist es da nicht vielleicht natürlich,daß man – zwar das Fallen der trennenden Schranken,das Ende der Dämmerung ersehnt, und doch vor demLicht zurückschreckt, weil – weil man die Möglichkeitder Trennung fürchtet?« fügte sie in ganz leise flüstern-dem Tone hinzu.

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Er hatte ihr zuerst erstaunt, dann in athemloserSpannung, endlich in finsterem Ernst zugehört, beiihren letzten Worten überflog ein Ausdruck süßenGlückes sein Gesicht, frei und groß sah er sie mit sei-nen tiefen Blicken an und mit warmem und weichemTone antwortete er:

»Wenn der sympathische Zug der Herzen gegründetist auf Vertrauen und auf die Achtung, ohne welchekeine wahre Freundschaft, keine wahre Liebe beste-hen kann, dann ist es unmöglich, daß die Erörterungirgendwelcher unbekannten Punkte der Vergangenheitden sympathischen Zusammenklang der Seelen zerstö-re, denn wo wirklich die wahre und reine Harmoniebesteht, da wird jedes Unglück tiefes und treues Mitge-fühl, ja,« fuhr er aufathmend und den festen und treu-en Blick in ihr langsam und schüchtern sich aufschla-gendes Auge tauchend fort, »ja – jede Schuld herzli-ches Vergeben und Vergessen finden.«

Eine Pause entstand.»Wollen Sie also morgen mit mir einen Ausflug in die

freie Natur machen?« fragte er dann.Sie sah ihn mit mildem Ernst an, reichte ihm die

Hand und sagte mit fester Stimme: »Ja!«»So wollen wir,« rief er fröhlich, »in der Frühe auf-

brechen, um noch den Morgenthau auf den Blüthenfunkeln zu sehen, damit der ganze Tag uns gehöre!«

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»Nicht zu früh,« sagte sie mit freundlichem Lächeln,»ich muß die Messe hören, ich pflege das an keinemSonntage zu versäumen.«

»Die Messe?« fragte er erstaunt, »um in einemdumpfen Steinbau, von betäubenden Weihrauchwol-ken erfüllt, den unverständlichen Gesang gedankenlo-ser Priester anzuhören, darum wollen Sie eine Stundeopfern, welche Sie der großen Andacht in der heiligenMorgenstille der reinen Natur weihen können?«

Sie sah ihn ernst und nachdenkend an.»Wohl erfüllt uns die weite, freie Natur mit hoher

Freude und Dankbarkeit gegen die Schöpfungskraft,«sagte sie, »aber was uns so freudig in der frischen Luftund unter den grünen Bäumen aufathmen läßt, dasist doch immer nur das jubelnde Aufjauchzen des fri-schen Sinnengenusses. Die wahre Andacht, mein lie-ber Freund, besonders die Andacht einer Frau, das istdie stille Einkehr in das eigene Herz, die Demuth, wel-che sich ergebungsvoll beugt nicht vor dem Welten-herrscher, der in leuchtenden Wundern seine Schöp-fungsherrlichkeit offenbart, sondern vor dem Gott, derin treuer Liebe das irrende und bangende Menschen-herz tröstet und zu sich erhebt.«

Er sah sie erstaunt an. »Und glauben Sie, glauben Sieernstlich an ein solches persönliches Wesen, das sichum die Leiden und Sorgen des einzelnen Menschen-herzens kümmert?«

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»Lassen Sie mich,« sagte sie, »auf Ihre Frage mit ei-ner andern Frage antworten, »würden Sie eine Fraulieben können, das heißt einer Ihr Fühlen, Ihr Den-ken, Ihr Streben und Ihre Ehre anvertrauen können,wenn diese Frau kein anderes Heiligthum kennte, alsdas unbewußte, einfach natürliche Wohlgefühl, das dieSchönheit der Natur, das freie Atmen in der freien Luftden Sinnen des Menschen einflößt, das Wohlgefühl,das wir mit den Thieren, mit den Thieren der unter-sten Stufe selbst theilen, ja das jene vielleicht in nochhöherem Maße genießen, als wir, da ihre Organe durchdas rein natürliche Leben empfänglicher sind als dieunsrigen für die Sinneneindrücke der Natur? – Wür-den Sie glauben,« fuhr sie fort, »daß eine Frau, wel-che nur diesen Cultus in ihrem Herzen trägt, im Stan-de wäre, den stillen, heiligen Frieden des häuslichenHeerdes zu behüten, die Entsagungen und Entbehrun-gen des Lebens nicht nur zu tragen, sondern auch mitreinen und unvergänglichen Blüthen zu schmücken? –Müßten Sie nicht jeden Augenblick fürchten, daß ei-ne Frau, deren ganzes Heiligthum nur die Natur wäre,wie sie heute vom natürlichen Triebe zu Ihnen geführtwurde, morgen sich ebenso – einem neuen Eindruckfolgend – von Ihnen abwendete, wie die Blume desFeldes, welche ihren duftenden Kelch jedem heranflat-ternden Schmetterling öffnet –? – Wenn ich,« sagte sie,ihn tief anblickend, »nur jene Naturreligion in meinemHerzen trüge, würde ich hier neben Ihnen sitzen in der

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Entbehrung und Entsagung des beschränkten, häusli-chen Kreises, statt in der weiten Welt den glänzenden,schimmernden Genuß zu suchen? Und wenn ich hierin diesem beschränkten Kreise glücklich bin,« fügte siemit inniger Betonung hinzu, »so ist es gewiß nicht dieReligion der sinnlichen Natur, aus welcher ich diesesGlück schöpfe. Darum,« sagte sie lächelnd, »lassen Siemir meine Messe und meine Priester, vielleicht ist dasSchwäche, werden Sie sagen, aber die Schwäche ist jadas Loos der Frauen, unsere Stärke liegt im Herzen, inseiner Hingebung, seiner Treue.«

Der junge Arbeiter stand auf und machte mit gesenk-tem Haupt einige Schritte hin und her.

Dann trat er zu seiner Freundin heran und sprachmit bewegter Stimme:

»Ihre Worte dringen tiefer in mein Herz als langePredigten der Priester, es klingt mir aus diesen Wor-ten etwas hervor wie eine alte, längst vergessene Melo-die aus den fernen Tagen meiner Kindheit, unklar unddunkel zwar, aber schön und wohlthuend, ich werdedarüber nachsinnen – und Sie werden öfter mit mirdarüber sprechen, ich habe noch mit keiner Frau übersolche Dinge gesprochen, freilich,« sagte er leiser undhalb für sich, »habe ich auch noch keine Frau gefun-den, mit der ich so hätte sprechen mögen.«

Madame Raimond erhob nach einem tiefen Athem-zuge den Kopf. »Es thut mir leid,« sagte sie freund-lich lächelnd, »unsere Unterhaltung zu unterbrechen,

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wir sind schon über die Zeit hinausgegangen, es istzwar Sonntag morgen, aber wir dürfen die guten Ge-wohnheiten nicht unterbrechen, also – die Soirée istgeschlossen, meine Freunde!«

Die junge Frau stand auf.»Herr George hat mir vorgeschlagen, morgen den

freien Tag zu einem Ausfluge nach Ville d’Avray zu be-nutzen, bei welchem er so freundlich sein will, mich zubegleiten,« sagte sie.

Madame Raimond sah mit zufriedenen Blicken aufdas junge Paar.

»Vortrefflich – vortrefflich, meine Liebe,« erwieder-te sie, »Sie haben sich einige Athemzüge frischer Luftwohl verdient durch Ihre fleißige Arbeit. – Nun, HerrGeorge,« fragte sie, sich zu dem jungen Manne wen-dend, »es ist Ihr Sonnabend, gehen Sie heute nichtnoch aus?«

Ein wenig befremdet richtete die junge Frau Bernardihren Blick auf den Angeredeten.

»Es ist eine Vereinigung von Arbeitern,« sagte die-ser mit etwas gedämpfter Stimme und einem kurzenSeitenblick auf den alten Herrn Martineau, welchersich dem Beispiel der andern folgend ebenfalls von sei-nem Stuhle in der Ecke erhoben hatte und mit seinemgleichmäßigen Lächeln auf den Lippen dastand, bereit,sein Zimmer aufzusuchen, um sich zur Ruhe zu bege-ben, »es ist ein Verein von Arbeitern, der wöchentlichzusammenkommt, um die Interessen unseres Standes

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zu besprechen, ich fehle ungern dabei,« fuhr er wiesich entschuldigend fort, »es ist eine geistige Anregung,ein Gedankenaustausch, den ich ungern entbehre.«

»Und der Ihnen gewiß Wohl thun wird,« sagte diejunge Frau, ihm mit einem Blick voll offener Herzlich-keit die Hand reichend, »auf morgen früh also, guteNacht, mein Freund.«

Dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, Herr Mar-tineau suchte nach einer steifen, altmodischen Verbeu-gung und nach einigen ebenso steifen Worten des Dan-kes für den angenehmen, geselligen Abend das sei-nige auf. George aber stieg langsam die Treppe hin-ab, schritt nach einem freundlichen Gruß an den al-ten Concierge, der den Cordon der Thüre zog, auf dieStraße hinaus und wendete sich nach der Gegend desFaubourg St. Antoine hin.

Die Straßen waren in diesem Stadttheil bereits fastleer. Die Lumpensammler mit ihren Körben auf demRücken, ihren Hackenstöcken und ihren kleinen Later-nen zogen aus, um sich in die wohlhabenderen Quar-tiere zu begeben und aus den Tausenden von Dingen,welche Paris am Tage zuvor unter Schutt und Unrathals unbrauchbar fortgeworfen hatte, Alles dasjenigehervorzusuchen, was noch zu irgend einer industriel-len oder wirthschaftlichen Verwerthung benutzt wer-den konnte. Diese nächtlichen Gestalten zogen baldin Trupps, bald einzeln an dem jungen Arbeiter vor-über, der in tiefem Nachdenken, zuweilen halblaute

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Worte vor sich hinmurmelnd, durch die laue, Nachtdahinschritt, bald den hellen Lichtkreis einer Gaslater-ne durchschreitend, bald vom Schatten der Häuser be-deckt.

Seinen Kopf und sein Herz erfüllte ein Bild – einekleine, stille Häuslichkeit, in welcher nach den Mühendes Tages anmuthige Behaglichkeit und stiller Friedendie arbeitsmüde Seele umfängt, und in dem Kreise die-ser Häuslichkeit bewegte sich diese junge Frau mit denfeinen Zügen, den zarten Händen und den dunkeln Au-gen voll süßer Beredsamkeit.

»Sollte doch in diesen Tempeln voll Orgelklang undWeihrauchduft etwas Anderes in die Menschenbrustherabsinken,« flüsterte er, einen Augenblick stehenbleibend, »als der freie, durstige Athemzug aus demLichtquell der großen Naturschöpfung uns zu gebenvermag?«

Und sinnend das Haupt senkend, schritt er weiter.

FÜNFUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Zwischen der alten Rue du Temple und der Rue SaintMartin liegt eine enge und dunkle Straße, an derenEcke man auf dem blauen Schilde liest: Rue de Gra-villiers. Die ganze nicht sehr ausgedehnte Straße mitihren hohen, finstern und unregelmäßigen Häusern istvon Arbeitern und kleinen Fabrikanten der sogenann-ten articles de Paris bewohnt. Das Haus Nr. 44 in die-ser Rue des Gravilliers, ein hoher dreistöckiger Bau mit

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zwei dunkeln Höfen, zeichnet sich selbst in dieser kei-neswegs lachenden und eleganten Umgebung durchseine düstere Erscheinung aus. In der Boutique diesesHauses befindet sich ein Bäckerladen, daneben siehtman das Schild eines fabricant de malles, Mr. Bernheim,und eines fabricant de perles, Mr. Gautier. Zu vorge-rückter Abendstunde desselben Tages, an welchem Ge-orge Lefranc die kleine Gesellschaft bei Madame Rai-mond verließ, sah man in das sonst so stille und wenigbesuchte Haus in der Rue des Gravilliers in kurzen Zwi-schenräumen eine bedeutende Anzahl von Personeneintreten, welche meist einzeln, zuweilen zu Zweienund Dreien kamen, den ersten Hof des Hauses durch-schritten und im zweiten Hofe sich zu einer rechts inder Ecke befindlichen, dunkeln Treppe wendeten, diezum ersten Stockwerk des Hintergebäudes hinaufführ-te.

Sie traten dann in ein geräumiges Zimmer diesesHinterhauses, in welchem sich allmählich etwa fünfzigbis sechzig Männer verschiedenen Alters versammel-ten. Viele von ihnen trugen die blaue Blouse, dieses alt-gewohnte Costüm des pariser Handarbeiters, alle wa-ren einfach gekleidet, alle waren Arbeiter verschiede-ner Gewerkszweige, in ernstem Schweigen hörten siedem Vortrag ihres Vorsitzenden zu, der an einem mä-ßig großen Tische an einem Ende des länglichen Zim-mers saß, umgeben von drei andern Männern, welcheneben ihm die Plätze an dem Tische einnahmen, auf

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dem zwei Kerzen brannten, hinter denen man einengroßen, hölzernen Kasten, mit Büchern und Schriftengefüllt, bemerkte, dessen Inhalt zum Theil auf dem Ti-sche ausgebreitet war.

Der Schein der beiden dünnen Kerzen erhellte dasgroße Zimmer nur mäßig, und der größte Theil derVersammelten, welche auf einer Anzahl von Stühlenund hölzernen Bänken Platz genommen hatten, befandsich im Halbdunkel, nur die vordersten Reihen der denTisch des Vorsitzenden Umgebenden waren von demunstät flackernden Lichtschimmer beleuchtet.

Man sah dort finster nachdenkliche, scharf aus-drucksvolle Gesichter, die Züge gehärtet im Kampfdes Lebens, die Lippen in energischer Willenskraft ge-schlossen, die tiefen Augen brennend im forschen-den Suchen nach der Lösung der Probleme, welchedie Verhältnisse der Gesellschaft täglich neu in diesender leichten und freien Geistesbewegung ungewohn-ten Köpfen aufsteigen ließen.

Der Vorsitzende dieser Gesellschaft, welche sich »Pa-riser Zweigverein der internationalen Arbeiter-Association«nannte, war der Broncearbeiter Tolain. Er saß da aufeinem hölzernen Stuhl in der Mitte des von Papie-ren und Schriften bedeckten Tisches, in grauem Rock– aus dem über eine kleine, schwarze Cravatte weitübergeschlagenen, sauberen Hemdkragen ragte das et-was blasse, von hoher Intelligenz durchleuchtete Ge-sicht mit dem träumerisch blickenden Auge hervor, das

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sinnend über die vor ihm Versammelten hinschweif-te, dessen schwärmerischer Ausdruck aber weite undferne vor seinem inneren Blick sich aufthuende Ge-biete zu durchforschen schien. Die ganze Erscheinungdieses merkwürdigen Mannes trug das Gepräge einesphilosophischen Idealismus, der sich mehr den großenund weiten Problemen der socialen Entwickelung derZukunft, als den Fragen und Bedürfnissen der practi-schen Gegenwart zuzuwenden geschaffen sein moch-te. Neben ihm saß der Broncearbeiter Fribourg, eineErscheinung, weniger bemerkenswerth als Tolain, mitscharfgeschnittenen, intelligenten Zügen, aber gleichdem Vorsitzenden von jenem idealistischen Ausdruckbelebt, wie man ihn in den Köpfen der Männer ausder ersten Periode der großen Revolution findet. Aufder andern Seite neben dem Vorsitzenden sah man –etwas vorgebückt – den Buchbinder Louis Varlin, einscharfes Gesicht mit kalten, verschlossenen Zügen undeinem strengen, kleinen, oft gesenkten und von untenheraufblickenden Auge, die dünnen Lippen waren festgeschlossen und um die Mundwinkel lag fast immerein stilles Lächeln voll schneidender Ironie.

An den beiden längeren Seiten des Tisches saßen derBauschreiber Felix Chemalé, etwas eleganter und mo-discher gekleidet als die andern, sein klares, helles Au-ge und sein ruhiges Gesicht deutete auf den in practi-schen Arbeiten und Berechnungen thätigen Mann, er

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hielt eine Feder in der Hand, bereit, in seiner Eigen-schaft als Secretair des Vereins die Notizen zur Abfas-sung des Protokolls über die Vorträge und Besprechun-gen auf einen großen vor ihm liegenden Bogen nieder-zuschreiben.

Ihm gegenüber, hinter dem großen Kasten, welcherdie Archive des Vereins enthielt, sah man den Gra-veur Bourdon in gerader, etwas starrer Haltung. Seinscharfes und geistvolles Gesicht hatte weder den idea-len Ausdruck, welchen man in den Zügen Tolains undFribourgs bemerkte, noch die stille, fast unheimlicheVerschlossenheit, welche in dem charaktervollen KopfVarlins lag, es war ein glattes, aber undurchdringlichesAntlitz, nur aus den scharf aufblitzenden Augen sprachbisweilen ein eigenthümlicher Ausdruck kalter Verach-tung, eine ruhige Zurückhaltung, welche vermuthenlassen konnte, daß die Gedanken dieses Mannes zu-weilen eigene Wege gehen mochten, über welche ersich auszusprechen nicht für angemessen oder nochnicht zeitentsprechend hielt.

An der Eingangsthür saß ein alter Mann mit falti-gen, etwas verwitterten Zügen, der Buchhändler Héli-gre, der Cassirer des Vereins. Er prüfte aufmerksam dieKarten, welche die Eintretenden ihm vorzeigten, undverglich die darauf befindlichen Nummern mit den Li-sten eines vor ihm auf einem kleinen Tische liegendenBuches. Ein kurzes, schweigendes Kopfnicken deute-te an, daß Alles in Ordnung sei, und der Eintretende

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schritt an ihm vorüber, um sich seinen Platz in der Ver-sammlung zu suchen, bald mit leichtem Kopfnicken,bald mit einem Händedruck, selten mit einigen kurzenWorten hier und da einen Bekannten begrüßend.

Die Eintretenden waren seltener geworden, manschien Niemand mehr zu erwarten.

Tolain erhob den Kopf, ließ einen seiner tiefen, sin-nig nachdenklichen Blicke über die Versammlung hin-streifen und begann, indem sich sein bleiches Gesichtmit einer leichten, flüchtigen Röthe färbte, mit einerleisen, aber wohltönenden und eindringenden Stimmeund einem gewissen langsam pathetischen Ausdruckzu sprechen:

»Meine lieben Freunde, es sind mehrere wichtigeund bedeutungsvolle Fragen vorhanden, über welchewir uns besprechen und Beschluß fassen müssen.«

Die bisherige, für eine so große Versammlung merk-würdige Ruhe ging in ein noch tieferes Schweigen dergespanntesten Aufmerksamkeit über.

»Ich habe euch,« fuhr Tolain mit seiner ruhigen Stim-me fort, »zunächst Mittheilung zu machen von einerReise, die ich mit unserem Freunde Fribourg, der hieran meiner Seite sitzt, in der Zeit seit unserer letztenVersammlung nach London gemacht habe.«

Eine leichte Bewegung, ein Athemzug allgemeinerAufmerksamkeit wurde unter den versammelten Ar-beitern hörbar.

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»Wir gingen nicht dorthin,« fuhr Tolain fort, »in un-mittelbaren Angelegenheiten der internationalen As-sociation, es war eine persönliche Pflicht der Freund-schaft,« sagte er mit wehmüthigem Tone, »die unsüber den Kanal führte, unsere Anwesenheit in Londonhat uns aber von Neuem Blicke in die dortigen Zu-stände thun lassen, welche das bestätigen, was schonfrüher Gegenstand unserer Besprechungen und Be-schlußfassungen gewesen ist, und was uns veranlas-sen muß, von Neuem zur Wachsamkeit gegen verderb-liche und gefährliche Richtungen aufzufordern. Ein al-ter Freund von uns und vielleicht von mehreren untereuch, der Capitän François Hémont, ein Flüchtling ausdem Jahre 1851, war in London gestorben, arm undeinsam in der kleinen Wohnung seines entbehrungs-vollen Exils; seine englischen Bekannten, welche demarmen Flüchtling nach seinem traurigen und schmerz-vollen Leben die letzte Ehre im Tode erweisen wollten,forderten seinen Landsmann Felix Pyat, der sich dortbefindet, um sich den Verfolgungen der hiesigen Poli-zei zu entziehen, auf, an seinem Grabe die letzte Redezu halten, dem im fremden Lande Gestorbenen, dernun in fremder Erde zur ewigen Ruhe gebettet wer-den sollte, den letzten Gruß des Vaterlandes zu brin-gen. Der Franzose Felix Pyat,« fuhr Tolain mit erhöh-ter Stimme fort, »lehnte diese ehrenvolle, diese heiligeAufforderung ab!«

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Eine schnelle Bewegung wogte durch die Reihen derZuhörer, ein Murren der Entrüstung ertönte im Zim-mer.

»Warum? – aus welchen Gründen?« riefen einzelneStimmen.

»Er sei müde und abgespannt,« sagte Tolain mitdumpfem Tone in mehr traurigem als bitterem Aus-druck, »das Wetter sei vor allem zu schlecht, und demTodten nütze ja weder seine Begleitung noch seine Re-de.«

»Unerhört! – Verabscheuungswürdig! – Der Elende!«riefen viele Stimmen.

»Als uns,« fuhr Tolain fort, »diese traurige Botschaftdurch den Telegraphen gesendet wurde, da branntenunsere Herzen vor Schmerz, Zorn und Schaam, raschentschlossen rafften wir unsere Baarschaft zusammen,sie genügte, wir telegraphirten zurück, daß die Ar-beiter und Gewerke Frankreichs am Grabe des armenLandsmannes vertreten sein würden, wir fanden unse-re Freunde Camelinat, Baldun und Kin bereit, mit unsdiese heilige Pflicht zu erfüllen, und am Tage daraufstanden wir an dem offenen Grabe, in welches manden Sarg unseres Freundes François Hémont nieder-senkte.«

Ein Gemurmel des Beifalls ließ sich im Saale hö-ren. »Brav – brav!« riefen einzelne Stimmen, und eini-ge der Nächstsitzenden drückten den Broncearbeitern

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Valdun, Camelinat und Kin, welche in der ersten Reihesaßen, die Hände.

»Als wir dort standen,« fuhr Tolain fort, »und ebender Sarg mit den Überresten des verbannten Freundesden Boden der Grube berührte, da trat plötzlich Fe-lix Pyat heran, er hatte sich nun dennoch entschlossenzu kommen, obgleich das Wetter noch immer gleichschlecht war und der Regen in Strömen niederfloß. –Er trat an den Rand des Grabes und begann zu spre-chen.

»Ah, ah!« rief man hier und da, »und was sagte er?«»Wir hatten geglaubt,« sagte Tolain, »er würde Wor-

te der Wehmuth, der Erinnerung dem Dahingeschie-denen nachrufen, aber er hatte nur die Gelegenheitbenutzt, um uns noch einmal jene Theorien zu ent-wickeln, welche wir schon früher zurückgewiesen ha-ben – die Theorien der politischen Revolution, durchwelche wir unsere Lage niemals verbessern könnenund nur als Werkzeuge des Ehrgeizes einzelner Partei-en und ihrer Führer gemißbraucht werden, denen dasWohl und Wehe des Arbeiters die gleichgültigste Sachevon der Welt ist! – Er sprach wenig von dem Todten,destomehr von dem contrat social Rousseaus, von derSchweiz, dem Lande, in welchem die Freiheit herrsche,und schließlich sich an uns wendend rief er uns zu,wir möchten mit Rousseaus Lehren aus der Schweizauch den Pfeil Wilhelm Tells nach Frankreich bringen,dann werde er getröstet in der Verbannung leben. Mit

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ihm riefen die dort Versammelten: ›Hoch lebe die Re-publik!‹«

Tolain hielt inne. Verschiedene Stimmen wurdenlaut, Einzelne riefen: »Welcher Wahnsinn!« Hier undda hörte man bitteres Lachen, eine Stimme rief: »Undwas thatet ihr?«

Tolain richtete seinen ernsten Blick nach der Ge-gend, woher diese Stimme gekommen war, und ant-wortete langsam und ruhig:

»Meine Freunde und ich, wir bückten uns, warfen ei-ne Handvoll Erde als letzten Gruß in das Grab unseresFreundes und verließen stillschweigend den Kirchhof,dann bestiegen wir das Schiff und kehrten hierher zu-rück.«

»Gut – gut, so war es recht!« rief man von allen Sei-ten, auch hörte man die Frage: »Warum kommt HerrPyat nicht selber, wenn er die Gesellschaft mit demDolche reformiren will?«

Varlin warf einen kurzen, düsteren Blick auf dieVersammelten, dann neigte er schweigend wieder dasHaupt und blickte vor sich auf den Tisch nieder.

»Es freut mich, meine Freunde,« sprach Tolain wei-ter, »daß ihr unser Verhalten billigt, aber nicht allein,um diese Billigung zu erhalten, habe ich euch über dieSache berichtet, wir waren,« sagte er leicht den Kopfemporwerfend, »nicht als eure abgesandten Vertreterdort, also vollkommen frei, nach unserem persönlichen

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Ermessen zu handeln, ich wollte nur bei dieser Gele-genheit euch nochmals darauf aufmerksam machen,wie sehr von gewissen Personen jeder Anlaß benutztwird, um die Kraft unserer Association zur Ausfüh-rung politischer Träumereien oder zur Handhabe po-litischen Ehrgeizes zu benutzen. Ich wollte auch dieseGelegenheit ergreifen, um euch vor solchen Verlockun-gen, die sowohl an unsere Gesammtheit als an jedenEinzelnen von uns noch vielfach herantreten werden,dringend zu warnen und euch zu bitten, jener falschenund verderblichen Richtung ebenso kraftvoll und ener-gisch zu widerstehen, wie ihr dies auf dem Congreßzu Genf gethan und wie ihr früher schon mir fest zurSeite standet, als ich die Zumuthung der englischenGeneralräthe Odger Cremer und Eccarius zurückwies,welche die Pariser Angelegenheiten unter die Leitungdes Journalisten Lefort stellen wollten, wodurch wir zuWerkzeugen für die politischen Intriguen der liberalenBourgoisie geworden wären.«

»Wenn aber,« rief ein finster blickender Mann inblauer Blouse, mit kurzem, schwarzem Bart, aus derzweiten Reihe der Versammelten hervor, »wenn aberdie Gesetze der Regierungen, wie sie sind, die freie Be-wegung des Arbeiters hemmen, wenn die Polizei unsverfolgt, die Gerichte uns verurtheilen, sobald wir un-ser Recht in Anspruch nehmen, wie soll uns geholfenwerden, wenn wir nicht die Regierung beseitigen undeine solche an ihre Stelle setzen, welche uns die freie

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Bewegung, den freien Kampf gegen das Capital ge-währleistet?«

Tolain ließ den vollen Blick seines groß geöffneten,sinnenden Auges einen Augenblick auf dem Sprecherruhen.

»Mein Freund Tartaret,« sagte er dann langsam undsanft, »es war nicht meine Absicht, eine Discussion her-vorzurufen, die Frage über unsere Haltung der politi-schen Revolution gegenüber ist discutirt und es ist dar-über beschlossen worden, ich wollte nur eine Mahnunggegen die immer erneut an uns herantretenden Versu-chungen aussprechen. Doch,« fuhr er fort, indem seinBlick sich belebte wie immer, wenn er die Gelegenheitfand, in theoretischer Auseinandersetzung die Resulta-te seines sorgfältigen Nachdenkens und fleißigen Stu-diums zu entwickeln, »doch will ich mir erlauben, aufdie gemachten Bemerkungen einige Worte zu erwie-dern.«

Varlin machte eine kleine Bewegung der Ungeduld,Bourdon lehnte sich mit einem halb unterdrücktenSeufzer auf seinen Stuhl zurück, und Tolain fuhr fort:

»Es sind nicht die Gesetze der Regierungen, welchedas Loos des Arbeiters unerträglich machen, es ist diewillkürliche Herrschaft des Capitals – der Bourgeoi-sie. Ich gebe zu, daß die Gesetze mehr für diese Bour-geoisie gemacht worden sind, als für uns, aber warumist das geschehen? – weil jene durch die Association,durch instinctmäßigen Zusammenschluß eine Macht

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bildet, die ihren Antheil an der Gesetzgebung ausübt,indem sie uns unsere politischen Rechte, die für unsSteine statt des Brodes sind, zu ihren Gunsten ausübenließ. Die Regierung – jede Regierung wird demjenigenTheil des Volkes Rechnung tragen – wird mit dem Theildes Volkes zusammengehen, der die meiste Macht ent-wickelt, es ist also nicht unsere Aufgabe, die Regierun-gen anzugreifen, welche nur der natürlich ihnen vor-geschriebenen Nothwendigkeit folgen, sondern dieje-nige Minorität der productiven Bevölkerung, welche,dem natürlichen Verhältniß entgegen, uns, den Arbei-tern, die Frucht der Arbeit und damit den Einfluß aufdas öffentliche Leben entzieht. Wir haben nach Quan-tität und Qualität unserer Betheiligung an der Produc-tion das Übergewicht über jene, wir sind die schaf-fende Kraft, während sie nur den Stoff der Producti-on liefern und uns, die schaffende Kraft, physisch er-nähren; wenn wir also trotz unserer großen Überzahl,trotzdem, daß ohne uns keine productive Thätigkeit inder Gesellschaft möglich ist, wenn wir trotzdem nichtdie verhältnißmäßigen Früchte unserer Arbeit ernten,wenn wir keinen Einfluß ausüben, um das Leben derGesellschaft unseren Bedürfnissen, unseren berechtig-ten Ansprüchen gemäß zu gestalten, woran liegt das? –Nicht an den Regierungen, wahrlich nicht an ihnen, esliegt daran, daß wir vereinzelt der Macht des Capitalsgegenüberstehen, daß wir nicht in fester Association

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auftreten, wo es gilt, unsere Rechte zu wahren, unse-ren Willen durchzusetzen. Sobald wir fest verbundenund zu gemeinsamem, nachdrücklichem, wohlüberleg-tem und einigem Handeln organisirt sind, ist die Machtauf unserer Seite, und jede Regierung wird gern unse-ren Wünschen entgegenkommen, lieber vielleicht mituns gehen, als mit jener unzuverlässigen Bourgeoisie,«fügte er etwas leiser hinzu, indem er das Auge sin-nend niedersenkte, »darum ist es unsere Aufgabe, unsfester und immer fester zusammenzuschließen zu ei-ner mächtigen, die Arbeiter der ganzen Erde umfassen-den Association, dann werden wir dem Capital einenVertrag anbieten, bei welchem es nicht mehr den ein-zelnen hilflosen, vom Hunger gedrängten Arbeiter sichgegenüber sehen wird, sondern die Arbeit selbst – dieschaffende Kraft, diesen göttlichen Lebenshauch derMenschheit, diese Kraft, welche berufen ist, die Ge-sellschaft zu beherrschen, der sie die Bedürfnisse desLebens schafft, und bei diesem Vertrag, den wir dicti-ren werden,« rief er flammenden Blickes mit erhobe-ner Stimme, »wird die Arbeit die Herrscherin sein unddas Capital, die todte Materie, der wir erst Form undGestaltung geben, wird sich in die ihm natürlich ge-bührende Dienstbarkeit zurückgeworfen sehen! – Umdies große Ziel aber zu erreichen,« fuhr er nach ei-nem tiefen Athemzuge fort, »dürfen wir unsere Kräftenicht von dem geraden Wege abziehen und zersplit-tern lassen, vor allem sie nicht mißbrauchen lassen zu

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Zwecken, welche nicht die unsrigen sind, wir dürfenuns nicht die unversöhnliche Feindschaft der Regie-rungsmächte zuziehen, denen zu widerstehen wir nochnicht stark genug sind. Unsere Aufgabe –«

Varlin erhob den Kopf und sagte mit seiner ein Wenigharten und rauhen Stimme:

»Mein lieber Tolain, es sind, glaube ich, mehrere ern-ste und sehr dringliche Gegenstände zu besprechen,sollte es nicht zweckmäßig sein, diese zunächst zu er-ledigen, es wird uns dann vielleicht noch Zeit zur Dar-legung allgemeiner und von der Versammlung bereitsanerkannter Principien übrigbleiben.«

»Mein Freund Varlin hat Recht,« sagte Tolain in sanf-tem Tone, »gehen wir daher zu den Gegenständenüber, welche wir euch heute vorzulegen haben.«

Er ergriff ein Heft, welches vor ihm auf dem Ti-sche lag, und indem er dasselbe flüchtig durchblätter-te, sprach er:

»Ihr erinnert euch, meine Freunde, daß im vorigenJahre bei dem Congreß zu Genf ein Gutachten des Pari-ser Zweiges der internationalen Association aufgestelltwurde, welches sehr wesentlich von den Tendenzender Schweizer, der Deutschen und der Engländer ab-wich. Ihr alle habt das Gutachten, die Richtschnur eu-res Handelns, acceptirt.«

»Jawohl – jawohl,« sagten mehrere. »Laßt uns kurzdie Sätze des Gutachtens noch einmal hören,« rief eineStimme.

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Tolain schlug das Heft in seiner Hand auf undsprach, den Blick auf eine Seite desselben gerichtet:

»Wir stellen als das Ziel unseres Strebens die Her-stellung eines Gesellschaftszustandes auf, der auf fol-genden Principien basiren müßte:

Erstens: Man soll für geliehenes Geld keine Zinsennehmen, denn nur die productive Arbeit hat ein Rechtauf Ertrag, und das Capital darf nur insoweit an dem-selben participiren, als es das Mittel zur Production bil-det und als sein Besitzer an der Arbeit theilnimmt.

Zweitens: Es soll dem freien Austausch der Arbeits-producte weder innerhalb eines Landes, noch im inter-nationalen Verkehr irgend ein Hinderniß in den Weggelegt werden, denn das Erzeugniß der Arbeit ist dasnatürlich unbestreitbarste und heiligste Eigenthum desarbeitenden Menschen, und kein Gesetz darf der Ver-fügung über dies Eigenthum Schranken setzen.

Drittens: Niemand darf sich weigern zu arbeiten,die natürliche Folge des ersten Grundsatzes, nach wel-chem das Capital ohne Arbeit keinen Ertrag liefert.

Viertens: Keine öffentlichen Schulen, kein Schulzwangund kein unentgeltlicher Unterricht, aber Lehrfreiheitfür jedermann. – Jeder soll seine Kinder unterrich-ten wie, wann und wo er will, und unentgeltlich darfnichts in der Gesellschaft der Arbeit sein, da sie jedemdas Recht auf Arbeit giebt und keine Armuth kennt.

Fünftens: Eine gemeinsame gesetzliche Ordnung füralle Genossenschaften zu productiver Arbeit.«

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»Das ist eine Beschränkung der Freiheit!« rief eineStimme.

»Ohne Beschränkung der Freiheit des Einzelnen zu-gunsten der Allgemeinheit ist die Gesellschaft eineHorde von wilden Barbaren!« rief Tolain mit vollerStimme, »die Thiere der Wüste haben die Freiheit ohneSchranke und Gesetz, der Mensch –«

»Aber –« warf dieselbe Stimme ein.»Still, still!« riefen mehrere, »weiter, weiter, keine

Discussion, die Sache ist ja schon beschlossen, keineUnterbrechung!«

Die Ruhe war schnell hergestellt. Tolain fuhr fort:»Sechstens: Directe Steuern; dies folgt natürlich aus

dem zweiten Punkte, denn jede indirecte Steuer ist ei-ne Beschränkung des freien Austausches.

Siebentes: Ein Volksheer, kein Soldatenstand, der inder Gesellschaft der Arbeit unmöglich und widersinnigist. – Dies die allgemeinen Principien als große Ziel-punktes unseres Strebens. Für die gegenwärtige Zeitund ihre Kämpfe wurde noch als practisch maßge-bend aufgestellt: Kein Streik ohne genaue vorherigeÜberlegung, Feststellung der Grundsätze und Siche-rung der Mittel zu seiner erfolgreichen und vollstän-digen Durchführung. Endlich: Ausschluß aller politi-schen Fragen, insbesondere der polnischen. – Ihr er-innert euch, daß einige Schweizer und Engländer die-se Frage zu einem Gegenstände unserer Agitation ma-chen wollten.«

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Er schwieg einen Augenblick.»Da wir einmal den Inhalt des für unseren Verein

als maßgebend festgestellten Gutachtens recapitulirthaben,« sagte Varlin, einen raschen, scharfen Blicküber die Versammelten werfend, »so mag es mir er-laubt sein, historisch zu bemerken, daß ich und unserFreund Bourdon hier ein Minoritätsgutachten aufstell-ten, welches einige weitere Punkte enthielt und sichden Ansichten der Engländer und Deutschen mehr nä-herte.«

»Welche Punkte?« fragte man von mehreren Seiten.»Wir wollten,« sagte Varlin, »das Erbrecht bei gewis-

sen Verwandtschaftsgraden aufheben und den Grundund Boden für allgemeines Eigenthum der arbeitendenGesellschaft erklären.«

»Sehr gut! – Sehr richtig!« rief man hier und da.»Nein – nein,« ertönten andere Stimmen, »eine Be-schränkung des Erbrechts greift in die Freiheit der Ver-fügung über den Ertrag meiner Arbeit; wenn ich denBoden durch meine Arbeit verbessere, so will ich auchdie Frucht davon genießen.«

Die Bewegung wurde unruhig, Einzelne erhobensich laut sprechend und gesticulirend.

Tolain schlug mit der Hand auf den Tisch.»Das Gutachten der Minorität liegt in unseren Ac-

ten!« rief er mit ernster, den Lärm beherrschenderStimme, »aber unsere Freunde Varlin und Bourdon ha-ben die Grundsätze der Majorität angenommen und

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ihre Namen stehen, und zwar derjenige Bourbons ander Spitze der sechzehn Unterschriften des als maß-gebend aufgestellten Schriftstückes. Es kann also jetztkeine Discussion darüber stattfinden.«

Er warf einen halb fragenden, halb vorwurfsvollenBlick auf Varlin.

»So ist es,« erwiederte dieser, »das Majoritätsgutach-ten ist maßgebend, ich wollte keine Discussion anre-gen, sondern nur die historische Darstellung vervoll-ständigen.«

Das Gewirr der Stimmen im Zimmer beruhigte sich.Tolain fuhr fort:

»Ihr wißt, daß die hiesige Polizei, welche keinen vonuns bei der Rückkehr von Genf belästigte, einige aus-wärtige Mitglieder bei der Rückreise arretirte und ih-re Papiere mit Beschlag belegte. Odger und Cremer,die Engländer, reclamirten den Schutz ihrer Gesandt-schaft, und dieselbe trat für sie ein.«

»Ob das die französischen Gesandten für uns auchgethan hätten?« fragte man aus der Versammlung.

Ohne die Frage zu beachten, sprach Tolain weiter:»Die Inhaftirten wurden in Freiheit gesetzt, und

nach langem Zögern und weitläufigen Erörterungenwurden ihnen auch ihre Papiere zurückgegeben. Un-ter diesen Papieren nun, welche so in den Besitz derRegierung gekommen waren, befand sich auch unserGutachten, und dies wurde die Veranlassung, daß der

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Staatsminister Rouher den ersten Unterzeichner des-selben, Bourdon, zu sich rufen ließ.«

»Ah – ah!« hörte man von allen Seiten, »der Staats-minister, Bourdon, das ist interessant!«

»Ich bitte nun unseren Freund Bourdon,« sagte To-lain, »selbst über seine Unterredung mit dem erstenMinister des Kaisers zu berichten.«

Bourdon, auf den sich in diesem Augenblick alle Au-gen richteten, setzte sich gerade auf seinen Stuhl, wen-dete sich halb nach den versammelten Arbeitern hinund sprach mit etwas trockener, eintöniger Stimme,aber klarer und scharfer Betonung:

»Ich wurde in das Cabinet des Staatsministers ge-führt, derselbe –«

»Wie war der Empfang? – war der Minister artig?«fragte man aus der Versammlung.

»Sehr artig,« sagte Bourdon, »voll Wohlwollen undFreundlichkeit. Eine Abschrift der Denkschrift lag aufdem Tisch.

›Ich habe Ihr Gutachten gelesen,‹ sagte Herr Rouher,›es hat mein hohes Interesse erregt, und ich freue michzu sehen, daß die Fragen, in welchen sich das höchsteInteresse der Arbeiter concentrirt, Gegenstand eines sotiefen und ernsten Studiums von Ihrer Seite gewesensind.‹

Ich verneigte mich schweigend.

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›Sie werden wünschen,‹ fuhr der Minister fort, ›daßdiese Denkschrift nicht nur in den Archiven Ihres Ver-eins bleibe, Sie werden dieselbe in Frankreich in Cir-kulation setzen wollen?‹

Ich erwiederte, daß dies allerdings unser Wunschsein müsse, da unser Ziel darauf hinausgehen müsse,alle Arbeiter zu einer Gesammtassoziation zu vereini-gen und für die Bestrebungen derselben die in unse-rem Gutachten enthaltenen Grundsätze als Zielpunkteaufzustellen.

›Ich sehe kein Bedenken,‹ sagte Herr Rouher, ›die-se Grundsätze den französischen Arbeitern mitzuthei-len, sie enthalten im Allgemeinen keine Feindseligkei-ten gegen die bestehenden Fundamente der Staatsord-nung, und in einem Lande wie Frankreich, in welchemder Wille des Volkes maßgebend ist, in welchem derSouverain selbst sich stets daran erinnert, daß er nurals erster Mandatar des souveränen Volkswillens dieNation auf dem Throne repräsentirt, soll jedermanndas Recht haben, Grundsätze auszusprechen, welchekeine verbrecherische Auflehnung gegen die Ordnungenthalten. Wenn ich also,‹ sagte der Minister weiter,›gegen die Verbreitung der Grundsätze Ihrer Denk-schrift im Allgemeinen nichts einzuwenden haben wür-de, so finden sich in derselben doch Ausdrücke, Wen-dungen, Phrasen, welche zu Mißdeutungen Veranlas-sung geben könnten und bei ängstlichen Gemüthern,

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zu denen der Kaiser und seine Regierung nicht gehö-ren, die Furcht hervorrufen könnten, als sei hier einAngriff gegen die geordnete Sicherheit der Gesellschaftversteckt. Es käme also darauf an, die Redaction desSchriftstückes noch einmal genau zu prüfen, zu sehen,ob nicht hier eine bedenkliche Wendung zu beseitigen,an anderer Stelle vielleicht ein Satz einzuschalten wä-re.‹

Der Staatsminister nahm die Denkschrift zur Handund schlug mir vor, sie mit ihm durchzugehen, um mirseine Vorschläge in Betreff derartiger Modificationenzu machen.

Ich lehnte dies ab.« –»Gut – gut,« rief man, »was wir wollen, ist gut und

klar, wir haben nichts zu bemänteln.« –Bourdon erhob die Hand. Man schwieg.»Ich erwiederte Herrn Rouher, daß ich für sei-

ne freundliche Beurtheilung unserer Grundsätze sehrdankbar bin, daß wir alle gewiß nicht die Absicht hät-ten, irgendwie gewaltsam die bestehende Ordnung an-zugreifen, daß wir vielmehr nur innerhalb der gesetz-mäßigen Ordnung die Macht des coalirten Arbeiter-standes zu einer Reform dieser Gesellschaftsordnungin Anwendung zu bringen bezweckten. – Auf der an-deren Seite aber seien unsere Grundsätze klar und be-stimmt, sie seien das Resultat langen Studiums und

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Nachdenkens, sie seien von unseren Freunden zum Be-schluß erhoben und auch die Form der Ausdruckswei-se sei eingehend discutirt und nach reiflicher Erwä-gung festgestellt, sollten wir die Form ändern, so wür-den wir den Sinn ändern, wir hätten unseren Gedan-ken die treffendsten Ausdrücke gegeben, und ich hiel-te es nicht für möglich, in anderen Wendungen diesel-ben Gedanken mit demselben Freimuth und derselbenWahrheit auszusprechen.«

Er hielt inne und blickte fragend auf die Versammel-ten.

Ein allgemeiner Ruf der Zustimmung tönte ihm ent-gegen. »Wir haben nicht nöthig, uns unsere Denk-schrift redigiren zu lassen,« rief man, »wir wollen unse-re Selbstständigkeit erkämpfen und nicht damit begin-nen, uns unter polizeiliche Vormundschaft zu stellen!«

»Es freut mich, meine Freunde,« fuhr Bourdon fort,»daß ich für mein Verhalten, das ich nach meiner ge-wissenhaften Überzeugung glaubte beobachten zu sol-len, eure Zustimmung finde.«

»Und was sagte der Minister?« fragte man, »wienahm er die Ablehnung auf?«

Bourdon schwieg einen Augenblick, warf einen Blickauf ein kleines Papier, das er in der Hand hielt und aufwelchem er einige Notizen gemacht zu haben schien,und sprach dann unter tief aufmerksamer Stille weiter:

»Herr Rouher schien von meiner Weigerung ein We-nig betroffen zu sein, er sann einige Zeit nach und

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sagte dann, es werde ihm schwer werden, unter die-sen Umständen die Verbreitung der Denkschrift zuerlauben. ›Sie wissen,‹ bemerkte er mit vertraulicherFreundlichkeit, die Regierung – der Kaiser selbst – wer-den so vielfach vor den Bestrebungen der internationa-len Association gewarnt, nicht jeder kennt Ihre Grund-sätze, wie ich sie kenne, und beurtheilt sie, wie ich siebeurtheile – und wie der Kaiser sie beurtheilt, man hatauf Bedenklichkeiten, selbst auf fremde RegierungenRücksicht zu nehmen, ich hätte so gern gewünscht,Ihnen entgegenzukommen – bei entsprechenden Mo-dificationen hätte man vielleicht sogar eine Basis fürdie legale Existenz Ihres Vereins finden können, wel-che demselben, wie Sie wissen, bis jetzt fehlt.‹

Ich erwiederte, daß nach dem Rath unseres Advoca-ten wir nicht einen französischen Verein gebildet, son-dern uns als Zweigverein der in London centralisirtenallgemeinen Arbeiterassoziation constituirt hätten, dadie Mitgliedschaft an ausländischen in den betreffen-den Ländern erlaubten Vereinen nach dem französi-schen Gesetz nicht verboten sei, weshalb wir glaubten,auf völlig legalem Boden zu stehen, auch sei uns ja bisjetzt von seiten keiner Behörde irgend eine Bemerkungzugegangen, welche uns etwas Anderes könne voraus-setzen lassen. –

Herr Rouher lächelte und meinte achselzuckend, dieLegalität unserer Existenz dürfte sehr zweifelhaft undsehr leicht anzufechten sein, und sie würde wohl schon

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zum Gegenstände polizeilicher oder gerichtlicher Erhe-bungen geworden sein, wenn nicht die Regierung desKaisers, durchdrungen von der sympathischen Theil-nahme, welche der Souverain selbst allen Interessendes Arbeiterstandes stets zuwende, alle Erörterungenüber die Legalität des Vereins so lange hinausgescho-ben habe, bis dessen Tendenzen sich gegen die Grund-ordnungen des Staates richten sollten. ›Es ließe sichübrigens,‹ fuhr der Minister fort, ›die mangelnde oderzweifelhafte Legalität in irgend einer Weise ergänzen,wenn eben aus der Denkschrift über unsere Grundsät-ze klar und unzweifelhaft hervorginge, daß die Regie-rung in unserer Thätigkeit keine Gefahr zu erblickenhabe. – Sie haben diese Garantieen,‹ sagte er, ›an de-nen uns für unsere Haltung Ihnen gegenüber viel ge-legen wäre, durch eine Modification des Textes IhrerDenkschrift nicht geben wollen, ich kann das begrei-fen, wenn man von der Wahrheit seiner Grundsätzeüberzeugt ist, mag man dieselben nicht verhüllen, in-des, es ließe sich eine solche Garantie vielleicht in an-derer, für Sie gewiß weniger bedenklicher Weise schaf-fen, es ist ein persönlicher, rein persönlicher Rath, denich Ihnen gebe. Sie wissen selbst, wieviel der Kaiserstets für die arbeitenden Klassen gethan hat, wie sehrihm das Schicksal dieser Klassen am Herzen liegt, wieer schon als Prinz in der Verbannung alle die Probleme

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studirt, welche Sie beschäftigen, und in wie freisinni-ger Richtung er deren Lösung gesucht, was wäre natür-licher, als daß Sie einige Worte des Dankes und der An-erkennung für den Kaiser in Ihr Mémoire aufnähmen,sei es am Schlusse oder in der Einleitung oder an einersonst entsprechenden Stelle. – Eine solche Stelle, dieja an dem vollen und wahren Ausdruck Ihrer Grund-sätze nichts änderte oder abschwächte, würde der Öf-fentlichkeit gegenüber die Garantie gegeben, daß Sienichts gegen die Staats- und Gesellschaftsordnung be-absichtigen, deren Schwerpunkt ja in dem Kaiser liegt.‹

Ich antwortete,« fuhr Bourdon fort, »daß ich keinenGrund habe, an dem hohen und sympathischen Inter-esse zu zweifeln, das der Kaiser an der Lage der Ar-beiter nähme, indes müsse ich dem Minister bemer-ken, daß die internationale Association keine Politikin keiner Richtung mache, und daß ich mich deshalbnicht für befugt erachten könne, meinerseits in einensolchen Zusatz zu unserer Denkschrift zu willigen, wel-cher zwar die in derselben ausgesprochenen Grundsät-ze nicht verändern, wohl aber – und das sei für unsvon hoher Wichtigkeit – unsere volle Unabhängigkeitin Zweifel stellen könne. Ich müsse daher, und dazusei ich gern bereit, diese Frage dem Pariser Zweig derAssociation vorlegen – und dies, meine Freunde,« sagteer, das Auge auf den Kreis der Zuhörer richtend, »thueich hiermit. Ich frage euch, wollt ihr die Erlaubniß der

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öffentlichen Verbreitung unserer Denkschrift in Frank-reich durch den Ausdruck einer öffentlichen Anerken-nung für den Kaiser erkaufen? – denn darum handeltes sich einfach – der Minister hat mich deutlich verste-hen lassen, daß seine Erlaubniß der Verbreitung nurum diesen Preis zu erlangen wäre.«

Eine unruhige Bewegung machte sich in der Ver-sammlung bemerkbar, doch ließ sich keine deutlicheAnsicht vernehmen, jeder sprach zu seinen Nachbarn,die Stimmen wogten unverständlich durcheinander.

»Meine Freunde,« rief Tolain, »laßt mich, euren Vor-sitzenden, zunächst meine ganz persönliche Ansichtüber diesen Fall aussprechen. Mit Recht,« fuhr er fort,als eine allgemeine aufmerksame Ruhe wieder einge-treten war, »hat unser Freund Bourdon dem Ministergegenüber unseren ersten und wichtigsten Grundsatzbetont, daß die internationale Association keine Politikmacht, doch bin ich zweifelhaft, ob dieser Grundsatzauf den vorliegenden Fall angewendet werden könne.Der Kaiser ist der durch die allgemeine Volksabstim-mung erwählte Souverain unseres Landes –«

Ein Murren würde hie und da vernehmbar – Toulainschien es zu überhören.

»Es ist bekannt,« fuhr er fort, »daß er stets mit ho-hem Interesse die Arbeiterfragen verfolgt hat, er hatstets bewiesen, daß er den Werth der productiven Ar-beit zu schätzen weiß –«

»Cayenne!« rief eine Stimme.

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»Warum also,« sprach Tolain mit unerschütterlicherRuhe weiter, »warum sollten wir diese bekannte That-sache, welche wir bei jedem Privatmanne anerkennenwürden, nicht mit einigen Worten bei dem erwähltenOberhaupte der französischen Regierung dankend er-wähnen? Ich würde nach meiner Überzeugung darinkeinen Übergriff auf das politische Gebiet erblicken,doch,« fügte er hinzu, »ich bitte, daß die Rücksicht aufmich und diese meine rein persönliche Überzeugungkeinen von euch in seiner Ansicht bestimmen möge –beschließt nach eurem Gewissen, was ihr unserer Sa-che für nützlich haltet, und erlaubt mir nur noch zu be-merken, daß es für die Verbreitung unserer Ideen aller-dings von hoher Wichtigkeit ist, unsere Denkschrift öf-fentlich und unbehindert in Cirkulation setzen zu dür-fen.« Er schwieg. Jetzt wurden die Stimmen lauter.

»Der Kaiser hat allerdings viel für uns gethan, er hatsich oft als Freund der Arbeiter gezeigt!« rief man hier.– »Was?« ertönte es auf der anderen Seite, »wir sollenPolizeiagenten sein, wir sollen dem danken, der unsereBrüder auf der Straße niedergeschossen hat?« – »Nie-der mit Badinguet! Kein Wort für ihn!« – »Wenn derKaiser nicht für uns wäre, hätte man uns längst aufge-löst!« rief man dagegen, »das verdient wohl ein Wortder Anerkennung!« Die Stimmen schwirrten durchein-ander, doch schien die Mehrzahl – wenn auch nur

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durch Stillschweigen – sich auf die Seite des Ein-verständnisses mit den Wünschen des allmächtigenStaatsministers zu neigen.

Da erhob sich Varlin – ein düsteres Feuer blitzte ausseinen Augen, ein Ausdruck von grimmigem Haß undHohn zuckte um seine Lippen, er streckte die Hand ge-gen die Versammlung aus, und rasch trat rings die Ru-he ein –, es lag wie ein gebieterischer Befehl auf diesemwillensmächtigen Gesicht, das da plötzlich aus seinerVerschlossenheit heraustrat. Jedermann wollte hören,was Varlin sagen werde.

»Meine Freunde,« begann er mit ruhiger, kalter Stim-me, welche nicht mit der Erregung seiner Züge inÜbereinstimmung zu stehen schien und welche nurdurch ihren gepreßten, von starkem Willenszwangezurückgehaltenen Ton auf die Gährung in seinem In-nern schließen ließ, »meine Freunde, ich kann nichtmit der Ansicht unseres vorsitzenden Schriftführersübereinstimmen, daß die von dem Minister Rouher ge-wünschte Danksagung für den Chef der gegenwärtigenStaatsgewalt ein Act wäre, der nichts mit der Politikzu thun hat. Ich würde seine Ansicht vielleicht thei-len oder mich derselben stillschweigend anschließen,wenn der Chef der Staatsgewalt der verfassungsmäßigerwählte Präsident einer Republik oder selbst wenn erder althistorisch legitime Monarch einer festbegründe-ten Monarchie wäre, dann stände er als der verkörper-te Vertreter des Gesetzes und der Ordnung über den

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Parteien und den politischen Kämpfen. – Aber, meineFreunde,« rief er mit lauter, schneidender Stimme, »istderjenige, für welchen hier von uns eine Anerkennungseiner Fürsorge für den Arbeiterstand verlangt wird, istdieser Mann, welcher das Schicksal Frankreichs in sei-ner unsicher schwankenden Hand hält, ist er der Ver-treter des Gesetzes? Er, der allem Gesetz zum Trotz dieRepublik, der er seinen Eid geschworen hatte, schmäh-lich und heimtückisch meuchelmordete, während er,ihr erster Beamter, sie hätte schützen und verteidigensollen! – Ist er ein Vertreter des Gesetzes, der ruhi-ge und brave Bürger mit Kanonen zusammenschießenließ, um diejenigen einzuschüchtern, welche nicht wieer den Eid brechen wollten, den er der Republik ge-leistet? Er – der nach der Laune seines despotischenWillens so viele unserer Freunde in die giftigen Sümp-fe der fernen Kolonien verbannte! Ist er der Erwähltedes Volks, der durch die in Blut gebadete, durch dieBajonette zu zähneknirschender Ruhe niedergetreteneNation die Comödie der allgemeinen Abstimmung auf-führen ließ? Ist er der legitime Monarch, der berufeneVertreter Frankreichs, der, um von dem russischen Au-tokraten sich ›mein Bruder‹ nennen zu lassen, die Söh-ne Frankreichs in der Krim zu Tausenden opferte, dersie abermals nutzlos in Mexico schlachten ließ, um dieschmutzigen Taschen seiner großen Börsenspekulan-ten auf Kosten Frankreichs mit blutigem Golde zu fül-len, und,« fügte er mit zischendem Hohnlachen hinzu,

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»der im vorigen Jahre, als wirklich Frankreichs Machtund Stellung in Europa auf dem Spiel stand, unthä-tig zusah, wie Deutschland unter die Herrschaft desberufsmäßigen Militarismus getreten wurde? – Nein,meine Freunde, nein, dies ist keine gesetzliche Regie-rung, keine Vertreterin der Gesellschaftsordnung – esist Mandrin mit seiner Bande, welche sich in den Besitzder Autorität des Staates gesetzt hat, und diese Autori-tät mißbraucht zu Raub und Plünderung!«

Ein eisiges Stillschweigen lag auf der Versammlung,entsetzt hörten alle diese Männer die furchtbaren Wor-te des Redners, welcher so von der Macht sprach, vorwelcher Europa sich beugte, deren eiserne Hand überihren Häuptern ruhte, und welche mit einem Augen-wink jeden von ihnen dem Verderben preisgeben konn-te.

Varlin hielt einen Augenblick inne – seine vor hefti-ger Erregung fast verzerrten Züge nahmen ihren kal-ten, verschlossenen Ausdruck wieder an, und mit ruhi-gerer Stimme sprach er weiter:

»Das ist meine Meinung – ich muß sie aussprechen,um meine Ansicht zu begründen. Ich will darum keineFeindseligkeiten gegen die Regierung, die uns schadenund im jetzigen Augenblick erfolglos sein würden, ge-hen wir unseren Weg und überlassen wir sie dem ih-rigen – der sie sicher zu dem elenden Untergang füh-ren wird, den sie verdient. Aber,« fuhr er mit erhöhtem

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Ton fort, »ich kann nicht zugeben, daß eine danken-de Anerkennung – dieser Regierung ausgesprochen –keine Politik sei. Durch einen solchen Ausspruch wür-den wir, die Vertreter des wahren, des arbeitenden Vol-kes, alle ihre Verbrechen sanctioniren, wir würden unsmit dieser Regierung identificiren – wir würden uns zuAgenten ihrer Polizei machen – wir würden uns miß-brauchen lassen, damit man von den Tuilerien aus zuden Fürsten Europas sprechen könnte: ›Seht, ich binder wahrhaft legitime Souverain, denn hinter mir stehtdas wirkliche Volk, hütet euch, denn ich kann die Re-volution entfesseln, ohne von ihr verschlungen zu wer-den – sie dient mir – sie wird für mich streiten!‹ –damit man zu der Bourgeoisie und zu der Oppositionim Corps législatif sprechen könnte: ›Ich bin der wahreSchützer der Gesellschaftsordnung, denn ich halte denSchlüssel der socialen Zukunft in Händen, ich habe dieMacht, die Zukunftsentwicklung ruhig und gefahrloszu lenken, hütet euch, daß ich diese Zukunft nicht ingewaltigem Drange plötzlich über euch hereinbrechenlasse – ich darf das wagen, denn die Brandung, dieeuch verschlingen würde, schlägt, meinem Winke ge-horsam, vor den Stufen meines Thrones nieder!‹ – das,meine Freunde, ist die Politik, die wir machen würden,wenn wir die Anerkennung und Dankbarkeit aussprä-chen, welche man von uns verlangt; wir haben aberzum Grundsatz erhoben, keine Politik zu machen, am

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allerwenigsten also diese, denn sie wäre eine Politikdes Verbrechens, der Thorheit – und der Schande!«

Er setzte sich nieder und blickte mit vorgesenktemKopfe still vor sich hin. Eine Bewegung entstand inder Versammlung, die fast ein Tumult war. »Varlin hatRecht!« rief man hier, »wir wollen nichts mit der Re-gierung zu thun haben, es wäre eine Schande, ein Ver-rath an unsern Brüdern!« – »Der Kaiser ist uns freund-lich gesinnt,« riefen andere, »wir wollen nichts gegenihn thun, er hat die Macht, uns zu verderben, er alleinschützt uns gegen die Geldmänner!«

Tartaret sprang auf. »Nichts für die Regierung!« riefer überlaut, »soll man von uns sagen, daß Geld derPolizei unter uns gesteckt sei, daß wir Emissäre desPalais Royal seien? Wir wollen keine Plonploniers!«

»Keine Plonploniers, keine Plonploniers!« rief manhier, »Nichts gegen den Kaiser!« auf der andern Seite,Gruppen bildeten sich – finstere und drohende Blickeflogen herüber und hinüber.

Bei dem Ruf: »keine Plonploniers!« wurde Tolainbleich wie der Tod. Seine Lippen bebten, er winkte mitder Hand.

»Meine Freunde,« rief er, »ich bitte euch, keine Er-regung, keine Spaltung, um der heiligen Sache willen,der wir alle dienen, beschwöre ich euch!« Eine augen-blickliche Ruhe trat ein.

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»Ich war der Ansicht,« sagte Tolain, mühsam seineinnere Bewegung niederdrückend, »daß der kleine Zu-satz zu unserer Denkschrift nicht die Natur einer poli-tischen Kundgebung habe, ich sehe, daß unser FreundVarlin und viele unter euch anderer Ansicht sind, umkeinen Preis soll diese Frage Zwietracht unter uns sä-en, ich trete Varlins Ansicht bei.«

»Bravo, bravo!« riefen viele Stimmen. Ein dumpfesMurren erhob sich unter den kaiserlich Gesinnten.

»Ich glaube auch nicht,« fuhr Tolain fort, »daß ei-ne Verweigerung der gewünschten Ergänzung unsererDenkschrift als eine Feindseligkeit gegen den Kaiserund seine Regierung erscheinen müsse. Unser FreundBourdon hat dem Staatsminister bereits gesagt, daß esder oberste Grundsatz der internationalen Associationsei, keine Politik zu machen, halten wir diesen Grund-satz fest – bitten wir Bourdon, daß er in aller Freund-lichkeit und Ehrerbietung Herrn Rouher erkläre, nachBeratung mit seinen Freunden könne er sich nicht ent-schließen, in diesem Falle eine Ausnahme von jenemallgemeinen Grundsatz zu machen.«

Bourdon neigte zustimmend den Kopf.»Aber dann wird unsere Denkschrift nicht verbreitet

werden!« rief eine Stimme.Tolain lächelte ruhig. »Ich glaube doch,« sagte er,

»man kann sie in einem in London in französischerSprache erscheinenden Journal, dessen Eingang in

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Frankreich bis jetzt nicht verboten ist, abdrucken las-sen, und auf diesem Umwege wird sie schnell und si-cher in aller Hände sein!«

Varlin erhob den Kopf und reichte Tolain die Hand.Die Ruhe in der Versammlung stellte sich wieder her,

Niemand bemerkte weiter etwas.Die Eingangsthür öffnete sich – George Lefranc trat

ein, zeigte dem alten Buchhändler Héligon seine Kar-te, derselbe verglich deren Namen mit den Listen undnickte schweigend mit dem Kopf. Der junge Arbeitersetzte sich auf einen Platz in der ersten Reihe, dendie Umsitzenden, ihn freundlich begrüßend, ihm ein-räumten. Der junge Mann blickte mit seinen tiefen,sinnenden Augen vor sich hin wie in stille Träumereiversunken, auf seinem bleichen Gesicht lag etwas wieein Schimmer der Verklärung; es schien, als ob er wiemechanisch in diese Versammlung gekommen sei undkaum wisse, wo er sich befinde.

»Ich gehe zum nächsten Gegenstande über, mit demwir uns zu beschäftigen haben,« sprach Tolain. »Die Ar-beiter in den großen Schneidermagazinen haben eineErhöhung ihres Lohnes gefordert und die Arbeit einge-stellt. Sie wenden sich an uns mit der Bitte um mora-lische und, wenn es sein kann, materielle Unterstüt-zung, um ihren Streik durchzuführen, dagegen wol-len sie sämmtlich der Association beitreten. Wir habendie Sache geprüft und erwogen. Keiner jener Arbeiter

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ist bisher Mitglied unseres Vereins gewesen, ihre La-ge ist eine verhältnißmäßig gute und wir haben dieÜberzeugung gewonnen, daß es nicht sowohl eine be-rechtigte Nothwendigkeit ist, welche jetzt ihr Handelnbestimmt, als der Wunsch, ihren Antheil an der Aus-beutung der zur Weltausstellung in Paris zusammen-strömenden Fremden zu gewinnen. Wir glauben nicht,daß es im Interesse des Arbeiterstandes im Allgemei-nen liegt, diesen Streik zu unterstützen, und könnenauch nicht annehmen, daß der Eintritt jener Arbeiter inunsern Verein aus augenblicklichen und eigennützigenMotiven uns Nutzen bringen werde. Deshalb schlagenwir Euch vor, das Gesuch zurückzuweisen.«

»Zurückweisen – zurückweisen!« rief man allge-mein, »sie wollen uns benützen, um ihre Taschen zufüllen, mögen sie allein sehen, wie sie fertig werden!«

»Unser Beschluß ist also gefaßt!« sagte Tolain.»Doch nun, meine Freunde,« fuhr er nach einer klei-

nen Pause fort, »kommen wir zu einer Angelegenheit,welche von höherer Bedeutung ist, und in welcher dieinternationale Association die Aufgabe hat, frei undrücksichtslos vor aller Welt sich zu einer großen Wahr-heit, welche das Fundament unserer Bestrebungen bil-den muß, zu bekennen!«

Unter einer allgemeinen, tiefen Stille sprach er wei-ter: »Ihr werdet wohl alle, meine Freunde, von denVorfällen in Roubaix gehört haben –«

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»Ja wohl, ja wohl,« rief man von allen Seiten, »das istein tüchtiger Streich gegen die Tyrannen vom Capital!– diesmal werden sie es empfinden!« –

Tolain ließ seinen Blick ernst und streng über dieVersammlung streifen. »Die Arbeiter von Roubaix,«sagte er, »waren mit verschiedenen Bestimmungen derFabrikordnung nicht einverstanden, sie stellten die Ar-beit ein, um deren Änderung zu erzwingen, sie warendabei in ihrem Recht. – Aber, meine Freunde,« fuhrer mit erhobener Stimme fort, »jene Arbeiter warenauch unzufrieden mit einer Verbesserung der Maschi-nen, welche erlaubte, bei geringerer Arbeitskraft besse-re Erzeugnisse zu schaffen, und sie haben sich zu Ex-cessen hinreißen lassen, sie haben die Maschinen zer-trümmert, die Fabriken verbrannt, und damit die Sachedes Arbeiterstandes schwer compromittirt, diese heili-ge uns allen gemeinsame Sache mit einem schwarzen,schlimmen Flecken beschmutzt!«

»Und hatten sie nicht Recht, ihre Macht zu zeigenund zu gebrauchen?« rief eine Stimme mit energi-schem, trotzigem Ton.

»Nein,« sagte Tolain, »sie hatten nicht Recht, sie hat-ten tausendmal Unrecht, denn sie haben einen Act desVandalismus ausgeübt gegen die Maschine, diese herr-lichste Erfindung des Menschengeistes, welche die pro-ductive Arbeit zu immer größeren Dimensionen ent-wickelt und damit auch den Werth und die Nothwen-digkeit der menschlichen Arbeitskraft erhöht, dieser

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durch eigenen intelligenten Willen bewegten Maschi-ne, welche trotz allen Fortschritts der Mechanik durchkein Werkzeug zu ersetzen ist; sie haben Unrecht, weilsie bei allen denkenden und rechtlichen MenschenZweifel an der Gerechtigkeit unserer Sache erweckt ha-ben, weil sie alle Freunde der Ordnung und Sicherheitgegen uns in die Schranken rufen! Wir haben beschlos-sen,« fuhr er den Kopf hoch aufrichtend und mit stol-zem und kühnem Blick die Versammlung überschau-end fort, »eine Proclamation zu erlassen, welche einenernsten Tadel gegen das Vorgehen der Arbeiter vonRoubaix ausspricht und uns vor der Welt öffentlich voneiner moralischen Mitschuld an solchen Acten barbari-scher Gewaltthätigkeit reinigt. Diese Proclamation ent-hält zwei Sätze: –«

»Wir wollen keine Proclamation,« rief Tartaret, »dieArbeiter von Roubaix üben ihr Recht aus, man hat diePolizei, man hat Soldaten gegen sie gehetzt, wenn siesich verteidigt haben, so trifft die Schuld diejenigen,welche zuerst die Gewalt zu Hilfe gerufen haben, wirdürfen unsere Brüder nicht verleugnen, wir können je-den Tag in die gleiche Lage kommen, wir wollen keinePolizeidienste thun!«

Tolain sprang auf.»Es ist wider die von uns selbst festgestellte Ord-

nung,« rief er mit zitternder Stimme, »es verletzt dieAchtung, die wir uns selbst schuldig sind, wenn ihr den

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Vortrag und die Mittheilungen eures Vorsitzenden un-terbrecht!« –

»Hört ihn, hört ihn ruhig an, wir werden dann se-hen,« rief man von mehreren Seiten, Tartaret schwieg.

»Unsere Proclamation,« rief Tolain, »erklärt, daß diewirthschaftliche Frage der Anwendung von Maschinenin der Fabrikproduction sofort den Gegenstand ern-ster Untersuchung seitens der internationalen Associa-tion bilden solle, der Verein stellt dabei seinerseits denGrundsatz auf, daß der Arbeiter das bestimmte Rechtauf Erhöhung des Lohnes habe, sobald eine neue Ma-schine eine Vermehrung oder Verbesserung der Pro-duction ermögliche.«

»Gut – vollkommen richtig,« rief man, »nach diesemGrundsatz handeln auch die Weber von Roubaix.« –

»Dann aber,« sprach Tolain auf das Blatt in seinerHand blickend weiter, »soll unsere Proclamation denArbeitern von Roubaix sagen: ›Mögt ihr noch so vie-len Grund haben, euch zu beklagen, mögen eure For-derungen noch so gerecht sein, wie wir glauben, daßsie es sind, hört auf uns und glaubt uns: die Maschine,das Werkzeug der Production, muß unverletzbar hei-lig sein für jeden Arbeiter, hört auf uns und glaubt uns:Gewaltakte, wie ihr sie begangen, compromittiren eureSache und diejenige des ganzen Arbeiterstandes – sieliefern Waffen allen Verleumdern unserer Bestrebun-gen und allen Feinden der Freiheit.« –

Er schwieg.

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»Das heißt,« rief Tartaret, »ihr habt Recht, aber ihrdürft euer Recht nicht verfolgen! das heißt die Geschäf-te der Polizei besorgen, eine solche Proclamation ist fürdie Regierung eine Armee in jenen Districten werth!Fragt man uns gegenüber,« fuhr er noch lauter fort,»so ängstlich nach den feinen Distinctionen des Rechtsund des Unrechts? – Man besinnt sich nicht lange –man schlägt. – Wohlan, sollen wir unsere Brüder ver-hindern, zu schlagen, wo wir doch anerkennen, daß ih-re Forderungen gerecht sind? Glaubt ihr, daß mit Wor-ten und Phrasen die Mauern umgestürzt werden, wel-che uns die Welt des Lebensgenusses, des Genusses derFrüchte unserer Arbeit verschließen? Je schneller undje schärfer geschlagen wird, um so schneller wird Lichtin die Situation kommen. Wir dürfen diese Proclamati-on nicht erlassen!«

Eine ungeheure Bewegung entstand. Alles erhobsich und sprach durcheinander, man konnte die einzel-nen Stimmen nicht mehr unterscheiden, die einzelnenWorte nicht mehr verstehen.

Tolain blickte traurig auf die stürmisch-bewegte Ver-sammlung – sein Auge richtete sich wie hilfesuchendauf Varlin.

Varlin saß da mit unbeweglichen Zügen und nieder-geschlagenen Augen – er schwieg.

Da trat langsamen Schrittes George Lefranc an denTisch des Vorstandes. Er erhob die Hand zum Zeichen,daß er sprechen wolle, seine Blicke leuchteten, seine

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Züge waren von hoher Begeisterung belebt, unwillkür-lich schwiegen die hin und her Streitenden beim An-blick dieses jungen Mannes mit dem gebietend aus-drucksvollen Gesicht, neugierig, was er, der noch niehier gesprochen, zu sagen haben würde.

Tolain sah ihn erstaunt an, Varlin erhob von untenherauf einen Augenblick sein scharfes Auge zu ihm.

»Meine Freunde,« rief George mit lauter, den Raumvoll durchdringender Stimme, »hört mich an, mich,einen der Jüngsten unter euch, der nichts in der Welthat, als seine Arbeit und die Hoffnungen seiner Zu-kunft, je jünger ich bin, um so höheren Werth habendiese Hoffnungen für mich, um so mehr bin ich be-rechtigt, für sie und ihre Erfüllung zu sprechen.«

Die Ruhe stellte sich nach diesen Worten vollständigwieder her, jedermann hörte zu.

»Wofür arbeiten, wonach streben wir, meine Freun-de?« sprach der junge Mann weiter, »wir wollen, wir,die wir Alles hervorbringen durch die Arbeit unsererHände, was zum Genusse, zur Verschönerung des Le-bens gehört, wir wollen unsern Theil an diesem Genuß,wir wollen unsern Platz in dem Gebiet der edlen Freu-den des Geistes und des Herzens, welche bisher die-jenigen, die nicht arbeiten, für sich allein in Anspruchnahmen. Wir wollen die Bildungsmittel – wir wollendie Wissenschaft und Kunst für uns erobern, wir wol-len vor allem,« sagte er mit warmer Betonung, »dasRecht und den Raum uns erwerben zur Gründung der

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eigenen Heimath, des eigenen Heerdes, wir wollen da-hin kommen, daß der Ertrag der Arbeit nicht bloß dieMaschine unseres Körpers erhalte, sondern uns auchdie Mittel gebe, uns freundliche, reizvolle Heimstättenzu bereiten.«

Es klang wie ein leichtes, höhnisches Lachen aus denReihen der Versammelten hervor. – »Still, still,« riefenandere Stimmen, »er hat Recht, hört ihn!«

»Ich frage euch alle,« rief George, »ist das nichtdie Hoffnung, die euch belebt, der Gedanke, der euchbewegt? Ihr, meine älteren Freunde, treibt euch beidem Werke unserer Association nicht der Schmerz, daßihr der Gründung des eigenen Heerdes habt entsagenmüssen, oder der noch größere Schmerz, daß ihr andiesem Heerde, den ihr so gern mit den reinen Blüthender Freude geschmückt hättet, den Druck der Armuthund Entbehrung noch bitterer habt empfinden müs-sen, weil dieser Druck nicht auf euch allein, sondernmit euch auf geliebten Wesen lastete? Wollt ihr, da ihrselbst so schwer gelitten habt, jetzt nicht dafür kämp-fen, daß folgende Generationen den Schmerz nicht er-leben müssen, den ihr durchgekämpft habt in stiller,knirschender Entsagung?«

»Ja – ja,« rief es hier und da in bewegtem Tone.»Und ihr, meine Altersgenossen,« fuhr der junge

Mann mit glühenden Blicken fort, »mögt ihr nun inbestimmten Zügen ein theures Bild im Herzen tragen,

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oder mögt ihr nur ganz allgemein das Weben des rei-nen und heiligen Liebesgeistes in euch fühlen, der diegeschaffene Welt durchzieht, ist es nicht die Sehnsucht,die Hoffnung, eine Heimath auf festerem Fundamentzu bauen, sie zu schmücken mit dem Reiz einer vomDruck der Armuth freien Häuslichkeit, euer Weib, eureKinder zu umgeben mit des Lebens einfachen, reinenFreuden, ist es nicht diese Sehnsucht, diese Hoffnung,die euch treibt zum ernsten und unermüdlichen Kamp-fe um eure Befreiung aus dem Druck eurer gegenwär-tigen Lage?«

»Ja – ja – ja – so ist es,« riefen lautere und zahlrei-chere Stimmen rings umher.

»Nun denn, meine Freunde,« sprach George weiter,»wenn das euer Streben ist, wie es das meinige ist,wie es das jedes braven und redlichen Arbeiters seinmuß, kann dies Ziel erreicht werden, wenn die Arbei-ter in erklärlichem, aber ungerechtem Zorn zerstörenstatt zu bauen, wenn sie die heiligen Werkzeuge derproductiven Arbeit zerschlagen und verbrennen, wennsie die Welt zertrümmern, in welcher sie sich den Platzerkämpfen wollen, um ihre Heimath zu bauen? Wennwir die Welt zur Wüste machen, wo sollen wir dieStätte finden für die glückliche Zukunft, nach welcherwir ringen? Nicht der sinnlose und unfruchtbare Haßdarf uns leiten zur Vernichtung dessen, woran wir kei-nen Theil haben, in ruhigem, überlegtem und gedul-dig kraftvollem Streben müssen wir den Antheil uns

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erkämpfen, der uns jetzt versagt ist. – Darum müssenwir um unseres künftigen Glückes, um unserer künfti-gen Heimathsberechtigung willen in der Welt des edlenLebensgenusses die rohe Gewalttat verdammen, wirmüssen laut vor der Welt unser Urtheil und Bekennt-niß aussprechen – und ich, meine lieben Freunde, ichbitte euch aus tiefem, überzeugungsvollem Gefühl mei-nes Herzens, wie unsere Vorsitzenden euch aus klugenund wohlüberlegten Gründen des Verstandes gebetenhaben: nehmt die vorgeschlagene Proclamation an!«

Tartaret wollte noch einmal sprechen – aber er wur-de übertäubt von den lauten Zustimmungsrufen, dievon allen Seiten den Worten des jungen Arbeiters folg-ten, viele eilten zu ihm heran und drückten ihm dieHände.

Tolain erhob sich.»So seid ihr denn einverstanden mit unserer Procla-

mation an die Arbeiter von Roubaix?«Ein lautes, fast einstimmiges Ja ertönte – die weni-

gen Andersdenkenden schwiegen – sie mochten es fürüberflüssig halten, bei dieser Stimmung der Versamm-lung ihre Meinung auszusprechen.

Tolain nahm die Proclamation, deren Ausfertigungauf dem Tische lag, und setzte darunter die Worte: »ImAuftrage der pariser Commission«. Dann schrieb er sei-nen Namen und reichte die Feder Varlin.

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Varlin ergriff sie schweigend, ohne ein Wort zu spre-chen, setzte er seinen Namen neben denjenigen To-lains. Der dritte Schriftführer Fribourg unterzeichnetenach seinen beiden Collegen.

Tolain erklärte die Gegenstände der Besprechung fürerschöpft, die Versammlung für geschlossen.

In laut discutirenden Gruppen gingen die Arbeiteraus dem Hause und zerstreuten sich bald in die näch-sten Straßen.

Einsam schritt George durch die Nacht hin, lächelndund glücklich – und leise flüsterte er vor sich hin:

»Eine Heimath – ein Heerd – ein Weib!«

SECHSUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Später als sonst erwachte am nächsten Sonntagsmorgen das Leben in dem Viertel der Rue Mouffetard– diese ganze arbeitende Bevölkerung freute sich desTages der Ruhe, viele in träger Faulheit freilich nurdem passiven Genuß indolenter Unthätigkeit sich hin-gebend – viele aber auch Seele und Körper erfrischendin dem Gefühl, einen Tag für sich zu haben zu freierRegung und Bewegung, losgelöst vom Zwange der Ar-beitsnothwendigkeit.

Es war acht Uhr. George Lefranc stand in seinemZimmer völlig angekleidet – frisch und strahlend trotzder leichten Erschöpfung, welche eine in unruhiger

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Aufregung verbrachte Nacht auf seinen Zügen zurück-gelassen hatte. Der junge Mann war mit einer fast ele-ganten Sauberkeit in ein einfaches Costüm von grauemSommerstoff gekleidet, sein volles Haar war sorgfäl-tig geordnet, seine arbeitskräftigen und braunen, aberschön geformten Hände mit sichtbarer Mühe gepflegt,und wenn man dazu das glückliche Lächeln nahm, wel-ches seinen früher so fest und finster verschlossenenMund umspielte, so mußte man gestehen, daß wohl je-de pariser Arbeiterin mit Stolz am Arme dieses jungenMannes hinausgegangen wäre, um ihren arbeitsfreienSonntag in der schönen, sonnenhellen Natur dem fröh-lichen Lebensgenuß zu widmen.

George ging unruhig in seinem Zimmer auf und ab,oft an der Thür stehenbleibend und auf jedes Geräuschim Hause lauschend, dann wieder zum Fenster hinausmit glücklichem Ausdruck dem hellen, reinen Sonnen-schein zulächelnd und mit besorgtem Blick umherspä-hend, ob irgend eine Wolke heraufstiege, welche demso günstig beginnenden Tage Gefahr bringen konnte.

Endlich hörte er auf dem Flur das Geräusch einesgeöffneten Thürschlosses – schnell trat er hinaus undvor ihm stand in reizend einfachem Morgenanzug, dasweiße Häubchen auf dem glänzenden Haar, den Was-serkrug in der Hand, seine schöne Nachbarin, MadameBernard.

»Ich muß mich vor Ihnen schämen, mein lieberNachbar,« sagte sie mit freundlichem Lächeln zu dem

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jungen Manne, der wie geblendet von dieser duftig fri-schen Schönheit vor ihr stand, »ich habe meine Früh-messe verschlafen – glauben Sie nicht,« fügte sie hinzu,»daß ich Ihrer Ansicht über die Priester und die Tempelrecht gebe, aber heute glaube ich es einmal versuchenzu können, mit Ihnen in der freien Natur meine Mor-genandacht zu halten.«

»Ich hatte Sie bitten wollen,« sagte der junge Mannmit innigem Ton, »meine Begleitung zur Messe anneh-men zu wollen.«

Sie senkte wie in unwillkürlicher Verlegenheit denBlick zu Boden und sah einen Augenblick schweigendvor sich nieder.

»Sie wollen also noch mit mir hinaus?« fragte er,»das Wetter ist herrlich!« und der Blick, mit welchemer sie ansah, glänzte fast so hell wie der Sonnenscheindraußen.

»Wenn Sie unsere Verabredung nicht gereut,« sagtesie lächelnd, »so bitte ich nur um eine halbe StundeZeit, um meine Toilette zu machen – ist das zu viel?«fragte sie ein Wenig schalkhaft.

Sein Blick antwortete, daß er am liebsten mit ihr indem kleinen Morgenhäubchen fortgegangen wäre, »ichbin bereit,« sagte er, »und warte auf Ihren Befehl.« Siefüllte ihren Wasserkrug in der Küche und eilte in ihrZimmer zurück, während er in dem seinigen sie erwar-tete.

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Die halbe Stunde war noch nicht vergangen, als diejunge Frau wieder heraustrat; sie trug ein leichtes,dunkles Wollenkleid mit einer rothen Schleife, ein klei-ner, runder Hut mit einem einfachen Bande von der-selben Farbe bedeckte das schlicht gescheitelte und ge-flochtene Haar – sie hielt einen kleinen Sonnenschirmin der Hand und hatte einen Shawl über den Armgehängt. Ihr Gesicht war durch einen dunkelblauen,dichten, kurzen Schleier, der vom Rande ihres Hutesherabging, fast vollständig verhüllt.

Mit leichtem, elastischem Schritt näherte sie sich derThüre ihres Nachbars – doch bevor ihre ausgestreckteHand noch geklopft hatte, öffnete sich die Thür schnellund George trat heraus.

»Sie sind pünktlich!« sagte er.»Ich bin die Pünktlichkeit gewohnt,« erwiederte sie,

»um die Arbeit zu beginnen, sollte ich meiner Gewohn-heit untreu werden, wo es gilt, dem Vergnügen entge-gen zu eilen, einem Vergnügen, das mir so lange nichtzutheil wurde?« sagte sie mit leisem Seufzer.

Madame Raimond trat aus ihrem Zimmer. »Schonreisefertig?« rief sie, »das ist gut, der Tag der Freiheitgeht schnell vorüber, man muß ihn ausnutzen wie denTag der Arbeit, aber warum,« fragte sie, »verhüllen SieIhr Gesicht mit dem dichten Schleier? – Sie haben dasnicht nöthig – gönnen Sie doch dem armen George denStolz, mit seiner schönen Nachbarin durch die Straßenzu gehen!«

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»Ich trage diesen Schleier immer,« sagte die jungeFrau, »wenn ich ausgehe, um mich gegen den Staubund den blendenden Widerschein des Trottoirs und derHäuser zu schützen, meine Augen sind ein Wenig an-gegriffen, und Sie wissen ja, die Augen sind für eineStickerin, was die Arme für einen Arbeiter sind, wür-de ihre Kraft nachlassen, so würde die Quelle meinesErwerbes versiegen.«

»Doch nun fort,« rief die gutmüthige, alte Frau, »aufWiedersehen – und viel Vergnügen da draußen!«

Und eilig schob sie die jungen Leute der Ausgangst-hür zu.

Stumm schritten sie eine Weile nebeneinander her.»Darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?« fragte er mit

schüchternem Ton, als sie in die belebteren Stadttheilekamen.

Mit einer natürlichen, ungezwungenen Bewegunglegte sie ihren Arm auf den seinigen, stolz und glück-selig schritt er weiter, die Welt schien ihm zu eng fürden Jubel seines Herzens.

Sie bestiegen den Zug auf dem Bahnhof der RueSaint Lazare und bald führte sie die pfeifende Locomo-tive hinaus aus dem Häusermeer der großen Weltstadt.

Als sie auf dem kleinen Bahnhof von Ville d’Avrayankamen, fragte der junge Mann: »Wollen wir früh-stücken?«

»Wir haben dazu noch Zeit,« erwiederte MadameBernard – »und,« fügte sie lächelnd hinzu, »wir wollen

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als ökonomische Leute die Kosten unseres Ausflugesnicht unnütz verdoppeln. Lassen Sie uns unser Früh-stück bestellen und zuvor einen Spaziergang in denWald von Saint Cloud machen – um den Morgen ganzin der Natur zu genießen.«

Sie bestellten ein einfaches Dejeuner für die Mittags-stunde in dem reizenden Restaurant mit den in dieBaumzweige gefügten Balkons und eilten dann hinausin die duftige Waldeinsamkeit des im Frühlingsgrünschimmernden Parks von Saint Cloud.

Als sie in die grünen Schatten eintraten, hob die jun-ge Frau ihren Schleier empor und befestigte ihn amRande ihres Hutes. »Hier habe ich ihn nicht nöthig,«sagte sie lächelnd, »der Hauch der Natur kann meineAugen nur kräftigen.«

Dann sprang sie leicht und anmuthig bald hier, baldda an den Rand des Weges, um eine der vielen Früh-lingsblumen zu pflücken, welche ihre kleinen, zartenund duftenden Häupter aus dem Rasen emporhoben,frisch erblüht im glänzenden Licht der Morgensonne.

George folgte mit entzücktem Auge und überströ-mendem Herzen ihren reizenden Bewegungen, wel-che die schmiegsame Eleganz ihrer Gestalt hervortre-ten ließen, nur mit einzelnen Worten, oft nur mit ei-nem Lächeln antwortete er auf die Bemerkungen, diesie in fortwährendem, lebhaftem Geplauder voll kind-licher Naivität an ihn richtete. Oft, wenn sie ihn ansah,senkte sein Blick sich mit tiefem Feuer in den ihrigen,

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ein ernsteres, innigeres Wort schien auf seinen Lippenzu schweben, aber schnell sprang sie wieder davon, ei-ne neue Blume zu pflücken oder ihm in heiterer Fröh-lichkeit einen auf den Zweigen sich schaukelnden Vo-gel zu zeigen.

Schon trug sie einen großen Strauß von Blumen undgrünen Ranken in ihrer Hand und immer tiefer dran-gen sie in die stille Einsamkeit des Waldes vor, wel-che zu dieser Stunde noch wenig durch Spaziergängerbelebt war. Das Blumensuchen der jungen Frau hat-te sie immer weiter von dem großen Wege abgeführt– sie befanden sich in der Mitte des Waldes unter ei-ner Gruppe hoher, uralter Baume, die auf einer leichtansteigenden, mit grünem Moose bewachsenen Erhö-hung standen.

Madame Bernard hatte eben mit einer scherzendenBemerkung ihren Begleiter gebeten, einen Theil dervon ihr gepflückten Blumen zu tragen, sie trat zu ihmheran und reichte ihm dieselben hin, da begegnete ihrBlick seinem so ausdrucksvoll, so fragend, so sehnsüch-tig auf sie gerichteten Auge, und eine leichte Röthe flogüber ihr Gesicht.

Sie warf einen Blick umher. Dichtes Grün umgabsie von allen Seiten, kein Ton jenes vielstimmigen Ge-räusches der Welt drang in diese tiefe Waldesstille,man hörte nur das leise Zwitschern der Vögel und dasRauschen des Windes in den hohen, vom durchschim-mernden Sonnenlicht vergoldeten Baumwipfeln.

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»Wir haben uns weit vom Weg entfernt,« sagte sieleise.

»Sind wir hierher gekommen, um Menschen zu su-chen?« fragte er, »der Tempel der Natur ist am schön-sten, wo er am wenigsten vom Treiben der Welt be-rührt wird!«

»Sie haben Recht – mein Freund,« sagte sie sanft,»der Platz ist herrlich – und da wir nun hier sind, sowollen wir die stille Einsamkeit benutzen, um dieseBlüthen, die wir dem Walde geraubt, zu einem Kranzezusammenzufügen, der uns eine Erinnerung sein sollan den frohen Genuß des heutigen schönen Tages.«

»Setzen Sie sich hier neben mich,« fuhr sie fort, in-dem sie sich zu den Füßen eines hohen mit Efeu um-rankten Baumstammes niederließ und die Blumen aufihren Schooß legte, »und reichen Sie mir die einzelnenBlüthen und die kleinen, grünen Zweige, oh es soll einschöner Kranz werden, freilich wird er welken, aberdie immergrüne Erinnerung wird aus seinen vertrock-neten Blättern sprechen! – Ach warum müssen so schö-ne Stunden so schnell vorüberfliehen!«

George setzte sich auf das Moos zu ihren Füßenund reichte ihr langsam eine Blume nach der andern,sein Auge ruhte wie träumerisch auf ihren schlankenHänden, welche mit zierlicher Geschicklichkeit das Ge-flecht des Kranzes in einander fügten, seine Hand zit-terte.

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»Meine Freundin Louise,« sagte er nach längeremSchweigen, während dessen sie zuweilen in raschemAusblick wie forschend zu seinem leicht gesenktenHaupte herabgesehen hatte, »Sie wollen diesen schö-nen, stillen Platz zu einem Tempel der Erinnerung wei-hen – sollte er nicht für mich zu einem Heiligthum derHoffnung werden dürfen?«

Sie ließ die Hände in den Schooß sinken, ein leiser,tiefer Athemzug zitterte durch ihre schlanke Gestalt.

»Louise,« sagte er, »wir kennen uns noch nicht lange,und doch dünkt es mich, als wäre mein ganzes Leben,bevor Sie in den Kreis desselben eintraten, Nichts alseine leere, kalte Einöde gewesen – und wenn ich darandenke, daß je wieder eine Zeit kommen könnte, in derich Sie nicht mehr sehe, Ihre Stimme nicht mehr hörensollte, so überläuft es mich kalt wie die Schauer desTodes.«

»Und warum sollte eine solche Zeit kommen?« fragtesie leise, den Kopf tief auf die Brust herabsenkend.

»Warum sie kommen sollte,« rief er, »oh mein Gott,weil das Leben ja Alles wieder von einander reiht, wases zusammengeführt hat, wenn man sich nicht,« füg-te er leiser und zögernd hinzu, »wenn man sich nichtzu festem Bunde für das Leben verbindet. – Oh Loui-se,« fügte er dann mit tiefer, inniger Stimme, indem ermit fast scheuer Zartheit ihre auf den Blumen ruhendeHand ergriff, »es ist unmöglich, daß Sie nicht sehen,nicht fühlen sollten, wie alle Fasern meines Herzens

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sich an Ihr Wesen gerankt haben. – Ich war so ein-sam,« fuhr er mit tief eindringendem Ton fort, »meinLeben war dunkel und kalt, voll Entbehrung, eine Ent-behrung, welche ich tief und schmerzlich fühlte, meinHerz war erfüllt von Zorn und Erbitterung – voll Haßund Zorn gegen jene Reichen und Glücklichen, denendie Welt mit vollen Händen Alles giebt, was mir versagtwar und was ich doch so heiß ersehnte, ich hatte keineHeimath auf dieser so großen, so schönen und reichenErde, öde Nacht war um mich her. Da traten Sie in mei-nen Lebenskreis ein,« er richtete seinen Blick voll undstrahlend auf ihr noch immer gesenktes Haupt, »undlichter und lichter wurde es um mich her, wärmer undwärmer wurde es in meinem Herzen. Sie, Louise, ha-ben mich gelehrt, daß auch in der Welt der Arbeit undEntbehrung Glück, oh wie reiches Glück – erblühenkann, daß auch der Arme eine Heimath finden kannin dieser Welt, Sie haben mir den Glauben an eine lie-bevolle Führung der Menschenschicksale gegeben! –Louise, wollen Sie Ihr Werk wieder zerfallen lassen inSchutt und Trümmer – oder wollen Sie es vollenden zudauerndem, unzerstörbarem, heiligem Glück? – Wol-len Sie Ihr Leben an das meinige knüpfen, so daß derSturm der Zeit uns nicht wieder trennen kann? – Siewissen, was ich Ihnen bieten kann, es ist die Arbeit ei-nes kräftigen Arms – und die tiefe, unauslöschliche Lie-be eines treuen Herzens, ein treueres finden Sie nicht,

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Louise, soll ich mit der Erinnerung an diesen stillen, se-ligen Morgen auch die Hoffnung auf das Glück meineskünftigen Lebens von hier mitnehmen?«

Er hielt ihre Hand fest in der seinigen und beugtesich herab, um aus ihren gesenkten Augen die Antwortauf seine Frage zu lesen.

Sie erhob langsam den Kopf und sah ihn liebevoll,aber traurig an.

»Mein lieber Freund,« sagte sie nach einigen Augen-blicken tief aufathmend, »Ihr Vertrauen, in welchemSie das Glück Ihres Lebens in meine Hand legen wol-len, macht mich glücklich, trotz unserer kurzen Be-kanntschaft kenne ich Ihr edles und treues Herz, auchdarf ich es Ihnen wohl gestehen,« fuhr sie mit einemsanften Lächeln fort, »ich ahnte und erwartete fast ähn-liche Worte, wie Sie sie eben zu mir gesprochen, dasAuge einer Frau liest in einem Herzen, das sich ihr zu-neigt – um so klarer, wenn dies Herz so wahr, so gutist, wie das Ihrige.« –

Hohe Freude glänzte in seinem Blick.»Sie ahnten, was in mir vorging,« rief er, »und Sie

sind hierher gekommen?« –»Ich bin gekommen,« erwiederte sie, »weil ich

wünschte, daß es klar, ganz klar zwischen uns werde.«»Also,« fragte er mit bebender Stimme, »Sie wollen

–«»Ich will mich Ihres Vertrauens und Ihrer Neigung

würdig zeigen,« sagte sie – »ich will thun, was ich nach

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Ihren Worten thun muß, ich will Ihnen die Geschichtemeines Lebens erzählen; wenn Sie dieselbe kennen, sowerden Sie urtheilen, ob Ihre Gefühle, Ihre Wünschedieselben bleiben, Sie werden mir rathen, mir beiste-hen – um zu thun, was ich für meine Pflicht halte.«

Erschrocken blickte er zu ihr hinauf. »Die GeschichteIhres Lebens?« fragte er, »Sie erzählten –«

»Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt,« sprachsie ernst, »ich hatte dazu Fremden gegenüber keineVerpflichtung – jetzt bin ich Ihnen die Wahrheit schul-dig. Hören Sie.«

Er ließ den Kopf sinken und stieß einen tiefen Seuf-zer aus, der fast wie ein Klageton klang.

»Ich bin nicht Wittwe,« sprach die junge Frau, »wieich Ihnen und Madame Raimond gesagt habe.«

Der ganze Körper des in sich zusammengesunkenenArbeiters zitterte.

»Ich lebte in einer kleinen Stadt des Elsaß,« fuhrsie fort, »nahe an bei deutschen Grenze, allein mit ei-nem harten und strengen Oheim, einem Beamten derGemeindeverwaltung. Ich hatte eine Freundin in ei-nem benachbarten deutschen Grenzorte besucht, dortmachte ich oft auch allein Spaziergänge in der Umge-gend, ich begegnete einem jungen Mann, schön undelegant, wir sprachen uns öfter – und –«

Georg bedeckte sein Gesicht mit den Händen.Sie legte ihre Hand sanft auf seine Schulter.

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»Ich will kurz sein,« sagte sie. – »Ich war jung – inEinsamkeit aufgewachsen, er sprach zu mir in den glü-henden Worten heißer Liebe, er war nach seiner An-gabe ein Ingenieur, als Feldmesser in der Gegend thä-tig, mein Herz neigte sich zu ihm, er warb um meineHand. Doch sagte er mir, Familienverhältnisse ständenuns entgegen, seine Eltern haßten Frankreich und dieFranzosen, er bat und drang in mich, mich heimlichmit ihm trauen zu lassen, dann würde er mich spä-ter unerkannt in das Haus seiner Eltern führen undderen Vorurtheile besiegen. – Es war eine wunderba-re Geschichte,« fuhr sie seufzend fort, »heute würdeich sie vielleicht nicht glauben – ich würde prüfen,aber was glaubt man nicht, wenn man liebt? – wiewill ein befangenes Herz im ersten Aufwallen seinerGefühle prüfen, was der Mann sagt, der für uns dasIdeal der Schönheit und Wahrheit ist? – Wir fuhren,«sprach sie weiter, »in einem verschlossenen Wagen aneinen Ort, wo eine Civiltrauungsceremonie vorgenom-men wurde, deren Gebräuche mir im fremden Landeunbekannt waren, auch erhielt ich ein Document indeutscher Sprache – die kirchliche Trauung sollte vor-genommen werden, wenn wir mit seinen Eltern unsverständigt hätten. Mein Herz war voll Glauben, vollLiebe, voll Glück!«

George hielt immer schweigend sein Gesicht mit denHänden bedeckt.

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»Ich sagte,« fuhr sie fort, »meiner Freundin, daß ichnach Hause zurückkehrte, mein Oheim glaubte michnoch bei ihr und kümmerte sich auch wenig darum,ob ich früher oder später wiederkam, hatte er doch ei-ne Last weniger im Hause, und dann zogen wir in einkleines Haus, einsam am Rande des Waldes in der Nä-he eines Dorfes gelegen.«

George seufzte tief auf.»Einige Wochen vergingen – wie sie im Rausch ei-

ner ersten Liebe vergehen. Wohl wurden die Abwe-senheiten des Mannes, dem ich in so blindem, rück-sichtslosem Vertrauen gefolgt war, länger und länger,aber sein Geschäft führte ihn ja weit umher – ich warimmer glücklich und hoffnungsvoll, mit sehnsuchtsvol-ler Hoffnung sah ich der Beendigung seiner Thätigkeitentgegen – damit ich den Versuch machen könnte, sei-ne Eltern zu gewinnen und unseren Bund laut vor derWelt zu bekennen. Da plötzlich – entsetzliche Erinne-rung an bange Tage und Nächte – kam er nicht wieder.Lange konnte ich es nicht fassen – von ihm betrogen –verrathen zu sein! – Endlich zog ich Erkundigungen einund erfuhr das Schreckliche. Er war kein Geometer –er hatte unter falschem Namen, unter erlogenen Anga-ben sich mir genähert – er war preußischer Officier – ineine nahe gelegene kleine Garnison commandirt – undtrug einen der vornehmsten Namen Deutschlands!«

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»Schändlicher Verrath!« rief George mit gepreßterStimme, indem er die Hände fest gegen seine Stirndrückte.

»Ich will Ihnen, mein lieber Freund,« fuhr die jun-ge Frau mit sanfter Stimme fort, »keine Schilderungmeines Zustandes machen. Meine Lage war furchtbar,auch äußerlich – ich war ohne Mittel. Wohl hätte ichkönnen zu meinem Oheim zurückkehren, aber,« rief sielaut, »dagegen sträubte sich mein Stolz, mein empörtesGefühl, ich wollte, ich mußte den Elenden finden, ihnzwingen, sein Unrecht, soweit das möglich war, gutz-umachen, mir seinen Namen zu geben, um mich dannfür ewig von ihm zu trennen!«

George erhob den Kopf. Er war bleich wie der Tod;mit einem Blick voll Schmerz und Liebe sah er in dasschöne Gesicht der jungen Frau, in welchem Stolz undZorn flammten.

»Aber die Trauung?« fragte er tonlos, »das Docu-ment?«

»Alles war, wie ich glaube, ein unwürdiger Betrug,oder wenigstens war die Sache unter falschem Namengeschehen. Dennoch bildete dies Document und dieBriefe, die er mir während seiner verschiedenen Ab-wesenheiten geschrieben, meine mächtigste Waffe ge-gen den Schändlichen, denn meine Aussagen ohne Be-weise konnte er ableugnen. – Ich erfuhr, daß er Ur-laub genommen und nach Paris gegangen war. Das gabmir Hoffnung, dort konnte ich ihn erreichen, in seiner

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Heimath war er für mich, die mittellose Fremde ohneSchutz und Stütze, fast unnahbar. – Mit den Mitteln,welche mir der Verkauf meiner wenigen Schmucksa-chen verschaffte, machte ich mich auf und kam hier-her.«

»Tapferes Herz!« sagte George, indem sein Blick zumersten Mal seit ihrer Erzählung sich wieder mit freudi-gerem Schimmer belebte.

»Ich suchte ihn auf – er war leicht zu finden, da ichseinen wahren Namen kannte,« fuhr sie fort, »er standvor mir im Bewußtsein seiner Schlechtigkeit, er bat, erflehte, ihn nicht zu compromittiren, er suchte Alles mitseiner heißen Liebe zu mir zu entschuldigen, er botmir große Summen, wenn ich ihn nicht compromit-tiren wollte – wenn ich unsere heimliche Verbindungfortsetzen wollte.«

»Elender!« rief George.»Voll Verachtung wies ich ihn zurück, ich verlangte

Nichts als seinen Namen – und dann ewige Trennung.Er sprach von seiner Familie, von der Unmöglichkeitnach deutschem Recht, mir seinen Namen zu geben,ich verließ ihn mit noch tieferem Abscheu, als frühermeine Liebe für ihn heiß und rein gewesen. Nach demRath eines Advocaten, den ich befragte, und der mirsagte, daß vor französischen Tribunalen rechtlich we-nig für mich zu erreichen wäre, daß die Hauptwaffefür mich die Drohung mit einem großen, öffentlichenEklat wäre, daß ich aber diese Waffe bis zur äußersten

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letzten Nothwendigkeit aufsparen möge, nach diesemRath begab ich mich zu dem preußischen Gesandten,dem Grafen Goltz. – Ich trug ihm meine Sache vor, erhörte mich aufmerksam an und versprach mir seinenSchutz und seine Intervention, als ich ihm aber den Na-men des Schändlichen nannte, da erschrak er, ich hättedeshalb vorsichtig sein sollen, er verlangte meine Be-weise zu sehen, ich gab ihm mein Document und mei-ne Briefe, – oh hätte ich es nicht gethan! – Er bat mich,wiederzukommen, er wolle alle Schritte zur freundli-chen Ausgleichung der Sache thun. Ich kam wieder,er vertröstete mich, es gingen Wochen, Monate hin,ich forderte meine Beweispapiere zurück, um andereSchritte zu thun, er gab ausweichende Antworten, zö-gerte mehr und mehr, kurz – ich bin jetzt ohne die ein-zige Waffe gegen den elenden Verführer, denn,« sagtesie seufzend, »ich werde meine Papiere nicht wiederer-halten.«

»Oh diese Aristokraten!« rief George mit grimmigemTone, »sie halten stets zusammen, wenn es gilt, dieRechte der Armen mit Füßen zu treten! – Aber manmuß Schritte thun, ihn zur Herausgabe der Papierezwingen!«

»Diese Schritte würden vergeblich sein, seine Stel-lung deckt den Gesandten gegen jeden Angriff.«

»Schändlich! Nichtswürdig!« rief er.

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»Sie begreifen nun,« sagte sie mit weichem Ton,»warum ich auf Ihre treuen, guten Worte nicht antwor-ten kann, wie ich es möchte,« flüsterte sie, die Augenniederschlagend mit tiefem Erröthen, »denn mein soschwer betrogenes Herz ist darum nicht gestorben, esfühlt noch und sehnt sich nach Anlehnung an einenedlen und treuen Freund.«

»Ich danke Ihnen,« rief er tief aufathmend unddrückte rasch einen langen Kuß auf ihre Hand. –

»Doch,« fuhr sie fort, »kann ich diese Hand einembraven, edlen Mann reichen, bevor sie gereinigt ist vondem Flecken, den niedriger, feiger Verrath darauf ge-heftet hat? – Bevor nicht vor der Welt jenes Unrechtgesühnt – oder doch klar dargethan ist, daß ich ei-nem schmählichen Mißbrauch meines Vertrauens undmeiner Unerfahrenheit zum schuldlosen Opfer gefal-len bin, werde ich niemals meine zerbrochene und be-fleckte Existenz mit derjenigen eines Mannes verbin-den, dessen höchstes Gut die reine Ehre seines Namensist.«

»Aber Niemand weiß –« sagte er leise.»Ich weiß es – und Sie wissen es,« rief sie stolz

den Kopf erhebend, »und das ist genug, diese Sache,wenn sie unaufgeklärt, ungesühnt zwischen uns ste-hen bleibt, wird der Schatten sein, der wachsend undimmer wachsend sich über unser Glück legen würde,

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mein eigenes Bewußtsein gilt mir so viel als die Mei-nung einer Welt, und wenn ich eine arme und unbe-kannte Frau bin, so gilt mir die reine Klarheit mei-ner Vergangenheit so viel, mehr vielleicht, als der vor-nehmsten Dame auf den höchsten Höhen der Gesell-schaft! Niemals – niemals, so lange ich nicht meinRecht erreicht habe, so lange ich nicht wenigstens imBesitze der Beweise meiner Unschuld und des an mirverübten Betruges bin, werde ich Ihnen diese Hand rei-chen! – Ich werde leiden, einsam leiden,« sagte sie leiseund schmerzlich, »aber ich werde wenigstens das stol-ze Bewußtsein haben, mein Unglück allein zu tragen!«

In tiefem, finsterem Brüten saß George eine Zeitlangstill da, während ihr Blick funkelnd und scharf mit for-schendem, erwartungsvollem Ausdruck auf seinem ge-senkten Haupte ruhte.

»Aber wo sind diese Documente?« fragte er dann,»sind sie vernichtet?«

»Das glaube ich nicht,« erwiederte sie, »das wird derGesandte nicht wagen, da es doch, im äußersten Fallbedenklich sein könnte, ich habe sie noch bei meinemletzten Besuche in seinem Hôtel gesehen, er nahm siemit mir durch, um mir zu zeigen, daß sie nicht voll-ständig beweiskräftig seien, gab sie mir aber nicht wie-der, wie er sagte, in der guten Absicht, mich nicht in dieHände von Advocaten fallen zu lassen, die den Skandalausbeuten würden, ohne mir zu nützen, er versprachwiederholt, meine Sache zu Ende zu führen.«

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»Zu einem Ende im Sinne dieser großen Herren,«rief George, die Zähne auf die Lippen beißend.

»Dann,« fuhr sie fort, »legte er sie in eine kleineCassette, welche auf dem Schreibtisch seines Cabinetsstand, eine kleine, einfache Cassette mit Metallreifen,elegant gearbeitet. – Oh,« rief sie, »ich sehe sie vormir, diese Cassette Tag und Nacht, diesen kleinen Be-hälter, welcher meine Ehre und meinen guten Namenenthält, es ist mir fast zur fixen Idee geworden, meineHand auszustrecken nach dieser Cassette, in welche ei-ne versteckte Begünstigung vornehmer Schlechtigkeitdie einzigen Waffen verschlossen hat, durch welcheich mir mein Recht und meine Ehre wiedererkämpfenkönnte – und damit mein Glück,« rief sie in rascherAufwallung.

George fuhr bei dem letzten Ausruf schnell in dieHöhe und drückte wieder seine Lippen auf ihre Hand.Dann versank er von Neuem in finsteres Brüten.

»Als ich vor dem Gesandten stand,« fuhr die jungeFrau leise – wie zu sich selber sprechend – fort, »alser mit freundlich ruhigem Lächeln die mir so wich-tigen Papiere verschloß, da glaubte ich einen höhni-schen Zug auf seinem Gesicht zu sehen, es schwindeltemir, fast war ich entschlossen, mich auf diese Casset-te zu stürzen und sie wie die Löwin ihren Raub fort-zutragen, durch die Zimmer des Hôtels durchzudrin-gen bis auf die Straße und das Volk zu meinem Bei-stande anzurufen, aber es wäre Wahnsinn gewesen,«

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fuhr sie fort, »man hätte mich einfach des Diebstahlsangeklagt. Wäre es aber Diebstahl gewesen?« rief sie,»wenn ich mein heiligstes Eigenthum, die Beweismittelmeiner Ehre, genommen hätte? Ist es nicht ein schlim-merer, ein strafwürdigerer Diebstahl, mir mein Eigent-hum vorzuenthalten, als es zurückzunehmen? Ha,« riefsie laut, wie in Ekstase, »wenn ich die Kraft hätte,wenn ich die Mittel wüßte – ich würde mit Gewaltoder List in dieses unantastbare Gesandtschaftshôteleinbrechen, um mein Eigenthum daraus zu holen, undvor dem Richterstuhl meines Gewissens würde dieserEinbruch eine That des Heldenmuths, des gerechtenKampfes sein! – Aber ich bin ein schwaches Weib, ichbin hilflos und mein Geist verwirrt sich in diesem Cha-os von Schlechtigkeit!«

Sie brach in ein leises, krampfhaftes Schluchzen aus.»Louise,« sagte der junge Mann, ernst ihre Hand

drückend, »wollen Sie mir eine Frage wahr und auf-richtig beantworten?«

»Ich habe vor einem Freunde wie Sie nichts zu ver-bergen,« erwiederte sie.

»Die erste Neigung Ihres Herzens,« fuhr er fort, »hateinem Mann gehört aus jener vornehmen reichen Weltdes Genusses, sein Herz war schlecht und verderbt, wiedas meist der Fall ist in jenen Regionen, aber sein Geistwar gewiß ausgestattet mit allen Reizen seiner Bildungund Erziehung, würden Sie jenen Traum, aus dem Sie

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so traurig erwacht sind, vergessen können, an der Sei-te eines einfachen, armen Arbeiters wie ich, der Ihnennichts bieten kann als sein treues Herz und einen Geist,der in mühsamem Ringen sich zum Licht empor arbei-tet?«

»Vergessen?« fragte sie, den weichen Blick in seinAuge tauchend, »vergessen? – Erinnere ich mich dennnicht jenes Traumes nur noch mit Abscheu und Schau-der? – was ist ein in tausend Facetten geschliffenesGlas im Vergleich zu dem wahren Edelstein? Oh, daßich sogleich ein Herz gefunden hätte, wie das Ihrige! –jetzt – was habe ich Ihnen noch zu bieten? Wenn ichjene Beweise nicht wiedererlange, nicht einmal einenreinen Namen! Oh, wenn ich nur wenigstens vor Ihnenmein Recht nachweisen könnte! Doch so –«

»Louise,« rief er mit warmem und fast wieder ganzheiterem Blick, »wenn also die Waffen zur ErkämpfungIhres Rechts in Ihren Händen sind, wenn das um Siegesponnene Gewebe der Bosheit zerrissen wird, dann– dann darf ich hoffen?«

»Dann, mein Freund,« sagte sie mit niedergeschlage-nen Augen und einem reizenden Lächeln, »dann darfich glücklich sein – und versuchen, glücklich zu ma-chen! Aber ach –«

»Wollen Sie mir nun erlauben, für Sie zu handeln?«fragte er, »lassen Sie mich nachdenken, wie man ambesten Ihre Sache führt, ich bin ein Mann, ich habe

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Entschluß und Willen wie Sie, aber vielleicht mehr Le-benserfahrung und gewiß mehr Kraft! In einigen Tagenwerde ich Ihnen sagen, was ich zu thun gedenke.«

»In wessen Hände könnte ich mein Recht und meineEhre besser und sicherer niederlegen als in die Ihri-gen?« fragte sie.

»Nun aber heute nichts mehr davon!« rief er heiter,»ich wollte die Hoffnung von hier mitnehmen, und Siehaben sie mir gegeben, anders zwar, als ich gedacht,aber vielleicht reicher und schöner, gilt es doch, fürmein Glück zu ringen – und der Schwäche und Un-schuld gegen Hinterlist und Verrath beizustehen!«

»Edler Freund!« rief sie, seine Hand ergreifend undan ihre Brust drückend. Er folgte dieser Bewegung –leise senkte sie ihr Haupt ihm entgegen, und ihre Lip-pen begegneten sich in einem langen Kusse.

»Jetzt,« rief er, als sie sich in reizvoller Verwirrungwieder aufrichtete, »lassen Sie uns den Kranz vollen-den, er soll für mein ganzes Leben ein heiliges Symbolder Erinnerung bleiben.«

Und er reichte ihr Blüthe um Blüthe, Reis um Reis,unter leisem süßen Geplauder wurde der Kranz vollen-det, dann gingen sie zurück zu ihrem einfachen Früh-stück, und als sie endlich am Abend nach diesem Fest-tage in der schönen, freien Natur in ihre enge Woh-nung in der Rue Mouffetard zurückkehrten, da konn-te die gute Madame Raimond sich nicht genug freuen

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über die glückliche, zufriedene Miene der ihr so liebgewordenen Hausgenossen.

Beide aber sprachen wenig, sie waren so müde vonihrem Spaziergange, wie sie sagten, und bald zogen siesich in ihre Zimmer zurück.

Lächelnd sah ihnen die alte Frau nach.»Ich glaube, sie haben sich verständigt,« flüsterte sie,

»nun, Gott gebe seinen Segen dazu, sie werden ein bra-ves, fleißiges Paar sein, da müssen sie ja glücklich wer-den.«

George ging noch lange sinnend und oft in abgebro-chenen Worten mit sich selbst sprechend auf und nie-der. Endlich schienen seine Gedanken eine feste Formangenommen zu haben.

»Ich werde zeigen,« sprach er, »daß auch ein armer,niedriger Arbeiter das Opfer des Verraths der Vorneh-men und Mächtigen schützen kann.«

Er legte sich nieder, und leise hauchte er: »GuteNacht, Louise!«

Die junge Frau hatte sich rasch entkleidet. Ihre klei-ne Lampe stand neben ihrem Bett, und sinnend lag sieda, den schönen Kopf in das einfache, weiße Kissen ge-drückt.

Triumphirende Freude leuchtete aus ihren dunklen,dämonisch glänzenden Augen.

»Das Schwerste ist gethan,« sagte sie mit zufriede-nem Lächeln, »wenn er reüssirt, so bin ich hoffentlich

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bald aus diesem traurigen Leben erlöst, ich werde mei-ne erste Aufgabe erfüllen, dieser stolze Graf wird se-hen, daß meine Kraft wohl ein Bündniß werth ist, war-ten wir die Zeit ab, vielleicht wird er einst noch sichbeugen, bitten müssen um meine Hilfe.«

Sie löschte ihre Lampe aus, und die Bilder ihrerPhantasie vermischten sich mit den Träumen ihresSchlummers – Träumen von Licht, Glanz und stolzerHerrschaft.

SIEBENUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Im hellen Lichte der Kerzen und der großen Lampenstrahlten die Appartements der Kaiserin Eugenie in denTuilerien. Es war einer jener intimen kleinen Montags-bälle, welche, ohne eigentlich officiellen Charakter, umdie schöne und anmuthige Herrscherin von FrankreichAlles vereinigten, was die Spitzen der Gesellschaft vonParis bildete, und was die Kaiserin mit ihrer besonde-ren Aufmerksamkeit bevorzugte.

Man sah hier die Herren von der Diplomatie unddie ersten Würdenträger gemischt mit Künstlern undSchriftstellern – Alles trug den einfachen schwarzenFrack, es war eben ein intimer Kreis, aus welchemdie glänzende, feierliche Etiquette verbannt sein soll-te, und in welchem die Kaiserin nur den Herrscherstabdes Geistes, der Anmuth und der heiteren Geselligkeitin leichter Hand halten wollte.

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Man tanzte in der kleinen Gallerie, welche an die Ge-mächer der Kaiserin stieß; ein Flor der schönsten jun-gen Damen in leichten, duftigen Toiletten, bei welchendie schwere Pracht der großen officiellen Feste ausge-schlossen war, bewegte sich dort in den anmuthig ver-schlungenen Touren des Cotillon, welchen der Marquisde Caux und Mr. Jerningham, der Attaché der engli-schen Botschaft, mit unermüdlichem Eifer leiteten.

Auf einem kleinen Divan in ihrem Salon saß die Kai-serin Eugenie in einem meergrünen Kleid von wunder-bar schillernder Farbe, umhaucht von einer Wolle jeneszarten Spitzengewebes, das zu allen Zeiten der Gegen-stand der Bewunderung und der Wünsche der Damenwar, und dessen feenhaft zierliche Muster die schlan-ken Hände der la Vallière umspielten, um die vollenSchultern der Dubarry wehten, das edle Gesicht Ma-rie Antoinettes umschlossen, und noch bei der Toilet-te kommender Generationen ihren unbestritten erstenPlatz behaupten werden. Die volle blonde Haarkroneder Kaiserin trug einfache Schleifen von der Farbe ihrerRobe, durch eine Agraffe von Perlen und Smaragdengehalten, in der Hand hielt sie ein kleines Bouquet vonhalb erblühten Theerosen und Veilchen, heitere Fröh-lichkeit strahlte von ihrem klassisch schön geschnitte-nen Gesicht, und mit leuchtendem Blick sah sie überdie Gesellschaft hin, welche in ungezwungenen Grup-pen sich unterhielt.

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Um die Kaiserin her saßen auf Tabourets die Damenihres vertrautesten Cirkels in ebenso leichten und ein-fachen Toiletten, und es war in der That ein bezaubern-der Kranz von Schönheiten, der sich da um FrankreichsHerrscherin vereinigte. Eugenie liebte die Schönheit,in der Natur, in der Kunst und bei den Menschen, siescheute sich nicht, sich mit den reizendsten und fri-schesten Gesichtern zu umgeben, sicher, daß sie nichtverdunkelt werden, sondern nur um so glänzender er-scheinen würde; da saß neben ihr die Gräfin Walew-ska, die Herzogin von Mouchy, die wunderbar schöneMadame Kanisy – Fräulein Haußmann, welche späterMadame Dollfus wurde, eine reizende, frisch blühendeErscheinung.

Die Kaiserin hatte den Platz neben sich auf dem Di-van der Prinzessin Charlotte Bonaparte, einer schönenFrau mit großen, lebhaften und geistvollen Augen ein-geräumt, welche soeben mit ihrem Gemahl, dem Gra-fen Primoli, in den Salon getreten.

»Nun, meine liebe Cousine,« fragte Eugenie mit hei-terem Ton, »was macht die Ausstellung? Sie interessi-ren sich so lebhaft dafür, ich bin noch wenig dort ge-wesen, es geniert mich, ja, wenn man ganz unerkannteinmal hingehen könnte!«

»Warum sollten Ew. Majestät das nicht können?«fragte die Prinzessin, »es wäre ja nichts Außergewöhn-liches.«

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»Oh, es wäre allerliebst!« rief Madame Kanisy, »Ew.Majestät sollten –«

»Man würde mich erkennen,« sagte die Kaiserin, denKopf emporwerfend, mit stolzem Lächeln, »und dann,was würde man für Erzählungen davon machen! –nein, nein, das geht nicht.«

»Apropos,« sagte sie abbrechend, »haben Sie dieFestkantate gelesen, welcher man den Preis ertheilthat? Sie ist von Herrn Romain Cornut gedichtet undin der That sehr sinnig und schön. Sie heißt die ›Hoch-zeit des Prometheus‹ und schildert die Vermählungsfei-er des mythologischen Halbgottes mit der Menschheit– der Humanitas, welche ihn durch die Friedensverei-nigung der Weltausstellung erlöst hat, und die auf demMarsfelde versammelten Völker singen den Hochzeits-gesang. Sie ist für Orchester, Chöre und zwei Solis ge-schrieben und man erwartet nun die Preisbewerbungfür die Composition.«

Sie winkte mit ihrem Bouquet dem Fürsten Metter-nich, der sich soeben von einer Gruppe getrennt hat-te und in der Nähe stand. Der Fürst, eine eleganteErscheinung mit blassem, geistvoll heiterem Gesicht,dünnem Haar und starkem Backenbart, das große, ro-the Band der Ehrenlegion unter dem nach der damalsneuesten Mode mit schwarzem Sammt aufgeschlage-nen Frack, trat eilig in den Kreis der Damen um denDivan der Kaiserin.

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»Wir sprechen von der ›Hochzeit des Prometheus‹,mein lieber Fürst,« sagte Eugenie lächelnd, »wollen Siesich nicht um den Preis der Composition bewerben, ichbin überzeugt, Sie würden alle anderen Bewerber ausdem Felde schlagen,« fügte sie artig hinzu.

»Der arme Prometheus, Madame,« erwiederte derFürst, »ist bereits einmal von Herkules befreit, und ichwage es nicht, mich mit einem solchen Konkurrenten– wenn auch nach dreitausend Jahren – in die Schran-ken zu stellen, übrigens weiß ich kaum, ob zu einersolchen Hochzeit eine Jubelkantate am Platze wäre.«

»Warum nicht?« fragte die Kaiserin, »geben Sie Acht,meine Damen, der Fürst wird uns eine kleine Bosheitsagen, sehen Sie seine sarkastische Miene.«

»Dann werde ich schweigen,« sagte der Fürst, sichverneigend.

»Nein, nein,« rief die Kaiserin, »jetzt sollen Sie sa-gen, was Sie denken, wir sind in der Majorität; warumsoll der arme Prometheus keine Jubelkantate zu seinerHochzeit mit der Menschheit haben?«

»Wenn,« sagte der Fürst lächelnd, »die ganze Huma-nitas neben den liebenswürdigen Eigenschaften allerFrauen der ganzen Welt auch deren Launen in sich ver-einigt, so –«

»Wie boshaft!« rief die Kaiserin.»Wir werden das der Fürstin erzählen,« sagte die

Gräfin Primoli, »sie soll uns rächen!«

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»Übrigens,« fuhr Fürst Metternich fort, »hat auchVictor Hugo eine Art von Manifest über die Ausstel-lung erlassen, bei Gelegenheit des Vorworts zum Füh-rer durch die Weltausstellungsräume, er sagt: Frank-reich lebe wohl, man trennt sich von seiner Mutter, dieeine Göttin wird; wie Rom die Christenheit wurde, sowird Frankreich die Menschheit! – da ist also diese Hu-manitas schon ein Wenig eingeschränkt, und Prome-theus hat jedenfalls nur mit ihren liebenswürdigstenRepräsentantinnen zu thun!«

»Der Fürst will uns durch seine Galanterie wiederversöhnen,« sagte die Gräfin Walewska, »schade, daßdieser arme Victor Hugo vom politischen Wahnsinn er-griffen ist; ein Dichter, wie er, sollte sich nie um diePolitik kümmern, auch der Gedanke in diesem Mani-fest ist schön und groß, denn Frankreich ist doch einWenig das Herz der Menschheit,« fügte sie mit einemlächelnden Blick auf den österreichischen Botschafterhinzu.

»Wenigstens,« sagte dieser, »räumt es an seinemgastlichen Heerde der ganzen Menschheit mit so vielLiebenswürdigkeit einen heimischen Platz ein, daß wiralle ihm dankbar sein müssen. Lord Brougham, Maje-stät,« fuhr er fort, »sagt einmal: »Jeder Mensch hat einedoppelte Heimath, die eine ist in seinem Vaterland« –die zweite in Paris.«

»Das ist hübsch,« sagte die Kaiserin, anmuthig denschlanken Hals neigend, »und auch ein Wenig wahr, ich

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wünsche, lieber Fürst, daß wir Sie noch recht lange inIhrer zweiten Heimath Paris behalten. – Doch,« rief sie,»ich muß in der That bald eine gründliche Besichtigungdieser wunderbaren Ausstellung vornehmen, wenn Ih-re Kaiserin kommt, muß ich vorbereitet sein, die Füh-rerin Ihrer Majestät zu machen.«

Ein schneller, forschender Blick ihres Auges richtetesich auf den Fürsten.

Dieser erwiederte, ohne daß eine Muskel seines hei-teren, lächelnden Gesichts zuckte:

»Meine erhabene Souverainin wird glücklich sein,an der Hand Ew. Majestät die Wunder der Ausstellungkennen zu lernen, wenn ihre Gesundheit es ihr möglichmacht, den Kaiser auf seiner Reise hierher zu begleiten.Die Kaiserin wird nach Ischl gehen.«

»Ich hoffe von Herzen auf einen guten Erfolg derKur,« sagte Eugenie, »denn ich würde es tief bekla-gen, wenn mein Wunsch, diese liebenswürdige Kai-serin hier zu sehen, nicht in Erfüllung ginge. – Ah,«rief sie, sich unterbrechend, »dort sehe ich den GrafenGoltz, ich habe ihm einen Vorwurf zu machen! Kom-men Sie, mein Herr Botschafter, ich muß Sie schelten,«rief sie einem Manne von ungefähr sechzig Jahren zu,der in der Thür des Salons erschienen war, und des-sen Haltung sowohl wie sein frisch aussehendes Ge-sicht ohne die graue Farbe des militairisch gehaltenenSchnurrbarts und des kurzen Haares sein Alter nichthätte erkennen lassen.

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Der preußische Botschafter trug das große rotheBand der Ehrenlegion, sein kleines, etwas verschleier-tes, aber scharf umherblickendes Auge ruhte auf derGruppe der Kaiserin, und bei dem ersten an ihn ge-richteten Wort trat er eilig in den Damenkreis, welcherdie schöne Beherrscherin Frankreichs umgab.

»Ew. Majestät haben mir einen Vorwurf zu machen?«fragte er in scherzhaftem Tone, durch welchen indeseine kleine Nüance wirklicher Bestürzung hindurch-klang. – »Ew. Majestät wissen, daß es genügt, den Ge-genstand Ihrer Unzufriedenheit anzudeuten, um mei-nen ganzen Eifer –«

»Meine Unzufriedenheit,« sagte die Kaiserin, »giltnicht dem so liebenswürdigen und chevaleresken Gra-fen Goltz, sondern dem preußischen Botschafter.«

Der Graf sah mit tiefem Erstaunen in die ernsten Zü-ge der Kaiserin, in deren Gesicht nur fast unmittelbarum die feinen Mundwinkel eine scherzhafte Heiterkeitspielte.

Fürst Metternich warf einen raschen Blick auf denpreußischen Botschafter und wendete sich, ihm denPlatz vor der Kaiserin überlassend, zur Gräfin Walew-ska.

»Ich wüßte in der That nicht, Madame,« sagte GrafGoltz ganz betroffen.

»Ja, ja,« fuhr Eugenie fort, »ich bin sehr böse auf IhreLandsleute, die mir die schöne Ausstellung in Gefahrbringen!«

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»Ich wüßte nicht, worüber Ew. Majestät –« rief GrafGoltz.

»Sehen Sie, lieber Graf,« sagte die Kaiserin, »aus al-len Ländern sendet man so reizende, wunderhübscheSachen zu dieser Ausstellung, dem großen Werke desFriedens, des Friedens, den ich so sehr liebe und denich immer bewahren möchte,« fuhr sie seufzend fort,»es sind da schöne, kunstvolle Erzeugnisse der Indu-strie, mit denen ich später meine Zimmer erfüllen will,denn ich werde meine Schatulle in Einkäufen erschöp-fen, und nun – mitten in diese Vasen, Teppiche, Gemäl-de, in diese Gegenstände des Luxus und Comforts allerNationen, was sendet man uns aus Ihrem Vaterlande,wie ich heute gehört habe? Eine Kanone, eine Riesen-kanone, ein Ungeheuer, das wie eine finstere Mahnungdes Kriegsgottes in all dieses fröhliche Leben hinein-ragt, oh, ich werde gar nicht mehr hingehen können,denn wenn ich den ungeheuren Schlund dieses Mord-werkzeugs sehe, so würde ich mich an all den Jam-mer und alle die Leiden erinnern müssen, welche einSchuß dieses fürchterlichen Rohrs unter armen, un-glücklichen Menschen anrichten müßte.«

Graf Goltz lachte.»Wenn alle Zerstörungswerkzeuge so wenig gefähr-

lich wären, Madame,« sagte er, »als diese große Ka-none aus den Werkstätten des Herrn Krupp, so wäre

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die Menschheit wenig bedroht. – Um dieser drohen-den Maschine Leben zu geben,« fuhr er ein Wenig ern-ster fort, »dazu gehörte der Wille derjenigen, welchedie Schicksale der Nationen lenken, und dieser Wil-le ist nicht vorhanden, im Gegentheil, der Geist desFriedens, welcher die an dem gastlichen Heerde vonFrankreich vereinigten Völker erfüllt, beseelt auch dieHerzen der Souveraine.«

»Gott sei Dank, daß es so ist!« rief die Kaiserin, »ichwenigstens kann niemals ohne Schaudern an den Kriegdenken, der eine Abnormität ist in unserem Zeitalterder Civilisation und Humanität.«

Fürst Metternich hatte nach einigen mit der GräfinWalewska gewechselten Worten sich in leichter undnatürlicher Bewegung aus dem Kreise der Kaiserin ent-fernt.

»Ich höre mit besonderer Freude,« fuhr Eugenie fort,»daß wir in Kurzem bereits den Kronprinzen erwartendürfen?«

»Seine Königliche Hoheit hat seine Ankunft in na-he Aussicht gestellt,« erwiederte der Botschafter, »dochbittet der Kronprinz, wie ich bereits den Kaiser habewissen lassen, daß es ihm erlaubt sei, ganz still im Bot-schaftshôtel zu bleiben und die Ausstellung zu studi-ren, bis zur Ankunft Seiner Majestät.«

Die Kaiserin neigte mit anmuthigem Lächeln denKopf.

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»Wir werden die Zurückgezogenheit des Prinzen re-spectiren,« sagte sie, »und ihn nur bitten, uns zuweilenin ganz vertraulichem Kreise seine liebenswürdige Ge-sellschaft zu schenken, wie freue ich mich,« fuhr sielebhafter fort, »Seine Majestät hier zu begrüßen, die-sen ritterlichen Herrn, dessen Jugendfrische des Altersspottet, hoffentlich,« fuhr sie wie zu sich selbst spre-chend fort, »wird seine Anwesenheit allen Pessimistenbeweisen, daß der Friede Europas gesichert ist.«

»Ew. Majestät werden doch die bösartigen Stim-men nicht beachten, welche diesen Frieden erschütternmöchten?« rief Graf Goltz.

»Es giebt so viele Personen, welche den Frieden stö-ren möchten,« sagte die Kaiserin, »ja – wenn alle däch-ten wie Sie,« fügte sie mit einem langen Blick auf denBotschafter hinzu.

Graf Goltz wollte etwas erwiedern, da trat, von Mr.Jerningham geführt, noch glühend und tief athmendvon dem eben beendeten Tanz, die schöne Spanierinvon der Insel Cuba, Fräulein Erazo, aus der Gallerie zudem Cirkel der Kaiserin heran.

»Setzen Sie sich, meine Liebe,« sagte Eugenie, aufein Taburett deutend, »Sie haben wieder zu viel ge-tanzt, ich werde das ein Wenig einschränken müssen!«

Die junge Dame setzte sich neben die Gräfin Walew-ska – Mr. Jerningham zog sich zurück.

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Der Huissier mit der großen Kette auf den Schul-tern, welcher am Eingang des an den Salon der Kai-serin stoßenden Zimmers stand, öffnete die Flügel derThür und rief mit seiner vollen, klaren Stimme:

»Der Kaiser!«Schnell erhob sich die Kaiserin mit ihren Damen. Sie

ging langsam nach der Thür des nächsten Zimmers, inwelchem Napoleon III. erschien, begleitet vom Gene-ral Fleury, einem starken, gedrungenen Mann mit vol-lem Schnurrbart und Knebelbart und eleganter, aberein Wenig theatralischer Haltung.

Der Kaiser trug schwarzen Salonanzug mit dem Ban-de der Ehrenlegion. Er begrüßte die Kaiserin mit Herz-lichkeit und reichte ihr den Arm, um sie zu ihrem Divanzurückzuführen.

Nachdem er die Prinzessin Charlotte begrüßt undmit der Gräfin Walewska einige Worte gewechselt hat-te, wendete er sich zu Fräulein Erazo, und indem derBlick seines hell aus den geöffneten Augenlidern her-vorstrahlenden Auges über die schöne Gestalt der sichtief verneigenden jungen Dame glitt, sagte er:

»Ich sehe mit Freuden, daß die schöne Rose von Cu-ba sich auf dem Boden Frankreichs acclimatisirt, sieblüht in immer reizenderer Pracht.«

Fräulein Erazo erhob ihren gesenkten Blick zur Kai-serin, welche scharf beobachtend zu ihr herübersah,und antwortete mit Betonung:

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»Sire, wer von spanischem Boden stammt, muß sichja in Frankreich heimisch fühlen, da das edelste BlutSpaniens den Thron von Frankreich ziert!«

Die Kaiserin erhob sich.»Ich will ein Wenig mit aller Welt plaudern,« sagte

sie lächelnd, mit einer leichten Verneigung gegen denKaiser. »Man erwartet, daß wir eine Tour durch die Ge-sellschaft machen.«

Und langsam bewegte sie sich, bald an den einen,bald an den anderen einige Worte richtend, durch denSalon nach der Richtung der Gallerie, in deren Thürder Graf Rivero stand, mit dem ruhigen Blick seinesdunklen Auges die einzelnen Gruppen beobachtend.

Ein fröhliches Lachen ertönte aus einer Gruppe inder Nähe des Kaisers. Napoleon, dessen Conversationmit Fräulein Erazo der Aufbruch der Kaiserin beendethatte, wendete sich dorthin und erblickte die FürstinMetternich, umgeben von drei Würdenträgern des Kai-serreichs, dem Marschall Niel, dem Minister des öffent-lichen Unterrichts, Herrn Durny, und dem Minister deröffentlichen Arbeiten, Herrn Forcade de la Roquette.

Die Fürstin, in leichter, heller Toilette, das schöne,dunkle Haar in einfachen Flechten geordnet, mußte so-eben eines ihrer so treffenden und originellen Bonmotsgesagt haben, ihre geistsprühenden großen Augen fun-kelten, und um ihre frischen, vollen Lippen spielte einLächeln voll Humor und Laune. Der elegante Forcadede la Roquette lachte herzlich, der ernste Durny nicht

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minder, und auch das kränkliche, militairisch strengeGesicht des Marschalls Niel strahlte von Heiterkeit.

Rasch trat der Kaiser heran und reichte der graciössich verneigenden Fürstin die Hand, während die dreiHerren einen Schritt zurücktraten.

»Darf ich fragen, Frau Fürstin,« sagte Napoleon,»wodurch Sie meine ernsten Minister in eine so au-ßergewöhnliche Heiterkeit versetzt haben? Ich bedarfebenfalls eines solchen Arkanums unter der ermüden-den Last der Tagesgeschäfte, und ich hoffe, Sie werdenes mir nicht vorenthalten!«

»Ach Sire,« erwiederte die Fürstin, »ich habe denHerren eine sehr ernsthafte und sehr ernst gemeinteBemerkung über die Bezeichnung ihrer Portefeuillesgemacht, und statt mir recht zu geben, lachen sie –das ist nicht sehr galant, meine Herren!«

»Die Frau Fürstin,« sagte der Marschall Niel, zumKaiser herantretend, »hat uns für unsere Functionenneue Namen gegeben, die –«

»Die viel einfacher und passender sind als die langenofficiellen Benennungen,« rief die Fürstin, »Seine Ma-jestät soll entscheiden, und ich bin gewiß, der Kaiserwird die einfache Bezeichnung acceptiren. Ich bitte Ew.Majestät, zu bemerken,« fuhr sie fort, »wie langweiligund schwer zu sagen es ist: Minister des öffentlichenUnterrichts usw. usw., Minister der öffentlichen Arbei-ten usw., da ist es doch viel besser und gleichmäßiger,wenn man ganz kurz sagt – sie zeigte auf Herrn Durny:

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– »Ministre de l’instruction publique« und,« fuhr sie, aufHerrn Forcade de la Roquette deutend fort: »Ministrede la construction publique, und endlich,« sie machtelächelnd dem Marschall Niel ein tiefes Compliment:»Ministre de la destruction publique!«

»Fürstin, Fürstin,« sagte der Kaiser lachend, »ich bit-te um Schonung für meine Minister und Marschälle.«

»Sire,« erwiederte die Fürstin, mit unendlich schalk-haftem Blick zum Kaiser hinüberblickend, »Ew. Maje-stät wissen: Rien n’est sacré pour un sappeur!«

»Sie sehen, mein lieber Marschall,« sagte der Kaiser,die Achseln zuckend, »Sie müssen sich auf Gnade undUngnade ergeben, ich vermag Sie nicht zu schützen!«

»Sire,« rief die Fürstin rasch, »der Marschall mußwährend der Ausstellung seine Herrschaft aufgeben,jetzt herrscht der Friede, da können wir keine destruc-tion publique brauchen!« Rasch abbrechend fügte siehinzu, indem sie einen raschen Blick nach der Stellewarf, wo soeben noch die Kaiserin gesessen, und wojetzt die Gräfin Walewska mit Fräulein Erazo sich un-terhielt, »ich bin entzückt von dieser jungen Schönheitvon Cuba, ich habe eine besondere Leidenschaft fürschöne Damenerscheinungen.«

»Das ist Ihre Welt,« sagte der Kaiser galant.

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»Ich bin jedesmal entzückt,« fuhr die Fürstin ohnedarauf zu erwiedern, fort, »wenn ich die reizenden Er-scheinungen sehe, mit welchen Ihre Majestät die Kai-serin sich hier in ihrem kleinen Cirkel umgiebt, des-halb liebe ich diese Montage so sehr, hier sieht man nurdie Blüthe der Anmuth, während man bei den großenReceptionen sich in feierlicher Steifheit umgeben siehtvon allen diesen diamantfunkelnden Damen voll Wür-de und schweigender Grandezza – qui montrent gratisdes figures, qu’on irait voir pour de l’argent!« –

»Erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe,« sagte derKaiser lachend, »wenn ich Ihnen meine Marschälle undMinister preisgeben muß, gegen die Damen darf ichNichts anhören.«

Mit artiger Verbeugung wendete er sich um und tratzu dem allein in der Nähe stehenden Gesandten Itali-ens, dem Ritter Nigra, einem schlanken, äußerst ele-ganten Mann von etwa vierzig Jahren mit blassem,intelligentem Gesicht, einem vollen, dunklen Schnurr-bart und vollem, sorgfältig geordnetem Haar.

»Ich freue mich,« sagte der Kaiser, »Ihnen noch per-sönlich zu dem erfreulichen Ereigniß in der Familie Ih-res Souverains meinen Glückwunsch aussprechen zukönnen, der Prinz Napoleon wird dem Könige meineGlückwünsche überbringen, die Vermählung des Her-zogs von Aosta ist auf den 30. Mai festgesetzt – nichtwahr?«

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»Zu Befehl, Sire,« erwiederte Herr Nigra, »die Festewerden sehr glänzend sein, die ganze Nation nimmtden innigsten Antheil an dieser Verbindung, welche sorecht eigentlich eine nationale ist.«

»Ich hoffe, das junge Paar wird die Ausstellung be-suchen?« sagte der Kaiser.

»Die Herrschaften werden zunächst nach dem Lust-schloß Stupinigi sich begeben und dort während derFestlichkeiten residiren. Dann werden sie den ehema-ligen Palast Durazzo beziehen, der reizend am Strandedes Meeres gelegen ist,« erwiederte Herr Nigra.

»Nun vielleicht finden sie die Zeit zu einer Reise hier-her,« sprach Napoleon weiter, »der Prinz Humbert wirdja wohl bald uns die Freude seiner Ankunft machen?«

»Soviel ich weiß, Sire, denkt Seine Königliche Ho-heit sogleich nach den Hochzeitsfesten hierher zu kom-men.«

»Ich hoffe,« sagte der Kaiser mit einem schnellenBlick auf den Gesandten, »daß auch der Erbe IhresThrones bald, dem Beispiele des Herzogs von Aosta fol-gend, Gelegenheit zu frohen Festen geben wird, ich ha-be in dieser Beziehung einiges gehört, verfrühte Nach-richten vielleicht, aber ich würde mit höchster Freudeeine Verbindung begrüßen, von der ich eine Andeu-tung erhielt.«

»Sire,« erwiederte Herr Nigra, indem sein klares,kluges Auge mit vollster Ruhe dem Blick des Kaisersbegegnete, »ich weiß durch Privatbriefe von Hause,

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daß eine Verbindung von verschiedenen Personen ge-wünscht wird, welche außer der persönlich vortreffli-chen Wahl zugleich eine hervorragend politische Be-deutung in einer Richtung hätte, welche mir immer alsdie heilsamste für mein Vaterland erschienen ist. Offi-ciell weiß ich darüber nichts, wenn aber Ew. Majestätwünschen, daß ich –«

»Ich danke Ihnen,« erwiederte Napoleon mit feinemLächeln, »man muß die Dinge sich entwickeln lassen,es freut mich,« setzte er hinzu, »daß ich meine ganzpersönliche Ansicht von Ihnen getheilt finde.«

Und mit leichter Neigung des Kopfes machte er ei-ne Wendung, durch welche er sich dem Marschall MacMahon gegenüber befand.

Auf einen Wink des Kaisers trat der Herzog vonMagenta zu ihm heran. Dieser populärste GeneralFrankreichs war hier im schwarzen Civilanzug einedurchaus andere Erscheinung, als zu Pferde an derSpitze der Truppen. Die schlanke, magere Gestalt hatteeine fast unsichere Haltung, auf dem durchsichtig blas-sen Gesicht mit dem blonden Schnurrbart und den ver-gißmeinnichtblauen Augen lag ein Ausdruck von ver-legener Bescheidenheit – kaum hätte jemand in die-sem stillen, einfachen Mann den Marschall wiederer-kannt, der ihn gesehen, wenn er auf schnaubendemPferde in kühnen Lançaden vor bei Front der Trup-pen hinsprengte, das Auge flammend und blitzend und

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mit dem ehernen Ton seiner Commandostimme weit-hin die Bewegungen der Bataillone lenkend.

»Wie gefällt sich die Herzogin in Paris?« fragte derKaiser, dem Marschall die Hand reichend, »ich hoffe,sie vermißt in unsern engen Straßen nicht zu sehr diefeenhafte Scenerie ihrer orientalischen Residenz!«

»Sire,« erwiederte der Marschall mit jenem leisen,sanften Ton, der ihm in der Conversation eigen war,»die Herzogin genießt in vollen Zügen die Freude, sichim Mittelpunkte der Gesellschaft zu befinden, in Al-gier hat man bei aller orientalischen Pracht doch auchin hohem Grade die orientalische Einsamkeit und Be-schaulichkeit. Ich für meine Person sehne mich freilichzurück, dort bin ich in meinem militairischen Element,auf diesem großen Exerzierplatz der französischen Ar-mee, den uns freilich die Herren von der Feder mit ih-ren national-ökonomischen Projecten und Theorien jaauch nehmen wollen.«

Der Kaiser drehte den Schnurrbart. »Glauben Siedenn nicht, mein lieber Marschall,« fragte er, »daß die-se von der Natur so hoch begabte Provinz, welche infrüheren Culturperioden auf einer so hohen Stufe derökonomischen Entwicklung stand, für Frankreich bes-ser und productiver nutzbar gemacht werden könnte?«

»Ich wage darüber kein Urtheil, Sire,« sagte der Mar-schall, »da ich dazu nicht competent bin, was ich aberbeurtheilen kann und wovon ich fest überzeugt bin, ist,daß Algerien vollständig militairisch organisirt bleiben

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muß, wenn die französische Armee den ungeheurenVortheil einer großen Lagerschule behalten soll. Ob ei-ne national-ökonomische Kolonisation unter der mili-tairischen Verwaltung gedeihen kann, ist mir zweifel-haft, gewiß aber ist, daß Frankreich reich genug ist,um keine zweifelhaften ökonomischen Vortheile zu su-chen, wenn dafür ein großes, wichtiges militairischesPrincip aufgegeben werden muß.«

»Und Chalons?« fragte der Kaiser, »dort haben wir jaunser Übungslager.«

»Chalons, Sire,« erwiederte der Marschall, »ist einParquet im Vergleich mit Algerien.«

»Nun,« sagte der Kaiser lächelnd, »diese Projectesind ja noch in weitem Felde und Sie wissen, mein lie-ber Marschall, die Feder arbeitet nicht so rasch wie derDegen. – Zunächst haben wir,« fuhr er mit etwas ge-dämpfter Stimme fort, »hier die Organisation der Ar-mee. Die Commission des Corps législatif hat mit demStaatsrath das Gesetz noch einmal überarbeitet, ichwerde Sie bitten, den Entwurf ebenfalls auch einmalzu lesen, und in einigen Tagen wollen wir ausführlichdarüber sprechen.«

»Ich stehe zu den Befehlen Ew. Majestät,« sagte derMarschall, sich verneigend, »wenn ich auch kaum denso richtigen und tief durchdachten Ideen des MarschallNiel etwas Neues hinzuzufügen im Stande sein dürfte.«

»Bazaine wird kommen,« sagte der Kaiser, »ich hoffeauch seine Meinung zu hören, er hat Gibraltar passirt.«

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Der Herzog schwieg.»Auf Wiedersehen, mein lieber Marschall,« sagte der

Kaiser, »ich hoffe die Herzogin noch zu begrüßen.«»Sie ist in einem der anderen Salons,« sagte der Mar-

schall, »und wird glücklich sein, Ew. Majestät ihren Re-spect zu bezeigen.«

Napoleon neigte das Haupt. Der Marschall trat zu-rück.

Der Kaiser ließ den Blick über die in der Nähe be-findlichen Personen streifen und trat dann zu einemgroßen jungen Manne von athletischem Wuchs mitdichtem schwarzen Haar und starken, aber schönenund intelligenten Zügen hin, der, die Annäherung Na-poleons bemerkend, ihm schnell entgegen kam undmit tiefer Verbeugung vor ihm stehen blieb.

»Wie geht es, mein junger Heißsporn?« sagte derKaiser freundlich lächelnd, »Sie tauchen Ihre Feder inFeuer und setzen meine Diplomatie in Verlegenheit.«

»Sire,« erwiederte Paul de Cassagnac, der junge Re-dakteur des Pays, »ich glaube, daß die Presse Ew. Maje-stät am besten nützt, wenn jeder Journalist seine wah-re und wirkliche Überzeugung ausspricht, wohlan, ichhabe meine Überzeugung – und ich sage sie.«

»Ich achte jede Überzeugung,« sagte der Kaiser, in-dem sein Blick wohlgefällig auf der kräftigen Gestaltund dem offenen, freien Gesicht des jungen Mannesruhte, »besonders diejenige eines so guten Franzosenund so ergebenen Freundes wie Sie, aber Sie sind noch

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sehr jung – und in der Jugend ist das Blut heißer undder Puls schlägt schneller als es gut ist, um die Ge-schicke der Nationen zu bestimmen. Wer regieren will,darf sich nicht hinreißen lassen, auch nicht von Gefüh-len, welche die Sympathie des Herzens für sich haben.«

»Die Weisheit Ew. Majestät wird gewiß das Besteund Würdigste beschließen,« sagte Paul de Cassagnac,»aber,« fuhr er mit einer gewissen brüsken Freiheit fort,»Ew. Majestät werden es begreiflich finden, daß meinBlut sich erhitzt, wenn ich sehe, wie man in Euro-pa anfängt Alles zu thun, was man will, ohne Frank-reich zu fragen, und wie selbst bei uns schon die Ironiesich regt, man kann das Kaiserreich angreifen, dadurchwird es nur befestigt werden, aber wenn man Scherzedarüber macht, so wird es untergraben.«

»Ein wenig betroffen blickte der Kaiser den Spre-chenden fragend an.

»Kennen Ew. Majestät die kleine Anekdote,« fuhrPaul de Cassagnac fort, »welche man sich von HerrnThiers und Herrn Rouher erzählt?«

Der Kaiser schüttelte den Kopf.»Vor einigen Tagen,« erzählte der junge Mann, »un-

terhielt sich Herr Thiers im Corps legislatif mit demStaatsminister, der ihm halb im Ernst, halb im ScherzVorwürfe darüber machte, daß der große Geschichts-schreiber Napoleons I. zu dem zweiten Kaiserreich inOpposition stünde. ›Ich erkenne alle Verdienste desKaiserreiches an‹, erwiederte Herr Thiers lächelnd,

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»vor allem hat es das Verdienst, zwei große Ministergeschaffen zu haben.‹ – Herr Rouher verneigte sich– die Bemerkung schien ihm ein Compliment zu ent-halten –, ›ich meine Cavour und Bismarck‹, fuhr HerrThiers fort, – Herr Rouher verbeugte sich nicht wieder,«sagte Paul de Cassagnac, den Kaiser scharf fixirend.

Napoleon blickte einen Augenblick finster vor sichnieder.

»Das Bonmot ist gut,« sagte er dann mit ein Weniggezwungenem Lächeln, »aber es wäre besser, dasselbenicht in die Öffentlichkeit zu bringen.«

»Sire,« sagte Paul de Cassagnac, »ich bin ein zu treu-er Anhänger Ew. Majestät, um die weise Maxime Ih-res erhabenen Oheims zu vergessen: Man muß seineschmutzige Wäsche niemals vor der Welt waschen.«

Das Gesicht des Kaisers erheiterte sich wieder, mitfreundlichem Kopfnicken wendete er sich ab undschritt dem in der Nähe stehenden Grafen Goltz ent-gegen, mit welchem er sich längere Zeit unterhielt,scharf beobachtet von den forschenden Blicken aus al-len Gruppen in der Nähe.

Die Kaiserin Eugenie hatte mit einigen Herren undDamen gesprochen und befand sich in der Nähe desGrafen Rivero, welcher in ungezwungen ruhiger Hal-tung auf seinem Platze geblieben war und ihre Annä-herung erwartet hatte.

Die Kaiserin beendete mit gnädigem Kopfnicken ih-re Unterhaltung mit dem kleinen, lebhaften Marquis

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von Chasseloup-Laubat und dessen junger, schöner Ge-mahlin, welche, in dunkle Farben gekleidet, mit ihremschwarzen Haar und ihren klassisch antiken Zügen wieein Bild schweigender Ruhe neben ihrem beweglichenGemahl erschien.

Dann trat die Kaiserin mit raschem Schritt und be-lebtem Blick dem Grafen Rivero entgegen, der nach ei-ner tiefen Verbeugung ihre Anrede erwartete.

»Ich bin sehr erfreut, Heu Graf,« sagte Eugenie, »Siehier zu sehen, Sie werden,« fuhr sie, mit einem ra-schen Blick die Entfernung der nächststehenden Per-sonen messend, mit etwas gedämpfter Stimme fort,»Sie werden gewiß meine Befriedigung theilen überdie friedliche Wendung, welche die Ereignisse genom-men haben, ich glaube,« sagte sie mit anmuthigem Lä-cheln, »ich muß Ihnen dafür besonders dankbar sein,Sie haben Ihr Wort gelöst – und ich muß es gestehen,ich bin nicht ganz frei von ein Wenig Neugier über Ih-re Mittel; die Schnelligkeit und Sicherheit des Erfolgeswaren überraschend.«

»Jeder Künstler, Madame,« sagte der Graf, »hat seinekleinen Geheimmittel, die oft sehr einfacher Natur sindund deren Kenntniß ihm seinen Erfolg sichert, würdeer sie verrathen, so würde er jene Erfolge verlieren.Ich bitte Ew. Majestät aber, überzeugt zu sein, daß al-le meine Mittel, offene und geheime, stets auf IhrenBefehl zu Ihrer Verfügung stehen.«

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Die Kaiserin blickte erstaunt auf diesen Mann, ausdessen artigen und ergebenen Worten dennoch einegewisse kalte und verschlossene Zurückhaltung hin-durchklang und dessen ruhige, überlegene Sicherheitihr immer mehr imponirte.

»Rechnen Sie stets auf meine Dankbarkeit, HerrGraf,« sagte sie, »wenn Sie irgend einen Wunsch ha-ben, den ich erfüllen kann.«

»Ich gehöre zu den wenigen Menschen,« sagte derGraf, »welche selten Wünsche haben, oder,« fuhr er miteinem leicht melancholischen Anklang in seiner Stim-me fort, »welche es verlernt haben zu wünschen, meinDenken und meine Thätigkeit gehört einer großen undheiligen Sache – der Sache der Kirche. Darin ist mirEw. Majestät Beistand ja stets gesichert.«

»Nach allen meinen Kräften!« rief die Kaiserin.»Doch,« sagte der Graf nach einem augenblicklichen

Nachdenken, »vielleicht werde ich Ew. Majestät Gütefür eine Dame meines Landes in Anspruch nehmen,welche ich zwar persönlich weniger kenne, welche miraber von Freunden dringend empfohlen ist und die densehnlichsten Wunsch hegt, Ew. Majestät vorgestellt zuwerden, die Marchesa Pallanzoni.«

»Von Ihnen empfohlen werde ich sie stets mit Ver-gnügen empfangen,« sagte die Kaiserin, »und Sie, HerrGraf, hoffe ich zu sehen, so oft Sie mir etwas mitzuthei-len haben, und ich wünsche,« fügte sie mit liebenswür-diger Artigkeit hinzu, »daß dies recht bald und recht

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oft sein möge.« Sie wendete sich zur Fürstin Metter-nich, welche sie in bei Nähe erblickte.

Nach einer Stunde zogen sich die Majestäten zurück;die Appartements der Kaiserin leerten sich und dieseglänzende Elite der Gesellschaft des Kaiserreichs roll-te in ihren Equipagen den verschiedenen Stadttheilenvon Paris zu.

Graf Goltz, der lange mit dem Kaiser gesprochen hat-te, stieg in seinen Wagen und fuhr nach kurzer Zeit inden Hof des Hôtels der preußischen Botschaft in derRue de Grenelle Saint Germain ein. »Der Geheime Ho-frath Gasperini erwartet Eure Excellenz noch,« sagteder dem Grafen die Treppe hinauf voranschreitendeDiener.

»Ich lasse ihn bitten,« erwiederte der Botschafter, in-dem er in sein Arbeitszimmer eintrat und dem Dienerseinen Hut und Überrock gab. Der Graf machte einigeSchritte durch das Zimmer.

»Ich bin überzeugt,« sagte er, »daß der Kaiser eineAllianz mit Preußen allen anderen Combinationen vor-ziehen würde, besonders, wenn Rußland fest in die-selbe mit aufgenommen würde. Er klagt fortwährend,daß jeder Schritt der Annäherung von seiner Seite kal-ter und scharfer Ablehnung begegne, es ist eine peinli-che Situation für mich. Ich habe ja hier, wie der OberstWrangel an Wallenstein sagt, nur ein Amt und keineMeinung!«

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Der Hofrath Gasperini, ein schlanker, eleganterMann mit zierlichen Bewegungen, trat ein.

»Ich habe Eure Excellenz erwartet,« sagte er, »einchiffrirtes Telegramm sagt, daß Alles für den 20. Maizur Ankunft des Kronprinzen bereitet werden soll. DieReise Seiner Majestät ist noch nicht bestimmt. Hier derdechiffrirte Text.«

Graf Goltz nahm das Papier und überflog dasselbe.»Wollen Sie morgen sogleich alle Anordnungen tref-

fen,« sagte er, »es ist ja Alles ziemlich in Ordnung – dieArrangements können in einigen Tagen gemacht sein.«

»Zu Befehl, Excellenz, die Dispositionen bleiben diebereits getroffenen?«

»Gewiß, sind sonst noch Briefe gekommen?«»Einer – auf dem bekannten Wege.« Er reichte dem

Grafen einen kleinen versiegelten Brief.»Ich danke Ihnen, lieber Gasperini – auf morgen al-

so!«Der Geheime Hofrath entfernte sich.Der Botschafter klingelte und ließ sich von seinem

Kammerdiener entkleiden, welcher die Thür nach demanstoßenden Schlafzimmer öffnete und sich ebenfallsentfernte.

In einen weiten weichen Schlafrock gehüllt, setz-te sich Graf Goltz vor seinen Schreibtisch und öffnetelangsam und vorsichtig den Brief, welchen der Gehei-me Hofrath Gasperini ihm gegeben hatte.

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Er nahm aus der ersten Enveloppe eine zweite undendlich aus dieser ein mit einer feinen Schrift beschrie-benes Papier, das er mit großer Aufmerksamkeit durch-las.

Längere Zeit blieb er noch in tiefem Nachdenken inseinen Lehnstuhl zurückgelehnt sitzen, dann öffneteer mit einem kleinen Schlüssel eine Cassette, welcheseitwärts auf seinem Schreibtisch stand, warf den Briefhinein und verschloß sie wieder.

Hierauf nahm er die Lampe, welche auf seinem Ti-sche stand und begab sich in sein Schlafzimmer, dieThür leicht hinter sich anlehnend.

Ein schwacher Schimmer des Mondlichts fiel durchden feinen Spalt, welcher die nicht ganz geschlossenenGardinen offen ließen, in das dunkle Zimmer.

Es mochte eine Stunde vergangen sein und tiefe Stil-le herrschte in dem Raume und dem daneben liegen-den Schlafzimmer, als ein leichtes, kaum merkbaresGeräusch, ähnlich dem Rascheln einer Maus, in demKamin hörbar wurde.

Wäre das Licht des Mondes heller gewesen, so hätteein an die Dunkelheit gewöhntes Auge das Ende ei-ner Strickleiter entdecken können, welche aus der Ka-minöffnung herabfiel. Einige Augenblicke später wandsich eine dunkle Gestalt in geisterhafter Stille aus demKamin hervor und trat mit unhörbarem Schritt in dasZimmer.

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Diese Gestalt blieb vor dem Schreibtisch stehen,man hätte das phosphorescirende Leuchten der Au-gen sehen können, welche die Gegenstände auf diesemSchreibtisch zu erkennen strebten.

Nach einigen Secunden erleuchtete ein plötzlicherSchein das Zimmer, George Lefranc in seinem schwar-zen Arbeitscostüm, Gesicht und Hände geschwärztvom Ruß, stand da, ein brennendes Zündhölzchen inder Hand, mit dem starren Blick seiner weit geöffne-ten Augen den Schreibtisch überblickend.

In einer weiteren Secunde hatte er gefunden, was ersuchte. Mit raschem Griff faßte er die kleine Cassette,dann zog er ein weißes Tuch aus seiner Tasche, undmit dem Zündhölzchen auf den Boden leuchtend, ver-wischte er zum Kamin zurückschreitend sorgfältig jedeschwarze Spur seiner Tritte.

Dann erlosch das Licht und Alles versank in Dunkel.Abermals hörte man jenes Geräusch im Kamin, dies-

mal ein Wenig lauter – und nach wenigen Minutenwurde die tiefe stille Nacht nur noch von den hie undda fernhin von den Straßen herübertönenden Stimmenunterbrochen.

ACHTUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Herr von Beust saß nachdenkend in dem Lehnstuhlvor seinem Schreibtisch; der Sectionschef von Hof-mann hatte soeben den Vortrag eines der zahlreichen

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Berichte beendet, welche die neben ihm stehende Map-pe enthielt, und blickte erwartungsvoll in das ern-ste, etwas ermüdete Gesicht des Ministers, der langeschweigend vor sich niedersah.

»Es ist eine sehr unangenehme Wendung,« sagteHerr von Beust endlich tief aufseufzend, »welche die-ser immer verlarvte Spieler der Politik giebt, er gehtauf dem Throne Frankreichs immer dieselben dunklenWege, die er verfolgte, um dessen Stufen zu erstei-gen! – Ich hoffte,« fuhr er fort, »durch eine vernünf-tige, in gemäßigter Berücksichtigung des Interesses al-ler Parteien vorgenommene Revision einzelner Punk-te der Verträge über den Orient den dort schweben-den Fragen ihren acut drohenden Charakter zu neh-men und zugleich die für Österreich so verhängniß-voll gespannten Beziehungen zu Rußland besser undfreundlicher zu gestalten, diese plötzliche so über al-le Grenzen des Möglichen hinausgehende Überbietungunserer Vorschläge von Paris aus verrückt das ganzeSpiel und bringt für die Stellung Österreichs geradedas Gegentheil von dem hervor, was ich zu erreichenstrebte!«

»Aber gerade diese übertriebenen Propositionen,«warf Herr von Hofmann ein, »lassen ja die ganze Fragesofort wieder von der Oberfläche der Diplomatie ver-schwinden.«

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»Doch der böse Bodensatz für Österreich bleibt zu-rück,« sagte Herr von Beust kopfschüttelnd, »der Tür-kei und England gegenüber stehen jetzt wir als diejeni-gen da, welche die beiden Mächten so unangenehmenFragen angeregt haben, und Rußland gegenüber müs-sen wir wieder die Rolle der Verhinderer seiner Wün-sche übernehmen, denn wollen wir nicht rund um un-sere Grenzen her einen flammenden Brand entzünden,so können wir doch unmöglich die französischen Pro-positionen uns aneignen. – In den christlichen Vasal-lenstaaten aber ist die Gährung stärker angeregt alsje, so ist,« sagte er, die Lippen des sonst so heiter lä-chelnden Mundes finster zusammenpressend, »die Ge-fahr vergrößert und Österreich steht isolirter da als je.«

»Man hätte in Paris vielleicht rechtzeitig darauf auf-merksam machen können,« bemerkte Herr von Hof-mann, »was kann denn Napoleon mit einer solchenPolitik beabsichtigen, er wünscht ja doch so dringendunsere Allianz?«

»Was er beabsichtigt, ist mir sehr klar,« sagte Herrvon Beust, indem ein feines Lächeln über sein Gesichtflog, »er will Österreich jeden Weg zu anderen Alli-anzen verschließen, er will uns zwingen, mit ihm zugehen, indem er uns nach allen anderen Richtungenvöllig isolirt. Nun, das ist ihm für den Augenblick ge-lungen, ich will ja auch die französische Allianz,« fuhrer etwas lebhafter fort, »aber auf einer vernünftigen,vor allem auf einer klaren Grundlage, und bis jetzt ist

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noch nichts klar nach jener Seite. Die endlich glücklichbeseitigte Luxemburger Sache –«

»Soeben ist der Bericht eingegangen,« warf Herr vonHofmann ein, »daß die Auswechslung der Ratificatio-nen des Vertrages nahe bevorstände, sodann wird dieRäumung der Festung sogleich beginnen.«

Herr von Beust neigte leicht den Kopf.»Jedenfalls bewies diese Sache, daß Napoleon, wäh-

rend er uns zu isoliren trachtet, sich selbst nach allenSeiten freie Hand zu halten beabsichtigt, die Freund-lichkeit gegen Rußland, diese gleichzeitige Anwesen-heit des Kaisers Alexander und des Königs von Preußenin Paris, die öffentliche Meinung sieht dahinter schoneine Allianz,« warf Herr von Hofmann ein.

»Wer weiß,« sagte der Minister sinnend, »die öffent-liche Meinung sieht oft schärfer als die Diplomatie. –Vielleicht trifft ihr Instinct hier weniger die Thatsachenals die Absichten. Ich glaube wenigstens, daß den Ide-en des Kaisers Napoleon eine solche Allianz nicht soganz fern liegen möchte, und gerade das macht michso vorsichtig und zurückhaltend ihm gegenüber. – DieAllianz mit Frankreich können wir nur auf fester Basiseingehen, und – nicht ohne Italien – und das,« füg-te er mit leichtem Seufzer die Achseln zuckend hin-zu, »macht noch einige Schwierigkeiten. Doch auch diewerden mehr und mehr schwinden, da ja nun die nä-here Verbindung der Höfe als gesichert betrachtet wer-den kann.«

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Er sann einen Augenblick nach, indem er die Spitzeseines kleinen zierlichen Stiefels betrachtete.

»Immerhin kann ein Versuch nicht schaden,« sagteer dann, diese gleichzeitige Anwesenheit der Souver-aine von Rußland und Preußen in Paris zu verhindern– was Österreich vor allem braucht, das ist Vertrauenzu seiner inneren und äußeren Erhebung – und denaus diesem Vertrauen entspringenden Credit,« fügte erseufzend hinzu, »und wenn jene Zusammenkunft auchnur den Glauben einer bedenklichen Isolirung Öster-reichs in Europa hervorruft, so thut sie uns schon ge-nug Schaden; man hat von Berlin aus mehrmals denWunsch betont, ein freundliches Verhältniß herzustel-len und alle übrig gebliebene Ranküne aus dem Krie-ge des vorigen Jahres verschwinden zu lassen, darankönnen wir ja anknüpfen und den Grafen Wimpffenanweisen, ganz vertraulich einige Bedenken in Bezugauf eine gleichzeitige Zusammenkunft der Monarchenvon Rußland und Preußen in Paris zu äußern. – WollenSie die Güte haben, eine Depesche in solchem Sinne zuentwerfen.«

»Sogleich, Excellenz,« sagte Herr von Hofmann.»Aber ganz vertraulich, – nur bei gelegentlicher Un-

terhaltung darf die Sache berührt werden, wir müs-sen es vollständig ignoriren können, wenn unsere Vor-stellungen keinen Erfolg haben, was ich fast fürchte. –

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Wenn nur erst irgend eine greifbare Grundlage für ei-ne gemeinsame Politik mit Frankreich geschaffen wä-re, wenn der Kaiser nach Paris geht, müssen die we-sentlichsten Punkte schon festgestellt sein, sonst wirdbei dem versteckten Spiel Napoleons und bei der miß-trauischen Zurückhaltung und der natürlichen schüch-ternen Verschlossenheit unseres allergnädigsten Herrndie Zusammenkunft erfolglos sein.«

»Wäre es nicht vielleicht besser gewesen,« sagte Herrvon Hofmann etwas zögernd, »wenn Seine Majestätvor dem Besuche des Königs Wilhelm und des Kaisersnach Paris gegangen wäre?«

»Nein,« rief Herr von Beust lebhaft, »dann wäre derBesuch ganz erfolglos gewesen, und Napoleons Hin-tergedanken hätten jede Verständigung unmöglich ge-macht. – Der Kaiser muß nach jener Zusammenkunftnach Paris gehen; entweder hat Napoleon dort etwaserreicht, nun, dann sehen wir wenigstens vollkommenklar und können unser Spiel danach einrichten, oderseine Ideen sind in’s Wasser gefallen, dann wird er mitbestimmten Propositionen hervortreten, Italien – Itali-en,« fuhr er fort, »das ist immer der Hauptpunkt, unse-re Allianz mit Frankreich kann niemals wirksam sein,solange dies Bindeglied fehlt. – Doch,« fügte er, sichunterbrechend, »der Bericht von Metternich war nochnicht zu Ende.«

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»Der Fürst berichtet noch,« sagte Herr von Hofmann,»daß die Rastatter Besatzungsfrage nunmehr Gegen-stand eines Depeschenwechsels zwischen Paris undBerlin geworden sei, Eure Excellenz erinnern sich –«

»Ja,« fiel Herr von Beust ein, »ich wollte meinerseitsdiese delicate Frage nicht anregen, da ich jetzt durch-aus keine unangenehmen Erörterungen mit Preußenwünsche, Napoleon ist ja bei dem Prager Frieden Pathegewesen, mag er zunächst seine gewissenhafte Ausfüh-rung überwachen! – Nun? –«

»Frankreich hat,« sagte Herr von Hofmann, »an-knüpfend an das Gerücht, daß Preußen die Truppen,welche es aus Luxemburg zurückziehe, nach Rastattverlegen wolle, in Berlin bemerken lassen, daß es Preu-ßen nicht das Recht zuerkennen könne, eine badischeFestung zu besetzen, es stehe das mit dem Wortlautewie mit dem Geiste des Prager Friedensschlusses imWiderspruch.«

»Und ist eine Antwort erfolgt?« fragte der Ministergespannt.

»Graf Bismarck hat sofort sehr bündig erwiedert,«sagte Herr von Hofmann, »daß seine Regierung gegen-wärtig nicht die Absicht habe, Truppen nach Rastatt zulegen, daß ihr aber das Recht dazu allerdings kraft desmit Baden abgeschlossenen Schutz- und Trutzbündnis-ses zustehen würde. Dabei hat der preußische Minister

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zugleich sehr artig, aber sehr bestimmt, hervorgeho-ben, daß die einzige Macht, welche er zu Interpellatio-nen über die Ausführung der Bestimmungen des Pra-ger Friedens für berechtigt erachten könne, diejenigesei, welche jenen Frieden unterzeichnet habe, nämlichÖsterreich.«

Herr von Beust nickte mehrmals nachdenkend mitdem Kopf.

»Das ist sein Spiel,« sagte er halblaut, »er will michhervorlocken, es soll ihm aber nicht leicht gelingen! –und Napoleon –«

»Benedetti ist beauftragt,« fuhr Herr von Hofmannfort, »dem preußischen Ministerpräsidenten zu eröff-nen, daß die französische Regierung seinen thatsäch-lichen Erklärungen gegenüber keine Veranlassung ha-be, die Frage weiter zu discutiren, daß sie sich jedochdie Principienfrage vorbehalte. – Der Marquis de Mou-stier hat dem Fürsten Metternich gegenüber bemerkt,daß es dem Kaiser nicht angemessen erschienen sei, indieser für den Augenblick practisch gegenstandslosenFrage weiter zu gehen, da der Besuch des Königs vonPreußen in Paris nahe bevorstehe, und es ihm der in-ternationalen Courtoisie zu widersprechen scheine, ineinem solchen Augenblick Erörterungen über delicatePrincipienfragen zu provociren.«

»Immer doppeltes Spiel und halbe Maßregeln,« riefHerr von Beust, »Sie sehen zugleich, wieviel ihm andiesem Besuch des Königs gelegen ist; das Ende davon

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wird sein, daß eines Tages die Preußen in Rastatt ein-ziehen werden, dann wird er sich vor der Alternativeeines plötzlichen unvorbereiteten Krieges oder der derschweigenden Hinnahme der vollzogenen Thatsachenbefinden.«

Er schwieg einige Augenblicke.»Sie sprachen mir vorgestern,« sagte er dann, »von

der hier bei Pichler erschienenen Broschüre L’Autricheà la recherche de la meilleure des alliances. – Ich ha-be sie gelesen,« fuhr er fort, indem er eine auf seinemSchreibtisch liegende Druckschrift ergriff und flüchtigdurchblätterte, »sie ist merkwürdig klar und in elegan-tem Französisch geschrieben, also zunächst jedenfallsnicht für das hiesige Publikum, sondern für die weite-ren Kreise der europäischen Diplomatie bestimmt. Essind eigenthümliche Gedanken, die der Verfasser aus-spricht, Abweisung jeder Allianz mit Frankreich, Lö-sung der orientalischen Frage unter engem Anschlußan Deutschland und in Verständigung mit Rußland, ha-ben Sie eine Spur finden können, woher diese Schriftkommt?«

»Nein, Excellenz,« fügte Herr von Hofmann, »derVerleger ist vollständig verschwiegen, die Vermuthun-gen schweifen nach allen Richtungen, ich möchte glau-ben, daß der Verfasser in den Straßen der deutsch-österreichischen Aristokratie, vielleicht gar in Berlin zusuchen sei.«

Herr von Beust lächelte fein.

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»Ich möchte ihn in Pesth suchen,« sagte er mit einemeigenthümlichen Blick, »die Verlegung des Schwer-punktes dorthin würde doch das Resultat seiner Ide-en sein. – Nun,« sagte er, »für den Augenblick ist esmir ganz recht, wenn solche Ideen ausgesprochen unddiscutirt werden; sie tragen immer ein Wenig dazu bei,denjenigen einen Zügel anzulegen, welche uns in über-eiltem Vordrängen in eine politische Action stürzenwollen und welche die Zeit nicht erwarten können, bisdie Pläne reif sind, die in sorgfältiger Vorbereitung al-lein Österreich wieder zu Kraft und Größe führen kön-nen. Lassen Sie immerhin,« fügte er lächelnd hinzu, »inden Journalen die Ansicht aussprechen, jene Broschüremöge wohl von mir inspirirt oder gar geschrieben sein,jedenfalls meinen Anschauungen sehr nahe stehen, daswird den Verfasser ein Wenig überraschen. Haben Siedie Güte gehabt,« fragte er dann, »mir die Acten fürden Vortrag bei Seiner Majestät zu ordnen? Ich mußzur Burg wegen der ungarischen Krönung.«

»Hier sind sie, Excellenz,« sagte Herr von Hofmann,einen Actenfascikel vor dem Minister auf den Tisch le-gend.

»Wenn der ganze Ausgleich nur ebenso leicht zu ma-chen wäre als die Krönung!« rief Herr von Beust, »undhat man dann die Ungarn zufrieden gemacht, so fan-gen die Deutschen an, Schwierigkeiten zu machen, be-reits sehen sie mit scheelen Blicken auf den Ausgleichmit Ungarn.«

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»Eure Excellenz wollten ja mit Giskra und Schindlersprechen,« sagte Herr von Hofmann.

»Ich erwarte beide heute,« erwiederte Herr vonBeust, »ich muß sie bestimmen, in den inneren Fragennicht zu drängen, es wird am besten sein, wenn icheinige dieser Parlamentaristen in die Regierung ziehe,dann können sie selbst sich an allen den Schwierigkei-ten müde arbeiten, die ihren Forderungen entgegen-stehen, doch das geht noch nicht so rasch, vorläufigmüssen sie mir freie Hand für den Ausgleich mit Un-garn lassen, ich will ihnen ein anderes Ziel zeigen, dassie beschäftigen soll!«

Durch die Thür, welche nach den inneren Räumender Wohnung des Ministers führte, hereintretend, mel-dete der Kammerdiener: »Baron von Gilsa wünscht Eu-re Excellenz zu sprechen.«

»Sogleich,« erwiederte Herr von Beust, »der BaronGilsa ist ein großer Pferdekenner,« sagte er, zu Herrnvon Hofmann gewendet, »er wird mir sein Urtheil überein paar Pferde mittheilen wollen, die ich ihn zu bese-hen gebeten. Sie sehen,« fügte er lächelnd hinzu, »daßich mich in den Pausen der hohen Politik auch ein We-nig mit meinem Stall beschäftigen muß.«

»Eure Excellenz sind ja in allen Sätteln gerecht,«sagte Herr von Hofmann aufstehend, »ich werde alsodie vertrauliche Depesche an den Grafen Wimpffen so-gleich entwerfen; für jetzt haben Eure Excellenz keineweiteren Befehle?«

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»Ich danke Ihnen,« erwiederte Herr von Beust, erhobsich und verabschiedete sich mit freundlichem Hände-druck von dem Sectionschef, der sich durch das äußereVorzimmer zurückzog.

Baron Beust zog stark die Glocke und einige Au-genblicke darauf öffnete der Kammerdiener die innereThür des Cabinets für den Baron von Gilsa.

Der Eintretende war ein Mann von etwas über vier-zig Jahren, mager und muskulös, das scharf geschnit-tene blasse, vom Leben etwas mitgenommene Ge-sicht mit langem, schwarzem Schnurrbart und kleinen,dunklen Augen zeigte einen Ausdruck spähender Beob-achtung.

Rasch trat ihm der Minister entgegen.»Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet,« sagte er, »was

bringen Sie für Nachrichten?«»Ich bin heute morgen angekommen,« erwiederte

Herr von Gilsa, »und vorgestern abend von Paris ab-gereist, hier ist ein Brief des Staatsraths Klindworth,«er zog einen versiegelten Brief aus der Brusttasche sei-nes Rockes und reichte ihn dem Minister, der ihn hastigergriff und das Couvert aufriß, indem er sich auf sei-nen Lehnstuhl setzte und Herrn von Gilsa einen Sesselbezeichnete.

Rasch durchflog Herr von Beust die Seiten des Brief-bogens.

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»Der Staatsrath schreibt mir,« sagte er dann, »daßder Kaiser Napoleon vollständig in der Idee einer Al-lianz mit Österreich und Italien lebe, doch sei Italienetwas schwierig – was die politische Allianz betrifft; sosehr man dort auch zu einer persönlich freundlichenGestaltung der Beziehung zu Österreich entschlossensei, er verweist mich auf eine mündliche Mittheilung,die Sie mir über diesen Punkt machen würden.«

»Der Staatsrath hat mir aufgetragen, Eurer Excellenzzu sagen,« erwiederte Herr von Gilsa mit einer klaren,aber etwas dumpfen Stimme in sehr bemerkbar hes-sischem Dialect, »daß Ratazzi vollständig in den Ide-en des Kaisers Napoleon und denen Eurer Excellenzsei, daß es ihm indes sehr schwer sein würde, denAgitationen der extremen Parteien gegenüber der Ideeeiner Allianz mit Österreich in der öffentlichen Mei-nung und dem Parlament, von denen die Regierungsehr abhängig sei, Eingang zu verschaffen, besondersda damit eine Loossagung von der preußischen Allianzund eine feindliche Stellung gegen Preußen nothwen-dig verbunden sei, Preußen aber sei in Italien sehr po-pulär, während man in Österreich, abgesehen von derlangjährigen vergangenen Feindschaft, jetzt ganz ins-besondere die specifisch römisch-katholische Macht se-he, welche sich stets allen den Ideen entgegenstellenwerde, die für Italien in Bezug auf das Verhältniß zuRom maßgebend bleiben müßten.«

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»Nun,« rief Herr von Beust, »und was meint derStaatsrath, daß man thun könne, um in dieser Rich-tung das Mißtrauen zu beseitigen?«

»Ratazzi meint,« sagte Herr von Gilsa, »daß der sonstso richtige und naturgemäße Gedanke einer Coalitionzwischen Österreich, Italien und Frankreich im Publi-kum und auch in den parlamentarischen Kreisen Itali-ens leicht Eingang finden werde, wenn von Österreichaus in irgend einer Weise öffentlich klargestellt werdenmöchte, daß das Wiener Cabinet nicht unter der Herr-schaft der Ideen des römischen Papstthums stehe.«

Herr von Beust neigte den Kopf in ernstem Nachden-ken.

»Der Kaiser Napoleon theilt diese Ansicht vollkom-men,« fuhr Herr von Gilsa fort, »und der Staatsrath istder Ansicht –«

Herr von Beust erhob schnell das Haupt und blicktegespannt in das gleichgültig ruhige Gesicht des BaronsGilsa, der in so einförmigem Tone sprach, als ob er dieunwichtigste und bedeutungsloseste Bestellung mach-te.

»Der Staatsrath ist der Ansicht, daß ein ernstes undentschiedenes Erfassen der Concordatsfrage in die-ser Richtung von vortrefflicher Wirkung sein würde,man würde, meint er, damit nach zwei Seiten vort-heilhaft operiren, indem man im Innern die parlamen-tarische Opposition beschäftigte und von zu schnel-lem Vordrängen auf anderen Gebieten abhielte, auch

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würde dadurch Österreich in der öffentlichen MeinungDeutschlands gehoben werden.«

Herr von Beust stand auf und ging einige Male leb-haft im Zimmer auf und nieder, während der BaronGilsa ruhig neben seinem Sessel, von dem er sich eben-falls erhoben, stehen blieb und mit fast gleichgültigemBlick den Bewegungen des Ministers folgte.

»Er hat Recht,« sagte Herr von Beust halblaut, »erhat Recht – und doch, Niemand kann besser als erdie ungeheuren Schwierigkeiten kennen, welche aufdem Wege liegen, den er vorzeichnet; – warum,« riefer, vor dem Baron stehen bleibend, »hat der Staats-rath mir über diesen Gegenstand nicht geschrieben?Eine Memoire mit der geistreichen und scharfen Moti-virung, welche ihm so sehr zu Gebote steht, wäre mirviel werth, warum sendet er mir nur diese mündlicheBotschaft?«

Ein leichtes Lächeln erschien um den geschlossenenMund des Barons.

»Ich glaube, Eure Excellenz kennen die große Ab-neigung des Staatsraths, sich schriftlich über wichtigeFragen zu äußern. Er pflegt zu sagen, daß das meisteUnheil in der Welt durch Briefe und Mißverständnisseihres Inhalts entstanden sei.«

Herr von Beust machte wieder einige Schritte durchdas Zimmer.

»Ich verstehe,« sagte er leise. – »Scripta manent – erkennt die Schwierigkeiten, darum soll ich allein die

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Hand an dieselben legen, nun,« sagte er, indem einAusdruck von stolzer Willenskraft sein blasses Gesichterleuchtete und sein Auge sich strahlend öffnete, »ichscheue nicht davor zurück – aber – er soll mir helfenund Farbe bekennen.«

»Halten Sie sich bereit, lieber Baron,« sagte er dann,»bald wieder nach Paris zurückzureisen, ich werde Ih-nen einen Brief an den Staatsrath mitgeben und ihnauffordern, zurückzukommen. – Sie werden mündlichbesonders darauf dringen, daß er wirklich sogleich ab-reist. – Was hatte man in Paris für Nachrichten aus Me-xico?« fuhr er fort, »was glaubte man –«

»Die Gefangennahme Maximilians galt für ausge-macht,« erwiederte Herr von Gilsa, »indes glaubte mannicht, daß er eine Gefahr liefe, die ernste VermittelungNordamerikas ist zugesagt.«

»Es wäre sehr traurig,« sagte Herr von Beust halb fürsich, »wenn eine tragische Wendung dort hinzukäme,um die unsicheren und unklaren Beziehungen zu Parisnoch mehr zu verwirren. – Ich danke Ihnen, lieber Ba-ron,« fuhr er fort, sich zu Herrn von Gilsa wendend, ineinem Tone, welcher andeutete, daß die Unterhaltungbeendet sei. – »Sie –«

»Der Staatsrath hat mir noch einen Auftrag an EureExcellenz gegeben,« sagte der Baron mit ruhiger Stim-me.

Erstaunt blickte Herr von Beust auf.»Nun?« sagte er erwartungsvoll.

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»Graf Langrand ist in großer Unruhe und Verlegen-heit,« sagte der Baron.

Eine Wolke flog über die Stirn des Ministers, er rich-tete unter den leicht gesenkten Augenlidern hervorden Blick forschend auf das unbewegliche Gesicht desHerrn von Gilsa, der im Tone gleichgültiger Berichter-stattung fortfuhr:

»Eure Excellenz werden sich erinnern, daß die ita-lienische Regierung am 4. Mai den Vertrag mit demGrafen Langrand über die financielle Regelung der Kir-chengüterfrage definitiv unterzeichnet hat. – Der Grafhat nun erfahren, daß der Finanzminister Ferrara ent-schlossen ist, den Vertrag nicht auszuführen, ja schonweit vorgeschrittene Verhandlungen mit Rothschild ge-pflogen habe. Graf Langrand hat nun zwar seinen Ver-treter, Herrn Brasseur, angewiesen, auf das Energisch-ste Protest gegen dies Verfahren zu erheben und even-tuell vor die Gerichtshöfe zu gehen, er ist indes voll-kommen überzeugt, daß dieser Schritt höchstens zueinem Skandal führen könne, bei welchem die öffent-liche Meinung Italiens dennoch auf der Seite Ferrararsstehen würde, daß aber die italienischen Gerichtshö-fe niemals die Aufrechterhaltung seines Vertrages aus-sprechen würden.«

»Aber da müßte doch die französische Regierungdurch Ratazzi –« unterbrach Herr von Beust.

»Was von dort aus zu thun möglich, ist geschehen,«sagte der Baron, »Ratazzi aber befindet sich in einer

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sehr prekären Lage in dieser Angelegenheit und wirdkaum wagen können, sich seinem Collegen in dieserFrage mit äußerster Schärfe entgegenzustellen, wenner nicht seine Stellung compromittiren und gerade-zu gefährden will, deren Erhaltung doch aus andernGründen so wichtig ist. – Rothschild zwar wird nunwohl das Geschäft schließlich ablehnen, man hat vonseiten des Hofes in Paris stark auf ihn eingewirkt, alleinschon steht das Haus Erlanger hinter ihm bereit.«

»Aber was kann ich –« rief Herr von Beust.»Der Staatsrath ist der Ansicht,« fuhr Baron Gilsa

fort, »daß bei dem Wunsch der italienischen Regie-rung, sich mit Österreich gut zu stellen, und bei der inAussicht genommenen näheren Verbindung der Höfeeine kräftige Einwirkung von hier aus den Hof von Flo-renz bestimmen könnte, energisch für Langrand einzu-treten, der Finanzminister wird vielleicht einer solchenEinwirkung zugänglicher sein als derjenigen von sei-ten seines Collegen Ratazzi, mit dem er nicht in bestenBeziehungen steht, außerdem aber könnte man einePression auf das Haus Erlanger ausüben.

»Ich weiß in der That nicht,« sagte Herr von Beust,»wie man von hier aus auf Erlanger wirken könnte, undsehe wirklich nicht –«

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»Jedenfalls bittet der Staatsrath,« fuhr Herr von Gil-sa fort, »daß Eure Excellenz thun möchten, was mög-lich ist, die Unternehmungen des Grafen Langrand ha-ben bedeutende Stockungen erlitten, er rechnete si-cher auf die Ausführung des italienischen Vertrages,und wenn diese Hoffnung fehlschlägt, so drohen ihmVerlegenheiten nach allen Seiten, sein Credit würde er-schüttert, er gezwungen werden, ausstehende Forde-rungen zu realisiren.«

»Der Staatsrath weiß,« sagte Herr von Beust, »wiesehr ich mich für die genialen Unternehmungen desGrafen Langrand interessire, ich werde über die Sa-che nachdenken und Ihnen schreiben, was geschehenkann.«

»So erlauben Eure Excellenz, daß ich mich zurück-ziehe, um etwas auszuruhen?« fragte der Baron.

Herr von Beust nickte nachdenklich und zerstreutmit dem Kopf und reichte von Gilsa die Hand, der sichmit ehrerbietiger Verbeugung entfernte.

Der Minister ließ sich in einen Lehnstuhl sinken undblickte sinnend mit trübem Ausdruck vor sich hin, dieArme auf die Seitenlehnen gestützt.

»Daß die financiellen Fragen sich doch immer in diePolitik mischen!« rief er seufzend, »es sind wahrlichohne das schon überall der Schwierigkeiten genug. –In dieser Weise kann ich Langrand nicht helfen, es istunmöglich, vielleicht kann man ihm in anderer Art zuHilfe kommen.«

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Er blieb schweigend in tiefem Nachdenken sitzen.Die innere Thüre öffnete sich mit leichtem Geräusch.»Fräulein Gallmeyer fragt, ob Eure Excellenz sie

einen Augenblick empfangen wollen,« sagte der Kam-merdiener.

Herr von Beust richtete sich empor, ein heiteres Lä-cheln flog über seine eben noch so sorgenvollen Züge.

Er zog seine Uhr hervor und sagte mit einem Blickauf dieselbe:

»Es ist schon spät, ich will das Fräulein gerne sehen,aber sagen Sie ihr, daß –«

»Daß die Pepi nicht lange bleiben darf,« rief die hei-tere Stimme der Angemeldeten, und den Kammerdie-ner rasch zur Seite schiebend, trat Fräulein Gallmeyerin einfacher Frühlingstoilette rasch ein.

Der Minister erhob sich und reichte ihr freundlichdie Hand.

»Ich will Eurer Excellenz kostbare Zeit nicht langestehlen,« rief die launige Schauspielerin, deren große,geistvolle Augen vor lustigem Übermuth funkelten, »ibin halt nur eben einmal von Pesth herübergekommen,um zu sehen, was diese ungezogenen Wiener eigent-lich ohne mich anfangen, und da hab’ ich denn nichtversäumen wollen, Eure Excellenz ein Wenig an michzu erinnern. – Sie sind halt immer so gnädig für michgewesen – und ich fürchte, Sie möchten mich verges-sen.«

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»Das hat die fröhliche und liebenswürdige Pepi nie-mals zu fürchten,« sagte Herr von Beust lächelnd, in-dem er eine Photographie von seinem Schreibtischnahm und sie dem Fräulein zeigte, die ihr eigenes, hei-ter und schelmisch unter einem runden, blumengar-nirten Hut hervorlachendes Gesicht erkannte. »Sie se-hen,« fuhr er fort, »wenn ich ein kurzes Gedächtnißhätte, so würde meiner Erinnerung das Bild zu Hilfekommen, das freilich nur ein schwacher Ersatz für daslebendige Original ist.«

»Schauns,« sagte die Gallmeyer treuherzig, »das istrecht von Ihnen, Excellenz, daß Sie das Bild da auf Ih-rem Schreibtisch stehen haben, mir graust’s ordentlich,wenn ich an all die langweiligen, wüsten Acten denke,die Sie da alle vor sich haben, und an all die noch lang-weiligeren und wüsteren Menschen, die daher kom-men und Sie plagen mit ihren faltigen und staubigenBureaugesichtern.« – Sie legte ihr Gesicht auf eine sokomische Weise in ernste und feierliche Falten, wäh-rend die blitzenden Augen so muthwillig darüber her-strahlten, daß Herr von Beust in ein lautes Lachen aus-brach.

»Nun sehen Sie,« sagte sie weiter, »da ist’s ja wahr-haftig gut, daß Sie dazwischen von Zeit zu Zeit ein-mal einen Blick auf mein Conterfei werfen können, dasbringt Ihnen wieder etwas Humor.«

»Und mit dem Humor kommen die guten Gedan-ken,« sagte Herr von Beust.

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»Ich hoff’, Eurer Excellenz wird der Humor und dieguten Gedanken nicht ausgehen, das hab’ ich Ihnenhalt schon gleich angesehen, als Sie herkamen,« sagtesie ernsthaft, »Sie sind so ganz anders als die andernExcellenzen und Minister, Sie haben so – so – so etwasGewisses –«

»Nun und was ist denn dies Gewisse?« fragte Herrvon Beust, unendlich belustigt durch das originelleCompliment, welches ihm auf so besondere Weise hiergemacht wurde.

»Das werd’ ich Eurer Excellenz ganz genau sagen,«erwiederte Fräulein Gallmeyer.

»Das weiß ich nicht,« fiel Herr von Beust lächelndin noch stärker prononcirtem sächsischem Dialect ein,»sagte man bei mir in Dresden –«

»Doch,« rief Fräulein Gallmeyer, »das weiß ich ganzgenau. – Sehen Sie,« fuhr sie fort, »alle die anderngroßen Herren, die sind so feierlich, so weitläufig, nochweit mehr als man sie auf dem Theater darstellt, dieräuspern sich – so« – sie ging mit äußerst komischerGravität hin und her – »und dann machen sie solcheGesichter, so lang, so würdevoll, und sagen thun siegar nichts – und denken glaub’ ich auch nichts, sie sindhalt wie ein Schrank, der immer fest verschlossen ge-halten wird, und jedermann glaubt, daß da Wunderwas für kostbare Sachen darin sind, wenn man abermal zufällig dazu kommt, hinein zu sehen, dann ist,«

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rief sie lachend, »nichts darin, gar nichts, gar Nichts alsalter Staub!«

Sie schnippte leicht mit den Fingern.»Eure Excellenz aber,« fuhr sie dann mit offenem

und treuherzigem Blick fort, »das ist ganz etwas An-deres, bei Ihnen da stehen alle Schubladen weit offen,jeder kann hineinsehen, denn sie sind alle voll, und einWunder ist’s, was da für schöne, niedliche, allerliebsteSachen drin sind, mir steht halt der Verstand still, wieSie so vielen guten Geist und frischen Humor beherber-gen können neben all den großen und ernsten Dingen,die Sie in sich haben«

Herr von Beust lachte. »Das werfen mir ja Ihre ern-sten Leute mit den feierlichen Mienen so oft vor,« fügteer, »doch Sie machen mich eitel, wenn Sie mir so vielschöne Dinge sagen.«

»Ich sag’ Ihnen nichts mehr!« rief Fräulein Gallmey-er, »ich bin auch gekommen,« fuhr sie mit großer Wich-tigkeit fort, »um über eine sehr ernste Sache mit EurerExcellenz zu sprechen.«

»Damit ich auch ein solches Gesicht mache wie dieandern?« sagte Herr von Beust scherzend.

»Nun,« rief Fräulein Gallmeyer, »für einen Augen-blick kann’s nicht schaden, ich habe eine sehr ernsteBitte an Eure Excellenz.«

»Die im voraus gewährt ist,« sagte der Minister artig.»Versprechen Sie nicht zu schnell, Excellenz,« rief

die Gallmeyer, »denn ich nehme Sie beim Wort!«

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Und indem sie zu ihm hintrat, legte sie eine Handauf seinen Arm, schlug die Augen mit bittendem Aus-druck zu ihm auf und sprach mit eindringlichem Tone:

»Ich bitte, Excellenz, schaffen Sie mir einen Mann,aber schnell,« rief sie heftig, »lieber heut als morgen,ich muß partout heirathen!«

Herr von Beust fuhr ganz erstaunt zurück.»Ich begreife in der That nicht,« sagte er dann mit

heiterem Tone, »wie ich das anfangen sollte, dieseschönen Augen werden Ihnen die besten Dienste lei-sten, wenn Sie in der That Ihrer Freiheit Fesseln anle-gen wollen.«

»Nicht Fesseln anlegen will ich,« rief Fräulein Pepimit dem Fuß auf den Boden stampfend, »sondern vonFesseln mich befreien, die mich quälen und ärgern. Se-hen Sie, Excellenz, ich bin am Karltheater engagirt undman will mich nicht loslassen, ich will aber halt in Wi-en nicht mehr spielen vor diesem undankbaren, bos-haften, langweiligen Publikum, was bleibt mir übrig,ich muß heirathen, denn die Heirath hebt den Contractauf nach dem Theatergesetz, dann kann ich fortgehenund in Pesth bleiben, wo das Publikum viel artiger ist.«

Herr von Beust warf sich in seinen Lehnstuhl undlachte so herzlich, daß ihm die Thränen in die Augentraten.

»Ich habe,« fuhr Fräulein Gallmeyer noch immer ingroßer Erregung fort, »immer gelacht über die närri-schen Frauenzimmer, die immer durchaus heirathen

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wollen, wie die Fontelive, die ja jetzt ihren Fürsten hat,und die Grobecker, die ihren spanischen Herzog nochimmer nicht ganz festhält, aber jetzt – jetzt will ichauch heirathen, Fürst – Herzog – Banquier oder Unter-lieutenant, was Sie haben, aber – ich bitt’ sehr schön,Excellenz, schaffen’s mir einen Mann, damit der Aschermich vom Karltheater loslassen muß.«

»Sie werden doch gewiß nicht glauben,« rief Herrvon Beust, »daß ich dazu beitragen möchte, Sie vonWien loszumachen, was wollen Sie denn in Pesththun?«

»Oh da ist’s sehr schön!« rief die Gallmeyer, »und,«fuhr sie fort, »wenn ich Eurer Excellenz einen Rath ge-ben soll, kommen Sie auch dahin, die Wiener taugennichts und werden gegen Sie eben so undankbar seinwie gegen mich, nehmen Sie die ganze Boutike, Re-gierung – Parlament – Alles, verlegen Sie den Schwer-punkt nach Pesth, wie die Zeitungsschreiber sagen,dann werden die Wiener haben, was ihnen gebührt,«sagte sie, die Zähne auf die Lippen drückend.

Herr von Beust wurde ernst und blickte vor sich hinDer Bureaudiener trat durch die Thüre, welche zu

dem großen Vorzimmer der Staatskanzlei führte, einund sagte:

»Herr Doctor Giskra.«Herr von Beust stand auf.

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»Da kommt schon wieder so einer, um Eurer Excel-lenz den Humor zu verderben,« rief Fräulein Gallmey-er – »und wann Sie den verlieren, dann schaffen’s mirhalt meinen Mann nit!«

»Nun,« sagte Herr von Beust, »ich verspreche Ih-nen, darüber nachzudenken, Sie müssen aber die Sa-che auch noch einmal überlegen, jedenfalls sehe ichSie bald wieder.«

»Ich werde Eure Excellenz an meine Bitte erinnern,«rief die Gallmeyer, die dargebotene Hand des Ministersergreifend, »und denken Sie an mich, Sie werden dieUndankbarkeit der Wiener noch kennen lernen!«

Rasch verschwand sie durch die innere Thüre.»Die Undankbarkeit,« sagte Herr von Beust gedan-

kenvoll, »wo findet sich denn die Dankbarkeit?« seufz-te er, und den Kopf vorgebeugt, den Blick zur Erdegerichtet, blieb er einige Minuten schweigend stehen.Dann hob er das Haupt empor und indem sein Au-ge den ihm eigenthümlichen, heitern und klaren Aus-druck wieder annahm, rief er mit festem Tone:

»Darf ein Staatsmann um Dankbarkeit werben? –Der einzige wahrhaft befriedigende Lohn ist das Zeug-niß des eigenen Bewußtseins, gethan zu haben, wasmöglich war, also an die Arbeit, um diesen Lohn zu ver-dienen. Die kleine, lustige Person hat Recht, der Humorist die Hauptsache, um den frischen Muth zu erhalten,nun, ihr Geplauder hat mir wieder einigen Vorrath vondieser köstlichen Himmelsgabe gebracht; jetzt diesem

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Manne entgegen, von dem ich hoffe, daß er mein Mit-arbeiter werden soll an dem mühsamen Werk der Wie-dergeburt Österreichs.«

Er zog die Glocke und nach einigen Augenblickenführte der Bureaudiener den Doctor Giskra in das Ca-binet ein.

Der Präsident des Abgeordnetenhauses ergriff mitetwas zurückhaltender Höflichkeit die dargeboteneHand des Ministers und setzte sich demselben auf des-sen artige Einladung gegenüber.

Die scharf markirten, geistvollen, aber strengen undetwas an bureaukratische Verschlossenheit erinnern-den Züge des liberalen Parlamentsführers, seine etwasenge und knappe Haltung contrastirten merkwürdigmit dem freien, offenen und lächelnden Ausdruck indem Gesicht des Herrn von Beust und mit dessen vor-nehm nachlässiger und degagierter Haltung.

»Ich danke Ihnen herzlich,« begann Herr von Beustdie Unterhaltung, »daß Sie so freundlich auf mei-nen Wunsch einer näheren, persönlichen Verständi-gung eingegangen sind, ich hoffe, wir werden heutedie Grundlagen dafür finden und im fortgesetzten Ver-kehr immer mehr Ausgangspunkte zu gemeinsamemWirken für den Ausbau des österreichischen Verfas-sungslebens gewinnen.«

»Ich bin stets bereit,« erwiederte Doctor Giskra, »da-zu die Hand zu bieten; wenn ich in Opposition ge-gen die frühere Regierung stand, so bin ich darum

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gewiß kein principieller Gegner der Regierung über-haupt, am wenigsten der Regierung, an deren SpitzeEure Excellenz stehen und der ich zwei wesentlicheDinge von Herzen zugestehe, das richtige Erkennenund das ernste, feste Wollen. Wo diese Dinge vorhan-den sind, muß man auf einen guten Ausgang hoffen,auch wenn die Überwindung hemmender Schwierig-keiten nicht so schnell vor sich geht, als wir wünschenmöchten.«

»Ich habe die maßvolle Zurückhaltung, die freundli-che Rücksicht auf die schwere Aufgabe der neuen Re-gierung so vielen traditionell eingewurzelten Anschau-ungen gegenüber mit großer Freude in Ihrer Präsiden-tenrede bemerkt und bin Ihnen besonders dankbar da-für,« sagte Herr von Beust verbindlich.

»Eine solche Rücksicht,« erwiederte Doctor Giskra,»entspricht meiner persönlichen Überzeugung und istmir durch meine Stellung besonders zur Pflicht ge-macht, ich möchte indes Eure Excellenz darauf auf-merksam machen, daß die gleiche Zurückhaltung nichtimmer und überall in den Verhandlungen des Abge-ordnetenhauses beobachtet werden wird, die Wünscheund Anschauungen, welche ich in vorsichtiger Begren-zung angedeutet habe, dürften von andern Abgeord-neten lauter und drängender ausgesprochen werden.«

»Ich habe gewiß nichts dagegen zu erinnern,« sag-te Herr von Beust, »im Gegentheil, solche Äußerungen

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können mir zur kraftvollen Durchführung der Aufga-be, die ich mir gestellt, nur erwünscht sein, nur mußman nicht das Vertrauen zu mir verlieren, wenn dieDinge nicht so schnell vorwärts gehen, als man eswünscht, an der Action eines Ministers hängen schwe-re Gewichte, während die Wünsche der Parlamentein ungehemmten, freien Fluge sich bewegen. – Mei-ne Aufgabe ist wahrlich keine leichte,« fuhr er nacheiner augenblicklichen Pause fort, »ich gehöre der Re-gierung und dem Reiche nicht seit Jahren, sondern nurseit Monaten an, ich bringe nicht jene Specialkennt-nisse mit, welche jedem Minister zur Durchführungder von ihm im Großen und Ganzen erfaßten Ideennothwendig sind, ich muß mir dieselben erst erwer-ben, und die Regierungs- und Verwaltungsmaschine,mit der ich arbeiten muß, ist von meinen Ideen wahr-lich nicht durchweht, ich finde nicht die richtige Un-terstützung, oft leider sogar widerwillige Hemmung,«sagte er seufzend, »um so mehr bin ich auf die Hilfealler der Männer angewiesen, welche die Zukunft desReiches mit gleicher Wärme im Herzen tragen, wie ich,welche aber die Lebensbedingungen Österreichs besserals ich kennen müssen.«

»Die wesentlichste Lebensbedingung Österreichs,«sagte Doctor Giskra, »ist in dem einfachen, kurzenWort enthalten: Nicht rückwärts, sondern vorwärts –und zwar so schnell als möglich vorwärts, denn Öster-reich ist zu lange rückwärts gegangen oder wenigstens

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zurückgeblieben hinter dem Geist des Jahrhundertsund dem Fortschritt anderer Staaten.«

»Und dies Programm acceptire ich aus vollstem Her-zen,« rief Herr von Beust, »und werde nicht zögern, eslaut und öffentlich zu bekennen, um es aber ausführenzu können, bedarf ich vor allem des Vertrauens – undleider – leider ist in Österreich der Geist des Mißtrau-ens heimisch geworden.«

»Und war das Mißtrauen nicht berechtigt?« frag-te Doctor Giskra, »allen den Experimenten, allen denwechselnden Regierungen, allen den nicht gehaltenenVersprechungen gegenüber?«

»Doch mir gegenüber, glaube ich,« erwiederte Herrvon Beust, »hat es keine Berechtigung.«

»Es ist auch Eurer Excellenz gegenüber noch nichthervorgetreten, vollständig verschwinden könnte esaber nur durch die Überzeugung, daß Sie – verzeihenSie meine Offenheit – nicht eine vorübergehende Re-gierung bilden, – Es waren immer die Nachfolger,« sag-te Doctor Giskra mit Betonung, »welche die Verspre-chungen ihrer Vorgänger nicht hielten.«

Herr von Beust schwieg einen Augenblick.»Je fester die Männer des Volkes und des Fortschritts

auf meiner Seite stehen,« sagte er dann, »je mehrdie öffentliche Meinung, durch die Abgeordneten unddie Presse vertreten, mich unterstützen, um so mehrwird die von Ihnen angedeutete Besorgniß an Berech-tigung verlieren. – Vor allem,« fuhr er fort, »ist es ein

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Punkt, in welchem ich des Vertrauens bedarf, das istder Ausgleich mit Ungarn; daß die Lage der Dingewar, wie ich sie gefunden, das ist doch wahrlich meineSchuld nicht, daß die Wohlthaten eines verfassungs-mäßigen Staatslebens den so lange verfassungslosenUngarn gegeben werden, muß jeder freisinnig den-kende Mann billigen, und daß dies Verfassungslebenbegründet wird aus der Basis der nationalen Autono-mie, das liegt eben in den natürlichen, nothwendigzwingenden Verhältnissen; auch muß man anerken-nen, und ich glaube, ein Wenig als ein Verdienst derRegierung anerkennen, daß es gelungen ist, der Kro-ne den Vortheil der freien Initiative zu lassen und dieneue Ordnung der Dinge in Ungarn mit einem Ministe-rium zu beginnen, das sich dort auf die große, natio-nale Majorität stützt und doch von gut dynastischen,gut österreichischen und gemäßigten Gesinnungen be-seelt ist. Wie nothwendig der Ausgleich, der befriedi-gende Ausgleich mit Ungarn war, das zeigt doch in derThat schon ein Blick auf die Ereignisse der letzten Zeit.– In den Kreisen des Abgeordnetenhauses ist die ver-mittelnde Thätigkeit der Regierung in dem luxembur-gischen Conflict, welcher so bedenklich den europäi-schen Frieden bedrohte, anerkannt worden.«

»Wir sind Eurer Excellenz aufrichtig verpflichtet,«sagte Doctor Giskra, »für Ihre energische Thätigkeit zurBeseitigung jener Gefahr, über welche Sie uns Mitthei-lung gemacht haben.«

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»Nun,« rief Herr von Beust, »kann man denn glau-ben, daß eine vermittelnde Macht in einer solchen Fra-ge ihren Zweck dadurch erreichen könne, daß sie inmehr oder weniger gelungenen Noten den streitendenParteien die Vorzüge des Friedens und die Nachthei-le des Krieges zu Gemüthe führt, oder vielleicht eineglückliche Formel für die Lösung der streitigen Frageaufstellt? – Nein – der Haupthebel liegt doch nur darin,daß der vermittelnde Staat ein Factor in den Berech-nungen des Krieges und Friedens ist – und wären wirdas gewesen, wenn wir eine brennende, offene, innereFrage gehabt hätten?«

»Dieser Vortheil des getroffenen Ausgleichs wirdauch gewiß nicht verkannt,« sagte Doctor Giskra miteiner gewissen Zurückhaltung.

»Dennoch aber,« rief Herr von Beust, »sehen dieDeutschen scheel auf diesen Ausgleich, sie befürchteneine prädominirende Stellung des nationalen, ungari-schen Elementes im Reich, kann man denn von mir,«fuhr er fort, »von mir, dem Deutschen von Geburt undGesinnung, voraussetzen, daß ich das deutsche Ele-ment vernachlässigen und zurückstellen könnte, daßich darauf verzichten würde, Österreich von Deutsch-land auch innerlich zu entfremden, wie es äußerlichdavon losgerissen ist?«

Doctor Giskra blickte einige Augenblicke schwei-gend zu Boden.

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»Excellenz,« sagte er dann, »ich will Ihnen meine An-schauung dieser Frage offen aussprechen, ich glaube,sie ist auch diejenige meiner Freunde und Parteigenos-sen. – Tiefer Schmerz erfüllt mich,« sprach er mit wär-merer Betonung, »über die Trennung des vielhundert-jährigen Verbandes zwischen Österreich und Deutsch-land, dieses Verbandes, der nicht ein politischer war,sondern ein nationaler, denn wir waren Fleisch vomFleische Deutschlands und Blut von seinem Blut, be-vor die Fürsten des Hauses Habsburg Könige von Un-garn wurden, ich kann nicht schwer genug die Politikverurtheilen, welche den thörichten Krieg des vorigenJahres mit seinen entsetzlichen Folgen herbeigeführthat.«

Herr von Beust senkte den Blick zu Boden und spiel-te leicht mit den Fingern auf der Lehne seines Sessels.

»Darum,« fuhr Doctor Giskra fort, »wünsche ich, daßdie verhängnißvollen äußeren Folgen des unglückli-chen Krieges nicht zugleich verhängnißvoll werden fürdie innere Entwickelung Österreichs, daß der innereZusammenhang mit Deutschland, der Zusammenhangin Fleisch und Blut nicht ebenfalls zerrissen, sondernim Gegentheil fester und lebendiger gemacht werdedurch den Geist der Freiheit.«

Herr von Beust nickte mehrmals schweigend mitdem Kopf. »Ich freue mich,« sagte Doctor Giskra, »überdie parlamentarischen Rechte, welche man den Un-garn gegeben, meine Partei und ich, wir widerstreben

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dem politischen Dualismus durchaus nicht, nur haltenwir es für unsere Aufgabe, bei der financiellen Ausein-andersetzung mit Ungarn das schärfste Augenmerk aufdie Interessen und Rechte der cisleithanischen Provin-zen zu richten, Ihre Freiheiten und autonomen Rechtegönne ich den Ungarn also ohne Rückhalt – aber ichwill dieselben Lebensbedingungen auch für das deut-sche Österreich, denn,« fuhr er mit erhobener Stimmefort, »nicht durch die Gewalt der Waffen wird Öster-reich seine Stellung in Deutschland wieder erringen,sondern durch die Gewalt des Geistes, und wenn derdeutsche Geist, der Geist wahrer Volksfreiheit mäch-tig durch das öffentliche Leben Österreichs weht, dann– dann allein wird Österreich den ihm gebührendenPlatz in Deutschland wieder gewinnen, den keine Hee-resmacht und keine Fürstenpolitik wird ihm denselbenstreitig machen!«

In rascher Bewegung beugte sich Herr von Beust vorund ergriff die Hand des Redenden.

»Sie sprechen aus meiner Seele!« rief er lebhaft,»wenn wir so einig über das Ziel sind, sollten wir nichtgemeinsam die Mittel finden, es zu erreichen? – Sie ha-ben,« fuhr er fort, »im Abgeordnetenhause bereits einziemlich eingehendes Programm über die nächsten po-litischen, nationalen und volkswirthschaftlichen Auf-gaben des Parlaments und der Regierung entwickelt,würden Sie nicht geneigt sein, dies Programm mit denModalitäten seiner Ausführung auszuarbeiten? – ich

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bin überzeugt, daß wir darin die Basis eines gemein-samen Wirkens und Arbeitens finden werden.«

»Ich bin dazu bereit,« erwiederte Doctor Giskra,»doch ist das Programm, das ich im Abgeordnetenhau-se in großen Zügen entwickelt habe, nicht vollständig,es fehlt ein wesentlicher, wichtiger Punkt, den ich dortnur andeutend berührt habe und der doch der Angel-punkt Alles dessen ist, worauf nach meiner Überzeu-gung Österreichs Zukunft erbaut werden muß. – Siesehen, Excellenz,« fügte er mit leichtem Lächeln hinzu,»wie sehr ich geneigt bin, stets die weiteste Rücksichtauf die Schwierigkeiten zu nehmen, von welchen dieRegierung sich umgeben sieht.«

»Und dieser Punkt ist?« fragte Herr von Beust.»Das Concordat,« erwiederte Doctor Giskra mit fe-

stem Tone. – »Dieser unglückselige Vertrag – der fürdas österreichische Volk kein Vertrag, sondern ein Ge-setz ist, lähmt die Regierung in ihrem Streben nachfreieren Bahnen, er giebt den Geist des österreichi-schen Volkes in die Hände Roms, das heißt einer frem-den Macht, das heißt einer Macht der Finsterniß undder Stagnation! Das Protestantenpatent,« fuhr er fort,»dieser allerhöchste Act, durch welchen Österreich miteiner finstern Vergangenheit brechen wollte, ist nichtnur nicht durchgeführt, sondern in letzterer Zeit auchin seinen Hauptgrundsätzen verletzt! Das Recht, Volks-schulen zu gründen, ist durch manche bureaukrati-sche Mittel illusorisch gemacht, die protestantischen

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Gemeinden werden nach wie vor zu Beitragsleistun-gen für katholische Cultuszwecke angehalten, die Pra-xis in Beziehung auf das Reverswesen bei gemischtenEhen erinnert an die dunkelsten Zeiten einer finsternVergangenheit, das versprochene Gesetz zur Regelungder interconfessionellen Verhältnisse ist ausgeblieben,das Religionsedict ist im Reichsarchiv begraben – unddas Alles ist die Folge dieses unglückseligen Concor-dats. Man spricht jetzt so viel in Österreich von Intel-ligenz und Freiheit; so lange das Concordat den GeistÖsterreichs unter die Herrschaft Roms giebt, kann dieIntelligenz nimmer erwachen und nimmer die Freiheiterblühen, darum hallt es in ganz Österreich, im ganzenVolke wieder: das Concordat muß aufgehoben werden,diese Fessel muß fallen, sonst giebt es kein Heil.«

Doctor Giskra hatte bewegt und lebhaft gesprochen.»Das, Excellenz,« sagte er nach einem augenblick-

lichen Schweigen, »ist der Ausgangspunkt eines je-den Programms, das ich aufstellen könnte, und um infester, aufrichtiger und ehrlicher Verbindung mit derRegierung zusammenzuwirken, müßte ich ihres ehrli-chen, festen und nachhaltigen Willens in dieser Rich-tung vergewissert sein.«

»Ich bin Protestant,« sagte Herr von Beust, als Doc-tor Giskra schwieg, »in einem protestantischen Landegeboren und in protestantischem Geiste erzogen, es istdarum überflüssig, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mit al-lem übereinstimme, was Sie soeben gesagt, allein eben

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weil ich Protestant bin, stehen mir gerade in dieserFrage besondere Schwierigkeiten entgegen. – Würdenicht,« fuhr er fort, »die ganze katholische Geistlichkeitund Alles, was unter ihrem Einflusse steht, jede Initia-tive von mir als einen Angriff des Protestantismus ge-gen die katholische Kirche als solche bezeichnen, undwürde nicht eine solche Auslegung gerade mir gegen-über an maßgebender Stelle – Sie wissen, wie sehr derKaiser persönlich gläubig strenger Katholik ist – würdejene Auslegung bei ihm nicht mir gegenüber weit leich-ter Eingang finden, als wenn ein katholischer Österrei-cher an der Spitze der Regierung stünde, würde es mirnicht ungleich schwerer sein, solche Auslegung zu ent-kräftigen, als einem Katholiken? – Außer dieser per-sönlichen Schwierigkeit liegt noch eine besondere Ver-wicklung der Frage darin, daß das Concordat seinerForm nach ein völkerrechtlicher Vertrag ist.«

»Bei welchem Österreich das gethan hat, was die al-ten Römer so treffend mit dem Worte bezeichneten:ruere in servitiem!« rief Doctor Giskra mit bitterem To-ne.

»Wahr – sehr wahr,« sagte Herr von Beust, »alleinüber diesen Vertrag hinweg auf dem Boden der Gesetz-gebung vorzugehen, denn freiwillig wird Rom das Con-cordat nicht aufgeben – das wird mir abermals sehr vielschwerer werden, als jedem andern, der nicht in denVerdacht principiell confessioneller Feindschaft gegendie katholische Kirche gebracht werden könnte.«

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»Und darum wollten Eure Excellenz vor dieser Auf-gabe zurückstehen?« fragte Doctor Giskra, »all Ihr Wir-ken schon in seinem Beginn zur Erfolglosigkeit verurt-heilen? – denn nie kann von einer Wiedergeburt Öster-reichs die Rede sein, so lange nicht die freie Regungdes Geistes von den Fesseln des Concordats befreit ist!«

»Gewiß will ich nicht zurückstehen,« rief Herr vonBeust, »nicht die persönliche Anfeindung schrecktmich, ich bin sie gewohnt und werde sie später den-noch genug zu tragen haben, aber ich möchte der Sa-che selbst nicht neben den großen Schwierigkeiten, diesie schon an sich bietet, noch besondere Hindernissebereiten durch meine persönliche Initiative. – Wennaus dem Abgeordnetenhause –«

»Die Initiative wird kommen,« rief Doctor Giska,»um so kräftiger und entschiedener, wenn man weiß,daß dadurch die Regierung, daß Eure Excellenz da-durch unterstützt werden! – Doctor Mühlfeld – der Ge-neralsuperintendent Schneider werden mit feurigemEifer die Sache wieder und immer wieder zur Sprachebringen.«

»Dann ist meine Aufgabe vorgezeichnet,« sagte Herrvon Beust, »eine Frage, die das Abgeordnetenhaus auf-nimmt und der Regierung entgegenbringt, muß ichernsthaft erfassen. – Wir sind also,« fuhr er lächelndfort, »auch über diesen besonderen Punkt Ihres Pro-gramms völlig einig.«

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»Und wenn Eure Excellenz nichts weiter für Öster-reich thun, als den Geist des Volkes von der lethargi-schen Fessel des Concordats zu befreien, so wird IhrName für immer in Österreich gesegnet sein.«

»Sie würden nun also kein Bedenken tragen, mit mirin aufrichtiger und fester Verbindung an der Heilungdes kranken Staatskörpers zu arbeiten?« fragte Herrvon Beust, indem der Ausdruck ruhiger Befriedigungaus seinen klaren Augen strahlte.

»Keines,« erwiederte Doctor Giskra, »wenn Eure Ex-cellenz das, was Sie mit mir für recht erkannt, fest undunbeirrt durchzuführen entschlossen sind.«

»Das bin ich,« sagte Herr von Beust. – »Ich habe,«fuhr er nach einem kurzen, sinnenden Schweigen fort,»immer die stille Hoffnung gehegt, daß es mir gelin-gen möchte, mich nicht nur mit den liberalen Parteien– der bisherigen Opposition – zu verständigen, son-dern auch die eminenten Kräfte, welche sich inner-halb dieser Parteien bisher in einer fruchtlosen Nega-tion verzehrten, heranziehen zu können zu wirkungs-voller Thätigkeit in der Regierung. Indem ich mit Ih-nen gesprochen habe,« fuhr er mit verbindlicher Nei-gung des Hauptes fort, »ist diese Hoffnung lebhafterals je geworden, mehr als je wünschte ich zum HeileÖsterreichs, mich, den Fremden, den das allerhöchsteVertrauen mit so schwerer Aufgabe beehrt hat, mit denersten und besten Geistern des Reiches zu umgeben,sollte meine Hoffnung mich täuschen?«

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»Halten Eure Excellenz es für möglich, das durch-führen zu können?« fragte Doctor Giskra ein Wenigerstaunt, »ein parlamentarisches Bürgerministerium inÖsterreich?«

»Ich bin von dem freien und hohen Sinne unseresallergnädigsten Herrn so tief überzeugt, daß ich keinenZweifel daran hege, wenn die – Bürger – das Parquetdes Hofes betreten wollen.«

Ernst und einfach antwortete Doctor Giskra: »Ichkenne den Ehrgeiz nicht, der nach äußerem Glänzestrebt, wohl aber denjenigen, welcher wünscht, seinemVaterlande so kräftig und wirksam als möglich zu die-nen, und wenn meine Gesinnungen und Ziele die al-lerhöchste Billigung finden sollten, so würde ich stetsbereit sein, in die Regierung einzutreten.«

»Und Ihre politischen Freunde?« fragte Herr vonBeust.

»Ich glaube, daß ich unter ihnen bereite und geeig-nete Männer finden würde, Herbst zum Beispiel, doches kommt dann noch eine Frage in Betracht,« fuhr erfort, »wie weit nämlich das Herrenhaus im Stande seinwird, sich den Forderungen der Zeit anzuschließen, ha-ben Eure Excellenz darüber eine Fühlung gewonnen?«

»Der Fürst Auersperg,« sagte Herr von Beust, »dererste Cavalier des Reiches, wie man ihn nennt, und mitRecht, ist tief durchdrungen von der Nothwendigkeiteiner freieren Bewegung und sein Einfluß ist groß.«

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»Der Fürst hat in der That bei der Eröffnung desHerrenhauses in großen Zügen ein meisterhaft ent-worfenes Bild der Lage des Reiches und der Aufgabendes Reichsraths entrollt,« sagte Doctor Giskra, »wennsein Einfluß vom Hofe unterstützt wird, so läßt sichein fruchtbares Zusammenwirken mit dem Herrenhau-se als möglich denken.«

»Nun, so erfassen wir denn mit Muth und Vertrau-en unsere Aufgabe, denken Sie nach über die Männer,welche Sie um sich versammeln möchten, ich werdenach anderer Richtung das Terrain vorbereiten, undich hoffe, in nicht zu langer Zeit soll dem Schooßedes neugeborenen, öffentlichen Lebens die neue Re-gierung Österreichs entsteigen, welcher Sie im vorausden schönen, edlen Namen des Bürgerministeriums ge-geben haben.«

Doctor Giskra stand auf und drückte kräftig die dar-gebotene Hand des Herrn von Beust.

»Dann wird diese Stunde keine verlorene sein fürmein österreichisches Vaterland,« sagte er mit warmemTone.

Herr von Beust begleitete ihn zur Thüre.»Ich hoffe,« sagte er, »es wird gelingen, mich mit die-

sen Männern zu umgeben und in dem Reichsrath fe-ste Stützen zu gewinnen, dann,« flüsterte er lächelnd,»wird der Schwerpunkt auch hier noch immer stark ge-nug sein, um das Gegengewicht gegen Pesth zu halten,und man dürfte meine Erbschaft nicht so leicht und

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so bald antreten, als man es vielleicht hofft. Doch jetztzum Kaiser!« rief er, ordnete seine Papiere in ein großesPortefeuille und zog die Glocke. »Die kleine Uniformund den Stephansorden!« befahl er dem eintretendenKammerdiener und begab sich in sein Toilettenzimmer.

NEUNUNDZWANZIGSTES CAPITEL.

Nichts war verändert im Cabinet des Kaisers FranzJoseph seit der gewaltigen Catastrophe des vorigenJahres, welche so mächtig das vielartige Gefüge desKaiserstaates in seinen innersten Fugen erschütterthatte. Da draußen war Alles anders geworden in derweiten Monarchie der Habsburger, die Regierung, wel-che in verschlossener Beschränktheit und kurzsich-tiger Überschätzung der traditionellen Macht Öster-reichs das große nationale Unglück herbeigeführt hat-te, war verschwunden, in neuem, autonomen Lebenerhob sich die feurige, ungarische Nation neben dendeutschen Reichsländern des Erben der früheren Kai-ser Deutschlands.

Wie vordem schon die eiserne Krone der Lombardenaus dem schimmernden Kranz der zahlreichen Diade-me des Hauses Habsburg verschwunden war, so warnun auch die Königin der Adria, das stolze Venedigmit seiner reichen Vergangenheit voll lichtem Glanzund finstern Schrecken, abgetreten an das neue ReichItalien, ein neuer Geist der Freiheit rauschte mächtigund lebendig durch alle Lande und Völker Österreichs,

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und langsam – langsam öffnete sich immer weiter einedunkle Kluft zwischen dem alten weihrauchduftendenund kerzenschimmernden Rom und dem neuen Öster-reich.

Das Alles war draußen vorgegangen im rasch dahin-strömenden Leben des Reiches, aber hier in des Kaisersstillen Gemächern, wo Alles das entstanden war, vonwo es hinausgedrungen war bis an die Grenzen desKaiserstaates, wo alle die Fäden zusammenliefen, woalle Schmerzen und Hoffnungen, alles Denken, Rin-gen, Wollen und Streben so vielseitig und mannigfaltigin einem Brennpunkt sich vereinigte, hier war Alles un-verändert wie sonst. Der Arrièrengardist stand vor derThüre im alten, weiten Vorzimmer, und im hellen Ca-binet saß der Kaiser im grauen Soldatenüberrock vorseinem Schreibtisch, eifrig beschäftigt, die zahlreichenPapiere, welche seinen Tisch bedeckten, durchzusehenund mit Randbemerkungen zu versehen.

Nur auf des Kaisers Antlitz sah man die Spur derZeit, welche in so kurzer Spanne so tief in die Ordnun-gen der politischen Welt eingegriffen hatte. Der Kai-ser war nicht gealtert, in Gesundheit und Kraft blühtesein Gesicht, aber der Schimmer stolzer Zuversicht, deres vordem erleuchtet hatte, war von demselben gewi-chen, eine stille Ergebung lag auf seinen Zügen undhätte einen schmerzlichen Eindruck machen müssen,

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wenn sie nicht verbunden gewesen wäre mit dem kla-ren, ruhigen Licht eines festen, kraftvollen Willens, ei-nes hohen, entschlossenen Muths. Dies kaiserliche Ant-litz war in der That das ausdrucksvolle Bild des öster-reichischen Landes: Schmerz über den schweren, ver-hängnißvollen Fall – kraftvoll ruhiger Entschluß, sichvon diesem Fall zu erheben zu glücklicher und hel-ler Zukunft, keine frohe leichtbeschwingte Hoffnung –aber ein treuer und zuversichtlicher Glaube an die Er-reichung des am Ende eines langen, mühevollen Wegeswinkenden, verheißungsvollen Zieles.

Der Kaiser hatte aufmerksam ein Papier durchlesen,das er in der Hand hielt, er warf es auf den Tisch undlehnte sich sinnend in seinem einfachen Sessel zurück.

»Die Bischöfe sehen den Sturm gegen das Concor-dat kommen,« sagte er, »und beschwören mich, fest-zuhalten an dem alten Bande, welches Österreich mitder Kirche und mit Rom verbindet! Es ist wahr,« fuhrer sinnend fort, »der neue Geist, der in Österreich er-weckt worden ist, erhebt sich mächtig gegen die Herr-schaft Roms, und ich sehe den Augenblick kommen, inwelchem der offene Kampf ausbrechen und eine Ent-scheidung von mir fordern wird, eine Entscheidungzwischen der Macht, welche vergangene Jahrhundertehindurch die Geister beherrschte und mit der Geschich-te meines Hauses und Reiches so eng verknüpft ist, undzwischen dieser anderen, neuen Macht, welche in sieg-reichem Flug die Herrschaft über die Geister unserer

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Tage erobert! – Roms Macht und Einfluß sei die wahreGrundlage der Stellung Österreichs, auf dieser Grund-lage müsse Österreichs Zukunft neu erbaut werden, sosagen sie. Aber,« rief er rasch aufstehend, nach einigenschnellen Schritten durch das Zimmer, »wo war dieseMacht, als Österreich am Boden lag, fast zertrümmertvon dem gewaltigen Anprall dieser preußischen Mas-sen? Hat Rom und seine Macht mich geschützt vor derbitteren Demüthigung dieses Prager Friedens?«

Er biß die Zähne aufeinander und blickte finster zuBoden.

»Und wenn ich zurückblicke in die Geschichte Öster-reichs,« sprach er weiter, »hat die große Maria There-sia, welche so fest und unerschütterlich zu Rom undseiner Herrschaft stand, darum Schlesien behalten?Rom hat seinen Bannstrahl geschleudert gegen diesenPreußenkönig mit seinem spitzen Degen und seinerscharfen Feder, aber das schöne Schlesien hat er dar-um doch behalten! Und waren es nicht wieder die eif-rigsten Freunde Roms, die im vorigen Jahre wie einenheiligen Kreuzzug diesen unglücklichen Krieg predig-ten, der mich reiche Provinzen kostet und unter des-sen furchtbarer Erschütterung der Grund meines Rei-ches erzitterte? Ich bin gewiß ein guter Katholik,« sag-te er mit leiser Stimme, »und Gott, der in die Herzensieht, weiß, wie treu ich festhalte am heiligen Glaubenmeiner Väter, aber sollen die Priester ihre Hände aus-strecken nach der weltlichen Macht, soll die Herrschaft

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der Kirche gegründet werden auf den Todesschlaf derGeister des Volkes?«

Er ging abermals in tiefen Gedanken auf und nieder.»Von allen Seiten höre ich,« sagte er dann stehen

bleibend, die Hand leicht auf seinen Schreibtisch ge-stützt, »von allen Seiten höre ich, daß die geistige Er-hebung Österreichs, welche es ebenbürtig neben diepreußische Macht in die Schranken stellen soll, nichtmöglich sei, so lange das Concordat den Geist des Vol-kes unter die Herrschaft der Priester giebt, und vieles,vieles, was ich selbst gesehen und beobachtet habe,sagt mir, daß Wahrheit in diesen Stimmen ist, die im-mer mächtiger zu mir heraufdringen. Und doch,« fuhrer, das Haupt neigend, fort, »der Geist des Unglaubens,der Gleichgültigkeit, des Atheismus geht finster durchdie Welt, immer mehr die Herzen loslösend von demewigen Mittelpunkt des Heils, von dem lichten Quellder göttlichen Gnade. Wird nicht dieser Geist des Bö-sen, dem schon so viel lockende Macht zu Gebote steht,immer furchtbarer die Welt umstricken, wenn der Kir-che die Waffen genommen werden, mit welchen sie dieGemüther der Einfältigen gegen die Versuchungen derfalschen Aufklärung verteidigt? Ging nicht das Para-dies verloren durch den Genuß der Frucht vom Baumeder Erkenntniß?«

Er ließ den Kopf tief auf die Brust sinken und standlange da in ernstem Nachdenken.

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»Aber hat denn die Kirche, um ihre Herrschaft zuerhalten, den Zwang des weltlichen Armes nöthig?«sprach er dann, »hat sie nicht die Waffen des Geistes,um die Geister zu leiten? – und wenn sie diese Waffennicht besitzt oder nicht zu gebrauchen versteht, kanndie weltliche Macht dann ihre Herrschaft sichern?«

Er schüttelte den Kopf, wie um die widersprechendsich kreuzenden Gedanken zu verscheuchen, und trateinige Schritte zum Fenster hin, den ernsten Blick zumblauen Himmel gerichtet, der da draußen glänzte imhellen Schein der Frühlingssonne.

»Es ist wieder ein Augenblick,« sagte er mit gepreß-ter Stimme, »in welchem ich verlangend mich sehnenach einem rathenden Freunde, der mit hellem undkraftvollem Geiste mir zur Seite stünde, wie Metter-nich, wie Kaunitz einst neben dem Thron meiner Vor-fahren standen. Und der Mann, der neben mir steht?«sagte er dann leise, »ich bewundere seinen scharfenVerstand, sein reicher Geist leuchtet und schimmert invielseitigen Strahlen wie die Façetten des Diamants,aber – aber – ist mit diesem klaren Licht auch die Här-te und Festigkeit des Edelsteins verbunden? Und vorallem in dieser Frage, die da ernst und gewichtig amHorizonte der nächsten Zukunft heraufsteigt, ist seinBlick da unbefangen und frei genug, um den rechtenWeg zu sehen? Er ist ein Fremder – ein Protestant!«sagte er dumpf, »die Größe Österreichs ist für ihn eineSache des Verstandes, eine Aufgabe der Pflicht, ein Ziel

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des Ehrgeizes, aber ist sie ihm keine Sache des Her-zens, kein Instinct des Blutes. – Und die Kirche, ihreMission und ihr Recht, kann das ihm Alles ehrwürdigheilig sein, ihm, der nach seinem Glauben die Grundla-ge der katholischen Kirche für Irrthümer halten muß?«

Ein kurzer Schlag an der inneren Thür ertönte.Rasch zusammenfahrend wendete sich der Kaiser

um, und mit fast unwilligem Blick sah er seinen ver-trauten Kammerdiener Dub an, der, die Flügel der Thüröffnend, rief:

»Die durchlauchtigste Frau Erzherzogin Sophie kai-serliche Hoheit steigen soeben die Treppe herauf.«

Betroffen schlug der Kaiser die Augen nieder.»Sollte die Lösung der Zweifel aus dem Munde der

Mutter mir kommen?« flüsterte er fast unhörbar. Danneilte er schnellen Schrittes der Erzherzogin entgegen.In der Thür des Salons erschien bereits die edle Ge-stalt derselben mit den feinen, kränklich zarten Zügen,den großen, sanften, ernsten und so geistvollen Augen,das Haupt von einem schwarzen Spitzentuch umwun-den, in einem schweren, dunklen Gewand mit weißenSpitzen, langsam mit einer trotz ihres Alters und ihrerKränklichkeit noch immer anmuthigen Würde einher-schreitend.

Mit einer Bewegung voll ritterlicher Galanterie undkindlicher Ehrerbietung führte der Kaiser die Hand derErzherzogin an seine Lippen und drückte einen innigen

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und liebevollen Kuß auf diese zarte, durchsichtig wei-ße Hand, während die sonst fast strenge abwehrendenAugen der hohen Frau mit einem warmen Blick vollmütterlichen Stolzes auf der schönen, kraftvollen Ge-stalt des kaiserlichen Sohnes ruhten.

»Meine theure Mutter erweist mir die Ehre, zu mir zukommen,« sagte Franz Joseph, indem er der Erzherzo-gin den Arm reichte, um sie in sein Cabinet zu führen,»warum hast du dir die Mühe des Weges gemacht undmir nicht den Befehl gesendet, zu dir zu kommen?«

Die Erzherzogin setzte sich in einen Fauteuil, wel-chen der Kaiser ihr heranrollte.

»Es drängte mich, dich schnell zu sehen, mein lie-ber Sohn,« sagte die Dame mit ihrer klaren, aber leisenStimme, »ich bin unruhig und besorgt, ich habe einenschweren, angstvollen Traum gehabt, der mir Maximi-lian zeigte – bleich – in weißem Gewande, mit Bluts-tropfen besprengt. Dreimal schlief ich wieder ein, unddreimal sah ich dasselbe Bild mit traurig wehmüthi-gem Blick mir erscheinen. Hast du Nachrichten vondeinem Bruder?« fragte sie, das Auge mit ängstlicherSpannung auf den Kaiser gerichtet.

Das Gesicht Franz Josephs, der vor seiner Mutter ste-hen geblieben war, verfinsterte sich, düster blickte erzu Boden und sprach mit dumpfem Tone:

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»Es sind keine neueren Nachrichten gekommen.Daß Maximilian als Kaiser verloren ist, unterliegt kei-nem Zweifel, für sein Leben besorge ich keine Ge-fahr, die Regierung der Vereinigten Staaten hat ernstli-che Vorstellungen bei Juarez gemacht, und Metternichschreibt, daß Napoleon Alles thut und thun wird, umeine tragische Catastrophe zu verhüten.«

Ein Ausdruck von unbeschreiblicher Bitterkeit er-schien auf dem Gesicht der Erzherzogin.

»Napoleon!« rief sie, die Achseln zuckend, »Napole-on, dieser böse Genius Österreichs, der Italien gegenuns erhoben und unterstützt hat, der in dem Augen-blick unseres Unglücks im vorigen Jahre nichts Ande-res zu thun wußte, als uns auch unsere letzte Besitzungauf jener Halbinsel zu entreißen, die so viel deutschesund österreichisches Blut getrunken hat, Napoleon, derdeinen unglücklichen Bruder mit trügerischen Verhei-ßungen hinübergelockt hat über den Ocean, um dorteinem französischen Vasallenreich den Glanz des habs-burgischen Namens zu geben, er, der ihn dann späterheimtückisch und verrätherisch im Stiche ließ, er sollihn retten? Oh mein Sohn,« rief sie schmerzlich, »wenndeinem Bruder Maximilian von Napoleon die Rettungkommen soll, dann ist er verloren!«

»Aber,« sagte der Kaiser Franz Joseph, unruhig eini-ge Schritte machend und dann wieder vor seiner Mut-ter stehen bleibend, »was kann ich thun, die MachtÖsterreichs reicht nicht über den Ocean, wenn meine

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Flotte an den Küsten der Adria sich Achtung verschaffthat, so ist sie doch nicht im Stande, in fernen Meerenmeinem Willen Nachdruck zu geben – und Frankreichist die einzige Macht, die hier helfen kann.«

Die Erzherzogin neigte das Haupt und bedeckte seuf-zend die Augen mit der Hand.

»So traurig und schmerzlich für uns alle,« fuhr derKaiser fort, »das Schicksal Maximilians ist, so muß mandoch gestehen, daß er es selbst heraufbeschworen hat;es hat doch wahrlich an Warnungen und Abmahnun-gen nicht gefehlt, daß er jenem lächerlichen Thron derWilden fern bleiben solle, und ich meinerseits habe esvor allem nicht an Vorstellungen mangeln lassen; wennsein Ehrgeiz ihn fortriß zu jenem phantastischen Un-ternehmen, so kann man dessen unglücklichen Aus-gang beklagen, aber doch in der That Niemand dieSchuld beimessen, als ihm selber.«

Die Kaiser hatte in ruhigem und ehrerbietigem Tonegesprochen, aber ein leichtes Zittern der Stimme ver-rieth seine innere Erregung.

Die Erzherzogin ließ die Hand von ihrer Stirn sinken,ihr Blick ruhte tief und ernst auf dem Kaiser.

»Mein Sohn,« sprach sie langsam in fast feierlichemTone, »laß in dieser Stunde keine anderen Gefühle indeinem Herzen sich regen, als die alte Liebe für dei-nen Bruder, der mein Sohn ist wie du, und bedenke,daß es sich dort bei der entsetzlichen Catastrophe inder weiten Ferne auch um die Ehre Österreichs – die

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Ehre des Hauses Habsburg handelt. Maximilian hat im-mer ein warmes und treues Herz für Österreich gehabt,und schmerzlich hat er sich von dem Vaterlande losge-rissen, das – wie er zu glauben schien« – fügte sie inleisem Tone hinzu, »seiner Kraft keinen ausreichendenSpielraum, seiner thatendurstigen Seele nicht die Ge-legenheit zu großem Wirken bot.«

»Der arme Max,« sagte der Kaiser traurig, »er hatnicht zurückkehren wollen, als alle Stützen seiner Re-gierung brachen, als er mit seinem klaren Verstandedie Unmöglichkeit, sein Werk durchzuführen, erken-nen mußte, das verstehe ich, so sehr ich es bekla-ge, und nun,« rief er bitter, die Zähne in die Lippendrückend, »nun ist es dahin gekommen, daß der Nach-folger der römischen Kaiser, der schon aus Deutschlandvertrieben, betteln sollte bei den Mächten Europas, umdas Leben seines Bruders zu retten!«

»Betteln bei Napoleon!« sagte die Erzherzogin mitstrengem, fast vorwurfsvollem Blick.

»Aber was kann ich anders thun!« rief der Kai-ser, »die einzige Macht, welche einen Einfluß zugun-sten Maximilians ausüben kann, ist Nordamerika, undtrotz einer noch dauernden Verstimmung nimmt mandoch in Washington immer Rücksicht auf die WünscheFrankreichs.«

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»Ich glaube, mein Sohn,« sagte die Erzherzogin,»daß ein Wort von Rußland die nordamerikanische Re-gierung zu weit ernsterer Thätigkeit veranlassen wür-de, als alle Wünsche Napoleons.«

»Rußland?« rief der Kaiser, »Rußland, das uns Seba-stopol nicht vergißt, das in jedem Unglück Österreichsnur mit stiller Schadenfreude die Strafe für unsere Un-dankbarkeit erblicken wird!«

»Und wenn es so wäre,« sagte die Erzherzogin lei-se, »würde man in Petersburg so ganz Unrecht haben?Hatte der Kaiser Nikolaus um uns verdient, daß wir ihnim Stich ließen, daß wir seinen Feinden die Möglich-keit des Sieges gaben und dadurch dieses französischeEmpire befestigen halfen, das nun seit jener Zeit dieWelt in Unruhe und Aufregung erhält, das uns unserenDienst bei Solferino so herrlich vergolten hat?«

Der Kaiser schwieg.»Doch,« fuhr die Erzherzogin fort, »es ist nicht so,

wie du annimmst, ich habe die feste Überzeugung,«sagte sie mit vollem Tone, »wenn du dem Kaiser Alex-ander die Hand reichst, so wird sie mit Herzlichkeitangenommen werden, die Vergangenheit wird verges-sen sein, und die alte Freundschaft, auf welche beideReiche so naturgemäß hingewiesen sind, wird wiedererstehen. – Vielleicht bietet die augenblickliche LageMaximilians die Gelegenheit zu persönlicher Annähe-rung, und du kannst zugleich deinen Bruder retten,

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und Österreich einen starken und zuverlässigen Ver-bündeten gewinnen.«

Der Kaiser ließ sinnend das Haupt auf die Brust sin-ken.

»Aber welche Demüthigung,« flüsterte er, »und doch– Beust sagt mir Ähnliches.«

»Beust?« rief die Erzherzogin mit dem Ausdruck ei-nes gewissen Erstaunens, »es wäre wahrlich seltsam,wenn seine Anschauungen sich mit den meinigen inirgend einem Punkte begegnen sollten.«

»Er wünscht dringend eine Verständigung und bes-sere Beziehungen mit Rußland und hofft, daß es gelin-gen werde, das Petersburger Cabinet von Preußen zutrennen und zu einer Verbindung mit Österreich undFrankreich herüberzuziehen.«

»Rußland von Preußen zu trennen!« rief die Erzher-zogin, den Kopf emporwerfend, in lebhafter Erregung,»das ist in der That eine von jenen überfeinen Combi-nationen, die nur jemand machen kann, der von demBoden der Wirklichkeit losgelöst ist und,« fügte sie mitverächtlichem Lächeln hinzu, »die großen Verhältnisseder Politik nicht kennt. Oh, ich wußte es wohl,« sagtesie mit leisem Seufzer, »daß meine Gedanken niemalsmit den Spekulationen des Herrn von Beust überein-stimmen können.«

»Aber,« erwiederte der Kaiser mit fast schüchternemAusdruck, »das Verhältniß zu Rußland ist in letzter Zeitschon freundlicher geworden, man könnte ihm noch

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mehr entgegenkommen, und es scheint, daß Frank-reich ebenfalls geneigt ist, die Hand zur theilweisenAufhebung der Beschränkungen zu bieten, welche mannach dem Krimkriege Rußland am Schwarzen Meerauferlegt hat, nur sind die französischen Vorschläge soweitgehend, daß sie kaum Annahme finden können,und daß ihre Ausführung selbst gefährliche Gährungenan unseren Grenzen hervorrufen dürften.«

Die Erzherzogin sah den Kaiser einen Augenblickschweigend mit tief durchdringendem ernsten Blickean.

»Mein Sohn,« sagte sie dann langsam und ruhig, »duweißt, daß es mein fester und unumstößlicher Grund-satz ist, mich niemals in die politischen Dinge zu mi-schen und dir meinen Rath aufdringen zu wollen. Danun aber die Politik zwischen uns berührt worden ist,und zwar in Bezug auf einen Punkt, der mir von höch-ster Wichtigkeit für dein Haus und dein Reich zu seinscheint, so will ich dir ein- für allemal meine Ansichtdarüber sagen, nicht um sie zu discutiren, du wirst siehören, prüfen und dann handeln, wie du es nach dei-ner Überzeugung für recht hältst, ich mache nicht denAnspruch, meine Meinung für die richtige angenom-men und befolgt zu sehen.«

Der Kaiser zog einen Sessel neben den Lehnstuhl beiErzherzogin, setzte sich und blickte mit gespannter Er-wartung in das ernste Gesicht seiner Mutter.

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»Ich habe,« sagte diese, »wie ich stets offen dir ge-genüber ausgesprochen, den unglücklich und verfehltcombinirten Krieg des vorigen Jahres auf das Tiefstebeklagt, wohl habe ich stets den innigen Wunsch ge-habt, Österreich seine Stellung in Deutschland zu er-halten, aber ich war auch überzeugt, daß dies nur mög-lich sei durch ein enges und festes Bündniß mit Preu-ßen, ein Bündniß, das jeden Conflict unmöglich mach-te, denn bei einem Conflict war unsere Niederlage fastmit Sicherheit vorauszusehen.«

Der Kaiser neigte schweigend das Haupt, finstereFalten legten sich über seine Stirn.

»Ich will nicht rückwärts blicken,« fuhr die Erzher-zogin fort, »nicht beurtheilen, was geschehen ist undwas hätte geschehen können. Diese unglückliche Po-litik der Luftschlösser ohne reelle Basis, welche deinjetziger Minister von Sachsen aus mit den Turnern,Sängern und dem Herzog von Augustenburg in Scenesetzte und welche man hier in der Staatskanzlei so be-reitwillig acceptirte, hat ihre Früchte getragen, blutige,entsetzliche Früchte.«

»Das Unglück soll wieder gutgemacht werden,« sag-te der Kaiser, »das ist die Arbeit dieser Tage.«

»Aber wie?« fragte die Erzherzogin. »Ich vermagmich nicht zu überzeugen, daß das, was jetzt im In-nern des Reiches geschieht, und in der Art, wie es ge-schieht, zur wirklichen Wiedererstarkung Österreichsführen kann. Ich habe,« fuhr sie fort, »nichts gegen den

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Ausgleich mit Ungarn, in dieser Nation wohnt eine ko-lossale militairische Kraft, welche einst Maria Theresiarettete, wenn sie auch im vorigen Jahre ihre Hilfe ver-sagte, auch eine Fundgrube unerschöpflichen Reicht-hums, aber bei dem Ausgleich, der sich jetzt vollzieht,sehe ich nur Zugeständnisse von unserer Seite, undvon der anderen – Versprechungen. Doch ich will überdie Form nicht rechten, wenn ich die Sache billige,ebenso bin ich gewiß – du weißt es – deiner Meinung,daß in Österreich selbst eine freiere Bewegung, einrüstigeres Anspannen der geistigen Volkskräfte Noththut, aber wird diese künstlich complicirte parlamen-tarische Maschinerie dahin führen? Wird sie nicht viel-mehr den Volksgeist verflüchtigen in rhetorische Spie-lereien, in Phrasenkämpfe und Wortklaubereien, wiezur Zeit des constitutionellen Schachspiels zwischenGuizot und Thiers in Frankreich, das zuletzt mit dem›Matt‹ des Königs endete? Und,« fuhr sie lebhafter fort,indem ihr Auge sich mit feurigem Glanz erfüllte, »manist auf dem Wege, die Kirche, ihr Recht und ihren Ein-fluß anzutasten, glaubst du, mein Sohn, daß das Öster-reich Heil und Segen bringen kann?«

»Die moralische Macht Preußens,« sagte der Kaiser,»welche uns gefährlicher noch gewesen ist, als seineBajonette, beruht auf der freien Intelligenz des Volkes,auf der straffen Concentration aller Fäden der Bildungund Erziehung in der Hand des Staates, welcher alle

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Klassen mit seinen Grundsätzen und Zielen zu durch-dringen weiß, so daß die Aufgaben der Staatspolitikvon dem unwillkürlichen, fast instinctmäßig einigenAufschwung des ganzen Volkes getragen werden; wol-len wir Preußen ernstlich und wirksam gegenübertre-ten, wollen wir,« rief er mit funkelnden Augen, »demHause Habsburg und Österreich wieder seine alte er-erbte, durch jahrhundertelange Arbeit erworbene Stel-lung in Deutschland zurückerobern, so müssen wir vorallem die mächtigsten Waffen des Gegners uns eben-falls zu eigen machen, nicht bloß das Zündnadelge-wehr, sondern auch die Bildung und Intelligenz desVolkes, welche den Gedanken der Regierung verstehtund ausführt, und dazu müssen alle leitenden Fäden,welche den Geist des Volkes bilden und bewegen, inder Hand der Regierung vereinigt sein, keine fremdeMacht darf den Geist des Volkes beherrschen, diesenGeist, der auch die Armeen erfüllen muß, welche ichin’s Feld sende!«

»Eine fremde Macht?« fragte die Erzherzogin, in-dem ihr klarer Blick ruhig auf dem erregten Antlitz desKaisers ruhte, »ist die katholische Kirche eine fremdeMacht in Österreich? – Mein Sohn,« fuhr sie fort, »Al-les, was man dir gesagt hat, und was du mit der reinenBegeisterung deines warmen Herzens so lebhaft erfaßthast, ist wahr – nur in einem Punkte sehe ich die Täu-schung. Warum soll Intelligenz, Bildung und Aufklä-rung in Österreich nur erzogen und gepflegt werden

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können, wenn man das Volk dem Einfluß der Kircheentzieht? Um den Geist des Volkes zu erheben und zuerleuchten, soll sein Glauben untergraben und erschüt-tert werden?«

»Wer denkt daran?« rief der Kaiser, »zweifelt mei-ne gnädigste Mutter an meinem festen Glauben, anmeiner tiefen, treuen Ehrfurcht gegen die Kirche? Vordem Altar ist mir der Priester heilig und hochehrwür-dig, aber hierarchische Herrschsucht soll die freie Be-wegung der Kräfte meines Reiches nicht hemmen.«

»Ein protestantischer Grundsatz!« sagte die Erzher-zogin, indem ihre seinen Lippen sich zu einem bitterenLächeln zusammenzogen. »Doch,« fuhr sie fort, »las-sen wir diesen Gegenstand, Gott hat dich berufen, diesReich zu regieren, und fern sei es von mir, dir meineAnsicht aufdringen oder einen Einfluß auf deine Ent-schlüsse ausüben zu wollen. Der Einfluß, den deineMutter ausüben will, ist der heiligste und berechtig-te – es ist das Gebet zu Gott, daß er meinen Sohn er-leuchten möge, das Rechte zu erkennen, und daß erseinem Streben den herrlichsten Segen der Vollendunggebe. Du wirst prüfen und entscheiden, was du für gutund recht hältst zur inneren Erstarkung Österreichs.Aber,« sagte sie nach einer kurzen Pause, »ein Wortaus treuem mütterlichen Herzen möchte ich dir sagenüber die auswärtigen Beziehungen, über die AllianzenÖsterreichs, über die Richtung, die meiner stillen Be-obachtung sich zeigt, die ein Wort von dir vorhin mir

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angedeutet hat. – Mein theurer Sohn,« fuhr sie mit in-niger, warm belebter Stimme fort, »ich verstehe, daßnach solchem Unglück, nach solchen Niederlagen, wiesie Österreich im vorigen Jahre erfahren hat, der heißeWunsch nach Wiedergewinn des Verlorenen, nach Ra-che für die erlittene Demüthigung in deinem Herzenglüht.«

Der Kaiser schwieg, finster blickte sein Auge zu Bo-den.

»Was menschlich natürlich ist,« fuhr die Erzherzoginfort, »ist politisch falsch, und würde schwer verhäng-nißvoll und verderblich für Österreich werden. Öster-reich ist umgeben von Italien, das nie, nie trotz allerVersuche und trotz aller Versicherungen unser Freundsein kann, von Preußen, das seine Hand auf Deutsch-land legt, und von dem mächtig erstarkenden Rußland,das die Bedingungen seines Lebens zum SchwarzenMeer hinabdrücken, wo seine Interessen denjenigenÖsterreichs begegnen. Preußen und Rußland müssenÖsterreichs bittere, unversöhnliche Feinde oder seinetreuen Freunde und Bundesgenossen sein, je nachdemsich Österreich zu ihnen stellt. Wenn wir die berechtig-ten Wege ihres Strebens ihnen offen lassen, so werdenwir mit ihnen vereint die Welt beherrschen, wie dieheilige Allianz zur Zeit Metternichs vor ihrem Willenalle Cabinette Europas sich beugen sah, wenn Öster-reich aber jenen Mächten ein Hinderniß wird, wenn esgar eine Politik der Rache befolgen sollte, dann werden

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eines Tages jene Mächte über das Reich der Habsbur-ger hereinbrechen mit vernichtender Gewalt, und wassie von diesem Reiche noch übrig lassen, das wird Ita-lien heimtückisch als willkommene Beute erfassen.«

Der Kaiser blickte fortwährend in düsterem Schwei-gen zu Boden.

»Dein Minister hat dir gesagt,« fuhr die Erzherzo-gin fort, »er wolle Rußland von Preußen trennen, ichwiederhole dir nochmals, mein Sohn, das ist ebensounmöglich, als es der Gedanke war, durch Depeschenund Verfassungsprojecte den deutschen Bund zu refor-miren, oder durch Beschlüsse der Turner und Schüt-zen ein augustenburgisches Herzogthum Schleswig-Holstein aufzurichten, keine Macht wird Rußland vonPreußen reißen, so lange diese Mächte nicht selbst ineiner beinahe unmöglichen Verblendung ihre gegen-seitigen Wege durchkreuzen, auf denen sie sich na-turgemäß niemals feindlich begegnen. – Wo soll nunÖsterreich Schutz und Beistand finden gegen diese ge-waltige, vom Norden und Osten herabdrohende Machtder militairisch concentrirten Monarchien? Du hoffst,«fuhr sie etwas lebhafter fort, den Blick durchdringendauf den Kaiser gerichtet, »du hoffst, diesen Beistand zufinden bei Frankreich, das heißt bei Napoleon, diesemManne mit dem doppelten Antlitz, diesem Manne, derdir Italien genommen, der dich bei Villafranca heillosbethörte –«

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Der Kaiser fuhr zusammen, seine Lippen öffnetensich, doch es drang kein Wort aus denselben, schwei-gend senkte er wieder das Haupt.

Die Erzherzogin fuhr, ohne diese Bewegung zu be-achten, mit ruhiger Stimme fort:

»Dieser Mann, welcher unter der Maske gleisneri-scher Ergebenheit den heiligen Stuhl in Rom und dieKirche ihren Feinden preisgiebt, welcher Alles Unheilheraufbeschworen, das die Welt erfüllt, er wird dichtreulos verlassen, wie er deinen Bruder Maximilianverlassen und geopfert hat, und wenn man ihm bie-tet, was er verlangt, so wird er sich mit Preußen undRußland noch lieber verbinden, als mit dir, denn dortist die Macht und der Erfolg, hier aber war das Un-glück und die Niederlage. Wenn er aber auch bis zumÄußersten mit dir geht, wenn er den Kampf aufnimmt,so wird er geschlagen werden, seine Macht wird zu-sammenbrechen und Österreich mit in den jähen Sturzherabreißen.«

Der Kaiser schüttelte langsam den Kopf.»Frankreich geschlagen?« sagte er mit ungläubigem

Lächeln.»Oh glaube mir, mein Sohn,« erwiederte die Erzher-

zogin in ernstem, überzeugungsvollem Ton, »die preu-ßische Macht ist mir wohl bekannt, ich habe schon seitJahren keine Gelegenheit versäumt, dieselbe zu be-obachten in ihren verschiedenen Elementen, sie wird

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Frankreich zerschmettern, wenn es zum Zusammen-stoß kommt, und wehe Österreich, wenn es dann aufder Seite des Besiegten steht. Höre mich,« fuhr sie fort,»ich verlange gewiß keine plötzliche und schnelle Ent-scheidung, ich will nicht eingreifen in die ruhige Über-legung, welche in so ernsten Dingen Noth thut, aberlaß das Wort deiner Mutter in dein Herz gelegt seinzu ernster Prüfung! Das Heil Österreichs liegt nicht indem unruhigen Streben nach Rache und Wiedererobe-rung des Verlorenen, die großen, mächtigen Alliirtender Vergangenheit werden auch die Zukunft des Rei-ches glücklich und groß machen. Wende dich hin zuRußland und Preußen, deren feste Verbindung dochnicht auseinandergerissen werden kann, dort findestdu feste Stützen, dort findest du den sicheren Bodenfür die Wiederaufrichtung der Macht Österreichs.«

»Aber wie könnte ich,« sagte der Kaiser, »nach allem,was vorgefallen –«

»Glaube mir, man wird dich dort von ganzem Her-zen willkommen heißen und dem alten Alliirten oh-ne Rückhalt die Hand reichen, laß mich durch meineSchwester Elisabeth die ersten Anknüpfungen machen.Der König Wilhelm wie der Kaiser Alexander haben ho-he Verehrung für sie, und so sehr sie sich sonst vonaller Politik zurückhält, so bin ich überzeugt, daß siezu solchem Werke, das so sehr im Geiste ihres seligenGemahls ist, gern und freudig die Hand bieten würde.«

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Der Kaiser war aufgestanden und ging einigemal imZimmer auf und nieder. Ein unruhiger Kampf maltesich in seinen Zügen. Die Erzherzogin folgte prüfendenBlickes seinen Bewegungen.

»Vor allem aber,« sprach sie, als der Kaiser ihr gegen-über stehen blieb und sinnend zu ihr herabsah, »vor al-lem flieh’ diesen treulosen Mann in Paris, der niemalsÖsterreich Gutes bringen kann. Denke daran, meinSohn, daß das Bündniß mit Frankreich deinem Hau-se und deinem Reiche immer verderblich gewesen ist,denke an die unglückliche Marie Antoinette, die die-sem Bündniß geopfert wurde, denke an Marie Louise,die dasselbe Bündniß zwar nicht mit dem Leben, abermit einer verfehlten und gebrochenen Existenz bezahl-te, finstere Schatten erheben sich zwischen Österreichund Frankreich und werden Unheil heraufbeschwören,wenn du dorthin die Hand ausstreckst. Droht nichtjetzt gerade ein neues Schreckniß, von Frankreich be-reitet dem Hause Habsburg, oh,« rief sie, indem einleichtes Schluchzen ihre Stimme halb erstickte, »ichkann die bange Angst um meinen Sohn, um deinenBruder nicht bannen, eine entsetzliche Ahnung ruft mirtief in die Seele hinein, daß er als ein neues Opfer fal-len werde der Politik Frankreichs, der finsteren Combi-nationen dieses falschen Napoleon.«

Der Kaiser ergriff die Hand der Erzherzogin.»Meine gnädigste Mutter,« sagte er mit bewegter

Stimme, »ich verspreche dir, Alles anzuwenden, um

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eine Gefahr für das Leben Maximilians abzuwenden,und,« fügte er langsam und nachdenklich hinzu, »ichdanke dir dafür, daß du mir so gütig deinen treuenRath in der heute so schwierigen Lage des Reiches hastgeben wollen, sei überzeugt, daß deine Worte tief inmeine Brust gegraben sind, ich werde Alles ernstlichund eifrig durchdenken, möchte mein Blick die Kraftfinden, das Rechte zu erkennen.«

»Wohl, mein Sohn,« sagte die Erzherzogin, sich erhe-bend und mit ihrem Taschentuch leicht über die feuch-ten Augen fahrend, »ich verlange nicht mehr – vergißmeine aus treuem und besorgtem mütterlichen Herzenkommende Mahnung nicht, ich werde vielleicht langenicht wieder mit dir über diese Dinge sprechen, die zuberühren mich heute mein volles Herz hingerissen hat,denke daran, daß, wenn dein Entschluß sich nach derSeite meiner Ansichten neigt, ich stets bereit bin, sei-ne Ausführung auf die zarteste und vorsichtigste Weisevorzubereiten. Und was du auch beschließen mögest,«fuhr sie fort, ihre Hand sanft auf die Stirn des Kaiserslegend, »Gott segne deine Entschließungen zum HeileÖsterreichs.«

»Amen!« rief der Kaiser mit tief bewegter Stimme.»Lebe wohl, mein Sohn, und gedenke in brüderlicher

Liebe des armen Maximilian.«Sie legte ihren Arm in den des Kaisers und verließ,

von ihrem Sohne geführt, das Cabinet durch die Thürnach den inneren Gemächern.

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Nach kurzer Zeit kehrte Franz Joseph zurück. In ern-stem, tiefem Nachdenken stand er lange unbeweglich,die Augen zu Boden gesenkt, dann richtete er sich mittiefem Athemzug auf und bewegte die Glocke.

»Ist der Baron Beust im Vorzimmer?« fragte er deneintretenden Kammerdiener.

»Zu Befehl, kaiserliche Majestät.«»Ich erwarte ihn,« sagte der Kaiser, und einige Se-

cunden darauf trat der Minister in der kleinen Uniformlächelnd und heiter, das dünne Haar zu beiden Seitender Schläfen sorgfältig frisirt, in das Cabinet.

Der Kaiser ging ihm freundlich entgegen. In seinemruhigen Lächeln war keine Spur mehr von der tiefen,finsteren Sorge, welche soeben noch auf seinem Antlitzgelegen hatte.

»Nun, mein lieber Minister,« sagte er, Herrn vonBeust die Hand reichend, »ich bin begierig zu hören,wie weit Sie mit diesen ungarischen Krönungsangele-genheiten gekommen sind, die Formen machen da fastebensoviel Mühe, als die Sache selbst.«

Er setzte sich vor seinen Schreibtisch und deuteteHerrn von Beust einen Sessel zu seiner Seite an.

Der Minister zog mehrere Papiere aus seinem Porte-feuille und sprach, dieselben überblickend: »Ich hoffe,daß nun in kürzester Frist Alles geordnet sein wird,und daß die Krönung am 8. Juni stattfinden kann; die

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Formen, Majestät, sind in der That von einer gewis-sen Wichtigkeit, da der ungarische Volksgeist mit die-sen Formen überall tiefere Bedeutung verbindet, und,«fügte er leicht lächelnd hinzu, »vielleicht erleichtert diesorgfältige Erörterung der Formfragen ein Wenig man-che sachliche Schwierigkeit. Zunächst, Majestät,« fuhrer fort, »wünschen die maßgebenden Kreise, und essoll darüber in geheimer Sitzung des Unterhauses Be-schluß gefaßt werden, daß in Ermangelung eines Pala-tins nicht der judex Curiae, sondern der Ministerpräsi-dent Graf Andrassy mit dem Fürsten Primas Ew. Maje-stät die Krone aufsetze, es ist das wohl ein Complimentfür Andrassy, das er wohl verdient hat.«

»Und vielleicht ein Wink für mich,« sagte der Kaiserlächelnd, »daß der constitutionelle Ministerpräsidentmir die constitutionelle Stephanskrone aufsetzt, dochgleichviel, ich bin damit einverstanden.«

»Zu Kronhütern sind vorgeschlagen,« fuhr Herr vonBeust fort, »der Graf Georg Karolyi und der Baron Ni-kolaus Bay.«

Der Kaiser nickte zustimmend mit dem Kopfe.»So sind denn fast alle Formalitäten geordnet,« sagte

Herr von Beust, »der Krönungshügel wird aus der Erdevon allen traditionellen Orten Ungarns bereits aufge-schüttet.«

»Es ist ein sonderbares Volk,« sagte der Kaiser sin-nend, »da halten sie so fest an dem alten Symbol,daß der König von dem Hügel herab, der die ganze

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Erde des Vaterlandes darstellt, das Schwert nach denvier Himmelsrichtungen den Feinden des Reiches ent-gegenschwingt, und doch wollen sie die Hand, die diesSchwert führen soll, einschnüren in das Gewebe con-stitutioneller Paragraphen!«

»Es bleibt,« fuhr Herr von Beust fort, »noch die defi-nitive Feststellung des Inauguraldiploms.«

»Ah,« sagte der Kaiser, »das ist der practische Kern indieser glänzenden Schale nationaler Symbolik.«

»Ich habe den Entwurf mitgebracht,« sprach Herrvon Beust, »wie er zwischen mir und dem Grafen An-drassy nach langen Erörterungen mit den ungarischenParteiführern nunmehr festgestellt ist, und möchte fürdenselben die allergnädigste Sanction Ew. Majestät er-bitten.«

Er ergriff einen großen Bogen, und die Augen aufdie Schrift gerichtet, fuhr er fort:

»Der Entwurf erwähnt zunächst die Olmützer Ab-dankung der Majestät des Kaisers Ferdinand, sowie dieResignation des durchlauchtigsten Erzherzogs FranzKarl, und hebt hervor, daß eingetretene schwere Hin-dernisse die Vornahme der Krönung nach Artikel 3 derConstitution von 1790 hinderten, daß 1861 zwar dieDocumente vorgelegt wurden, die Krönung selbst abernoch immer nicht vorgenommen werden konnte, daßdann endlich 1865 es gelungen sei, die Verfassung wie-derherzustellen, und daß man nunmehr endlich zu der

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feierlichen Krönung schreiten könne. Nach dieser Ein-leitung –«

»Aus welcher eigentlich indirect hervorgeht, daß ichbis jetzt gar nicht König von Ungarn war, und wel-che alle Erhebungen gegen meine Autorität quasi le-gitimirt,« warf der Kaiser ein.

»Ew. Majestät wissen, welche Bedeutung im Glau-ben des ungarischen Volkes die wirkliche Krönung mitder Krone Stephans des Heiligen hat,« erwiederte Herrvon Beust, »Ew. Majestät haben befohlen, daß die Ver-gangenheit abgeschlossen und vergessen sein soll, undjedenfalls werden Ew. Majestät in der Zukunft in Wahr-heit König von Ungarn sein!«

»Nachdem ich für immer der Hoffnung habe entsa-gen müssen, Kaiser in Deutschland zu sein!« flüsterteFranz Joseph leise.

»Nach dieser Einleitung,« fuhr Herr von Beust fort,»verspricht das Diplom zuerst Heilighaltung der imersten und zweiten Artikel von 1723 festgestelltenThronfolge, sowie der nach Artikel 3 vom Jahre 1790vorzunehmenden Krönung für Ungarn und die Neben-länder, Heilighaltung bei Verfassung, der gesetzlichenautonomischen Unabhängigkeit, Freiheit und Territo-rialintegrität.«

Der Kaiser neigte langsam das Haupt.»Wir werden ferner heilig halten,« sprach Herr von

Beust weiter, die Worte des Diploms lesend, »die ge-setzlich bestehenden Freiheiten und Privilegien, die bis

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jetzt geschaffenen, von Unseren Ahnen sanctionirten,sowie die erst ferner zu schaffenden von Uns als ge-kröntem König zu sanctionirenden Gesetze.«

»Die erst ferner zu schaffenden,« sagte der Kaiser,»welch ein Feld von Interpretationen, von Kämpfenund Schwierigkeiten umfassen diese Worte! Doch wei-ter.«

»Endlich,« sprach Herr von Beust weiter, »versprichtdas Diplom, die Krone im Lande zu behalten, alle Län-der und Appendices der ungarischen Krone, soweit die-selben schon zurückerlangt sind, zu Ungarn zu brin-gen.«

»Das geht sehr weit,« warf der Kaiser ein.»Es ist eine Phrase, Majestät,« erwiederte Herr von

Beust, »und wie bei allen weiten Phrasen bleibt hier einunbemessener Spielraum offen für Erörterungen undparlamentarische Discussionen, welche einer geschick-ten Regierung stets eine vortreffliche Stellung geben.«

»So lange keine großen Catastrophen hereinbre-chen,« sagte der Kaiser, »denn in ernsten Augenblickengestalten sich solche Erörterungen zu peremptorischenForderungen und die vortreffliche parlamentarischeStellung der Regierung wird zu einer practisch sehrprekären. Leider, leider,« sagte er seufzend, »hat die-ser Abschluß so viel offene Stellen, daß immer nochneue Abschlüsse aus ihm werden geboren werden.«

Er schwieg. Herr von Beust wartete einige Augen-blicke und fuhr dann fort:

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»Für den Fall des Aussterbens des königlichen Hau-ses garantirt das Diplom den Ungarn das alte ange-stammte Recht der freien Königswahl.«

»Gott wolle verhüten, daß dieser Fall eintrete,« sagteder Kaiser, die Hände faltend.

»Endlich sollen bei jeder künftigen Krönung dieseInauguralgarantien beschworen werden, schloß Herrvon Beust, das Blatt zusammenfaltend und den Blickerwartungsvoll auf den Kaiser richtend.

»Ich habe ja alle diese Punkte schon einzeln in Er-wägung gezogen,« sagte Franz Joseph, »und sie im we-sentlichen gebilligt, es bleibt ja jetzt auch wohl nichtsAnderes zu thun übrig, als sie zu genehmigen, wie sienun formulirt sind, doch täuschen kann ich mich dar-über nicht, daß hier viel – viel versprochen wird, unddaß ich bis jetzt wenig – sehr wenig von den Gegen-leistungen Ungarns gehört habe, da wir nun doch ein-mal aus dem Boden des constitutionellen Vertrages ste-hen.«

»Ew. Majestät,« sagte Herr von Beust, »müssen einWenig Vertrauen in die Geschicklichkeit Allerhöchstih-rer Regierung setzen. Ich zweifle nicht, daß auf demBoden dieses Ausgleichs das Verhältniß Ungarns imGesammtreiche Ew. Majestät sich fruchtbar und kräf-tigend gestalten werde, und daß die freie Mitwirkungder reichen Kräfte Ungarns mächtig dazu beitragenwerde, Österreich die große und gebietende Stellungwiederzugeben, welche ihm in Europa gebührt.«

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»Lassen Sie mir den Entwurf hier,« sagte der Kaiser,»ich möchte ihn noch genau in allen Punkten durchse-hen, und auch einmal mit Andrassy darüber sprechen.«

Ein wenig befremdet blickte Herr von Beust auf undlegte schweigend den Entwurf des Diploms auf denSchreibtisch des Kaisers.

Franz Joseph blickte wie in Gedanken versunken vorsich hin und schien zu erwarten, ob der Minister nochWeiteres vorzutragen habe.

»Bevor ich mir erlaube,« sprach Herr von Beust,leicht in seinen Papieren blätternd, »Ew. Majestät aufeinige Punkte der auswärtigen Politik unterthänigstaufmerksam zu machen, möchte ich bitten, eine etwasdelicate Sache zu berühren, in welcher vielleicht dieallerhöchst persönliche Einwirkung Ew. Majestät ange-zeigt sein möchte.«

Der Kaiser richtete rasch den Kopf empor und blickteerwartungsvoll auf den Sprechenden.

»Bei Gelegenheit der Luxemburger Verwicklung,«fuhr der Minister fort, »hat in Hannover eine lebhafteBewegung stattgefunden, zahlreiche Officiere und Sol-daten der hannoverischen Armee sind mit der ausge-sprochenen Absicht nach Holland ausgewandert, dorteine Legion zu bilden, um bei dem Ausbruch einesKrieges für die Wiedereroberung Hannovers zu kämp-fen.«

»Ich weiß davon,« sagte der Kaiser, »der König selbsthat es mir erzählt und mir zugleich gesagt, daß er von

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dem raschen Unternehmen jener Officiere, deren Treueund Hingebung ihn freudig berührt, nichts gewußt ha-be, und die armen Leute von Herzen beklage, welchevergeblich ihre Existenz geopfert hätten.«

»Ich zweifle durchaus nicht,« sagte Herr von Beust,»daß Seine Majestät persönlich dem übereilten Unter-nehmen jener jungen Leute vollständig fern steht, in-des sind bedeutende Mittel, aus der Casse des Königszur Unterhaltung dieser sogenannten Legion angewie-sen, und es gehen von Hietzing aus Befehle und An-ordnungen dorthin ab; man weiß dies in Berlin sehrwohl, und es ist zur Erhaltung der guten Beziehungenmit Preußen, welche doch in diesem Augenblick umeiner untergeordneten Frage willen nicht getrübt wer-den dürfen, in der That nothwendig, daß sich nicht un-mittelbar neben der Residenz Ew. Majestät ein Heerdvon Agitationen bilde, welche sich gegen den Bestanddes preußischen Staates richten, wie derselbe,« fügteer seufzend hinzu, »nun einmal durch den Prager Frie-den festgestellt und sanctionirt ist.«

»Der König von Hannover ist ein Opfer unserer Nie-derlage,« rief der Kaiser, »und wenn auch seine politi-sche Haltung schwankend, und unsicher war, persön-lich hat er ritterlich für die Sache eingestanden, dieuns damals gemeinsam war, ich habe ihm seinen Thronnicht erhalten können, ich bin ihm wenigstens ein frei-es und würdiges Asyl schuldig, Niemand kann es ihm

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verdenken, wenn er seinen treuen Officieren und Sol-daten Unterstützungen sendet, und so lange seine undseiner Umgebung Handlungen nicht gegen die Geset-ze Österreichs verstoßen, soll Niemand ihm die voll-ständige Freiheit seines Thuns und Lassens beschrän-ken oder verkümmern.«

»Ich war auch weit entfernt,« sagte Herr von Beust,sich verneigend, »irgend eine solche Beschränkung zuwünschen. – Seine Majestät kann gewiß seine frühe-ren Unterthanen, auch wenn dieselben sich mit denpreußischen Gesetzen in Conflict befinden, unterstüt-zen, und werde jede darauf gerichtete preußische In-terpellation bestimmt und würdig, ganz der Auffas-sung Ew. Majestät entsprechend zu beantworten wis-sen, indes,« fuhr er fort, »diese Beantwortung mußmir nicht unmöglich gemacht werden, wie dies fast ge-schieht, wenn die nächste Umgebung des Königs seineBeziehungen zu der Emigration in Holland des Cha-rakters einer einfachen Unterstützung entkleidet undan diese Angelegenheit die Erörterung politischer Plä-ne und Hoffnungen knüpft, welche Preußen allerdingsGrund zu Vorstellungen geben können. Der Polizeidi-rector Strobach,« sagte er, ein Papier aus seinem Porte-feuille hervorziehend, »berichtet, daß in einem Friseur-und Barbierladen zu Hietzing, wo zuweilen Herren vonder Umgebung des Königs sich rasiren und frisiren las-sen –«

»Nun?« fragte der Kaiser.

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»In diesem Friseurladen nun,« sprach Herr von Beustweiter, »sollen Pläne eines künftigen Krieges, einer In-surrection von Hannover, der Agitation im dortigenLande mit einer Rücksichtslosigkeit und Offenherzig-keit, ja mit Nennung von Namen besprochen werden,daß es in der That ein Wunder wäre, wenn die ver-schiedenen preußischen Emissäre, welche sich zur Be-obachtung des hannoverischen Hofes in Hietzing auf-halten, davon nichts hören sollten.«

Er reichte dem Kaiser das Papier, das er in der Handhielt. Dieser nahm es und durchflog schnell seinen In-halt.

»Es ist in der That beinahe unglaublich!« rief er. –»Der arme König!«

»Ein Wink,« sagte Herr von Beust, »den Ew. Majestätdem Könige zu geben die Gnade haben würden –«

»Nein,« rief der Kaiser, stolz den Kopf emporwer-fend, »das ist kein Gegenstand der Unterhaltung zwi-schen mir und dem König Georg; richtiger ist es,« fuhrer nach einigen Augenblicken der Überlegung fort, »Siesenden Strobach selbst nach Hietzing, der König hatihn empfangen und ist ihm sehr gnädig gesinnt, er sollselbst dem Könige mittheilen, was er Ihnen hier berich-tet hat, der König wird verstehen, daß er das nicht oh-ne meine Autorisation thut, und es ist genügend, daßer davon weiß, dann werden solche unerhörten Dingeein Ende nehmen.«

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»Ich bewundere die so treffende und doch so rück-sichtsvolle Entscheidung Ew. Majestät,« sagte Herr vonBeust, »und werde den Polizeidirector Strobach so-gleich mit der nöthigen Anweisung versehen.«

»Fürst Metternich fragt an,« fuhr er nach einer au-genblicklichen Pause fort, ein anderes Papier aus sei-ner Mappe hervorziehend, »ob Ew. Majestät bereits al-lerhöchst Ihre bestimmten Entschlüsse in Betreff desBesuchs der Pariser Ausstellung gefaßt haben; der Kai-ser Napoleon hat mehrfach danach gefragt und scheinteinen großen Werth darauf zu legen, daß Ew. Majestätmöglichst bald nach dem Besuche des Königs von Preu-ßen und des Kaisers von Rußland dorthin kommen.«

Der Kaiser richtete einen Augenblick schweigendden ernsten Blick auf den Minister.

»Also König Wilhelm und Kaiser Alexander gehenzusammen nach Paris?« fragte er.

»Es scheint bis jetzt so, vielleicht werden indes dieDispositionen noch geändert,« sagte Herr von Beustmit Betonung.

»Nun,« erwiederte der Kaiser, »dann ist es ja auchnoch nicht nöthig, meine Dispositionen endgültig fest-zustellen, ich möchte das Resultat jener Zusammen-kunft abwarten, auch weiß ich nicht, ob es sich ziemt,Dispositionen für diese Reise zu treffen, so lange überdas Schicksal meines Bruders Maximilian nicht völligberuhigende Nachrichten da sind.«

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»Ich möchte mir unterthänigst erlauben,« sagte Herrvon Beust, »Ew. Majestät besonders darauf aufmerk-sam zu machen, daß gerade das Unglück des KaisersMaximilian Napoleon ganz besonders bestimmt, sichÖsterreich zu nähern, und daß er gerade im Hinblickauf jene Catastrophe besonderen Werth darauf legt,den Beweis dafür zu empfangen, daß Ew. Majestät dasUnglück allerhöchst Ihres Bruders nicht ihm schuld ge-ben. Es möchte gewiß gut sein, diese Disposition zubenutzen, um für die Beziehungen zu Frankreich end-lich eine feste Basis zu finden, um so mehr, als die An-knüpfung einer freundlicheren Verbindung mit Italienwesentlich in der Voraussetzung –«

Ein starker Schlag ertönte an der Thüre zum äuße-ren Vorzimmer und unmittelbar darauf trat der dienst-thuende Flügeladjutant, Oberstlieutenant Fürst Liech-tenstein, schnell und mit erschrockener Miene in dasCabinet.

»Feldmarschallieutenant Graf Braida,« sagte der Fürstim Tone dienstlicher Meldung, »bittet Kaiserliche Ma-jestät um allergnädigstes Gehör, um einen dringendenAuftrag des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Al-brecht Kaiserliche Hoheit auszurichten.«

Der Kaiser hatte sich erhoben, winkte zustimmendmit dem Kopfe und blickte gespannt dem Feldmar-schallieutenant entgegen, welcher in der kleinen Uni-form, den Ausdruck schmerzlicher Erregung in Gesichtund Haltung, in die Thür trat.

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»Kaiserliche Majestät halten zu Gnaden,« sprach derObersthofmeister des Erzherzogs Albrecht, »ich bin aufBefehl des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs in allerEile gekommen, um Ew. Majestät ein großes Unglückzu melden!«

Das Gesicht des Kaisers zog sich schmerzlich zusam-men. »Seit langem bin ich keine anderen Meldungenmehr gewöhnt!« sagte er mit düsterem Blicke. »Spre-chen Sie, welch’ ein neuer Schlag ist gefallen?«

»Die Erzherzogin Mathilde,« sagte Graf Braida tiefaufathmend, »es ist entsetzlich, Kaiserliche Majestät,die Erzherzogin hat sich schwer verbrannt, es scheintkaum Hoffnung zu sein, sie am Leben zu erhalten.«

»Verbrannt?« rief der Kaiser, »wie, – wodurch – umGotteswillen?«

»Es ist noch nicht genau festgestellt,« sagte der Graf,»man hörte den Hilferuf der Erzherzogin auf dem Cor-ridor; als man hinzueilte, standen die Kleider in Flam-men.«

»Und was ist geschehen, was sagen die Ärzte?« riefder Kaiser.

»Die Erzherzogin ist entsetzlich verbrannt und ohn-mächtig von den furchtbaren Schmerzen, die Ärztevermögen noch nichts Gewisses zu sagen, doch schei-nen sie nicht viel Hoffnung zu haben, der Herr Erzher-zog hat mich sofort abgesendet, um Kaiserlicher Maje-stät Nachricht von dem schrecklichen Unfall zu geben.«

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»Eilen Sie zurück, mein lieber Graf,« sagte der Kai-ser mit bewegter Stimme, »und bringen Sie meinemOheim den Ausdruck meiner treuesten, herzlichstenTheilnahme, meiner innigsten Wünsche, daß das äu-ßerste Unglück vorüber gehen möge. Ich komme spä-ter selbst, um zu sehen, wie es geht.«

Er neigte grüßend das Haupt – der Feldmarschallieu-tenant zog sich mit tiefer Verbeugung zurück.

Herr von Beust hatte schweigend in tiefer Bestür-zung die ganze Scene mit angesehen.

»Welch’ ein entsetzliches Unglück!« sagte er tief auf-athmend. »Erlauben Ew. Majestät mir, mein tiefstesMitgefühl ehrfurchtsvoll auszusprechen.«

»Ich danke – ich danke,« erwiederte der Kaiser mitmilder Freundlichkeit, aber mit einer gewissen Zer-streutheit im Tone, »wir müssen heute abbrechen,mein lieber Minister,« sagte er dann, »diese Nachrichthat mich schwer erschüttert, ich bitte Sie, für morgenden Vortrag wieder aufzunehmen, die Sachen habenZeit bis dahin, nicht wahr?«

»Gewiß, Majestät,« erwiederte Herr von Beust, in-dem er sein Portefeuille schloß, schweigend, mit tieferVerneigung gegen den Kaiser, der ihn ernst und freund-lich grüßte, zog er sich zurück.

Lange stand Franz Joseph unbeweglich da. »Ist dasein Wink des Himmels?« sprach er endlich, den bren-nenden Blick mit dem Ausdruck banger Frage nachoben richtend, »will Gott selbst den Worten meiner

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Mutter einen so entsetzlichen Nachdruck geben? – Ma-rie Antoinette – Marie Louise,« fuhr er leiser fort, »Todund Unglück steht zwischen Frankreich und Öster-reich, die mütterliche Ahnung sieht bereits den Leich-nam Maximilians sich aus der dunklen Kluft erheben,die beide Mächte trennt, und jetzt legt Gott seineschwere Hand auf das jugendliche, blühende Leben,auf dies Leben gerade, das bestimmt war, den wich-tigsten Ring in der Kette einer neuen Verbindung zubilden mit dem Lande, welches das Blut von Habsburgauf dem Schaffot verspritzte. Oh mein Gott,« rief erlaut mit schneidender Stimme, »wer giebt mir Licht indiesem Dunkel, wer zeigt mir den Weg, den ich gehensoll?«

Er sank wie gebrochen in seinen Lehnstuhl undstützte den Kopf in die Hände.

Da begann weit herüber durch das Fenster herein-dringend eine ferne Glocke zu läuten, hell und reintrug die klare Luft die Schwingungen des Tons in daskaiserliche Cabinet.

Der Kaiser hob leise lauschend das Haupt empor.»Dort grüßt die irdische Welt mit ihrem letzten heili-gen Abschiedsklange ein stilles Herz, das zum ewigenFrieden eingeht nach des Lebens Kämpfen im dunklen,bescheidenen Arbeitskreise, und ich hier oben auf dervielbeneideten Sonnenhöhe des Lebens kann die Ruhenicht finden im wallenden Ringen der zweifelnden undzagenden Gedanken!«

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Immer ruhiger wurde sein Auge, immer friedensvol-ler der Ausdruck seiner Züge.

Wie unwillkürlich faltete er die Hände, und leise dieLippen bewegend sprach er:

»Oh mein Gott, deine Stimme redet zu uns nichtaus den prachtvollen Tempeln, nicht aus den brausen-den Hymnen, aber in reiner Klarheit dringt sie aus denHimmeln herab überall, wo ein Menschenherz in De-muth sich dir beugt und in liebevoller Einfalt wie dieKinder zu dir spricht: Hilf mir, du treuer Vater, dennich vermag nichts ohne dich! Hilf auch mir, du ewi-ger Vater der Großen und der Niedrigen, und sendedie Erleuchtung deines Geistes in meine Gedanken undEntschlüsse, wie dieser reine Glockenton den Gruß deshimmlischen Friedens in meine ringende Seele trägt!«

In einfach gleichmäßigen Tönen klang die Glockeweiter über das brausende und wogende Wien her,draußen ging der Gardist in gleichmäßigem Schritt aufund nieder, und in der tiefen Stille des einfachen Ge-maches betete der Kaiser um Erleuchtung zum Heil derVölker des weiten Reiches, das seine Hand zu beherr-schen berufen war. Immer demuthsvollere Ergebungsprach aus seinen Zügen, in immer gläubigerer Zu-versicht leuchteten seine Augen, und als endlich dieGlocke in lang nachhallendem Tone verklang, da er-hob er sich langsam und ruhig und sprach mit festemTone:

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»Vorwärts ohne Ermatten, je größer das Unglück,um so höher muß der Muth sein. Gott wird Österreichnicht verlassen!«

DREISSIGSTES CAPITEL.

Tiefe Ruhe herrschte im stillen Quartier der RueMouffetard, als sich mit raschem, festem Schritte einMann dem Hause näherte, dessen dritten Stock Mada-me Raimond bewohnte. Er trug ein Packet in groberLeinwand unter dem Arm und zog mit der gewohntenSicherheit eines Hausbewohners die Thürglocke. Deralte Schuhflicker erhob sich von seinem Bette und zogin mechanischer Ausübung seines Portierdienstes denCordon, welcher den Riegel öffnete, indem er zugleichdurch das Fenster blickte.

»Guten Abend,« rief George Lefranc mit lauter Stim-me, »ich bedaure, Sie gestört zu haben, aber Sie wis-sen, mein Metier –«

»Gute Nacht, Herr Lefranc,« sagte der Alte gut-müthig, »ich freue mich, daß Sie auch endlich zur Ruhekommen, gute Nacht!«

Und er schloß sein kleines Fenster, während der jun-ge Arbeiter mit leichtem, sicherem Schritt fast unhör-bar die schon völlig dunklen Treppen hinaufstieg.

Ebenso leicht und unhörbar öffnete er die Thür desVorplatzes, stand einen Augenblick lauschend still undklopfte dann mit der Fingerspitze vorsichtig und fastängstlich an die Thür des Zimmers, welches Madame

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Bernard bewohnte und aus dessen Schlüsselloch nochein heller Lichtstrahl hervordrang.

Man hörte einige schnelle Bewegungen in dem Zim-mer, die Thür öffnete sich, die junge Frau erschien undsprach lächelnd:

»Ich will sogleich meine Arbeit beenden, MadameRaimond, schelten Sie nicht –«

Ein Ausdruck des Erstaunens erschien auf ihrem Ge-sicht, als sie den jungen Mann erblickte. Mit einem ein-zigen scharfen Blick überflog sie seine Gestalt, seinevon Ruß geschwärzte Kleidung, sein aufgeregtes Ge-sicht, das Packet unter seinem Arm.

Dann schlug sie die Augen nieder, und indem sieeinen Schritt zurücktrat, ohne jedoch die Thüre zuschließen, sagte sie mit ernster Stimme:

»Herr Lefranc, ich hätte nicht erwartet, daß dieFreundschaft und das Vertrauen, das ich Ihnen bewie-sen, Ihre Achtung vor mir vermindern sollten.«

Der junge Arbeiter erröthete tief, rasch aber trat erin das Zimmer und schloß die Thür.

»Louise,« sprach er leise mit raschen Athemzügen,»verzeihen Sie diesen Mangel an Ehrerbietung, hörenSie mich an, ich bringe Ihnen gute Nachricht, etwas,was ich nur zu dieser stillen Nachtzeit Ihnen bringenkann, nur zwei Minuten, ich gehe sogleich wieder, undSie werden nicht mehr an mir zweifeln.«

Mit einer raschen Bewegung schlug er das grobe Lei-nentuch auseinander und stellte die darin verborgene

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kleine Cassette auf den von einer einfachen Lampe er-leuchteten Tisch.

Ein Blitz sprühte aus dem Auge der jungen Frau. Siestieß einen leisen Ausruf triumphirender Freude ausund stürzte mit einer unwillkürlichen Bewegung, wieein Tiger auf seine Beute, nach dem Tische hin, mit bei-den Händen die Cassette erfassend. Dann holte sie tiefAthem, schloß einen Augenblick die Augen und drück-te die Hände auf die Brust, wie um gewaltsam die Herr-schaft über sich selbst wieder zu erlangen.

Als sie die Augen wieder aufschlug, strahlte ihr Blickin sanfter Freude, sie trat zu George heran, reichte ihmdie Hand und sprach mit weichem Tone:

»Verzeihung, mein lieber Freund, wenn ich Ihnenin Gedanken Unrecht that, während Sie mir die Waf-fen zur Rettung meiner Ehre bringen, und,« fügte sieleicht erröthend hinzu, »mir den Weg öffnen zu mei-nem Glück!«

Sie trat ganz nahe zu ihm heran und lehnte ihrenKopf an seine Brust.

»Louise!« rief er in erschrockenem Tone, indem einStrom lichten Glücks aus seinem Auge sich ergoß, »se-hen Sie meine geschwärzte Blouse!«

Sie antwortete nicht, hob den Kopf ein Wenig empor,ohne ihn von seiner Brust zu entfernen, und schlug dieAugen mit einem Blick zu ihm auf, der ihn mit zittern-dem Wonneschauer erfüllte.

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Er beugte sich nieder und drückte innig, aber miteiner gewissen scheuen Zurückhaltung einen Kuß aufihre leicht geöffneten Lippen.

Einige Augenblicke blieben sie in dieser Umarmung,dann machte sie sich sanft los, sah ihm tief in die Au-gen und fragte: »Wie kommen Sie, theurer Freund,zu dieser Schatulle? Welchen Gefahren haben Sie sichausgesetzt für mich!«

»Fragen Sie nicht,« erwiederte er, düster zu Bodenblickend, »wenn die Vornehmen gegen uns das ganzeÜbergewicht ihrer Stellung und ihrer Mittel rücksichts-los gebrauchen, kann es da unrecht sein, wenn wir unsverteidigen mit den Waffen, die uns geblieben sind, mitder List und der Geschicklichkeit, welche die Arbeit unsgiebt?«

Er schwieg einen Augenblick.»Die Cassette ist da,« rief er dann, »welche so Wich-

tiges für Sie enthält, lassen wir das andere.«»Aber,« sprach sie, einen scharfen Blick auf ihn wer-

fend, »sind Sie sicher, daß nicht Nachforschungen Ver-dacht erwecken, Ihnen Gefahr bringen könnten, ichwäre untröstlich, wenn Ihre Hingebung für mich Ihnenverderblich –«

»Seien Sie außer Sorgen,« rief er in fast heiterem To-ne, »meine Wege wird man mir nicht nachgehen, Nie-mand wird jemals meine Spur finden. – Doch vor allemöffnen wir, damit Sie sehen, ob das von Ihnen Gesuchtewirklich darin enthalten ist! –«

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Die junge Frau eilte zu der Cassette. Sie war ver-schlossen.

»Haben Sie ein eisernes Werkzeug?« fragte er.Sie blickte umher und reichte ihm dann die Eisen-

stange, die zum Schüren des Feuers in dem Kamin auf-gehängt war.

Er machte mit seinem Taschenmesser einen Ein-schnitt in die Cassette, steckte die Eisenstange hinein,umwickelte dann das Ganze mit dem dicken Leinentu-che, um den Schall zu dämpfen, und mit einem mäch-tigen Druck seiner nervigen Arme war das Schloß ge-sprengt.

Er stellte das Kästchen offen auf den Tisch. Sie nä-herte sich ihm in schüchterner Bewegung.

»Mein Freund,« sagte sie mit leiser, leicht zittern-der Stimme, »ich habe kaum Worte, um Ihnen mei-nen Dank auszusprechen, die Aufgabe meines Lebenssoll sein, Sie glücklich zu machen, selbst wenn mei-ne Hoffnung mich täuscht und ich das Gesuchte nichtfinden sollte! – Doch nun,« fuhr sie fort, die Augen inreizender Verlegenheit zu ihm aufschlagend, »es wirdmir schwer, aber wenn Madame Raimond erwachte –uns hörte – Sie hier fände –«

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mit einemAusdruck voll Liebe und Glück blickte er sie an.

»Sie haben Recht,« sagte er mit flüsternder Stimme,»sehen Sie nach, ob Sie das Gesuchte finden. Morgenwerden Sie mir das erzählen. – Gute Nacht!«

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»Noch eins,« rief sie. »Ich muß für Sie vorsichtig sein,– nehmen Sie diese Cassette fort, Sie müssen sie zer-brechen und morgen früh die Stücke weit hinaus vordie Stadt tragen und in den Fluß werfen. Es muß jedeMöglichkeit einer Gefahr für Sie ausgeschlossen wer-den.«

Rasch nahm sie das Kästchen, schüttete seinen Inhaltauf die Kissen ihres Bettes und reichte dasselbe danndem jungen Manne. Darauf trat sie abermals dicht vorihn hin, und indem sie ihr Gesicht dem seinen näherte,flüsterte sie:

»Gute Nacht, mein lieber George!« Er hielt mit dereinen Hand die Schatulle, legte den anderen Arm umihre Schultern und drückte schnell seinen Mund aufihre Lippen.

Ein feuriger Strom schoß in seine Augen, sein gan-zer Körper bebte, rasch riß er sich los, und indem er mitkaum hörbarer Stimme hauchte: »Gute Nacht!« verließer das Zimmer und ging wie trunken mit schwanken-den, unsicheren Schritten hinüber nach seiner Woh-nung.

Nichts war auf dem Vorplatz zu hören, Alles wardunkel, daher hatte der junge Mann, auch wenn ernicht in einem Zustande sich befunden hätte, der dieBeobachtung ausschloß, nicht bemerken können, daßdie Thür zu dem Zimmer des alten tauben Herrn Mar-tinau nicht vollständig geschlossen war, sondern etwaeinen Finger breit offen stand.

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Als George in seiner Wohnung verschwunden war,schloß sich diese Thür ohne anderes Geräusch, als einleises, fast unhörbares Klappen des Schlosses.

Kaum war Antonie allein, so verschwand der wei-che, schüchterne und liebevolle Ausdruck von ihremGesicht. Ihr Auge blitzte in triumphirendem Stolz, ihreNasenlöcher öffneten sich weit wie die Nüstern einesedlen Pferdes, das auf der Rennbahn dem Ziele entge-genfliegt, und die in siegesfrohem Lächeln gekräuselteLippe ließ die glänzenden Zähne sehen.

Sie ergriff die Papiere, welche sie auf ihr Bett ge-worfen hatte, und trug sie zum Tisch in das Licht derLampe. Unter den Papieren befanden sich einige Gold-rollen.

»Ah,« rief sie lächelnd, »das Angenehme mit demNützlichen!«

Sie blickte einen Augenblick ernst vor sich hin.»Der Arme hat viel Mühe und Gefahr gehabt, er wird

noch einigen Kummer zu leiden haben, ich glaube, erliebt mich wirklich, fast hätte er mich gerührt, er sollwenigstens eine materielle Frucht haben!« Und sie trugdie Goldrollen in das Schubfach ihrer Commode.

»Nun, mein Herr Graf Rivero!« rief sie dann, sich vorden Tisch setzend, »Sie werden zufrieden sein! – Zuvoraber will ich diese Dinge ein Wenig für mich studiren.Wissen ist Macht, sagt man, und Macht will ich haben,also lernen wir ein Wenig, was hier Interessantes ver-borgen ist.«

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Und sie vertiefte sich in die Lectüre der Briefschaftenund Notizen, welche vor ihr auf dem Tische lagen.

Bald holte sie Papier und ein kleines Schreibzeugund begann eifrig einzelne Schriftstücke zu copiren.

Am nächsten Morgen traf sie George wie gewöhnlichauf dem Vorplatz.

Mit glücklichem Lächeln begrüßte sie ihn. »Ich ha-be gefunden, was ich suchte,« flüsterte sie, »nun kannich mit Nachdruck mein Recht verfolgen, doch,« fügtesie ernster hinzu, »eine neue Schwierigkeit tritt heran,wie kann ich diese Papiere produciren, ohne die Fra-ge zu erwecken, auf welche Weise sie in meinen Besitzgekommen?«

Er blickte sie betroffen an.»Etwas Großes ist immer gewonnen,« sagte sie, »ich

kann Ihnen gegenüber den Beweis führen, daß ichschuldlos bin, ein Opfer des Betrugs.«

»Hätte es eines solchen bedurft?« fragte er.»Für Sie – vielleicht nicht,« erwiederte sie, »für mich

war er unerläßlich, wir werden über das Alles ruhigsprechen und überlegen, was zu thun ist. Sie sind jamein Schutz und mein Rathgeber,« fügte sie mit liebli-chem Lächeln hinzu, »doch jetzt vor allem eilen Sie, dieCassette fortzubringen, Sie versprechen mir, die Stückein den Fluß weit vor Paris zu werfen?«

»Ich eile es zu thun,« sagte er, »möchte damit auchdie traurige Vergangenheit begraben sein.«

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»Meine Hoffnung gehört einer glücklichen Zukunft,«erwiederte sie, ihm die Hand drückend.

Madame Raimond trat aus ihrem Zimmer.»Die fleißige Jugend beschämt mich,« sagte sie,

freundlich die jungen Leute begrüßend, »Sie sindschon so früh auf, Herr George, nach Ihrer gestrigenNachtarbeit, zu der Sie schon abends aufbrechen muß-ten?«

»Ich habe einen nothwendigen Gang zu thun,« er-wiederte der junge Mann, »und ich bin es gewöhnt,wenig zu schlafen. – Auf Wiedersehen heute abend!«rief er, nahm ein kleines Packet aus seinem Zimmerund eilte die Treppe hinab.

»Ein vortrefflicher, braver junger Mann,« rief die alteFrau, ihm nachblickend, »er wird ein musterhafter Ehe-mann werden, wie es wenige giebt in unseren schlim-men Zeiten,« fügte sie mit einem lächelnd forschendenBlick auf ihre junge Mietherin hinzu. »Doch,« sagte sie,als diese wie verlegen den Kopf abwendete, »ich mußauch ausgehen, um meine Einkäufe zu machen. – Hü-ten Sie das Haus, mein liebes Kind, und wenn der armeHerr Martineau etwas braucht, so haben Sie wohl dieGüte, für ihn zu sorgen.«

Sie nahm ihren Korb, schlug ein kleines Tuch überden Kopf und verließ ebenfalls die Wohnung, um diekleinen Bedürfnisse ihres Haushalts unter den näch-sten Hallen einzukaufen.

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Antonie ging in ihr Zimmer. »So ist denn diese Fahrtin die Tiefen des Lebens beendet,« sagte sie, »glückli-cherweise war es eine absichtliche und freiwillige, ichhabe den Schatz gehoben, den ich zu suchen kam, undsteige wieder hinauf zur hellen Oberfläche von Glanzund Licht, reicher um einen Talisman, der zu Einflußund Macht führt!«

Ein leises Klopfen ertönte an ihrer Thür und gleichdarauf trat der alte Herr Martineau mit seiner Perrückeund seiner blauen Brille herein.

Mit freundlichem Lächeln ging ihm die junge Frauentgegen und fragte ihn mehr noch mit den Blickenals mit der Stimme:

»Womit kann ich Ihnen behilflich sein, mein Herr?«Der alte Mann trat völlig in das Zimmer und schloß dieThür hinter sich. Dann that er einige Schritte vorwärtsund sah sich nach allen Seiten um.

»Ich bitte Sie, Madame,« sagte Herr Martineau miteinem festen, kräftigen und entschiedenen Tone, dersehr wenig Ähnlichkeit mit der krankhaft leisen, mat-ten Stimme hatte, die man bei dem alten Manne zuhören gewohnt war, »ich bitte Sie, mir sogleich dieje-nigen Papiere zur Einsicht zu übergeben, welche HerrGeorge Lefranc Ihnen gestern in einer kleinen Cassettegebracht hat.«

Die junge Frau blickte wie versteinert diesen Mannan, der in so einfacher Weise von einer tief geheimniß-vollen Sache sprach und der in so befehlendem Tone

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von ihr die Herausgabe einer Sache verlangte, an wel-che sie so viel Mühe gewendet hatte und auf welchesie so viel Hoffnung setzte.

»Mein Herr,« sagte sie, »ich verstehe Sie nicht, – ichweiß in der That nicht –«

»Wir haben gerade eine Stunde Zeit,« sagte HerrMartineau ruhig, »so lange braucht Madame Raimondzu ihrem Ausgange wenigstens, das genügt – hier sinddie Papiere völlig geordnet.«

Er trat zu dem Tisch hin, auf welchen die junge Fraudas Packet gelegt hatte.

Sie sprang ihm mit blitzenden Augen entgegen undstellte sich vor den Tisch.

»Mein Herr,« rief sie, »ich begreife von Ihrem Be-nehmen nichts Anderes, als daß Sie sich hier in einemfremden Zimmer, in meinem Zimmer, in einer Weise be-tragen –«

»Zu der ich das völlige Recht habe, Frau Marche-sa Pallanzoni,« sagte Herr Martineau, sich gerade undkräftig aufrichtend, so daß auch die letzte Erinnerungan die zusammengesunkene, gebrechliche Gestalt desalten, kranken Mannes verschwand, zugleich nahmer seine große blaue Brille ab und blickte die jungeFrau mit zwei dunklen, völlig gesunden, scharfen unddurchdringenden Augen an.

Antonie ließ die zur Abwehr erhobenen Arme sinkenund starrte einen Augenblick bewegungslos in dieses

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völlig fremde, kalte und energische Gesicht, das sichso plötzlich wie durch Zauberei ihr gegenüber befand.

Schnell aber fand sie ihre Fassung wieder, und indemsie mit stolzem Blick den Unbekannten vor ihr maß,sagte sie in ruhigem Tone:

»Es ist jedenfalls Ihr Recht, mein Herr, sich das Ver-gnügen aller möglichen Verkleidungen zu machen –und Sie scheinen darin einige Geschicklichkeit zu be-sitzen, ich muß Sie nunmehr aber bestimmt bitten, diesZimmer, welches das meinige ist, zu verlassen.«

Der Unbekannte, welcher sich aus der Hülle des al-ten Herrn Martineau entpuppt hatte, zog eine Karteaus der Brusttasche seines Rockes und hielt sie der jun-gen Frau hin.

»Sie werden sich hierdurch überzeugen, Madame,«sagte er ruhig, »daß ich ein Recht habe, meine For-derung zu stellen. Es wird nur auf Sie ankommen, obSie dieselbe gutwillig erfüllen wollen oder ob Sie michzwingen wollen, andere Mittel zu gebrauchen, derenFolge die gerichtliche Erörterung darüber sein würde,welchen Antheil die Frau Marchesa Pallanzoni an ei-nem gewissen Cassettendiebstahl hat und in welchemZusammenhange dieselbe Frau Marchesa mit einer Da-me steht, die vor einem Jahre als Madame Balzer inWien lebte. – Sie sehen also, fernere Zögerung wirduns nur die kostbare Zeit verlieren lassen.«

Antonie sank in sich zusammen, aschfahle Blässe be-deckte ihr Gesicht, sie war keines Wortes mächtig und

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hielt sich mit den zitternden Händen am Rande des Ti-sches.

Ruhig und mit einer gewissen weltmännischen Ar-tigkeit zog der Mann einen Stuhl herbei, auf welchensie sich kraftlos niederfallen ließ.

Er trat dann an den Tisch und öffnete das auf dem-selben befindliche Packet. Sie verfolgte seine Bewegun-gen mit starrem Blick, nur ein dumpfes Stöhnen drangaus ihren krampfhaft verzerrten, bleichen Lippen.

»Seien Sie übrigens unbesorgt, Madame,« sagte derUnbekannte, welcher sich vor den Tisch gesetzt hatteund die einzelnen Papiere durchsah, »es ist nicht mei-ne Absicht, Ihnen diese Documente, deren Besitz fürSie werthvoll ist, zu nehmen, ich will nur deren Inhaltkennen und von den für mich bedeutungsvollen Papie-ren eine Abschrift nehmen.«

Antonie sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blickan. Ihre Züge wurden freier, die Farbe trat in ihre Wan-gen zurück und ein fast unmerkliches feines Lächelnspielte um ihre Lippen. Es lag auf ihrem Gesicht wie einAusdruck der Bewunderung für diesen Vertreter einergeheimnißvollen Macht, welcher sie an List, Gewandt-heit und Verstellung überboten hatte.

»Sie haben mir,« sagte der Mann, »meine Aufgabeerleichtert, indem Sie die Copien, deren ich bedarf, be-reits gemacht haben, sie sind genau und richtig, wirkönnen unser Geschäft abkürzen, indem Sie mir er-lauben, diese Copien mit mir zu nehmen. Sie werden

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nur die Mühe haben, sie noch einmal zu machen, dafüraber um so schneller die Freiheit haben, diesen für Siegewiß nicht anziehenden Ort zu verlassen.«

Antonie hatte ihre vollständige Ruhe wiedergewon-nen. Mit einer leichten Neigung des Kopfes gab sie dasZeichen des Einverständnisses. Der Fremde stand auf,nachdem er die Copien in die Tasche seines Rockes ge-steckt hatte.

»Unser Geschäft ist beendet, Madame,« sagte er,»und ich will Sie keinen Augenblick länger aufhalten,– erlauben Sie mir indes, Ihnen noch einen Rath zugeben.«

Antonie sah ihn erwartungsvoll an.»Sie beschäftigen sich mit politischen Dingen,« fuhr

er fort, »und – wie ich soeben gesehen habe, mitgroßem Geschick und Erfolg; dagegen ist nun an sichgar nichts zu erinnern; sollten Sie jedoch bei dieserBeschäftigung falsche Wege einschlagen, so wird manSie warnen, beachten Sie solche Warnung, vielleichtwird sie Ihnen durch mich kommen, vielleicht auf an-derem Wege, hüten Sie sich, derselben entgegen zuhandeln, denn die Folgen würden schwer auf die Mar-chesa Pallanzoni – und Madame Balzer zurückfallen.«

Antonie neigte schweigend den Kopf. Der Unbekann-te zog ein Blatt Papier aus der Tasche und reichte es derjungen Frau.

»Hier, Madame,« sagte er, »ist eine Adresse, bedür-fen Sie einer Aufklärung, eines Rathes, so schreiben

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Sie zwei Worte an diese Adresse und Sie werden be-friedigende Antwort erhalten.«

Antonie blickte auf das Papier und las: Mademoisel-le Pierrine Chamart, Couturière, Boulevard du Temple13.«

Sie lächelte.»Vielleicht wird man zuweilen von Ihrer Geschick-

lichkeit einen Dienst wünschen,« fuhr der Mann fort,»man wird sich an Sie wenden und für jeden geleiste-ten Dienst sich bei jeder Gelegenheit erkenntlich be-weisen.«

Mit einem scharfen Blick, in welchem ein schnellerBlitz aufleuchtete, neigte sie zustimmend den Kopf.

»So habe ich mich nur noch der Frau Marchesa ehr-erbietigst zu empfehlen,« sagte der Fremde in ruhigemTone und ohne jeden Anklang von Ironie, dann setz-te er seine blaue Brille wieder auf, in wenig Augen-blicken war seine feste und gerade Gestalt zu kränkli-cher Gebrechlichkeit zusammengesunken und langsamdie Thüre öffnend ging er über den Vorplatz nach sei-nem Zimmer hin.

Antonie blieb auf ihrem Stuhle sitzen und blickte wieträumend vor sich nieder.

»Ich hatte geglaubt,« sagte sie nach einigen Augen-blicken mit tonloser Stimme, »meine Flügel ausbrei-ten zu können zum kühnen Flug nach den Höhen desLebens – und da hängt sich abermals diese Kette der

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Vergangenheit mit bleiernem Gewicht und unzerreiß-bar an meinen Fuß! – Ist es denn unmöglich,« rief sieaufstehend mit funkelndem Auge, »dies Gespenst dereigenen Vergangenheit zu bannen, das uns folgt undseinen Schatten drohend auf die hellen Bilder der Ge-genwart und die Hoffnungen der Zukunft wirft?!«

Sie schritt in tiefen Gedanken auf und nieder – fin-steres Sinnen lag auf ihren Zügen.

Endlich blieb sie stehen, ein feines Lächeln spielteum ihre Lippen, ein befriedigender Gedanke schien inihrem Geist aufzutauchen.

»Vielleicht aber kann diese neue Kette, die ich daentdeckt habe,« sagte sie flüsternd, »dazu dienen, jeneandere zu zerreißen, welche meinen Willen und meineBewegungen fesselt. – Zwei Kräfte kann man beherr-schen, indem man die eine durch die andere bekämp-fen läßt, wohlan – ich will meiner Geschicklichkeit ver-trauen! Ah! mein Herr Graf von Rivero, vielleicht habeich da das Mittel gefunden, mich Ihrer stolzen Herr-schaft zu entziehen!«

Sie nahm das Packet vom Tische und die Goldrollenaus dem Schubfach und ließ beides in die Tasche ih-res Kleides gleiten. Dann warf sie einen letzten Blickin dieses Zimmer, das eine Zeitlang ihre Gedanken, Er-innerungen und Zukunftsträume eingeschlossen hatte,und stieg rasch die Treppe hinab.

Freundlich grüßte sie den alten Schuhflicker in derPortierloge, verließ das Haus und schritt schnell, das

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Gesicht dicht mit dem kurzen dunklen Schleier ver-hüllt, den eleganten Stadttheilen von Paris zu.

Einige Augenblicke später stieg der alte Herr Marti-neau hinab. Zitternd und vorsichtig mit dem Stock vorsich her tastend, schickte er sich an, seinen kurzen täg-lichen Spaziergang zu machen.

Still und einsilbig saßen am Abend George Lefrancund Herr Martineau bei Madame Raimond in derenkleinem Zimmer um den von der geselligen Lampe er-leuchteten Tisch. Unruhig blickte die alte Frau nachder Thüre, düster starrte der junge Arbeiter vor sich,mit seinem immer gleichen, ruhigen und verbindlichenLächeln sah der alte Mann mit der blauen Brille da.

»Unsere liebenswürdige Freundin läßt lange auf sichwarten,« sagte er endlich mit seiner dünnen, kränkli-chen Stimme.

George stand auf. Die Hände zusammenballend, trater an das Fenster und blickte schweigend in die tieferund tiefer herabsinkende Nacht hinaus.

»Ich begreife das nicht,« sagte Madame Raimond,»sie ist vormittags ausgegangen und ist doch sonst nie-mals abends fortgeblieben, mein Gott, sollte es möglichsein, daß ihr ein Unglück zugestoßen wäre?«

Mit rascher Wendung trat George in das Zimmer zu-rück. Eine unsägliche Angst sprach aus seinen groß ge-öffneten Augen, seine Lippen bebten, Leichenblässe lagauf seinen Zügen.

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»Haben Sie eine Idee, wohin sie gegangen sein kann,Madame Raimond?« fragte er mit zitternder Stimme.

»Nein, nicht im Geringsten,« sagte die alte Frau, »seitsie hier ist, ging sie nur aus, um ihre Arbeiten fortzu-tragen, wie ich glaube in die Nähe der Boulevards.«

»Man müßte sie suchen!« rief der junge Mann.»Was könnte das helfen?« fragte Madame Raimond,

»wie wollte man sie in diesem großen Paris finden,wenn ihr wirklich etwas widerfahren wäre, und wenndas nicht der Fall ist – was der Himmel gebe – so wirdsie kommen.«

»Es ist wahr,« sagte George leise, »während man aufden Straßen umherliefe, würde sie kommen.«

Und wie überwältigt von seiner Unruhe und Aufre-gung verließ er das Zimmer, um in der Einsamkeit Ru-he und Fassung zu suchen diesem unerklärlichen Aus-bleiben derjenigen gegenüber, an welche sich sein Herzmit allen seinen Lebensfasern festgerankt hatte.

Mitleidig sah ihm die alte Frau nach. »Der arme,junge Mensch,« sagte sie vor sich hin, »er liebt sie sosehr, wie entsetzlich, wenn ihr ein Unglück begegnetsein sollte!« George war auf den Vorplatz getreten undschritt nach seinem Zimmer hin.

Leise öffnete sich die äußere Thüre. George eilte vonfroher Hoffnung durchschauert rasch derselben zu.

Ein Mann in der Tracht der öffentlichen Dienstmän-ner trat ein.

»Herr George Lefranc?« fragte er.

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George nickte erstaunt und enttäuscht mit dem Kopf.»Eine Dame,« sagte der Mann, »hat mir dies Packet fürHerrn George Lefranc – allein für ihn – gegeben, unddiesen Brief für Madame Raimond, die ja wohl auchhier wohnt.«

Er reichte dem jungen Arbeiter ein kleines, ziemlichschweres Packet und einen Brief.

Zitternd vor banger Aufregung rief George: »Wo wardie Dame, wo hat sie Ihnen dies gegeben?«

»An der Ecke der Rue de Rivoli und der Rue Royale,«erwiederte der Mann unbefangen.

»Und wohin ist die Dame gegangen?«»Das habe ich nicht bemerkt, sobald ich meinen Auf-

trag und die Bezahlung dafür erhalten, habe ich michauf den Weg hierher gemacht.«

»Es ist also nicht lange her, daß Sie die Dame gese-hen?«

»Eine halbe Stunde,« sagte der Mann, und da Geor-ge schwieg, so grüßte er höflich und stieg die Treppewieder hinab.

Der junge Arbeiter machte eine Bewegung, als wolleer ihm nacheilen, dann aber trat er in sein Zimmer ein,zündete schnell ein Licht an und öffnete das kleine fürihn bestimmte Packet.

Es enthielt einige Goldrollen und ein beschriebenesPapier. Hastig näherte er dasselbe dem Licht und las:

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»Mein theurer Freund! Als ich meine Wohnung heuteverließ, begegnete ich in der Nähe meines Hauses mei-nem Oheim, von dem ich Ihnen gesprochen. Er hattemeine Spur, ich weiß nicht wie, gefunden und verlangtmeine sofortige Rückkehr zu ihm, da meine persönli-che Anwesenheit für Familienakte, die mit Erbschafts-angelegenheiten zusammenhängen, nothwendig ist. Erhat als Stellvertreter meines Vaters Macht über mich,auch wage ich nicht durch Widerstand Aufsehen zuerregen, besonders aus Rücksicht auf die Verhältnisse,welche Sie kennen. Ich folge ihm also, nicht auf lange.Beunruhigen Sie sich nicht und suchen Sie mich nicht,ich kehre bald zurück – zu meinem Freunde. – Ich hat-te den Inhalt der Gabe Ihrer Freundschaft mit mir ge-nommen, um ihn in Sicherheit zu haben, es befand sichdarunter auch dasjenige, was ich Ihnen hierbei sende,verwenden Sie es zu einem guten Zweck.

Auf Wiedersehen Ihre Freundin Louise.«Lange blickte der junge Mann starr und still auf diese

augenscheinlich in großer Eile auf das Papier geworfe-nen Zeilen.

»Warum gerade heute?« flüsterte er, »heute, nach-dem sie jene Briefe erhalten, nachdem ich für sie –«

Er sprang auf und preßte beide Hände gegen dieStirn. »Welches Dunkel umgiebt so plötzlich den hellenLichtkreis meiner Hoffnungen!« rief er mit tiefschmerz-lichem Ausdruck. Langsam ließ er die Hände sinken

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und neigte gedankenvoll den Kopf. »Was wäre die Lie-be,« sprach er, »ohne Vertrauen? und ich liebe sie, ohich liebe sie so sehr! – Also will ich auch an sie glauben,mein Vertrauen soll nicht erschüttert werden!«

Seine Züge nahmen den Ausdruck eines ruhigen, fe-sten Entschlusses an, mit einem gewissen widerwilli-gen Schauder ergriff er die Goldrollen und schloß siein das Schubfach des einfachen Tisches. Dann nahm erden für Madame Raimond bestimmten Brief und kehr-te in das Zimmer der alten Frau zurück.

»Wir können ohne Sorge um Madame Bernard sein,«sagte er mit festem, zuversichtlichem Tone, »sie hatunvermuthet einen Verwandten getroffen, mit dem siesogleich und ohne Vorbereitung hat abreisen müssen.Binnen kurzem wird sie zurückkehren. Ein Bote brach-te mir soeben die Nachricht und diesen Brief für Sie.«Er übergab der alten Frau das Schreiben.

Diese setzte ihre Brille auf und durchflog den kurz-en Inhalt. »Nun,« sagte sie dann, »es thut mir sehr leid,daß sie einige Zeit fort ist, ich begreife nicht, wie dasAlles so gekommen ist, ich werde ihre Sachen, wie siebittet, gut aufbewahren, bis zum Ende des Monats hatsie Alles pünktlich vorausbezahlt, das gute Kind. – Siemüssen sich ein Wenig in der Geduld üben, Herr Geor-ge,« sagte sie freundlich lächelnd.

»Unserer Freundin ist nichts Unangenehmes begeg-net?« fragte Herr Martineau in seiner bescheidenen,verbindlichen Weise. Madame Raimond schüttelte den

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Kopf. Dann trennte sich der kleine Kreis still und trau-rig. Bis zum Morgen saß George in seinem Zimmer –immer und immer wieder las er die wenigen Zeilenund rief vor seinem inneren Blick das Bild der Gelieb-ten herauf, mit aller Kraft des Willens es immer wiederrein und klar heraushebend aus den Nebeln des Zwei-fels, welche es verdunkeln wollten.

EINUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Ein zahlreiches und äußerst gewähltes Publikumhatte sich am Nachmittage des 5. Juni 1867 auf demNordbahnhof zu Paris versammelt. Der Bahnhof selbstwar festlich decorirt, auf den rings umher erbautenTribünen sah man das diplomatische Corps mit denDamen und eine große Zahl von Personen der erstenGesellschaft. Der Perron war vollständig freigehalten.Sergeants de Ville mit ihren dreieckigen Hüten, langenFracks und spitzen Degen hielten überall den Andrangdes großen Publikums zurück, welches sich in dichterMasse versammelt hatte, und an den Ausgängen desBahnhofs herandrängend, den ganzen Platz erfüllte.

Man erwartete die Ankunft des Königs Wilhelm vonPreußen, dessen Besuch der großen Weltausstellunglange zweifelhaft gewesen war, und der nun dochkam, um hier in Paris mit seinem kaiserlichen Nef-fen, dem Selbstherrscher aller Reußen, zusammenzu-treffen. Ein unruhiges Wogen ging durch die dichte

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Menge, und über dieser ganzen gedrängten Menschen-masse schwebte jenes unbestimmbare brausende, baldanschwellende, bald leiser verwehende Geräusch, wel-ches aus einer ruhig wartenden Menschenmenge her-vorsteigt wie die fernher tönende Stimme des Meeres,der erste Anfang jenes tobenden, vernichtend daher-rollenden Donners, welcher dem Zorn der im Sturmaufwallenden Fluthen wie der furchtbaren Erhebungder wild bewegten Volksmassen vorhergeht.

Die Pariser waren in sehr gemischter und ziemlichunklarer Stimmung dem fürstlichen Gaste gegenüber,welcher kommen sollte, um die Wunder der Ausstel-lung zu sehen, um den Kaiser und die französische Na-tion zu besuchen.

Das französische Volk hatte den Preußen gegenübersehr verschiedenartige und sehr getheilte Empfindun-gen. Die ältesten Traditionen waren freundlicher Na-tur – Fréderic le Grand ist den Franzosen trotz Roß-bach eine sympathische Erscheinung, zu welcher sievoll hoher Bewunderung aufblicken, und welche siewegen seiner äußerlich französischen Richtung undseiner Protection Voltaires ein Wenig zu den Ihrigenzählen. Die Erinnerungen von 1813 sind zwar nichtfreundlicher Natur, aber der Zorn der Besiegten hat all-mählich in der langen Reihe von Jahren der Achtungvor den Siegern Platz gemacht, dagegen war aber inallen Herzen, aufgeregt und genährt durch die Reden

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in der Kammer, durch die Artikel in den Journalen, ei-ne gewisse feindliche Stimmung gegen den Sieger vonSadowa vorhanden, der, ohne Frankreich, diese ersteschiedsrichterliche Macht Europas, zu fragen, die poli-tischen Verhältnisse der Welt so tiefgreifend veränderthatte und sich anschickte, dies zerstückelte, ohnmäch-tige Deutschland, auf welches man mit einer Art vonmitleidiger Ironie herabzublicken gewohnt war, zu ei-ner geeinigten großen Nation an den Grenzen Frank-reichs zusammenzufügen.

Dies war in den Augen der Pariser eine arge Ver-messenheit von seiten des Herrschers eines halbbar-barischen Volks, wie diese Preußen ja nach allem seinmußten, was man über sie hörte, eine Vermessenheit,über welche Frankreich früher oder später sein endgül-tiges, entscheidendes Wort sprechen müßte und wür-de.

Aber auch mit diesem Gefühl der Verstimmungmischte sich wieder eine gewisse achtungsvolle Be-wunderung; man war hoch gespannt, diesen König zusehen, der in sieben Tagen die österreichische Machtzertrümmert, diese Macht, welche in einem schwerenund fast zweifelhaften Siege zu überwinden Frankreichbei Solferino so viele Mühe gekostet hatte. Voll hoherEmpfänglichkeit für die Würdigung militairischer Ei-genschaften konnten sich die Franzosen trotz aller De-ductionen der Presse, trotz aller Reden in den Clubsund den Kammern eines sympathischen Gefühls für

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diesen Soldatenkönig nicht erwehren, der im vorge-rückten Greisenalter mit jugendlicher Frische und un-beugsamer Kraft seine Armee selbst auf das Schlacht-feld und zum Siege geführt hatte und der alle Mühenund Anstrengungen des Feldzuges mit seinen Soldatengetheilt hatte. Wie mußte er aussehen, dieser Königder Schlachten, mit dem Degen von Sadowa an derSeite, von dem man so viel gesehen und gelesen hat-te? – Und dann sollte ja mit ihm jener merkwürdigeMann kommen – der Graf Bismarck, in dessen feinerund kühner Staatskunst der Kaiser seinen Meister ge-funden hatte, der Kaiser, dessen Combinationen undpolitische Berechnungen damals für die Pariser nochvon dem Nimbus einer Art von Vorsehung umgebenwaren – und fest hielt jeder auf seinem Platze aus trotzder drängenden Enge, um die téte de Bismarck zu se-hen, dieses Bismarck – »qui avait roulé l’Empereur,« wieman sich ganz leise zuflüsterte.

Gerüchte hatten die Luft erfüllt in den letzten Tagenvon Verabredungen, die mit dem Kaiser von Rußlandstattgefunden hätten, um eine Verständigung mit dennordischen Mächten herbeizuführen, und wenn auchdie Verstimmung über den so plötzlichen umwälzen-den Erfolg von Sadowa groß war, so freute man sichdoch über jene Gerüchte, und in den inneren Gedan-ken der meisten Pariser hätte man den Wunsch findenkönnen, trotz aller Erregung der Presse und der öffent-lichen Meinung, daß es doch viel besser wäre, wenn

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Frankreich mit dem siegreichen Deutschland und demmächtigen Rußland sich vereinigen würde, als wennes gezwungen würde, den schweren Kampf gegen diebehelmten preußischen Bataillone aufzunehmen.

Über alle diese wechselnden Stimmungen und An-schauungen dominirte aber das in dem guten, fran-zösischen Publikum stets vorherrschende Gefühl gast-freundlicher Höflichkeit. Mochte dieser König vonPreußen das französische Prestige schwer erschütterthaben, mochte man in ihm vielleicht den Gegner inkünftigen Kämpfen erblicken – er kam hierher als Gastan den Heerd Frankreichs, er kam zu dem Rendezvous,welches die französische Nation der Industrie der Welteröffnete, er kam, um den Glanz des kaiserlichen Pa-ris zu bewundern, man wollte ihm keine bemerkbarenBeweise von Sympathie geben, aber er sollte die Höf-lichkeit und Artigkeit finden, welche man dem Gasteschuldete, und wer es hätte wagen wollen, irgend ei-ne feindliche Demonstration zu machen, irgend einenkränkenden Ruf auszustoßen, den würde diese erwar-tungsvolle Menge niedergeschlagen und den an denStraßenecken postirten Beamten der Sicherheitspolizeiausgeliefert haben.

In der Nähe des Einganges zum Bahnhofe stan-den zwei Personen und ließen ihre Blicke mit demAusdruck finsterer Geringschätzung über die dichtge-drängte Menge gleiten.

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Der eine dieser Männer, eine magere, starkknochigeGestalt in einem zugeknöpften Überrock, trug auf sei-nem Gesicht, das auf ein Alter von vierzig bis fünfzigJahren schließen ließ, die tief eingedrückten Spuren ei-nes von mächtigen Leidenschaften bewegten und zer-rissenen Lebens. Seine Haltung und der Schnitt seinesBartes gaben ihm etwas Militairisches, in den finsterglühenden Augen, welche unter der schmalen, scharfgeschnittenen Stirn hervorblickten, lag, wenn man ih-rem Blicke begegnete, eine Welt von düstern Gedan-ken, eine unergründliche Tiefe von Haß, Tücke undVerschlagenheit. Es war der frühere französische Capi-tän Cluseret, der in Algier gedient, dann unter Garibal-di in Sicilien und Neapel, unter Fremont in den Verei-nigten Staaten gefochten hatte, und der nun, nachdemer von den Feniern in Newyork zum General der feni-schen Republik ernannt war, sich in England aufhielt,um dort als militairischer Führer der Fenier zu stu-diren, wie London genommen und in Brand gestecktwerden könne, und wie man durch einen Überfall derMagazine von Woolwich die Mittel erlangen könne, ummit einem Schlage die englische Armee und Flotte zuvernichten.

Neben ihm stand ein ganz junger Mensch mit kaumkeimendem Schnurrbart auf der Oberlippe seines blas-sen, etwas aufgedunsenen Gesichts, auf welchem ju-gendlicher Leichtsinn sich mit dem Ausdruck niedriger

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Debauche, übermüthiger Selbstüberschätzung und ei-nes gewissen kalten, schneidenden Hohnes vermisch-te. Dieser junge Mensch, der mit einer Art von gesuch-ter Eleganz gekleidet war, zu welcher seine schmutzigeWäsche, seine wenig glänzenden Stiefel und sein fett-glänzender, etwas fadenscheiniger Hut nicht im Ein-klang stand, war Herr Raoul Rigault, eine jener pari-ser Existenzen, von denen man niemals genau weiß,woher sie in gewissen Momenten die Mittel zu einemmehr oder weniger verschwenderischen Leben neh-men, und wie sie die Zeiten zubringen, welche zwi-schen diesen einzelnen Lichtblitzen ihres Daseins lie-gen.

Cluseret stand da mit untereinandergeschlagenenArmen und ließ seinen brennenden Blick, von wildemFeuer glänzend, über diese dichtgedrängte, so ruhig er-wartungsvoll dastehende Menge hingleiten.

»Welche verächtliche Gesellschaft!« sagte er in dump-fem Tone, halb zu sich selbst, halb zu seinem Beglei-ter sprechend, »da stehen sie wie eine Herde Schafe,glücklich, den glänzenden Aufzug ihrer Tyrannen zusehen, ohne daran zu denken, daß sie ihr Fett und ihreWolle hergeben müssen, um diese Familie von Wölfenzu ernähren, um all diese glänzenden Flittern zu be-zahlen und um diese Söldnerheere zu unterhalten, aufwelche die Tyrannei sich stützt.«

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»Was wollen Sie, mein lieber General,« sagte RaoulRigault lächelnd, indem er mit seinem dünnen Stöck-chen an seinen Stiefel schlug, »die blöde Menge hateinmal den Charakter jenes wolletragenden Wieder-käuers – das ist nicht zu ändern, und das ist auch wei-ter nicht schlimm, es erleichtert gewissermaßen die Sa-che, sie werden stets willig und gehorsam dem Füh-rer folgen, und dem am willigsten, den sie am meistenfürchten; es kommt nur darauf an, daß wir uns mehrfürchten machen als jene augenblicklichen Herrscher,daß wir an der Stelle jener die Führung übernehmen.«

Er wiegte sich leicht in den Hüften, warf ein kleines,viereckiges Glas an schwarzem Bande in’s Auge undlorgnettirte nach zwei in der Nähe stehenden, jungenDamen von ziemlich zweifelhaftem Aussehen hinüber.

»Ich bin hierher gekommen,« sprach Cluseret indemselben düstern Tone weiter, »auf die Gefahr hin,mich in Unannehmlichkeiten mit der Polizei zu ver-wickeln, um die Stimmung hier gerade während derZusammenkunft der drei größten und gefährlichstenMilitairautokraten der Welt zu beobachten, dieser Zu-sammenkunft, die eine furchtbare Drohung für alle un-sere Pläne und Hoffnungen einschließt, ich hoffte, daßdiese Gelegenheit ein günstiges Terrain schaffen sollte,um eine feste, geschlossene Verbindung herzustellenmit jener Organisation, welche in Amerika und Eng-land die große kommunistische Republik vorbereitet –und was finde ich? Überall Freude, fast Stolz über den

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flimmernden Theaterglanz, den diese Souveraine hierzur Schau stellen, und was noch schlimmer ist, Freu-de über die Aussicht auf den allgemeinen Weltfrieden,dessen Grundlagen man in der Zusammenkunft derdrei Autokraten erblickt. – Ihre Arbeiter machen Frie-densdemonstrationen,« rief er mit zitternden Lippen,»Friedensdemonstrationen! – als ob nicht der Friededie ewige Kette wäre, welche das Volk in die Gewaltder Machthaber schmiedet!«

Eine Bewegung wogte durch die Massen. Man sahdie wehenden Fähnchen an den Lanzenspitzen ei-ner Abtheilung von Gardelanciers erscheinen, welchedem kaiserlichen Galawagen mit den grüngoldenen Pi-queurs voranritten. In dem offenen Wagen saß der Kai-ser Napoleon in der großen Generalsuniform mit dembreiten Orangeband des preußischen, schwarzen Ad-lerordens. Ihm zur Seite saß der Prinz Joachim Murat.Eine zahlreiche Reihe von Hofwagen folgte, in wel-chen sich die Adjutanten und Ordonnanzofficiere desKaisers befanden. Der Kaiser fuhr langsam durch diebis zum Anfang des Boulevard Magenta reichende Auf-stellung der Gardetruppen, stieg dann aus und begabsich auf den Perron. Hier erwarteten ihn die Marschäl-le, sowie die Botschafter. Der tief ernste, fast leiden-de Ausdruck, welchen das Gesicht des etwas vornübergebeugt im Wagen sitzenden Kaiser gezeigt hatte, ver-schwand, mit heiterer Artigkeit grüßte er die Damen

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auf den Tribünen und begann sich dann mit den An-wesenden zu unterhalten.

»Wenn ein entschlossener Mann in dieser ganzenMasse wäre,« sagte Cluseret, der mit Blicken voll bren-nenden Hasses die Anfahrt des Kaisers mit angesehenhatte, »wie leicht wäre es für eine feste Hand und einsicheres Auge, hier die zwei größten Feinde unsererZukunftshoffnungen auf einmal zu vernichten! Die un-verständige Menge würde die Führung verlieren, dieZügel würden zu Boden fallen – und vielleicht würdees uns gelingen, sie aufzunehmen.«

Raoul Rigault sah ihn mit einem gewissen überlege-nen Lächeln an, indem sein großes, etwas hervortre-tendes Auge sich mit einem kalten Glanz erfüllte.

»Mein General,« sagte er, »das Mittel, welches Sieda eben andeuten und von welchem man wohl schonöfter gesprochen hat, würde seinen Zweck nicht errei-chen. Erstens ist es schon an sich unsicher – sollten wirdie Zukunft auf die zufällige Chance setzen, welche indem Drucke eines Fingers und in dem richtigen Augen-maß eines Blickes liegt? Aber – selbst diese Chance desZufalls zu unsern Gunsten angenommen, was würdenwir gewinnen können? Sie glauben, daß die Zügel zuBoden fallen würden und daß wir sie ergreifen könn-ten? Ich glaube das nicht,« fuhr er mit einem leich-ten Seitenblick nach den beiden zweifelhaften Damen

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fort, welche seine Augensprache zu erwiedern begon-nen hatten, »die Hände sind vollkommen bereit, wel-che die Zügel aufnehmen würden, die Personen wür-den wechseln, die Sache würde dieselbe bleiben.«

»Immerhin würde die Verwirrung uns Spielraum ge-ben,« sagte Cluseret, »und man muß jede Gelegenheitherbeiführen, eine wird sich doch einmal benutzen las-sen!«

»Sehen Sie, mein General,« fuhr Raoul Rigaultfort, »diese Souveraine mit allem ihrem Anschein vonMacht und Herrschaft sind nicht unsere eigentlichenund wahren Feinde, denn ihre Macht ruht nicht in ih-nen selbst – sie ruht nur in den Werkzeugen, durch wel-che sie dieselbe ausüben. Diese Werkzeuge, das sindihre Generale, ihre Minister, ihre hohen Beamten, wel-che mehr von den Fäden der Herrschaft in Händen hal-ten, als die Kaiser und Könige selbst; ihre Werkzeuge,das sind ferner die Priester und die Bischöfe, die die-se schwarze Armee commandiren, das sind aber vorallem jene Besitzer des Capitals, die Industriellen, dieFabrikanten, welche liberale Phrasen im Munde füh-ren und doch stets die autokratische Fürstenherrschaftstützen, damit sie unter ihrem Schutz die Peitsche überdie weißen Sclaven der Arbeit schwingen können, ihreWerkzeuge sind auch die Advocaten, welche von derFreiheit sprechen, aber von dem Besitz und dem Streitüber Mein und Dein leben, welche aus den verschlun-genen Stollengängen der alten Gesetze Geld zu Tage

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fördern. – Was würde es uns helfen,« fuhr er fort, sei-nen Arm in den Cluserets legend, »wenn wir die Für-sten vernichteten und alle jene Werkzeuge ihrer Ge-walt bestehen ließen? Nein, mein General,« sagte erlebhaft, aber die Stimme zu leiserem Tone dämpfend,»die Werkzeuge müssen wir zerstören, die Fundamen-te der alten Gesellschaft zerbrechen, damit wir auf denTrümmern die neue Welt erbauen können.«

Cluseret blickte sinnend vor sich hin.»Aber wo sind die Hände,« sprach er, »um dies Werk

zu vollführen? – wie wenige finden sich, um mit Ent-schlossenheit ein solches Ziel zu verfolgen?«

»Sie werden sich mehr und mehr finden,« antworte-te Raoul Rigault, »wenn wir nur ruhig, klar und gedul-dig weiter arbeiten! Ich habe einen vortrefflichen Plangefaßt,« sagte er, »bei dessen Ausführung die Zahl derHandelnden nicht so gar groß sein darf und der docherreicht, was der große Marat so klar als nothwen-dig erkannte, die alte Gesellschaft zu zerstören, waser aber nicht erreichte, weil er in jener schwerfälligenund langsamen Zeit lebte und sich mit der Detailar-beit der Guillotine abgeben mußte und mit den alber-nen Formen von Anklagen und Processen. – Mein Planist einfach und hat den großen Vorzug, daß nur we-nig Blut dabei vergossen wird, denn,« fügte er mit ei-nem entsetzlichen Lächeln hinzu, »ich habe die Schwä-che, kein Blut sehen zu können! – Sobald,« fuhr er

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fort, während Cluseret ihn halb ungläubig, halb erwar-tungsvoll ansah, »sobald ein fester Bund von entschlos-senen Leuten durch das ganze Land gebildet und dieStunde der Erhebung festgesetzt ist, geht eine Anzahlkräftiger, junger Leute nach den vorher auf die Listegesetzten Wohnungen der gefährlichsten und einfluß-reichsten Werkzeuge der Tyrannei, dringt in ihre Zim-mer und schlägt sie auf der Stelle todt. Dies Blut istleider nicht zu ersparen, denn die wichtigsten Feindemüssen einzeln vernichtet werden. Die übrigen, alleBeamten, alle jene heuchlerischen Advocaten der Kam-mer, alle jene Stutzer der sogenannten höheren Stän-de und vor allem alle Besitzer und Capitalisten, ausihren Betten führt man sie in großen Hürden, welcheman eiligst auf dem Marsfelde erbaut, und vernichtetsie durch die Schläge gewaltiger, electrischer Batterienauf einmal. – Zugleich werden die Paläste, die Kirchen,die Banken und Fabriken durch Petroleum, Pikrinsäu-re und Nitroglycerin mit einem Schlage vernichtet, da-mit auch nicht eine Stätte übrig bleibt, in welche sichdie Erinnerung an die Vergangenheit einnisten könne.Am anderen Morgen ist die alte Gesellschaft einfachtodt und man kann dann ein letztes Loth Pulver an dieSouveraine verschwenden! – Sie sehen, mein General,«sagte er nach einem Augenblick, »das ist ein vortreff-licher, einfacher Plan, die practische Anwendung derNaturwissenschaften und der Chemie auf die Gesell-schaftsreform, es ist das meine Idee und ich bin stolz

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auf sie, denn durch ihre Ausführung werden wir einstsiegen.«

Cluseret blickte ihn mit einem gewissen mitleidigenErstaunen an, dennoch sprühte ein Blitz des Verständ-nisses in seinem Auge, es lag in der abenteuerlichenAuseinandersetzung dieses jungen Menschen etwas,das seine wilden Instincte sympathisch berührte.

Bevor er antworten konnte, drang durch die Mengejenes unbestimmte Geräusch gespannter Erwartung,die Köpfe wogten hin und her, die den Eingängen zumBahnhof zunächst Stehenden drängten voran.

Man hatte den scharfen Pfiff einer Locomotive ge-hört und unmittelbar darauf konnten die durch ihrenPlatz Begünstigten den Zug mit dem kaiserlichen Sa-lonwagen an den Perron heranfahren sehen.

Napoleon III. eilte an die rasch geöffnete Thüre desWaggons, aus welchem die hohe, ritterliche Gestalt desKönigs Wilhelm, in der großen, preußischen Generals-uniform mit dem dunkelrothen Bande der Ehrenlegion,heraustrat.

Der Kaiser reichte dem Könige beide Hände entge-gen, welche der König ergriff und in herzlicher Begrü-ßung kräftig schüttelte. Hinter dem Könige erschiender Kronprinz Friedrich Wilhelm, der, schon seit eini-ger Zeit in halbem Incognito in Paris anwesend, dem

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Könige bis Compiègne entgegengefahren war, Graf Bis-marck in der weißen Uniform und General von Molt-ke, sowie der Botschafter Graf Goltz, der General Reil-le und die zur Dienstleistung commandirten französi-schen Officiere, welche den hohen Gast des Kaisers aufder Station Jeumont empfangen hatten.

Von den Tribünen herab wurden die Hüte und Ta-schentücher geschwenkt, der König winkte verbindlichmit der Hand hinauf, während der Kaiser den Kron-prinzen begrüßte.

Die Musik spielte die preußische Nationalhymne.Nach der Vorstellung des Gefolges führte der Kai-

ser den König am Arm zu den am Ausgang vorgefah-renen Wagen, den Monarchen gegenüber setzte sichder Kronprinz und der Prinz Joachim Murat, lang-sam fuhr der Wagen, die Gardelanciers voran, an derFront der Truppenaufstellung herab, im nächsten Wa-gen folgte Graf Bismarck und General Moltke. – In Zwi-schenräumen von einigen Augenblicken hörte man »Vi-ve l’Empereur« ertönen.

In einem Augenblick der Stille erklang von der Stel-le her, wo Cluseret und Raoul Rigault standen, eineinzelner lauter und kräftiger Ruf: »Vive l’Empereurd’Allemagne!« Wie zusammenschreckend warf Napole-on einen schnellen Blick nach der Stelle, woher die-ser Ruf erklungen war – dann wendete er sich ver-bindlich mit einer Bemerkung an seinen königlichen

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Gast, der die Honneurs der Truppen mit dem preußi-schen militairischen Gruß erwiederte, während er mittiefem Ernst und gedankenvoll sinnendem Ausdruckseinen Blick über diese versammelte Menge und überdie Häuserreihen des vor ihm sich öffnenden Boule-vard Magenta schweifen ließ.

In der Menge hörte man mehrfach die Worte: Quel-le bonne figure! als der König vorüberfuhr, und dannrichtete sich die ganze Aufmerksamkeit auf das Gefol-ge, um in den nächsten Wagen den Grafen Bismarck zuentdecken, was jedoch den Meisten nicht gelang, dasie in dem weißen Cürassier den vielberühmten undgefürchteten Staatsmann am wenigsten suchten.

Die Wagen hatten das Ende der Truppenaufstellun-gen erreicht und fuhren in raschem Trabe den in derMitte freigehaltenen Boulevard entlang, dessen beideSeiten dicht mit Menschen besetzt waren.

»Sie haben vorhin Ideen ausgesprochen,« sagte Clu-seret zu Raoul Rigault, indem beide dem Zuge derMenge folgten, die nach der Stadt zurückwogte, »Ide-en, in welchen – Sie verzeihen – viel von jenem ju-gendlichen Zukunftsvertrauen enthalten ist, das manmit den Jahren mehr und mehr verliert, welche aberdoch zwei Dinge enthalten, ohne die nichts in der Weltausgeführt werden kann – das feste Ziel und die rück-sichtslos entschlossene Handlung. Wie aber halten Siees für möglich, zu jenem Ziel zu gelangen, jene Hand-lung vorzubereiten? Bei dieser trägen Willenlosigkeit

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der Massen, bei dieser solidarisch verbundenen Machtder Autokraten?«

»Solidarisch verbunden?« fragte Raoul Rigault lä-chelnd, »ja, wenn sie das wären, dann hätten wirschwere Arbeit, aber sehen Sie,« fuhr er lebhaft fort,»darin liegt ja gerade unsere nächste Aufgabe, daß wireine Verbindung unserer mächtigen Gegner verhindernmüssen.«

Er schwieg einen Augenblick und führte den feni-schen General nach einer stilleren Straße, in welchersie von dem Gedränge weniger belästigt waren undwelche sie nach den alten Boulevards zurückführte.

»Ich weiß,« sagte er dann mit Betonung, »wir sindüber solche Dinge gut unterrichtet, man hat seine Ver-bindungen in der Presse und der Polizei und manhat ein Wenig Combinationstalent, ich weiß, daß die-ser träumerische Imperator, welcher das Leben Cäsarsschreibt, damit man die vergleichende Parallele zwi-schen dem großen Tyrannen Roms und seinem kleinenZerrbilde ziehe, daß er daran arbeitet, eine Verständi-gung, eine feste Allianz mit den zwei nordischen Mäch-ten zu begründen, deren Beherrscher jetzt hier sind, erhofft noch immer, von diesem preußischen Minister ei-ne Compensation zu erhalten, welche den Schein desfranzösischen Prestige rettet und welche ihm erlaubt,seine Pläne von dem Nationalgefühl Frankreichs ange-nommen und ratificirt zu sehen. – Aber das darf nicht

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geschehen – und wird nicht geschehen!« rief er mit zu-versichtlichem Tone.

»Aber wie das verhindern?« fragte Cluseret. RaoulRigault schwieg einen Augenblick.

»Haben Sie neben uns den Ruf gehört: ›Vive l’Empereurd’Allemagne‹?« fragte er dann.

»Ja, und ich habe mich darüber geärgert, wie ist esmöglich, daß aus dem französischen Volk heraus einRuf ertönen kann, der den preußischen Ehrgeiz zu be-stärken scheint?«

»Dieser Ruf,« sagte Raoul Rigault, »war viel werthfür unsere Sache und wohl überlegt, man wird ihnin den Journalen widerhallen lassen, und er wird derAnfang einer fortwährenden Propaganda zur Erregungdes Nationalgefühls und der nationalen Eitelkeit sein,dieses Gängelbandes,« fügte er mit verächtlichem Lä-cheln hinzu, »an welchem man die kindische Mengenoch immer leiten kann, und das wir dann später ver-nichten werden, wenn wir erst die neue menschlicheGesellschaft an die Stelle der veralteten lächerlichenNationalitäten gesetzt haben werden.«

Cluseret hörte mit wachsender Aufmerksamkeit zu.»Diese Propaganda,« fuhr Raoul Rigault fort, »wirdden Kaiser zwingen, immerfort wieder seine Compen-sationsforderungen zu stellen, die ihm Herr von Bis-marck,« sagte er lachend, »niemals gewähren wird,und dadurch wird eine Verständigung mit diesem preu-ßischen Minister unmöglich. Das ist der erste Schritt,

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denn,« rief er mit überzeugtem Tone, »dieser feudaleCavour in Deutschland, das ist unser wahrer und ern-ster Gegner, er hat die festbegründete Macht in Hän-den und den Willen, sie zu gebrauchen, er hat denGeist, die Ideen zu erfassen, mit welchen man das Volklenkt und unseren Händen entzieht; mit ihm vor allemdarf sich Herr Napoleon nicht verbinden, er muß isolirtbleiben in Frankreich, er muß unseren Händen vorbe-halten bleiben!« sagte er mit einem Lächeln voll Haßund kaltem Hohn.

»Und weiter?« fragte Cluseret. »Weiter? Nun, in kur-zer Zeit wird dies Spiel dahin führen, daß in denHänden dieser kaiserlichen Regierung das nationalePrestige vollständig in den Schlamm sinkt, und dannwird diese flitterglänzende Baracke zusammenbrechenwie eine morsche Ruine, oder man wird sich im letz-ten Augenblick in einer Aufwallung der Verzweiflungzum Kriege emporraffen, was vielleicht noch besser ist,denn man wird geschlagen werden, und das geschlage-ne Kaiserreich, das ist der Anfang unserer Ära.«

Cluseret schwieg in tiefem Nachdenken. »Da ist nochder Kaiser von Rußland, dem man ebenfalls lockendeAussichten im fernen Osten vorhält, nun, er wird we-nig Neigung für die französische Freundschaft haben,man hat ihm einige hübsche Unverschämtheiten ge-macht, diese superklugen Herren Advocaten Floquet,

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Arago usw., die für die alberne mittelalterliche polni-sche Nationalität schwärmen, um sich populär zu ma-chen, haben uns gute Dienste geleistet.«

»Ich habe davon gehört,« sagte Cluseret, »am Muséede Cluny und im Justizpalast –«

»Hat man den russischen Gast Frankreichs mit demRuf: ›Vive la Pologne!‹ begrüßt, der in seinen Ohren alsdas ewige Menetekel widerklingt, ich hoffe, er wird einWenig degoutirt von einer französischen Allianz sein,und ist das nicht genug, nun so kann vielleicht –«

Er schwieg mit einem eisigen Lächeln und schritt ei-nige Augenblicke in schweigendem Nachdenken wei-ter.

»Alles, was Sie mir sagen, frappirt mich,« sprach Clu-seret, »ich werde darüber weiter nachdenken, doch,«fuhr er fort, »wie denken Sie zu der Organisation zugelangen, welche im letzten Augenblicke handeln, unddie electrischen Batterien spielen lassen soll?« fügte erunwillkürlich lächelnd hinzu.

»Die Grundlagen der Organisation sind da,« sagteRaoul Rigault, »die internationale Association bestehtund gewinnt täglich an Ausbreitung.«

»Die Internationale!« rief Cluseret mit höhnischemLachen, »diese Internationale, die so zahm aus derHand der kaiserlichen Regierung frißt, die von der Po-litik nichts wissen will, die das Eigenthum und die Fa-milie respectiren und schützen will, die nicht einmal zudem Princip sich hat aufraffen können, den Grund und

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Boden für Allgemeinbesitz aller zu erklären, mit dieserOrganisation wollen Sie die alte Gesellschaft vernich-ten? Ich habe gesehen, was sie in London treiben, unddoch sind sie dort noch weiter vorgeschritten als hier,hier, wo dieser Tolain, dieser Fribourg –«

»Diese Internationale,« sagte Rigault ruhig, »ist dergroße Rahmen, den wir bedürfen, um innerhalb des-selben, gewissermaßen unter dem Schutz dieser thö-richten Polizei, welche die Sache zu ihren Zweckenals Schreckbild für die Bourgeoisie ausbeuten möch-te, ganz im stillen unsere Organisation zu formen. Las-sen Sie immerhin diese Internationale ihre utopischen,milchfrommen Grundsätze proclamiren, um so besser,das räumt uns viele Hindernisse hinweg, wir habenunsere Leute darin, ihr Loosungswort ist: warten undschweigen. Innerhalb der sichtbaren wird eine unsicht-bare Organisation gebildet, die Fäden gezogen, dasNetz geknüpft, und wenn der Augenblick kommt, wirddie organisirte Macht in unseren Händen sein. – To-lain – Fribourg, die braven Schwärmer,« sagte er mitmitleidigem Tone, »lassen Sie sie träumen und predi-gen, sie sind die Fahne, welcher die schwankende, un-klare Masse folgt, und welche uns deckt mit ihrer un-schädlichen, verwaschenen Farbe. Wir haben Varlin –vielleicht Bourdon – und bei der vorschreitenden Ent-wicklung der Sache werden jene verschwinden, und

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die Massen, einmal organisirt und an die leitende Füh-rung gewöhnt, werden uns folgen, wie sie ihnen folg-ten.«

»In der That,« sagte Cluseret, »ich fange an, Sie zubewundern; was ich anfangs, ich gestehe es, für dieunklare Idee eines jugendlichen Kopfes hielt, erscheintmir jetzt immer mehr als ein wohlgefügter, richtigerPlan.«

Raoul Rigault lächelte geschmeichelt. Ein großer,magerer Mann mit scharfem, blassem Gesicht volltiefer Leidenschaftlichkeit, mit unstät blickenden, fastfieberhaft glänzenden Augen ging an ihnen vorüberund grüßte Herrn Rigault, der seinen Gruß mit einergewissen Vertraulichkeit erwiederte.

»Wer war das?« fragte Cluseret, der betroffen vondem eigenthümlichen Ausdruck dieses Gesichts demVorübereilenden nachgeblickt hatte.

»Einer, der für uns arbeiten wird, den man als éclai-reur, wenn Sie wollen als Mauerbrecher gebrauchenwird, um die ersten Breschen in das scheinbar so ge-waltige Bollwerk dieses kaiserlichen Gesellschaftsge-bäudes zu stoßen, der Vicomte von Rochefort!«

»Vicomte von Rochefort?« sagte Cluseret mit fragen-dem Tone, als suche er in seinen Erinnerungen nachdiesem Namen.

»Ein früherer Beamter der Seinepräfektur,« sagteRaoul Rigault, »er ist mehr oder weniger ruinirt und

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fand in seiner Carriere keine Befriedigung für den Ehr-geiz, der ihn verzehrt wie ein hitziges Fieber, er suchtnach einem Weg, diese krankhaft gereizte Gier nachGröße und Berühmtheit zu befriedigen, wir ziehen ihnheran, noch schwebt er zwischen Himmel und Hölle,aber er ist uns verfallen. Er wird niemals von Herzen zuden Unseren gehören, aber um so besser wirken, er isteine Karikatur des Catilina und träumt sich einen Mira-beau, aber einmal losgelassen, einmal auf die Bahn ge-drängt, wird ihn sein ehrgeiziger Wahnsinn unermüd-lich und unversöhnlich machen, er wird einen uner-hörten Lärm erregen, ohne die eigentlichen Fäden zucompromittiren. Solche Leute sind immer sehr nütz-lich, man hat keine Verpflichtungen gegen sie.«

Sie waren auf dem Boulevard Montmartre angekom-men. »Treten wir einen Augenblick in das Café de Ma-drid,« sagte Raoul Rigault, »ich sehe dort Delescluze,er ist zuverlässig, es wird Sie interessiren, sich mit ihmzu unterhalten.«

Sie traten in die offenen Räume des Café de Madrid.An einem Tische saß ein alter, dunkel gekleideter Mannmit strengem, kaltem Gesicht, dessen Erscheinung aneinen Professor erinnern konnte.

»Herr Delescluze – General Cluseret,« sagte RaoulRigault vorstellend, und während der Feniergeneralsich neben den unbeugsamen und kalten kommunisti-schen Theoretiker niedersetzte, wendete sich Raoul Ri-gault, mit einer gewissen Coquetterie sein Glas in das

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Auge werfend, zu einem Tisch in der Nähe, an wel-chem jene zweifelhaften Damen, welche ihm in eini-ger Entfernung gefolgt waren, soeben Platz genommenhatten.

Als Cluseret und sein jugendlicher Begleiter in dasCafé de Madrid traten, gingen an ihnen zwei Herrenvon vornehmster Eleganz vorüber, welche, von den äu-ßersten Boulevards kommend, nach den eleganterenStadttheilen hinabschlenderten.

Es war der Graf Rivero und der junge Herr von Gra-benow.

»Sie waren also auf der Tribüne und haben die An-kunft des Königs gesehen?« fragte Herr von Grabenow,»ich habe es leider versäumt, mir einen Platz zu ver-schaffen, wie war der Empfang?«

»Sehr herzlich,« sagte der Graf, »der Kaiser war vonäußerster Heiterkeit und Liebenswürdigkeit, der Königernst und still, ich muß Ihnen sagen,« fuhr er fort, »daßich wahrhaft betroffen war von der prächtigen Erschei-nung Ihres Monarchen, welch eine herrliche, fürstlicheGestalt, welch ein mildes und schönes Antlitz!«

»Ich habe die Herrschaften nur auf dem BoulevardMagenta vorüberfahren sehen,« sagte Herr von Gra-benow, »ich kann Ihnen nicht sagen, wie glücklich esmich machte, hier im fremden Lande meinen Königund die preußischen Uniformen zu sehen. Sie wissen,«fuhr er fort, »bei uns in meiner Heimath ist die Monar-chie eine heilige Tradition, ein Glaube –«

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»Das ist der Segen der legitimen alten Monarchie,«sagte der Graf langsam, »und selten ist mir ihre Be-deutung so klar geworden, als in dem Augenblick, daich diese beiden mächtigen Herrscher nebeneinandersah, den Imperator in der Lichtwolke seiner Herrlich-keit, welche dahinschwebt über den finster gähnendenAbgründen, und den König, der in einfacher Ruhe aufdem festen Felsengrunde des Throns, den seine Vorfah-ren aus der Geschichte ihres Volkes heraus aufgerichtethaben –«

»Der Rocher de bronze,« sagte Herr von Grabenowmit freudigem Lächeln.

Ernst blickte der Graf vor sich hin.»Gehen Sie mit zum Club?« fragte er dann.»Ich habe einen Besuch zu machen,« erwiederte Herr

von Grabenow mit einem leichten Anklang von Verle-genheit, »ich werde später vielleicht dorthin kommen.«

»Auf Wiedersehen also,« sagte der Graf, dem jungenMann lächelnd die Hand drückend, und während sichdieser nach der Seite der Rue Notredame de Lorettewendete, ging er langsam dem Boulevard des Italienszu, umringt von der bunten, lachenden und plaudern-den Menge, welche theils von dem Nordbahnhofe undden Gegenden, welche das kaiserliche Cortège passirthatte, zurückkehrte, theils hinauszog zu dem so wun-derbar veränderten Marsfelde, welches die Blüthe der

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Kunst und Industrie der Welt vereinigte, und auf wel-chem die Völker aller Länder vor den Augen der Pariserdefilirten.

Sie waren stolz und glücklich, die Pariser, über alldiesen vereinigten Glanz, welcher Paris abermals zumbewunderten und beneideten Mittelpunkt der Weltmachte, sie waren stolz und glücklich, daß die bei-den mächtigsten Herrscher Europas hier am Hofe desKaisers weilten, und unerschöpflich waren die politi-schen Conjecturen, welche sie an diese Anwesenheitknüpften, alle aber liefen darauf hinaus, daß nun eineÄra des Friedens, des Glanzes und des Wohlstandes be-ginne, deren schönste und reichste Blüthen Paris, dasgroße, das ewige Paris, schmücken würden.

Und während der König von Preußen in die Tuile-rien einfuhr, wo er von der Kaiserin, umgeben vondem schimmernden Hofstaat, an der großen Treppeempfangen wurde, um dann in dem mit verschwen-derischer Pracht geschmückten Pavillon Massan seineWohnung zu nehmen, während das Palais Elysée er-füllt war von dem Glanz der Anwesenheit des russi-schen Kaisers, während die Pariser hinaufblickten zudiesen lichtstrahlenden Höhen, auf denen die Götter

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der Erde die Schicksale von drei gewaltigen Weltrei-chen in ihren Händen hielten, da saßen in dem un-scheinbaren Café de Madrid die finsteren Apostel ei-ner blutigen, furchtbaren Zukunftslehre in leisem Ge-spräch zusammen und beriethen die dunklen, verbor-genen Minengänge, welche die tiefen Fundamente desStaates und der Gesellschaft unterhöhlen sollten, umdemnächst in entsetzlichem Zusammensturz die Ver-gangenheit zu begraben und das Chaos herzustellenfür die neue Schöpfung der Zukunft.

ZWEIUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Als Herr von Grabenow sich von dem Grafen Rive-ro getrennt hatte, eilte er schnell über die dichtbeleb-ten Trottoirs hin nach dem von dem Maler Romano be-wohnten Hause in der Straße Notredame de Lorette.

Schnell stieg er die Treppen hinauf und eilte, als aufseinen ungeduldigen Glockenzug die Bonne die Thürgeöffnet, in den Salon seiner Geliebten.

Die schöne Julia lag auf ihrer Chaiselongue, vonBlumen umgeben. Ein weiter, dunkler Morgenrock,von zwei schweren Seidenquasten zusammengehalten,umfloß ihre schlanke Gestalt, weite Ärmel hingen bisüber die Handgelenke herab, und in den auf demSchooß leicht gefalteten Händen hielt sie einen ein-fachen Rosenkranz von schwarzen Perlen mit einemkleinen Kreuz von Ebenholz. Um ihr glattgescheitel-tes Haar schlang sich ein schwarzes Spitzentuch, das

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blasse Gesicht mit dem Ausdruck schmerzlicher Erge-bung lehnte rückwärts an den Kissen, und aus diesemso schönen, so jugendlichen und doch so tief traurigenGesicht blickten die dunklen, tiefen Augen schwärme-risch und müde wie in weite Fernen hinaus.

Bei dem Eintritt ihres Freundes erschien ein glückli-ches Lächeln auf ihren Lippen, ein Strahl unendlicherZärtlichkeit leuchtete ihm aus ihren Augen entgegen,ohne daß indes der ganze Ausdruck tief schmerzlicherTrauer von ihren Zügen verschwand.

Herr von Grabenow küßte zärtlich die Hände seinerGeliebten, welche sie ihm, halb sich aufrichtend, ent-gegenstreckte, und setzte sich auf ein Taburett nebensie.

»Wieder trübe Gedanken, meine süße Julia?« sagteer mit weichem Tone, seine Blicke voll tiefen Gefühlsin ihre Augen tauchend, indem es fast wie ein Vorwurfin seiner Stimme klang.

»Ich habe dich erwartet,« sagte sie mit einem rei-zenden Lächeln, »du weißt, Licht und Sonnenschein istnur bei mir, wenn du hier bist!«

»Theurer Engel,« rief er entzückt, »so verscheuchejetzt wenigstens alle schwarzen Gedanken, denn jetztbin ich bei dir, um dich heute gar nicht mehr zu ver-lassen, und ich bin so heiter und glücklich, wir müssenuns heute einen besonders schönen Tag machen!«

»In der That, du siehst so freudig und strahlend aus,«sagte sie, das schöne, freie Gesicht des jungen Mannes

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mit den Blicken liebkosend, »was ist dir Schönes wi-derfahren?«

»Ich habe meinen König gesehen!« rief Herr von Gra-benow mit leuchtenden Augen, »ich war auf dem Nord-bahnhofe, wo der König von Preußen ankam! Du weißtnicht,« fuhr er fort, »meine süße Geliebte, was dasheißt für einen Sohn meines Vaterlandes, seinen Königzu sehen, hier im fremden Lande!«

Sie sah gedankenvoll zu ihm auf, ein leichter Seufzerquoll aus ihren Lippen.

»Sieh,« fuhr er fort, »dort oben in meiner Heimathfehlt jener sonnige Schimmer deines Vaterlandes, esist nicht die Schönheit des Himmels, des Landes, derblüthenreichen Haine, welche unsere Herzen an dasVaterland kettet, das Land ist ernst, die Wälder dü-ster, der Himmel kühl und ohne Farbenzauber, aberwas uns durchdringt, erfüllt von Jugend an, das istder Gedanke eines zu gemeinsamer hoher Arbeit verei-nigten Volkes, das in geschlossenen Gliedern, in festerPhalanx sich emporarbeitet unter den Nationen, dasin willigem Gehorsam dem Commandowort seiner Re-genten folgt, denn dies Commandowort heißt immerund immer, heute wie in der Geschichte der Vergan-genheit: Vorwärts – aufwärts zum Licht! Und ich denkemir,« fuhr er mit leiserer Stimme fort, »der Strahl desLichts fällt wohlthuender in die Herzen herab, wennman sich zu ihm heraufgearbeitet hat durch harte undernste Kämpfe, als wenn er von selbst uns leuchtet in

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ruhiger Unthätigkeit. Diese ganze gemeinsame Arbeit,dies emporstrebende Ringen unseres Volkes aber ver-körpert sich für uns in unseren Königen, und darumerblicken wir in ihnen nicht nur den Herrscher, der un-ser Herr ist, sondern den Priester, der am Altar des Vol-kes die reine, immer heller erstrahlende Flamme desVolksgeistes erhält und behütet.«

Er hatte lebhaft aus seinem Innern heraus gespro-chen. – Julia sah ihn mit träumerischem Blick an. Ver-stand sie die patriotisch-monarchische Gefühlsaufwal-lung dieses Sohnes der fernen altpreußischen Küsten-lande? Ihre Blicke leuchteten von inniger Theilnah-me, verstand sie ihn nicht, so fühlte sie doch, daßein großes, edles und starkes Gefühl ihn erfüllte, undsie war stolz auf dies Gefühl im Herzen ihres Gelieb-ten, der so anders war als alle die jungen Leute derflüchtig dahinspielenden Welt, die sie kannte, der un-ter der glatten, eleganten Oberfläche so wunderbareTiefen voll geheimnißvoll anklingender Poesie in sichverschloß.

Dann ließ sie die Augenlider mit den dunkel schat-tenden Wimpern herabsinken und flüsterte, indem eintiefer Athemzug ihre Brust bewegte:

»Eine Heimath – ein Vaterland, oh mein Gott!« Undein glänzender Thränentropfen erschien am Rande ih-rer fast geschlossenen Augen.

Langsam beugte sich der junge Mann zu ihr hinüberund trank diesen Tropfen mit seinen Lippen.

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Sie richtete sich schnell empor, schlang ihre Armeum seinen Hals und ließ ihren Kopf einige Augenblickeschweigend auf seiner Schulter ruhen.

Dann drängte sie sanft ihren Geliebten zurück, setz-te sich ihm gegenüber und sprach, indem sie ihn mitgroßen, ernsten Blicken ansah:

»Ich habe eine Bitte an dich!«»Endlich,« rief er glücklich, »endlich einmal! So lan-

ge habe ich vergebens darauf gehofft, einen Wunschvon dir zu hören, möchte er mir recht schwer zu erfül-len sein, damit ich mir doch ein kleines Verdienst ummeine süße Julia erwerben kann!«

»Es ist eine ernste Bitte, eine sehr wichtige für mich,«sagte sie in fast feierlichem Tone, »und bevor ich sieausspreche, mußt du mir schwören, sie zu erfüllen!«

»Schwören?« rief er betroffen, »zweifelst du daran?– wenn es in meiner Macht steht –«

»Es steht in deiner Macht!«»So schwöre ich,« rief er, »bei deinen Augen, bei dei-

nem Herzen, daß –«»Das genügt nicht!« sagte sie ernst, »meine Augen

sind ein vergängliches Ding, und mein Herz –« Sieseufzte tief und schmerzlich.

»Julia!« rief er vorwurfsvoll.»Du sprachst vorhin,« sagte sie wie einem plötzli-

chen Gedanken folgend, »von dem Heiligthum deinesVolkes, schwöre mir bei deinem Könige!«

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»Aber mein Gott,« rief er, »dieser feierliche Ernst,was kann –«

»Schwöre mir,« sagte sie, ihm ihre Hand hinrei-chend, »ich bitte dich darum!« fügte sie mit liebevol-lem Blick hinzu.

Herr von Grabenow stand auf, legte seine Hand indie ihrige und sprach mit fester Stimme:

»Ich schwöre bei meinem Könige, deine Bitte zu er-füllen!«

»So höre mich an,« sagte Julia mit einer gewis-sen Anstrengung, »aber ohne Einwand und Unterbre-chung!«

Der junge Mann setzte sich ihr wieder gegenüber,gespannte Erwartung lag auf seinen Zügen.

»Ich will und kann bei meiner Mutter nicht bleiben,«fuhr Julia mit leiser Stimme, aber im Tone fester Ent-schlossenheit fort, »was bisher wie eine dunkle Ahnungin mir ruhte, ist mir plötzlich zu entsetzlicher Klarheitgeworden, sie will mich auf Wege führen, die ich nichtgehen will und kann, ohne dem ewigen Verderben zuverfallen, und auf welche ich doch Schritt für Schrittgedrängt werden würde, wenn ich mich diesem täg-lichen, langsam umstrickenden Einfluß nicht ein- fürallemal entziehe. Meine erste Bitte ist also die, daß dumich sofort hier fortnimmst, heute, morgen, so schnellals möglich!«

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»Meine theure Julia!« rief Herr von Grabenow, »inwenigen Tagen soll eine Wohnung für dich bereit sein,ausgestattet mit allem–«

»Ganz einfach und anspruchslos,« unterbrach sieihn, »aber fern von hier, und Niemand darf wissen, woich bin; mein armer Vater!« sagte sie schmerzlich, »ichwerde ihm später Alles mittheilen, er wird traurig sein,aber er wird die Nothwendigkeit begreifen. Ich will,«fuhr sie dann mit einem liebevollen Blick auf den jun-gen Mann fort, »ich will leben und athmen im Genußmeiner Liebe, so lange du hier bist, es ist ja schon einegroße Gnade des Himmels, daß er diese reiche Licht-fluth von Liebe in mein dunkles und einsames Lebenhinabströmen läßt, sie verlöscht alle trüben Erinnerun-gen der Vergangenheit, sie wird meine Seele in Zukunfterleuchten, bis sie zur ewigen Klarheit emporsteigt!«

Er ergriff in tiefer Bewegung ihre Hand, sie dräng-te ihn sanft von sich und hielt mit leicht abwehrenderHand das Wort zurück, welches auf seinen Lippen zuschweben schien.

»Aber kein Dunkel,« fuhr sie fort, »soll später diesesLicht in meiner Seele verhüllen, kein irdisches Bild sollin meinem Herzen leben nach dieser Liebe, die, wasauch die Welt sagen mag, so rein ist wie die frisch er-schlossene Blume des Waldes, wie die Quelle, die ameinsamen Felsenhang dem Schooß der Erde entspringt;dem Dienst des Himmels soll mein Leben geweiht sein,

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nachdem die Erde ihm das Edelste und Höchste gege-ben, was sie zu bieten hat!«

»Julia!« rief er erschrocken.»Darum,« fuhr sie fort, ohne auf seinen Ausruf zu

achten, »darum bitte ich dich, wenn der Augenblickkommt, daß du in deine Heimath zurückkehrst, daß dumich in das Kloster führst, nicht in ein Kloster der träu-menden, unthätigen Beschaulichkeit, sondern in einKloster der barmherzigen, werkthätigen Liebe, ich bittedich, daß, nachdem wir Abschied voneinander genom-men haben im heißen Schlagen der Herzen aneinan-der, unser letzter Abschied stattfinde am Sprachgitterdes Klosters, dann wird der Segen des Himmels aufdiesem Abschied ruhen, und wenn in unserer LiebeSünde war, so wird dieser Abschied die Sünde abwa-schen von unseren Seelen, ich werde in heiligem Beruf,gestärkt durch meine Erinnerung, Trost und Glück fin-den, ich werde für dich beten, und meine Gebete wer-den erhört werden, und du wirst freundlich und ruhigan mich zurückdenken, denn diejenige, die du geliebthast, wird rein und treu bleiben für ewig und kein ir-discher Kummer, keine irdische Unruhe wird das Herzbekümmern, das so heiß für dich schlug, und,« füg-te sie hinzu, indem ihre Stimme leise zitterte, »nie fürdich zu schlagen aufhören wird, bis es für immer stillsteht.«

Er sprang auf und ging mit raschen Schritten durchdas Zimmer.

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»Julia,« rief er in schmerzlichem Tone, »es ist un-möglich, es kann nicht sein, du vergißt, welche Hoff-nungen –«

»Du hast geschworen,« sagte sie ernst und ruhig, »duhast bei deinem Könige geschworen, willst du deinenSchwur brechen?«

»Höre mich, Julia,« rief er, »höre –«»Willst du deinen Schwur brechen?« fragte sie in

demselben Tone.Er stand schweigend in mächtigem, innerem Kampfe

vor ihr.»Es sei,« sagte er endlich, »es soll geschehen, wie du

es willst, aber unter einer Bedingung –«Sie sah ihn fragend mit dem Ausdruck sanften Vor-

wurfs an.»Unter der Bedingung,« rief er, »daß ich dir vor der

Ausführung dieses finsteren Entschlusses –«»Finster?« fragte sie, »würde der Weg, der mir in der

Welt zu gehen offen bliebe, ein hellerer sein?«»Daß du mir erlaubst,« fuhr er, ohne auf ihren Ein-

wurf zu achten, fort, »zuvor dir noch einmal Alles zusagen, was mein Herz, meine Liebe, meine Hoffnungmir eingeben werden, um dich auf andere Gedankenzu bringen.«

»Wozu?« sagte sie sanft. »Dich und mich noch einmalquälen? Doch – es sei,« fuhr sie fort, »ich bin des Siegesauch in diesem Kampfe gewiß.«

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Er blickte trübe und traurig zu Boden, voll tiefer Lie-be ruhte ihr klarer Blick auf ihm.

Dann aber trat der Ausdruck ruhiger Heiterkeit aufihre Züge, sie schüttelte leicht den Kopf, wie um alleWolken zu verscheuchen, die auf ihrer Stirn lagerten,und mit einem Lächeln voll kindlicher Fröhlichkeit sag-te sie, zu ihm herantretend und ihre beiden Hände umseinen Arm faltend:

»Nun aber, mein Freund, da wir die Zukunft geord-net haben, wollen wir an die Gegenwart denken, dieGegenwart, die so schön ist, und die ich noch mit vol-len Zügen genießen will!«

Er bog ihren Kopf zu sich heran und drückte einenKuß auf ihre weiße Stirn.

»Ich wollte dir vorschlagen, nach der Ausstellung zugehen, du hast dich bis jetzt nicht dazu entschließenkönnen, und doch ist so viel Schönes und Wunderbaresdort zu sehen, ich hatte gehofft, dich dort zu erheitern,nun hast du mich ganz traurig gemacht!« fügte er mitbewegter Stimme hinzu.

»Du aber hast mich glücklich gemacht durch deinVersprechen,« sagte sie mit anmuthigem Lächeln, »undich will auch von ganzem Herzen heiter sein und michder Wunder der Weltausstellung freuen; werden wirdort diniren?«

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»So war es mein Plan,« sagte er, »es ist ein vortreffli-cher russischer Restaurateur da, welcher eine vorzüg-liche und höchst originelle Küche führt, deren natio-nale Gerichte mich ein Wenig an meine Heimath erin-nern, ich habe meinen Wagen hierher bestellt, da ist erschon,« sagte er, zum Fenster tretend, und einen Blickauf die Straße werfend.

»Ich bin sogleich bereit,« rief sie fröhlich, »meine Toi-lette soll nicht viel Zeit in Anspruch nehmen.«

Mit kindlich liebevollem Ausdruck trat sie zu ihmheran und reichte ihm ihre frischen, rosigen Lippen,auf welche er mit inniger Zärtlichkeit einen Kuß drück-te.

Dann eilte sie zur Thür ihres Schlafzimmers, nach-dem sie eine kleine, hellklingende Glocke bewegt hat-te, um ihre Dienerin zu rufen.

Herr von Grabenow blickte ihr sinnend nach, undals ihre schlanke und schmiegsame Gestalt hinter derdunklen Portière verschwunden war, ließ er sich lang-sam in einen Fauteuil sinken.

»Es darf nicht sein,« sagte er leise, »dieses junge,frische Leben voll Liebe und Poesie darf nicht in denMauern eines Klosters verwelken! Freilich – besser wä-re es, als daß sie hier allein bliebe in dieser Welt vollElend und Laster, allein – schutzlos – schlimmer als al-lein, in den Händen einer solchen Mutter! Und kannich sie mit mir nehmen,« sagte er nach langem Nach-denken mit dumpfer Stimme, »kann ich ihr den Platz

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an meiner Seite geben, dessen ihr Herz, ihre reine See-le so sehr würdig ist? Kann ich sie hinführen in meineHeimath, zu meiner Mutter, der die alte, strenge Sittedas Höchste ist auf Erden, zu meinem Vater mit seinemunbeugsamen Stolz auf die Ehre eines makellosen Na-mens?«

Er stand auf. Hoher, entschlossener Muth leuchteteaus seinem Auge.

»Und doch soll und muß es geschehen,« rief er, »ichkann und will sie nicht verlieren, ich will für sie ge-gen alle Vorurtheile kämpfen, denn sie ist des Kampfeswerth!«

Julia erschien wieder, ein graues kurzes Seidenkleidumschloß knapp ihre zierliche Gestalt, ein Fichu MarieAntoinette, diese neue Erfindung der Kaiserin Eugenie,war um ihre Schultern geschlungen, und von dem klei-nen, einfachen Hut hing über ihr Gesicht ein weißerSchleier herab, dessen eingestickte Arabesken trotz desleichten Gewebes ihre Züge fast ganz verbargen.

»Ich bin fertig,« rief sie fröhlich, »und nun laß unsschnell hinaus in diese heitere, lachende Welt, die solicht und schön ist!«

Sie nahm seinen Arm; beide eilten mit dem elasti-schen Schritt der Jugend die Treppe hinab, stiegenin das unten wartende Coupé des Herrn von Grabe-now und fuhren schnell durch die belebten Straßenüber die Place de la Concorde am Quai d’Orsay hin

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nach dem mit feenhafter Großartigkeit und Schnellig-keit zum Ausstellungsplan verwandelten Marsfelde.

Es war ein wunderbar schöner Anblick, dieses weiteFeld, auf welchem sich der Kunstfleiß, der Reichthumund das bunte Spiegelbild des nationalen Lebens allerVölker der Erde vereinigten.

Hoch und weit erhob sich in der Mitte der gewal-tige Rundbau mit seinen im Sonnenlicht funkelndenGlasflächen, in welchem die eigentliche Ausstellungsich befand, und welcher umweht war von den hoch-ragenden Fahnen aller Nationen. Um diesen Mittelbauher lagen weite Wiesenflächen, von Bächen durchrie-selt, dichte Bosquets und hohe, schattige Baumgrup-pen, von denen man nicht begriff, wie sie auf die dür-re Fläche des Marsfeldes gebracht seien und dort er-halten werden könnten. Dazwischen ragten die Kup-peln der Leuchtthürme hoch empor, schlanke Mina-retts zeichneten sich am Himmel ab, man sah leichteSchweizerhäuser, den schweren Bau des ägyptischenPalastes, und über all der so bunten, so wechselvol-len Scenerie schwebte der große ballon captif, welcherin Intervallen von einer halben Stunde weit hinauf indie Lüfte stieg und an starkem, drahtgewundenem Seildurch die Kraft einer Dampfmaschine wieder herabge-zogen wurde. Hinter dem Ausstellungsfelde erhob sichdie mächtige vergoldete Kuppel des Doms der Invali-den, umringt von diesem ganzen ungeheuren Paris bis

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zu dem schon in bläulich dämmernder Ferne aufstei-genden Montmartre.

Der Wagen hielt an dem großen, mit den grüngolde-nen Farben des Kaisers drapirten Haupteingang gegen-über dem Pont de Jena mit seinen Pferdegruppen.

Herr von Grabenow und Julia stiegen aus, der Wa-gen suchte seinen Platz in der langen Reihe von Equi-pagen, welche vor dem Eingänge hielten, denn nur zuFuß durfte man das Innere der Ausstellung betreten,und die Souveraine allein hatten das übrigens auchvon ihnen sehr selten in Anspruch genommene Recht,in den Raum hineinzufahren.

»Wie schön!« rief Julia, indem sie mit ihrem Blickdas weite, farbenreiche Bild der Ausstellung und desdahinter liegenden Paris umfaßte und dann ihr Augehinauf richtete nach den jenseits der Jenabrücke zumTrocadero emporsteigenden mächtigen Steintreppen.

»Ja, es ist schön,« sagte Herr von Grabenow, erfreutüber das kindliche Erstaunen des jungen Mädchens,»es ist kaum möglich, etwas Schöneres und Großar-tigeres zu sehen, und ich glaube kaum, daß in eineranderen Stadt der Welt Ähnliches so voll Leben undReiz hergestellt werden könnte, und doch,« fuhr er mittrübem Tone fort, »will es mir jedesmal hier an diesemEingang wie mit schmerzlicher Beklemmung das Herzzusammenschnüren, wenn ich diese Jenabrücke sehe,die mich an den tiefen Fall meines Vaterlandes erin-nert. Unser großer Marschall Blücher,« sagte er halb

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scherzend, halb ernst, »wollte die Brücke in die Luftsprengen und ersuchte Herrn von Talleyrand, sich vor-her darauf zu setzen, vielleicht wäre es besser gewe-sen, er hatte es gethan, die Franzosen hätten dannnicht dieses Denkmal unseres Unglücks vor Augen, dasihnen immer von Neuem die Zuversicht giebt, uns mei-stern zu können.«

»Pfui!« rief Julia scherzend, »ihr Deutsche seid dochalle ein Wenig Barbaren; laß die Politik und die Ver-gangenheit, genießen wir die Gegenwart, so lange siedauert,« flüsterte sie fast unhörbar mit tiefem, schnellzurückgedrängtem Seufzer.

Und sich an seinen Arm schmiegend, trat sie mit ihman den Tourniquett, um die Billets zum Eintritt zu lö-sen.

Als sie soeben durch den Seiteneingang eingetretenwaren, fuhr rasch eine leichte, elegante Equipage aufdas große Portal zu. In dem offenen, von zwei zierli-chen Pferden gezogenen Wagen sah eine Dame in sehreinfacher, aber eleganter Toilette. Die Züge ihres schö-nen, heiter lächelnden Gesichts trugen nicht mehr denAusdruck der frischen Jugend, ohne jedoch eine Spurvon den zerstörenden Einflüssen des Alters zu zeigen,blitzend und sprühend von Geist und Muthwillen blick-ten ihre Augen unter dem kleinen Hütchen mit weißerFeder hervor.

Rasch trat einer der am Eingänge postirten Ser-geants de Ville den Pferden, deren Köpfe sich fast

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schon unter dem grüngoldenen Baldachin befanden,entgegen, und mit jenem schnellen und unbedingtenGehorsam, welchen in Paris in ruhigen Zeiten stets dieOrgane der öffentlichen Sicherheitspolizei finden, par-irte der in würdevoller Ruhe auf seinem Bock sitzendeKutscher die Pferde.

Der Wagen stand unter dem Portal, und neugierigblickte die Dame mit etwas übermüthig herausfordern-dem Blick den Beamten an, der, an Schlag tretend, mithöflicher Bestimmtheit sprach:

»Man passirt nicht, Madame!«»Und warum nicht?« fragte sie.»Nur der Kaiser und die fremden Fürsten haben das

Recht, mit ihrem Wagen in den inneren Raum zu fah-ren.«

Ein Blitz von schalkhafter Laune sprühte aus den Au-gen der Dame, sie maß den Polizeibeamten mit festemBlick von oben bis unten und rief in hochmüthig siche-rem Tone: »Wohlan, mein Herr, ich bin die Großherzo-gin von Gerolstein.«

Erstaunt, fast erschrocken trat der Sergeant de Villevom Wagenschlag zurück, und dann in dienstlicherHaltung stehen bleibend, nahm er seinen Hut ab.

»Allez,« rief die Dame, sich in die Kissen zurückleh-nend, und in raschem Trabe fuhr der Wagen die großeAllee hinauf dem Rundgebäude der Ausstellung zu.

»Unbezahlbar!« rief Herr von Grabenow.»Wer war das?« fragte Julia erstaunt.

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»Mademoiselle Hortense Schneider, Großherzoginvon Gerolstein und Königin des Varietétheaters,« sagteHerr von Grabenow lachend, »eine Souverainin, derenRang und Herrschaft so anerkannt ist, daß der KaiserAlexander schon von Köln aus sich eine Loge bestellthat, um sie zu bewundern.«

Julia lächelte. Dann sah sie mit langem, träumeri-schem Blick dem schon fern dahinrollenden Wagen derlecken Sängerin nach.

»Das ist das glänzende Ende des Weges, den manmich zu gehen zwingen will,« sagte sie leise, »wennman es erreicht, aber welche Stufen führen zu dieserzweifelhaften Höhe! – ich würde sie nicht überstei-gen.«

Und wie um der sich vor ihr öffnenden Gedanken-reihe zu entfliehen, zog sie in schnellem Schritt ihrenFreund nach dem Innern der Ausstellung hin.

Sie hatten einen Rundgang durch die Räume desGlasbaues gemacht, sie hatten alle diese so treu nach-geahmten Niederlassungen des eigenthümlich natio-nalen Lebens aller Völker durchflogen, welche diesenweiten Plan erfüllten und jedem Fremden einen Platzboten, der ihn mit der Erinnerung an die Heimath be-grüßte, und waren endlich in das russische Restaurantgetreten, wo sie sich in einer Ecke des eleganten Salonszu einem Diner à la Russe mit verschiedenen Uchas, ge-preßtem Kaviar und allen jenen eigenthümlichen, aber

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vortrefflichen russischen Gerichten niederließen, wel-che ihnen von den Kellnern in der nationalen Kleidungvon schwarzem Sammt und rother Seide servirt wur-den.

Immer mehr war der trübe, träumerische Ernst Juli-ens den bunten, heiteren Eindrücken der wundersamvielgestaltigen Bilder gewichen, in kindlich-heiteremGeplauder sah sie neben ihrem Geliebten, der sie mitentzückten Blicken betrachtete, und als sie einen Kelchjenes leichten Weins der Champagne geschlürft hatte,der an den nationalen Tafeln Rußlands ebenso hei-misch ist, wie in dem schönen Lande seiner Entste-hung, da funkelten ihre Augen von froher Lebenslust,sie athmete mit vollen Zügen die berauschende Luftder Gegenwart, die graue Vergangenheit vergessendund die langsam heraufziehenden dunklen Wolken derZukunft.

Der Abend war herabgesunken und dieser ganze Partmit allen seinen Wundern begann sich theils in Schat-ten zu hüllen, theils mit hellen Gasflammen zu erleuch-ten.

»Laß uns,« sagte Herr von Grabenow, »bevor wir zu-rückkehren, noch ein ganz außergewöhnliches Schau-spiel aufsuchen, das chinesische Theater, man siehtdort höchst originelle Pantomimen und akrobatischeKunststücke, es ist in der That merkwürdig.«

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»Laß uns gehen,« erwiederte Julia heiter, »wir müs-sen heute den Tag vollkommen benützen, morgen ge-hört der Zukunft,« fügte sie ernster hinzu.

»Morgen werde ich für deine Wohnung sorgen,« sag-te Herr von Grabenow, ihr den Sonnenschirm und dieHandschuhe reichend, »denn den ersten Theil deinerBitte, dich von deinen jetzigen Umgebungen zu tren-nen, erfülle ich mit wahrer Freude.«

Der junge Mann hatte dies in der heiteren Erregunggesprochen, in welche ihn der frohverlebte Tag ver-setzt, Julia schien durch die Erinnerung an ihr Ge-spräch vom Morgen peinlich berührt. Ihr Auge senk-te sich zu Boden, als sie den feinen Schleier über ihrGesicht herabzog.

»Wozu jetzt der Schleier?« sagte Herr von Grabenowscherzend, »laß mir den Anblick deines lieben Gesichts,das Publikum sieht dich in diesem Halbdunkel dochnicht.«

Er ergriff scherzend den Schleier und wollte ihn überden Hut zurückschlagen.

»Nein, nein,« rief sie lebhaft und hielt das zarte Ge-webe fest.

Er zog sogleich die Hand zurück und bat mit ei-nem Blick um Verzeihung, sie bemerkte nicht, daß derSchleier sich an der einen Seite gelöst hatte und nurnoch leicht von einer Blume ihres Hutes gehalten wur-de, legte ihren Arm in den seinigen, und beide traten

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aus der etwas dumpfen Atmosphäre des Restaurants indie freie, würzig laue Abendluft hinaus.

Sie hatten kaum einige Schritte gethan, als der jungeMann den Arm seiner Geliebten lebhaft erbeben fühlte.

»Sieh da – da,« flüsterte sie, den Kopf zu ihm erhe-bend, »jener Mann, dem wir vor einiger Zeit begegnet,er kommt hierher, oh, wie sein Blick mich erfaßt!«

Herrn von Grabenows Auge folgte der Richtung ih-res unwillkürlich erhobenen Sonnenschirms und sahwenige Schritte vor sich den Grafen Rivero, der lang-sam daher geschritten kam und ihn bereits bemerkt ha-ben mußte, denn er blickte lächelnd und mit einer ge-wissen harmlosen Neugier auf das junge Mädchen anseinem Arm.

Herr von Grabenow fühlte eine leichte Regung eifer-süchtigen Mißbehagens und freute sich jetzt, den ver-hüllenden Schleier nicht von dem Gesichte Juliens ent-fernt zu haben.

Der Graf trat heran und begrüßte den jungen Mann,indem er zugleich mit der feinsten Artigkeit den Hutabnahm und sich vor Julia verbeugte, die seinen Grußmit einer leichten Neigung des Kopfes erwiederte.

»Ich habe Sie vergeblich auf dem Club erwartet,«sagte Graf Rivero, »und habe nach dem Diner einenkleinen Ausflug hierher gemacht. Welche Chance, daßich Sie hier treffe! – ich darf mir kaum die Frage er-lauben, ob ich Sie begleiten darf, ich muß fürchten, zustören.«

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Herr von Grabenow wendete sich wie unschlüssig zuJulia, und der Graf richtete mit ruhiger Höflichkeit denBlick erwartungsvoll auf das verschleierte Gesicht desjungen Mädchens. Herr von Grabenow fühlte ein leich-tes Zittern ihrer Hand.

»Wir wollen nach dem chinesischen Theater gehen,«sagte sie mit einer durch Verlegenheit gedämpftenStimme, »und ich möchte kein Hinderniß sein.«

Der Graf stutzte beim Klange dieser Stimme, da deritalienische Accent seinem Ohr nicht entgehen konnte.

Herr von Grabenow sagte mit vollkommenster Höf-lichkeit: »Es wird uns also eine Freude sein, wenn Sieuns begleiten wollen, Herr Graf.«

In leichter Plauderei schritten sie weiter. Der Graf Ri-vero ging zur Seite des jungen Mannes, und obwohl ereine ganz allgemeine Conversation führte, so richteteer doch öfter seine Bemerkungen mehr oder wenigerdirect an die junge Dame und veranlaßte sie zu ein-zelnen kurzen Antworten, bei denen jedesmal ein Aus-druck auf seinem Gesicht erschien, als suche er eine inseinem Innern heraufsteigende Erinnerung festzuhal-ten.

Sie nahmen ihre Plätze auf den Stühlen des kleinenchinesischen Theaters hinter dem großen Pavillon desReiches der Mitte. Die Vorstellung hatte begonnen –man sah diese eigenthümlichen Gestalten auf der klei-nen mit bunten Lampen verzierten Bühne ihre grotes-ken Pantomimen aufführen, von welchen man wenig

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begreifen konnte, und welche ein Wenig an die burles-ken Scenen der kleinen, so beliebten Polichineltheatererinnerten.

Julia saß still und schweigend da, sie hatte ihrenArm in dem des Herrn von Grabenow gelassen undschmiegte sich in der Dunkelheit des Zuschauerraumsinnig an den jungen Mann an, der zuweilen sanft ih-re Hand drückte, der Graf blickte aufmerksam auf dasoriginelle Schauspiel, aber sein Blick schien nach innengekehrt, und immer lag jener Ausdruck auf seinem Ge-sicht, als suche er tief und tiefer in seinen Erinnerun-gen.

Plötzlich trat eine Gesellschaft in lauter Unterhal-tung und heiterem Lachen in den Raum.

Es waren mehrere elegante Herren des Jockeyclubsmit einigen Damen jener zweifelhaften Welt des mora-lischen Halbdunkels, welche hier einen kleinen Streif-zug durch die pikanten Abwechslungen der Ausstel-lung unternommen hatten. Man sah unter ihnen denHerzog von Hamilton, den Vicomte von Valmory, wel-chen Julia in der Soirée bei Madame de l’Estrada gese-hen hatte, auch Madame Pamelas schwarz umzeichne-te Augen glänzten in dem Strahl der bunten Lampions.

Herr von Grabenow machte eine Bewegung, um auf-zustehen. »Laß uns gehen,« flüsterte er Julien zu, »essind Bekannte, denen ich nicht begegnen möchte.«

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Julia erhob sich, doch gerade diese Bewegung lenk-te die Aufmerksamkeit auf sie und ihren Begleiter, dersogleich von den Herren erkannt wurde.

»Ah,« rief der Herzog von Hamilton, »da ist Herr v.Grabenow, den man so selten sieht; man muß also hier-her kommen in diesen abgelegenen chinesischen Win-kel der Ausstellung, um Sie zu finden! Doch da ist auchzugleich die Erklärung für diese Zurückgezogenheit,«er verneigte sich lächelnd gegen Julia, »ein solches Ein-siedlerleben zu Zweien ist zu verstehen.«

Er wendete sich grüßend zum Grafen Rivero, wäh-rend die anderen Herren den Herrn von Grabenowumringten und Madame Pamela neugierig forschendeBlicke auf den Schleier warf, der das Gesicht Juliensverdeckte.

»Wir waren im Begriffe, aufzubrechen,« sagte Herrvon Grabenow, »ich muß früh zurückkehren –«

»Aber warum verhüllt Ihre schöne Begleiterin so nei-disch ihr Gesicht?« rief der Herzog von Hamilton, »dasist nicht recht, schöne Frauen und Blumen müssen alleBlicke erfreuen!«

Julia schmiegte sich ängstlich an ihren Freund, derin ziemlich kaltem Ton erwiederte: »Madame ist nichtganz wohl und scheut die kühle Abendluft.«

»Sie ist es, ich wette darauf,« sagte Madame Pamelazu ihrem Begleiter, »die Coiffure, der Wuchs, es ist diekleine Italienerin.«

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Der Graf Rivero trat an Juliens Seite, wie um sievor der Annäherung der Gesellschaft zu decken, undHerr von Grabenow schickte sich an fortzugehen, seineernste Miene bewies, daß er nicht geneigt sei, weitereScherze gut aufzunehmen.

In diesem Augenblick schloß die Vorstellung, dasganze Publikum verließ seine Sitze und drängte nachden Ausgängen zu.

Die Gruppe, welche sich um Herrn von Grabenowgebildet hatte, wurde einen Augenblick dicht um-drängt, da – ohne daß man bemerken konnte, aus wel-cher Veranlassung – löste sich der Schleier von Juli-ens Hut und fiel zu ihren Füßen nieder, im Lichte derLampions sah man ihr in tiefem Erröthen erglühendesGesicht.

»Ich hatte Recht,« sagte Madame Pamela, ein lei-ser Ausruf der Überraschung entfuhr dem Vicomte vonValmory.

Der Graf Rivero starrte das entschleierte Gesicht desjungen Mädchens mit einem unbeschreiblichen Aus-druck an. Seine großen, dunklen Augen erweitertensich und schienen dies so plötzlich vor ihm erscheinen-de Bild in allen seinen Zügen erfassen zu wollen, dann– dies Alles war das Werk einer Secunde – bückte ersich schnell, hob den Schleier auf und befestigte ihnmit einer Bewegung voll überlegener Autorität wiederauf dem Hut.

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»Es ist spät, man wird die Ausgänge schließen,« sag-te er dann in festem Tone, »lassen Sie uns gehen.«

Mit ruhiger, aber sehr bestimmt abwehrender Höf-lichkeit grüßte er die übrige Gesellschaft und schrittHerrn von Grabenow und Julia voran, einen Weg durchdas Publikum bahnend. Die anderen machten keinenVersuch, ihnen zu folgen.

»Da haben wir die kleine Prüde,« rief Madame Pa-mela lachend, »welche bei dieser guten Marquise del’Estrade so stolz war!«

»Dieser verteufelte Grabenow hat einen vortreffli-chen Geschmack,« sagte der Herzog von Hamilton,»wo in aller Welt hat er nur das gefunden? – Wohlan,«rief er dann heiter, »der Abend ist angebrochen, wassagen Sie zu einem kleinen Souper im Café Anglais?«

»Einverstanden – einverstanden!« rief man allge-mein.

»De longs soupers – de joyeuses chansons,« träller-te Madame Pamela, und laut lachend und plauderndmachte sich diese ganze Gesellschaft voll sprudelnderLebenslust auf den Weg nach Paris, um in den glänzen-den Salons des Casé Anglais bis zum Morgen in rau-schendem, herzlosem Jubel Geld, Zeit und Gesundheitzu verschwenden, diese drei Dinge, welche die Jugendso wenig achtet, und welche sich später so hart und un-erbittlich für die ihnen bewiesene Verachtung rächen.

Fast schweigend waren Herr von Grabenow, Juliaund der Graf Rivero zum Ausgange gelangt.

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Von einem der dort wartenden Dienstmänner geru-fen, erschien das Coupé des Herrn von Grabenow, der,sich von dem Grafen mit herzlichem Händedruck ver-abschiedend, schnell einstieg.

Der Graf Rivero ließ auf einer kleinen, goldenenPfeife, die er aus seiner Tasche zog, einen feinen, aberdurchdringenden Pfiff ertönen.

In demselben Augenblick verließ seine leichte Victo-ria die bereits sehr wenig zahlreich gewordene Reiheder Equipagen und hielt an seiner Seite.

»Du siehst jenes Coupé, welches soeben dort in derDunkelheit verschwindet,« sagte der Graf zu seinemKutscher, »du wirst es nicht aus den Augen verlieren,und wenn es hält, zwanzig Schritte davon halten.«

Er schwang sich leicht in den Wagen. Pfeilschnellschoß auf einen leichten Zungenschlag des Kutschersdas ungeduldig schnaubende Pferd dahin und hatte inwenigen Augenblicken das Coupé des Herrn von Gra-benow erreicht, dem nun der Wagen des Grafen ingleichmäßiger Bewegung folgte.

Als Herr von Grabenow mit Julia vor dem Hause derRue Notredame de Lorette ausstieg und sie hinaufführ-te, hielt der Wagen des Grafen in geringer Entfernungim Schatten der Häuser.

Der Graf stieg schnell aus, und langsam auf demTrottoir hingehend, blickte er scharf nach der über der

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Haustür angebrachten Nummer. Dann kehrte er zu sei-nem Wagen zurück, stieg ein und rief dem Kutscher zu:»Nach Hause!«

»Wäre es möglich,« sagte er in tiefer Bewegung,»daß hier das finstere Räthsel meines Lebens sich lös-te? – Eine schmerzliche Lösung freilich, aber immer einhohes Glück im Vergleich mit der schwülen, entsetzli-chen Dunkelheit, die mich bisher umgab, denn ich wer-de die Macht haben, zu sühnen und gutzumachen, wasdie Sünde an einem unschuldigen Leben verbrochen.«

DREIUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Paris war auf dem Höhepunkt des Rausches, in wel-chen die Weltausstellung diese so feinfühlige und soleicht entzündliche Stadt versetzte. Im Palais Elyséeentfaltete der Kaiser von Rußland den eigenen glän-zenden Hofstaat, umgeben von dem noch schimmern-deren Glanz der kaiserlichen Gastfreundschaft, unddas Palais war fortwährend von einer dichten Volks-menge umgeben, welche dort unermüdlich aushielt,die an- und abfahrenden Equipagen musternd und cri-tisirend und das Erscheinen des Czaren erwartend,theils aus Neugier, theils um dem russischen Souverainihre Sympathieen zu bezeigen. Hatte schon die per-sönliche Erscheinung Alexanders II., sowie sein frei-es und ungezwungenes Bewegen unter dem Publikumihm die Sympathieen der Pariser Bevölkerung erwor-ben, so trat dazu noch die fast allgemeine Entrüstung

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über die taktlosen Demonstrationen, welche einige op-positionelle Advocaten, wie Floquet und Arago, gegenden Gast Frankreichs an verschiedenen Stellen durchdie bei seinem Erscheinen ausgestoßenen Rufe: »Es le-be Polen!« gemacht hatten. Wo der Kaiser öffentlich er-schien, wurde er von dem großen Publikum, welcheszeigen wollte, daß es an jenen sinn- und zwecklosenUngezogenheiten keinen Theil habe, mit allen Zeicheneiner wirklichen wohlwollenden Ehrerbietung empfan-gen.

Fast ebenso dicht war die Menschenmenge, welchedie Tuilerien umgab und durch die inneren Höfe vonder Rue de Rivoli nach den Quais hinwogte. Denn hierhoffte man den König von Preußen, den Sieger von Sa-dowa, zu sehen, und seinen so vielgenannten und somerkwürdigen Minister, den Grafen von Bismarck. Warauch hier die Sympathie geringer, als in den Umgebun-gen des Elysee, so war die Neugier größer, mit wel-cher die Augen dieser Tausende von Menschen durchdie Gitter hin nach dem Pavillon Marsan blickten, vorwelchem man die Equipagen der Diplomatie und derGroßwürdenträger des Kaisereichs an- und abfahrensah.

Nicht minder zahlreich drängte sich das Publikumauf dem Ausstellungsfelde, man hatte gehört, daß derKönig Wilhelm und Graf Bismarck am Morgen dorthin

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gefahren seien, und die Menge wogte um den kaiser-lichen Pavillon her, neugierig durch die großen Fen-ster in das prachtvolle Interieur mit den farbenschim-mernden Vorhängen blickend und nur mühsam durchdie Sergeants de Ville von dem Besteigen der den Pa-villon umgebenden Treppenstufen zurückgehalten, de-ren Ecken von kolossalen Adlern, auf goldenen Welt-kugeln sitzend, überragt wurden. Aber nicht hier ent-deckte man den vielgesuchten Monarchen, denn dieserging mit dem Grafen Bismarck und den Herren seinerUmgebung im vollsten Incognito durch die Räume derAusstellung, und diejenigen, welche ihn am wenigstensuchten, hatten den Vorzug, ihn aus nächster Nähe se-hen zu können.

Fast eine Völkerwanderung aber bildeten die Mas-sen, welche schon seit den frühen Vormittagsstundendes 7. Juni nach der Ebene von Longchamps hinauszo-gen, denn dort sollte die große Revue stattfinden, beiwelcher man die drei Monarchen, umgeben von allemmilitairischen Pomp des Kaiserreichs, erblicken würde.

Während so ganz Paris einem ungeheuren Bienen-schwarm gleich hin und her wogte und sich zum Theilentvölkerte, um das Bois de Boulogne und die Umge-bungen von Longchamps zu erfüllen, lag das alte, lang-gestreckte Tuilerienschloß in seinem inneren Hofe, vorwelchem die beiden Reiterposten von den Cürassierender Garde unbeweglich wie Erzbilder hielten, in maje-stätischer, schweigender Ruhe da und nur von fern her

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klangen die brausenden Stimmen der durcheinanderdrängenden Volksmassen herüber.

Napoleon saß allein in seinem Cabinet, geöffneteBriefschaften vor sich, und während die Macht und derGlanz von ganz Europa seinen Thron umgab, währendseine Hauptstadt sich berauschte an dem Schimmerdieses alle Erinnerungen überbietenden Schauspiels,während seine stolzen, waffenfunkelnden Garden aus-rückten, um die Kriegsmacht Frankreichs vor den Be-herrschern zu repräsentiren – saß der Kaiser finsterin sich zusammengesunken in seinem Lehnstuhl. Dieglanzlos müden Augen blickten abgespannt vor sichhin, die schlaffen Züge drückten Leiden und Abspan-nung aus, und die Fingerspitzen der in dem Schooßruhenden Hände bewegten sich in leisem, unwillkürli-chem Zittern.

»Sie hat Recht,« sagte er mit dumpfem Tone, »dieSibylle im Hause der Lenormand, strahlender Glanzumgiebt meinen Thron, und Paris ist in diesem Au-genblick fast der Mittelpunkt der Welt, kaum konn-te mein Oheim, als sein Stern im Zenith stand, stol-zer herabblicken von der Höhe seiner Macht, und den-noch – dennoch ist mein Herz voll tiefer, banger Un-ruhe,« flüsterte er, noch mehr in sich zusammensin-kend, »denn dies prächtige Gebäude kaiserlicher Herr-lichkeit ruht auf Sand, und es will mir nicht gelingen,den zerbröckelnden Fundamenten wieder Festigkeit zugeben. – Was ist die menschliche Größe,« fuhr er nach

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einigen Augenblicken mit tief schmerzlichem Seufzerfort, »wovon hängt sie ab? – Mit unerschütterlicher Zä-higkeit, mit unbeugsamer Willenskraft, mit unermüdli-cher Arbeit der Tage und Nächte habe ich diesen Thronwieder emporgerichtet aus dem chaotischen Abgrundeder Revolution, mit dem Blute von Tausenden, unterden Donnern der Schlachten in der Krim und in Italienhabe ich die Macht Frankreichs hoch gehoben in Euro-pa – und nun hängt das Alles an den alternd erstarren-den Muskelfasern, an den erlahmenden Nervenfädeneines kranken Körpers!«

Mit glühendem Blick richtete sich sein Auge nachoben und leise sprachen die schmerzlich zuckendenLippen:

»Noch zehn Jahre der Kraft gieb mir, du unerforsch-liche Macht, die in geheimnißvollem Dunkel über die-sem rollenden Erdball und den auf ihm wachsendenund vergehenden Völkergeschlechtern waltet, nochzehn Jahre freien Denkens und Wollens – und meinWerk wäre vollendet und befestigt, ich könnte es denHänden meines Sohnes überlassen und ruhig hinüber-gehen in jenes unerschlossene Gebiet, das unser Lebenmit finsterem Horizont umschließt!«

Er schwieg, und ein leises Zittern flog durch seineGestalt wie ein körperlicher Schmerz, fest preßten sichseine Lippen aufeinander, und eine tiefe Blässe zogüber sein Gesicht.

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»Ich werde sie nicht haben,« flüsterte er, »die Zeit,die ich bedarf, ich werde abtreten müssen, währendmein Werk zerfällt, ich fühle es, ich bin krank undweiter und weiter greift die zerstörende Hand die-ser Krankheit in das Gefüge meines Körpers, kaumkann ich die Anstrengung dieser fürstlichen Besucheertragen, kaum vermag ich den spähenden Augen derWelt zu verbergen, was ich leide! Und von dem Kran-ken weicht das Glück, dieser räthselhafte Faden immenschlichen Leben! Es ist, als ob die kalte Hand desTodes überall eingriffe in die Fäden meiner Combina-tionen, meine Pläne vereitelnd, als ob ich gebannt blei-ben sollte in dieses ewige Schwanken der Unsicherheitund Unklarheit, aus dem sich herauszureißen dem lei-denden Organismus doppelt schwer fällt. Ich habe dieCoalition herstellen wollen zwischen mir, Österreichund Italien, um einen Rückhalt zu haben, wenn wirk-lich der Kampf gegen diese deutsche auf Rußland ge-stützte Macht nothwendig werden sollte, und da er-faßt ein unerwartetes und unerhörtes tragisches Ver-hängniß das Leben dieser jungen Erzherzogin, welchedas Band der Versöhnung knüpfen sollte zwischen denbisher so feindlichen Mächten. Ich fürchte nach demletzten Bericht, daß das Leben des armen Kindes nichtwird erhalten werden können, und mit dieser jung-fräulichen Leiche wird vielleicht eine große politischeCombination in die Kaisergruft hinabgesenkt! Schlim-mer aber noch ist das Trauerspiel, das sich jenseits des

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Oceans vollzieht!« sagte er nach einigen Augenblickenschweigenden Sinnens, indem er einen der vor ihm lie-genden Briefe ergriff und den Blick über seinen Inhaltgleiten ließ. »Die heroische Thorheit dieses Maximili-an, die mein Gefühl begreift und mein Verstand ver-urtheilt, muß ein böses Ende nehmen. Die Interven-tion der Vereinigten Staaten ist kühl – eine Form derHöflichkeit – die alten Sympathieen Nordamerikas fürFrankreich sind verloren, man fühlt es wohl in Wa-shington, daß die eigentliche Spitze jener unglückli-chen Expedition gegen die amerikanische Republik ge-richtet war! Ich glaube kaum an die Erhaltung des Le-bens dieses armen Opfers seiner ritterlichen Gefühle.Juarez ist kalt – ein grausamer Rechner, er wird einfurchtbar abschreckendes Beispiel geben wollen, vonseinem Standpunkt hat er vielleicht Recht, es ist dasrepublikanische Amerika, welches dem monarchischenEuropa seine Antwort schreibt mit dem Blute des En-kels Karls V.«

Er versank wieder in tiefes, düsteres Sinnen.»Noch klingt es schaurig in mir wieder,« sagte er

dann, indem ein Zittern durch seine Glieder zog, »je-ner Fluch, welchen die arme, kranke Charlotte im Aus-bruch ihres Wahnsinns mir entgegenschleuderte, soll-ten die Dämonen der Rache ihn gehört haben und sei-ne Erfüllung beginnen? Es wäre furchtbar,« rief er auf-stehend und wie in innerer Angst hin und her schrei-tend, »wenn jetzt in diesem Augenblick des Glanzes

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und des freudigen Rausches, jetzt, da die Mächtigstenaus dieser Familie der Könige Europas hier an meinemHofe zusammentreffen, wenn jetzt die Nachricht vomTode Maximilians einträfe – dieses Erzherzogs, den ichzum Kaiser machte und dessen Leben die Flotten undArmeen Frankreichs nicht schützen konnten. Welch’eine Kehrseite des glänzenden Bildes von Macht undHerrlichkeit, das sich hier aufrollt!«

Er ließ sich erschöpft wieder in seinen Stuhl sinken.»Und meine Pläne mit Österreich,« sagte er seuf-

zend, »meine Reserve, meine ultima ratio! Der Todbedroht die junge Erzherzogin, die ein lebendig wirk-sames Element in meinen Combinationen bilden soll-te, wenn jetzt noch der blutige Schatten Maximilianssich zwischen mir und dem Hause Habsburg aufrich-ten sollte, oh, ich muß Alles anwenden, um Frieden zuhaben mit Deutschland, denn dort ist die Kraft, dort istdie Gefahr –«

Ein Schlag ertönte an der Thür. Der General Favé tratein.

»Der Graf von Bismarck, Sire!«»Ich erwarte ihn,« sagte der Kaiser aufstehend, »viel-

leicht gelingt es mir, endlich Klarheit und Festigkeit fürdie Zukunft zu gewinnen,« flüsterte er, während derGeneral in das Vorzimmer zurückkehrte.

Graf Bismarck trat ein. Er war bereits in voller mi-litairischer Tenue für die große Truppenmusterung,im weißen Waffenrock, den Helm in der Hand. Der

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Kaiser ging dem preußischen Ministerpräsidenten mitverbindlicher Artigkeit entgegen und reichte ihm dieHand, welche Graf Bismarck mit tiefer Verneigung er-griff.

Merkwürdig genug war der Contrast in der Erschei-nung dieser beiden Persönlichkeiten, welche so maß-gebend in die Schicksale Europas einzugreifen von derVorsehung bestimmt waren. Fest und markig stand diehohe Gestalt des Grafen Bismarck da, auch abgesehenvon der militairischen Uniform soldatisch kräftig, seinklares Auge blickte lichtvoll und frei herab auf diesenso viel kleiner gewachsenen und noch leicht gebücktsich haltenden Imperator, dessen verschleiertes Augein diesem Moment fast völlig ausdruckslos war, wäh-rend seine Lippen ein Lächeln voll anmuthiger Freund-lichkeit umspielte.

Es war, als ob Napoleon etwas von dieser äußerenÜberlegenheit der Erscheinung des Grafen Bismarckfühlte, denn obwohl Niemand zugegen war, wendeteer sich mit einer gewissen Eilfertigkeit zu seinem Ses-sel zurück und setzte sich nieder, während der preußi-sche Minister auf seine Einladung ihm gegenüber Platznahm.

»Ich freue mich, mein lieber Graf – mein General,«sagte er sich verbessernd mit einem lächelnden Blickauf die Uniform des Grafen, »daß ich in dieser viel be-wegten Zeit die Muße finde, eine Stunde vertraulich

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mit Ihnen zu verplaudern, es sind so viele Dinge vor-handen, über welche ein persönlicher Meinungsaus-tausch in der That Bedürfniß ist.«

»Ew. Majestät wissen,« erwiederte Graf Bismarck mithöflichem Tone, durch welchen eine gewisse aufrichti-ge Herzlichkeit hindurchklang, »welche Freude es fürmich stets war, als ich noch die Ehre hatte, Ihnen nä-her zu stehen, aus Ihrer Unterhaltung diese Fülle vongroßen und genialen Ideen zu schöpfen, welche derGeist Ew. Majestät unablässig in so reichem Maße er-zeugt.«

»Die Gedanken,« sagte der Kaiser mit einer leichtenNeigung des Hauptes, »welche Sie mir früher – undzuletzt in Biarritz so lebendig und überzeugungsvollin Betreff der Nothwendigkeit einer neuen GestaltungDeutschlands entwickelten – sind nun zur Wahrheit ge-worden, ich habe Ihnen noch persönlich zu den großenErfolgen Glück zu wünschen, die selbst dasjenige weitüberschritten haben, was Sie damals erstrebten undhofften.«

»Sire,« sagte Graf Bismarck, »ich habe bei meinenBestrebungen und Hoffnungen den Factor der Schlag-fertigkeit der preußischen Armee in Berechnung ge-zogen, aber ich konnte die Unfähigkeit der Gegner indem Maße, wie sie uns thatsächlich entgegengetretenist, kaum in meine Berechnungen aufnehmen, daherist der Erfolg allerdings über die Erwartungen hinaus-gegangen.«

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Der Kaiser fuhr leicht mit der Hand über seinenSchnurrbart, sein Auge verschleierte sich noch un-durchdringlicher als vorher.

Er schwieg einige Secunden, während der Blick desGrafen Bismarck klar und ruhig auf ihn gerichtet war.

»Die großen nationalen Agglomerationen,« sagteNapoleon dann, »sind eine nothwendige Entwicklungdes Völkerlebens, ich erblicke darin eine größere Bürg-schaft des wahren Gleichgewichts in Europa, als injenen künstlichen und oft naturwidrigen staatlichenTheilungen, mit welchen die Diplomatie der Vergan-genheit experimentirte. Zwei große, in ihren nationa-len Verhältnissen innerlich befriedigte Völker werdenweit sicherer in dauerndem Frieden nebeneinander le-ben können, als zahlreiche Staatsgruppen, welche vondem Ehrgeiz und oft von den Intriguen der Cabinet-te geleitet werden. So sehe ich auch in der nationa-len Consolidirung Deutschlands, insbesondere Nord-deutschlands,« fügte er ohne besonders hervortretendeBetonung erläuternd hinzu, »ein neues Pfand dauerndguter Beziehungen zwischen Deutschland und Frank-reich, ganz abgesehen von den Gesinnungen der Regie-rungen, welche ja vergänglich sind wie die Personen.«

»Ew. Majestät,« sagte Graf Bismarck, »kennen mei-ne Überzeugung von der Nothwendigkeit nicht nur desFriedens, sondern wirklicher Freundschaft zwischendem französischen und dem deutschen Volke, zum Hei-le beider, welche dazu geschaffen sind, gemeinsam an

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den Werken der Cultur zu arbeiten. Ich glaube nicht,daß es auch in künftiger Zeit jemals einen Staatsmannin Deutschland geben könnte, der ohne zwingendeGründe diesen Frieden gefährden möchte.«

»Es ist indes nicht zu leugnen,« sagte der Kaiser invöllig ruhigem, fast gleichgültigem Tone, »daß in derdeutschen nationalen Bewegung eine gewisse Animo-sität gegen Frankreich liegt, von früheren Zeiten her,«fügte er hinzu, »deren Bedingungen jetzt nicht mehrmaßgebend sind.« –

»Wenn Ew. Majestät die französische Presse, dieJournale von Paris an der Spitze, beobachtet haben,«erwiederte Graf Bismarck mit etwas kalter Höflichkeit,»so werden Sie gewiß anerkennen, daß der öffentli-chen Meinung in Deutschland keineswegs die Initiativeauf dem Gebiet nationaler Animosität zuzuschreibenist.«

»Es sind das hoffentlich momentane Erregungen,«sagte der Kaiser, »die keine Dauer und keinen schädli-chen Einfluß haben werden, da ja die Regierungen vonder Überzeugung der Nothwendigkeit guter Beziehun-gen, und von dem persönlichen Willen, dieselben zuerhalten, erfüllt sind; jene Erregungen werden sofortverschwinden,« fuhr er mit einem schnellen Blick aufden Grafen Bismarck fort, »sobald die feste Basis ge-funden sein wird, auf welcher unter den neuen Verhält-nissen die internationalen Beziehungen für die Dauerfestgestellt werden können.«

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Keine Muskel zuckte in dem Gesicht des preußischenMinisterpräsidenten, durchsichtig und hell begegnetesein Auge dem schnellen Blick des Kaisers.

»Ich sehe nicht, Sire,« sagte er mit vollkommenungezwungenem, natürlichem Tone, »wie die vonEw. Majestät wie von meinem allergnädigsten Herrnso aufrichtig gewünschten Freundschaftsbeziehungenzwischen Deutschland und Frankreich getrübt werdenkönnten, die Basis des Prager Friedens, auf welcher dieneuen Verhältnisse ruhen –«

»Mein lieber Graf,« sagte der Kaiser, ihn unterbre-chend, indem sein Gesicht einen Ausdruck freimüthi-ger Offenheit annahm und seine Augen sich entschlei-erten, »der Prager Frieden – ist ein Provisorium.«

Graf Bismarck blickte ihn mit einem gewissen Er-staunen an, das eine Erklärung zu erwarten schien.

»Der Prager Frieden, Sire,« sagte er, »ist ein völker-rechtlicher Abschluß, der –«

»Ganz recht,« warf der Kaiser ein, »indes es giebtin den nationalen Entwicklungen Etappen, durch wel-che die Ereignisse sich zu dem naturgemäßen undnothwendigen Endabschluß hinbewegen, eine solcheEtappe ist für mich, wie ich die Verhältnisse in Deutsch-land auffasse, der Prager Frieden.«

Graf Bismarck schwieg.»Sehen Sie,« fuhr Napoleon nach einem augenblick-

lichen Zögern fort, »die deutsche Nation hat seit langerZeit in der Presse, von den Tribünen, in den Schriften

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der Gelehrten, in den Werken der Dichter nach der Ei-nigung verlangt, es ist zum Theil der Drang nach die-ser Einigung, welcher die großen Erfolge des Jahres1866 möglich gemacht hat, aber dieser Erfolg hat ebendas volle erstrebte Ziel nicht gebracht, denn noch stehtDeutschland in zwei Theile getheilt da – und soweit ichdie öffentliche Meinung in Ihrem Lande verfolgt habeund verstehe, beginnt sie schon, die volle Einigung al-ler Theile zu verlangen.«

»Ich kann Ew. Majestät darin gewiß nicht unrecht ge-ben,« sagte Graf Bismarck, »daß der nationale Geist inDeutschland die volle und ganze Einigung aller Thei-le und Stämme wünscht und erstrebt, wer aber kannden Gang solcher großen historischen Entwicklungenvorherbestimmen, messen oder gar lenken – diese Ent-wicklungen vollziehen sich nach den Gesetzen einerinneren Nothwendigkeit, wie die großen Naturerschei-nungen in der physischen Welt, die alle künstlichenBauten von Menschenhand überfluthen. Ich aber, Sire,kann mich als ein Mensch, der in die Beschränkung desRaumes und der Zeit gebannt ist, nicht auf die Höhender Vorsehung stellen, vor deren Blick die Intervalle,welche große historische Epochen trennen, in Nichtszerfließen. Ich stehe als Staatsmann in der Zeit und aufdem Boden der Gegenwart – und was die Gegenwartgeschaffen hat, das ist für mich, und muß es sein, dereinzige Boden des Rechts und der Politik. So, Sire, se-he ich den Prager Frieden an, er ist für mich Norm und

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Grenze und mag die große Entwicklung der zukünf-tigen Geschichte auch dereinst über ihn hinwegschrei-ten, wie sie ja über alle Verträge und Rechte schließlicheinmal hinwegschreiten muß zu neuen Bildungen undOrdnungen – ich stehe einfach auf dem jetzt gegebe-nen Boden und überlasse die Zukunft denen, die nachmir berufen sein werden, das politische Leben meinesLandes zu lenken. Ich weiß,« fuhr er fort, »daß auchin Süddeutschland eine nicht unbedeutende Strömungzum Anschluß, zum definitiven und festen Anschlußan den Norden drängt, sollte aber diese Strömung aufdie Entschließungen einzelner Regierungen Einfluß ge-winnen und zu Schritten in jener Richtung führen, sowerde ich sie zurückweisen, bestimmt zurückweisen,so lange das jetzt geschaffene Recht nicht etwa un-ter übermächtig hereinbrechenden Ereignissen zusam-menfällt.«

Ein rasch wieder verschwindender Schatten von Un-zufriedenheit, fast von Ungeduld zog über das Gesichtdes Kaisers.

Leicht den Kopf schüttelnd sagte er:»Gewiß ist der Prager Frieden europäisches und fe-

stes Völkerrecht geworden, und,« warf er wie eineflüchtige Nebenbemerkung dazwischen, »eine einsei-tige Überschreitung der durch ihn gezogenen Gren-zen müßte bedenkliche Folgen haben, doch bin ich derMeinung, daß eine weitblickende Staatskunst nicht in

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ruhiger Stille plötzliche und unberechenbare Ereignis-se abwarten darf, sondern vielmehr die Aufgabe hat,die Zukunft, welche sie früher oder später kommensieht, vorbereitend herbeizuführen.«

Abermals blickte Graf Bismarck in erwartungsvollemSchweigen den Kaiser an.

»Meine Ansichten,« fuhr der Kaiser fort, »über natio-nale Staatsformationen stehen fest, ich betrachte die-selben nicht nur als nothwendig bevorstehend, son-dern auch als heilsam und gut. Das getheilte Deutsch-land ist gewissermaßen eine Gefahr für die Ruhe Euro-pas, wenn die endlich einigende Bewegung sich in ei-nem Augenblick vollzöge, in welchem eine weniger ru-hige, vorsichtige Regierung Frankreich leitete, so könn-te ein Aufbrausen der französischen Empfindlichkeit zugefährlichen und beklagenswerten Conflicten führen.«

Er schien eine Antwort, eine Bemerkung zu erwar-ten. Graf Bismarck hörte schweigend.

»Ich glaube,« fuhr Napoleon fort, indem seine Fin-gerspitzen sich in leichtem Zittern bewegten, »daß esfür die Zukunft, für das ruhige Gleichgewicht Euro-pas besser wäre, wenn das angefangene Werk mög-lichst bald vollendet würde, und ich,« sagte er nacheinem fast unmerklichen Zögern, »ich würde gewißkein Hinderniß erblicken, im Gegentheil, ich wün-sche aufrichtig eine Verständigung über die Bedingun-gen zu finden, unter denen die vollständige Einigung

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Deutschlands in cordialem Einverständniß mit Frank-reich stattfinden könnte.«

Bei dem Worte »Bedingungen«, auf welches der Kai-ser einen ganz leisen, kaum hervortretenden Nach-druck legte, blitzte ein eigenthümlicher Ausdruck indem Auge des Grafen Bismarck auf. Es war eine Mi-schung von Stolz – von kalter Überlegenheit, fast vonVerachtung und Hohn, die eine Secunde lang in demklaren Licht dieses ruhigen Blickes erschien, um so-fort wieder zu verschwinden und der gleichmäßig auf-merksamen Höflichkeit Platz zu machen.

»Und glauben Ew. Majestät, daß es Voraussetzungengeben könnte,« sagte er, das Wort scharf betonend,»unter denen ein weiterer Fortschritt der deutschenEinheitsbewegung schon in naher Zeit als möglich ge-dacht werden könnte?«

»Sie wissen wie ich, lieber Graf,« erwiederte der Kai-ser, immer unter dem leicht wahrnehmbaren Eindruckeiner gewissen peinlichen Erregung, »daß das französi-sche Gefühl sich ein Wenig revoltirt über die Erhebungdieser militairisch concentrirten Macht Deutschlandsan unseren Grenzen, und daß ich ein Wenig Mühe ha-be, diese nationale Empfindlichkeit zurückzuhalten.«

»Um so mehr hohe Anerkennung verdient die Fe-stigkeit, mit welcher Ew. Majestät die freundlichen Be-ziehungen erhalten haben, von denen diese Tage einneues Zeugniß vor den Augen Europas ablegen,« sagteGraf Bismarck sich verneigend.

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»Wie ich bereits bemerkte,« fuhr Napoleon fort,»würde jene Erregtheit des französischen Gefühls so-gleich verschwinden und man würde in Frankreich oh-ne Neid und Besorgniß eine wirklich nationale Con-stituirung des Nachbarvolkes sehen, sobald auch fürFrankreich gewisse – nationale Ergänzungen stattfän-den, welche auch für die Zukunft das vollständigeGleichgewicht wieder herstellten.«

Fragend und erwartungsvoll sah Graf Bismarck denKaiser an, auf dessen Gesicht die peinliche Bewegungimmer sichtbarer wurde.

»Es sind gewisse Gebiete,« sprach der Kaiser wei-ter, »von ergänzender Bedeutung für das ökonomischeSystem Frankreichs, von einer gewissen ausgleichen-den strategischen Wichtigkeit, welche für Deutschlandkaum von Werth sind, und welche durch Gesinnungder Bevölkerung und vor allem durch die Sprache zurnationalen Arrondirung Frankreichs gehören, würdendiese Gebiete ihrer natürlichen Bestimmung zugeführt,so müßte – wie ich glaube – jede Besorgniß vor ei-ner concentrirten und vollständigen Einigung Deutsch-lands verschwinden. Hier ließe sich ja leicht die Ba-sis finden, auf welcher die natürliche Entwicklung derDinge beschleunigt und ohne gewaltsame Catastro-phen mit ihren bedenklichen Consequenzen zu Endegeführt werden könnte.«

Er hielt wie erschöpft inne, seine Augenlider senktensich noch tiefer herab und verdeckten fast ganz den

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Blick, welchen er aus der zurücktretenden Pupille aufden preußischen Ministerpräsidenten richtete.

Graf Bismarck schwieg einen Augenblick. Es flog wieein Wetterleuchten über sein Gesicht. Fast schien es,als solle aus seinen Lippen ein Wort, schneidend undscharf wie eine Schwertspitze, hervordringen, schnellaber verschwand dieser Ausdruck wieder und mit demTone einer gewissen gleichgültigen Bonhomie sagte er:

»Ew. Majestät deuten da eine Combination an, de-ren Folgen weit und groß sind und daher die ernstesteErwägung erfordern. Ich selbst würde kaum im Stan-de sein, mir schnell über einen solchen Gang der Po-litik eine bestimmte Ansicht zu bilden, und außerdemhängen ja auch die Ansichten, welche ich demnächstals Staatsmann durchzuführen und zu vertreten ha-be, von vielen Factoren ab, die außer mir liegen. Ew.Majestät müßten mich für leichtsinnig halten, wennich ohne ernstes Vorbedenken bestimmte Meinungenausspräche, die ich unter dem unmittelbar persönli-chen Einfluß Ihrer Gegenwart noch schwerer zu dernothwendigen Objectivität erheben könnte,« fügte er,sich mit ehrerbietiger Höflichkeit verneigend, hinzu.»Gewiß haben Sie, Sire, über die Combination, wel-che Sie eben allgemein andeuteten, bestimmte Gedan-ken, ich würde Ew. Majestät nur zu bitten haben, dem-nächst Benedetti instruiren zu wollen, daß er diese Ge-danken in konkreter Formulierung mir mittheile, Sie

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können überzeugt sein, daß bei der Prüfung und Er-örterung derselben für mich stets der Wunsch maß-gebend sein wird, die freundlichen Beziehungen mitEw. Majestät Regierung und mit Frankreich zu erhal-ten und für die Zukunft zu befestigen.«

Der Kaiser richtete sich ein Wenig empor. Es schien,daß er etwas antworten wollte, dann aber sank er wie-der in sich zusammen, ein Seufzer drang aus seinemMunde, er schwieg einen Augenblick.

»Ich freue mich,« sagte er dann, »daß wir, wie esscheint, einen Ausgangspunkt finden werden, von wel-chem wir, wie ich überzeugt bin, zu einer richtigen undnützlichen Gestaltung der Zukunft gelangen werden.Ich werde weiter darüber nachdenken und meine Ge-danken formuliren. – Doch nun,« sagte er dann, denKopf erhebend und den vollen Blick auf den Grafenrichtend, »möchte ich Sie noch in einer – sozusagenhäuslichen Angelegenheit um Ihre Meinung und IhrenRath – als erprobter Sachverständiger bitten.«

Ein wenig erstaunt blickte Graf Bismarck empor.»Man räth mir,« fuhr der Kaiser fort, »von vielen Sei-

ten – und der Rath kommt zum Theil von meinen erge-bensten Freunden –, in Frankreich eine constitutionelleRegierung einzuleiten. Man sagt mir, eine solche Regie-rung würde für die künftige Festigkeit der Dynastie vongroßer Bedeutung sein, sie würde alle diejenigen Par-teien versöhnen, welche nicht geradezu die Republikund die Anarchie erstreben, und sie würde den Thron

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mit Institutionen umgeben, die in sich selbst die Kraftdes Bestehens trügen, wenn einmal – was ja früheroder später eintreten wird – meine Hand nicht mehr daist, um die Zügel des persönlichen Regiments zu füh-ren. – Ich habe nun,« sagte er lächelnd, »viel über alleStaats- und Regierungsformen nachgedacht, aber wasdas constitutionelle Regiment betrifft, bin ich ein Theo-retiker, Sie, mein lieber Graf, haben mit der constitutio-nellen Maschine gearbeitet – und so glücklich gearbei-tet,« sprach er, verbindlich den Kopf neigend, »daß Sietrotz der festen Vertretung der Autorität nicht nur IhreZwecke erreicht, die Mittel zu Ihren Actionen erhaltenund geschaffen haben, sondern jetzt auch trotz IhrerFestigkeit und Entschiedenheit von der größten Popu-larität getragen sind. Sie kennen außerdem Frankreichund die Franzosen, da Sie ja lange unter uns gelebt ha-ben, glauben Sie, daß eine constitutionelle Regierungin Frankreich möglich sei, daß sie wirklich Bestand ha-ben und dem Thron auf die Dauer feste Unterlagen ge-ben könne?«

Graf Bismarck hatte mit kaum verhehltem wachsen-dem Erstaunen zugehört, in sinnendem Nachdenkensaß er einen Augenblick da, dann richtete sich seinBlick tief mit einem ganz eigenthümlichen Ausdruckauf den Kaiser; – es lag etwas wie mitleidige Theilnah-me in demselben.

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»Sire,« sagte er dann, während Napoleon gespanntund erwartungsvoll den Kopf leicht auf die Seite ge-neigt zuhörte, »Ew. Majestät beweisen mir durch dieseFrage ein großes persönliches Vertrauen, für welchesich Ihnen in hohem Grade dankbar bin, indes mußich offen gestehen, daß die Beantwortung Ihrer Fragemich ein Wenig in Verlegenheit setzt, und daß meinepractische Erfahrung mich dabei ein Wenig im Sticheläßt.«

»Doch haben Sie in der Praxis Ihre Kenntniß des Ge-genstandes bewiesen,« sagte der Kaiser lächelnd, »Siemüssen Erfahrungen gesammelt haben –«

»Sire,« erwiederte Graf Bismarck, »die Anwendungmeiner Erfahrungen auf Frankreich wird mir ein Wenigschwer, weil die Verhältnisse nicht die gleichen sind.In Preußen, Sire, ist unter den verschiedenen Partei-en, mit welchen man in den Kämpfen und Compromis-sen des constitutionellen Lebens zu thun hat, keine,die den Bestand der staatlichen Ordnung, welche dieBerechtigung der Regierung – der Dynastie bestreitet,«sagte er mit leiserer Stimme.

Der Kaiser senkte wie zustimmend den Kopf, ohneihn indes wieder emporzurichten.

»Darum,« sprach bei Graf weiter, »ist dort bei uns dasconstitutionelle Kampfspiel weniger ernst, als es hier

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sein könnte, indes,« fuhr er, wie seine Gedankenrich-tung unterbrechend, fort, »ich kann denjenigen, wel-che Ew. Majestät den erwähnten Rath ertheilen, nichtUnrecht geben.«

Der Kaiser richtete sich rasch empor. Gespannte Er-wartung lag auf seinen Zügen.

»Die französische Nation, Sire,« sagte Graf Bismarck,»empfindet heißer, denkt lebendiger als andere Völ-ker, die politischen Gährungen arbeiten heftiger undführen leichter als anderswo zu großen revolutionärenCatastrophen. Wenn ich mir erlauben darf, ein Bild zubrauchen, so möchte ich das politische Leben in Frank-reich mit einem Dampfkessel vergleichen, der endlichden Druck der durch immer neue Heizung auf dashöchste gespannten Dampfkraft nicht mehr erträgt undin gewaltigem Bruch zersprengt wird. Für diesen Kes-sel, Sire, ist nun das im Ganzen doch lenksame Spielund Gegenspiel der Kräfte des constitutionellen Regi-ments das Sicherheitsventil, auf der Tribüne strömt dieüberflüssige Dampfkraft aus, die Spannung wird aufdas richtige Maß zurückgeführt und die Gefahr für dieganze Maschine beseitigt.«

Napoleon lachte und nickte mehrmals mit dem Kopf.»Ich verstehe – ich verstehe,« sagte er, »und ich glaube,Sie haben Recht!«

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»Für den Fall nun,« fuhr Graf Bismarck fort, »daßeinmal – in später Zeit – eine jüngere, weniger erfah-rene und weniger kräftige Hand, als diejenige Ew. Ma-jestät, diese Maschine zu lenken berufen wäre, wirdes gewiß immer besser sein, daß die einzelnen Par-teien sich in der constitutionellen Arena untereinan-der bekämpfen, als daß sie sich alle vereinigen, um dieRegierung zu schwächen, zu untergraben und endlichzu beseitigen. Ew. Majestät erinnern sich des Steines,den Jason unter die aus der Saat der Drachenzähneerwachsenen geharnischten Männer warf –«

Der Kaiser nickte wieder zustimmend, aber er lachtenicht mehr; in tief sinnendem Nachdenken ruhte seingroß und frei heraustretendes Auge auf dem Gesichtdes preußischen Ministerpräsidenten.

»Nun, Sire,« sagte Graf Bismarck, »diesen Stein un-ter die geharnischt gegen die Regierung aufsteigendenParteien zu werfen, dazu giebt das constitutionelle Re-giment Frankreichs einer geschickten Regierung dasMittel – und dies Mittel kann oft gefährliche Bewegun-gen theilen und ablenken.«

»Sie haben Recht, Sie haben vollkommen recht,«sagte der Kaiser mit einem tiefen Athemzug, »IhreGründe sind practisch – und schlagend.«

Wieder ruhte das Auge des Grafen Bismarck mit je-nem eigenthümlichen Ausdruck theilnehmenden Mit-leids auf der vorgebeugten, müde zusammengesunke-nen Gestalt des Imperators.

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»Dennoch aber, Sire,« sprach er dann, wie fortge-rissen von der Bewegung eines Gefühls, das ihn be-herrschte, »glaube ich nicht, daß der Constitutionalis-mus in Frankreich mit der dauernden Festigkeit der Re-gierung vereinbar ist, ohne ein nothwendiges Correk-tiv, dessen Bedeutung die Geschichte aller Staatsum-wälzungen lehrt.«

Der Kaiser blickte erwartungsvoll auf.»Dies Correktiv, Sire,« sprach Graf Bismarck weiter,

»ist eine sehr starke, von politischen Einflüssen mög-lichst losgelöste und der Person des Regenten anhäng-liche Militairmacht.«

»Ah!« machte der Kaiser.»Mit der Auflösung seiner maison militaire,« fuhr

Graf Bismarck fort, »gab Ludwig XVI. das Mittel ausder Hand, die Bewegung zu beherrschen; als er sichmit Truppen umgab, welche von den zersetzenden Ide-en der Zeitbewegung durchdrungen waren, wurde erzum willenlosen Spielball der fluthenden Strömungen– und ging unter. Ew. Majestät müssen mir zugeben,daß, wenn Karl X. rechtzeitig und kräftig die Militair-macht gebraucht hätte, welche ihm noch zu Gebotestand, er vielleicht seine Krone nicht verloren hätte,– was Louis Philipp betrifft,« sagte er achselzuckend,»so hatte er weder diese Macht, noch hätte er sie zugebrauchen den Willen und das Geschick gehabt.«

»Wahr, wahr!« rief der Kaiser.

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»Wenn also Ew. Majestät,« sagte Graf Bismarck, »dieconstitutionelle Regierung aus den früher bezeichne-ten Gründen in Frankreich einzuführen für zweckmä-ßig halten und beschließen sollten, so müßten Sie nachmeiner Ansicht zugleich jenes Correktiv in kräftigsterWeise der Autorität sichern. Die französische Armeeim Allgemeinen ist nach meiner Meinung – Ew. Ma-jestät haben mir ja die Ehre erzeigt, mich nach mei-ner offenen und rückhaltslosen Meinung zu fragen –die französische Armee ist gewiß im Großen und Gan-zen gut napoleonisch gesinnt, aber ich glaube, sie folgtzu sehr den politischen Strömungen im Lande, als daßsie in bewegten Zeiten eine wirklich feste und sichereStütze für die Regierung bieten könnte. Ew. Majestäthaben aber Ihre Garde, – diese immer mehr an die Per-son des Herrschers zu knüpfen, sie in starker – in sehrstarker Zahl in und um Paris zu concentriren, das wirddie Aufgabe sein, welche mit der Einführung des Con-stitutionalismus mehr und mehr erfüllt werden muß,damit, wenn jemals die constitutionelle Bewegung ei-ne bedenkliche Ausdehnung gewinnt, wenn jemals inden politischen Kämpfen einer oder der anderen Par-tei es gelingen sollte, mit Erfolg die Massen aufzuregenund in das Spiel der Gegensätze hineinzuziehen, damitdann Ew. Majestät jederzeit das Mittel in Händen ha-ben, den unbändigen Gewalten mit überlegener Machtzuzurufen: ›Bis hieher und nicht weiter!‹«

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Der Kaiser saß noch einige Augenblicke schweigend,nachdem Graf Bismarck geendet hatte.

Dann stand er auf und reichte dem ebenfalls sich er-hebenden Minister die Hand.

»Ich danke Ihnen, lieber Graf,« sagte er mit der ihmso sehr zu Gebote stehenden liebenswürdigen Höflich-keit, »für die Klarheit, Sachkenntniß und Aufrichtig-keit, mit welcher Sie mir Ihre Ansichten entwickelt ha-ben, Ansichten,« fügte er hinzu, »die auf mich einengroßen Eindruck gemacht haben.«

Graf Bismarck verbeugte sich.»Ich freue mich zugleich,« sagte der Kaiser ernster

und ein Wenig zögernd, »daß ich Gelegenheit gehabthabe, Ihnen meine Meinung über die politische Lageund die Verhältnisse Deutschlands auszusprechen, ichwerde demnächst meine im Allgemeinen Ihnen ange-deuteten Gedanken specieller formuliren und Benedet-ti wird weiter mit Ihnen darüber sprechen.«

»Ich werde alle Eröffnungen mit der größten Auf-merksamkeit prüfen und stets von dem eifrigen Wunschegeleitet sein, die Beziehungen zwischen Deutschlandund Frankreich immer besser und freundlicher zu ge-stalten,« erwiederte Graf Bismarck in ruhig höflichemTone.

Der Kaiser blickte auf seine Uhr.

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»Die Stunde der Revue rückt heran,« sagte Napole-on, »ich werde noch zu Seiner Majestät hinüberkom-men, um ihn zu bitten, mit der Kaiserin hinauszufah-ren, während ich den Kaiser Alexander aus dem Elyséeabhole. – Auf Wiedersehen, mein General,« fuhr er mitfreundlichem Lächeln fort, und dem Grafen nochmalsdie Hand drückend geleitete er ihn einige Schritte zurThür.

»Er hat Recht,« sagte er, als der preußische Minister-präsident sich entfernt hatte, »er hat Recht und vonNeuem bewundere ich die Schärfe seiner Auffassung.– Aber,« fuhr er in dumpfem Tone fort, »er bleibt ver-schlossen und unzugänglich für alle meine Versuche, esist mir unmöglich, auch nur einen Blick auf den Grundseiner Gedanken zu thun! Sollte er wirklich auf halbemWege – an der Grenze dieses Prager Friedens stehenbleiben wollen, nur um mir den Preis für die Vollen-dung seines Werkes nicht zu geben? – Unmöglich!«rief er, »Unmöglich! – Oder sollte er glauben, auchdie zweite Hälfte seiner Aufgabe erfüllen, Deutschlandganz einigen zu können, ohne Frankreich zufrieden zustellen? – Nun,« er richtete sich mit einer augenblick-lichen Energie empor, »nun – dann wird er sich eineranderen Situation als derjenigen von 1866 gegenüberbefinden!«

Der Kaiser machte einige Schritte durch das Zimmer.»Und doch – und doch,« sagte er dann mit leisem To-

ne, »bei ihm ist die Kraft, der Willen, der Entschluß –

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und lieber stände ich mit ihm allein verbunden in Eu-ropa da, als daß ich gezwungen wäre, ihn anzugreifen,auch wenn die Coalition mit jenen schwachen und un-zuverlässigen Mächten gelingen sollte. – Es ist da einekleine Intrigue im Werk,« sagte er nach einigem Nach-denken, »man will diesen Minister verdrängen – dieKaiserin arbeitet mit emsigem Eifer daran, eine Persön-lichkeit an seine Stelle zu setzen, die ihr ganz ergebenist.«

Er lächelte mit eigenthümlichem Ausdruck.»Man hat mir die Fäden dieser ganzen kleinen in-

trigue des boudoirs vorgelegt, – Thorheit, Thorheit!Durch solche kleinen Spinnenfäden hüben und drü-ben zieht man einen Mann, wie diesen Grafen Bis-marck, nicht von dem Postament seiner Stellung her-unter, das von Eisen gefügt und mit Blut gekittet ist.– Außerdem, was wäre damit gewonnen, wenn eineschwache Hand an seiner Stelle das Ruder ergriffe?Die Bewegung würde in schrankenloser Hast fortrol-len, das revolutionäre Element würde in dieselbe do-minirend eintreten und unberechenbare Catastrophenwürden vielleicht den Bestand der Ordnungen Europaserschüttern. Nein, nein,« rief er, »dieser Mann hat we-nigstens die starke Hand, den festen und klaren Wil-len, welcher nöthig ist, um die Geschicke eines Staa-tes zu lenken, und mit ihm wird doch schließlich eineVerständigung möglich sein. – Wird jene Intrigue auchan sich schon erfolglos bleiben,« fuhr er dann sinnend

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fort, »so ist es doch gut, wenn ich vielleicht ein Wenignoch dazu beitrage, das kann das Verhältniß nur ver-bessern, meine guten Gesinnungen zeigen – und viel-leicht meinem Spiel eine Karte mehr geben.«

Er blickte abermals auf seine Uhr.»Es ist Zeit,« sagte er mit tiefem Seufzer.Ein schmerzlicher Zug erschien auf seinem Gesicht.»Welche Pein,« flüsterte er, »diese Revue, diese Stun-

den zu Pferde, um welchen Preis von Sorgen undSchmerzen wird der beneidete Glanz auf den Höhender irdischen Herrlichkeit erkauft!«

Er bewegte die Glocke. Felix erschien an der Thürder inneren Gemächer.

»Ich muß mich ankleiden. Die große Uniform!« sagteder Kaiser und begab sich in sein Toilettenzimmer.

Graf Bismarck war, vom General Favé begleitet, dieTreppe hinabgegangen und in seinen Wagen gestiegen,der ihn in schnellem Trabe davonfuhr.

»Der arme Mann thut mir in der That leid,« sagte derGraf, sich gedankenvoll in die Kissen zurücklehnend,»er hat soviel Sympathisches und ist im Grunde docheine groß und gut angelegte Natur. Die gesellschaft-liche Ordnung in Europa verdankt ihm viel, wenn erauch freilich wieder manche gefährliche Elemente her-aufbeschworen hat, die nicht leicht wieder zu bannensein werden. Wie schade, daß er sich nicht zu klarerAuffassung der Verhältnisse, zu großen, folgerechtenGedanken erheben kann! – Da wird nun wieder eine

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kleine Bettelei um diese oder jene Compensation ange-hen, er möchte Belgien haben, um das Blut der Orleansvon den Grenzen Frankreichs zu entfernen; nun, ichwerde das Alles anhören – und schweigen. Er möch-te die Einigung Deutschlands anticipiren, um sie vonseinem Willen abhängig zu machen und den Preis da-für bestimmen zu können, darin aber täuscht er sich,denn lieber will ich mein begonnenes Werk unvollen-det der Zukunft überlassen, als daß Deutschlands Ei-nigkeit erkauft werden sollte für einen an Frankreichbezahlten Preis! – Wie unsicher muß er sein, wenn ermich um Rath fragt, wie er Frankreich regieren soll!Den Constitutionalismus will er einführen,« sagte derGraf lächelnd, »und doch ist das starke automatischeRegiment die einzige Möglichkeit, diese ewig gähren-de französische Nation zu beherrschen und sie mäch-tig, stark und actionsfähig zu machen. – Fast wollte esmir unrecht scheinen, ihm zu seinem constitutionellenExperiment zu rathen, aber konnte ich ihm einen Rathgeben, dessen Befolgung Frankreich stark und offensivmächtig macht, da ich doch klar vor mir sehe, daß dasEnde von dem allen früher oder später ein Kampf, einschwerer nationaler Kampf sein muß?«

Er blickte nachdenklich auf die menschenbelebtenQuais, über welche er nach dem Faubourg Saint-Germain hinfuhr.

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»Doch,« sprach er weiter, »ich habe mein Gewissenberuhigt, indem ich ihm zugleich das Correktiv ge-zeigt habe, durch welches er allen Gefahren begegnenkann, die ihm und seiner Dynastie aus der constitutio-nellen Regierung erwachsen können. – Befolgt er mei-nen Rath,« fuhr er lächelnd fort, »so werden die KräfteFrankreichs sich im constitutionellen Spiel und Gegen-spiel binden, von Zeit zu Zeit, wenn ihm die höher flu-thende Bewegung an den Hals steigt, wird er durcheinen kleinen oder größeren coup d’état sich wiederetwas Luft schaffen, er wird sich, wenn er dann rich-tig handelt, auf dem Thron erhalten, diese unruhigenFranzosen werden nicht in der Lage sein, ein Actionnach außen zu beginnen, und werden wohl die Dingein Deutschland ohne Einmischung gehen lassen müs-sen!«

Der Wagen fuhr in den Hof der preußischen Bot-schaft, Graf Bismarck stieg einen Augenblick in seineWohnung hinauf, um dann sogleich sich zu der großenRevue zu begeben.

Eine Stunde später sah die in dem Hofe der Tuile-rien versammelte Menge die kaiserlichen Equipagenvor dem Pavillon de l’Horloge vorfahren. NapoleonIII. in der großen Generalsuniform, mit dem karmoi-sinrothen Bande der Ehrenlegion, stieg ein und fuhr,gefolgt von den Officieren des persönlichen Dienstes,

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durch den Ausgang nach den Quais zu, um den Kai-ser Alexander aus dem Palais de l’Elysée abzuholen.Die Piqueurs ritten voran, der Stallmeister Raimbeauin großer Uniform galoppirte am Schlage. Die Hun-dertgarden in ihren wunderbar prächtigen, an die al-te Rittertracht erinnernden Uniformen in Blau, Schar-lach und Gold sprengten auf ihren herrlichen schwar-zen Pferden vor und hinter dem Wagen des Kaisers,dessen müdes, bleiches Gesicht einen eigenthümlichenContrast bildete zu der großartigen Pracht dieses Auf-zuges.

Kaum hatte das kaiserliche Cortège den Hof der Tui-lerien verlassen, als der leichte, elegant gebaute Wagender Kaiserin unter das Wetterdach fuhr. Ihre Majestäterschien sogleich in duftig einfacher Toilette. Der Ba-ron de Pierre begleitete sie mit der Gräfin de Lourmelund der Marquise von Latour-Maubourg, den Damenvom Dienst. Strahlender Sonnenschein lag auf der rei-nen Marmorstirn und den schönen Zügen der Kaiserin,stolz und anmuthig trug sie den Kopf auf ihrem so aus-drucksvoll beweglichen Halse, sie warf einen leuchten-den Blick auf diese hinter dem Gitter sich drängendeMenge, welche in bewundernde Zurufe beim Anblickder schönen Beherrscherin Frankreichs ausbrach, aufderselben Stelle, auf welcher einst die Massen der Re-volution das Blut der eben so anmuthigen und schönen

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Königin Marie Antoinette gefordert und die Köpfe ih-rer ritterlichen Verteidiger auf den Spitzen ihrer Pikenumhergeschwenkt hatten.

Rasch stieg die Kaiserin allein in den Wagen, die vierprachtvollen Pferde zogen an und hielten eine Secundedarauf vor dem Eingang des Pavillon Marsan.

In demselben Augenblick erschien der König vonPreußen in der großen Uniform, mit den wehendenGeneralsfedern auf dem Helm, in der Thüre, ihm folgteder Graf von Bismarck, mächtig und fest einhertretendin der weißen Uniform mit dem blitzenden Stahlhelm,und die ernste, hohe und schmächtige Gestalt des Ge-nerals von Moltke.

Bei dem Erscheinen des Königs erhob sich die Kai-serin und blieb im Wagen stehen, den Monarchen er-wartend, der schnell herantrat, Ihrer Majestät artig mitritterlicher Höflichkeit die Hand küßte und dann nebenihr Platz nahm.

Graf Bismarck und General von Moltke stiegen mitden Damen der Kaiserin in den zweiten Wagen, derBaron de Pierre schwang sich auf sein Pferd, um sei-nen Platz am Wagenschlage der Kaiserin einzunehmen,die hellblau und weißen Lanciers de l’Impératrice for-mirten sich vor und hinter dem Wagen und man sahdiesen ganzen Zug, der so duftig, so hell und so heitererschien im Vergleich mit dem Cortège des Kaisers, aus

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diesem Hofe hinausfahren, der schon so viel Herrlich-keit und Glanz und so viel Blut und Schrecken gesehenhatte.

Fröhlich lachend unterhielt sich der König mitder Kaiserin. »Quelle bonne mine,« hörte man, »Vivel’Impératrice!« – »Vive le Roi de Prusse!« ertönte es hierund da an den Gittern. Glücklich in froher Bewegungdrängte die Menge den Wagen nach, welche über dieQuais nach den Champs-Elysées in den hellen, lichtenSonnenschein hinausfuhren.

Mußte man nicht fröhlich sein, wenn man diesenkaiserlichen Glanz sah, diese herzliche Einigkeit mitdem gewaltigen, siegreichen Beherrscher Preußens,welche den Frieden, die Ruhe, den Wohlstand Frank-reichs und Europas verbürgen mußte?

Wer bemerkte sie in dieser frohen Erregung, diesefinsteren Gesichter, welche hie und da mit blutig düste-ren Blicken auf das stolze Schloß und das schimmern-de Cortège der Souveraine gerichtet waren, wer moch-te sich in diesem Augenblicke daran erinnern, daß aufdiesem selben Boden der Glanz des ersten Napoleongestrahlt hatte und daß später von hier der arme, klei-ne König von Rom in nächtlicher Flucht seiner dunklenZukunft entgegengeführt war, daß diese Erde das Blutder Bartholomäusnacht getrunken und daß die aus die-sem Blut aufsteigenden Rachegeister an dieser Stel-le schon viermal die Trümmer zusammenbrechenderThrone aufgehäuft hatten?

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VIERUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Trübe waren die Tage dahingezogen in der Wohnungder Madame Raimond in der Rue des Mouffetards, seitdie junge Frau daraus verschwunden war, welche denkleinen Kreis mit lichtem und anmuthigem Leben er-füllt hatte. Man fand sich wohl in den nächsten Ta-gen nach ihrer Entfernung abends noch in dem kleinenStübchen der Hauswirthin zusammen, aber es war kaltdort und öde wie auf einer Herbstflur, nachdem diekleinen Blüthen des Sommers vom ersten Frost getöd-tet worden, man sprach kaum, und wenn man sprach,so sprach man von der, welche jetzt nicht da war undderen Rückkehr man von Tag zu Tag vergeblich er-hoffte. Bald war dann die Unterhaltung wieder zu En-de, Madame Raimond nickte früher als gewöhnlich einund George Lefranc blieb dann in tiefem Sinnen ne-ben ihr sitzen, es schien, als könne er sich von derStelle nicht trennen, auf der er früher seine Freundinzu sehen gewohnt gewesen, als klammere er sich mitseinen Erinnerungen und seinen Hoffnungen an die-ses kleine Zimmer, welches ihm noch immer von demduftigen Hauch ihrer Anwesenheit erfüllt schien undin welches er stets hoffte sie wieder eintreten zu se-hen. Nur der alte Herr Martineau saß gleichmäßig undruhig lächelnd in freundlicher Schweigsamkeit wie im-mer auf seinem Platze, und wenn er pünktlich zur glei-chen Stunde aufstand, um sich in sein Zimmer zurück-zuziehen, so sprach er in wohlgesetzten Worten den

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Wunsch aus, daß die liebenswürdige Madame Bernardbald wieder zurückkehren möge, worauf Madame Rai-mond mit einem müden Kopfnicken und George miteinem tiefen schmerzlichen Seufzer antwortete. Nacheinigen Tagen aber erhielt Herr Martineau einen Briefvon einem Advocaten aus Meaux, der ihn aufforder-te, dorthin zu kommen, um über die Schritte zur Ret-tung einer bereits als verloren betrachteten Forderungzu berathen. Der alte Herr war unzufrieden über die-se Reise, namentlich da ihm die Wahrscheinlichkeit ei-nes längeren Aufenthalts angedeutet wurde, indes, ermußte sich entschließen abzureisen, bezahlte das Zim-mer für den Monat und erklärte, daß, wenn er wieder-käme, er jedenfalls wieder in das Haus der MadameRaimond ziehe. Dann war er von George Lefranc zumBahnhof geleitet worden, und die alte Frau und derjunge Arbeiter waren wieder wie vordem ganz alleinin dem dritten Stock des alten Hauses.

Der arme George litt furchtbar, und um so tiefer, alser seinen ganzen Kummer und seine ganze Sorge festin sich verschloß und sich selber kaum einen klarenBlick in den unermeßlichen Abgrund von Schmerz er-laubte, der sich täglich tiefer und tiefer in seinem In-nern öffnete.

Er wollte den Glauben behalten an diese Frau, derer sein Herz hingegeben, er wollte nicht zweifeln, unddoch stieg diese Fluth von banger Unruhe immer näher

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heran an seine Hoffnung und seinen Muth, die zwei-felnden Gedanken ringelten sich immer fester und be-engender um das warme Herz voll Glauben und Ver-trauen. An jedem Morgen erhob er sich aus unruhigenTräumen voll neuer Zuversicht, er wartete, er wartetevon einer Stunde zur anderen auf ihre Rückkehr, auf ei-ne Nachricht, auf irgend ein Zeichen, das sie ihm gebenwürde; sie mußte ja fühlen, wie sehr er litt in der Peinder Ungewißheit, aber es verging eine Stunde nach deranderen und nichts umgab ihn als das gleichmäßigeTreiben der Welt, deren buntbewegtes Leben doch fürihn nur das weite, schweigende Grab war, in welchemer sich allein und einsam befand mit seiner Sehnsuchtund seinen ringenden Gedanken. Und wenn dann derAbend hinabsank, wenn sie vor ihm lagen, alle diesestündlich gebrochenen, immer neu emporkeimendenHoffnungsblüthen seines Herzens, dann sank er mattbis in den Tod zusammen, schwarze, finstere Geisterumschwebten ihn und gossen eiskalten Schmerz in dieFieberschauer seiner Nerven, und in den Tiefen seinerSeele lebte nur noch der Wunsch, daß mit dem unru-higen Schlummer, in den die Ermattung ihn versinkenließ, sein Denken und Fühlen der ewigen Vernichtungverfallen möge, welche doch wenigstens das Ende allerLeiden sein müßte. Es ist eine entsetzliche Sache, dasWarten, das Hoffen, das stündlich erneute aufreibendeKämpfen mit den Zweifeln, mit den Schattengestaltender verhüllten Zukunft. Wenn der schwerste Schlag des

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Unglücks zerschmetternd auf uns niederfährt, klar undbestimmt, scharf einschneidend in das warme Glückdes Lebens, so erhebt sich die muthige Seele eben ander Größe des Unglücks wieder, der Stolz gießt seineKraft heilend in die Wunden und der Schmerz verklärtsich durch die Erinnerung, wie die schwarze Wolke, diedes sinkenden Sonnenlichts verglühender Strahl mitrosigem Schimmer malt. Aber das Warten, das Ringenmit den Zweifeln, welche immer von Neuem sich erhe-ben, unfaßbar wie Nebelgebilde und doch riesenhaftund schwer wie die Berge, dies Warten, das zerstörtdas Mark, den Willen und den Stolz, und in diesesgraue, ewig schwankende Dämmern dringt kein ver-klärender Lichtstrahl, das ist das Leiden, mit welchemdie Eifersucht der Olympier den Prometheus strafte,dem, ohnmächtig zwischen Himmel und Erde gefes-selt, der unerbittliche Adler die täglich heilende Wun-de immer wieder von Neuem aufriß.

Am Morgen der großen Revue in Longchamps warder arme George Lefranc, der jetzt oft seine Arbeit ver-säumte und nur mit gewaltsamer Anstrengung so vielarbeitete, um seine nothwendigen Bedürfnisse zu be-streiten, er war hinausgegangen in das dichte Men-schengewühl, das sich aus den inneren Stadttheilennach den Champs-Elysées und dem Bois de Boulognebewegte, um das glänzende militairische Schauspiel zusehen, das der Kaiser seinen fürstlichen Gästen vorfüh-ren wollte.

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In tiefe Gedanken versunken, schritt der junge Arbei-ter in dem dichten Strom der laut sprechenden und la-chenden Menschen dahin, seine Wangen waren bleichund eingefallen, seine Züge nervös gespannt, glanz-los und düster blickten seine Augen zu Boden, nurvon Zeit zu Zeit tauchte sich sein Blick mit fieberhaft-brennendem, ängstlich forschendem Ausdruck in dieseMenge von fremden Gesichtern, die ihn umgab, wieunwillkürlich suchend, ob er nicht jene bekannten Zü-ge erblicken würde – jenes Lächeln, jenen berauschen-den Blick, dies ganze Bild, das immer und immer vorseinem inneren Auge dastand, stets in neuer Reinheitsich aus den Wolken der Zweifel emporhebend.

So war er hinausgekommen bis zu jener Öffnung desBois de Boulogne nach der großen Ebene von Long-champs hin, wo über künstliche Felsen die rauschen-den Cascaden hinabfallen, die Luft mit dem sprühen-den Wasserstaub erfrischend. Hier hatte jede Bewe-gung in der gedrängten Masse aufgehört, wie eine le-bendige Mauer umgaben diese unzählbaren Tausendevon Menschen die weite freie Ebene, auf der man diefarbenschimmernden Uniformen und die blitzendenWaffen der Truppenaufstellung im Sonnenlicht funkelnsah. Die Äste der Bäume waren dicht besetzt mit wag-halsigen Zuschauern, die von diesen erhöhten, luftigenSitzen das Schauspiel besser zu erblicken hofften, oftaber durch einen brechenden Ast gezwungen wurden,

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ihren mühsam erklimmten Platz aufzugeben und denschadenfrohen Hohn der Untenstehenden zu ertragen.

George Lefranc war bis in die Nähe der Casca-den durchgedrungen und lehnte sich an einen großenBaum, der fast hart an dem Wege stand, der vom Thorevon Boulogne herführte und durch Spaliere von Trup-pen freigehalten wurde. Aller Augen richteten sich aufdiesen Weg, denn von dorther sollte das ganze kaiserli-che Cortège herkommen. Bis zum Boulogner Thor warder Kaiser mit dem Kaiser Alexander und die Kaiserinmit dem König Wilhelm gefahren, dort sollten die Sou-veraine zu Pferde steigen, um sogleich die Musterungder Truppen zu beginnen.

Bereits war die Kronprinzessin von Preußen, welcheschon einige Zeit mit ihrem Gemahl in halbem Incogni-to in Paris anwesend gewesen, herangefahren in Be-gleitung ihrer Schwester, der Prinzessin Alice von Hes-sen. Beide Fürstinnen in einfach weißer Toilette hat-ten auf der kaiserlichen Tribüne Platz genommen undbildeten den Zielpunkt aller der neugierigen bewaffne-ten und unbewaffneten Augen, welche sich auf diesenMittelpunkt richteten, der heute die drei größten Mon-archen Europas vereinigen und den Brennpunkt Allespolitischen Interesses bilden sollte.

In großer Gala, die Livréen und Geschirre von Goldund Silber starrend, waren die Großwürdenträger, dieDiplomaten und alle zu den Tribünen Eingeladenenherangefahren und hatten ihre Plätze eingenommen,

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die ganze Straße war frei und die Ausrufe der Span-nung und Erwartung wogten in dem allgemeinen Brau-sen auf und nieder, das aus diesem unübersehbarenMeer von menschlichen Köpfen emporstieg.

Da ertönte es plötzlich von allen Seiten wie der ge-waltige Athemzug eines lauschenden Riesen, und einezitternd schwankende Bewegung pflanzte sich durchdie Menge fort. An der Biegung des Weges von Bou-logne sah man die Fähnlein an den Lanzenspitzen derLanciérs de l’Impératrice und im raschen Trabe spreng-ten die so zierlichen und so eleganten blauweißen Lan-zenreiter heran. Ihnen folgte die offene Kalesche Ih-rer Majestät und lächelnd wie der sonnige Tag fuhrdie schöne Beherrscherin Frankreichs durch die dich-ten Menschenreihen an der großen Ebene vorbei umdie Tribünen herum, um am Eingange des kaiserlichenPavillons auszusteigen. Es war nicht nur der officiellhier und dort ertönende Ruf, welcher die Kaiserin emp-fing, diese ganze Menge, welche begeistert war durchden Glanz von Paris, durch die laue Luft und den schö-nen Sommertag, begrüßte mit freudigem, lebhaftemRuf den prachtvollen und anmuthigen Aufzug diesergraciös und lächelnd nach allen Seiten sich verneigen-den Frau.

Kaum waren die Equipagen der Kaiserin und derihr folgenden Damen hinter den Tribünen verschwun-den, als man die blitzenden Helme der Hundertgarden

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an der Ecke des Weges aus dem Blättergrün hervor-kommen sah. Langsam bewegten sich in geschlosse-ner Reihe diese prachtvollen Riesengestalten auf ihrenfleckenlosen schwarzen Pferden vorwärts, – die Son-ne spiegelte sich in ihren Panzern und glühte auf demScharlach und Gold ihrer Uniformen.

Etwa zwanzig Schritte hinter der ersten Abtheilungdieser prächtigen Kaisergarde ritten die Souveraineheran. In der Mitte die schlanke, hohe Gestalt Alex-ander II. in der stolzen Haltung, an den gewaltigen Ni-kolaus erinnernd – aber auf seinem schönen Gesichtruhte ein weich melancholischer Ernst, der den stren-gen und ehernen Zügen jenes mächtig und unbeugsamherrschenden Autokraten fremd war. Ruhig und sin-nend blickte das tiefe Auge des russischen Kaisers überdiese wogende Menge, deren Rufe »Vive l’Empereur!«heute ebenso sehr dem nordischen Gaste als dem Kai-ser Napoleon galt.

Zur Rechten des Kaisers Alexander ritt der KönigWilhelm von Preußen in seiner soldatisch ritterlichenHaltung auf dem feurigen Pferde. – Sein Gesicht mitdem vollen, weißen Bart erschien heiter und sein kla-res Auge blickte schon von weit herüber nach denTruppenlinien auf der Ebene, welche ihm ein Bild vonder militairischen Macht Frankreichs geben sollten.

Auf der andern Seite sah man den Kaiser Napoleon.Sein schönes, schlankes, hoch elegantes Pferd schrittmit ruhiger, leichter Sicherheit einher, und obwohl der

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Kaiser ein Wenig gebückt im Sattel saß und nicht mehrseine einst berühmte Eleganz als Reiter zeigte, so wardoch seine Haltung zu Pferde immer noch jugendli-cher und kräftiger, als sie im Gehen oder Stehen er-schien. Seine Züge waren müde und abgespannt, trübeund glanzlos blickten seine Augen über den Kopf sei-nes Pferdes hin und nur zuweilen ließ er wie träumendseinen Blick über diese Menschenmenge hingleiten.

Hinter den Souverainen sah man die kräftige, schö-ne Gestalt des Kronprinzen von Preußen, welcher mitheiterem und lächelndem Ausdruck sich mit dem ju-gendlichen Cesarewitsch unterhielt, die übrigen fürst-lichen Personen folgten in der Nähe des Königs unddes Kronprinzen, besonders erregte der Graf von Bis-marck in seiner weißen Uniform die Aufmerksamkeitaller Derer, die ihn erkannten, oder denen er gezeigtwurde, Niemand aber achtete auf jenen ernsten, still-blickenden Mann in der preußischen Generalsuniform,der neben dem Ministerpräsidenten ritt und den ruhi-gen Blick hingleiten ließ über die in der Ebene blitzen-den und funkelnden Waffen, nach dem Mont Valerienhinauf, der finster und schweigend seinen Festungsbauin den blauen Himmel hineinstreckte.

Wohl hatte man in Frankreich bei der Geschichtedes Feldzugs von 1866 und bei der Erwähnung der sopeinlich empfundenen Schlacht von Sadowa auch denNamen des Generals von Moltke nennen gehört, aberman hatte zum großen Theil in dem Publikum, das

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so wenig sich um die Details der Ereignisse kümmert,die sich außerhalb der Grenzen Frankreichs vollzie-hen, diesen Namen wieder vergessen, und fast unbe-achtet blieb der bescheidene Mann in dem Gefolge desKönigs. Wie hätten alle diese Tausende erbeben mö-gen, und mit welcher Spannung hätten sich alle dieseBlicke auf den schweigenden Heereslenker gerichtet,wenn eine Geisterhand den Schleier der Zukunft hättelüften können und das Bild dieses Mannes erscheinenlassen, wie er mit unwiderstehlichem Siegesschritt diedeutschen Heere bis vor Paris führen und die Hand vonjenem drohenden Mont Valerien herab zwingend überdie gährende Hauptstadt strecken würde.

Doch die Zukunft war verhüllt und alle Blicke richte-ten sich, nachdem die Monarchen vorüber waren, nunauf diese zahllose strahlende Suite, welche sich wie einPfauenschweif glänzend ausbreitete und noch lange anden Reihen der Neugierigen dahin zog.

Bei der Annäherung der Monarchen ging eine ras-selnde und klirrende Bewegung durch die sechzigtau-send Mann, welche dort auf der weiten Ebene unterden Waffen standen. Der greise Marschall Regnault deSaint Jean d’Angely, der die Garden commandirte, undder Marschall Canrobert, der die in Parade stehendenLinientruppen befehligte, ritten mit ihrem zahlreichenund glänzenden Stabe den Souverainen entgegen.

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Als dieselben, und zwar der Kaiser Napoleon links,den Truppen zunächst reitend, an dem Ende der Auf-stellung erschienen, da machte diese ganz unabsehba-re Linie die Honneurs, die Trommeln wirbelten, dieTrompeten schmetterten in einer im Augenblick Allesübertäubenden Fanfare, und zum ersten Mal in diesemMoment färbte sich das blasse Gesicht Napoleons miteiner leicht hinfliegenden Röthe und ein stolzer Strahlleuchtete aus dem entschleierten Blick, den er über dieglänzenden Kriegerreihen schweifen ließ, diese Eliteseiner Armee, die Träger der Ruhmestraditionen ausder großen Zeit seines großen Oheims.

Dann begannen die Musikcorps der ersten Regimen-ter die ernsten, feierlich ergreifenden Töne der russi-schen Nationalhymne zu intoniren. Mit verbindlicherNeigung des Hauptes dankte der Kaiser Alexanderfür diese Aufmerksamkeit und langsam ritten die dreiMonarchen mit ihrem Gefolge die Front hinunter.

Während dieses Umzuges, den die Menge der Neu-gierigen nur aus der Ferne sehen konnte, begann einSummen und Brausen, der Stimme des bewegten Mee-res gleich, aufzusteigen, alle Welt plauderte, man theil-te einander seine Bemerkungen mit, man lachte, manscherzte, und alle Welt war froh, glücklich und stolz,daß das kaiserliche Frankreich solchen Glanz ent-wickeln könne, und daß die fremden Herrscher da wa-ren, diesen Glanz zu bewundern und den Eindruck des-selben in ihre fernen Reiche zurück zu tragen.

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Auch der fenische General Cluseret und der jun-ge Raoul Rigault waren da, sie standen in der Nähedes Baumes, an welchen George Lefranc sich gelehnthatte. Mit Blicken voll düsteren Feuers und fest zu-sammengepreßten Lippen hatte Cluseret den Vorbei-ritt der Monarchen angesehen, während Raoul Rigaultlächelnd mit dem Ausdruck einer gewissen blasirtenÜberlegenheit auf diese Entfaltung fürstlicher Prachthinblickte, das viereckige Glas in das Auge geklemmtund mit dem Stöckchen an seinen Stiefel klopfend.

»Da ziehen sie hin,« sagte Cluseret mit gepreßter,dumpfer Stimme, »diese Tyrannen dreier großer Völ-ker, und um sie her vereinigen sich die verblendetenVerteidiger ihrer unnatürlichen Macht, bewaffnet undgerüstet, um für das Joch der eigenen Sclaverei ihr Blutzu vergießen, und alle diese blöde, thörichte Menge ju-belt ihnen zu – glauben Sie noch, mein Freund,« fragteer mit bitterem Lachen, »daß dies ganze so künstlichund fest gefügte Gebäude von Macht und Herrschaftohne eine gewaltsame, wohl geleitete, militairisch or-ganisirte Revolution zertrümmert werden könne?«

»Bah,« sagte Raoul Rigault wegwerfend, »Sie habensich in Amerika entwöhnt, mein General, diesen Flitterzu sehen; wenn man daran gewöhnt ist, blendet dasnicht mehr; würden Sie plötzlich und unerwartet die-se Monarchie angreifen, so würden gewohnheitsmäßigalle diese Soldaten wie die Löwen für ihren kaiserli-chen Fetisch fechten und diese ganze thörichte Menge

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würde sich noch mit in die Armee einreihen lassen, umnur diesen schönen Thron zu erhalten, der so hübsch inder Sonne glitzert und von dem so niedliche Bändchenund Kreuzchen herabfallen, der Angriff würde nur da-zu beitragen, das Gebäude zu befestigen. – Das Allesaber fällt und bröckelt auseinander, wenn man sich nurdie Zeit nimmt, es ruhig von unten auf zu unterwüh-len. Immer chemisch muß man verfahren,« sagte er mitcynischem Lächeln, »Schwefelsäure und Scheidewas-ser in die Fugen des Baues gießen, und wenn er dannmorsch und zerfressen genug ist, eine starke Erschüt-terung und das Alles wird in Staub zerfallen.«

Er sah umher und ließ seinen Blick einen Momentauf einem jungen, bleichen Menschen mit blondemHaar von gedrungener Gestalt ruhen, der aus der Men-ge hervorgetreten war und mit seinen fieberhaft glü-henden Augen nach der Ebene herabsah, während einkaltes, unheimliches Lächeln um seinen dünnen, fest-geschlossenen Lippen spielte.

Raoul Rigault wendete sich zu Cluseret.»Lassen Sie uns ein Wenig dort hinübergehen,« sag-

te er, »wir werden dort besser sehen, und hier möchtespäter ein großes Gedränge entstehen.«

Und indem er seinen Arm in den des Fenierführerslegte, führte er ihn weiter hinab nach der Ebene zu.

Die Monarchen hatten ihren Umritt beendet und nä-herten sich wieder der kaiserlichen Tribüne – KaiserAlexander sprengte in kurzem Galopp voran bis unter

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die Brüstung der Tribüne und grüßte in militairischerWeise, König Wilhelm folgte ihm sogleich, während derKaiser Napoleon, eine Pferdelänge zurückbleibend, et-was zur Seite hielt.

Die Kaiserin erhob sich – ihre Augen strahlten vollGlück und Stolz über diese weite Ebene, über dieseglänzenden Truppen und über die unzählbare Men-schenmenge hin und senkten sich dann herab auf diesemächtigen Monarchen aus der alten Familie der Köni-ge Europas, die in ritterlicher Courtoisie ihr ihre Hul-digung darbrachten. Mit reizendem Lächeln neigte sieden schlanken Hals in anmuthiger Bewegung gegenden Kaiser und den König und wendete sich dann miteiner kurzen Bemerkung an die Kronprinzessin vonPreußen, welche in natürlich herzlicher Weise ihremhinter seinem königlichen Vater herangerittenen Ge-mahl zunickte.

Der Kaiser Napoleon sprengte an den Kaiser Alex-ander heran. Dieser und der König wendeten sich mitnochmaligem Gruß gegen die Kaiserin der Truppenauf-stellung zu, die Suite gruppirte sich um die Monarchenrechts und links von der Tribüne und der Vorbeimarschbegann.

Prachtvoll war der Anblick dieser vor den Souver-ainen vorbeimarschirenden Elite-Truppen, die hellen,fröhlichen Märsche der Regimentsmusik, die wiehern-den Pferde, die rasselnden Kanonen, das Alles steigerte

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die Stimmung der Zuschauer zu immer höherer Begei-sterung und jedes Regiment wurde mit jubelndem Zu-ruf begrüßt, besonders aber, wenn die vor ihm her flat-ternden, zerschossenen und zerfetzten Fahnen zeigten,daß es oft auf den Schlachtfeldern dem Feinde gegen-übergestanden hatte.

Mit strahlenden Blicken sah die Kaiserin herab aufdie vorüberziehenden Truppen, welche beim Heran-marschieren den Kaiser mit lauten Rufen und demSchwenken der Waffen begrüßten; mit abgespann-ter Gleichgültigkeit saß Napoleon auf seinem Pfer-de, gedankenvoll sinnend blickte Kaiser Alexander aufdie vorüberziehenden Regimenter, während der KönigWilhelm mit scharfer Aufmerksamkeit jede Bewegungverfolgte. Oft zuckte es seltsam um den Mund desso fest und soldatisch im Sattel aufgerichteten Herrn,wenn ein Bataillon im Augenblick des Vorbeimarschesfast eine elliptisch gekrümmte Linie bildete – aber mitimmer gleicher Aufmerksamkeit blickte er der nächstheranrückenden Abtheilung entgegen, die Fahnen mitder Hand am Helme grüßend.

Als der Parademarsch beendet war, zogen sichsämmtliche Cavallerieregimenter auf die dem kaiser-lichen Pavillon gegenüberliegende Seite der von derInfanterie und Artillerie vollständig geräumten Wie-se zurück und bildeten eine einzige, lange Linie. Ingestreckter Carriere sprengte diese ganze, ungeheureFront von Reitern auf ihren schnaubenden, durch den

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Vorbeimarsch erhitzten und aufgeregten Pferden überdie Ebene hin, dem kaiserlichen Pavillon entgegen. DieErde erbebte unter dem furchtbaren Choc, das Rasselnder Waffen, der dröhnende Hufschlag der Pferde wur-de aber übertäubt von dem vieltausendstimmigen Ju-belruf der Menge, welche diese überraschende und imfunkelnden Sonnenlicht wunderbar schöne Evolutionbegrüßte. Wenige Schritte von den Monarchen hielt ur-plötzlich diese ganze in rasendem Ritt vorsprengendeLinie an – die Pferde bogen sich zusammen unter demgewaltigen Parieren – aber die Linie stand, salutirendvor dem Kaiser und seinen Gästen.

Man sah nun die Souveraine absteigen und zu derkaiserlichen Tribüne herantreten, die beiden Herrschervon Rußland und Preußen küßten der Kaiserin dieHand, der Kaiser begrüßte die Kronprinzessin und dieanderen fürstlichen Damen, einige Erfrischungen wur-den servirt, die Equipagen näherten sich, des Winkeszum Vorfahren gewärtig.

Die Menge begann hin und her zu fluthen, theils fingman an nach Paris zurückzukehren, theils drängte manan die Tribünen heran, um die Abfahrt der Herrschaf-ten zu sehen, nur mit der größten Mühe gelang es, denWeg an den Cascaden vorbei für den Hof und seineGäste freizuhalten.

Nach kurzer Zeit rangierten sich die Hundertgarben,der Wagen des Kaisers fuhr vor die Tribüne.

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Napoleon verabschiedete sich von König Wilhelmund den fürstlichen Damen und stieg mit dem Kai-ser Alexander ein, während der König mit der Kaiserinplaudernd auf der Tribüne stehen blieb, bis die Abfahrtdes Cortège die Annäherung der Equipage der Kaiserinerlaubte.

Die Hundertgarden sprengten voran und in rasche-stem Trabe fuhren die beiden Kaiser an den Tribünenvorbei um die Ebene herum und näherten sich denCascaden. Hier war die Menge dichter zusammenge-drängt, der Weg stieg etwas aufwärts und der kaiserli-che Wagen fuhr einen Augenblick im Schritt.

Da trat plötzlich jener bleiche, junge Mann, wel-cher vorher den Blick von Raoul Rigault auf sich ge-zogen hatte, einen Schritt aus der Menge hervor undfast dicht an den kaiserlichen Wagen heran, rasch er-hob er den Arm und man hörte die leichte Detonati-on eines Pistolenschusses. Die Nachstehenden bliebenin starrem Entsetzen wie gebannt stehen, im Augen-blick standen die Hundertgarden, welche etwa zwan-zig Schritt voran waren, still, um im nächsten Momentnach dem Orte der Detonation zurückzuspringen, einflammender Blitz leuchtete im Auge Napoleons auf, einAusdruck von stolzer, muthiger Willenskraft erschienauf seinem Gesicht, schnell erhob er sich im Wagen,als wolle er mit seiner Person den Kaiser von Rußland

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decken, und stand so diesem bleichen, zitternden, jun-gen Menschen gegenüber, der den Arm mit der Pistolenoch immer erhoben hatte.

Dies Alles war das Werk einer Secunde.Eine zweite Detonation erfolgte.Aber bevor dies geschah, hatte sich der Stallmeister

Raimbeaux mit einem gewaltigen Satz seines Pferdeszwischen den Unbekannten und den Wagen geworfen,kaum war der Schuß gefallen, so sah man das Pferdsich zuckend aufbäumen und ein Blutstrahl schoß ausseinem Kopfe hervor, den Wagen des Kaisers mit einemrothen Thau überspritzend.

Nach der ersten Erstarrung war Leben in die Mengegekommen. Die Umstehenden hatten sich auf den Un-bekannten gestürzt und ihm das Pistol aus der Handgerissen, man hörte Ausrufe der Verwünschung – derjunge Mensch stand mit kaltem Lächeln da unter denHänden der empörten Pariser, geballte Fäuste erhobensich drohend gegen ihn, er machte keine Bewegungder Abwehr oder Flucht – ein Bild kalter, trotziger Re-signation.

Die Hundertgarden waren herangesprengt – manübergab ihnen den Verbrecher, den sie schnell in ihrenKreis einschlossen.

Kaiser Alexander hatte ruhig in tiefem Ernst mit sei-nen großen, gedankenvollen Augen auf die ganze Sce-ne geblickt.

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»Ich wünsche Ew. Majestät Glück,« sagte er mit ei-nem weichen, fast melancholischen Lächeln, »es hatglücklicherweise Nichts zu bedeuten!«

»Mein Gott,« rief Napoleon, »welch ein bedauerns-werter Vorfall!« – und er winkte den Stallmeister Raim-beaux heran, der sein verwundetes Pferd mit dem ei-nes Hundertgarden vertauscht hatte und sich von demden Verbrecher umgebenden Kreise her wieder demWagen näherte.

»Weiß man, wer es ist?« fragte der Kaiser.»Er nennt sich Berezowski, Sire,« sagte der Stallmei-

ster, »und ist ein Pole!«Noch tieferer Ernst legte sich über das schöne Ge-

sicht des Kaisers Alexander, schmerzvoll zuckten seineLippen und mit unaussprechlich traurigem Ausdruckrichtete sich sein Blick einen Moment zum Himmel em-por.

»Also galt es mir« – sagte er dann mit sanfter Stim-me, »ich bedaure tief, das Leben Ew. Majestät in Gefahrgebracht zu haben.«

Napoleon hatte sich wieder niedergesetzt und sprachmit verbindlichem Lächeln: »Wir sind miteinander imFeuer gewesen, Sire, wir sind also Alliirte.«

Kaiser Alexander neigte schweigend das Haupt. »Siesind nicht verwundet, mein Herr?« sagte er dann, sichzu dem Stallmeister Raimbeaux wendend, »Sie habensich so kühn den Kugeln entgegengeworfen, vielleicht

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danke ich Ihnen mein Leben, jedenfalls werde ich nie-mals diesen Beweis von Muth und Entschlossenheitvergessen!« Napoleon hatte einen Blick rückwärts ge-worfen, man sah die Lanzenfähnlein der Lanciers del’Impératrice sich vor dem kaiserlichen Pavillon in Be-wegung setzen.

»Vorwärts, vorwärts!« rief der Kaiser, »bevor die Kai-serin und der König hierher kommen.«

Der Verbrecher war inzwischen in einen von seinenInsassen hergegebenen Fiacre gesetzt und von Hun-dertgarden umgeben auf einem Seitenwege durch dasGehölz fortgeführt, auf den Ruf des Kaisers sprengtedie Eskorte vor, die Piqueurs setzten sich in Bewegung– »Vive l’Empereur!« – »vive l’Empereur Alexandre!« riefdie Menge. Die Kaiser grüßten rechts und links, undrasch verschwand das glänzende Cortège im Grün derBäume.

Die Menge vertheilte sich und zog noch weiter nachParis hin, und als wenige Minuten später die Kaiserinin heiterem Gespräch mit dem Könige von Preußen andieser Stelle vorüberfuhr, da ließ Nichts ahnen, daß sokurz vorher hier ein Ereigniß stattgefunden hatte, dasbei anderem Ausgange die Lage von Europa veränderthätte.

George Lefranc hatte fast unmittelbar neben demkaiserlichen Wagen, immer an seinen Baum gelehnt,ruhig dagestanden.

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Er sah mit seinem äußeren Auge alle diese Men-schen, diesen Glanz der Equipagen und Uniformen,aber das Alles drang nicht in seine Seele, sein inne-rer Blick folgte wie einer zauberischen Vision immernur einem Bilde, einem Bilde voll Licht, voll Wärmeund voll Hoffnung, das sich unablässig vor ihm erhobim Grün der Bäume und im Blau des Himmels, das erimmer von Neuem wieder forschend suchte, unter allden wogenden und treibenden Menschen, die ihn um-drängten – obwohl er ja gewiß wußte, daß er es nichtfinden könne.

Als fast ganz in seiner Nähe der Schuß aus demPistol Berezowski ertönte, war er unwillkürlich er-schrocken zusammengefahren, aber er hatte sich nichtbewegt, er war nicht wie die anderen herangesprun-gen, um den jungen Menschen zu erfassen; ruhig blieber auf seinem Platze stehen, fast ohne sichtbare Erre-gung die so außergewöhnliche und aufregende Scenebetrachtend, welche sich vor seinen Blicken entwickel-te. Nur ein halb trauriges, halb bitteres Lächeln spielteum seine Lippen, als die Souveraine weiterfuhren, undmit demselben Lächeln blickte er dem gleich daraufschnell vorbeieilenden Cortège der Kaiserin nach.

»Welch’ eine Bewegung wäre durch die Welt gegan-gen,« sprach er leise vor sich hin, »wenn dieser Schußsein Ziel nicht verfehlt hätte; durch alle Völker wäre

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der Widerhall dieses Ereignisses gezogen – die Weltge-schichte wäre einen Augenblick auf ihrem Wege still-gestanden, und doch – hätte in all der Unruhe, in allder Bewegung ein Menschenherz in seinem eigensten,inneren Leben wahrhafte, tiefe Erschütterung empfun-den, einen Schmerz empfunden, wie ich ihn empfindebei dem Gedanken an das verlorene Glück? Verloren?«unterbrach er sich, wie einer Anstrengung seines Wil-lens folgend, »warum verloren? – Sie hat mir gesagt,daß sie wiederkommen würde, und was sie mir gesagt,muß wahr sein, denn ich glaube an sie, sie ist rein undtreu und wahr wie kein anderes Herz auf Erden, hatsie mir doch gesprochen, wie ich es noch nie gehört,von einem lebendigen, liebevollen Gott, und ihre Wor-te sind in mein Herz gefallen tief – so tief, kann dasAlles Lüge sein?«

Sein Auge richtete sich über das Grün der Wipfelzum Himmel empor, das düstere Feuer seines Blickesmilderte sich unter einem weichen Hauch, der mitfeuchtem Schimmer an seinen Wimpern hing, und lei-se und innig sprach er: »Ich will an sie glauben – wasbliebe meinem Leben ohne diesen Glauben?«

Die Vorübergehenden begannen erstaunte Blicke aufdiesen Mann zu werfen, der da an den Baum gelehntnoch immer im leisen Selbstgespräch fast unbeweglichdastand, während hier nichts mehr zu sehen war undalle Welt bereits der Stadt zueilte.

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George Lefranc bemerkte diese Blicke und wende-te sich langsam der Richtung nach Paris zu, dem Zu-ge der Menschenmenge folgend, welche auf den Sei-tenwegen sich bewegte, während die von Longchampszurückkehrenden Equipagen in zwei Reihen die Mitteder Straße einnahmen.

Kaum hatte er einige Schritte gemacht, als eine ineiniger Entfernung vorwärts entstehende Stockung dieWagen zwang, einen Augenblick zu halten – in die dü-stern Gedanken und die wallenden Gefühle des jungenMannes hinein tönte heiteres Gelächter und laute Un-terhaltung, und dazwischen eine Stimme, eine Stim-me, deren Klang er aus Tausenden heraus erkannt hät-te, eine Stimme, welche die innerste Saite seines Her-zens in zitternde Schwingung versetzte.

Rasch wendete er sich um; auf dem Fahrwegekaum fünf Schritte vor ihm hielt eine zierliche, offeneEquipage mit Livréen von äußerster Eleganz; die mitprachtvollen Bouquets geschmückten Pferde zittertenvor Ungeduld über die Zögerung unter der festen Handdes Kutschers. Neben dem Wagen hielten zwei Herrenzu Pferde, plaudernd und scherzend mit der von An-muth und frischer Eleganz strahlenden Dame, welche,leicht in die seidenen Kissen zurückgelehnt, das schö-ne Gesicht von dem matten Rosenroth des durch denSonnenschirm fallenden Lichts überhaucht, zu den bei-den Cavalieren halb hochmüthig und halb muthwillighinüberblickte.

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Und diese glänzende Schönheit – die Herrin dieserEquipage und dieser Pferde – war Louise Bernard, diearme Arbeiterin aus der Rue Mouffetard – war die ein-fache, sanfte Freundin des jungen Mannes, welche sofreundlich belebend in sein Leben hineingetreten war,welche so viel blühendes Frühlingstreiben in seinemHerzen erweckt hatte, welche verschwunden war, in-dem sie ihm versprochen hatte, wiederzukehren undseinen Lebensweg mit ihm zu gehen, es war das reineIdeal, dessen Bild ihn umschwebt hatte überall, das ergesucht mit seines Herzens bangender Sehnsucht, andas er geglaubt im felsenfesten Vertrauen seiner Liebe.

Es war nicht ein Schrei, der aus der Brust des ar-men George hervordrang bei diesem Anblick, es warein dumpfer, röchelnder Ton wie der leise Todesschreides nach langer Hetzjagd verendend zusammenbre-chenden Wildes. Seine Augen öffneten sich weit undstierten geisterhaft nach dem Bilde hinüber, das dawie eine entsetzliche Vision vor ihm stand, ein kalterSchweiß peilte an der Wurzel seiner Haare, seine Hän-de öffneten sich, als suchten sie eine Stütze in demschwindelnden Wirbel, der seine Seele fortriß.

Die Dame im Wagen sah ihn nicht, den armen, zit-ternden Menschen auf dem Seitenweg unter den Fuß-gängern, die Stockung der Communication war besei-tigt – schneller rückten die Equipagen vor, die schönenPferde setzten sich tänzelnd in Bewegung und in ra-schem Trabe verschwand die prachtvolle Equipage der

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Frau Marchesa Pallanzoni, welche die beiden Herrenauf ihren turbettirenden Pferden am Schlage begleite-ten.

Es wäre unmöglich zu beschreiben, wie George Le-franc nach Paris zurückkam, wie er in sein einsames,stilles Zimmer in der Rue Mouffetard gelangte, abereine Stunde später saß er dort vor seinem Tisch, denKopf in die Arme gestützt und mit den brennenden Au-gen, durch deren Weiß das feine Geäder blutig unter-laufen hervorschimmerte, immerfort auf den Brief derjungen Frau blickend, den er vor sich hingelegt hatte.

Von Zeit zu Zeit stand er auf – ging mit mechanischgleichmäßigen Schritten durch das Zimmer, ohne einWort, ohne einen anderen Laut als ein schweres, ausden Tiefen der Brust herausdringendes Stöhnen, dasgrauenvoll in dem kleinen, stillen Raum wiederklang.

Stundenlang hatte er so einsam in seinem Zimmereingeschlossen zugebracht – die Sonne war herabge-sunken und die Dunkelheit begann sich über Paris zulegen, während der Mond mit seinem weichen Lichtdie Kuppeln der Thürme und die Dächer der Riesen-stadt zu versilbern begann, ruhig und klar vom Him-mel auf diese zusammengedrängte Welt von geschäf-tigen, ringenden, glücklichen und elenden Menschenherabblickend, wie er einst vor langen Jahrhundertenan dieser selben Stelle auf die dunklen, schweigendenWälder des alten Galliens herabgeblickt hatte.

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George ließ sein müdes Haupt tiefer herabsinken,sein brennendes Auge umflorte sich und ein heißerThränentropfen sank auf das Papier nieder.

Diese Wohlthat der Natur, dieses göttliche Geschenkder ewigen Liebe, die heilige Thräne schien den ent-setzlichen Bann zu lösen, der ihn gefangen hielt, einlanger Athemzug rang sich aus seiner Brust hervor, unddann blickte er empor in tiefem Schmerz, aber ohnejene furchtbare Starrheit, welche bis jetzt seine Augenerfüllt hatte.

»So ist es denn aus, aus das Glück, vorbei die Hoff-nung, Alles, Alles zu Ende – wie mit dem Tode, aberschlimmer und schmerzlicher als im Tode – denn derTod läßt die Erinnerung zurück und tödtet die Liebenicht – und hier, hier muß die Erinnerung untergehenund die Liebe!«

»Lüge,« rief er, »Lüge und Verrath, warum ist diesLeid auf mich gefallen, warum konnte mein Lebennicht in ruhiger Resignation verlaufen, warum zurHoffnung und zum Glück erwachen, um so herabzu-stürzen! – Und dafür – dafür – habe ich meine Hän-de befleckt; ich glaubte zu kämpfen für das Recht derUnschuld und ich bin das Werkzeug irgend einer In-trigue gewesen, die ich nicht durchschaue, ein elen-des Werkzeug, das man fortwirft, nachdem es seinenDienst gethan, dem man seinen Lohn –«

Er hielt inne, eine thödliche Blässe bedeckte seineZüge.

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Hastig zog er das Schubfach seines Tisches auf undergriff die Goldrollen, welche er mit dem letzten Briefder jungen Frau erhalten hatte, und welche dort nochlagen.

»Fort,« rief er, »fort mit diesem entsetzlichen Gold,das sie mir zurückgelassen als den Preis für meine See-le, für mein zerbrochenes Herz! – zurückerstatten kannich es nicht, aber es soll versinken, wo kein menschli-ches Auge es wieder erblickt!«

Mit zuckender Hand ergriff er die Rollen und schobsie in seine Tasche – dann setzte er seine Mütze auf,öffnete den Riegel seiner Thür und trat auf den Vor-platz.

Madame Raimond ging aus der Küche in ihr Zimmer.»Haben Sie keine Nachricht von unserer Freundin,

Herr George?« fragte sie freundlich.»Nein,« erwiederte er mit kaum vernehmbarer Stim-

me.»Kommen Sie zu mir,« sagte die alte Frau theilneh-

mend, »wir wollen ein Wenig plaudern, wir werden jabald von ihr hören, sie wird wiederkommen, und dannwerden unsere schönen, traulichen Abende wieder be-ginnen –«

»Ich habe einen nothwendigen Gang zu machen,«sagte George rauh, »entschuldigen Sie mich, ich kom-me vielleicht später!« und schnell mit flüchtigem Grußeilte er die Treppe hinab.

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»Der arme, junge Mensch,« sagte die alte Frau ihmnachblickend, »er liebt sie so sehr – wie gern möchteich beide glücklich sehen!«

Starke Abtheilungen von Sergeants de Ville und be-rittene Garden hielten die Straßen des Faubourg SaintGermain besetzt. Es war Ball bei dem Botschafter vonRußland, die Souveraine sollten dort erscheinen undder Kaiser Alexander hatte gewünscht, daß das Atten-tat keine Änderung in den getroffenen Dispositionenveranlassen solle.

Auf Befehl des Kaisers Napoleon waren die äußer-sten Vorsichtsmaßregeln in allen Straßen getroffen,durch welche die fremden Souveraine fahren mußten.Man verhinderte zwar den Andrang der Neugierigennicht, welche die Trottoirs erfüllten, um die Auffahrtder Monarchen zu sehen, aber Niemand durfte einenAugenblick stehen bleiben, diese ganze Menschenmen-ge mußte in fortwährender Cirkulation bleiben undkein Wagen durfte die besetzte Straße passiren, dernicht Eingeladene zu dem Fest der russischen Botschaftführte.

Langsam ging auch hier wieder unter den immer-fort sich vorwärts bewegenden Menschen der Fenier-general Cluseret, der Alles sehen, Alles hören wollte,um sich über die Zustände in Paris ein klares Bild zumachen, und sein Führer Raoul Rigault, welcher demfinstern Verschwörer alle nöthiges Aufklärungen gab,bald in dem furchtbar cynischen Ton, in welchem einst

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die Septembriseurs die Bonmots der Guillotine mach-ten, bald in der faden und zugleich gespreizten Wei-se jener auf dem Pflaster von Paris groß gewordenen,jungen Leute, welche zwischen dem Gamin und demDandy die Mitte halten.

»Nun,« sagte Raoul Rigault lachend, »mein Gene-ral, ist Ihnen die Physiognomie dieses guten Paris nungenügend verändert? Alle die unbefriedigten Leiden-schaften und die Schwierigkeiten, die in Europa in sogroßer Menge vorhanden sind – man hatte sie sich heu-te morgen so ganz aus dem Sinne geschlagen, um nurden Friedenshoffnungen und den Freuden des Lebenssich hinzugeben, man sah die Zukunft so rosig und gol-den! – Sehen Sie,« fuhr er fort, »dieser eine Pistolen-schuß hat so schnell die finsteren Geister wieder ge-weckt, blicken Sie hin auf diese Polizeimannschaften,auf diese Patrouillen, sehen Sie diese Menge an, diehier schweigend in gezwungener Bewegung durch dieStraßen treibt, gleicht sie noch den fröhlichen Volks-massen, welche heute morgen das Sonnenlicht im Boisde Boulogne bestrahlte? – Glauben Sie noch, daß dieTyrannen sich alliiren werden?«

»Man lernt immer, wenn man nach Paris kommt,«sagte Cluseret mit einem finstern Lächeln, »und dies-mal habe ich viel gelernt.«

Sie gingen weiter.

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Unter starker, militairischer Bedeckung fuhren dieSouveraine heran und bald wurden die Straßen lee-rer, während das ganz vornehme und glänzende Parissich in den Sälen des Hôtels der russischen Botschaftvereinigte.

Durch die letzten der neugierigen Zuschauer eilteGeorge Lefranc mit raschen Schritten und gesenktemHaupte hin.

Er ging über den Pont neuf am Tuilerieengarten vor-bei, überschritt die äußere Seite der Place de la Con-corde und folgte dann dem Quai der Seine, der hinterden Champs Elysées sich hinzieht.

Niemand war um diese Stunde an diesem selbst amTage wenig besuchten Orte.

Der junge Arbeiter trat über das Gitter bis ganz andas Ende der scharf zum Fluß herabsinkenden Mauervor und zog die Rollen aus seiner Tasche.

Unten glitzerten die Wellen der Seine im Licht desMondes, dessen silbernes Rund am dunkeln Himmelschwebte, von leichten, flockigen Wölkchen umgeben.

George warf einen langen Blick auf das dahinflie-ßende Wasser. »Wäre es nicht besser, dort unten zuruhen im kühlen Frieden, als hier oben zu ringen imewigen Kampf mit Elend und Schmerzen?«

Fast sehnsüchtig blickte er hinab und sog tief denkühlen vom Wasser heraufsteigenden Hauch ein, derwohlthätig in seine erregt arbeitende Brust drang.

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»Aber,« sagte er dann leise, »ist es nicht feig undniedrig, dem Leben zu entfliehen, so lange man nochdie Kraft hat zu arbeiten dafür, daß das bittere Loos,unter dem ich leide, von andern genommen werde,daß die Armen und Unterdrückten befreit werden vondem Joch, das auf ihnen lastet? – Und,« fuhr er nochleiser fort, indem er den Blick zu dem schönen, klarenNachthimmel emporhob, »wenn es nun dort oben ei-ne ewige Gerechtigkeit – eine ewige Liebe gäbe? – Siehat es gesagt,« sprach er in bitterem Ton, »aber kannes nicht dennoch wahr sein? Kann nicht auch der Geistdes Bösen die ewige Wahrheit verkünden? – Und esklingt etwas wieder in mir, das mir sagt, es ist wahr!– Jener Dämon hat die Gestalt der Engel entlehnt, ummeine Liebe zu verderben, und doch wollen die Wortenicht aus meinem Sinn, die sie zu mir gesprochen, vonjener Macht der ewigen Liebe, welche die Herzen derMenschen lenkt. – Wäre es möglich, daß diese Machtauf diesem furchtbaren, schmerzlichen Wege in meinHerz hatte einziehen wollen?«

Er schwieg lange. Mit weichem, glänzenden Blicksah er zum Himmel empor.

»Wenn du dort oben waltest,« sprach er dann, »duGott der Liebe, den die Priester verkünden, wenn duherabblickst auf die kämpfenden und bangenden Men-schen auf Erden, oh so senke dein Auge auch auf michhernieder, sieh in mein krankes, gequältes Herz, begra-be die Vergangenheit, wie ich dies entsetzliche Geld in

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die Tiefen versenke, setze meinen Leiden ein Ziel undführe mich zu deinem Frieden!«

Er trat rasch bis hart an den äußersten Rand derMauer vor und mit einer heftigen Bewegung voll Zornund Abscheu schleuderte er die Goldrollen weit in denFluß hinein.

Aber durch die heftig ungestüme Bewegung, mitwelcher er seinen Wurf gethan, verlor er das Gleichge-wicht, sein Fuß glitt, taumelnd griff er um sich, seineHand fand keine Stütze, ein Schrei – und hinab stürzteer in die Fluthen der Seine.

Ein kurzes Ringen – eine starke Bewegung im Was-ser, dann noch ein letzter, schmerzlich verhallenderSchrei – und die Wasser ebneten sich über dem Ver-sunkenen.

Ruhig und glänzend zog der Mond durch das tiefeÄtherblau, schimmernd und blitzend spielten die Wel-len dahin, der Hauch der Nacht athmete tiefen – tiefenFrieden und stille Ruhe.

Hatte auch er den Frieden gefunden in der stillenTiefe, hatte Gott sein letztes Gebet erhören wollen, undihn aus den Kämpfen der Welt an sein liebevolles Herzgezogen?

FÜNFUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

In tiefe, träumerische Gedanken versunken lag Ju-lia am Morgen nach ihrem Besuch der Weltausstellung

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auf dem Ruhebett ihres Zimmers, den Kopf zurückge-lehnt in die Kissen unter den leicht von der Jardinièreherüberhängenden Blumen. In wunderbar wogendemWechsel zogen die inneren Bilder durch die junge See-le hin, welche, kaum erwacht, so schwer berührt warvon dem Ernst und den Schmerzen des Lebens.

Sie träumte von der sonnigen Zeit, welche sie nochdurchleben sollte, getrennt von aller Bitterkeit und Be-ängstigung ihres bisherigen Daseins, ganz nun hin-gegeben an den reinen und ungetrübten Genuß, siesah nach dieser schnell verfliegenden Lichtwolke vonGlück die lange, tiefe Nacht ihres künftigen Lebenskommen, diese Nacht, in welche sie sich versenkenwollte, um den drohenden Gefahren des Lebens zu ent-gehen, diese Nacht, welche ihr erhellt erschien durchdas milde Licht der Erinnerung und durch den himmli-schen Strahl des Glaubens, und vor welcher ihre junge,lebens- und liebesfreudige Seele dennoch zurückbebtein unwillkürlicher, zitternder Scheu.

Und durch alle diese Bilder, durch alle diese wider-streitenden Gefühle hindurch trat immer von Neuemvor ihre Seele die Erscheinung jenes Mannes, welchensie einmal schon in raschem Vorbeifahren erblickt undwelcher am Abend vorher sie begleitet und in dempeinlichen Augenblick ihrer Begegnung mit der heite-ren Gesellschaft im chinesischen Theater sie mit sei-nen tiefen und beredten Augen so durchdringend an-geblickt hatte.

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Sie konnte weder diese Augen, noch diese Stimmevergessen – es war ihr, als müßte sie diesen Blick schongesehen, den Klang dieser Stimme schon gehört haben.

»Graf Rivero« – sprach sie leise, »Graf Rivero, sonannte er ihn, diesen Mann, der wie der Ton eineraltbekannten, märchenhaften Zaubermelodie auf michwirkt, dessen Auge in den Tiefen meiner Seele eine sowunderbare Wärme erglühen läßt, so mächtig – undso rein, so überirdisch rein! – Graf Rivero,« wiederhol-te sie, »ich mag suchen in meinen Erinnerungen – siesind ja noch so einfach und durchsichtig, ich kann die-sen Namen nicht finden, ich kann diesem Manne nochnicht begegnet sein.«

Wieder versank sie in langes Nachdenken. TiefeTraurigkeit legte sich auf ihre Züge.

»Mein Vater,« seufzte sie, »mein armer Vater, er, derEinzige, der freundliches Licht in mein einsames Le-ben gebracht hat, er wird traurig sein – er wird michschmerzlich vermissen, darf ich ihn verlassen?« –

Sie faltete die Hände und blickte lange mit ihren tie-fen Augen aufwärts, ein feuchter Hauch glänzte an ih-ren Wimpern.

»Ich muß es,« sprach sie dann mit Entschiedenheit,»ich muß es, ich fühle die Kraft nicht, den Kampf mitdem Leben, das mich umgeben würde, zu ertragen, ichkann nur die Ruhe finden in der Stille der heiligenZurückgezogenheit – und dem Vater darf ja auch dieBraut des Himmels Trost bringen und theilnehmende

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Liebe weihen, oh er wird selbst glücklicher sein, wenner weiß, daß ich das einzige Glück, den einzigen Frie-den gefunden habe, den ich auf Erden finden kann.«

Sie stand auf, verließ ihre Wohnung und ging durchden leeren Salon ihrer Mutter, welche erst viel späterihr Schlafzimmer zu verlassen pflegte, in das einfache,ärmliche Zimmer des Malers Romano.

Dieser saß in sich zusammengesunken vor der Staf-felei mit dem unvollendeten Christusbilde. Aus dembleichen Gesicht schauten die krankhaft glänzendenAugen so schmerzvoll traurig und so sehnsüchtig ver-langend zugleich auf die Leinwand hin, daß Julia beidiesem Anblick ihr Herz erbeben fühlte von innigstem,tiefstem Mitgefühl.

Schnell eilte sie zu diesem gebrochenen, krankenManne hin, und sich in kindlicher Hingebung zu seinenFüßen zusammenschmiegend, drückte sie die warmen,frischen Lippen auf seine kalte, feuchte Hand.

Er fuhr empor wie aus einem beängstigenden Traum,sein Blick wurde milder und freundlicher, als er dasjunge Mädchen zu seinen Füßen erblickte.

»Wie geht es meinem lieben Vater heute morgen?«fragte sie mit liebevoll schmeichelnder Stimme, der sieeinen heiteren, leichten Ton zu geben versuchte, durchwelche aber doch die tiefe Bewegung hindurchklang,welche sie erfüllte.

»Wenn meine liebe Julia, mein treues, gutes Kind beimir ist,« sagte er, sanft ihr glänzendes Haar streichelnd,

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»dann geht es mir immer gut; doch steh auf,« fuhr erfort, sie mit einer gewissen hastigen Bewegung erhe-bend, als widerstrebe es ihm, das junge Mädchen da zuseinen Füßen zu sehen, »steh auf und setze dich hierzu mir, damit wir ein Wenig plaudern.« Sanft drückteer sie auf einen kleinen Sessel nieder, der neben derStaffelei stand, und sah lange in ihr schönes, jugend-frisches Antlitz.

»Wenn ich dich ansehe,« sprach er dann halb zu sichselber, »so ist es mir, als wolle die Harmonie wiederin meine Seele zurückkehren, welche sie in meiner Ju-gend, vor langer, langer Zeit – erfüllte, als vereintensich die zerrissenen Linien, die verwischten Farben inmir zu einem schönen Bilde, zu einem Bilde, das ichsuche, ewig suche und nicht finden kann –«

Und mit tiefem Schmerz, mit verzweiflungsvollerUnruhe richtete sich sein Blick wieder auf das unvoll-endete Bild vor ihm.

Ein Geräusch wurde in dem anstoßenden Salon hör-bar, man vernahm einen Schritt, der auf dem weichenTeppich sich dem Zimmer des Malers näherte.

Dieser richtete das Auge auf die Thür – trübe Resi-gnation lag auf seinen Zügen, er erwartete das Erschei-nen von Madame Lucretia, welche ihm eine jener Sce-nen machen würde, die in ihrer steten Wiederholungwie tiefe Messerstiche sein wundes, leidendes Herz tra-fen.

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Plötzlich aber öffneten sich seine Augen, weit undweiter brennend trat die Pupille hervor, ein Ausdruckdes furchtbarsten Entsetzens, Todtenblässe legte sichgeisterhaft auf sein Gesicht, und tiefer und tiefer nachrückwärts zusammensinkend, breitete er die Händewie abwehrend vor sich aus.

Erschrocken sah Julia diese schreckliche Verände-rung auf dem Gesicht des Malers, schnell wendete siesich nach der Thür um und stieß einen leichten Schreiaus, indem sie sich erhob und zitternd neben ihremStuhl stehen blieb.

In der geöffneten Thür, halb noch beschattet von derauf der anderen Seite derselben herabhängenden Por-tière des Salons, stand der Graf Rivero ruhig und un-beweglich.

Tiefere Blässe als sonst bedeckte sein schönes Ge-sicht, über dessen wehmüthig und schmerzvoll beweg-ten Zügen ein Ausdruck von kalter, bitterer Strengelag. Lange betrachtete er das der Thür gegenüber hän-gende große Bild – mit weichem, mildem Strahl glittsein Blick herab auf das junge Mädchen, die leben-de Verkörperung dieses schönen Bildes, dann richtetesich sein Auge flammend wie der zuckende Blitzstrahlaus den Maler, der noch immer unbeweglich-starrenBlickes auf seinem Stuhle saß.

»Gaëtano!« rief der Graf mit tiefer Stimme, »hier ste-he ich, um Rechenschaft zu fordern: was hast du mit

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dem Glück, dem Frieden, dem Vertrauen deines Bru-ders gemacht, mit seinem Weibe, mit seinem Kinde?«

Der Maler sank einen Augenblick wie vernichtet voll-ständig zusammen, dann richtete er sich in einer con-vulsivischen Bewegung auf, und fast ohne die Füßevom Boden zu erheben, schleppte er sich zu dem Gra-fen hin, zu seinen Füßen sank er nieder und strecktedie zitternden Hände empor, sein Blick hing mit demAusdruck der Todesangst an dem ruhig-strengen Ge-sicht des unbeweglich vor ihm stehenden Mannes.

»Mein Bruder,« rief er dann in heiserem Ton, demder Klang der menschlichen Stimme fehlte, »mein Ver-brechen ist schwarz wie die ewige Nacht der Hölle,meine Schuld unermeßlich wie der leere Raum desFirmaments, aber ich schwöre es dir bei dem ewig rä-chenden Gott, dessen Zorn durch die Himmel donnert,wenn es ein Maß giebt für die Größe meiner Schuld, soist es mein Leiden, das Leiden langer Jahre, die Reueohne Thräne, die Verzweiflung ohne Ruhe. Oh meinGott,« sprach er weiter, das Gesicht mit den Händen be-deckend, »wenn, von den Furien gepeitscht, meine ver-zweifelnde Seele Tage und Nächte lang die tiefsten Ab-gründe der Schmerzen durcheilte, dürstend nach derVernichtung, dann gab es eine Hoffnung, eine letzteeinzige Hoffnung für mich, einst noch das Antlitz mei-nes Bruders zu sehen; Gott konnte mir nicht vergeben,aber er – er, der Gekränkte, mit seiner großen Seele,er würde meine Schuld von mir nehmen, so rief mein

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Herz! – Jetzt steht er vor mir, und aus seinem Augezuckt das Schwert des Gerichts auf mich herab! Hierbin ich, mein Bruder, vollziehe das Urtheil, das ich solange brennend in meinem Busen getragen habe!«

Er fiel nieder, den Boden mit der Stirn berührend.In mächtiger Bewegung eilte Julia zu ihm hin.»Mein Vater!« rief sie, »mein theurer Vater, erhebe

dich, deine Tochter ist bei dir! Oh, mein Herr,« sagtesie, die thränenfeuchten Augen zu dem Grafen empor-richtend, »mein Herr, schonen Sie meinen Vater!«

»Mein Vater!« fügte der Graf bitter mit schneiden-der Stimme. »Mein Vater! Also nicht nur mein Glückhast du mir geraubt, du hast auch die Liebe dieses rei-nen Herzens für dich genommen, du hast dir angemaßtden Namen des Vaters, dessen Herz du zertreten, des-sen Frieden du gemordet hast. Bist du nicht versunkenin die geöffnete Erde, wenn diese Lippen dich Vaternannten?«

Ein rauhes Stöhnen war die einzige Antwort des un-beweglich am Boden liegenden Malers; voll Entsetzenblickte Julia auf diese gebrochene Gestalt, ihr Geistverwirrte sich vor diesem Räthsel, dessen Lösung sienoch vergeblich suchte.

»Du hast mir dieses Kind genommen,« sprach derGraf weiter, »rein, wie es aus dem Himmel Gottes her-abgestiegen war, Gaëtano, ich frage dich vor dem ewi-gen Richter, wie giebst du mir meine Tochter zurück?«

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Da leuchtete es auf wie ein Blitz des Verständnis-ses in Juliens Augen, schreckensvoll sah sie einen Au-genblick zu dem am Boden liegenden Maler herab,dann richtete sich ihr Auge mit einem unbeschreibli-chen Ausdruck auf den Grafen, der da vor ihr stand,flammenden Blickes die Hand gegen sie ausgestreckt,das Zimmer erfüllend mit dem vollen Ton seiner tiefenStimme.

Bei seiner Frage flog ein Zucken durch den Körperdes Malers. Er richtete sich so rasch, kräftig und ener-gisch empor, daß der Graf ihn erstaunt ansah, seinkrankes, todtenbleiches Gesicht erleuchtete sich mit ei-nem Strahl von Willen und Entschlossenheit, und mitmatt erschöpfter, aber fester Stimme sprach er:

»Mein Bruder, richte mich, vernichte mich, ich wer-de dir danken, aber laß meine Schuld keinen Schattenwerfen auf dies reine Haupt. Sieh,« fuhr er fort, »es istdie Aufgabe meines Lebens gewesen, das Herz diesesKindes zu behüten, zu erwärmen auf dem finsteren We-ge, zu dem jene mich hinabgerissen, die dir und mir niehätte begegnen sollen, ich habe von ihr fernzuhaltengesucht den Gifthauch, der sie umgab, und ich habeschwer gekämpft und gelitten für sie, um ihretwillenbin ich gefesselt geblieben an die Kette jener Elenden,denn ich hatte ja kein Recht an dieses Kind; wenn iches schützen wollte, mußte ich ja bei ihm bleiben undbei der, die ihre Mutter ist, und« – er legte die Handauf das Haupt Juliens – »ich schwöre es dir, ich habe

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dies Herz behütet, sie liebt,« sagte er sanften Tones,»die Welt mag diese Liebe verurtheilen, und doch, beiallen Engeln Gottes, ihr Herz ist rein wie der Tropfendes Morgentaus im Kelch der Lilie! – Niemand darf anihr zweifeln, ich werde sie verteidigen gegen eine Welt,ich werde sie verteidigen gegen dich, mein Bruder!«

Frei und klar sah er auf seinen Bruder und umfaßtedann mit einem Blick voll unendlicher Liebe das jungeMädchen, das sich auf seine Hand niederbeugte undsie mit seinen Lippen berührte.

Stolz und gebietend stand der Graf Rivero in dervollendeten Eleganz des vornehmen Weltmannes vordiesem ärmlichen, zitternden kranken Mann, der sei-nen Muth und seinen Willen wiederfand, um dies vondem Herzen des Vaters gerissene Kind zu verteidigenund zu schützen. Wahrheit klang aus dem Ton derStimme des Malers, Wahrheit strahlte aus seinem Au-ge, Wahrheit lebte in der liebevollen Bewegung desjungen Mädchens.

Der kalte, strenge Blick des Grafen wurde weicherund weicher. Um diesen Mund, der so gewohnt war,zu gebieten den Kräften der Welt und des Lebens wieden eigenen Gefühlen, zuckte es in immer mächtige-rer Rührung, langsam erhob er die Arme und mit einerStimme, so weich und leise und doch so tief eindrin-gend in das Herz des unglücklichen Mannes vor ihm,sprach er:

»Gaëtano! – mein Bruder!«

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Der arme Maler zuckte zusammen, als wolle er vonNeuem zu Boden stürzen, auf seinem Gesicht erschi-en zuerst der Ausdruck tiefen, fast ungläubigen Erstau-nens, dann leuchtete es auf wie sonnige Verklärung –er that langsam und zögernd einen Schritt vorwärtsund sank an die Brust seines Bruders, der ihn in sei-nen starken Armen empfing und fest an sich drückte.Und als ob in dieser Umarmung der lange, furchtbareKrampf eines Lebens voll Leiden, Reue und Verzweif-lung sich löste – der gebrochene, zitternde Mann, derda am Herzen seines Bruders ruhte, begann zu weinen,heißer und heißer rannen die strömenden Thränenaus seinen brennenden Augen, die bangen, gepreßtenSeufzer seiner Brust wurden zum lauten Schluchzen,es war, als wolle er seine Seele hinhauchen in der Um-armung der verzeihenden Liebe.

Julia war neben dem Grafen auf die Knie gesunken,blickte voll andächtiger Dankbarkeit zu ihm empor undsprach mit leiser Stimme nun die Worte: »Mein Vater,mein Vater!«

Der Graf legte seine Hand segnend auf ihr Haupt;immer seinen Bruder an seinem Herzen haltend, blick-te er mit strahlenden Augen aufwärts und sprach:

»Groß ist der zürnende Gott, der im Wetter hernie-dersteigt von den flammenden Himmeln, aber größer

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ist der Vater der Liebe und Barmherzigkeit, der im Säu-seln des Westwindes daher fährt, mit Trost und Verzei-hung die gebrochenen Herzen zu erquicken und aufzu-richten!«

Lange blieben sie schweigend, jeder erfüllt vonmächtiger, tiefer Bewegung, Juliens Herz zitterte in un-aussprechlichen Gefühlen; was sollte aus ihrem Leben,aus ihrer Liebe, aus ihrer Zukunft werden, in welchemit einem Male dieses so unerwartete, so überwäl-tigende Ereigniß seinen hell leuchtenden, aber auchgrell blendenden Lichtstrahl geworfen! Dann setztesich der Graf auf das kleine Canapé, der Bruder zuseiner Seite, während Julia sich zu seinen Füßen nie-derschmiegte, immer und immer mit dem Blicke die-ses Antlitz, diese Augen trinkend, welche zu ihr spra-chen von ihrer seinen Heimath, von Italien, von denTräumen ihrer Kindheit, von allem, was wie ein süßesMärchen ihre Seele geheimnißvoll und unverstandendurchklungen hatte.

Gaëtano erzählte, dem Bedürfniß seines Herzens fol-gend, das die lange, lange getragene Last von sich ab-wälzen wollte, wie er den Lockungen der sündigen Lie-be unterlegen sei, er erzählte sein ganzes furchtbaresLeben voll trauriger Einsamkeit, voll bitterer, unfrucht-barer Reue, und der Graf hörte schweigend in tiefemErnste zu, zitternd lauschte Julia diesem schrecklichenBekenntniß schwerer Schuld, diesem finsteren Dramader entsetzlichen Buße und Sühne, ihr Herz voll tiefen,

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innigen Mitleids wendete sich nicht ab von dem Mann,den sie Vater genannt hatte, und der so schwer gefehltund so schwer gebüßt hatte, aber es hob sich mit ehr-furchtsvoller Scheu und begeisterter Bewunderung zudem, der ihr Vater war und dessen großes Herz so vielSchuld verzeihen, so vielen Leiden Trost bringen konn-te.

Dann mußte sie erzählen von ihrer Liebe, und siethat es erröthend und zitternd, aber wahr und klar ausreinem, treuem Herzen, voll hingebenden Vertrauens,sie erzählte von ihren Plänen für die Zukunft, von ihrenHoffnungen, die sie auf eine stille Zurückgezogenheitin das Asyl der Religion gesetzt hatte, ihr ganzes Herzbis in seine tiefsten Tiefen lag offen vor dem Vater da,dessen liebevoller, warmer Blick voll inniger Liebe aufdem schönen, bewegten Antlitz seiner Tochter ruhte.

Als sie geendet, sprach er mit tiefem Ernst und ruhi-ger Milde:

»Du hast recht, mein Bruder, dieses Herz ist reinwie der Tropfen des Thaus im Lilienkelch! Aber,« sag-te er nach einem Augenblick, indem er die Hand aufdas Haupt des jungen Mädchens legte, »die Welt wür-de dies Herz nicht verstehen, die Welt würde urthei-len nach ihren Begriffen und messen nach ihrem Maß.Und,« fuhr er fort, stolz das Haupt erhebend, »meineTochter darf und soll nicht die Augen niederschlagenvor irgend jemand in der Welt, sie darf aber und soll

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auch nicht ihr Leben verträumen und verbluten in stil-ler, schmerzlicher Resignation. Am Herzen ihres Vatersist der Platz, an welchem sie Trost für die Vergangen-heit, Ersatz für die Gegenwart, Stärke und Glück fürdie Zukunft finden soll.

Meine Tochter,« sprach er weiter, ihre Hand ergrei-fend und ihr voll und klar in die Augen schauend, »hatmein Blut in ihren Adern, sie wird auch meine Kraftund meinen Stolz im Herzen haben, die Vergangenheitmuß zu Ende sein, schnell und ganz zu Ende sein!«

Julia beugte das Haupt nieder und seufzte tief.»Du gehst sogleich mit mir,« fuhr der Graf fort, »ich

werde dir in einem Kloster, dessen Äbtissin ich ken-ne, ein Asyl geben für die wenigen Tage, die ich nochhier bleibe, denn ich kehre bald nach Italien zurückund führe dich, mein Kind, nach Rom, jener ewigenStadt, wo deine Wiege stand, wo dein erster Blick em-porschaute nach jenem herrlichen, reinen Himmel un-seres Vaterlandes, mein Bruder begleitet uns, du wirsthier nicht bleiben wollen?« fragte er sanft den Maler.

»Wo du bist, ist meine Heimath,« sagte dieser, »hierhielt mich Nichts als das Kind.«

»Oh, er wird schwer leiden,« flüsterte Julia, indemsie mit thränendem Auge zu ihrem Vater aufblickte,»er ist treu, gut und verschwiegen, darf ich ihm nichtsagen, was geschehen, darf ich nicht ein Wort des Ab-schiedes –«

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»Nein,« rief der Graf stolz, »meine Leiden und derschwarze Flecken meines Lebens darf Niemandem be-kannt sein, Julia Romano muß verschwinden und dieTochter des Grafen Rivero darf keine Vergangenheithaben! Doch,« fuhr er mit einem innigen Blick auf dasschmerzvoll zuckende Antlitz des jungen Mädchensfort, »ein Wort des Abschieds darfst du ihm senden. Sa-ge ihm, daß das Räthsel deines Lebens eine Lösung ge-funden, daß du in eine schöne Heimath zurückkehrst,sage ihm,« fuhr er milde und sanft fort, »daß die Zu-kunft vielleicht glücklicher sich gestalten könne, wenner die Liebe und das Vertrauen zu bewahren verstände,sage ihm, was dein Herz dir eingiebt, nur nichts, meineTochter, was ihn auf deine Spur führen kann.«

Ein Schimmer von Glück und Hoffnung flog über dasGesicht des jungen Mädchens, träumerisch schien ihrAuge in dämmernde Bilder der Zukunft zu blicken.

»Doch nun fort,« rief der Graf, »du darfst keinen Au-genblick hierbleiben; sobald ich dich installirt habe,kehre ich zurück, auch sie, sie, die uns allen so vielTrauer gebracht, muß ich wohl sehen und ihr sagen,was geschehen ist, und um dieses Kindes willen magihr verziehen sein, Gott möge ihr Herz zu sich zurück-führen.«

Mit schmerzlichem Ton hatte er die letzten Wortegesprochen. Schnell holte Julia einen Hut und einenÜberwurf und fuhr, von tausend wogenden, wider-sprechenden Gefühlen bewegt, mit ihrem Vater davon,

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schmerzlich ergriffen von dem Gedanken an den Ge-liebten, aber friedensvoll und sicher an der Seite des-sen, der wie die liebevolle Vorsehung über ihrem Lebenwachen würde.

Schnell hatte der Graf im Kloster des Sacré Coeur Al-les für die vorläufige Aufnahme seiner Tochter in tief-ster Verschwiegenheit geordnet und nach zwei Stun-den fuhr er zurück nach der Rue Notredame de Loret-te, um mit seinem Bruder das Weitere zu verabreden.

Hohes Glück, reine Freude erfüllte sein Herz.Wie schmerzlich, wie tief traurig auch dies Wieder-

finden gewesen war, wie sehr sein stolzes Gefühl ge-litten hatte bei dem Gedanken, seine Tochter, sein ein-ziges Kind so wiedergefunden zu haben, er hatte siedoch wiedergefunden am Rande des Abgrundes, erkonnte sie zurückführen zu den lichten Höhen des Le-bens, sein Dasein hatte ein freundliches, beglückendesZiel, sein Herz die Blüthe, seine Seele die melodischeHarmonie wiedergefunden.

Rasch durchschritt er den Salon, der noch immerleer war, denn Frau Lucretia befand sich noch in ih-ren inneren Räumen, er öffnete die Thür und trat indas Zimmer des Malers.

Bestürzt blieb er stehen und sah starren Blickes aufdas Bild, das sich ihm darbot.

Zurückgesunken gegen die Lehne des Stuhls vor derStaffelei saß der Maler da, Pinsel und Palette in den auf

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den Schooß niedergesunkenen Händen. Auf seinen Zü-gen lag glückliche Ruhe und lächelnder Frieden, manhätte ihn bei seiner Arbeit eingeschlafen glauben kön-nen, doch jene eigenthümliche wachsartige Blässe sei-nes Gesichts und das starre, gebrochene Auge zeigtendem erfahrenen Blick des Grafen, daß hier der ernstereZwillingsbruder des Schlafes seine Herrschaft angetre-ten habe.

Nach einem Augenblick erschrockenen Zögerns eilteder Graf zu seinem Bruder hin und legte die Hand aufdessen Stirn. Mit einem tiefen, schmerzlichen Seufzerzog er sie wieder zurück, diese Stirn hatte die durch-dringend eisige Kälte des Todes.

»Mein Bruder, mein armer Gaëtano,« rief der Graf,»soll ich dich nur gefunden haben, um dich zu verlie-ren? Soll dein langes Leiden keine innere Versöhnung,keinen verklärenden Abschluß finden?«

Er öffnete die Falten des Hemdes auf der Brust desLeblosen und hielt die Hand auf sein Herz. Dann hober sein Augenlid empor und prüfte lange und sorgfältigdie Pupille.

»Er ist todt – keine Möglichkeit der Wiederbele-bung,« sagte er leise. Dann legte er sanft die Händeauf diese starren Augen, unter der warmen Hand desBruders löste sich die harte Spannung und die Lidersenkten sich herab über die leidensmüden Augen zumSchlaf der ewigen Ruhe.

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Mit tiefer Wehmuth blickte der Graf auf dies nun sofriedlich stille, so glücklich verklärte Antlitz.

»Seine Seele hat im Scheiden von der Welt einenletzten Sonnenblick empfangen,« sagte er, faltete dieHände und sprach ein stilles Gebet über der Leiche.

Da fiel sein Blick auf die Staffelei, ein leiser Ruf desErstaunens drang aus seinem Munde. Denn das Bilddes Erlösers war vollendet, die graue Wolke, welchefrüher die Stelle des Hauptes umgab, war verschwun-den; nicht in ganz durchgeführter Ausmalung der De-tails, aber vollkommen erkennbar in Contur und Farbe,blickte das Christushaupt aus dem Bilde herüber, vongoldenem Glorienschein umflossen, und aus den Au-gen strahlte die unendliche Liebe und Gnade, welchedas göttliche Blut am Kreuz für die Schuld der Men-schen opferte.

Lange, lange blickte der Graf in tiefer Bewegung aufdies Bild, diese einfache Leinwand trug die Geschich-te einer Menschenseele, ihrer Schuld, ihrer Buße, undsie trug zugleich eine jener göttlichen Offenbarungen,welche immer von Neuem auch den einzelnen Men-schen das ewige Evangelium der Liebe und Gnade ver-künden.

»Wohl ihm,« sagte der Graf leise, mit den Lippen dasHaar des Todten berührend, er hat das Antlitz Gottesgeschaut im Scheiden vom Leben, seine Schuld ist hie-nieden geblieben, er ist eingegangen zum Frieden.« –– –

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Man hörte einen Schritt im Salon, die Augen desGrafen richteten sich erwartungsvoll auf die Thür,leicht zitterte seine auf die Lehne des Stuhls gestütz-te Hand.

Die Thür öffnete sich, Madame Lucretia trat ein, sietrug ein elegantes, aber unordentlich zerknittertes Ne-gligé, ihr Haar war nicht frisirt, das helle Tageslichtließ die Zerstörung ihrer einst sehr schönen Züge inerschreckender Deutlichkeit erkennen. Wie eine Bild-säule des Schreckens blieb sie stehen, als sie die Ge-stalt des todten Malers auf dem Stuhl erblickte unddahinten hoch aufgerichtet, mit einem unbeschreibli-chen Blick voll Zorn Schmerz und Mitleid, den Mann,gegen welchen sie so unsühnbar gefrevelt, und dessenBild im Taumel eines Lebens voll Rausch Leidenschaft,Aufregung und Erniedrigung immer aus den Tiefen ih-rer Seele mahnend und drohend emporgestiegen war.

Wie einer Stütze bedürftig, ließ sie ihre Hand aufdem Griff der Thür ruhen, tiefe Blässe bedeckte ihr Ge-sicht, sie schlug das Auge zu Boden, ihre Lippen preß-ten sich fest aufeinander mit den Ausdruck trotzigenWiderstandes und starrer Verschlossenheit.

So blieb sie starr und unbeweglich stehen.Mehrere Minuten standen sich beide schweigend ge-

genüber.Dann sprach der Graf mit einer Stimme, welche voll-

kommen frei war von jeder heftigen, leidenschaftli-chen Erregung:

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»Du stehst hier vor der Leiche des Opfers deiner Sün-de, du hast sein Leben zertrümmert, den heiligen Geni-us der Kunst verscheucht, der um sein Haupt schwebte,aber Gott hat ihm verziehen, und er ist heimgegangen,im Jenseits zu finden, was du ihm hier geraubt.«

Sie schwieg fortwährend und blickte nicht auf.»Meine Tochter habe ich gefunden, glücklicherweise

noch bevor ihre Seele vergiftet wurde, ich habe sie mitmir genommen, du wirst sie auf Erden nicht wieder-sehen, sie soll es verlernen, vor ihrer Mutter zu errö-then!« Ein Zittern flog durch die Gestalt der MadameLucretia – sie blieb unbeweglich und schweigend.

»Du wirst die nöthigen Anordnungen treffen,« fuhrder Graf in demselben Tone fort, »um den Tod diesesUnglücklichen gesetzlich zu constatiren, seine Leichesoll einbalsamirt und vorläufig beigesetzt werden, ichwerde sie dann hinführen nach Italien, er soll in derErde seines Vaterlandes ruhen.«

Sie schwieg immerfort.»Ich werde für deine materielle Existenz sorgen, du

wirst erhalten, was du bedarfst, ich will nicht, daßeine Frau, die einst an meinem Herzen ruhte, demElend verfalle. Das ist es,« sprach er nach einem tie-fen Athemzuge, »was ich dir zu sagen habe, geh’ hinund versuche, die Wege des Heils wiederzufinden.«

Er streckte gebietend die Hand gegen sie aus, daschien es, als ob ihre Kräfte sie verließen, zusammen-brechend sank sie in die Knie, ihr Blick halb starr und

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wild, halb angstvoll, richtete sich, wie hilfeflehend zuihm auf. Er that keinen Schritt zu ihr hin, es zog wieein Kampf über sein Gesicht, dann aber erleuchtete einmilder Strahl seine Züge, und indem er mit der aus-gestreckten Hand das Zeichen des Kreuzes gegen siemachte, ertönten von seinen Lippen wie in schweremKampfe aus seiner Brust sich hervorringend die Worte:

»Geh’ deines Weges in Frieden, Gott möge dir verzei-hen, wie ich dir verzeihe!«

Mit einer mächtigen Kraftanstrengung stand sie auf,wendete sich schweigend um und verschwand in demSalon.

Der Graf trat zu der Staffelei und nahm das Bild vonderselben.

»Dies sei das Vermächtniß meines Bruders, es sollmich lehren, stets zu richten, wie er richtet, der Hei-land der Erlösung!«

Er ergriff einen Bleistift und schrieb unten an denRand des Bildes:

»Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladenseid, ich will euch erquicken!«

Dann legte er noch einmal segnend die Hand aufdas Haupt seines todten Bruders, stieg hinab und fuhrschnell davon.

SECHSUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

König Georg saß in dem schottischen Cabinet derVilla Braunschweig in Hietzing, bequem eingehüllt in

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seinen weiten österreichischen Militairüberrock. Durchdie geöffneten Fenster drang die laue Morgenluft hin-ein, und der König athmete tief die Düfte ein, welchedie Blumen des Gartens in das Cabinet des verbann-ten Königs sendeten. – Die Blumen duften ja ihrensüßen Trost den Menschen entgegen, ohne zu fragennach Glück oder Unglück, nach Macht oder Unmacht;was die Liebe des Schöpfers ihnen gab, das geben siewieder den glücklichen Herzen zur Verschönerung derFreude – den bekümmerten zur Erquickung in Trübsalund Sorge.

Der Kammerdiener trat ein und meldete den Gehei-men Cabinetsrath Lex.

Der König richtete sich in seinem Stuhl auf undreichte dem alten, treuen Geheimsecretär, den er schonals Kronprinz bei sich gehabt hatte, die Hand hinüber,die dieser ehrerbietig an seine Lippen führte.

»Mr. Douglas ist von Petersburg zurückgekehrt, Ma-jestät,« sagte der Geheime Cabinetsrath mit seiner fei-nen, dünnen Stimme, »und bittet Ew. Majestät um Ge-hör!«

»Ah!« rief der König, »das ist mir sehr interessant, ichbin gespannt, zu hören, was er dort gesehen und erfah-ren hat, in seinen Briefen hat er mich auf seinen münd-lichen Bericht verwiesen, er hatte Recht, man darf sodiscrete Dinge nicht der Post anvertrauen, ich will ihnsogleich empfangen. Nachher will ich einen Brief an

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die Königin schreiben, ich habe lange darüber nachge-dacht –«

Er hielt einen Augenblick inne.»Und Ew. Majestät sind entschlossen, die dringende

Bitte Ihrer Majestät der Königin zu erfüllen und Aller-höchstderselben zu erlauben, daß sie die Marienburgverlasse und hierher komme?« fragte der Cabinetsrath,mit Spannung in das Gesicht seines königlichen Herrnblickend.

»Nein, mein lieber Lex,« sagte der König mit tiefemErnst, »ich kann diesen Wunsch meiner Königin nichterfüllen, so schmerzlich es mich berührt, sie dort indieser peinlichen und leidensvollen Lage zu wissen. Siemuß ausharren und muß sich ihrer Stellung opfern,das ist das Schicksal und die Pflicht der Fürsten, undwem Gottes Hand den schweren Reif der Krone aufdie Stirn legte, der muß der Freiheit zu entsagen wis-sen, nach den Wünschen und Neigungen des eigenenHerzens zu handeln. Noblesse oblige – das dürfen dieKönige vor allem nicht vergessen, denn nur dadurch,daß wir unser Wollen und Denken, unser Hoffen undWünschen den großen Principien, dem Wohl des Gan-zen rückhaltslos opfern, nur dadurch, daß wir an unsselbst immer zuletzt denken, alle Pflichten, alle Lastenund Schmerzen auf uns nehmen, haben wir das Recht,über die anderen zu herrschen und die Schicksale derVölker zu lenken.«

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Er fuhr mit der Hand über die Augen und sprachdann mit ruhiger, fester Stimme weiter:

»Die Königin muß dort bleiben und die peinlichenLeiden ihrer Lage ertragen. Sie muß warten, bis sie ge-waltsam von der Marienburg entfernt wird, ich kannihr das nicht ersparen. Würde sie freiwillig, ohne dieäußerste Nöthigung das Land verlassen, das auf sieblickt, das in ihr den letzten Zusammenhang mit sei-nem Herrscherhause sieht, so würde damit auch frei-willig das Recht aufgegeben, das Recht, dessen ersteVertreterin nach mir meine königliche Gemahlin ist.«

»Aber,« sagte der Cabinetsrath mit leicht zitternderStimme, »die Gesundheit Ihrer Majestät leidet darun-ter –«

»Die Könige müssen für ihr Recht und ihre Kronen,wenn es sein muß, zu sterben wissen!« sagte der Königmit dumpfer Stimme. »Lassen Sie Mr. Douglas kom-men,« fuhr er nach einem augenblicklichen Schweigenfort, »ich bin gespannt, ihn zu hören, nachher werdeich Ihnen den Brief an die Königin dictiren.«

Der Geheime Cabinetsrath verließ das Cabinet undeinen Augenblick darauf trat der englische Geistlicheein, unverändert in seiner Erscheinung. Ruhig verneig-te er sich vor dem König, nachdem die Thür des Cabi-nets wieder geschlossen war, und die zwei Finger derrechten Hand erhebend, sprach er mit seiner vollen,pathetisch anklingenden Stimme:

»Gott segne Ew. Majestät!«

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»Setzen Sie sich, mein lieber Mr. Douglas,« rief derKönig, »ich bin unendlich erfreut, Sie wieder hier zuwissen, und sehr gespannt auf Alles, was Sie mir überIhre Reise erzählen werden. Sie werden viel gesehenund gehört haben und mir viel zum Verständniß derpolitischen Lage mittheilen können. Ich hoffe, daß dieReise Ihre Gesundheit nicht angegriffen hat?« fügte ermit verbindlichem Tone hinzu.

»Ich bin stark, alle Anstrengungen zu ertragen,« sag-te Mr. Douglas, »wenn es eine große und gute Sachegilt, und für die Sache Ew. Majestät würde ich die Weltdurchreisen.«

»Warum denken nicht alle Engländer wie Sie!« riefder König, »England hat kein Gefühl mehr für das Blutseiner großen Könige!«

»Weil England von den großen ewigen Principienabgewichen ist, auf welchen das Reich Gottes erbautwerden soll,« sagte Mr. Douglas, »weil England in denDienst des bösen Geistes, das heißt des Materialismus,versunken ist, aus dessen Herrschaft es befreit werdenmuß, wenn es seiner Vergangenheit würdig in der Zu-kunft erhalten bleiben soll.«

Der König schwieg einen Augenblick.»Nun,« sagte er dann, »erzählen Sie mir viel von

Rußland, Sie waren in Petersburg und Moskau?« –»In Petersburg und Moskau, vorher in Warschau,« er-

wiederte Mr. Douglas, »ich bin überall sehr freundlich

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aufgenommen worden, der Kaiser und Fürst Gortscha-koff haben mich freundlich empfangen und gütig an-gehört, die Großfürsten waren sehr gnädig, ganz be-sonders hat mir der Herzog Georg von Mecklenburg-Strelitz beigestanden, um mich überall einzuführenund mir das Verständniß der Verhältnisse zu erleich-tern.«

»Ein vortrefflicher Herr,« sagte der König.»Ein Fürst von großer Liebenswürdigkeit und Intel-

ligenz, und trotz seiner russischen Stellung hat er sichdeutschen Geist und deutsches Gefühl bewahrt.«

»Nicht wahr,« fügte der König, »Sie haben die Über-zeugung gewonnen, daß die Idee des Herrn von Beust:Rußland von Preußen zu trennen, großen Schwierig-keiten begegnet, ja, wie ich überzeugt bin, unausführ-bar ist?«

Mr. Douglas richtete sich gerade, mit vorgestreckterBrust auf seinem Stuhle auf und begann in dem langsa-men, scharf accentuirten Tone eines Kanzelvortrages:

»Nein, Ew. Majestät, diese Überzeugung habe ichnicht gewonnen, im Gegentheil, ich bin tiefer als jevon der Überzeugung durchdrungen zurückgekom-men, daß die ganze Aufgabe der österreichischen Poli-tik und damit auch der Politik Ew. Majestät, darin be-stehen muß, die Allianz zwischen Rußland und Preu-ßen zu verhindern und die Lösung der orientalischenFrage im engen Verein von Österreich und Rußlandherbeizuführen.«

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Der König warf den Kopf mit dem Ausdruck des Er-staunens und der Befremdung empor.

»Die Allianz zwischen Rußland und Preußen zu ver-hindern?« fragte er. »Glauben Sie denn, daß diese Al-lianz nicht längst besteht? Und,« fuhr er fort, »die ori-entalische Frage anregen, heißt das nicht gerade Ruß-land und Preußen noch enger zueinander führen, diesebeiden einzigen Mächte, welche im Orient keine colli-direnden Interessen haben?«

»Erlauben mir Ew. Majestät,« sagte Mr. Douglas,»meine Beobachtungen Ihnen in großen Zügen mitzut-heilen, Sie werden dann vielleicht meine Auffassungbilligen, später werde ich Ew. Majestät ein ausführli-ches Memoire darüber zusammenstellen.«

»Sprechen Sie, ich bin unendlich gespannt,« sagteder König, indem er sich in seinen Fauteuil zurücklehn-te und mit der Hand die Augen bedeckte.

»In diesem Augenblick, Majestät,« sprach Mr. Dou-glas langsam und mit der Betonung eines geistlichenVortrages, »in diesem Augenblick ist das ganze russi-sche Reich auf das Tiefste bewegt durch die plötzlicheFreilassung der Leibeigenen, welche das Vermögen desan orientalischen Luxus gewöhnten russischen Adelsso empfindlich verringert hat, daß man überall lauteKlagen hört.«

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»Die natürliche Folge aller großen reformatorischenMaßregeln, welche naturgemäß tief in die Verhältnis-se einschneiden müssen,« warf der König ein, »die zu-nächst Betheiligten werden immer unzufrieden sein,dennoch aber war die Maßregel nöthig, Kaiser Niko-laus hatte sie schon in’s Auge gefaßt, und ich bewun-dere die Festigkeit, Weisheit und Ruhe, mit welcherder Kaiser Alexander sie durchgeführt hat. Die Aufhe-bung der Leibeigenschaft wird die Grundlage für diekünftige Größe Rußlands sein. Durch diese große Re-form hat der Kaiser Alexander ein russisches Volk ge-schaffen, wie Peter der Große einst Rußland als po-litische Nation in den Kreis der europäischen Staateneinfühlte. Die damals geschaffene Staatsmaschine wirdjetzt Fleisch und Blut bekommen, sie wird zum leben-digen Organismus werden, und damit wird Rußlandin schnellem Wachsthum sich zu einem ökonomischenund politischen Riesen entwickeln, der aber doch Eu-ropa niemals gefährlich sein wird, wenn man ihn nichtangreift, da dies gewaltige Reich Alles in sich trägt, wases bedarf und wünschen kann, da es keine Vergröße-rung wünschen muß und damit die sichere Bedingungder Ruhe und des Friedens in sich trägt.«

Der König hatte schnell und lebhaft gesprochen undmit bewegten Zügen schien er die Antwort zu erwar-ten.

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Mr. Douglas schwieg einen Augenblick. Auf seinemGesicht stand deutlich geschrieben, daß er des KönigsAuffassung nicht theile.

»Der Irrthum, Majestät,« sagte er dann langsam,»den ich in der Manumission erblicke, liegt nicht inder Sache selbst, sondern darin, daß sie so plötzlichgeschah. Sie traf den russischen Adel wie ein Donner-schlag aus hellem Himmel, und was noch trauriger ist,sie fand den Bauer sehr roh und der Freiheit unfähig.«

Der König hatte wieder den Kopf in die Hand ge-stützt und hörte aufmerksam zu.

»Die Bauern sind faul, bearbeiten natürlich ihre eige-nen Güter zuerst, und da die Bevölkerung überall sehrwenig dicht ist, so werden die ohnehin schon verrin-gerten Güter des Adels nur spärlich bearbeitet, und fürdiese Bearbeitung fordern die Bauern dann noch ganzexorbitanten Lohn von ihren früheren Herren, sie sindübermüthig und zügellos und erinnern unwillkürlichan die Worte:

»Vor dem Sclaven, wenn er die Kettebricht,

Vor dem freien Menschen erzitt’re nicht!«

Mr. Douglas, welcher die ganze Conversation mitdem Könige in englischer Sprache führte, sprach dieletzten Worte deutsch mit jenem eigenthümlichen Gut-turalton des englischen Accents.

Georg V. lächelte fast unmerklich.»Aber die auswärtige Politik Rußlands?« fragte er.

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»Ich habe von der Freilassung der Leibeigenen ge-sprochen, Majestät,« sagte Mr. Douglas, »weil die Gäh-rung, welche diese Sache durch das ganze russischeReich verbreitet, einen sehr wesentlich bestimmendenEinfluß auf die auswärtige Politik Rußlands ausübenmuß und wird.«

Der König richtete sein Gesicht mit dem Ausdruckgespannter Aufmerksamkeit nach dem Sprechendenhin, dann ließ er den Kopf wieder in die Hand sinken.

Mr. Douglas fuhr fort:»Ew. Majestät können sich keine Vorstellung davon

machen, mit welchem uneingeschränkten Absolutis-mus in Rußland die öffentliche Meinung regiert, es –«

»Die öffentliche Meinung,« fragte der König er-staunt, »eine öffentliche Meinung in Rußland, trotz derZensur, bei der geringen Bildung des Volkes?«

»Die Zensur kann nicht Alles unterdrücken,« sagteMr. Douglas, »und je geringer die Bildung des Vol-kes, um so unbedingter ist der Einfluß des gedruck-ten Wortes. Der Adel nun hat sich dieser öffentlichenMeinung zu bemächtigen gewußt, ganz im Gegensatzzu dem Adel in anderen Ländern; und da man in die-sen Kreisen die Neuerungen in den Verhältnissen desGrundbesitzes allgemein dem Einfluß deutscher, dasheißt preußischer Ideen zuschreibt, so predigen alle Or-gane der öffentlichen Meinung den Haß gegen Preu-ßen, und das Volk, ohne den Zusammenhang zu ah-nen, folgt dieser Leitung; die untere Bureaukratie und

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Polizei übt die Zensur gegen solche Artikel, welche janichts gegen Rußland enthalten, kaum aus. Der Kai-ser und der Hof beugen sich vor dem Tyrannen deröffentlichen Meinung, und Fürst Gortschakoff, so un-umschränkt er sonst seinen Willen durchsetzt, mit sogroßer Feinheit er auch seine Wege zu seinen Zielen zuverfolgen versteht, würde es doch nicht wagen, auchnur eine Woche lang eine Politik zu verfolgen, welchebei der öffentlichen Meinung unpopulär geworden. –An der Spitze dieser öffentlichen Meinung steht nundas Organ der Altrussen, der Jorics, die Moskauer Zei-tung, welche der seit der letzten polnischen Revolutionwohlbekannte Katkoff redigirt.«

»Katkoff – Katkoff,« sprach der König, »was ist dasfür ein Mann, haben Sie ihn kennen gelernt?«

»Ich habe seine Bekanntschaft gemacht,« sagte Mr.Douglas, »als ich in Moskau war, und habe dann auchauf dem Landgute des Grafen Tolstoi, des gefeiertenAutors ›Iwans des Schrecklichen‹, eine ganze Gesell-schaft von Mitarbeitern der Katkoffschen Zeitung ken-nen gelernt. Katkoff ist ein Mann von großem Gei-ste und feurigem Sinn, der es versteht, zu den Rus-sen zu sprechen und allen seinen Mitarbeitern seinenGeist einzuhauchen. Der Moskauer Zeitung und dervon ihr der ganzen Presse gegebenen Richtung ist esbesonders zu danken, daß die innige Allianz Rußlands

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mit Preußen, welche sowohl der Kaiser als auch be-sonders Fürst Gortschakoff dringend wünschen, nochnicht Thatsache geworden ist.«

Der König schüttelte schweigend leicht den Kopf.»Zwar hat, wie ich sehr bestimmt weiß,« fuhr Mr.

Douglas fort, »der Oberst von Schweinitz, der preußi-sche Militairbevollmächtigte, sich sehr viel Mühe ge-geben, Katkoff für Preußen und die preußische Allianzgünstiger zu stimmen.«

»Die preußische Diplomatie ist immer geschickt undthätig,« sagte der König, »wollte Gott, daß ihre Gegnervon ihr lernen möchten.«

»Die Bemühungen des Obersten von Schweinitz wa-ren aber vergeblich,« sagte Mr. Douglas, »Katkoff pre-digt nach wie vor den Haß gegen Preußen und diepreußischen Ideen, und er selbst würde auch kaum ei-ne Wendung machen können, wenn er nicht von derPartei der Altrussen, welche ihn emporgehoben hat,vernichtet werden wollte.«

»Und die Regierung thut gar nichts?« fragte der Kö-nig, »um ihrerseits einen Einfluß auf die öffentlicheMeinung zu gewinnen?«

»Sie hat einige officiöse Organe,« sagte Mr. Douglas,»die aber in der That ohne Bedeutung sind, auf Kat-koff und die Organe seiner Farbe kann sie aber keinen

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Einfluß gewinnen, so lange sie mit der Partei der Al-trussen nicht Frieden macht, und diesen Frieden wür-de sie nur durch große Concessionen schließen kön-nen. Es ist daher für jeden, der Rußland zum Freundehaben will, von höchster Wichtigkeit, die öffentlicheMeinung für sich zu gewinnen und durch Kalkoffs Zei-tung sich die Gunst dieser maßgebenden und tyranni-schen Macht zu erwerben. Auch Ew. Majestät müssennach meiner Überzeugung nach dieser Richtung han-deln, wenn die russische Macht in einem gegebenenAugenblick ernstlich für Ihre Interessen eintreten soll,in dem Augenblick,« fügte er mit erhobener Stimmeund die zwei Finger der rechten Hand ausstreckend,hinzu, »in welchem die Männer in den weißen Klei-dern sich erheben werden, um den Dämon des Abgrun-des wieder von dem angemaßten Thron seiner Machtherabzustürzen. Ew. Majestät müssen in dieser Rich-tung mit Österreich gemeinsam arbeiten, denn die in-nige Verbindung Österreichs und Rußlands ist der ersteSchritt zu der großen christlichen Coalition gegen dasHaidenthum!«

»Und glauben Sie,« fragte der König, »daß es mög-lich sein könne, eine innige Beziehung zu Österreich inRußland populär zu machen? Sieht man in Österreichnicht ebensogut das Princip der deutschen Nationali-tät, das, wie Sie mir sagen, so verhaßt ist, und kannirgend ein Russe Österreich seine Mitschuld an dem

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Verlust des Schwarzen Meeres verzeihen? Kann,« füg-te er etwas leiser, wie zu sich selber sprechend, hinzu,»kann dies Schwarze Meer für Rußland wiedergewon-nen werden ohne Preußen?«

»Ich habe in den Kreisen der Altrussen viel überdas Verhältniß zu Österreich gesprochen, Majestät,«sagte Mr. Douglas, »und ich schmeichle mir, daß ichnicht wenig dazu beigetragen habe, namentlich auchbei Kalkoff persönlich und bei seinen Freunden, je-ne Anschauungen zu bekämpfen, welche Ew. Majestätsoeben anzudeuten die Gnade hatten; ich habe michüberzeugt, daß bei meiner Abreise die Ansichten überÖsterreich und eine österreichische Allianz wesentlichandere waren, als bei meiner Ankunft.«

Abermals glitt ein leichtes, kaum bemerkbares Lä-cheln über das Gesicht des Königs.

»Erzählen Sie mir das ausführlicher,« sagte er, dasGesicht mit der Hand bedeckend.

»Um das ganze Verhältniß klarzumachen, Majestät,«fuhr Mr. Douglas fort, »muß ich noch einiges über diezweite Macht bemerken, welche neben der öffentli-chen Meinung in Rußland herrscht, und welche ebensowie jene innig mit der Partei der Altrussen verbundenist. Diese Macht ist die Kirche.«

»Aber an der Spitze der Kirche steht der Kaiser,« warfder König ein.

»Er steht an der Spitze als das höchste irdische Ober-haupt,« sagte Mr. Douglas, »und aus dieser Stellung

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fließt die tiefe, liebevolle Ehrfurcht, welche jeder Russefür den Kaiser hegt, dennoch aber ist der Kaiser nichtim eigentlichen Sinne Priester und die innere gewalti-ge Macht der Kirche beherrscht er nicht, er hat nichtjene tausend seinen, aber so festen und gewaltig be-wegenden Fäden in der Hand, durch welche die Geist-lichkeit die Gefühle und Gesinnungen des Volkes leitet.Die wahre Herrschaft über die Kirche liegt in den Hän-den des Metropoliten, Monseigneur Philorites. Dies istein alter Mann von fast neunzig Jahren, ich habe ihnnicht persönlich kennen gelernt, aber ich habe seineSchriften gelesen und sie zeugen von hohem Geist undtiefer Bildung. Er lebt im Rufe der Heiligkeit und vorihm beugen sich der Kaiser und das ganze Volk, auf je-des Wort von ihm hört man wie auf ein Orakel. DieserMetropolit ist ebenfalls ein erbitterter Preußenfeind.«

»Weshalb?« fragte der König.»Man sagt mir,« erwiederte Mr. Douglas, »daß er

durch eine Verbindung mit Preußen das Eindringen desbiblisch kritischen Geistes der deutsch-protestantischenTheologie fürchtet, oder vielmehr des sich hinter wis-senschaftlicher Forschung verbergenden Unglaubens,welcher die Negation des eigentlichen Kerns des Chri-stenthums bildet. Das Eindringen dieses Geistes würdeaber für Rußland eine entsetzliche Gefahr sein, denndie russische Geistlichkeit – namentlich in den unterenGraden – ist noch so sehr roh und ungebildet, daß sie

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einer solchen Propaganda nicht entgegenzutreten ver-möchte, und es würden die preußischen Ideen unauf-haltsam Kirche, Thron und Staat zugrunde richten. –Daher unterstützt der Metropolit und der ganze mäch-tige Einfluß, der in seinen Händen ruht, die öffentlicheMeinung Katkoffs und seiner Partei in der Verbreitungdes Hasses gegen Preußen, und wer einen unwider-stehlichen Einfluß auf die Politik Rußlands ausübenwill, muß diese beiden mächtigen Factoren auf seineSeite bringen und den schon in hohen Wogen gehen-den Preußenhaß benützen, dann wehe dem Minister,der ihm feindlich entgegentreten wollte!«

Der König schwieg einen Augenblick.»Man hat mir aber von einer anderen, sehr fest or-

ganisirten und sehr einflußreichen Partei gesprochen,«sagte er dann, »den Nihilisten, wie man sie nennt, wel-che auch durch einzelne Fäden mit den internationa-len Verbindungen in der Schweiz, England und Frank-reich zusammenhängen. Diese müßten doch andereAnschauungen haben.«

»Die Nihilisten, Majestät,« sagte Mr. Douglas, »habennach meiner Beobachtung gar keinen Einfluß, Katkoffhat sie lächerlich gemacht und vollständig vernichtet,was übrigens kaum nöthig war, dagegen giebt es aller-dings noch eine Partei oder eigentlich mehr eine Klassevon Menschen, denen Stücke von unverdauter moder-ner Bildung im Kopfe liegen; ich meine die sogenann-ten Jungrussen – ich habe wenige von ihnen kennen

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gelernt, doch viel mit einsichtiger und klar denken-den Männern über sie gesprochen, namentlich auchmit dem Grafen Berg, dem Gouverneur in Warschau.– Sie sind die Lafayettes und Mirabeaus von Rußland,sind große Anbeter Nordamerikas und der dortigen Zu-stände, träumen von einer constitutionellen Monarchieund arbeiten bewußt oder unbewußt auf eine Repu-blik, zunächst vielleicht mit dem Czar an der Spitze,hin – Sie aber auch hassen die Preußen ebenso sehrals die Altrussen und die Orthodoxen. Eigentlich wis-sen sie wohl selbst nicht recht, was sie wollen, sie re-präsentiren jene Richtung in allen Staaten und Völ-kern, welche in dem dunklen Wunsch des Fortschrittsvorandrängt, ohne das Ziel zu sehen und zu begreifenwohin ihre Wege führen. Aber in diesen Jungrussen istdennoch das nationale Gefühl so mächtig, daß ihre De-vise heißt: Alles für Rußland, aber nur durch Rußland;den fremden preußischen Einfluß, den eine Allianz mitPreußen ihnen bringen würde, verabscheuen sie.«

»Wie aber,« fragte der König, »soll aus alledem eineAllianz mit Österreich hervorgehen, und zwar eine sol-che Allianz, die das Werk von 1866 wieder zerstörenkönnte?«

»Es wird nur darauf ankommen,« sagte Mr. Douglas,»dem russischen Volke zunächst klar zu machen, wieÖsterreich im natürlichen und nothwendigen Antago-nismus zu Preußen steht, dann wird schon ein gewisses

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sympathisches Gefühl als Basis der weiteren Operati-on entstehen. Rußland sucht einen und bedarf einesAlliirten. Nur deshalb, weil es keinen anderen hatte,hat es sich zu Preußen gewendet. Als ich dem FürstenGortschakoff sagte, daß er durch seine Freundschaftfür Preußen sich zum Mitschuldigen einer Politik dergewaltsamen Annexionen machte, hat er mir einfach,indem er mich scharf durch seine Brille ansah, geant-wortet ›Was können wir sonst machen? – Auf Frank-reich kann sich Niemand verlassen, noch weniger aufEngland, Österreich ist zu schwach und uns nicht hold,– verfeinden wir uns mit Preußen, so stehen wir alleinda.‹«

»Als russischer Minister hat er vollkommen recht,«flüsterte der König fast unhörbar.

»Rußland könnte jetzt die Allianz Frankreichs sehrbald haben, indes nur durch große Concessionen,« fuhrMr. Douglas fort, »und außerdem wird Frankreich im-mer, wie schon Napoleon I. es war, unzuverlässig in Be-zug auf die orientalischen Angelegenheiten sein. Dazukommt, daß die öffentliche Meinung in diesem Augen-blick sehr kühl gegen Frankreich und Louis Napoleonist. Man glaubt, wie mir der Herzog von Mecklenburgsagte, daß der Stern Napoleons im Sinken sei. Und inRußland liebt man nur den, der Erfolg hat. Nun hatzwar Napoleon dadurch, daß seine Freunde mit einergewissen Geschicklichkeit die Lösung der Luxembur-ger Frage als einen Erfolg darzustellen gewußt haben,

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ein Wenig an seinem Prestige gewonnen, auch hat er esgeschickt so eingerichtet, daß er den Kaiser Alexanderin Paris einige Tage allein und ungestört für sich hatte,aber das Attentat auf den Kaiser hat, wie ich glaube,seine Pläne vernichtet.«

»Aber Sie wünschten doch,« warf der König ein, »dieVerständigung zwischen Frankreich und Rußland?«

»Ich wünsche sie auch noch,« sagte Mr. Douglas,»nur soll sie durch Österreich gemacht werden. WennRußland sich mit Österreich fest und innig alliirt, somuß Napoleon, wenn er nicht allen Halt in Europaverlieren will, sich dieser Verbindung anschließen, under wird es thun, er muß aber verhindert werden, sichallein und ohne Österreich Rußland zu nähern, dennsonst würde er Preußen, das mit großer Klugheit al-le diese Bewegungen beobachtet und seine Stellungdazu nimmt, mit in diese Combination hineinziehenund dieselbe würde dann den ganz entgegengesetztenErfolg haben. Rußland und Österreich,« fuhr er fort,die Hand erhebend und seine Worte scharf betonend,»müssen Hand in Hand die Welt reformiren, die Türkenaus Europa vertreiben und die Herrschaft der christli-chen Principien wieder aufrichten!«

Der König erhob den Kopf. Ein Ausdruck fragendenErstaunens lag auf seinen Zügen, es schien, als wolle ereine Bemerkung machen, doch bald stützte er wiederschweigend den Kopf in die Hand.

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»Es kommt nun darauf an,« fuhr Mr. Douglas in dem-selben erhöhten Pathos fort, »den möglichst festen Ein-fluß auf Katkoff und die öffentliche Meinung zu gewin-nen, um durch dieselbe jede Allianz mit Preußen undeine einseitige Allianz mit Frankreich trotz der Neigun-gen des Kaisers und des Fürsten Gortschatoff unmög-lich zu machen, zugleich aber zu zeigen, daß Öster-reich die einzig richtige und nützliche Allianz für Ruß-land ist. Dazu müssen vor allem diejengen Motive ent-kräftet werden, welche in dem russischen Nationalge-fühl der Annäherung an Österreich noch entgegenste-hen.«

»Die Erinnerung an den Krimkrieg?« fragte der Kö-nig, ohne aufzublicken.

»Nicht diese besonders,« sagte Mr. Douglas, »es istein naheliegender Grund, der das öffentliche Gefühlgegen Österreich aufgereizt hat, und dieser ist das Con-cordat.«

»Das Concordat?« rief der König, sich erstaunt auf-richtend, »was kümmert man sich in Rußland um dasösterreichische Concordat?«

»Die Russen, Majestät,« sagte Mr. Douglas, »wisseneinmal, daß Österreich nicht innerlich erstarken, alsokein kräftiger Alliirter sein kann, so lange ihm durchdie engherzigen Führer der Ultramontanen Hände undFüße gebunden sind, wie ja ganz Europa dies ebenfallsweiß. Dann aber erblicken gerade die Altrussen in dem

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durch das Concordat gefesselten Österreich das willen-lose Werkzeug des ehrgeizigsten und herrschsüchtig-sten Theiles der ganzen römischen Hierarchie. Dieserömische Hierarchie hat aber durch die Stellung, wel-che sie in Polen, namentlich während der letzten Revo-lution eingenommen, sich den tiefsten und unversöhn-lichsten Haß der Russen zugezogen, und so lange dasConcordat besteht, trägt Österreich und die österrei-chische Regierung in den Augen Rußlands einen Theilder Mitschuld jener beklagenswerten Excesse, – Eben-so hat die frühere Behandlung der Ruthenen eine tie-fe Erbitterung gegen Österreich erregt. Während desjüngsten Slavencongresses hat Nichts auf die Russen soerbitternd und zündend gewirkt, als die wenigen Wor-te des Metropoliten von Moskau, durch welche er dieorthodoxen Gläubigen ermahnte, für ihre unterdrück-ten Glaubensbrüder in Galizien zu beten, ein Echo desSchmerzes und Zornes folgte ihnen durch das ganzeLand. – Löst sich Österreich von den Banden des Con-cordats und beseitigt dadurch die Furcht, daß es alsWerkzeug der Ultramontanen am Unglück Rußlandsarbeite, sieht man dann in Rußland, daß die Ruthenenmit Toleranz und freundlicher Milde behandelt wer-den, so wird die ganze Stimmung in der russischenNation eine andere werden, die öffentliche Meinungwird ihr Urtheil sprechen, und kein Minister wird eswagen dürfen, sich mit dem Feinde Österreichs zu alli-iren. – Dann,« fuhr er mit noch erhöhter Stimme fort,

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»wird der Muth der Süddeutschen erwachen, wenn sieÖsterreich Hand in Hand mit der gewaltigen Machtdes Ostens erblicken, Frankreich wird sich anschlie-ßen, England wird nicht wagen dürfen, allein zu blei-ben, Schweden und Dänemark werden folgen und die-ser großen Coalition gegenüber wird die letzte Stun-de der Pläne des Grafen Bismarck geschlagen haben.– Dann wird Deutschland verlangen, daß Österreichseine Stellung in Deutschland wieder einnehme undÖsterreich wird die Führung wieder ergreifen, die Ein-heit Deutschlands wird sich vollziehen durch die Unifi-cation in Verfassung, in Gesetzgebung und Militair –«

Der König fuhr empor und biß in seinen Schnurrbart.»Und,« fuhr Mr. Douglas fort, »die einzelnen Fürsten

mit ihren Höfen und dem Adel ihrer Länder werdendie Stätten schaffen für die vielseitige und selbststän-dige Bildung der Nation. Dann werden auch Ew. Maje-stät und die übrigen verbannten Fürsten in ihre Länderzurückkehren, und das Alles wird sich vollziehen ohneKrieg und Blutvergießen!«

»Ohne Krieg?« rief der König. »Sie glauben, daßPreußen ohne die äußerste Gewalt seine Stellung auf-geben werde?«

»Ich bin dessen gewiß,« sagte Mr. Douglas, »derDruck der Coalition wird so gewaltig, so übermächtigsein, daß das eigene preußische Volk eine Regierungperhoriesciren würde, die tollkühn genug sein möch-te, sich dieser überwältigenden Macht zu widersetzen,

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Alles wird ohne Krieg geschehen und das Wort wirdsich erfüllen, das Lamm wird den Sieg davontragenüber die schuppengepanzerten Drachen, die Männerin den weißen Kleidern werden, mit den Palmzweigendas Schwert überwinden.«

»Aber erinnern Sie sich,« sagte der König, »daßFriedrich II., als Preußen noch viel weniger mächtigwar, um viel geringeren Preis sieben Jahre lang gegendie ganze Welt gefochten hat.«

»Friedrich war Despot,« erwiederte Mr. Douglas,»was er konnte, kann keine preußische Regierung heutzu Tage, das Volk in Preußen würde sich einem solchenKampfe gegen die Welt heute widersetzen, und,« fügteer hinzu, indem ein sarkastisches Lächeln sein häßli-ches Gesicht verzog, »die Berliner Börse würde heu-te keine ephraimitischen Münzen und kein Ledergeldmehr acceptiren.«

Der König erhob sich. »Haben Sie Ihre Auffassungendem Herrn von Beust mitgetheilt?« fragte er.

»Ich habe ausführlich mit ihm gesprochen und wer-de ihm das Resultat aller meiner Beobachtungen nochin einem besonderen Memoire mittheilen; er war, wieich glaube, ganz in derselben Ideenrichtung, welcheich soeben Ew. Majestät entwickelt habe. Auch ist Herrvon Beust der Ansicht, daß ich jetzt wieder nach Parisgehen möge, um dort die Situation zu beobachten undauf den Kaiser Napoleon einzuwirken, damit er keineanderen Wege einschlage.«

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»Ich glaube, daß es vielleicht besser wäre,« sagteder König leichthin, »wenn Sie jetzt Ihre Propagandain England beginnen würden, um die dortige öffentli-che Meinung in Ihrem Sinne zu stimmen, was vielleichtnicht so ganz leicht sein wird.«

Mr, Douglas sah den König erstaunt an, erhob dieHand und schien etwas erwiedern zu wollen.

»Doch,« fuhr der König rasch fort, »über Alles daswerden wir noch sprechen, ich will Ihre Zeit jetzt nichtlänger in Anspruch nehmen,« sprach er, indem er seineUhr repetiren ließ, »ich habe noch einige Sachen zuerledigen, auf Wiedersehen bei der Tafel, mein lieberMr. Douglas!«

Mr. Douglas verbeugte sich schweigend und verließdas Cabinet.

Der König schellte und befahl, den Geheimen Cabi-netsrath zu rufen. Dann setzte er sich wieder und bliebin tiefes Nachdenken versunken in seinen Sessel zu-rückgelehnt sitzen, bis sein vertrauter Secretair eintrat.

Derselbe legte seine Mappe auf den Tisch und bliebdem Könige gegenüber stehen.

»Ich habe soeben den Bericht des Mr. Douglas überseine Reise in Rußland angehört, mein lieber Lex,«sagte Georg V., »und er hat mir seine Anschauungenüber die politische Lage und die Zukunft entwickelt,ich glaube, er hat ein Wenig aus der Schule geschwätztund ich habe da die innersten und letzten Gedankendes Herrn von Beust gehört.«

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»Ich bin immer überzeugt gewesen, Majestät,« er-wiederte der Geheime Cabinetsrath mit seiner dünnen,scharfen Stimme, »daß dieser Mr. Douglas von Herrnvon Beust ganz besonders benützt wird, um Propagan-da für diejenigen Ideen zu machen, welche der Mi-nister nicht auf dem Wege der Diplomatie verbreitenkann oder will –«

»Und welche ich wahrlich nicht unterstützen wer-de,« fiel Georg V. lebhaft ein, »denn sie sind die Ver-nichtung desjenigen Princips, für welches ich kämpfe,und außerdem sind sie so confus und auf so falscheVoraussetzungen basirt, daß ich nicht begreife, wieman glauben kann, auf solche Weise die Politik Euro-pas leiten und gestalten zu können. Er will,« fuhr erfort, »Rußland von Preußen trennen und mit Öster-reich alliiren, das ist schon eine Voraussetzung, wel-che ich für eine Unmöglichkeit halte, so lange in Preu-ßen und Rußland Staatsmänner am Ruder sind, wel-che die Interessen beider Länder richtig verstehen. HatRußland und der Kaiser Alexander die Verletzung desPrincips der Legitimität durch die Annexionen gedul-det um der Kraft willen, welche es aus der preußischenAllianz schöpft, wie würde es jemals von dieser Alli-anz abfallen, um in Gemeinschaft mit Österreich Zie-le zu verfolgen, zu deren Erreichung ihm die Rücken-deckung durch Preußen nothwendig ist? – Wenn aber,«fuhr der König, mit der Hand auf den Tisch schlagend,

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fort, »schon die Grundlage der Ideenfolge des Mr. Dou-glas eine falsche ist, so sind seine Ziele geradezu ver-werflich. Er will die Mediatisirung der deutschen Für-sten, das heißt ihre Entkleidung der Militairhoheit, nurmit dem Unterschied, daß das Commando statt in derHand Preußens in derjenigen Österreichs liegen soll.– Soll dies das Ziel der politischen Action sein,« riefGeorg V. lebhaft, »so werde ich an derselben nicht mit-wirken. Ich will, daß in Deutschland das rein födera-tive Verhältniß zwischen selbstständigen Fürsten wie-der hergestellt werde, wie es im Princip die sonst somannigfach verbesserungsfähige Bundesakte enthielt.Aber die Welt in Unruhe zu versetzen, die Gefahr einesgroßen, blutigen, unübersehbaren Krieges heraufzube-schwören, denn ohne einen solchen Krieg läßt sich jadas Alles nicht verwirklichen, nur um Österreich an dieStelle von Preußen zum Zwingherrn Deutschlands zumachen, das würde ich für ein schweres Verbrechenhalten.«

Der König hatte rasch und lebhaft gesprochen,schweigend, mit einem seinen Lächeln auf den Lippen,hörte der Geheime Cabinetsrath zu.

»Wissen Sie, lieber Lex,« fuhr Georg V. fort, »wie mirdieser Clergyman vorkommt? Wie Rodie in dem ewi-gen Juden von Eugen Sue; er spielt ein finsteres Spiel,um seinen Ehrgeiz im Dienste Österreichs zu befriedi-gen, aber mich soll er nicht zum Werkzeug seiner Plänemachen, – Gehen Sie sogleich zum Grafen Platen und

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sagen Sie ihm, daß er unverzüglich an Meding schrei-be und ihm auftrage, den Kaiser Napoleon wissen zulassen, daß dieser Douglas nichts mit mir zu thun ha-be, und daß es mir erwünscht sein werde, wenn derKaiser ihn nicht mehr empfangen wolle.«

»Zu Befehl, Majestät,« sagte der Geheime Cabinets-rath aufstehend.

Der Kammerdiener öffnete die Thüre mit den Wor-ten:

»Ihre Königliche Hoheit Prinzeß Friederike.«Die Prinzessin trat ein, schwarz gekleidet, das Auge

von Thränen verschleiert.Schnell eilte sie auf den König zu, der sie in seine

Arme schloß und zärtlich auf die Stirn küßte.»Du erlaubst, Papa,« sagte die Prinzessin mit zittern-

der Stimme, »daß ich nach Hetzendorf fahre, die armeMathilde hat mich bitten lassen, sie wünscht mich nocheinmal zu sehen.«

»Noch einmal zu sehen?« rief der König bestürzt,»mein Gott, geht es ihr denn schlechter? Was ist vor-gefallen, man hatte ja gestern noch so gute Hoffnung!«

»Es scheint,« sagte die Prinzessin, in Schluchzen aus-brechend, »daß die Kräfte der armen Erzherzogin nichtausreichen, man fürchtet das Schlimmste, ach meinGott,« rief sie, den Kopf an die Brust ihres Vaters leh-nend, »sie wird sterben, ich fühle es in meinem Her-zen.«

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»Geh’ hin, mein Kind,« sagte der König sanft, »undvertraue bis zuletzt auf die Hilfe Gottes, bringe demErzherzog und seiner Tochter meine innigsten Grüßeund Wünsche.«

Die Prinzessin küßte die Hand ihres Vaters, und,mit wehmüthigem Lächeln den Cabinetsrath, den altenVertrauten der königlichen Familie begrüßend, ging siehinaus.

»Wie schwer ruht Gottes Hand auf diesen beidenKindern,« sagte der König, »meine arme Tochter ist vonihrer Heimath, dem Lande bei tausendjährigen Herr-schaft ihrer Ahnen, verbannt, und ihre Freundin, aufden Stufen des Kaiserthrons, muß aus dem blühenden,glänzenden Leben in das Grab steigen, um durch dasGrab zum ewigen Leben zu gehen,« fügte er hinzu, dasAuge nach oben richtend. – »Welches Loos ist das här-tere?« flüsterten leise seine Lippen.

»Haben Ew. Majestät noch weitere Befehle?« fragteder Geheime Cabinetsrath nach einem längeren Still-schweigen.

»Nein,« sagte der König aufathmend, »veranlassenSie schnell den Avis nach Paris, damit dieser Douglasdort nicht schaden kann, ich will etwas allein bleiben.«Und freundlich das Haupt neigend, entließ er den Ca-binetsrath.

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Mit raschem Trabe fuhr die Prinzessin, von der Grä-fin Wedel begleitet, durch die dunkelgrünen Schat-ten der weiten Alleen des Parkes von Schönbrunn,nach dem stillen kaiserlichen Schlosse nach Hetzen-dorf. Diensteifrig eilten die kaiserlichen Lakaien an denSchlag, als der offene Wagen mit der scharlachrothenLivrée des Königs von Hannover in den Schloßhof ein-fuhr.

Athemlos sprang die Prinzeß Friederike aus dem Wa-gen.

»Wie geht’s der Erzherzogin?« fragte sie, schnell indas große Portal eintretend, während die Gräfin Wedellangsam folgte.

Die tiefernsten Mienen der Lakaien waren die einzi-ge Antwort auf die angstvolle Frage der Prinzessin, undin düsterem Schweigen schritt der auf die Nachrichtvon der Ankunft Ihrer Königlichen Hoheit schnell her-beigeeilte Graf Braida der Prinzessin nach den für dieleidende Erzherzogin eingerichteten Gemächern vor-an.

Fast zögernd trat die Prinzessin durch die geöffne-te Thür. In banger Erwartung richtete sich der tiefeBlick ihres großen Auges unter dem Schatten der lan-gen Wimpern empor in das Innere des durch die ge-schlossenen Vorhänge tief verdunkelten Zimmers.

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In einer großen Badewanne, mit einer Decke vondunklem Sammt verhüllt, lag die Erzherzogin Mathil-de. Der bekannte Doctor Hebra hatte dieses Bad ver-ordnet, um die entsetzlichen Schmerzen der Brand-wunden zu lindern und den Zutritt der Luft abzuhal-ten.

Nur das schöne Gesicht der Erzherzogin war sicht-bar. Todtenbleich und marmorähnlich lag sie da,schmerzhaft zuckten die geschlossenen Lippen, undder Blick des sonst so fröhlichen, dunklen Auges schi-en Bildern zu folgen, welche nicht mehr der irdischenWelt angehörten.

Neben seiner Tochter saß der Erzherzog Albrecht,in sich zusammengesunken und mit aller Anspannungseiner Willenskraft den furchtbaren Schmerz nieder-drückend, der die weichen Züge seines Gesichts durch-zuckte.

Bei dem leisen Rauschen der Robe der Prinzessinwendete die Erzherzogin langsam den Blick der Thürzu. Ein freudiger Schimmer erleuchtete ihr durchsich-tiges, blasses Gesicht und kaum hörbar hauchten ihreLippen:

»Meine süße Friederike, meine einzige Freundin!«In einem Augenblick war die Prinzessin zu ihrer

Freundin geeilt, während der Erzherzog sich langsamund ernst erhob. Sie sank neben der Badewanne aufdie Knie nieder, breitete die Arme über die Sammt-decke und drückte ihre frischen Lippen in zärtlichen

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Küssen auf die bleiche Stirn und das glänzende Haarihrer Freundin.

Ihre mühsam erhaltene Fassung verließ sie, und oh-ne ein Wort hervorbringen zu können, sank sie in lei-sem Schluchzen in sich zusammen.

Mit leiser, zitternder Stimme sprach die Erzherzogin:»Ich danke dir, daß du gekommen bist, meine liebe,

einzige Freundin, um mir den letzten Blick auf dieserschönen Welt zu verklären. Siehst du,« fuhr sie mit er-höhter Stimme fort, »als wir im Garten der Villa Braun-schweig über die Zukunft sprachen, da fürchtete ich,einer Krone dieser Welt geopfert zu werden, Gott hatmich gehört und ruft mich empor zu seiner ewigenWelt, und doch – doch – oh, es ist so schön, zu leben,und fast will mein Herz verzagen, die Welt voll Blu-men und Sonnenschein zu verlassen, und gerade jetztzu verlassen, wo ich die schönste Blüthe des Lebens inmeiner einzigen geliebten Freundin gefunden habe.«

Der Erzherzog war an ein Fenster getreten. Fest um-spannte seine Hand die Lehne eines Sessels, er biß dieZähne auf die weit hervorstehende habsburgische Un-terlippe und sein Blick richtete sich mit dem Ausdruckder Frage, fast des düsteren Vorwurfs, zum Himmel.

Die Prinzessin Friederike machte eine gewaltige An-strengung, um die Herrschaft über sich selbst zu ge-winnen, und indem sie ihren schmerzbewegten Zügeneinen heiteren Ausdruck zu geben versuchte, sagte sie

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mit einer durch die gewaltige Willensanstrengung fastrauh klingenden Stimme:

»Du wirst leben, meine theure Mathilde. DeineSchmerzen zeigen dir Alles im schwärzeren Licht, dieÄrzte haben die beste Hoffnung.«

Sie konnte nicht vollenden, ein Schluchzen unter-drückte ihre Stimme.

»Nein,« sagte die Erzherzogin mit sanftem und er-gebenem Lächeln, »meine irdische Laufbahn ist been-det, ich sehe von Zeit zu Zeit bereits den Himmel sichöffnen, ich sehe auf weißer Wolke die große Märtyre-rin unseres Hauses, Marie Antoinette, erscheinen, ei-ne weiße Lilie, mit rothen Blutstropfen besprengt, inder Hand, sie winkte mir, und dann,« fuhr sie flüsterndfort, »sah ich auch meinen Oheim Maximilian; auch ergrüßte mich, er lebt noch, aber er wird bald mit mirdort oben sein im ewigen Reich des Friedens.«

Die Prinzessin hatte ihre Fassung völlig verloren.Laut weinend lag sie auf ihren Knieen, den Kopf aufden Rand der Badewanne gelehnt.

»Und du, meine süße Freundin,« sprach die Erzher-zogin leise weiter, »du wirst vielleicht bestimmt sein,das zu vollenden, wozu man mich ersehen hatte, umdie weiten Combinationen der Politik zu erfüllen, duhast den großen Geist, das feste Herz, den hohenMuth, du wirst –«

»Um Gotteswillen,« rief die Prinzessin, das Haupt er-hebend und tief erschrocken in das fast überirdisch

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verklärte Gesicht der Erzherzogin blickend, »welcheIdeen, du wirst nicht glauben –«

Ehe die Erzherzogin antworten konnte, öffnete sichrasch die Thür und der Kaiser Franz Joseph trat in dasZimmer.

Die Prinzessin erhob sich rasch, und während derKaiser, der ihr stumm die Hand geküßt und den Erz-herzog mit einer Neigung des Hauptes begrüßt hatte,seinen Platz neben der Badewanne einnahm, verließsie nach einem langen Blick, den Finger auf die Lippenlegend, das Zimmer, stieg mit der Gräfin Wedel, welchesie draußen erwartet hatte, in den Wagen und fuhr, dieAugen mit dem Taschentuch bedeckend, schweigendnach Hietzing zurück.

SIEBENUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Tiefe Stille erfüllte die weiten kühlen Gewölbe deralten Notredame-Kirche, welche feierlich und würde-voll daliegt inmitten des wogenden und drängendenTreibens von Paris, seit Jahrhunderten umdrängt vondem stets wechselnden Wellenschlage des vielgestalti-gen, zu immer neuen Formen sich bildenden Lebensdieser Metropole der unruhig brausenden französi-schen Nation.

Leichte kleine Weihrauchwölkchen stiegen zu denhohen Gewölben empor, welche durch die Lichter derfarbigen Rosenfenster mit magischen Reflexen erleuch-tet wurden; es war die Zeit der Morgenmesse, das

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heißt der Morgenmesse für die vornehme Welt, die erstgegen elf Uhr ihre Pflicht gegen Gott zu erfüllen denkt,während die Arbeiter schon früh um sechs Uhr ihreMesse hören, bevor sie ihr mühsames Tagewerk begin-nen.

Während die Töne des Meßgesanges durch den wei-ten Raum erklangen, knieten in den Betstühlen umherdie Damen der großen Welt in der frischesten und ele-gantesten Morgentoilette theils in wirklicher Andacht,theils in conventioneller Devotion, wie sie der gute Tonerfordert, ihre Häupter neigend vor dem Allerheilig-sten.

In nicht minder leichter und eleganter Toilette sahman vermischt mit jenen Frauen, welche die ältestenund vornehmsten Namen Frankreichs trugen, die her-vorragenden Damen der Halbwelt, und sie neigten ih-re Häupter mit nicht geringerer Devotion als jene. Woaber in den Herzen die größere Andacht sein mochte,das konnte allein Der sehen, dessen heiliges Symbolder Priester am Altar emporhob; Er, der durch die Ge-wölbe der hohen Kathedrale herabblickt, wie durch dieDächer der niederen Hütten, der gütig die Salben derMagdalena annahm, und von dessen göttlichen Lippendie Mahnung erklang: »Wer unter euch ohne Sünde ist,der werfe den ersten Stein auf sie.«

In der Nähe des großen Einganges, ziemlich fern vondem Altar, an welchem die Messe gelesen wurde, standder Graf Rivero neben einem der mächtigen Pfeiler,

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welche die hohen Gewölbe des alten Domes tragen. Inernster Andacht folgte er der heiligen Handlung. Ne-ben dem Ausdruck dieser Andacht lag auf seinen Zü-gen ein Schimmer von Glück und Dankbarkeit, welchersein ernstes Gesicht wie mit einer sonnigen Verklärungüberhauchte; es schien, als wolle er dem Gott der Lie-be und Gnade, dessen Hochamt hier gefeiert wurde,den besonderen Dank seiner Seele darbringen für dieFügung, durch welche sein Leben wieder Wärme undLicht erhalten hatte.

Die Eingangsthür öffnete sich, man hörte das leichteRauschen einer duftig frischen Damentoilette. Unwill-kürlich wendete der Graf seinen Blick nach der Rich-tung des Einganges hin und sah die Marchesa Pallanzo-ni, ganz in helle Farben gekleidet, in die Kirche treten.Ihr wunderbar schönes Gesicht war frisch wie immer,ihre großen, dunklen Augen waren halb niedergeschla-gen und ihre Züge wie ihre ganze Haltung trugen denAusdruck frommer Demuth. Sie war ein Bild einer Da-me der höchsten Aristokratie, welche von den Höhendes Lebens herabsteigt, um sich vor dem Altar nieder-zuwerfen und allen irdischen Stolz zu den Füßen Got-tes niederzulegen.

Sinnend, mit dem Ausdruck leichten Erstaunens,ruhte das Auge des Grafen auf dieser Frau. Niemandkannte wie er die tiefen Abgründe ihrer Seele, unddoch mußte er sich sagen, daß dieser Ausdruck von

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Demuth und Frömmigkeit, der wie eine leichte, durch-sichtige Wolke über der weltlichen Eleganz ihrer Er-scheinung lag, so echt und wahr erschien, daß mankaum an Heuchelei hätte denken können.

Mit langsamen, fast schüchternen Schritten nähertesich die Marquise dem Pfeiler, an dem der Graf stand,und neben welchem zugleich sich die Schale mit demgeweihten Wasser befand. Langsam schlug die jungeFrau die Augen empor, fragend und erwartungsvollruhte ihr Blick auf dem Grafen. Die Höflichkeit er-forderte, daß er ihr den Wedel mit dem Weihwasserdarbot. Langsam trat er einen Schritt vor, es war, alsob ihn eine innerliche Warnung zurückhielt, die Handdieser Frau mit einem Symbol seines Gottesdienstes inVerbindung zu bringen. Doch, wie einem raschen Ent-schluß folgend, trat er an den steinernen Kessel heran,tauchte den Wedel in das geweihte Wasser und sprachleise, indem die junge Frau ihre Fingerspitzen benetz-te und das Zeichen des Kreuzes auf ihrer Stirn machte:»Möge dieses reine und heilige Wasser Ihre Seele rein-waschen von aller Schuld«.

Das dunkle Auge der Marquise blitzte bei diesen, nurihr hörbaren Worten einen Augenblick unter den de-muthsvoll gesenkten Wimpern empor. Es lag in die-sem Blick ein unbeschreiblicher Ausdruck von Hohnund Herausforderung, ja fast wildem Hasse, so daßder Graf wie entsetzt zusammenzuckte. Doch in dernächsten Secunde war dieser Blick wieder unter den

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Augenlidern verschwunden, die Marquise neigte ernstund dankend das Haupt und begab sich zu einem dernächsten Betstühle, in welchen der ihr folgende Lakaiein Kissen von dunkelblauem Sammt niedergelegt hat-te.

Die heilige Handlung nahm ihren Fortgang, bald er-tönte das Ite missa est durch die feierliche Stille alsLoosung für diese ganze hier versammelte eleganteWelt, sich wieder zurückzubegeben in das glänzende,funkelnde und blühende Leben, nachdem man von al-len dem Vergnügen geweihten Stunden einige Augen-blicke geopfert hatte, um sich mit dem Himmel auf gu-tem Fuße zu erhalten.

Die Marquise hatte ihren Betstuhl verlassen undschritt langsam, immer den Ausdruck tiefer Bewegungund Andacht auf ihren Zügen, dem Ausgangsportal zu.

Der Graf Rivero näherte sich ihr und sprach im leich-ten Ton des Weltmannes: »Darf ich Sie um einen Platzin Ihrem Wagen bitten? Ich bin zu Fuß hier und möchteden weiten Weg nach den Boulevards abkürzen.«

Die Marquise nickte schweigend ihre Zustimmung;der Graf bot ihr den Arm und führte sie nach ihrerdraußen wartenden Equipage, deren Schlag der Lakaibereits geöffnet hatte.

Schnell zogen die ungeduldig harrenden Pferde anund der Wagen rollte fast unhörbar auf seinen leichtenRädern den neuen und eleganten Stadttheilen zu.

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»Ich habe Sie noch nicht gefragt,« sagte der Graf,»in welcher Weise Sie die Aufgabe erfüllt haben, dieich Ihnen gestellt – Sie haben mir und meiner Sacheeinen großen Dienst geleistet, ich hoffe, daß dabei kei-ne Compromittirung möglich ist.«

»Seien Sie unbesorgt,« erwiederte die junge Frau mitstolzem Lächeln, »ich bin gewohnt, in discreten Dingenzu gehen wie die Indianer auf ihren Streifzügen. Nie-mand wird die Spur meiner Schritte finden. Ich habe–«

»Sie werden mir das später erzählen,« sagte der Graf,»für heute wollte ich Ihnen nur mittheilen, daß ich Ih-nen den jungen Hannoveraner bringen werde, den ichIhnen neulich beim Rennen in Longchamps vorgestellthabe. Sie wissen, daß mich das Treiben der hannoveri-schen Emigration und des Vertreters des Königs Georglebhaft interessirt. Sie werden mit derselben Geschick-lichkeit, die Sie bei Ihrem ersten Auftrage bewährt ha-ben, auch das Ende dieser etwas verschlungenen Fä-den zu finden wissen; vielleicht,« fügte er mit einemkalten Lächeln hinzu, »ist diese Aufgabe schwieriger,doch werden Sie etwas mehr Unterhaltung dabei fin-den.«

Die Marquise neigte das Haupt, und indem sie sichmit einer gewissen graciösen Coquetterie in die Kissenzurücklehnte, sagte sie mit einem lächelnden Seiten-blick:

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»Ich werde versuchen, Sie auch diesmal zufrieden zustellen.«

Der Wagen war die Seine entlang gefahren und indie Nähe der Morgue gekommen, dieses langen, nied-rigen Gebäudes, unter dessen Dache die Leichen derVerunglückten zur Recognoscirung für die Angehöri-gen ausgestellt werden.

Die Marquise warf einen neugierigen Blick auf dieseseinfache Gebäude, das in dem bewegten Mittelpunktedes Pariser Lebens die finster tragischen Lösungen sovieler Lebensräthsel in sich schließt.

»Ist es möglich, Herr Graf,« fragte sie, »einmal die-se Morgue zu betreten, von der ich so viel gehört habe,die mich anzieht wie ein finsterer Abgrund voll entsetz-licher Geheimnisse, und welche ich noch nie gewagthabe allein zu besuchen?«

»Die Morgue steht jedem offen,« erwiederte der Grafernst, »da sie den suchenden Angehörigen Gelegen-heit geben soll, Vermißte aufzufinden; nur läßt sich’snicht vermeiden, daß sie zugleich den neugierigen Pa-risern ein Mittel bietet, ihre überreizten Nerven durchden Anblick grauenvoller Bilder zu kitzeln. Wenn Siees wünschen, werde ich Sie hineinführen,« fuhr er mittiefer Stimme fort, »Sie werden vielleicht Gelegenheithaben, zu sehen, zu welchem Ende Schuld und Ver-zweiflung den irrenden und von Gott abgewendetenMenschen führen können.«

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Wieder schoß aus den Augen der Marquise wie einBlitz jener Blick voll dämonischen Hasses und finste-ren Hohns zu dem Grafen herüber, wie er in der Not-redame ihm erschienen war, aber ebenso schnell, wiedamals, verschwand auch jetzt dieses plötzliche Auf-leuchten wieder unter dem gleichmäßig artigen Aus-druck der Weltdame, und indem sie mit der Spitze ih-res Sonnenschirms leise die Schulter des vor ihr sitzen-den Kutschers berührte, sagte sie in leichtem Ton:

»Ich danke Ihnen, daß Sie meinen Wunsch befrie-digen wollen, der übrigens mehr als bloße Neugierdeist. Da Sie meiner Dienste für Ihre Sache auf den Hö-hen wie in den Tiefen des Lebens bedürfen,« fügte siemit einem fast unmerkbaren Anklang von Ironie in derStimme hinzu, »so darf ich mich nicht scheuen, aucheinen Blick auf den Boden der finsteren Abgründe desmenschlichen Lebens zu thun.«

Der Wagen stand, dem Wink der Marquise gehor-chend, unmittelbar neben dem Eingang zur Morgue.Der Graf bot der jungen Frau mit der ihm eigenthüm-lichen, würdevollen und anmuthigen Eleganz seinenArm und in wenigen Augenblicken traten sie durch dieVorhalle in den so einfachen, von oben her erhelltenRaum, dessen Anblick eben seiner Einfachheit wegeneinen um so erschütternderen Eindruck macht.

Auf den Gestellen, leicht unterspült von stets frischfließendem Wasser, lagen heute fünf Leichen, völlig

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entkleidet, neben dem Gestell hingen die Kleidungs-stücke, und auf kleinen Taburetts lagen die Gegenstän-de, welche man bei den Verunglückten gefunden hatte.

Mit tiefem Ernst sah der Graf Rivero auf diese trauri-gen Überreste, welche die Marquise ihrerseits mit einerNeugierde betrachtete, deren Ausdruck nur durch dasGefühl des natürlichen Schauers gemildert wurde, dendie lebendige, menschliche Organisation instinctmäßigbeim Anblick des Todes empfindet.

Auf dem ersten Gestell, dem Eingänge zunächst, lagdie Leiche eines Knaben von zwei Jahren; eine tie-fe Wunde lief über den Kopf oberhalb der Stirn, dieZüge des jugendlichen Gesichts waren entstellt undschmerzhaft verzogen, der Mund geöffnet, die Augengebrochen, neben der Leiche hingen einige ärmlicheKleidungsstücke.

Während der Graf die Überreste dieses so früh aufgewaltsame Weise dem Leben entrissenen Kindes volltiefen Mitleids betrachtete, eilte die Marquise nach ei-nem flüchtigen Blick auf die kleine Leiche dem näch-sten Tische zu.

Hier lag ein alter Mann von mindestens sechzig Jah-ren, mit struppigem, grauem Bart und spärlichen Haa-ren, die eingefallenen Züge zeigten selbst in dem vor-geschrittenen Stadium der Verwesung, in welchem dieLeiche sich bereits befand, die Spuren tiefen Elends.Kleidungsstücke, welche neben dem Gestell hingen,

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waren durch die lange Zeit, die sie im Wasser zuge-bracht hatten, fast unkenntlich in den Farben gewor-den.

»Welch’ eine wunderbare Zusammenstellung,« sag-te der Graf Rivero langsam, »hier das Kind, kaum indas Leben getreten und schon auf so entsetzliche Weisewieder dem Tode geweiht! Soll man es beklagen oderbeneiden, daß es dieser Welt entrückt wurde, bevor ih-re Schuld und ihre Schmerzen das junge Herz erfas-sen konnten? Und hier daneben,« fuhr er fort, indemsein Blick langsam hinüberglitt zu der Leiche des altenMannes, »hier daneben dieser Greis, den des LebensNoth so schwer gedrückt hat, daß er die kurze Zeitnicht mehr ertragen konnte, die ihn von dem natür-lichen Ende seiner Leiden trennte. Er ist zu beklagen,der Arme, der lange Jahre die Schmerzen des Daseinsertragen, und nun, weil er die erlösende Macht des To-des nicht erwarten konnte, mit der Schuld der Selbst-zerstörung beladen vor dem ewigen Richter erscheinenmußte.«

Er faltete die Hände und sprach ein stilles Gebetüber der entstellten Leiche des alten Mannes.

Flüchtig nur hatte die Marquise seinen Worten zuge-hört und wendete sich zum nächsten Gestell, welchesden todten Körper eines jungen Mädchens trug, diehöchstens einen Tag in den Fluthen der Seine geblie-ben sein konnte, so frisch war die Farbe ihrer Haut und

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der Zustand der saubern Kleidungsstücke, welche ne-ben ihr hingen und deren Schnitt sie als den mittlerenBürgerständen angehörig bezeichnete. Das schwarzeHaar lag, in einfachen Flechten geordnet, um die mar-morbleiche Stirn, und um den geschlossenen Mund sahman die Linien schmerzlicher Seelenkämpfe.

»Armes Kind,« sagte der Graf, »dich hat die Liebedem frühen Tode in die Arme geführt, diese Liebe, wel-che von den Dichtern aller Zeiten als das höchste Glückbesungen wird, und welche doch so selten Glück undFrieden in das Menschenherz bringt; möge die ewigeLiebe milde das Verbrechen richten, zu welchem dichdie irdische Liebe geführt hat.«

Ein leichter Ausdruck des Erstaunens entfuhr denLippen der Marquise, welche sich nach dem nächstenGestell gewendet hatte.

Auf diesem lag der Körper eines jungen Mannes,welcher nach der daneben hängenden Blouse dem Ar-beiterstande angehört haben mußte; fast wie auf ei-nem Ruhebett ausgestreckt sah man die muskelkräf-tig schön gebauten Glieder daliegen, der Kopf mit demschwarzen Haar war etwas zurückgelehnt und das blei-che Gesicht mit den geschlossenen Augen zeigte denAusdruck eines ruhigen, fast lächelnden Friedens.

In diesem leblosen Antlitz aber erkannte die Marqui-se Pallanzoni die Züge von George Lefranc. Dieses ge-schlossene Auge hatte mit so warmer, tiefer Innigkeitdie arme Arbeiterin Louise Bernard angeblickt, dieser

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für ewig geschlossene Mund hatte so treue, liebevolleWorte zu ihr gesprochen, Worte, die hin und wiederlängst vergessene Töne einer reineren Vergangenheit,wenn auch nur in vorübergehender, zitternder Schwin-gung, hatten in ihrem Herzen ertönen lassen, Worte,bei denen es zuweilen leise um ihr Haupt gerauschthatte, wie von dem fern heranwehenden Flügelschlagedes längst entflohenen Schutzgeistes ihrer Kindheit.

Und nun lag dies junge Herz voll Liebe und Hoff-nung erstarrt zum ewigen Schlaf vor ihr, ihr konntekein Zweifel bleiben, was den armen, jungen Mann inden Tod getrieben hatte, sie konnte die Leiden ermes-sen, welche dies Herz bewegt haben mußten, bevor eszu schlagen aufgehört.

Eine dunkle, fliegende Röthe war über ihr Gesichtgeflammt, als sie den Todten erkannte, eine tiefe Blässelegte sich dann über ihre Züge und mit einem wunder-bar tiefen Ausdruck, wie er selten in ihrem Auge zu fin-den war, blickte sie auf den leblosen Körper hin. Es lagetwas in diesem Blick von tiefem Mitleid, ein Schim-mer von Gefühl, von Schmerz, und langsam stieg eineblinkende Thräne in das klare, glänzende Auge her-auf, als sie dies bleiche, in der Erstarrung des Todesso friedlich ruhige Gesicht vor sich sah. Dann glitt ihr

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Blick herab über den schönen Körper des jungen Man-nes, dessen schlanke und kraftvolle Formen dem Mei-ßel eines Bildhauers hätten zum Vorbild dienen kön-nen, ihr Auge verschleierte sich wie mit einer wallen-den Wolke, leicht senkten sich ihre Lider herab und einhalb unterdrückter, tiefer Seufzer drängte sich aus ih-ren Lippen hervor.

Der Graf hatte dies Alles bemerkt – scharf und for-schend sah er sie an.

Rasch wendete sich die junge Frau ab, mit einer kräf-tigen Willensanstrengung gab sie ihrem Gesicht seinengewohnten, ruhigen Ausdruck wieder und mit natürli-chem Ton sprach sie leicht zusammenschauernd:

»Ich habe meine Nerven doch für stärker gehalten,lassen Sie uns gehen, der entsetzliche Eindruck dieserTodesbilder überwältigt mich.«

Noch einmal glitt ihr feuchtschimmernder Blick überdie schöne Gestalt der Leiche, noch einmal drängtesich jener tiefe, schwere Athemzug aus ihren Lippenhervor, dann schritt sie, ohne die andern Leichen wei-ter anzusehen, dem Ausgange zu.

Der Graf blieb einen Augenblick zurück und mach-te langsam das Zeichen des Kreuzes über dem Körperdes jungen Arbeiters, dann folgte er der Marchesa, wel-che bereits die Morgue verlassen hatte, hob sie in ihrenWagen und setzte sich neben sie.

»Nach Hause!« rief die junge Frau, und schnell rollteder Wagen davon.

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In schweigendem Nachdenken saß der Graf einigeAugenblicke da, dann richtete er den Blick voll und festauf die Marchesa, welche, wie dem magnetischen Ein-fluß dieses Blickes gehorchend, die Augen zu ihm auf-schlug und ihn fragend und erwartungsvoll mit einerMischung von Trotz und Demuth anblickte.

»Wer war dieser Todte?« fragte der Graf mit leiser,aber tief durchdringender Stimme.

Wie unwillkürlich zuckte die Marchesa mit den Ach-seln, auf ihrem Gesicht erschien ein Ausdruck, als woll-te sie eine flüchtig ablehnende Antwort geben. Dannaber blitzte es auf wie willenskräftiger Stolz in ihremAuge, und indem sie den Grafen gerade und fast starranblickte, sagte sie in ruhigem Ton, durch den aber ei-ne leise Bewegung hindurchklang:

»Er war das Werkzeug, durch welches ich Ihren Auf-trag ausgeführt habe – er liebte mich, wie ich glaube,tief und innig – er ist an dieser Liebe und an der Täu-schung seines Herzens gestorben, das hat mich bewegtund schmerzlich ergriffen, vielleicht,« fuhr sie halb fürsich fort, »ist es besser für ihn so, was hätte das Le-ben ihm bieten können, dessen Geist aufwärts strebte,während seine Lebensstellung ihn mit unlösbaren Fes-seln an die Niedrigkeit geschmiedet hielt!«

Der Graf schwieg abermals lange und blickte düstervor sich hin.

»Ich werde dafür sorgen,« sagte er dann, »daß die-ser arme, junge Mann eine würdige Ruhestätte finde,

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und nicht an die anatomischen Säle ausgeliefert wer-de. Sie aber –« fuhr er dann fort, seine Hand leicht,aber mit kräftigem Druck auf diejenige der Marquiselegend, »Sie aber beugen sich in Demuth und Reue vorGott, daß er Ihnen die Zerstörung dieses jungen Le-bens voll Hoffnung und Liebe vergeben möge, das Sievor der Zeit vernichtet und zu einem Tode voll finstererVerzweiflung gedrängt haben.«

Rasch in elastischer Bewegung schnellte der ge-schmeidige Körper der Marchesa empor, ihre Augensprühten Blitze flammenden Stolzes, in höhnischemLächeln kräuselten sich ihre schönen Lippen, daßdie weißen Zähne schimmernd hervortraten, und mitscharfer Stimme, fast dem Zischen der zur Verteidi-gung sich aufraffenden Schlange vergleichbar, sprachsie:

»Ich habe bei dem Anblick dieses armen Todten Reueund Schmerz empfunden, und wenn ich glaubte, daßes eine ewige Macht gäbe, zu der mein Gebet em-pordringen könnte, so würde ich täglich für diese ar-me Seele beten, die sich voll Innigkeit mir angeschlos-sen hatte, und die mir Alles geben wollte, was sie anReichthum von Liebe und Treue zu bieten hatte. Sieaber, Herr Graf,« fuhr sie fort, indem ihr Haupt sichnoch höher und stolzer emporrichtete und indem ih-re Augen in kühner Herausforderung den Blicken desGrafen begegneten, »Sie aber haben kein Recht, michzur Buße und Reue zu ermahnen, denn wenn hier von

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einer Sünde, von einem Verbrechen die Rede ist, so istes diesmal nicht das Weib, das dem Manne den Apfelgereicht hat!«

»Welche Sprache –« sagte der Graf mit einem Erstau-nen, das fast den Ausdruck des Schreckens vor der soplötzlichen Auflehnung dieser Frau zeigte, die er ganzin seiner Hand zu halten meinte, »welche Sprache –Sie vergessen –«

»Ich vergesse nichts,« erwiederte die junge Frau,ihn unterbrechend, immer in demselben festem, schar-fen und zischend hervordringenden Ton, »ich vergessenichts und ich spreche die Sprache, zu der ich berech-tigt bin. Ich habe viel Schuld auf mich geladen,« fuhrsie fort, »und alle Sünde, die ich begangen aus demTriebe meiner eigenen Wünsche, will ich tragen undverantworten – die That aber, die hier geschehen, istnicht die meine und nimmer hätte ich sie um meinet-willen gethan. Sie, Herr Graf, haben mir gesagt, daßich mich von der Schuld meines früheren Lebens ent-sühnen könne, indem ich an Ihrer Hand als Ihr Werk-zeug einer großen und heiligen Sache diene, einer Sa-che, von deren Sieg das Wohl der Menschheit abhin-ge und der Sie Ihr Leben gewidmet hätten. Ich habediesen Dienst angenommen, und in dem Dienst jenerSache haben Sie mir den Auftrag gegeben, Ihnen denInhalt der bekannten Cassette zu verschaffen, Sie ha-ben mir den Weg angedeutet, den ich zu gehen habe,um mein Ziel zu erreichen, und ich bin ihn gegangen

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in der vollen Überzeugung, daß der Weg, auf den Siemich gewiesen,« fuhr sie mit tief einschneidender Iro-nie fort, »der rechte und ein dem Himmel wohlgefälli-ger sei. Ich habe meinen Zweck erreicht, Sie haben mirIhre Zufriedenheit darüber ausgedrückt – und wennder Erreichung jenes Zweckes ein Opfer gefallen ist,so habe ich mir wahrlich dabei keinen Vorwurf zu ma-chen, denn nicht um meiner Wünsche willen habe ichmich in den Lebenskreis jenes armen, jungen Mannesgedrängt, nicht um meinetwillen habe ich seine Liebemir erworben. Er sollte das Werkzeug sein für Ihre Pla-ne, er ist es geworden, und wenn nun das Werkzeugzerbrochen ist – so ist das nicht meine Schuld, sonderndie Schuld des Meisters, der meiner Hand sich bedien-te, um jenes Werkzeug in Thätigkeit zu setzen. Wennich die Schwäche habe – und ich habe sie, den Armenzu bedauern, so ist das eine Sache meines Herzens undmeines Gefühls, Sie aber, dessen Befehlen ich gehorcht,haben kein Recht, mir einen Vorwurf zu machen.«

Der Graf hatte schweigend zugehört, endlich wichder Ausdruck des Erstaunens und der Überraschungaus seinen Zügen, eine schnelle Röthe flammte übersein Gesicht, und indem er seinen Blick von oben her-ab über die ganze Gestalt der jungen Frau gleiten ließ,sprach er in kaltem Ton:

»Sie führen eine Sprache, die Ihnen nicht ziemt, ichbitte Sie, niemals zu vergessen, daß ich Sie in meiner

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Hand halte und zertrümmern kann, wenn Sie den Ge-horsam vergessen.«

»Nicht in dieser Sache halten Sie mich in Ihrer Hand,Herr Graf,« rief die junge Frau, »was ich gethan habe,haben Sie mich zu thun geheißen, und die Früchte mei-ner That, wenn sie strafbar ist, sind in Ihren Händen,die Verantwortung, die mich träfe, würde in demselbenAugenblick auf Sie zurückfallen.«

Der Graf erhob sich fast von den Kissen des Wagens,seine Augen flammten in so gewaltigem Zorn, daß die-ser Blick, wenn er ein körperliches Fluidum gewesenwäre, die Marchesa wie ein Wetterstrahl hätte vernich-ten müssen.

Noch bevor er aber ein Wort gesprochen hatte, schi-en ein schneller Gedanke die junge Frau zu erfüllen,ein schneller Entschluß ihre Erregung niederzukämp-fen.

Der höhnische Ausdruck verschwand von ihren Lip-pen, ihre Augen senkten sich zu Boden, und als siedieselben wieder aufschlug, blickten sie demüthig undsanft zu dem Grafen hinüber.

Indem sie die Spitzen ihrer mit den zierlichen, hell-grauen, schwedischen Handschuhen bekleideten Fin-ger wie bittend an einander legte, sagte sie mit einerStimme, deren Weichheit keine Spur mehr von demfrüheren scharfen, schneidenden Ton ihrer Worte hat-te:

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»Ich bitte um Verzeihung, mein Meister, daß ich michvon meiner Erregung habe hinreißen lassen – Sie wis-sen, wie schwer ich an eigener Schuld zu tragen habe,so schwer,« sprach sie leise, »daß ich wohl befugt bin,mich zu sträuben, eine Schuld auf mich zu nehmen,die nicht die meine ist, wie Sie anerkennen werden,wenn Sie gerecht gegen mich sein wollen. – Mein Ge-horsam,« fuhr sie fort, »ist unbedingt und durch mei-nen Gehorsam gerade ist ja dies Opfer gefallen, fürdas, wie ich Ihnen aus voller Überzeugung schon ge-sagt habe, der Tod wohl eine Wohlthat ist, da er ihnvon den Kämpfen des Lebens erlöst hat, die seinen ar-men, schwer arbeitenden Geist vielleicht zu der Nachtdes Wahnsinns geführt hätten.«

Der Graf sah sie mit einem langen Blicke an, der zor-nig überlegene Ausdruck verschwand von seinem Ge-sicht, eine stille, traurige Wehmuth verschleierte seinesoeben noch Flammen sprühenden Augen, und sich indie Kissen zurücklehnend, blieb er schweigend nebender Marchesa sitzen.

»Sie werden mir also den Baron Wendenstein zu-führen?« fragte diese, als der Wagen sich ihrer Woh-nung näherte, »jenen jungen Hannoveraner, mit wel-chem ich wohl keine so tragische Wendung zu befürch-ten habe, als mit dem unglücklichen George Lefranc.«

Der Graf antwortete nicht sogleich.

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»Ich werde darüber nachdenken,« sagte er nach ei-ner Pause, »ob der Zweck, den ich im Auge habe, dasSpiel mit diesem jungen, frischen Herzen werth ist.«

Ein leichtes, fast unbemerkbares Lächeln zitterteüber die Lippen der Marchesa.

Der Wagen hielt vor ihrer Wohnung.»Darf ich Sie nach Hause fahren lassen?« fragte die

junge Frau, als der Graf ihr die Hand zum Aussteigenreichte.

»Ich danke,« erwiederte er, »ich will zu Fuß gehen.«Und mit artiger Verbeugung wollte er sich verab-

schieden, als in demselben Augenblick der Lieutenantvon Wendenstein aus der Thür des Hauses trat.

Befremdet blickte der Graf ihn an, während die Mar-chesa mit anmuthigem Lächeln den Gruß des jungenMannes erwiederte, indem ein leichter Schimmer tri-umphirender Freude aus ihrem Blicke leuchtete.

»Sie haben mir neulich erlaubt, Frau Marquise,« sag-te der junge Mann, »mich Ihnen vorzustellen, und ichwollte soeben von dieser gütigen Erlaubniß Gebrauchmachen; zu meinem tiefen Bedauern waren Sie nichtzu Hause, und ich habe meinem glücklichen Stern zudanken, der mich Ihnen jetzt gerade entgegenführt.«

»Es thut mir leid, mein Herr,« erwiederte die jun-ge Frau mit verbindlicher Höflichkeit im vollendetstenTon der großen Welt, »daß ich nicht im Stande bin, Sie

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einzuladen, mich jetzt wieder in meinen Salon zu be-gleiten. Ich bin erschöpft und habe dann meine Toilet-te zu machen. Aber ich empfange Abends immer undheute abend werden Sie mich sicher zu Hause finden.Ich darf Ihnen also sagen: Auf Wiedersehen!«

Sie reichte dem Grafen die Hand, der sie mit einemleichten Zögern ergriff und unhörbar flüsterte: »Ist dasdie Hand des Verhängnisses?« –

Die Marquise nickte dem jungen Mann einen freund-lichen Gruß zu und stieg dann schnell die Treppe zuihrer Wohnung hinauf.

»Nach welcher Richtung gehen Sie, Herr Graf?« frag-te Herr von Wendenstein, »ich wollte ein Wenig zurAusstellung.«

»Sie werden dort dem Vicekönig von Egypten begeg-nen, er ist vorgestern angekommen und will heute dieegyptische Abtheilung besuchen,« sagte der Graf, in-dem er den jungen Mann mit einem langen und tiefenBlick ansah, der wenig zu dem einfachen und gleich-gültigen Inhalt seiner Worte paßte, »ich will nach Hau-se zurückkehren und habe die Ehre, Ihnen viel Vergnü-gen zu wünschen.«

Es schien, als wolle er noch etwas sagen, doch reich-te er Herrn von Wendenstein die Hand, und artig denHut berührend, wendete er sich um und schritt lang-sam das Trottoir entlang, während der junge Hanno-veraner einen vorüberfahrenden Fiacre heranrief, umnach dem Champ de Mars hinauszufahren.

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»Darf ich diesen jungen Mann in die Gefahr sichstürzen lassen, die ihm bei dieser Frau droht? – Ist esnicht meine Pflicht, ihn zu warnen?« fragte er sich lei-se, »doch,« fuhr er fort, »was sollte er denken, wennich ihn vor einer Frau warnte, der ich ihn selbst vor-gestellt habe, und würde diese Warnung irgend einenErfolg haben? – Ich will über ihm wachen,« sagte ertief aufathmend, »und Gott wird mir die Kraft geben,zu verhüten, daß hier ein zweites Trauerspiel gespieltwerde.«

Langsam schritt er weiter seiner Wohnung zu.In seinem Salon angekommen, öffnete er einige Brie-

fe, die er auf seinem Tische fand, durchflog deren In-halt flüchtig und trat dann sinnend an das Fenster.

»Ich habe einen tiefen Blick in das Innere dieser Fraugethan,« sagte er seufzend zu sich selbst, »und Ent-setzen erfaßt mich bei dem Gedanken an den dämo-nischen Abgrund in dieser Seele, die ich zu meinemWerkzeug gemacht habe. Im tiefsten Grunde ihres Her-zens schläft die Auflehnung gegen meine Macht, sieschäumt in den Zügel und wird jede Gelegenheit su-chen, ihn abzuschütteln. – Und habe ich diese Machtnoch,« sagte er mit einem tiefen Athemzug, »ich warihr Herr – kann ich es noch sein, da ich ihr Mitschul-diger bin? – Ihr Mitschuldiger?« rief er, sich hoch auf-richtend, »kann es eine Schuld geben in dem großen,gewaltigen Kampf für das heiligste und höchste Ziel?– Und wenn ich, mich selbst vergriffe in der Wahl der

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Mittel, wenn meine Brust erfüllt ist vom edelsten Stre-ben, wenn ich das Gute im weitesten Kreise erziele,kann ein Übel, das den Einzelnen treffen möchte, mirangerechnet werden vor dem Richter, für dessen Machtund Herrlichkeit ich streite? – Den Einzelnen?« fuhr erin finsterem Sinnen fort, »giebt es einen Einzelnen vorGott, ist das einzelne Menschenherz nicht eine Weltin den Augen desjenigen, der die Sperlinge auf demDache schützt und jedes Haar unseres Hauptes behü-tet?«

Lange stand er schweigend.»Also auch in dies Herz,« sagte er dann, »auch in

dies Herz, das ich so fest gepanzert glaubte, drin-gen die Zweifel der schwachen Seelen, auch mich willdie Schwäche beschleichen, die ermatten läßt in dergroßen Arbeit für den Ruhm Gottes und den Sieg derKirche? – Nein,« rief er, sich stolz emporrichtend unddas große Auge mit begeistertem Blick aufschlagend,»nein, kein Zweifel, keine Schwäche soll mein Herzkrank machen; mit Feuer und Schwert muß der Siegüber die Mächte der Finsterniß erfochten werden, da-mit die Palme des heiligen Friedens die geläuterte undzum Dienste Gottes zurückgekehrte Welt beschattenkönne.«

Wieder aber verschleierte sich sein verklärt aufwärtsschauendes Auge, schmerzlich zuckte seine Lippe undfinsterer Ernst legte sich auf seine Stirn.

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Wie ermattet brach seine stolze Haltung zusammen,langsam ließ er sich in einen Lehnstuhl niedersinken,bedeckte das Gesicht mit den Händen und sprach mittief trauriger, zitternder Stimme:

»Eritis sicut deus!«

ACHTUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Zwei Monate waren verflossen, seit die Beherrscherder großen Militairreiche von Preußen und RußlandParis wieder verlassen, und die Conjecturalpolitik, wel-che infolge ihrer Zusammenkunft die Presse und diepolitischen Clubs so lebhaft bewegt hatte, schwieg; diePariser, nachdem sie sich in dem strahlenden Glänzeder politischen Herrlichkeit des Kaiserthums gesonnthatten, freuten sich nunmehr an der, mit der hohenSommersaison in der Hauptstadt immer reicher zu-sammenströmenden Fülle der Fremden aus allen Welt-theilen.

In all die schimmernde, bunte Pracht des üppigenLebens, welches sich in der Capitale Frankreichs ent-wickelte, war wie eine düstere Mahnung der finsterenSchicksalsmächte die Nachricht herüber gedrungenvon dem furchtbaren Trauerspiel, dessen Entwickelungjenseits des Oceans auf dem blutigen Sand des Gra-bens von Queretaro den Leichnam des edlen Erzher-zogs niedergestreckt hatte, der sein Leben an die phan-tastische Aufgabe setzte, die Wilden von Mexico zu ci-vilisiren. Wie ein düsteres Gespenst war das Bild des

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Ermordeten durch die rauschenden Feste der Weltaus-stellung dahin geschritten, für einen Augenblick allediese jubelnden, fröhlichen Menschen in starrem Ent-setzen versteinernd. Die Feinde des Kaiserthums hat-ten in hohen Tönen die Schuld verkündet, welche derschweigsame Imperator an dem furchtbaren Ende ei-nes reichbegabten, fürstlichen Lebens trug. Mehr oderweniger deutlich hatte man die Rachegeister heraufbe-schworen, an dem Haupte des Schuldigen Vergeltungzu üben, und es wäre diesen Stimmen in der Presseund den Clubs vielleicht gelungen, einen Sturm derEntrüstung gegen Napoleon in der so sein und ritter-lich fühlenden französischen Nation zu erregen, wennnicht die täglich wechselnden, farbenschimmerndenund aufregenden Bilder des Ausstellungstreibens al-le tieferen Eindrücke schnell wieder verwischt hätten.So aber war das blutige Drama nach dem ersten er-schütternden Eindruck bald wieder vergessen worden,wie man ja in Paris Alles so schnell wieder vergißt,mag es dem Bereich des heiteren Gesellschaftslebensoder dem Gebiete der ernsten Weltereignisse angehö-ren. Der finstere Schatten des gemordeten Kaisers warvorübergeschwebt; hinter ihm schlugen die Wogen desrauschenden Bacchanals der Lust höher und voller zu-sammen, und es gehörte zur Mode, nicht mehr von derCatastrophe zu sprechen, welche das stolzeste Herr-scherhaus Europas so tief und schmerzlich getroffenhatte. Länger und ernster bewegt blieben die Freunde

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des Kaisers und der kaiserlichen Herrschaft. Trotz al-ler Andeutungen in den officiösen Blättern aller Schat-tirungen war es doch ein offenes Geheimniß, daß derWunsch einer politischen Annäherung an Rußland undeiner ausgleichenden Verständigung mit Preußen nichterfüllt war. Man wußte sehr gut, daß der Kaiser Alex-ander voll tiefer Verstimmung über die Beleidigung,deren Gegenstand er von Seiten der radikalen Advoca-ten gewesen war, und über das Attentat, welches seinLeben bedroht hatte, aus der französischen Hauptstadtin sein Reich zurückgekehrt war; man wußte ebenso,daß trotz der ritterlichen Courtoisie, mit welcher derKönig Wilhelm die liebenswürdigen Aufmerksamkei-ten des Kaisers und der Kaiserin empfangen hatte, den-noch alle politischen Verständigungsversuche Napole-ons bei dem eisernen Grafen von Bismarck nur eineebenso höfliche, als kalte Ablehnung gefunden hatten.Es blieb also für die französische Politik nur ein einzigmöglicher Weg offen, der des innigen Anschlusses anÖsterreich und der festen Alliance mit dieser Macht,welche zwar durch den schweren Schlag des letztenJahres hart daniedergeworfen war, von der man aberhoffte und erwartete, daß sie unter der Herrschaft derneuen, freien Ideen des Herrn von Beust bald wiederdie reiche Kraft gewinnen werde, welche bei einer rich-tigen Pflege ihrer inneren Lebenselemente sich natur-gemäß entwickeln mußte. Man wußte, daß der Kaiser

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Napoleon mit allem Eifer nach dieser Alliance streb-te, daß Herr von Beust für dieselbe äußerst günstiggesinnt sei, daß der Fürst Metternich seine ganze di-plomatische Geschicklichkeit entwickelte, um die gu-ten Beziehungen zwischen den Höfen von Wien undParis immer inniger und fester zu knüpfen. Aber manfürchtete, daß das persönliche Gefühl und der Stolzdes Kaisers Franz Joseph zurückschrecken werde vorder Alliance mit Frankreich, dessen Cäsar einen Spros-sen des habsburgischen Hauses dem frühen und ent-setzlichen Tode überliefert hatte.

Mit um so größerer Freude begrüßten deshalb al-le Freunde des Kaiserthums die Nachricht, das derKaiser Napoleon dem Kaiser Franz Joseph in Salz-burg einen Besuch abstatten werde und daß, um denfreundschaftlichen Charakter dieser Zusammenkunftnoch mehr und deutlicher hervortreten zu lassen, diebeiden Kaiserinnen ebenfalls in Salzburg anwesendsein würden.

Damit war die Wolke verschwunden, welche zwi-schen den beiden auf einander angewiesenen Rei-chen aus dem mexikanischen Abgrunde emporgestie-gen war, und abermals füllten sich die Spalten derJournale von Frankreich und von ganz Europa mit lan-gen Artikeln über die Bedeutung der Zusammenkunftvon Salzburg und über die Zwecke und Folgen einer

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französisch-österreichischen Alliance. Mit schadenfro-her Genugtuung reproducirten die französischen Blät-ter die Äußerungen des Mißbehagens und Mißtrauens,mit denen die preußischen Zeitungen die Nachrichtvon jener Zusammenkunft aufnahmen.

Neben diesen politischen Conjecturen unterließ dieöffentliche Meinung aber nicht, sich zugleich mit derZusammenkunft der beiden Kaiserinnen zu beschäfti-gen. In officiös wichtigem Ton wurden die Toiletten-angelegenheiten der hohen Damen behandelt, und dieelegante Welt in Wien und Paris blickte mit gespann-tem Interesse der Begegnung dieser zwei fürstlichenFrauen entgegen, welche jede in dem Reiche, des-sen Thron sie theilten, zugleich in unbestrittener Herr-schaft den Scepter der Anmuth und Eleganz trugen.

Man vergaß einen Augenblick selbst die Ausstellungund ihre Wunder, man vergaß den Vicekönig von Egyp-ten und seine schwarzen Nubier, man vergaß selbstden Besuch des Sultans, diese unerhörte Infraction indie alte Etiquette des mohammedanischen Orients, umsich nur noch mit der Zusammenkunft in Salzburg zubeschäftigen, und während die Politiker der Diploma-tie und Presse mit gespannter Aufmerksamkeit allenGerüchten lauschten und tausend Combinationen bil-deten und wieder verwarfen, ergingen sich die Damen,diese schönere und so unbedingt herrschende Hälfteder pariser Welt, in ebenso zahlreichen und ebenso

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schnell wechselnden Conjecturen über den großen Toi-lettenwettstreit, der zwischen den beiden Kaiserinnenvor den Augen der eleganten Welt Europas stattfindensollte.

Der Kaiser Napoleon war, wo man ihn sah, von ei-ner unzerstörbaren Heiterkeit und einer bezauberndenLiebenswürdigkeit. Wohl zeigten seine Züge zuweilenden Ausdruck leidender Abspannung, wohl blieb seinAuge trübe verschleiert, aber sein Mund lächelte, undwenn er sprach, so waren es Worte der verbindlich-sten Artigkeit oder der stolzesten Zuversicht, welchevon seinen Lippen flossen, in der feinen, scharfen undstets so vieldeutigen Ausdrucksweise, die er so muster-haft wie Niemand anders zu finden verstand.

Die Pariser, sowie das Volk von Frankreich – soleicht zu stolzem, nationalen Selbstgefühl sich erhe-bend, sagten sich zufrieden und beruhigt, daß die An-gelegenheiten sehr gut stehen müßten, daß der Kaiserseiner Combinationen sehr sicher sein müsse, und daßdie Zukunft das Prestige Frankreichs höher heben wer-de als je vorher.

So nahte der 18. August heran, dieser Tag, für wel-chen die Begegnung der beiden Kaiser in Salzburg fest-gesetzt war, und die Augen der ganzen Welt richtetensich mit freudig erwartungsvollen oder mißmuthig be-obachtenden Blicken auf den alten, felsenumgebenen,

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romantischen Bischofssitz, in welchem das Band zwi-schen Frankreich und Österreich geknüpft und die er-ste Vorbereitung zu einer Action gelegt werden soll-te, welche bestimmt sein mußte, dem Vordringen derpreußischen Macht ein ernstes und unüberwindlichesVeto entgegenzurufen. Denn es stand überall fest, daßnur eine solche ernste, diplomatische und militairischeAction der Zweck und die Folge dieser Kaiserbegeg-nung sein konnte, trotzdem die Organe des Herrn vonBeust täglich von Neuem versicherten, daß diese Be-gegnung eine eminent friedliche Bedeutung habe undden Grundstein legen solle zur allgemeinen Eintrachtund zum tiefen Frieden Europas.

Während so das ganze Publikum, von der zünftigenDiplomatie herab bis zu den Politikern der Boulevards,nichts Anderes sprach und dachte, als die SalzburgerZusammenkunft, gab es nur einen Mann in Europa, dergar nichts von diesem Ereigniß zu bemerken schien,obwohl nach der Meinung aller Welt dasselbe ihn ge-rade am meisten angehen sollte, und dieser eine Mannwar der preußische Ministerpräsident und Kanzler desnorddeutschen Bundes Graf von Bismarck. Er unter-hielt die Personen, welche sich ihm näherten, von allenmöglichen Dingen, nur nicht von dieser Zusammen-kunft in Salzburg, und auf alle Anspielungen der Di-plomaten hatte er keine andere Antwort, als ein aus-weichendes Wort, ein Achselzucken, ein flüchtiges Lä-cheln.

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Die Pariser hatten in den Morgenblättern gelesen,daß die kaiserlichen Majestäten mit großem Gefolgein einem Specialtrain abgereist seien, sie lasen in denAbendblättern, daß der Kaiser in Straßburg enthusia-stisch empfangen worden, sie verfolgten diese kaiser-liche Reise und lasen weiter, daß der König von Würt-temberg den Kaiser am Bahnhof begrüßt habe, daß Na-poleon in Augsburg die Wiege seiner Bildung, das St.Annengymnasium und das früher von der Königin Hor-tense bewohnte Fuggersche Haus in der Kreuzstraßebesucht, daß der junge König von Bayern das französi-sche Herrscherpaar am Bahnhofe von Augsburg emp-fangen und über München bis zur bayerischen Grenzegeleitet habe; man las weiter von dem Empfang derkaiserlichen Gäste in Salzburg durch die österreichi-schen Majestäten, man las die Beschreibung der Toi-letten der Kaiserinnen, die Berichte über den intimen,vertraulichen Verkehr der beiden Höfe, und die poli-tischen Conjecturen sprachen in immer klareren undbestimmter formulirten Artikeln von der französisch-österreichischen Allianz, welche die Stütze bilden soll-te für die Herstellung eines deutschen Südbundes un-ter Österreichs Führung, der unter stricter Aufrecht-erhaltung des Prager Friedens Preußen jedes weitereVorschreiten auf der von ihm betretenen Bahn unmög-lich machen sollte. Täglich erwartete man die Nach-richt von dem Erscheinen der süddeutschen Fürstenin Salzburg, insbesondere von dem Besuch des Königs

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von Bayern, dessen Antipathien gegen Preußen die Zei-tungen so oft betont hatten, und das französische Na-tionalgefühl erhob sich höher bei dem Gedanken, daßdie Zusammenkunft in Salzburg das Parterre von Kö-nigen, welches Napoleon I. einst in Erfurt um sich ver-sammelt hatte, an Glanz wie an politischer Bedeutsam-keit noch übertreffen könne.

Während nun die kaiserlichen Höfe von Frankreichund Österreich in Salzburg weilten, während die Berg-höhen in bengalischen Flammen strahlten, währendzwischen den romantischen Landparthien und denkleinen Theatervorstellungen die beiden Kaiser und ih-re Minister stundenlange Unterredungen pflogen, überwelche die Zeitungen alles Mögliche und Unmöglicheberichteten, hatte sich König Ludwig von Bayern, des-sen Namen in allen politischen Combinationen so oftgenannt wurde, in die tiefe Stille seines Schlosses Bergam Starnberger See zurückgezogen.

Im Licht der frühen Morgensonne lag das Schloß,ein einfacher Bau mit vier Eckthürmen, einem leisenAnflug von Gothik in seiner Außenseite am Fuß desHügels, auf dessen Höhe dicht über der königlichenResidenz sich das kleine Dörfchen Oberberg ausdehnt.Vom Schlosse herab wehte im Morgenwinde die blau-weiße Fahne, weithin der Gegend verkündend, daß derKönig auf seinem stillen Sommersitz anwesend sei.

Der König Ludwig war spät aufgestanden, nachdemer am Abende bis über die Mitternacht hinaus sich mit

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Aufzeichnen seiner Tageserlebnisse und der Resulta-te seiner Studien in sein Tagebuch beschäftigt hatte.Dann hatte der junge Fürst ein Bad in den kühlen, kla-ren Wellen des Starnberger Sees genommen und nachdem einfachen, in seinem Salon im zweiten Stockwerkdes Schlosses servirten Frühstück sich in sein Arbeits-cabinet zurückgezogen.

Es ist ein einfacher, aber in seiner Einfachheit schö-ner und anmuthender Raum, das Arbeitszimmer diesesjungen, in fast noch kindlichem Alter auf den Thron ge-rufenen Fürsten, dem das Schicksal nicht die Ruhe ließzur Entwickelung seiner inneren Ausbildung in stillenStudien, der in schwer verhängnißvoller Zeit aus demträumenden Leben und Weben der jugendlichen Seelein die Kämpfe des Völkerlebens trat, dessen warmes,weiches und vertrauensvolles Herz ohne den Panzerder Erfahrung mit allen seinen Illusionen rücksichtslosund plötzlich allen Täuschungen der Welt preisgege-ben wurde.

Den großen, bequemen Schreibtisch mit wohlgeord-neten Papieren und Büchern bedeckt, schmückte eineprachtvolle Garnitur von Lapis Lazuli, blauweiße Säu-len trugen Figuren aus verschiedenen Opern RichardWagners. Die blauen Tapeten und der blaue Seiden-damast der Meubel erfüllten das vom vollen Morgen-licht erleuchtete Cabinet mit milden Reflexen, und derblaue Ton dieser ganzen Umgebung ließ das bleiche,edle Gesicht des Königs mit den durch die Morgenluft

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und das Bad leicht gerötheten Wangen wie ein Bild aufdunklem Grunde erscheinen.

König Ludwig, in einfachem Civilmorgenanzug, standam offenen Fenster und blickte aus die reiche undfreundliche Landschaft hinab. Er stützte die eine Handauf die Brüstung, seine schlanke, schmiegsame unddoch hoch aufgerichtete Gestalt war leicht vornübergeneigt, seine großen, tiefblickenden, halb schwärme-risch träumenden, halb wißbegierig forschenden Au-gen blickten in sinnendem Nachdenken in die Land-schaft hinaus.

»Wie schön!« flüsterte der König, in einem langenAthemzug die duftige Sommerluft einziehend, »wieschön! – wie zieht es mich anmuthend hinaus in diegrüne Ferne, um in übersprudelnder Jugendlust dasfröhliche Leben an die Brust zu drücken, wie es dieJünglinge meines Alters thun! – Sie alle,« fuhr er fort,indem sein Auge sich trübe verschleierte, »sie alle dür-fen fröhlich und jung sein, nur ich – ich habe dies schö-ne Vorrecht der Menschheit nicht, das Vorrecht, jungzu sein und in der vollen Ausdehnung der jugendli-chen Kräfte die Ähnlichkeit mit der Gottheit zu emp-finden, die uns zu ihrem Ebenbilde schuf und uns dochnur kurze Augenblicke gab, um das Vollgefühl dieserEbenbildschaft zu genießen!«

Er blickte lange mit wehmüthig trübem Blick überdie grünen Baumgipfel hinab.

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»Dafür bin ich König,« sagte er dann, indem er sichmit einem tiefen Athemzug stolz emporrichtete, »da-für habe ich das Recht, mich emporzuheben zu demstolzen Gefühl der Gottheit, die Bösen zu strafen – denGuten wohlzuthun – und des Volkes Führer zu sein aufder Bahn der Weltgeschichte.«

Sein Auge öffnete sich groß und wen und ein Strahlglänzte daraus hervor so hell und licht, wie der son-nige Himmel, der über der Morgenlandschaft sich aus-spannte.

Bald aber sank sein erhobenes Haupt langsam wie-der herab, ein trüber Schleier verhüllte abermals sei-nen Blick, und sich leicht vornüberneigend, wie unterder Last schwerer Gedanken, sprach er in dumpfem To-ne:

»König! – was heißt König sein? Bin ich König, weilman mich Majestät nennt, weil man in meinem Na-men Recht spricht, weil die Armee ihre Waffen vor mirsenkt?«

Er schüttelte langsam das Haupt.»Nein – nein,« sagte er dann, »ein König, ein wahrer

König auf der Höhe seiner großen, erhabenen, herr-lichen Aufgabe ist nur der, der wirklich herrscht, der

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wirklich der erste ist, der die persönliche Verkörpe-rung aller Interessen, aller Ideen, aller Lebensfacto-ren seines Volkes ist. Ein König war jener große Lud-wig, der die Sonne, dies Alles erleuchtende, dem irdi-schen Staube unerreichbare Gestirn zu seinem Sinnbil-de wählte, der das bedeutungsvolle, stets mißverstan-dene, den ganzen königlichen Beruf zusammenfassen-de Wort sprach: l’état c’est moi, er, dessen Staatsbauman in kleinlichen Carricaturen nachahmte, ohne ihndoch mit dem gewaltigen, völkerbeherrschenden Gei-ste erfüllen zu können, dessen Spuren uns noch heutemit staunender Bewunderung erfüllen. Auch er kamjung zur Herrschaft, freilich aber war ihm das großeVölkerleben schon in seiner Kindheit näher getreten alsmir – aber die hohe Aufgabe des Königsthums konnteer nicht klarer und lebendiger in seinem Herzen erfas-sen, als ich es thue. – Sollte mir nicht gelingen kön-nen, was ihm gelang – der wirkliche Herrscher zu seinüber die Geister, hoch dastehend über dem niederenTreiben – voranschreitend seinem Jahrhundert in kö-niglicher Freiheit ohne Furcht und Vorurtheil – ohneSchwanken und Zagen? – Er wußte die großen, schaf-fenden Geister seiner Zeit um sich zu versammeln undihre Kräfte zu vereinen im Dienste der Größe seinesVolkes, er wußte durch Colberts fruchtbare Gedankendie Quellen des Nationalreichthums zu erschließen –ein Wort seines Mundes, ein Wink seines Auges ließ

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den Feldherrngeist Turennes seine Schlachtlinien bil-den und reiche Lorbeerkronen um die französischenFahnen winden, er begeisterte die großen Dichter derNation und machte sie zu freien Höflingen seiner kö-niglichen Größe, unter seinem Schutz hielt Molièreden Thorheiten der Zeit den blinkenden Spiegel vorund schwang die Geißel über Dummheit und Heuche-lei!«

Der König sann abermals lange nach.»Oh,« rief er dann, »daß es mir gelingen könnte,

große Geister zu fruchtbarer, glänzender Thätigkeit zuerwecken und sie um mich zu versammeln, ihre Strah-len vereinend in dem Brennpunkte des königlichenThrones. – Doch,« fuhr er fort, »dazu gehört eine ge-waltige Kraft, ich würde sie haben, es gehört Erfah-rung dazu, ich hoffe sie immer mehr zu erwerben, vorallem aber gehört dazu ein kaltes Herz oder die Macht,das warme Menschenherz rücksichtslos zu opfern aufdem Altar des Königthums, ich aber habe ein warmesHerz, das nach Verständniß sucht, das an Menschensich anschließen mochte in festem Glauben und vollemVertrauen – und wenn dann die Menschen vor mir ste-hen, wenn ich ihr Treiben sehe und ihre Pläne durch-schaue – dann fühle ich so schwer und kalt meine kö-nigliche Einsamkeit, und mein junges Herz zittert beidem Gedanken, diese Einsamkeit ein ganzes Leben er-tragen zu sollen; bang und traurig ziehe ich mich inmich selbst zurück! – Dort in den Thälern,« sprach er

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weich, »wohnt mein Volk, von dort blickt man herüberzu meiner Burg, dort glaubt man, daß hier in der stil-len Ruhe der König wacht und arbeitet – leitend undordnend die Geschicke aller der Menschen, welche dieVorsehung seiner Hand anvertraute, und doch, wie vielfehlt noch, bis sich aus der wogenden Arbeit meinesInnern die Ruhe und Klarheit herausgearbeitet hat, diezum Regieren und zur vollen Erfüllung des königlichenBerufs allein befähigt!«

Er wendete sich vom Fenster, langsam schritt er zuseinem Schreibtisch hin, setzte sich auf den Sessel vordemselben nieder und ließ seinen Blick über die Figu-ren aus den Wagnerschen Opern schweifen.

»Es wogt und ringt in mir,« sagte er, den Kopf indie Hand stützend, »wie in den Tonbildern des Mei-sters, der mit seinem schöpferischen Wink diese Ge-stalten aus den dämmernden Fernen der grauen Vor-zeit Deutschlands vor uns erscheinen ließ, oh könnteich bald die Auflösung aller Dissonanzen finden, dieoft meine Seele schmerzvoll durchzittern! – Des vier-zehnten Ludwigs herrliches Sonnenkönigthum stehtals leuchtendes Ziel vor mir, und doch wallt mein Blutbei dem Anblick der alten Heldengestalten der deut-schen Sage und Geschichte, bei den Gesängen von denThaten jener Könige, die, mitten im Volke stehend, imRingen und Kämpfen mit dem Volke lebten und fühl-ten. – Sollte sich die stolze Idee des Königthums von

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Versailles nicht vereinen lassen mit dem tiefen, volks-thümlichen Leben des deutschen Fürstenthums in derdeutschen Nation, sollte sich denn der glänzend freie,überall Licht und Leben hinstrahlende Thron nicht auf-richten lassen, ohne ihn in unnahbare Ferne hinaus-zuheben, füllte er sich nicht auf organisch aus demVolksleben hervorwachsende Grundlagen fest begrün-den lassen? – Überall Widersprüche, überall Gegensät-ze,« sagte er seufzend, den Kopf in die Hand stützend,»und überall suche ich noch vergebens die verbinden-de Lösung, die es doch geben muß,« rief er lebhaft, »indieser Lösung liegt die Herrschaft über die Welt unddas Leben! Oder sollte eine solche Lösung nicht zu fin-den sein auf Erden, sollte unsere unvollkommene Na-tur bestimmt sein, sich abzumühen in ewigen Wider-sprüchen?«

Er ergriff ein auf seinem Schreibtisch aufgeschlagenliegendes Buch.

»Wie tief greift dieser große Fürst der Dichtung indas reiche Leben der Menschenseele, wie zauberhaftlebendig und wahr führt er seine Gestalten vor unsherauf, und doch bleiben auch unter seiner Meister-hand die Widersprüche ungelöst, jener große Wider-spruch vor allem, der zwischen dem reinen, idealenLeben des Herzens und zwischen dem Treiben diesermateriellen, niedrigen und rohen Welt sich erhebt unduns täglich mit tausend Nadelstichen so schmerzlichverwundet! Wie schön ist Alles, was dieser Posa sagt!«

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fuhr er fort, den Blick auf dem aufgeschlagenen Buchruhen lassend, »wie recht hat er mit seiner flammen-den Beredtsamkeit, und doch wie wahr ist es, was DonPhilipp spricht! – erniedrigt sich denn die Menschheitnicht heute noch, wie damals, selbst zu einem Saiten-spiel in der Hand der Könige? – Wo findet ein Fürst denMenschen, der mit ihm die Harmonie theilen könnte?Und welche Lösung findet der große Dichter für die-sen Conflict des Schönen mit dem Wahren, den er in solebendigen Gestalten uns vorführt? – den Tod,« sagteer düster, »die Zerstörung! Sollte das Schöne und dasWahre wie die Messungslinien so mancher Sterne sicherst in den ewigen Feinen einer anderen Weltordnungvereinigen?«

Der König warf den Band der Schillerschen Trauer-spiele, den er in der Hand gehalten, auf den Tisch undlehnte sich nachdenklich in seinen Sessel zurück, dasAuge mit traurig gestimmtem Ausdruck nach oben ge-richtet.

Er hatte einige Augenblicke so dagesessen, als einSchlag an die Thür ertönte und unmittelbar darauf einMann in den fünfziger Jahren, von strammer, militairi-scher Haltung, im schwarzen Frack und weißer Cravat-te, das Gesicht umrahmt von einem starken Vollbart, indas Cabinet trat.

Es war der Kammerdiener Seif, des Königs vertrauterDiener schon aus der Zeit, da er noch Kronprinz war.

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Ruhig und unbeweglich an der Thür stehen bleibend,meldete er seinem königlichen Herrn:

»Der Fürst Hohenlohe ist soeben von Starnberg ein-getroffen und bittet Ew. Majestät um Audienz.«

Der König seufzte tief auf.»Da schneidet wieder des Lebens Wirklichkeit in

meine Träume,« sagte er, sich langsam erhebend, undschritt an dem die Thür offen haltenden Kammerdie-ner vorüber in den roth tapezirten und mit Meubelnvon rothem Seidendamast garnirten Empfangssalon.

»Ich erwarte den Fürsten,« sagte er, sich neben demgroßen Tisch in der Mitte des Salons in einen Fauteuilniederlassend, so daß seinem Blick sich die Aussichtdurch die geöffnete Thür zu dem Balkon mit einer Gal-lerie von Eisengitter öffnete. Einen Augenblick spätertrat der Fürst Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürstin den Salon.

Dieser Minister, welcher die schwere Erbschaft desHerrn von der Pfordten angetreten hatte und nunbemüht war, das Staatsschiff durch die vielen undgefährlichen Klippen der neuen Zeitentwicklung zuführen, war eine äußerst aristokratische Erscheinung.Sein Gesicht, das trotz des Ausdrucks einer gewissenKränklichkeit sein Alter von fünfzig Jahren nicht ver-muthen ließ, trug einen militairischen Typus. Der star-ke Schnurrbart verdeckte nicht vollständig den geist-vollen Ausdruck des leicht beweglichen Mundes. In

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den klar und frei blickenden Augen vereinigte sich ei-ne feine und scharfe Beobachtung mit wohlwollenderOffenheit.

Der Fürst ergriff ehrerbietigst die dargereichte Handdes Königs, der sich bei seinem Eintritt einen Au-genblick erhoben hatte, und nahm dann auf einenWink des jugendlichen Monarchen demselben gegen-über Platz.

»Sie bringen Nachrichten aus Salzburg, mein lieberFürst, nicht wahr?« sagte der König, den Blick erwar-tungsvoll auf seinen Minister richtend.

»Erneuerte und dringende Einladungen an Ew. Ma-jestät, dorthin zu kommen,« erwiederte der Fürst, in-dem er sein Portefeuille öffnete und daraus verschie-dene Papiere neben sich auf den Tisch legte, »der GrafTrautmannsdorf hat mir den lebhaften Wunsch SeinerMajestät des Kaisers Franz Joseph ausgesprochen, daßEw. Majestät wenigstens auf einen Tag dorthin kom-men möchten, und auch der Marquis de Cadore hatmir im Namen des Kaisers der Franzosen den gleichenWunsch seines Herrn sehr lebhaft betont.«

König Ludwig zuckte die Achseln.»Ich habe dem Kaiser Napoleon alle Höflichkeiten

erwiesen,« sagte er leichthin, »die er bei der Durchrei-se durch Bayern verlangen oder nur erwarten konn-te, und sehe nicht ein, daß irgendwelche Forderung

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der Etiquette bestehen könnte, die mich zu einem Be-such bei dem Kaiser auf österreichischem Gebiet ver-anlassen sollte. Hat Graf Trautmannsdorf,« fragte erabbrechend, »der Einladung des Kaisers Franz Josephirgendwelche Bemerkung hinzugefügt?«

»Graf Trautmannsdorf hat lange mit mir gespro-chen,« erwiederte der Fürst, »und wenn auch sehr vor-sichtig und nur in allgemeinen Andeutungen, so hat ermir doch sehr klar und verständlich die politische Ideeentwickelt, welche nach der Auffassung des Kaisers derZusammenkunft in Salzburg zugrunde liegt, und der-zufolge es für Österreich sehr wünschenswert ist, daßEw. Majestät ebenfalls dort anwesend sei.«

»Ich bin begierig zu hören,« sagte der König, in-dem er sich in seinen Sessel zurücklehnte und die Lip-pen fest aneinander schließend seine erwartungsvollenBlicke auf den Minister richtete.

»Graf Trautmannsdorf hob hervor,« sagte der Fürst,»wie es das gemeinsame Interesse Österreichs und Bay-erns erfordere, daß die Grenzen, welche der PragerFrieden dem Vordringen des preußischen Einflussesgesteckt habe, sorgfältig innegehalten und mit mög-lichst starken Garantieen umgeben werden. Jeder Ge-danke eines Zurückgreifens in die Vergangenheit lie-ge dem Kaiser und seiner Regierung fern, aber es sei

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nothwendig, sich mit Frankreich, welches ja fast über-all gemeinsame Interessen mit Österreich habe, dar-über zu verständigen, daß das nunmehr Geschaffe-ne und Bestehende erhalten und gegen jede erneu-te Schwankung geschützt werde. Der Prager Friedensei eine Lebensbedingung für die Selbstständigkeit dersüddeutschen Staaten und zugleich von höchstem In-teresse für die Ruhe Europas, welche bei neuen Er-schütterungen in Deutschland nicht ungefährdet blei-ben könne. Müsse daher Österreich unter den verschie-denen Punkten der europäischen Politik, in welchen esseine Anschauung in Übereinstimmung mit Frankreichzu formuliren denke, ganz besonders den Prager Frie-den hervorheben, so liege hier doch die Grenze einerfranzösischen Einmischung in deutsche Angelegenhei-ten so nahe, daß es dem Kaiser besonders erwünschtsei, bei den Besprechungen über diesen Punkt denmächtigsten Fürsten Süddeutschlands neben sich zusehen. Ew. Majestät würden daher durch Ihr Erschei-nen nicht nur den wahren Interessen Deutschlands,sondern auch der Ruhe Europas einen großen Dienstleisten und wesentlich dazu beitragen, der Zusammen-kunft in Salzburg die eminent friedliche Bedeutung zugeben, welche sie nach den Intentionen der österrei-chischen Regierung haben soll.«

Der König hatte mit unbeweglicher Aufmerksamkeitzugehört, leicht neigte er das Haupt zum Zeichen, daß

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er die Ausführung, welche der Fürst ihm wiederholt,genau verstanden habe.

»Und was ist Ihre Meinung, mein lieber Fürst?« frag-te er in ruhigem Ton.

Fürst Hohenlohe ergriff ein Papier, auf welches ereinige Notizen verzeichnet hatte, und sprach:

»Die Frage, Majestät, um welche es sich hier han-delt, ist eine so wichtige und ernste, daß ich’s nichtgewagt habe, Allerhöchstdenselben meine persönlicheeinseitige Ansicht als Ressortminister zu unterbreiten,ich habe mir erlaubt, das Staatsministerium zu verei-nigen und mich der Zustimmung meiner Collegen zumeiner Auffassung zu vergewissern.«

Ein feines, fast unmerkbares Lächeln erschien einenAugenblick auf den Lippen des Königs.

Der Fürst fuhr fort:»Ew. Majestät haben sehr treffend zu bemerken die

Gnade gehabt, daß allen Forderungen der Etiquettevollständig Genüge geschehen sei, daß keine Höflich-keitsrücksicht einen Besuch in Salzburg nothwendigmache. Ein solcher Besuch würde unter den vorlie-genden Verhältnissen und bei der hohen Aufmerksam-keit, mit welcher die Blicke aller Cabinette Europasauf die Vorgänge in Salzburg gerichtet sind, eine we-sentlich politische Bedeutung haben, und diese Bedeu-tung könnte nur die sein, daß Ew. Majestät und Bayernim Princip sich den Abmachungen anschließen woll-ten, welche etwa zwischen Österreich und Frankreich

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in Betreff der deutschen Verhältnisse getroffen wer-den möchten. – Ew. Majestät wissen,« fuhr der Fürstnach einer Pause fort, »daß ich die Leitung der Ge-schäfte übernommen habe, um nach dem schwerenSchlage von 1866 der Krone Bayern die größte Kraftund Selbstständigkeit zu erhalten und das hartgetroffe-ne Land von den Wunden wieder genesen zu machen,welche noch so frisch bluten. Zur Erfüllung dieser Auf-gabe,« fuhr er fort, »ist es aber nothwendig, die gutenBeziehungen zum Norddeutschen Bunde und das Ver-trauen des Berliner Hofes ungetrübt zu erhalten undneue Verwicklungen und Unruhen zu vermeiden, wel-che bösem Willen Gelegenheit geben könnten, gegendie bisher noch gewahrte Unabhängigkeit Bayerns wei-ter vorzugehen. Ew. Majestät werden überzeugt sein,«fuhr der Fürst mit Betonung fort, »daß ich gegen je-des solche Vorgehen mit aller Energie und allen mirzu Gebote stehenden Mitteln handeln würde. Ich hal-te es aber der Klugheit für angemessen, Conflicte nichtzu provociren, in denen wir allein einer mit allen Acti-onsmitteln ausgerüsteten und diese Mittel rücksichts-los gebrauchenden Macht gegenüberstehen, oder unsauf die Hilfe des Auslandes angewiesen sehen würden,denn was Österreich betrifft,« fügte er achselzuckendhinzu, »so müssen uns die Erfahrungen von 1866 wohlbelehrt haben, welches Schicksal seine Alliirten zu er-warten haben. Ich bin deshalb,« fuhr er fort, »und zwar

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in Übereinstimmung mit meinen Collegen, der Mei-nung, daß Ew. Majestät es vermeiden sollten, durcheinen Besuch in Salzburg und durch eine Theilnahmean den dortigen, noch sehr unklaren, aber jedenfallsdem Berliner Cabinet verdächtigen Verhandlungen diepreußische Regierung zu reizen. Würden aber Ew. Ma-jestät aus Rücksicht auf den Kaiser Franz Joseph einenkurzen Besuch zu machen wünschen, so würde ich Al-lerhöchstdieselben dringend bitten, mir nicht befehlenzu wollen, Sie zu begleiten, damit Sie durch die Abwe-senheit Ihres Ministers die Ablehnung aller eingehen-den politischen Erörterungen motivieren könnten unddamit zugleich diese Abwesenheit dem Besuch Ew. Ma-jestät in den Augen der europäischen Cabinette die po-litische Bedeutung nehme und denselben als eine reineHöflichkeit erscheinen lasse.«

Der Fürst schwieg und verneigte sich zum Zeichen,daß er seine Meinung ausgesprochen habe. König Lud-wig erhob sich und ging einige Male mit großen Schrit-ten im Zimmer auf und nieder.

Der Fürst war ebenfalls aufgestanden und folgte mitseinem klaren, freien Blick den raschen Bewegungendes jungen Königs. Endlich blieb der König vor seinemMinister stehen, stützte den Arm auf den Tisch undsprach, indem er das Haupt hoch aufrichtete und demFürsten voll in’s Gesicht sah:

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»Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Meinung unddiejenige meiner übrigen Minister ausführlich mitget-heilt. Sie wissen, wie sehr ich des Rathes der Erfahrungbedarf, um meine schweren Pflichten in diesen ern-sten Zeiten zu erfüllen, allein ich darf es freudig aus-sprechen, daß in diesem Fall mein eigenes Gefühl undmeine eigene Erkenntniß mich zu demselben Resultatgeführt haben, zu welchem die Erwägung meiner er-fahrenen Räthe gelangt ist. Mein Entschluß stand fest,nicht dorthin zu gehen, in welchem Sinne, in welchemMaße auch immer, wo Frankreichs Kaiser über dieAngelegenheiten Deutschlands verhandelt. Ich werdedorthin auch nicht zu einem bloßen Höflichkeitsbesu-che gehen, auch nicht ohne Sie, mein lieber Fürst, dennwo ich bin,« sagte er, sich stolz aufrichtend, »da ist Bay-ern, und ich will nicht, daß der Name Bayerns einge-mischt werde in Verhandlungen mit Frankreich. Ich ha-be die Andeutungen wohl verstanden, welche Napole-on mir während der Reise von Augsburg gemacht hat;es soll ein Südbund geschaffen werden unter österrei-chischer Führung. Habe ich aber das Schwert gezo-gen zur Verteidigung gegen die preußische Hegemo-nie, um mich nun unter Österreich zu stellen, dem dieMacht fehlt, einen Alliirten zu schützen? – was wür-de der Südbund anderes sein, als die ewige TheilungDeutschlands, dieses Deutschland, für dessen Einheit

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und Macht die Wittelsbacher ununterbrochen gefoch-ten? Und wer würde der Schirmherr dieses Südbun-des sein? Nicht das schwache, in sich selbst beschäftig-te Österreich, sondern Frankreich, welches für diesenSchutz seinen Preis aus deutscher Erde schneiden wür-de. Ein neuer Rheinbund würde entstehen; was abermöglich war und geschehen konnte im Anfang die-ses Jahrhunderts, in der Zeit unklarer Zerrissenheit,das darf und soll heute nicht geschehen, nachdem dasnationale Bewußtsein im deutschen Volke erwacht istund unaufhaltsam zur einigen Macht hindrängt.«

Der König schwieg tief aufathmend.Ein warmes Licht glänzte in dem Auge des Fürsten

Hohenlohe.»Ich bin glücklich,« sagte er mit voller Stimme, »die-

se edlen und hochherzigen Worte aus dem Mundemeines Königs zu vernehmen; wollte Gott, daß ganzDeutschland Ew. Majestät hören könnte, damit die Na-tion sich überzeuge, wie der Enkel so vieler glorrei-chen Fürsten über deutsche Ehre und deutsche Würdedenkt.«

Der König lächelte freundlich, blickte einen Augen-blick sinnend über den Balkon hin in die weite, lachen-de Landschaft hinaus.

»Sehen Sie, mein lieber Fürst,« sagte er dann, »ichbin stolz auf die Krone, welche mir meine Vorfahrenhinterlassen, ich bin eifersüchtig auf meine königlichenRechte, weil sie Gott und die Geschichte mir gegeben,

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weil sie mir die Macht verleihen, mein Volk glücklichzu machen. Ich werde diese Rechte verteidigen ge-gen alle Versuche einer anderen Macht, sie mir zu be-schränken, aber ich trage wie einen unerschütterlichenGlauben in mir die Zuversicht auf den hohen Beruf,welcher dem deutschen Volke in der Entwicklung derWeltgeschichte zugewiesen ist. Für Deutschland undseine Größe bin ich zu jedem Opfer bereit.«

Wieder schwieg er einige Augenblicke und fuhr dannmit erhöhtem Tone fort, als ob aus seinem Innern her-aus die Gedanken unwillkürlich hervorbrächen:

»Dieser ganze Antagonismus zwischen Preußen undÖsterreich, der endlich zu dem Conflicte von 1866führte, hat mich in meinem Gefühl immer tief schmerz-lich berührt. Das von den republikanischen Zustän-den des alten Griechenlands übernommene Wort He-gemonie bildet allein schon eine schneidende Disso-nanz zu den Verhältnissen Deutschlands. Dieser natio-nale Bund von volksthümlich monarchischen Staaten,zu welchem die deutschen Stämme sich vereinigen,schließt den Begriff der Hegemonie aus. Wie im go-tischen Dombau das Kleine und das Große zum schö-nen, harmonischen Ganzen zusammengefügt erschei-nen, in dem jedes seinen Sinn und seine Bedeutunghat, so muß auch das deutsche Völkerleben sich gestal-ten zu einer harmonisch ineinander wachsenden Glie-derung, in der kein einzelnes berechtigtes Glied sich

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dem anderen unterordnen, sondern jedes in seiner vol-len Eigenthümlichkeit aufblühen soll, wie die symboli-sche Rose in der gotischen Ornamentik. – Das deut-sche Volk,« fuhr er immer wärmer und lebhafter fort,»verträgt nur eine Einheitsform, das ist die historischeReichseinheit, der Bundesbau der deutschen Stämmeschließt sich nur unter einer Kuppel, das ist die Kaiser-krone.«

Immer erstaunter blickte der Fürst auf diesen jungenKönig, der, seiner Gewohnheit entgegen, in plötzlicherErregung aus sich heraustrat und die Gedanken, wel-che ihn bewegten, in so warmen und lebendigen Wor-ten aussprach.

»Die Geschichte meines Hauses,« fuhr der Königfort, »würde mir das Recht geben, die Hand auszu-strecken nach diesem herrlichen Diadem, wenn dieheutige Macht meines Landes seiner historischen Ver-gangenheit entspräche, aber ebenso, wie ich es erstre-ben würde, mich mit dem kaiserlichen Reichsschwertzu umgürten, wenn die Vorsehung mir dazu den Be-ruf gegeben hätte, ebenso werde ich mich als der er-ste unterordnen unter die kaiserliche Hoheit desjeni-gen deutschen Fürsten, dem Gott die Macht und denBeruf geben wird, das einige Reich deutscher Nationwieder aufzurichten. Wenn die Hohenzollern sich dazuerheben können, Kaiser der einigen, in ihrer Eigenart

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freien deutschen Nation zu sein, die specifische Vergrö-ßerung Preußens, seine einseitige Hegemonie aufzuge-ben, dann werde ich mich freudig auf die erste Stufeihres kaiserlichen Thrones stellen, und dem deutschenKaiser wird Bayern gern und bereit seinen Heerbannstellen zur Bekämpfung des Reichsfeindes, von woherauch immer er den Grenzen sich nahen möge.«

»Und halten es Ew. Majestät für möglich,« sagte derFürst mit bewegter Stimme, »daß der große und erha-bene Gedanke, den Sie soeben ausgesprochen und derjedes deutsche Herz höher aufwallen läßt, jemals zurWirklichkeit sich gestalten könne, der Eifersucht undhemmenden Gewalt der Mächte Europas gegenüber,welche alle die einige Macht Deutschlands fürchten,da sie wohl wissen, daß ihr der erste Rang unter denGroßmächten nicht streitig gemacht werden kann?«

Das Auge des Königs öffnete sich weit, und es sprüh-te daraus hervor wie helle Flammen stolzen Muthesund hoher Begeisterung.

»Die hemmende Gewalt des Auslandes!« rief er mitdem Ausdruck tiefer Verachtung, »welche Gewalt kannes auf Erden geben, die sich dem Willen des einigenDeutschlands entgegenstellen möchte? Lassen Sie dasAusland herantreten an die deutsche Grenze; wenn dieNation einig ist, wird der germanische Riese diejenigenzerschmettern, die sich seinem Willen entgegenzustel-len wagen, und es ist, als ob mir eine innere Stimmesagte, daß ich die Zeit noch erleben werde, in der dies

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geschehen wird, daß ich berufen sein werde, Zeugnißabzulegen für die heilige Überzeugung, die ich in mirtrage, und die ich soeben vor Ihnen ausgesprochen.«Der Fürst trat einen Schritt vor und sprach, indem ersich ehrfurchtsvoll vor dem König verneigte:

»Möge der gute Geist Deutschlands die vertrauens-volle Zuversicht Ew. Majestät erfüllen, möge es Ihnenvergönnt sein, mit Ihrer königlichen Hand den Grund-stein zu legen zum Aufbau des neuen deutschen Kai-serthums; die Geschichte wird den spätesten Zeitenden Ruhm Ew. Majestät aufbewahren, einen Ruhm,den die gerechte Dankbarkeit der Nation in den Na-men zusammenfassen müßte: Ludwig der Deutsche.«

Der König lächelte sanft und reichte dem Fürsten dieHand.

»Und diesen Namen, mein lieber Fürst,« sagte er,»würde ich gern und dankbar annehmen, denn ichwürde das Bewußtsein haben, ihn ein Wenig zu verdie-nen. Groß zu sein,« fuhr er fort, »ist nicht jedem gege-ben, nur selten bietet sich die Gelegenheit, große Tha-ten zu thun, auch wenn man den Muth und die Kraftdazu hätte; aber sein ganzes Wesen für das Vaterlandhinzugeben, ist jedem und jederzeit möglich, und jederdeutsche Fürst hat vor allen Dingen den Beruf, deutschzu sein in seinem Denken, Wollen und Wünschen. – Ichbitte Sie nicht, hierzubleiben, mein lieber Fürst,« sagte

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er nach einigen Augenblicken im Ton leichter Conver-sation, »Sie werden nach München zurückeilen müs-sen, um die Antwort auf jene Einladung zu geben. Neh-men Sie welchen Grund Sie wollen, meine Scheu vorgroßer Repräsentation, wenn Sie wollen, nur machenSie, daß man dort vollständig klar ist über mein Nicht-erscheinen, und sich keinerlei Illusionen hingebe.«

»Ich kehre zurück,« sagte der Fürst, »gehobenen Mu-thes und stolzen Herzens. Ew. Majestät haben in dieserStunde eine große That gethan für Bayern und für dieZukunft Deutschlands. Sie haben der Welt gezeigt unddem französischen Kaiser ganz besonders, daß heutesich keines deutschen Fürsten Hand der Einmischungin die nationalen Angelegenheiten entgegenstreckt.«

Mit tiefer Verbeugung verließ er das Zimmer. Der Kö-nig trat einen Augenblick auf den Balkon hinaus undblickte weit über die Ebene zu den Bergen am Hori-zont.

»Eben noch verzweifelte ich,« sagte er mit lächeln-dem Munde, »den Punkt auf Erden zu finden, in wel-chem das Schöne und das Wahre sich vereine: gera-de jetzt ist mir durch ein gütiges Geschick ein solcherPunkt wenigstens gezeigt worden. Schön und erhabenist die Liebe und Treue zum Vaterland, und wahreKlugheit ist es zugleich, dem Drange dieser Liebe und

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Treue zu folgen in seinen Entschlüssen und Handlun-gen. Möchte es mir vergönnt sein, auch auf den übri-gen Gebieten des Wissens und Strebens den Vereini-gungspunkt zu entdecken, in welchem das Schöne unddas Wahre zur ewigen Harmonie ineinander klingen.«

Er verließ den Balkon und kehrte in sein Arbeitszim-mer zurück.

»Die Unruhen dieser materiellen Welt und ihrer poli-tischen Kämpfe,« sagte er, sich vor seinem Schreibtischniederlassend, »hätte ich mir für heute ferngehalten.Ich will die Freiheit benutzen, um mich in das Reichder großen Geister zu vertiefen und den Wegen zu fol-gen, auf welchen sie die Erkenntniß der Wahrheit such-ten.«

Er ergriff ein neben dem Schillerschen Trauerspielauf dem Schreibtisch liegendes Buch und vertiefte sichin die Lectüre von des Abbés Batteux »Geschichte derMeinungen der Philosophen aller Zeiten über die letz-ten Ursachen der Dinge«.

NEUNUNDDREISSIGSTES CAPITEL.

Die erste Begrüßung der Kaiser von Österreich undFrankreich in Salzburg hatte stattgefunden, und alleZeitungen waren voll von der Beschreibung des Emp-fangsceremoniells und des Diners am Abend des erstenTages, bei welchem der Kaiser Franz Joseph persönlich

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dem Fürsten Richard Metternich den Orden des Gol-denen Vließes überreicht hatte, wo er ihm seine Aner-kennung ausgedrückt für die Verdienste, die er um dieguten Beziehungen der beiden Höfe sich erworben.

Der Kaiser Napoleon hatte, den Sinn dieser Aus-zeichnung in ostensiblem Verständniß erfassend, demKaiser von Österreich dafür, als für eine ihm selbst er-wiesene Artigkeit, gedankt, und damit der ganzen Be-gegnung noch um einen Grad mehr den politischenStempel aufgedrückt. Daneben berichtete man aus-führlich von der Begegnung der Kaiserinnen, über dieToiletten der hohen Damen, über den Spazierstock derKaiserin Eugenie, über den Hund der Kaiserin vonÖsterreich und über alle jene tausend kleinen Details.

Kurz, das Schauspiel, welches sich vor den AugenEuropas vollzog, war in vollem Gange. In der al-ten Bergstadt, umragt von den mächtigen Alpen, ent-wickelte sich das ganze bunte und geschäftige Treibenzweier großer Höfe, welches den eigentlichen Kern desLebens der Souveraine wie mit einer glänzenden Wol-ke verhüllt, die profanen Blicke ablenkend auf kleineund unscheinbare Äußerlichkeiten.

Der Herzog von Gramont mit seiner zahlreichen Die-nerschaft bewohnte das Hôtel de l’Europe. Nicht we-nig Neugierige drängten sich vor der Thür des Hôtels,der glänzenden Auffahrt des französischen Botschaf-ters beizuwohnen.

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In später Abendstunde, wenn alle Festlichkeit zuEnde war, versammelte sich noch ein ziemlich zahl-reiches, neugieriges Publikum vor den weitgeöffnetenFenstern der Wohnung des Fürsten Metternich, umden wunderbaren Phantasien zu lauschen, welche derSohn des großen österreichischen Staatskanzlers aufseinem Piano in die laue Sommernacht hinausklingenließ.

Die Kaiser selbst sah man wenig öffentlich, außerwenn sie, rasch durch die Straßen fahrend, sich zu denim Programm festgestellten Ausflügen der Umgegendbegaben. Und inmitten all dieses glänzenden Treibenszog nur noch die Gestalt des Reichskanzlers Freiherrnvon Beust die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich,wenn man diesen Staatsmann, von dessen Thätigkeitalle Welt so große Dinge für die Zukunft Österreichserwartete, in seiner, vielleicht ein Wenig absichtlichenEinfachheit und Nonchalance zu Fuß durch die Stra-ßen gehen sah.

In der frühen Morgenstunde nach dem ersten Tageseines Aufenthalts in Salzburg saß der Kaiser Napoleonbereits völlig angekleidet in dem Salon seines Apparte-ments in der Residenz. Er hatte seinen Thee genom-men und lehnte etwas müde und abgespannt in demreichen Lehnsessel, den er in die Nähe des Fensters ge-zogen hatte. Der feine Duft seiner Cigarette erfüllte dasZimmer, und der Kaiser hörte aufmerksam den Wortendes Herzogs von Gramont zu, welcher vor ihm saß und

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soeben eine längere und lebhafte Auseinandersetzungbeendet hatte.

»Sie glauben also wirklich, mein lieber Herzog,« sag-te der Kaiser, »daß es nicht möglich sein wird, in Ge-meinschaft mit Österreich eine Action zu beginnen,welche Frankreich das wiedergiebt, was wir durch diegezwungene Unthätigkeit des vorigen Jahres verlorenhaben?«

»Ich glaube nicht an die Möglichkeit einer sol-chen Action, Sire,« erwiederte der Herzog, »wenigstensnicht für jetzt, schwerlich nach einem vorbereitetenPlane. Das ganze Programm des Herrn von Beust istein passiver Widerstand gegen die preußische Mach-terweiterung. Er will Garantieen finden für die Auf-rechterhaltung des Prager Friedens, der ja doch be-reits in seinen wesentlichen Grundprincipien verletztist. Er glaubt Preußen dadurch zu einer Aggression zubewegen, welche alle Cabinette Europas zu Gegnerndes Berliner Hofes machen würde. Er täuscht sich dar-in, wie in den meisten seiner zu feinen Berechnungen,welche theoretisch vielleicht richtig, practisch aber un-ausführbar sind. Ich kann Ew. Majestät nur wieder-holt meine Ansicht dahin aussprechen, daß, wenn auchÖsterreich, wozu man indes bis jetzt noch nicht ge-neigt ist, die bestimmtesten und bindendsten Verpflich-tungen zu einer gemeinsamen Action eingehen woll-te, dennoch die eigenthümliche Geschicklichkeit dieses

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vielgewandten Staatsmannes Mittel finden wird, sei-ne Thätigkeit und Mitwirkung von dem ersten Erfol-ge unserer Action abhängig zu machen. Immer wirdFrankreich die Rolle des ersten Handelns allein zu-fallen und,« fügte er hinzu, mit der Hand leicht überseinen kleinen Schnurrbart streichend, »ich muß Ew.Majestät aufrichtig bekennen, daß mir diese Rolle fürFrankreich als die passendste und auch als die klüg-ste erscheint. Ich halte die französische Macht für starkgenug, nöthigenfalls auch allein ihren Willen in Euro-pa zur Geltung zu bringen, und warum sollten wir dieFrüchte unserer Anstrengungen zu theilen gezwungensein? Gegen uns kann und wird Österreich niemals ste-hen, für uns eintreten wird es aber nur dann, wenn wirsiegreich sind, warum also unter solchen Verhältnissenuns die Fesseln einer vorher stipulirten Allianz auferle-gen?«

Der Kaiser hatte schweigend zugehört, ohne daßsein Blick einen Moment aus der schleierhaften Verhül-lung seiner Augenlider hervorgetreten wäre. Er kräu-selte leicht seinen Schnurrbart und sprach nachdenk-lich:

»Wenn es sich aber um eine deutsche Frage handelt,und schließlich liegt doch die ganze Zukunft Europasin der Gestaltung der deutschen Zustände eingeschlos-sen, so bedürfen wir der Allianz Österreichs und seinerthätigen Mitwirkung für das deutsche Nationalgefühl.

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Die Fürsten Süddeutschlands werden schwere Beden-ken haben, sich Frankreich anzuschließen, währendsie gewiß gern einem österreichischen Vorgehen folgenmöchten.«

»Ich muß mir erlauben, es auszusprechen, Sire,« er-wiederte der Herzog von Gramont, »daß ich diese Mei-nung Ew. Majestät nicht zu theilen im Stande bin. Ichbezweifle es überhaupt, ob die Könige von Bayern undWürttemberg nach den Erfahrungen des vorigen Jah-res und nach den drohenden Beispielen, welche dieAnnectirung von Hannover und Hessen ihnen gege-ben hat, sich, ohne einen großen Erfolg vor Augenzu haben, je wieder zu einem militairischen Wider-stande gegen die norddeutsche Übermacht entschlie-ßen werden. Jedenfalls werden sie dies am leichte-sten thun, wenn sich ihnen der Schutz einer starkenMacht wie Frankreich bietet. Österreich,« fügte er ach-selzuckend hinzu, »dürfte ihnen wenig Vertrauen ein-flößen zu nochmaligen Experimenten, bei welchen ihreKronen auf’s Spiel gesetzt würden.«

Der Kaiser schüttelte zweifelnd das Haupt.»Sie rechnen nur mit der politischen Klugheit,« sag-

te er, »doch kommt hierbei noch sehr wesentlich einFactor in Frage, das ist das deutsche Nationalgefühl,welches jeder Verbindung deutscher Staaten mit unsentgegenstehen wird.«

Der Herzog zuckte mit leichtem Lächeln die Achseln.

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»Sie kennen die Deutschen nicht,« sagte der Kaiser,den Kopf leicht zur Seite neigend, »wie ich sie ken-ne. Ich habe in Augsburg Erinnerungen meiner Jugendwieder emporsteigen gefühlt. Dies deutsche Volk istmerkwürdig in seiner fast lethargischen Gleichgültig-keit, so lange es nicht durch irgend eine große Ideeerwärmt und angeregt wird. Diese große Idee aber, dieIdee der nationalen Einheit und Kraft, ist jetzt vorhan-den und durchdringt das Volk in allen seinen Theilen.Man darf heute mit dem deutschen Volke nicht mehrrechnen, wie mein Oheim es konnte, als mit einem wil-lenlosen Element, das sich schweigend den Verhältnis-sen unterwirft. – Doch,« fuhr er abbrechend fort, »dassind Conjecturen, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeitdie Zeit zeigen wird. Ich hoffe, daß der König von Bay-ern heute oder morgen hierher kommt, es wird nichtschwer sein, auf den Geist dieses jungen Fürsten Ein-fluß zu gewinnen. Auf der Reise hierher war er sehrzurückhaltend, es war mir kaum möglich, ein ernstesund eingehendes Gespräch mit ihm zu führen.«

»Und glauben Ew. Majestät,« fragte der Herzog, »daßder König von Bayern wirklich hierher kommt?«

»Zweifeln Sie daran?« fragte der Kaiser, indem seinplötzlich klar hervortretendes Auge sich voll Verwun-derung auf den Herzog richtete. »Der Kaiser FranzJoseph hat ihn eingeladen, ich habe ihm selbst denWunsch ausgedrückt, ihn noch hier zu sehen.«

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»Es wäre fast eine Unhöflichkeit, wenn er nichtkäme, und doch, Sire,« sagte der Herzog von Gramont,»glaube ich es nicht. Ich habe es stets,« fuhr er fort,gleichsam dem forschenden Blick des Kaisers antwor-tend, »für meine Pflicht gehalten, zum Verständniß derSituation in Wien mir ein Wenig Fühlung mit den süd-deutschen Höfen zu erhalten, und was ich von Mün-chen gehört habe, läßt mich sehr daran zweifeln, daßBayern geneigt sei, eine Rolle in den Combinationendes Herrn von Beust zu spielen.«

Der Kaiser blickte finster vor sich nieder und warfdas ausgebrannte Ende seiner Cigarette zu Boden.

»Und wenn Sie recht hätten,« fragte er dann mitdumpfem Tone, »was würde die Allianz dieses Öster-reichs bedeuten, wenn es nicht einmal die Macht hätte,die Staaten Süddeutschlands in seine politische Actionhineinzuziehen?«

Er saß einige Secunden in schweigendem Nachden-ken.

Der Herzog erhob sich.»Ich darf mir erlauben, Ew. Majestät daran zu erin-

nern,« sagte er, »daß die Stunde herannaht, zu welcherdie Kaiserin von Österreich mir die Ehre einer Audienzgewähren will.«

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»Gehen Sie, mein lieber Herzog,« sagte der Kaiser,indem er sich erhob und dem Herzog die Hand reich-te. »Ich erwarte Herrn von Beust und hoffe bald zu se-hen, wie viel festen Grund man in seinen Ideen findenkann.«

»Darf ich Ew. Majestät noch um die Erlaubniß bit-ten,« sagte der Herzog, »zu der Vollendung des Sy-stems der Vicinalwege, welche soeben verkündet wird,meinen Glückwunsch abzustatten? Es ist dies einegroße That der Regierung Ew. Majestät, wichtiger undsegensreicher als eine gewonnene Schlacht.«

Ein glückliches Lächeln umspielte den Mund des Kai-sers und gab seinen Zügen jenen so angenehmen undsympathisch berührenden, fast kindlichen Ausdruck,der ihm in gewissen Augenblicken eigen war.

»Ich bin in der That stolz auf dieses Werk,« sagte er,»das ich ohne Anmaßung als mein eigenes bezeichnendarf, denn es ist das Resultat meines eigenen ernstenStudiums und langer Arbeit. Sie kennen, lieber Her-zog,« fuhr er fort, indem er sich, wie in einer Anwand-lung körperlicher Schwäche, auf seinen Stuhl sinkenließ, »Sie kennen die Verhältnisse der ländlichen Pro-duction in Frankreich, es freut mich, daß Sie mit mirin der Beurtheilung der hohen Wichtigkeit und Bedeu-tung jener Maßregel übereinstimmen, welche ich langevorbereitet und nunmehr glücklich ausgeführt habe. –

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Die reiche Production Frankreichs,« sagte er, wie un-willkürlich einem Lieblingsgedanken folgend, »konn-te bisher nicht zur Verwertung kommen, weil es denLandbauern unmöglich war, ihre Erzeugnisse nach denAbsatzorten zu führen. Sie producirten daher nur ih-ren eigenen Bedarf, und ein großer Theil des nationa-len Reichthums ging verloren. Das neue Wegesystemgiebt nun jedem Bauern die Möglichkeit, die Producteseines Bodens leicht und einfach zu verwerten. Er wirddeshalb die Production auf das höchste anspannen, umseinen Grundbesitz auf die größtmögliche Culturstufezu bringen. Erst später,« fuhr er, immer lebhafter spre-chend, fort, »wird man vollständig beurtheilen können,welchen ungeheuren Zuwachs der Nationalreichthumdadurch gewonnen hat, und wenn Frankreich jemals indie Lage kommen sollte, großen Catastrophen die Spit-ze bieten zu müssen, große financielle Anstrengungenzu machen, wird man erstaunen über die unerschöpf-lichen Leistungen des Landes. Nicht aus den schim-mernden Schatzkammern der Börsenwelt, die in an-scheinend unerschöpflicher Fülle die Augen der Weltblenden, wird man in der Stunde der Opfer schöp-fen, sondern aus dem stillen, dem Schooße der länd-lichen Arbeit entwachsenden Reichthum des Landes,der unerschöpflich ist wie die Fruchtbarkeit, welcheGott in die Erde legte, wie die Arbeitskraft, welche denArm der Menschen spannt. Ich bin hier inmitten derso vielfach gekreuzten Fäden der europäischen Politik,

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mein Geist arbeitet an weiten Combinationen für dieGroße und Macht Frankreichs, alle diese Fäden, dieheute das Spiel der politischen Kräfte lenken, werdenvergehen, meine Combinationen können mich trügen,des Schicksals Hand kann zu schwerem, vielleicht ver-nichtendem Schlage sich gegen mich erheben, das Al-les liegt im Reich der Ungewißheit und hängt von dendunklen Schlüssen des Fatums ab, aber die Quelle desSegens und Wohlstandes, die ich durch die Ausführungmeines Systems der Landwege geöffnet habe, wird inimmer vermehrter Ergiebigkeit fließen, das ist eine Ge-wißheit, die nicht vom Zufall abhängt, wenn nicht eineneue Völkerwanderung zerstörend über die europäi-sche Civilisation hereinbricht. Glauben Sie mir, meinlieber Herzog,« fuhr er mit einem milden, strahlendenLächeln und einem leuchtenden Blick seines weit offe-nen, wie verklärt in die Ferne schauenden Auges fort,»glauben Sie mir, wenn alle Gebäude meines Ehrgei-zes und meiner Hoffnungen zusammenbrechen soll-ten, wenn, was die Vorsehung verhüte, schwere Zei-ten über Frankreich kommen und schwere Opfer vondiesem schönen, theuren Lande verlangt werden soll-ten, wenn man Magenta und Solferino vergessen wird,dann wird man erkennen, was ich geschaffen habe fürdie innere Entwicklung des Wohlstandes meines Vol-kes, das aus dem eigenen Boden, wie einst Antäus,die ewig verjüngende und regenerirende Kraft saugenwird. Möchte man dann so gerecht sein, sich meiner

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in dankbarer Anerkennung zu erinnern und um dieserWohlthat willen die Fehler zu vergessen, die ich zu be-gehen bestimmt bin, wie jeder Mensch, der geboren istin diesem Reich des Irrthums und der Dämmerung.«

Er ließ langsam das Haupt sinken und schien schwei-gend seinen Gedanken zu folgen.

»Ew. Majestät sehen mich voll tiefer Bewunderung,«sagte der Herzog von Gramont im Tone des Hofmanns,»vor dem Geist, der so sorgsam an die tiefen und demgewöhnlichen Blick verborgenen Quellen denkt, auswelchen sich die nationale Kraft entwickelt und er-gänzt, während er zugleich die weite Anspannung die-ser Kraft mit freiem Blick und sicherer Hand zu lenkenversteht.«

»Aus den kleinen Wurzeln ziehen die mächtigenBäume ihre Kraft,« sagte der Kaiser, »ich habe viel undtief über alle Fragen der nationalen Ökonomie nachge-dacht in langen einsamen Stunden – es ist doch gut,«fügte er mit anmuthigem Lächeln hinzu, »wenn einSouverain vorher ein Wenig Verbannter und Gefange-ner gewesen ist. – Doch,« sagte er dann abbrechend,»die Kaiserin Elisabeth erwartet Sie. Auf Wiederse-hen!« und freundlich mit der Hand grüßend entließ erden Herzog, der sich mit tiefer Verbeugung zurückzog.

Längere Zeit blieb der Kaiser in schweigendemNachdenken auf seinem Stuhle sitzen.

»Er hat Recht,« sagte er dann, er hat Recht, es ist eineschwache Stütze, diese österreichische Allianz, deren

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Abschluß noch nicht einmal gesichert ist, und derenBedingungen in verschwimmender Unklarheit schwan-ken. Dieser Staat hat keine Kraft in seiner inneren Gäh-rung, und dieser Staatsmann mit seinem feinen kriti-schen Geist hat keinen Entschluß. Und wenn es wahrist, was Gramont sagt, der gut unterrichtet ist und feinzu beobachten versteht, wenn es wahr ist, daß die süd-deutschen Staaten sich scheu und vorsichtig zurück-halten, welchen Werth hat dann diese österreichischeCombination? – Immerhin,« sagte er nach einem kurz-en Nachdenken mit einem feinen und zufriedenen Lä-cheln, »immerhin hat diese Zusammenkunft die großeBedeutung einer Drohung gegen Preußen, man siehtin Berlin, was ich thun, wohin ich mich wenden könn-te, wenn man dort hartnäckig jede Ausgleichung undVerständigung zurückweist und lediglich den Stand-punkt der vollendeten Thatsache festhält, – Oh,« fuhrer mit demselben zufriedenen Lächeln fort, »er ist nichtso gleichgültig gegen das, was hier vorgeht, dieserpreußische Minister, der es unternommen hat, mir denRang in Europa abzulaufen, so ruhig er scheint, so binich überzeugt, daß sein Auge und sein Ohr hier ist!– Nun, je weniger Wirkliches hier geschehen und er-reicht werden kann, um so mehr Staub muß aufgewir-belt werden; kann die Coalition nicht wirklich gebil-det werden, so soll das Gespenst der Coalition ihn aus

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seiner sicheren Ruhe aufschrecken und ihm die Anma-ßung nehmen, ohne Verständigung mit mir die Gestal-tung Deutschlands in seinem Sinne vollenden zu kön-nen.«

Er stand auf und ging einigemal mit langsamem, et-was schwerfällig schleppendem Schritt im Salon aufund nieder.

»Es wird nothwendig werden,« sagte er dann halb-laut vor sich hin, »es wird nothwendig werden, Italienganz fest zu halten und vor allem die letzten Fäden sei-ner Beziehungen zu Preußen abzuschneiden. – DurchItalien halte ich Österreich, durch Österreich und Ita-lien die Süddeutschen. – Eine Conferenz über die rö-mische Frage,« fuhr er noch leiser fort, als fürchte er,daß die stummen Wände seine Gedanken vernehmenkönnten, »eine Conferenz der Großmächte, Preußenmit den stark katholischen Elementen seiner Bevölke-rung kann den Papst nicht preisgeben, ich werde eingünstiges Spiel haben, die Alliirten von 1866 werdensich immer weiter voneinander entfernen, dazu einigeRecriminationen – Lamarmora –«

Er vertiefte sich immer mehr in seine Gedanken, de-ren Folgen ihm befriedigende Bilder in der Zukunft zei-gen mußten, denn immer heiterer wurde der Ausdruckseines Gesichts, er ließ sich wieder auf den Lehnstuhlnieder und zündete eine neue Cigarette an, deren fei-ne blaue Wölkchen das Gemach erfüllten – aufsteigendsich kräuselnd in verschlungenen Ringen und wieder

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verfliegend, wie die Gedanken und Pläne der Zukunft,die im Kopf des Kaisers sich bildeten.

Nach einiger Zeit trat Felix, sein Kammerdiener, einund meldete:

»Der Herr Baron von Beust steht zu Ew. Majestät Be-fehlen.«

Der Kaiser neigte zustimmend den Kopf und tratdem österreichischen Minister entgegen, welchem derKammerdiener die Thür öffnete.

Herr von Beust war im schwarzen Morgenanzug, dasergrauende Haar an den Schläfen sorgfältig in Lockenfrisirt, sein Gesicht mit den feinen, geistig bewegtenZügen war heiter und frisch und zeigte seinen sorg-los lebensfrohen Ausdruck, den man an diesem so sehrgewandten Staatsmann zu allen Zeiten zu bemerkengewohnt war.

Der Kaiser reichte Herrn von Beust die Hand, undindem er sich wieder in seinen Sessel niederließ, lud erden österreichischen Minister ein, ihm gegenüber Platzzu nehmen.

»Es freut mich sehr, mein lieber Baron,« sagte Napo-leon in verbindlichem Tone, »daß ich mich einmal mitIhnen allein ausführlich besprechen kann, bevor wir inweitere Conferenzen treten, namentlich bevor der Kö-nig von Bayern hier eintrifft, denn es wäre in der Thatsehr erwünscht, daß die süddeutschen Staaten unserEinverständniß nicht nur im großen Princip, sondern

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auch in der einzelnen Detailfragen bereits vollständigfertig fänden.«

Ein eigenthümlich forschender Blick zuckte in schnel-lem Aufblitzen aus den Augen des Kaisers zu demösterreichischen Minister herüber.

Kein Zug veränderte sich in dem ruhig lächelndenGesicht des Herrn von Beust.

»Ew. Majestät sind sehr gnädig,« sagte er, »daß Sieauf eine persönliche Verständigung mit mir einen ge-wissen Werth legen; allerdings würde es für die wei-teren Verhandlungen von großem Vortheil sein, wenngewisse maßgebende Grundzüge zwischen Ew. Maje-stät und mir vorher festgestellt würden. Ich habe mei-ne unmaßgeblichen Ideen über die verschiedenen Fra-gen der europäischen Politik mir in kurzen Sätzen zu-sammengestellt und möchte mir erlauben, sie Ew. Ma-jestät zur gnädigen Beurtheilung zu unterbreiten.«

Er zog aus der Tasche seines Überrocks einen BogenPapier, auf welchem eine Reihe von Notizen von der ei-genthümlich ineinander fließenden, fast unleserlichenHandschrift des Herrn von Beust sich befand.

»Ich bin auf’s Höchste gespannt, Ihre Ideen aus Ih-rem eignen Munde zu hören,« sagte der Kaiser, »nach-dem ich über dieselben bereits ein Wenig durch den

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Herzog von Gramont unterrichtet worden bin. Vor al-lem wird es wichtig sein, uns über Alles das auszu-sprechen, was Deutschland betrifft,« fuhr er fort, in-dem abermals jener rasche, forschende Blick das Ge-sicht des österreichischen Staatsmannes traf. »Sie le-gen mit Recht einen hohen Werth auf die Herstellungeines deutschen Südbundes, der, gestützt auf die Be-dingungen des Prager Friedens, ein Gegengewicht ge-gen den in den Händen Preußens befindlichen nord-deutschen Bund zu bilden geeignet wäre. Gerade überdie Natur der Durchführung dieses Südbundes müß-ten wir uns vollkommen verständigen, bevor der Königvon Bayern hierher kommt, der ja wohl heute noch zuerwarten ist.«

»Die persönliche Anwesenheit des jungen Königsvon Bayern,« sagte Herr von Beust, ruhig und unbe-weglich den Blick des Kaisers erwiedernd, »würde beider großen Verschlossenheit dieses Fürsten vielleichtvon geringer Bedeutung sein, da er nicht gewohnt ist,sich über politische Fragen ohne tieferes vorherigesNachdenken auszusprechen. Die Verhältnisse sind hiermächtiger als die Person, ich bedaure deshalb auchnicht so sehr, wie ich sonst thun würde, die Nachricht,welche ich soeben von Graf Trautmannsdorf erhalten,und nach welcher der König Ludwig sich wahrschein-lich nicht wird entschließen können, seinem fast men-schenscheuen Hange zur Einsamkeit Gewalt anzuthunund hier in Salzburg zu erscheinen.«

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Trotz der dem Kaiser eigenen Selbstbeherrschungkonnte er den Ausdruck düsterer Niedergeschlagenheitnicht ganz verbergen, der bei den letzten Worten desHerrn von Beust auf seinem Gesicht erschien. Er senk-te den Blick auf den Boden und kräuselte die Spitzeseines Schnurrbarts mit den Fingern.

»Vielleicht,« fuhr Herr von Beust fort, »ist es auchbesser, die Idee des Südbundes hier zunächst nach al-len Richtungen zu ventiliren und vorläufig festzustel-len, um sie dann dem König von Bayern vollständigausgearbeitet zur Erwägung mitzutheilen. Der leichtzu Mißtrauen geneigte Geist des jungen Fürsten könn-te bei einer plötzlichen persönlichen Anregung der Sa-che die Furcht vor Überrumpelung fassen und zurück-geschreckt werden.«

Das Gesicht des Kaisers hatte seine vollständigegleichmäßige, heitere Ruhe wiedergefunden. Er stütz-te den Arm auf die Lehne des Sessels, und indem erdas Haupt mit leichter Neigung auf die Schultern her-absinken ließ, sagte er in fast gleichgültigem Tone:

»Ich finde den Gedanken einer innigen Verbindungder Südstaaten, die sich in natürlicher Gravitation anÖsterreich anlehnen würden, in hohem Grade bedeu-tungsvoll für die politische Entwicklung der Zukunft.Wie ein solcher Bund indes in’s Leben geführt wer-den könnte, namentlich bei der unsicheren Haltungvon Baden, ist für mich, der ich den inneren deutschenVerhältnissen ferner stehe, sehr schwer zu übersehen.

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Ich möchte Sie deshalb bitten, mir eine kurze Notizüber Ihre Gedanken mitzutheilen, nicht aus Furcht vorÜberrumpelung,« fügte er lächelnd hinzu, »bis morgenwerde ich dann wohl die Muße gefunden haben, michgenau über Ihre Ideen zu orientiren und en connais-sance de cause mit Ihnen über dieselben zu sprechen.«

Herr von Beust sah den Kaiser bei diesen im unbe-fangensten Tone gesprochenen Worten befremdet an.Er warf einen Blick auf das Papier in seiner Hand undschien eine Bemerkung machen zu wollen. Bevor diesjedoch geschehen, fuhr der Kaiser fort:

»Da der Besuch des Königs von Bayern nicht zuerwarten ist, so haben wir ja auch keine dringendeVeranlassung, diese Frage vor allen anderen in Erwä-gung zu ziehen. Für die großen europäischen Interes-sen liegt uns eine andere Frage näher, das ist die ori-entalische; ich glaube, daß Frankreich und Österreichnach dieser Richtung hin fast ganz identische Interes-sen haben. Der Orient ist vollgehäuft von Zündstoff,und wenn die dort schlummernden gewaltigen Conflic-te einmal zum Austrag kommen, so steht zu befürch-ten, daß eine vernünftige Diplomatie nicht im Standesei, Herrin des angeschürten Brandes zu werden. Ih-re Aufgabe muß daher sein, darüber zu wachen, daßkein Funken in jenes mit Explosionsstoffen vollgefüllteArsenal falle, so lange nicht Chancen vorhanden sind,daß man die dortigen Ereignisse lenken und beherr-schen könne.«

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Eifrig erhob Herr von Beust sein Notizblatt undsprach:

»Ich freue mich, in Bezug auf diesen wichtigstenPunkt ganz mit den Anschauungen Ew. Majestät über-einzustimmen, denn ich hatte mir als Basis für dasEinverständniß der Politik Österreichs und Frankreichsfolgendes notirt:

›Die orientalische Frage darf augenblicklich ihrer Lö-sung nicht näher gebracht werden. Etwaigem Versucheiner dritten Macht, nach dieser Seite hin vorzugehen,ist entgegenzutreten.‹«

Der Kaiser nickte mehrmals zustimmend mit demKopfe.

»Das ist in wenigen Zügen,« sagte er dann, »ganz ge-nau die Richtschnur einer vernünftigen Politik; es han-delt sich nur darum, zu erwägen, welcher Art die Ver-suche der dritten nächstbetheiligten Macht etwa seinkönnten, und vor allem, durch welche Mittel solchenVersuchen wirksam entgegengetreten werden könnte.«

Schnell erwiederte Herr von Beust:»Die Versuche, welche Rußland, denn eine andere

Macht hat kein Interesse an der Anregung der orien-talischen Frage, – die Versuche, welche Rußland ma-chen könnte, werden nicht in der directen Herbeifüh-rung von Conflicten zwischen dem Petersburger Ca-binet und der Hohen Pforte bestehen, man wird, wiedas fortwährend schon geschieht, die von der Türkei

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abhängigen Fürstenthümer zum Streben nach Unab-hängigkeit aufreizen und in diesen Bestrebungen un-terstützen, man wird von Griechenland aus die grie-chischen Unterthanen der Pforte aufwiegeln, so daß,wenn irgend eine, Europa beunruhigende Catastropheausbrechen wird, die Türkei im Unrecht ist und Ruß-land vor den Augen der europäischen Mächte nur denSchutz einer gerechten Sache in die Hand zu nehmenhätte.«

»Ganz recht,« sagte der Kaiser, »dies Spiel liegt ziem-lich deutlich vor Augen; um ihm aber wirksam ent-gegenzutreten, müßte wenigstens eine feste Defensiv-Allianz geschlossen werden, welche unter gewissenVoraussetzungen zur Offensive überzugehen hätte, ummit gewaffneter Hand einzuschreiten.«

Eine peinliche Bewegung zuckte einen Augenblicküber das Gesicht des Herrn von Beust.

»Bei geschickter Verfolgung und Leitung der diplo-matischen Fäden,« sagte er, »dürfte es nach meinerÜberzeugung kaum zu diesem Äußersten kommen,wenn Ew. Majestät Diplomatie vollständig in Überein-stimmung mit der von Österreich in ihrer Haltung undin ihren Worten unbeirrt daran festhält, daß der Ver-trag von 1856 die einzige völkerrechtliche Grundlagefür die Verhältnisse im Orient bildet, und daß jede et-waige, durch die politische Entwicklung gebotene Ver-änderung nur auf der Basis des Pariser Tractats und

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unter der Zustimmung seiner Unterzeichner verein-bart werden könnte, so wird das Gewicht einer so be-stimmt ausgesprochenen Haltung zweier Großmächtenach meiner Überzeugung vollkommen genügen, umalle weiteren Versuche zurückzudrängen. Denn nachden Erfahrungen der Geschichte entstehen die großenKriege nur dadurch, daß nicht rechtzeitig und kraftvollgenug das moralische Gewicht den Angriffen gegenberechtigte Interessen entgegengesetzt wird. Wenn ir-gendwo, so heißt es hier: Principiis obsta.«

Der Kaiser Napoleon strich mit der Hand über seinenSchnurrbart und verbarg unter dieser Bewegung einunwillkürlich über seine Lippen zitterndes Lächeln.

»Wir würden also nur noch genau die Wendungenfestzustellen haben, in welchen die Diplomatie über ih-re Sprache in den orientalischen Angelegenheiten zuinstruiren wäre, und gewiß werden Sie, mein lieberBaron, diese Wendungen in einer so feinen, scharfenWeise zu finden wissen, daß es mir eine Freude seinwird, mich denselben in allen Punkten anzuschließen.– Nach dem Orient,« sprach der Kaiser weiter, »sind esinsbesondere die Bestimmungen des Prager Friedens,welche, wie ich glaube, ein hohes gemeinschaftlichesInteresse für Frankreich und Österreich haben.«

»Auch hierüber,« erwiederte Herr von Beust, »ha-be ich mir erlaubt, die weiteren hauptsächlichsten Ge-sichtspunkte zur Grundlage für die Besprechungen undÜbereinkunft in kurzen Worten zu formuliren.«

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Und sein Notizblatt erhebend, las er langsam undmit Betonung:

»Zur Erhaltung der allseitigen guten Beziehungenwürde eine angemessene Vereinbarung Dänemarks mitPreußen bezüglich Nordschleswigs wesentlich beitra-gen. Eine freundschaftliche Vermittlung Österreichsund Frankreichs, die vielleicht dazu beitragen würde,die allerdings zu hoch gespannten Erwartungen Dä-nemarks auf das richtige Maß zurückzuführen, wärenicht unpassend.«

Napoleon blickte mit dem Ausdruck einer gewissenBefremdung zu Herrn von Beust hinüber.

»Eine herabstimmende Vermittlung Dänemark ge-genüber?« fragte er, »und den preußischen Forderun-gen gegenüber, die in Betreff Nordschleswigs denndoch ein Wenig über die Grenzen der Bestimmungendes Prager Friedens hinauszugehen scheinen? Was soll–«

»Es wird natürlich auch in Berlin erforderlich sein,ernstlich an die Ausführung des Prager Tractats zumahnen, um alle Punkte zu beseitigen, welche frü-her oder später dem europäischen Frieden gefährlichwerden könnten,« warf Herr von Beust ein, »indes jemehr man auch Dänemark von exorbitanten Forderun-gen zurückzuhalten sucht und dies officiell zu erken-nen giebt, um so mehr wird man auf Preußen wirkenkönnen, seinerseits das Nothwendige zuzugestehen.«

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Es schien, als ob Napoleon etwas sagen wolle, dochhielt er inne und sprach nach einem Augenblick desBesinnens:

»Eröffnungen, wie Sie dieselben soeben angedeutethaben, und wie ich sie meinerseits ebenfalls als nichtunpassend betrachten kann,« der Kaiser legte hier eineleichte Betonung auf die Wiederholung des vorher vonHerrn von Beust gebrauchten Wortes, »möchten mei-ner Ansicht nach nur von Österreich gemacht werdenkönnen. Denn es ist Österreich, welches den Tractatvon Prag unterzeichnet hat, und wenn auch Frankreichals vermittelnde und rathende Macht den hohen Con-trahenten zur Seite stand und an der stricten Erhal-tung des Friedens von Prag ein sehr ernstes Interessehat, so sind uns doch unmittelbar aus jenem völker-rechtlichen Document keine Rechte erwachsen, welchezu einer Interpellation – auch der vorsichtigsten Art –Veranlassung geben könnten. Frankreich würde in Er-örterungen über die Ausführung des Prager Friedensimmer nur dann eintreten können, wenn die unmittel-bar Betheiligten dazu eine directe oder indirecte An-regung gäben und es sich um Ausgleichung entstande-ner Differenzen handelte. Dann würde sowohl unsereStellung als europäische Macht, als auch unsere frühe-re vermittelnde Thätigkeit bei dem Abschluß des Trac-tats uns Berechtigung zur Einmischung geben, welchesonst als unberufene Zudringlichkeit aufgefaßt werdenkönnte. – Ich würde daher in der Notiz, welche Sie die

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Güte gehabt haben, mir vorzulesen, bei der in Aussichtgenommenen freundschaftlichen Vermittlung nur denNamen Österreichs nennen.«

»Nach Ew. Majestät Bemerkungen ist dies gewißrichtiger,« sagte Herr von Beust, mit einem Bleistiftseine Notiz corrigirend, »das gegenseitige Einverständ-niß über die ganze Sache bedingt ja ohnehin, daß derösterreichischen Vermittlung die französische Unter-stützung zur Seite steht.«

»Soweit dies die Formen des diplomatischen Ver-kehrs zulassen,« sagte der Kaiser. »Doch,« fuhr er fort,»da Sie vom Prager Frieden sprechen, so können wirden eigenthümlichen Umstand nicht aus den Augenlassen, daß dieser Tractat doch eigentlich schon voll-ständig in den wesentlichsten Principien verletzt ist. –Die militairischen Verträge der Südstaaten mit Preu-ßen, welche wenigstens unserer Auffassung des Frie-dens ganz zuwiderlaufen, sind geschlossen, und eswird in diesem Augenblick der Eintritt Süddeutsch-lands in den Zollverein durch das Zollparlament vor-bereitet, was kann diesen Verhältnissen gegenüber ge-schehen, um die Herstellung eines Südbundes für dieZukunft möglich zu erhalten?«

Herr von Beust antwortete:»Ew. Majestät haben vollkommen recht darin, daß

durch den Abschluß der Militairconventionen, welche

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im tiefsten Geheimniß während der Friedensverhand-lungen ohne Österreichs und Frankreichs Wissen vor-bereitet wurden, der Sinn und die Bedeutung des Trac-tats vollkommen alterirt ist, indes,« fuhr er mit ei-nem feinen Lächeln fort, »gerade dieser Umstand kannfür die Zukunft sehr günstig sich gestalten. Wir habenganz gewiß das Recht, wegen jener Militairverträge zuinterpelliren und sie als unverträglich mit den Frie-densbestimmungen anzugreifen, das giebt uns in je-dem Augenblick, in welchem wir seiner bedürfen, denConflict ganz fertig in die Hand, und zwar einen Con-flict, in welchem das formelle und materielle Recht aufunserer Seite steht. Im gegenwärtigen Augenblick darfnach meiner Überzeugung jener Punkt gar nicht be-rührt werden, der Kampf zwischen den Unifications-bestrebungen Preußens und den Selbstständigkeitsnei-gungen der süddeutschen Fürsten und Völker wirdSchwierigkeiten auf Schwierigkeiten und Verstimmun-gen auf Verstimmungen häufen, die ja durch eine ge-schickte diplomatische Einwirkung noch immer ver-größert werden können. Lassen wir daher das Alles sei-nen eigenen Weg gehen, es ist der Weg der Zersetzungdes so schnell Geschaffenen, und reserviren wir unsden fertigen Conflict für den Augenblick, in welchemwir seiner bedürfen werden.«

Er hielt inne, der Kaiser schwieg.»Was nun,« sprach dann Herr von Beust weiter, »das

Zollparlament betrifft, so habe ich mir den Satz notirt:

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›Bezüglich Süddeutschlands Eintritt in den Zollvereinist nichts zu bemerken, solange Preußen die Bestim-mungen des Prager Friedens im Auge behält.‹«

Wieder spielte jenes eigenthümliche Lächeln um dieLippen des Kaisers.

»Im Prager Frieden,« sagte Herr von Beust, »ist denSüddeutschen überlassen worden, auf dem Gebiete desmateriellen Verkehrs Vereinbarungen mit dem Nord-bund zu schließen, es würde also ganz unmöglich sein,gegen die angestrebte Zolleinigung irgend etwas zusagen, so lange dieselbe nicht eine Ausdehnung ge-winnt, welche die politische Actionsfähigkeit der süd-deutschen Staaten einschränkt.«

Der Kaiser neigte schweigend den Kopf.»Ich möchte nun,« sagte Herr von Beust, »der Mei-

nung sein, daß, wenn diese Punkte auf der von Ew.Majestät soeben gebilligten Grundlage zwischen Ew.Majestät und meinem allergnädigsten Herrn discutirtund ein Einverständniß darüber erzielt und formulirtist, daß dann das Resultat dieses Einverständnisses inganz allgemeinen Sätzen den übrigen Mächten mit-getheilt, und daß daran die Bemerkung geknüpft wer-de, die hier erzielte Entente bedrohe Niemanden, hal-te den anderen Mächten den Zutritt offen, und nur imFalle von irgend welcher Seite Entschlüsse zur Durch-kreuzung der Entente sich kundgeben sollten, könntenweitergehende und äußerste Eventualitäten erwogenwerden.«

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Rasch erwiederte der Kaiser:»Ich stimme auch hierin ganz mit Ihnen überein,

doch werden Sie gewiß ebenfalls der Meinung sein,daß eine Mittheilung über die hier besprochenen undetwa vereinbarten Punkte an andere Höfe nicht ge-meinschaftlich und nicht etwa in identischer Form zugeschehen haben würde, das könnte als eine Provocati-on aufgefaßt werden, die doch mit dem so friedlichenInhalt unserer Erwägungen gewiß nicht im Einklangstehen würde. Auch ist ja der rechtliche Standpunkt,namentlich in Betreff des Prager Friedens, für uns nichtbei gleiche, es würde mir daher am besten scheinen,die Diplomaten anzuweisen, daß sie in gelegentlichenUnterhaltungen im Sinne der von Ihnen soeben ausge-sprochenen Auffassung sich äußern sollten.«

»Vielleicht wäre ein Rundschreiben dennoch ange-zeigt,« bemerkte Herr von Beust, »damit bei dem fest-gestellten Wortlaut der Erklärungen jedes bei mündli-chen Mittheilungen immerhin mögliche Mißverständ-niß ausgeschlossen bliebe.«

»Ich glaube,« sagte der Kaiser, »daß bei der StellungÖsterreichs zu den mit dem Prager Frieden zusammen-hängenden Fragen ein solches Rundschreiben gewißzweckmäßig sein kann, ich meinerseits müßte mir ei-ne größere Vorsicht und Zurückhaltung auferlegen, umweder juristische Einwendungen noch nationale Emp-findlichkeiten zu provociren.«

Herr von Beust verneigte sich.

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»Ich möchte noch einen Punkt hervorheben, einenschmerzlichen Punkt,« sagte er dann mit etwas leisererStimme, »er betrifft die Auslieferung der Leiche des er-mordeten Kaisers Maximilian, die Bemühungen Öster-reichs allein möchten vielleicht nicht von so großemErfolg sein, als wenn –«

Der Kaiser erhob sich und trat dem ebenfalls so-gleich aufstehenden Minister einen Schritt entgegen,ein wehmüthiges Lächeln umspielte seinen Mund.

»Der Kaiser, Ihr erhabener Herr,« sagte er mit vol-ler Stimme, »kann überzeugt sein, daß ich mit ihm ge-meinschaftlich bei allen Mächten die entschiedenstenund dringendsten Schritte thun werde, um die Aus-lieferung der Leiche des unglücklichen fürstlichen Op-fers eines zu feinen und hochsinnigen Ehrgefühls zuerreichen, und für die Sicherstellung der beiderseiti-gen Unterthanen von Frankreich und Österreich Sorgezu tragen. Alles in dieser Richtung soll gemeinschaft-lich erwogen und ausgeführt werden. Gott gebe, daßder gemeinsame Schmerz, den der Kaiser kaum tieferempfinden kann als ich, ein Band bilden möge, dasFrankreich und Österreich für die Zukunft immer festerund inniger vereinigt. – Ich möchte nun meinerseits,«fuhr Napoleon nach einem längeren Schweigen fort,»noch eine Frage anregen, welche für jetzt und insbe-sondere für die Zukunft eine große Bedeutung hat. Ichwill nämlich von dem Verhältniß zu Italien sprechen,dieser Macht, die bei einem Einverständniß zwischen

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Frankreich und Österreich nicht unberücksichtigt blei-ben darf, da sie ebenso sehr geeignet ist, eine gemein-same Action zu verbinden und zu unterstützen, als un-ter Umständen trennend zu verhindern.«

»Ew. Majestät wissen,« erwiederte Herr von Beust,»wie sehr ich von der Nothwendigkeit der Verständi-gung und des Zusammengehens mit Italien überzeugtbin und wie sehr ich das neuentstandene Reich fürein nothwendiges Glied halte in dem Gefüge der Co-operation von Frankreich und Österreich. Ich habe Al-les gethan, um eine freundliche Annäherung herzustel-len und die Erbitterung und Verstimmung schwindenzu lassen, welche die Erinnerung an die Vergangen-heit geschaffen hat. Ew. Majestät wissen auch, auf wieschmerzliche Weise die Pläne zur Wiederbelebung derverwandtschaftlichen Beziehungen beider Höfe durch-kreuzt worden sind, indes auch ohne das Band un-mittelbarer fürstlicher Verwandtschaft wird es möglichsein, die Verbindung von Österreich und Italien herzu-stellen und zu erhalten, ich hoffe, daß diese Macht,welche in früheren Zeiten der Schauplatz war, aufwelchem Frankreich und Österreich um ihren Einflußkämpften, nunmehr bestimmt sein wird, das verbin-dende Element mit den beiden Mächten zu bilden.«

Der Kaiser hörte aufmerksam zu und schien nochweitere Erörterungen des Herrn von Beust zu erwar-ten.

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»Auch das Project einer fürstlichen Familienverbin-dung,« fuhr Herr von Beust fort, »ließe sich ja, wennauch in anderer Form, wieder aufnehmen. Der Vertrau-te des Königs von Hannover, welcher vor Kurzem vonParis nach Wien kam, hat mir von einer Ew. Majestätohne Zweifel bekannten Idee gesprochen, nach wel-cher das hannoverische Haus durch eine seiner Prin-zessinnen das Bindeglied zu einer persönlichen, nahenBeziehung zwischen dem österreichischen und italie-nischen Hofe werden soll. Bei dem innigen Freund-schaftsverhältniß, welches das Kaiserhaus mit der Fa-milie des Königs von Hannover verbindet, und bei derganz besonderen Zuneigung, welche Ihre Majestät dieKaiserin für die hannoverischen Prinzessinnen hegt,würde die Ausführung jener Idee in ihrer Wirkungeinem unmittelbaren Verwandtschaftsbande zwischenden Häusern von Habsburg und Savoyen fast gleich-kommen. Der Kaiser, mein allergnädigster Herr, hatnicht unterlassen, auf die erste Mittheilung von jenemGedanken sich sogleich zum König von Hannover zubegeben, um ihm zu sagen, daß der König durch einschnelles Eingehen auf dieses Project seiner eigenenSache einen ebenso großen Dienst leisten würde alsden Interessen Österreichs.«

»Ein sehr guter Gedanke,« sagte der Kaiser, seinenSchnurrbart streichend, »von dem ich hoffe, daß er sichausführen lassen wird; doch,« fuhr er abbrechend fort,»jede solche Verbindung würde immer nur die Krönung

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eines Gebäudes sein, das auf einem politisch sicherenFundament erbaut sein müßte. – Sie wissen, daß dievorgeschrittene Actionspartei in Italien einer Verbin-dung mit Österreich sehr abgeneigt ist. – Die Allianzmit Preußen hat Italien die Erfüllung längst geheg-ter und berechtigter Wünsche gebracht, durch derenrechtzeitiges Zugeständniß Österreich, als es nicht un-ter Ihrer politischen Leitung stand,« fügte er mit artigerVerneigung hinzu, »sich vieles Unglück hätte ersparenkönnen. – Um der italienischen Regierung, welche vonder Fortschrittspartei leider nur zu sehr abhängig ist,die Möglichkeit zu gewähren, sich von Preußen defini-tiv zu trennen und mit Österreich zu verbinden, müß-te Italien als Preis dieser neuen Allianz eine wenig-stens theilweise Erfüllung der Wünsche geboten wer-den, welche dort noch übrig blieben, damit die Regie-rung dem Volk einen Gewinn zeigen und den Einflußder radikalen Actionspartei paralysiren könne.«

»Ew. Majestät wissen,« sagte Herr von Beust, »daßich in diesem Augenblick im Begriff stehe, einengroßen und ernsthaften Kampf gegen den Ultramon-tanismus wegen der von allen liberalen Parteien gefor-derten Aufhebung des Concordats zu führen. Ew. Ma-jestät werden ermessen, daß Seine Majestät der KaiserFranz Joseph bei seiner streng kirchlich katholischenGesinnung sich nur sehr schwer, nur im Hinblick aufden allgemeinen Wunsch des Landes hat entschließenkönnen, diesen Kampf aufzunehmen, es würde unter

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diesen Umständen doppelt schwer sein, Seine Majestätzur Theilnahme an einer Action zu bestimmen, wennsie darauf abzielte, das Verhältniß zwischen dem Hei-ligen Stuhl und Italien zu alteriren oder gar die Un-abhängigkeit der päpstlichen Curie weiteren Beschrän-kungen zu unterwerfen. – Seine Majestät müßte viel-leicht mit Recht befürchten, daß in einem gleichzei-tigen Vorgehen gegen das Concordat und gegen dievölkerrechtliche Stellung des Papstes eine principiel-le Gegnerschaft gegen die katholische Kirche erblicktwerden könne. Und selbst die freisinnige Bevölkerungdes österreichischen Kaiserstaates möchte eine solcheAuffassung theilen und, wie ich überzeugt bin, derarti-ge Schritte nicht überall billigen.«

Napoleon lächelte.»Seien Sie unbesorgt,« sagte er, »es ist nicht Rom,

wovon ich sprechen will, ich bin keineswegs gesonnen,den Papst fallen zu lassen und zu gleicher Zeit eine fürden französischen Einfluß so wichtige Position aufzu-geben. Das italienische Nationalgefühl verlangt, nach-dem Venetien wieder mit dem neuen Reiche vereinigtist, daß auch alle Gebiete, welche nach Bevölkerungund Sprache zu Italien gehören, mit dem Nationalstaa-te wieder vereinigt werden. Von diesen Gebieten istwesentlich das italienische Tyrol noch übrig, welches,wie mir scheint, für Österreich nur eine sehr geringeBedeutung hat, und dessen Abtretung an Italien dorteine große Freude erregen und den Wunsch nach Rom

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als Hauptstadt, für einige Zeit wenigstens, in den Hin-tergrund drängen würde. Könnte die italienische Re-gierung mit Tyrol als Angebinde vor die Nation tre-ten, so würde sie der österreichischen Allianz eine en-thusiastische Aufnahme sichern, den preußischen Ein-fluß definitiv aus der italienischen Politik verdrängenund kräftig in unsere Action eingreifen können. Selbst-verständlich,« fügte er in leichtem Ton hinzu, indemein scharfer Blick seines schnell aufgeschlagenen Au-ges zu Herrn von Beust hinüberglitt, »selbstverständ-lich dürfte, wenn eine solche Action einträte und, wiekaum zu zweifeln ist, siegreichen Erfolg hätte, Öster-reich die Berechtigung ansprechen, für jene Gebietsab-tretung Compensation nach anderer Richtung für sichin Anspruch zu nehmen.«

Herr von Beust blickte mit einiger Verlegenheit zuBoden und spielte leicht mit den Spitzen seiner Fingeran der Schleife seiner Cravatte.

»Sire,« sagte er nach einigem Nachdenken, währendder Kaiser sich wie ermüdet wieder in seinen Sesselniedersinken ließ, »ich mache kein Hehl aus meinerpersönlichen Überzeugung, nach welcher für Öster-reich weder aus dem Besitz der Gebiete italienischer,noch aus dem der Landestheile polnischer Nationali-tät Segen erwachsen ist. Österreich hätte diese Gebiete

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vielleicht besser nie erworben, die italienischen Besit-zungen gewiß besser rechtzeitig aufgegeben, um sei-ne ganze Kraft nach Norden zu wenden und sich sei-ne Stellung in Deutschland ungeschmälert zu erhalten.– Aber,« fuhr er etwas zögernd fort, »was die politi-sche Überlegung dem Minister als richtig und vernünf-tig zeigt, das findet oft – einen sehr natürlichen undberechtigten Widerstand in den Gefühlen des Monar-chen. Ew. Majestät werden begreifen, daß die Vergan-genheit persönliche Gefühle im Herzen meines Souver-ains erzeugt hat, welche einer Allianz mit Italien nichtgünstig sind, und welche um so schärfer hervortreten,wenn eine solche Allianz erkauft werden sollte durchAbtretung von Gebietstheilen, die lange zum Besitz desHauses Habsburg gehört haben. Der Gedanke dieserCombination müßte also, wie ich glaube, langsam undruhig erwogen werden, er ist nicht ein Gegenstand füreine schnelle und unerwartete Besprechung, bei wel-cher die Rücksichten des persönlich unmittelbaren Ver-kehrs noch mehr hemmend einwirken. Lassen Ew. Ma-jestät es meine Sorge sein, diesen Gedanken zu pfle-gen und zu entwickeln, er wird reif werden und seineFrüchte tragen. Hier in Salzburg und im persönlichenVerkehr möchte ich Ew. Majestät bitten, diesen delica-ten Punkt nicht zur Sprache zu bringen.«

»Ich danke Ihnen, lieber Baron,« sagte der Kaiser inverbindlichem Conversationston, »daß Sie so aufrich-tig und eingehend mir geantwortet haben, das ist ja

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die Bedingung jedes gemeinsamen Handelns, zugleichbin ich erfreut, daß Ihre politische Anschauung der La-ge mit der meinigen vollständig übereinstimmt, undich werde mit äußerster Vorsicht vermeiden, Ihrer vor-bereitenden Thätigkeit zur Ausführung unserer Gedan-ken vorzugreifen.«

Er sah nach seiner Uhr.»Es ist für heute ein Ausflug nach Klesheim festge-

setzt, die Kaiserin freut sich unendlich auf die schönenBerge, ich werde vorher die Ehre haben, Ihren Majestä-ten meinen Besuch zu machen; wir können vielleichtnoch eine Stunde Zeit gewinnen, einige der angereg-ten Punkte beim Kaiser zu besprechen.«

»Ich werde Seine Majestät darauf vorbereiten,« sag-te Herr von Beust, »und habe nur noch zu fragen, obEw. Majestät vollkommen mit den Arrangements IhrerWohnung zufrieden sind oder ob Sie noch irgend wel-che Befehle haben?«

»Ich danke,« erwiederte der Kaiser aufstehend, »ichwüßte nicht, was noch zu wünschen übrig bleibenkönnte. Die Kaiserin ist entzückt von ihrem Apparte-ment und besonders gerührt von der Aufmerksamkeit,mit welcher ihr Schlafzimmer ganz genau demjenigenin den Tuilerien gleich hergestellt ist. Was mich be-trifft,« sagte er, indem er den Blick im Salon umher-schweifen ließ, »es wäre kaum möglich, mehr Pracht,Geschmack und Comfort zu vereinen.«

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»Es wird dem Kaiser hocherfreulich sein,« erwieder-te Herr von Beust, »daß Ew. Majestät zufrieden sind;die Einrichtung Ihres Appartements hat ein gewisseshistorisches Interesse; es ist diejenige, welche der ar-me Kaiser Maximilian, der so viel Geschmack besaß,für die Residenz in Mailand machen ließ, als er Statt-halter der Lombardei wurde.«

Eine plötzliche tiefe Blässe zog über das Gesicht desKaisers, seine Lippen preßten sich aufeinander und sei-ne Augen blickten mit dem Ausdruck des Entsetzensauf diese reichen und schön geformten Meubel, dieden Salon ausfüllten.

Schnell aber faßte er sich wieder, reichte Herrn vonBeust die Hand und sagte mit verbindlichem Lächeln:

»Auf Wiedersehen also; ich wünsche mir nochmalsGlück, daß unsere Ideen sich so sympathisch begeg-nen.«

Herr von Beust verließ den Salon.Kaum war der Kaiser allein, als abermals jener Aus-

druck des Entsetzens auf seinem Gesicht erschien, erließ sich wie in tiefer Erschöpfung auf seinen Stuhl nie-dersinken und flüsterte mit bebenden Lippen:

»Ist es eine Mahnung des Verhängnisses, daß dieseMeubel mich hier umgeben, die der todte Maximilianeinst im Glück und Glanz machen ließ, er, der jetzt soschauervoll geendet? – Ich kam hierher,« fuhr er fort,indem sein Haupt schwer auf die Brust herabsank, »um

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diesen blutigen Schatten zu beschwören, der sich zwi-schen Frankreich und Österreich erhebt, und nun tritter mir selbst in den leblosen Meubeln meines Zimmersdrohend entgegen!«

Wie zurückschaudernd vor der Berührung des Stuh-les, in dem er saß, sprang er rasch empor und ging miteinigen großen Schritten im Zimmer auf und nieder.

»Ist es der dämonische Einfluß dieses Todten, deralle meine Pläne hier scheitern läßt?« sagte er dann,finster vor sich niederblickend. – »Ich suchte die Basiseiner festen Stellung – und ich finde diesen Mann, des-sen beweglicher Geist nur die Phrase und die Formelzuzuspitzen weiß, der nicht über die Negation hinaus-kommen kann! – Welch’ eine wunderbare Auffassung,welch eine nebelhafte Selbsttäuschung oder furchtsa-me Besorgniß, den Verhältnissen gerade in’s Auge zusehen!« rief er mit bitterem Ton. – »Dänemark, das er-ste Opfer der preußischen Macht, soll durch freund-schaftliche Einwirkung zum Nachgeben bestimmt wer-den, gegen die Verletzung des Prager Friedens weißer kein anderes Mittel zu empfehlen, als Schweigenund Warten, Warten, bis die jetzt noch den Süddeut-schen widerstrebende Einigung mit dem Norden sichdurch die tausend Beziehungen des materiellen Lebensunauflöslich verkittet hat! Und die Allianz mit Italienlangsam vorbereiten, ein kleines Opfer will man scheu-en, um so Großes zu erreichen! – Nein, nein,« fuhrer fort, »dieser Mann wird nie ein fester Verbündeter

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sein – ich habe mich getäuscht – dies in so viele Theilegespaltene Österreich bedarf einer festen und energi-schen Hand, um alle diese Theile zu einem handlungs-fähigen und thatkräftigen Ganzen zusammenzufügen,nicht eines dialektischen Geistes, der seine Gewandt-heit zu beweisen glaubt, indem er die Kräfte der ein-zelnen Theile des Reiches in constitutionellem Spielund Gegenspiel gegen einander abnützt und sie so unt-hätig macht. – Ich muß anders vorgehen,« sagte ernach einer Pause, »ich muß mit Italien mich zunächstverständigen, das italienische Tyrol muß es erhalten,und dann soll Österreich und dieser unschlüssige Herrvon Beust vor die einfache Frage: Ja oder Nein – ge-stellt werden. So allein ist eine Coalition möglich, wel-che auch die süddeutschen Staaten umfaßt, ohne wel-che eine Action gegen Preußen thöricht wäre. Ohneeinen starken Druck werden die süddeutschen Fürstenes niemals wagen, zu handeln, und steht Italien fest zumir, folgt Österreich dem nothwendigen Zuge dieserAllianz, so ist Süddeutschland eingeschlossen und hateinen gewiß willkommenen Vorwand, um sich von derimmer engeren Umarmung des Nordbundes zu befrei-en. – Hier ist nichts zu thun,« sprach er seufzend, »alsdie Comödie mit Anstand zu Ende zu spielen, damit siewenigstens vor den Augen der Welt ihren Zweck erfül-le und mir als Druckmittel in Berlin nütze, wo ich dochnoch einen Versuch machen will, denn dort liegt die

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wahre Macht, mit der ich lieber mich verbinden als ge-gen sie kämpfen möchte. – Immerhin ist dieser Besuchnützlich gewesen. Diese Vormittagsstunde ist nicht ver-loren, das Nichterscheinen des Königs von Bayern, die-se Unterhaltung mit Herrn von Beust, die mir das Vaku-um in seinem Geiste klar gezeigt hat, das Alles hat mirwie ein erhellender Blitz die Situation klar gemacht,und von diesem Augenblick an beginnt eine neue Acti-on für mich – ohne Illusion, mit bestimmtem Ziel.«

Er richtete den frei aus seinen Augenlidern hervor-tretenden Blick sinnend aufwärts und citirte langsamdie Worte aus dem »Tod des Pompejus«:

»J’ai servi, commandé, vécu quaranteannées:

Du monde entre mes mains j’ai vu lesdestinées;

Et j’ai toujours connu, qu’en tout évé-nement,

Le destin des États dépendait d’un mo-ment.«

VIERZIGSTES CAPITEL.

Der Kaiser Napoleon war nach Paris und der Kai-ser Franz Joseph nach Wien zurückgekehrt. Die Con-jecturalpolitik hatte allmählich aufgehört, sich mit derZusammenkunft zu beschäftigen. Das einzige greif-bare Resultat dieser so vielfach besprochenen Begeg-nung war die von den wiener und pariser Journalen

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einmüthig verkündete Nachricht, daß der Kaiser vonÖsterreich im Oktober den Besuch Napoleons erwie-dern und zur Besichtigung der Ausstellung in Paris er-scheinen werde. Bei diesem Besuche würden dann, soerzählten die mehr oder weniger officiösen Correspon-denten aus Paris und Wien, die vorläufigen Bespre-chungen von Salzburg zu bestimmten Stipulationen er-hoben werden.

Unbekümmert um alle Conjecturen, welche man andie Zusammenkunft in Salzburg geknüpft hatte, undwelche man noch an den bevorstehenden Besuch desKaisers von Österreich in Paris zu knüpfen fortfuhr,saß der Kanzler des norddeutschen Bundes vor demgroßen Schreibtische in seinem Arbeitszimmer. DasGesicht des Grafen Bismarck zeigte den Ausdruck ruhi-ger Heiterkeit, es schien nicht, daß irgend eine am Ho-rizont der europäischen Zukunft aufsteigende Wolkeseinen Gleichmuth zu beeinträchtigen im Stande sei.Er hielt einen Brief in der Hand, den man ihm soebenüberbrachte, und durchlas aufmerksam dessen Inhalt.

»Dies scheint allerdings die Handschrift Garibaldiszu sein,« sagte er, genau die Schriftzüge des Briefesprüfend, »er empfiehlt mir den Überbringer als einenvertrauenswürdigen Mann, der mir wichtige Mitthei-lungen zu machen habe. – Hören will ich ihn,« sagteer nach einigem Nachdenken, »wie ich Alles zu hörengewohnt bin, was an mich herantritt, aber wer bürgtmir dafür, daß man mir nicht irgend eine Falle stellt,

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sei es von Österreich aus, um Conflicte mit Frankreichzu erregen, sei es auch von Paris aus! – Die Handschriftdieses Garibaldi ist so leicht nachzuahmen, und,« fuhrer fort, »wie leicht könnte man den alten, naiv fanati-schen Condottire selbst zu einer Intrigue mißbrauchen,um mich zu compromittiren!«

Er bewegte die Glocke. »Ist der Überbringer diesesBillets noch da?« fragte er den Kammerdiener.

»Er hat unten die Antwort Eurer Excellenz abwartenwollen.«

»Lassen Sie ihn rufen,« sagte der Graf, »ich will ihnempfangen.«

Nach einigen Minuten, während deren der Mini-sterpräsident langsam im Zimmer auf und niederschritt, öffnete der Kammerdiener einem mittelgroßen,schlanken Mann in einfachem, schwarzen Anzug dieThür. Der Eintretende mochte etwa vierzig Jahre altsein, sein Gesicht war gelblich bleich, das dunkle, leb-haft bewegte Auge sah unter den Wimpern hervor mitjenem eigenthümlichen, halb träumerisch glühenden,halb lauernd zurückhaltenden Blicke, der allen Ver-schwörern aller Zeiten und Länder gemeinsam ist.

Graf Bismarck hatte sich der Thür zugewendet, gingdem Eintretenden einen Schritt entgegen und sprach,sich mit kalter Höflichkeit verneigend:

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»Sie haben mir ein Einführungsschreiben des Gene-rals Garibaldi gebracht, mein Herr, ich bin mit Vergnü-gen bereit, zu hören, was der General mir mitzutheilenhat.«

Er deutete auf einen seinem Schreibtisch gegenüberstehenden Lehnstuhl und setzte sich selbst auf der an-dern Seite vor seinem Schreibtisch nieder.

»Der General hat mich zu Eurer Excellenz gesendet,«sagte der Fremde in französischer Sprache, »weil er dasfeste Vertrauen hat, daß die Gesinnungen und Über-zeugungen, welche Sie im vorigen Jahre bei dem Ab-schluß einer Allianz mit Italien erfüllten, auch heutenoch für Sie maßgebend sind, und daß Sie die tiefeÜberzeugung des Generals theilen, die Einigung undErstarkung Deutschlands zur nationalen Macht undGröße könne nur in inniger Verbindung mit dem Ei-nigungswerk Italiens zur Vollendung gebracht werden,wie die Feinde der deutschen Einheit und derjenigenItaliens dieselben sind.«

Das klare, graue Auge des Grafen ruhte mit schar-fem und durchdringendem Blicke auf dem Fremden,der eine gewisse Befangenheit nicht verbergen konnteunter dem Eindruck dieses eisernen und kalten Blicks.

»Ich habe durch die gemeinsame Action im vori-gen Jahre bewiesen,« sagte Graf Bismarck mit ruhi-gem Tone, »wie sehr ich davon durchdrungen bin,daß die neuen, nationalen Gestaltungen in Italien undDeutschland viele gemeinsame Interessen bedingen

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und gemeinsamen Feinden begegnen, und durch mei-ne Haltung seitdem glaube ich gezeigt zu haben, daßmeine Ansichten in dieser Beziehung sich nicht geän-dert haben, wenn ich auch zuweilen nicht habe verken-nen können, daß eine gleiche Continuität der Ansich-ten bei der italienischen Regierung nicht immer statt-zufinden schien.«

»Die italienische Regierung ist nicht das italienischeVolk, Herr Graf,« sagte der Fremde, »in diesem Augen-blicke am allerwenigsten. Es machen sich am Hofe zuFlorenz in diesem Augenblicke maßgebende Einflüs-se geltend, welche von Paris aus geleitet werden, undwelche nach der Überzeugung des Generals und alleritalienischen Patrioten geradezu den wahren Interes-sen der Nation entgegenarbeiten.«

Graf Bismarck neigte ruhig und schweigend dasHaupt, es wäre schwer zu sagen gewesen, ob zum Zei-chen des Einverständnisses mit den Worten des Spre-chenden oder der bereitwilligen Aufmerksamkeit, sei-nen weiteren Eröffnungen zuzuhören.

»Eure Excellenz haben noch mehr Mittel als wir,«fuhr der Emissär Garibaldis fort, »um die Fäden dereuropäischen Politik zu verfolgen, es wird daher IhremBlicke nicht entgangen sein, was vor uns klar daliegt,daß nämlich in diesem Augenblick ein Plan gesponnenwird, der in Salzburg zuerst Form erhielt und der beidem Besuch des Kaisers von Österreich in Paris, wo

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auch Victor Emanuel anwesend sein soll, zur Vollen-dung gebracht zu werden bestimmt ist.«

Ein leichtes Lächeln glitt wie ein unwillkürlichesZucken über das ernste Gesicht des Ministerpräsiden-ten, dann blickte er mit unverändertem Ausdruck ei-ner gespannten, fast neugierigen Aufmerksamkeit zuseinem Besuche hinüber.

»Es handelt sich darum,« fuhr dieser fort, »diefranzösisch-österreichische Allianz, welche dem wei-teren Fortschritt der deutschen Einigungsbewegungentgegengestellt werden soll, durch den verbinden-den Eintritt Italiens in diese Combination zu ermög-lichen, und mit kleinlichen und ungenügenden Con-cessionen das Nationalgefühl und die nationalen For-derungen des italienischen Volkes einzuschläfern, umdas große Ziel, die Erhebung der nationalen Fahne aufdem Capitol, zu beseitigen. – Ein solche Politik wäreaber,« sprach er lebhaft weiter, »für Italien geradezueine selbstmörderische, denn sie würde dahin führen,daß diesseits wie jenseits der Alpen eine unfertige, inewigem, innerem, unruhigem Ringen sich aufreiben-de Staatsform erhalten bliebe, welche es der franzö-sischen und österreichischen Politik möglich machenwürde, ihren zersetzenden und durch die Zersetzungherrschenden Einfluß nach beiden Richtungen fernerauszuüben und mit der Zeit auch das wieder zu zer-stören, was unter der Mitwirkung Napoleons geschaf-fen ist, der heute schon bitter bereut, zu der Einigung

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Italiens activ – und zu derjenigen Deutschlands passivseine Hand geboten zu haben.«

Er hielt inne.»Und wie glaubt der General Garibaldi den Plänen

begegnen zu können, über deren Existenz Sie mir zusprechen die Güte haben, und deren Ausführung, wieich anerkenne, wenn sie in der Absicht der betreffen-den Cabinette liegen sollte, für Deutschland ebenso be-denklich wäre wie für Italien?«

Ein gewisses Erstaunen zeigte sich auf dem Gesichtedes Boten Garibaldis.

»Die Ausführung dieser Pläne,« sagte er, »liegt in derThat in der Absicht der Cabinette und ist bereits weitvorgeschritten, daß sie nicht noch weiter gediehen ist,liegt vielleicht nur an einem gewissen Widerstrebendes Kaisers Franz Joseph und an dem ängstlichen Zö-gern Ratazzis, der die mächtige Aufwallung des natio-nalen Unwillens in Italien fürchtet und durch allerleikleine Mittel und Intriguen zurückzuhalten sucht. Wirhaben die Beweise,« fuhr er fort, indem er einige Pa-piere aus seiner Tasche zog, »daß –«

Graf Bismarck machte eine abwehrende Handbewe-gung.

»Wir sprachen von Eventualitäten, deren Möglich-keit die Erörterung anderer Eventualitäten bedingt, umgemeinsamen Gefahren zu begegnen, bleiben wir da-bei – nach Erörterung dieser Eventualitäten wird esZeit sein, zu erwägen, ob es geboten sei, das Gebiet

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der Thatsachen zu betreten. – Was glaubt der Generalvorbereiten und thun zu müssen, um die Ausführungder Pläne, welche er voraussetzt, zu verhindern?«

Der Fremde unterdrückte einen gewissen Ausdruckvon Enttäuschung, der bei den Worten des Ministersauf seinem Gesicht erschien, und fuhr fort, indem erseine Papiere wieder in die Tasche seines Rockes steck-te:

»Wie die Regierung zu Florenz, französischen Ein-flüssen gehorchend, daran arbeitet, das nationale Ge-fühl einzuschläfern und Italien in eine Combinationhineinzuführen, welche die Entwickelung zur nationa-len Größe und Macht für lange Zeit unterbrechen muß,während dies Werk der Finsterniß, dieser große Ver-rath an der Sache des Volks sich vorbereitet, ist es dieAufgabe der wahren Patrioten, durch einen reinigen-den und plötzlich erhellenden Wetterschlag das Volkzu erwecken und ihm das Ziel seines Strebens in schar-fer Erleuchtung vor Augen zu führen, das Volk wirdschnell begreifen, wo seine wahren Interessen liegen,die Regierung wird der Aufwallung des Volkswillensfolgen müssen, die Verräther werden stürzen, und viel-leicht wird es gelingen, mit einem kräftigen Schlag dasWerk zu vollenden und das Gebäude der nationalenEinheit Italiens auf dem Capitol zu krönen. – Ich habe,«fuhr er lebhafter fort, »die Zuversicht, daß dies gelin-gen wird – und wenn es gelingt – wenn es unter demBeistande Eurer Excellenz gelingt, so wird Deutschland

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an dem zu voller Macht erstarkten Italien einen treu-en und thatkräftigen Bundesgenossen haben, der je-derzeit bereit sein wird, ihm die Hand zu bieten, umauch seinerseits alle Schranken niederzuwerfen, wel-che innere und äußere Feinde seiner Einigung nochentgegenstellen. – Ich spreche besonders auch,« fuhrer fort, als Graf Bismarck in ruhigem Schweigen ver-harrte, »von den inneren Feinden – denn auch diesesind bei den Nationen gemeinsam wie die äußeren.Das Papstthum und die von ihm abhängige Hierarchiebekämpft mit allen Mitteln die italienische Einheit, we-niger um des Glaubens willen – denn Italien ist ka-tholisch und wird trotz aller freien Ideen, die das Volkdurchziehen und bewegen, gut katholisch bleiben, dasPapstthum kämpft vielmehr gegen die italienische Ein-heit in thörichter Verblendung zur Erhaltung des abso-lutistischen Priesterstaats, den es für sein besonderesRecht und für die wesentlichste Stütze seiner Machthält. Man begreift in Rom nicht, daß das Papstthumunendlich mächtiger wäre, wenn es der nationalen Be-wegung die Hand reichte, sich an die Spitze derselbenstellte und so, von dem gewaltigen Aufschwunge desVolkes getragen, eine neue Herrschaft begründete, derdie Zukunft gehören würde. – Doch das ist vorbei,«fuhr er seufzend fort, »es ist der Krieg auf Leben undTod erklärt zwischen der Nation und der Kirche, wie siejetzt ist – und mögen diejenigen es verantworten, wel-che ihn heraufbeschworen haben. – Wie aber,« sprach

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er weiter, »das Papstthum die nationale Einigung Itali-ens bekämpft, um seinen politisch absoluten Priester-staat zu erhalten, so wird es die Einigung Deutsch-lands aus religiösen Gründen bekämpfen. Einen deut-schen Kaiser würde der Vatican gern acceptiren, aberdaß dieser deutsche Kaiser ein protestantischer Fürstsein soll, daß das freisinnige Berlin der MittelpunktDeutschlands werden soll, das wird man in Rom nichtzulassen wollen, und bald wird man alle Dämonen derFinsterniß heraufbeschwören, um die Wurzeln der na-tionalen Einheit in Deutschland zu untergraben undden Religionshaß mit seiner zerstörenden Furienfackelaufzuhetzen gegen die einträchtige Erstarkung des Vol-kes.«

»Wir haben uns in keiner Weise über die römi-sche Curie zu beklagen,« sagte Graf Bismarck ruhig,»und Preußen, in dessen Hand die nationale ZukunftDeutschlands liegt, hat viele sehr patriotisch gesinn-te katholische Unterthanen; wenn also der König vonPreußen persönlich Protestant ist, so ist er als Staats-oberhaupt doch wahrlich kein Feind der Katholiken,und ich sehe in der That nicht, welche Veranlas-sung das Papstthum haben könnte, sich der ErstarkungDeutschlands unter preußischer Führung entgegenzu-stellen.«

»Und doch wird es geschehen,« erwiederte der AgentGaribaldis, »blicken Sie hin auf Süddeutschland, aufdie Volkspresse in Bayern, auf Polen, überall regt und

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bewegt sich der zersetzende, feindselige Einfluß derultramontanen Parteiführer – und wenn heute die rö-mische Curie noch keine officielle Stellung in diesemKampfe nimmt, so wird dies früher oder später gesche-hen, früher oder später wird die Maske fallen, Sie wer-den sich und Ihr Werk dem hartnäckigen und erbit-terten Eifer der unversöhnlichen Hierarchie gegenübersehen.«

»Wenn das geschehen sollte,« sagte Graf Bismarckmit fester, volltönender Stimme, »wird man mich stetsbereit finden, den Kampf aufzunehmen und die Waffennicht eher niederzulegen, als bis der Gegner überwun-den ist. Ich meinerseits aber habe keinen Grund, einensolchen Streit heraufzubeschwören.«

»Ich habe,« sagte der Italiener, »diesen Gegenstandnur berührt, um meine Ansicht über die Zusammen-gehörigkeit der Interessen von Deutschland und Itali-en vollkommen klar zu machen; ich will mir nun er-lauben, den Weg zu bezeichnen, auf welchem der Ge-neral die Nation zu erwecken und die verrätherischenPläne des gegenwärtigen Ministeriums zu durchkreu-zen denkt. Der General hat den Rath seiner Getreuenversammelt und beabsichtigt sogleich einen Zug gegenRom zu unternehmen, welcher den nationalen Geistmächtig erwecken, und das Ministerium zwingen wird,Farbe zu bekennen. Mag Ratazzi noch so sehr dem Ein-flüsse Frankreichs gehorchen, der König Victor Emanu-el wird der nationalen Bewegung folgen, und was die

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Hauptsache ist, Frankreich wird gezwungen sein, unsentweder Rom auszuliefern, oder aber sich der natio-nalen Erhebung mit den Waffen in der Hand entgegen-zustellen und damit für immer jede Allianz mit Italienfür sich unmöglich zu machen.«

»Es liegt viel Wahres und Richtiges in der politi-schen Combination, die Sie mir soeben entwickeln; je-der Staatsmann in Europa hat gewiß das höchste In-teresse, eine Bewegung, wie die von Ihnen angedeu-tete, mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu verfol-gen. Ich danke Ihnen für das Vertrauen und vermagnur nicht genau zu sehen, in welcher Weise die vonIhnen vorhin als wünschenswerth bezeichnete Mitwir-kung meinerseits bei dem vom General beabsichtigtenUnternehmen würde eintreten können.«

»Ich werde die Natur der Mitwirkung Eurer Excel-lenz an einem für Deutschland so wichtigen Werke mitzwei Worten bezeichnen,« sagte der Abgesandte Gari-baldis; »der General hat Mannschaften genug für seinUnternehmen, denn die ganze Jugend Italiens wirdzu seinen Fahnen strömen, aber er hat keine Waffenund kein Geld, oder wenigstens nicht Waffen und nichtGeld genug, um ein zu nachhaltiger, militairischer Acti-on befähigtes Corps auszurüsten und zu unterhalten.«

»Und der General erwartet von mir Waffen undGeld?« fragte Graf Bismarck, den stahlscharfen Blickgerade auf den Sprechenden richtend, indem ein ei-genthümliches Zucken um seine Mundwinkel spielte.

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»Wenn Eure Excellenz von der Gemeinsamkeit derInteressen Deutschlands und Italiens überzeugt sind,so werden Sie in einer solchen Unterstützung, welchekein völkerrechtliches Hervortreten bedingt, nur dieFörderung der deutschen Sache erblicken.«

Graf Bismarck schwieg einen Augenblick, währenddes Italieners brennende Augen erwartungsvoll auf sei-nem Gesichte ruhten.

»Die Frage, welche Sie angeregt haben,« sagte derMinisterpräsident, »hat zwei Seiten, eine rechtlich po-litische und eine materiell practische. Was zunächst dieletztere betrifft, so muß ich Ihnen sagen, daß ich überkeine Mittel zu verfügen im Stande bin, welche sich derGenehmigung der Kammern entziehen könnten, undnicht früher oder später zum Gegenstand der öffentli-chen Discussion werden müßten.«

»Ich bin überzeugt,« warf der Italiener ein, »daß dieSache Italiens bei der Majorität der preußischen Kam-mer populär genug ist, um die Genehmigung einer sol-chen Verwendung außer Zweifel zu stellen.«

»Parlamentarische Majoritäten,« erwiederte Graf Bis-marck, »lassen sich nach meiner Erfahrung niemalsvorher bestimmen. Es ist indes nicht dieser Gesichts-punkt, von welchem aus ich meine vorherige Bemer-kung gemacht habe, ob die Kammer darüber sympa-thisch denke oder nicht, kann kaum in Frage kommen,

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denn ich würde niemals in der Lage sein, eine Verwen-dung von Geld, wie sie der General wünscht, zum Ge-genstand einer Vorlage zu machen. Das Unternehmendes Generals, so patriotisch seine Beweggründe seinmögen, worüber ja nur Ihre Landsleute zu competenterBeurtheilung berechtigt sind, richtet sich nicht nur ge-gen Rom, sondern auch, formell wenigstens, gegen dieitalienische Regierung, und endlich gegen Frankreich.Mit allen drei Mächten steht Preußen und der nord-deutsche Bund in friedlichen und freundschaftlichenBeziehungen. Wie sollte es mir möglich werden, un-ter solchen Verhältnissen das im Werke befindliche Un-ternehmen auch nur durch Subsidien zu unterstützen?Sie werden begreifen, daß es mir schon aus diesemGrunde ganz unmöglich ist, den Wunsch des Generalszu erfüllen.«

Der Italiener senkte den Blick zu Boden.»Ich hatte gehofft,« sagte er, daß, wo so große Zie-

le in Frage stehen, formelle Hindernisse die Entschlie-ßungen Eurer Excellenz nicht beengen würden.«

»Die Rechtsnormen des internationalen Verkehrssind eine wesentliche Bedingung des Lebens civilisir-ter Völker,« erwiederte Graf Bismarck mit fester Stim-me, »und niemals werde ich mich dem berechtigtenVorwurf aussetzen, die Rechtsnormen mißachtet zu ha-ben.«

Er schwieg und blickte nachdenkend und forschendzu dem Italiener hinüber, der still dasaß und kaum zu

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wissen schien, wie er das an diesem Punkte angelangteGespräch weiter führen solle.

»Um dem General zu beweisen,« sagte der Minister-präsident nach einer Pause, »wie sehr ich sein Strebenfür die Unabhängigkeit seines Landes achte, obwohlich offen gestehen muß, daß ich keine Chancen desErfolges für sein Unternehmen zu entdecken vermag,so will ich eine weitere Unterhaltung über den Gegen-stand Ihrer Mittheilung nicht zurückweisen, wenn Siedamit einverstanden sind, daß der Geschäftsträger Ita-liens an dieser Unterhaltung theilnimmt.«

Der Agent Garibaldis erhob sich rasch.»So tief ich bedaure,« sagte er mit resignirtem Aus-

drucke, »die Wünsche des Generals und diejenigen al-ler Patrioten meines Landes nicht erfüllt sehen zu kön-nen, so muß ich doch unter dieser Bedingung auf ei-ne weitere Unterhaltung über den angeregten Gegen-stand verzichten. Ich habe nur noch die Bitte auszu-sprechen, daß Eure Excellenz meine Mittheilungen alsganz vertrauliche zu betrachten die Güte haben mö-gen.«

»Ich weiß persönlich dem Vertrauen stets zu ent-sprechen,« sagte Graf Bismarck, ebenfalls aufstehend,»und der General kann überzeugt sein, daß das seini-ge nicht getäuscht werden wird; wenn politische Rück-sichten auf die Regeln des nationalen Verkehrs meineHandlungen bestimmen müssen, so kann doch in die-sen Rücksichten keine Veranlassung für mich liegen,

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Dinge, die mir persönlich mitgetheilt werden, denun-ciatorisch Andern zur Kenntniß zu bringen.«

»Ich danke Eurer Excellenz für diese Versicherung,«sagte der Italiener, »und habe nur noch meine Freudeauszudrücken, daß die Mission des Generals Garibal-di mir Gelegenheit gegeben hat, den großen Regenera-tor Deutschlands von Angesicht zu Angesicht zu sehen.Glauben Eure Excellenz auch jetzt uns Ihren Beistandversagen zu müssen, so bitte ich Sie doch, von mir imNamen aller italienischen Patrioten die innigsten Wün-sche für das Gelingen Ihres großen nationalen Werkesentgegenzunehmen.«

Graf Bismarck verneigte sich mit schweigender Höf-lichkeit und begleitete den Emissär Garibaldis einigeSchritte nach der Thür des Cabinets hin.

»Das Schicksal ist mir günstig,« sagte er, indem erleicht die Hände reibend einige Male im Zimmer aufund nieder ging. – »Während man in Paris und Wienkünstliche Pläne spinnt, um der deutschen Entwick-lung eine Coalition entgegenzustellen, welche micheinengen und zurückdrängen soll, kommt mir dieserGaribaldi wie ein deus ex machina zu Hilfe und berei-tet einen Handstreich vor, der für mich von großemWerth ist. Er wird Rom nicht gewinnen, dieser armeEnthusiast,« sagte er achselzuckend, »alle diese Italie-ner, die Freischaaren so wenig wie die Regierungstrup-pen, werden etwas ausrichten, so lange der französi-sche Adler die ewige Stadt und den Papst beschützt.

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Aber das wird jedenfalls erreicht werden durch dieseDiversion, daß die in Salzburg so fein geplante Coali-tion in ihrer innersten Wurzel tödtlich getroffen wird,– Ja, ja,« sagte er lachend, »mein Herr von Beust, mitden feinen Spinngeweben Ihrer politischen Combina-tion fesselt man das erwachende Deutschland nicht. –Doch,« sagte er, rasch zu seinem Schreibtisch tretend,»es ist immerhin erforderlich, diesen eigenthümlichenund geheimen Abgesandten Garibaldis ein Wenig zuüberwachen und mich zu vergewissern, was er treibtund wo er bleibt.«

Er ergriff einen Bogen Papier, warf rasch einige Zei-len seiner großen und charakteristischen Handschriftauf dasselbe, verschloß es mit dem auf dem Tisch ste-henden Petschaft und bewegte die Glocke.

»Dies Billet sogleich an den Polizeipräsidenten,« be-fahl er dem eintretenden Kammerdiener.

»Zu Befehl, Eure Excellenz.«»Ist jemand im Vorzimmer?«»Der französische Botschafter ist soeben gekommen,

ich war im Begriff, ihn Eurer Excellenz zu melden.«»Führen Sie ihn sogleich herein,« sagte Graf Bis-

marck. – »Er ahnt nicht, welche Mittheilung mir soebengemacht ist,« flüsterte er, während der Kammerdienerdem Botschafter die Thür öffnete.

Lächelnd trat der Botschafter des Kaisers Napole-on in das Cabinet, glatt und geschmeidig wie immer,mit ausgesuchter Höflichkeit begrüßte ihn der Graf

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Bismarck. Wer die Begegnung des Ministers und desDiplomaten hätte sehen können, der hätte die Über-zeugung gewinnen müssen, daß die Beziehungen zwi-schen Frankreich und Deutschland die allerbesten undvorzüglichsten seien und daß auf der Grundlage dieserso freundlichen und innigen Beziehungen der europäi-sche Frieden so sicher und fest als möglich beruhe.

Der Botschafter nahm den Platz ein, welchen unmit-telbar vorher der Agent Garibaldis inne gehabt, GrafBismarck setzte sich vor seinen Schreibtisch, mit ver-bindlicher Aufmerksamkeit die Anrede Benedettis er-wartend.

»Ich möchte mir erlauben,« sagte dieser, »heute Ih-re Aufmerksamkeit, mein lieber Graf, ein Wenig aufdie Lage Europas und auf einige für dieselbe beson-ders wichtige Fragen zu lenken. Es ist nicht nur meinpersönlicher Wunsch, meine Ideen mit Ihnen auszut-auschen, der mich dabei leitet, ich bin besonders dazudurch meine Regierung veranlaßt, da der Kaiser, wieSie wissen, einen besonders hohen Werth darauf legt,mit der preußischen Regierung und mit Ihnen,« fügteer mit Betonung hinzu, »in allen Fragen einig zu sein.«

»Ich erkenne besonders dankbar diesen Wunsch desKaisers an,« sagte Graf Bismarck sich verneigend, »under begegnet vollständig dem meinigen, der – abgese-hen von der hohen Achtung, welche ich stets vor denMeinungen des Kaisers habe – aus der innigen und

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aufrichtigen Überzeugung entspringt, daß die Freund-schaft zwischen Deutschland und Frankreich eine we-sentliche Bedingung für die Ruhe Europas ist. Der Kai-ser hat sich übrigens persönlich stets überzeugen kön-nen, daß in so vielen und wesentlichen Punkten unsereAnschauungen ganz die gleichen sind.«

»Ich darf Ihnen nicht ganz verhehlen,« sagte Bene-detti, den ruhig gleichgültigen Blick seines fast aus-druckslosen Auges auf das Gesicht des Ministers rich-tend, »daß in Paris ein Wenig – wie soll ich sagen? –Besorgniß – oder Unruhe darüber besteht, daß die na-hen und augenscheinlich immer inniger sich gestalten-den Beziehungen zwischen Preußen und Rußland, des-sen Interessen im Orient ja nicht immer mit denjenigenFrankreichs zusammenfallen können, Ihren Beziehun-gen zu uns vielleicht ein Wenig Eintrag thun können.«

»Mein lieber Botschafter,« sagte Graf Bismarck la-chend mit dem Ausdruck cordialer Offenheit, »Sie se-hen Gespenster, wo keine sind. – Die guten Beziehun-gen Preußens zu Rußland – basiren übrigens auf derVerwandtschaft der beiden Regentenhäuser und aufTraditionen, welche beiden fürstlichen Familien hei-lig sind, bestehen seit langer Zeit und sind auf jedeWeise vor den Augen von ganz Europa zu jeder Zeitmanifestirt worden. Zu diesen Beziehungen persönli-cher Natur tritt die Nachbarschaft beider Länder, derenVerkehrsbeziehungen immer mehr und dringender die

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Beseitigung hemmender Schranken erheischen, diver-girende oder collidirende Interessen liegen nirgendsvor, was ist also natürlicher, als daß von beiden Sei-ten die freundschaftlichen Beziehungen auf das Sorg-fältigste gepflegt werden! Darin liegt aber gewiß keinGrund, hinter diesen so natürlichen Beziehungen poli-tische Abmachungen zu suchen, welche im Stande seinkönnten, unserem Freundschaftsverhältniß zu Frank-reich Eintrag zu thun oder uns in der Behandlung derFragen der europäischen Politik die Hände zu binden.«

»Es ist mir besonders erfreulich,« sagte der Botschaf-ter, »diese Versicherung in diesem Augenblick aus Ih-rem Munde zu erhalten, da die eine der Fragen, überwelche ich Sie zu unterhalten veranlaßt bin, diejenigedes Orients ist, welche stets die besondere Aufmerk-samkeit des Kaisers in Anspruch nimmt.«

Der heitere, sorglose Ausdruck in dem Gesicht desGrafen Bismarck machte einen Augenblick einer ern-sten Aufmerksamkeit Platz. Durch eine schweigendeNeigung des Hauptes deutete er an, daß er zu hörenbereit sei.

»Es kann Ihnen nicht entgangen sein,« fuhr der Bot-schafter fort, »daß sich sowohl in dem Bassin der un-tern Donau als von Griechenland aus in der letzten Zeiteine lebhafte und systematisch stets wieder in Gang ge-brachte Bewegung bemerkbar gemacht hat.«

»Unruhen,« warf Graf Bismarck achselzuckend hin,»die in jenen Gegenden natürlich sind und von Zeit

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zu Zeit immer auftauchen. Ungeordnete und gährendepolitische und sociale Zustände bringen das mit sich.«

»Gegenwärtig indes,« sagte Benedetti, »scheint dieseallerdings sehr natürliche Gährung auf den verschiede-nen Punkten in einem inneren Zusammenhang zu ste-hen und zu bestimmten Zwecken geleitet zu werden.Die panslavistische Action, welche sich mit einer be-wundernswerten Organisation weithin – selbst bis indie österreichischen Gebiete erstreckt, die allgemeineBewegung in der griechischen Kirche, das Alles sindStrömungen, welche, wenn sie wachsend fortschrei-ten, schließlich dahin führen müssen, daß die Tür-kei zerfällt und verschwindet, und daß die russischeMacht, verstärkt und gesteigert durch den religiösenEinfluß, sich unumschränkt über den ganzen Osten er-streckt.«

»Das scheint mir jedenfalls in weiter Zukunft zu lie-gen,« erwiederte Graf Bismarck, »und für die heutigeLage der Dinge dürfte es kaum nöthig sein, sich mitEventualitäten künftiger Tage zu beschäftigen, derenEintritt wohl erst zu einer Zeit stattfinden wird, in derandere Verhältnisse die Politik Europas bestimmen und– andere Männer dieselbe leiten werden.«

»Ich möchte über den fernen Zeitpunkt des Eintrittsernster Krisen nicht ganz Ihrer Meinung beistimmen,«sagte der Botschafter ruhig, »solche Entwickelungen

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schreiten oft sehr schnell vor und würden, wenn sie un-vorbereitet hereinbrächen, große Gefahren für die Ru-he Europas in sich schließen. – Ich bin weit entfernt, zubehaupten,« fuhr er fort, »und habe keine Beweise da-für, daß die russische Regierung in der ganzen, wie esscheint, zusammenhängenden Bewegung, welche denOrient durchzieht, irgend eine leitende oder gar anre-gende Thätigkeit entwickelt; zweifellos aber ist es, daßdie Früchte dieser Bewegung Rußland zu Gute kom-men müssen, und es ist unmöglich, daß in solcher La-ge eine Regierung lange sich dem Einfluß der eigenenInteressen entziehen könne, oder einer ihr nützlichenBewegung hemmend entgegentreten solle.«

»Wir haben allerdings ein Beispiel davon in Itali-en gesehen, wo die Regierung von Turin – und auchFrankreich – in eine lange von den Parteien vorbereite-te Bewegung eintrat, als es galt, die gereifte Frucht zubrechen,« sagte Graf Bismarck, indem sein klares Augesich durchdringend auf den Botschafter richtete, »in-des möchte ich kaum glauben, daß in irgend naher Zeitetwas ähnliches in jenen orientalischen Gegenden zubesorgen sei, wo ja ohnedies die Verhältnisse weit ver-wickelter und weit schwieriger zu beherrschen sind.«

»Wo aber,« fiel der Botschafter ein, »die zerbröckeln-de und in sich schwache Türkei auch einer viel ge-schlosseneren und imposanteren Macht gegenüber-steht, als zu jener Zeit das Königreich Sardinien es war–«

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»Sardinien war freilich nur klein,« sagte Graf Bis-marck, »doch stand ihm Frankreich zur Seite.«

Der Botschafter schien die letztere Bemerkung zuüberhören, sein glattes Gesicht blieb unbeweglich inseinem Ausdruck unveränderlicher, höflicher Gleich-gültigkeit.

»Der Kaiser,« fuhr er fort, »ist nun der Ansicht, daß esnothwendig sei, einer hochgefährlichen Entwickelungder Dinge im Orient rechtzeitig und in einem Augen-blick vorzubeugen, in welchem noch nicht die hochge-henden Wogen eine erfolgreiche Einwirkung unmög-lich machen. Der Kaiser erkennt gern an, daß dieBestimmungen des Pariser Friedens der nationalöko-nomischen und handelspolitischen Entwickelung Ruß-lands zu enge und hemmende Grenzen stecken. Erist deshalb bereit, in Bezug auf die Schifffahrt unddie Küstenverteidigung des schwarzen Meeres zu ei-ner Revision jenes Vertrages die Hand zu bieten; aufder andern Seite aber ist der Kaiser und seine Re-gierung überzeugt von der Nothwendigkeit, die Inte-grität der Türkei zu erhalten, wenn das europäischeGleichgewicht nicht schweren Erschütterungen ausge-setzt werden soll. Um also allen gefährlichen Catastro-phen vorzubeugen, würde es gewiß am zweckmäßig-sten sein, wenn die ganze Lage der Dinge im Orientvon den Großmächten einer Prüfung unterzogen wür-de, wonach dann alle dortigen Verhältnisse geordnet,definitiv festgestellt und unter die Garantie Europas

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gestellt werden müßten. Die Türkei würde sich dennothwendigen Reformen nicht entziehen und ebenso-wenig würde Rußland wagen, Gedanken an ein orien-talisches Weltreich aufkommen zu lassen, oder dahinzielenden Anregungen Gehör zu geben, wenn es sichdem Willen des einigen Europas gegenüber sähe.«

Er hielt einen Augenblick inne.Graf Bismarck schwieg.»Es ist nun der Gedanke des Kaisers,« fuhr Benedetti

fort, »daß die Anregung einer solchen Prüfung der ori-entalischen Frage, durch welche, wenn sie Erfolg ha-ben soll, Niemand verletzt werden soll und keine Emp-findlichkeiten erweckt werden dürfen, daß diese Anre-gung am besten von Preußen ausgehen würde, da das-selbe dem Conflict fernstand, welcher den Krimkriegund den Pariser Frieden zur Folge hatte. Da das freund-schaftliche Verhältniß Preußens zu Rußland jeden Ver-dacht einer feindlichen Absicht ausschließen muß, sowürde gewiß der nützliche Erfolg einer gemeinsameneuropäischen Prüfung der Verhältnisse des Orients ammeisten gesichert sein, wenn die preußische Regierungsich entschließen könnte, die Initiative dazu bei denübrigen Mächten zu ergreifen. Es würde sich dabei na-türlich von selbst verstehen, daß zwischen Frankreichund Preußen die bestimmenden Gesichtspunkte vorherfestgestellt werden, damit diese beiden Mächte sowohlbei der Anregung als bei der weiteren Behandlung der

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ganzen Sache in vollständigster Übereinstimmung sichbefinden.«

Er schwieg und blickte erwartungsvoll zu dem Gra-fen hinüber.

»Ich erkenne,« sagte dieser ernst und ruhig, »in denGedanken des Kaisers von Neuem dessen Bestreben,alle Gefahren zu beschwören, welche dem europäi-schen Frieden drohen könnten, und daneben seinenWunsch, mit Preußen gemeinsam an diesem Ziel zu ar-beiten. Ich muß indes,« fuhr er fort, »mit der Offenheit,welche die erste Bedingung des Verkehrs zwischenzwei befreundeten Mächten ist, sogleich erklären, daßich nicht einzusehen vermag, wie durch einen europäi-schen Meinungsaustausch die orientalische Frage, odervielmehr die orientalischen Fragen irgend gelöst oderauch nur einer späteren Lösung entgegengeführt wer-den könnten. Die dort schlummernden Conflicte lie-gen so tief in dem innersten Wesen aller Verhältnissebegründet, daß es meiner Ansicht nach unmöglich ist,sie definitiv auszugleichen. Jedes Anrühren derselbenkann nur zu einer Explosion führen, wie es 1854 zu ei-ner solchen geführt hat. Läßt man sie schlummern, sowerden sie hoffentlich noch jahrhundertelang weiterschlummern, wie sie es schon jahrhundertelang gethanhaben, es ist das eine chronische Krankheit, bei derman sich nur hüten muß, sie durch unvorsichtige Ku-ren zu einer acuten Krisis zu führen. – Das ist meineMeinung über die ganze orientalische Angelegenheit

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im Allgemeinen,« sagte er, während der Botschafternicht im Stande war, ein gewisses Erstaunen über die-se kurze und bündige Erklärung ganz zu unterdrücken,»außerdem aber glaube ich, daß Preußen ganz insbe-sondere keinen Beruf hat, sich überhaupt in diese Fra-ge zu mischen, am allerwenigsten aber eine besondershervortretende Thätigkeit in derselben zu entwickelnoder eine Initiative zu übernehmen. – Ich persönlich,«fuhr er fort, »bin im ganzen wenig genau über die ori-entalischen Verhältnisse informirt, ich lese, wie ich Ih-nen schon bei früherer Gelegenheit bemerkte, seltendie Berichte von dort, weil in der That weit näher lie-gende Interessen meine Zeit vollständig in Anspruchnehmen – aber auch aus allgemeinen politischen Grün-den halte ich es für Preußen für nothwendig geboten,in jenen Fragen, in welchen ja vorzugsweise Englandund Frankreich bisher thätig gewesen, eine vollkom-men passive Rolle zu spielen.«

»Und Sie würden nicht geneigt sein – aus dieser pas-siven Rolle herauszutreten, auch nicht durch einen Ide-enaustausch – der noch keine Action ist?« fragte Bene-detti.

»Ich bin ein sehr practischer Mensch, mein lieberBotschafter,« sagte Graf Bismarck in cordialem Ton,»und beschäftige mich gern mit Fragen, die ein augen-blickliches, nachdrückliches und erfolgreiches Handelnbedingen und möglich machen, hier vermag ich aber

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in der That nicht abzusehen, welchen practischen Nut-zen ein Austausch theoretischer Anschauungen habenkönnte, ich muß Ihnen also aufrichtig gestehen, daßich eine Erörterung jener Fragen, über die ich nichtvollständig orientirt bin, und eine Verständigung überdieselben mit dem Kaiser und seiner Regierung, die mirvon hohem Werthe ist und an der ich nicht zweifle, lie-ber vertagen möchte, bis dazu eine unmittelbare, prac-tische Veranlassung vorliegt.«

Benedetti hatte seine gleichmäßig ruhige Fassungwieder gefunden und sprach in einem Tone, als sei erdurch die Erklärung des Grafen Bismarck vollständigbefriedigt, weiter:

»Es bleibt mir noch übrig, dem Wunsche des Kaisersgemäß, Ihre Aufmerksamkeit auf eine zweite Frage zulenken, welche den Interessen Preußens und Deutsch-lands, wie mir scheint, weniger fern liegt, und bereitsmit denselben in inniger Verbindung gestanden hat, ichmeine die Angelegenheiten Italiens.«

Graf Bismarck sah den Botschafter mit dem Aus-druck der Verwunderung an.

»Die Angelegenheiten Italiens?« fragte er, »und inwelcher Weise sollten dieselben den Gegenstand vonErörterungen bilden können – die ganzen Verhältnissedort sind ja in der Consolidirung begriffen und der Sep-tembervertrag regelt ja vollständig den delicaten Punktdes Verhältnisses zu Rom?«

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»Und doch ist es gerade dieser Punkt,« sagte Bene-detti, »welcher nach der Meinung des Kaisers eine ern-ste Erwägung und eine Einwirkung der Großmächteerheischt. – Die italienische Regierung,« fuhr er, demfragenden Blick des Grafen Bismarck antwortend, fort,»hat ohne Zweifel die bestimmteste und festeste Ab-sicht, alle ihre Verpflichtungen zu erfüllen und das Ver-hältniß zum römischen Hofe genau nach den Vertrags-bestimmungen zu erhalten, indes ist gerade jene Re-gierung mehr als irgend eine andere von den Parteienund von derjenigen Strömung abhängig, durch welchedas neue Königreich Italien gebildet worden.«

»Sollte es denn Parteien in Italien geben, welche dar-an denken könnten, durch neue Unruhen die dorti-gen Zustände zu erschüttern und die völkerrechtlichenGrundlagen des dort Erschaffenen zu zerstören?« frag-te Graf Bismarck.

»Die Actionspartei in Italien wird niemals ruhen,«erwiederte Benedetti, »bevor sie nicht ihr Programmdurch die Erhebung von Rom zur Hauptstadt des Kö-nigreichs erfüllt sieht. Sie kann zeitweise unthätig er-scheinen, aber sie wird immer und immer wieder neueVersuche unternehmen. Gerade in diesem Augenblick,«fuhr er fort, seinen kalten Blick fast starr auf den Gra-fen Bismarck richtend, »gerade in diesem Augenblickscheint mir eine lebhafte Bewegung innerhalb jener

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Partei stattzufinden. Man hat gewiß Grund, mit be-sonderer Spannung den Kreuz- und Querfahrten Gari-baldis an der päpstlichen Grenze zu folgen, es scheintdie Annahme nicht unberechtigt, daß dort etwas in derLuft liege. Garibaldi war vor Kurzem in Rapolano, ei-nem kleinen Bade in der Provinz Siena, er hat aberdiesen Ort bereits wieder verlassen und ist in Colle ein-getroffen. Wohin er kommt, strömen die jungen Män-ner herbei und wird bei verschlossenen Thüren verhan-delt.«

»Ah!« machte Graf Bismarck, welcher mit großerAufmerksamkeit den Worten des Botschafters gefolgtwar.

»Auf der entgegengesetzten neapolitanisch-päpstlichenGrenze,« fuhr dieser fort, »zu Sora, ist plötzlich Gari-baldis Sohn Menotti aufgetaucht. Sora ist ein berühm-tes Räubernest, die Anwesenheit Menottis dort mußdaher viel zu denken geben. Ich will Ihnen nicht ver-bergen, daß die Regierung des Kaisers bei dem hohenInteresse, das sie begreiflicherweise an diesen Vorgän-gen nehmen muß, Sorge getragen hat, um so gut alsmöglich über die dort gesponnenen Pläne unterrich-tet zu werden. Unsere Agenten haben uns berichtet,daß Garibaldi jede Minute über eine kleine Armee vonfünftausend Mann verfügen könne, daß fast in allenStädten der Halbinsel ehemalige Officiere GaribaldisWerbungen vornehmen, nachdem sie von dem Generalneue Anstellungsdekrete erhalten haben. Zwar ist um

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das päpstliche Gebiet ein doppelter Cordon von vier-zigtausend Mann Regierungstruppen gezogen, aber dieOfficiere Garibaldis sprechen laut und offen davon,daß sie unter den Regimentern Einverständnisse ha-ben, welche diesen Cordon illusorisch machen wür-den.«

Er hielt inne.»Es scheint also, daß der alte Garibaldi wirklich wie-

der einen kleinen Streifzug unternehmen will,« sagteGraf Bismarck, »da wird ein Wenig Pulver in die Luftgepufft werden, ernste Bedeutung vermag ich der Sa-che dennoch nicht beizulegen, die französische Fahnedeckt Rom, und weder werden die Freischaaren Ga-ribaldis etwas gegen Ihre Truppen ausrichten, nochwird es die italienische Regierung wagen, offen gegenFrankreich aufzutreten.«

»Man kann nie wissen, wie weit die italienische Re-gierung von der Actionspartei gedrängt wird,« sagteBenedetti, »jedenfalls wird das Alles die Ruhe Europaswieder etwas erschüttern, und es wäre in der That sehrerwünscht, wenn diesen Zuständen einfürallemal einEnde gemacht würde.«

»Das möchte schwer sein,« sagte Graf Bismarck.»Der Kaiser ist der Meinung,« fuhr Benedetti fort,

»daß es dennoch gelingen könnte, wenn man – undangesichts der neuen Verwicklungen so bald als mög-lich – eine Conferenz der Großmächte beriefe, welche

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die italienische Frage in Erwägung nähme, das Verhält-niß zwischen der römischen Curie und dem KönigreichItalien definitiv regelte und unter ihre Garantie stell-te. Eine solche Conferenz ist nicht nur durch den Ein-fluß gerechtfertigt, welchen die fortwährenden Bewe-gungen in Italien auf die Ruhe Europas ausüben, son-dern ganz insbesondere durch die Stellung des Papstesals Oberhaupt der katholischen Kirche, denn alle ka-tholischen Mächte ebenso wie diejenigen Staaten, wel-che eine große Anzahl katholischer Unterthanen ha-ben, sind in hohem Grade dafür interessirt, daß demobersten Priester der katholischen Welt das für seineStellung erforderliche Maß von Unabhängigkeit undSicherheit erhalten bleibe.«

»Der französische Schutz wird dafür ohne Zweifelvollkommen genügen,« erwiederte Graf Bismarck mitverbindlicher Verneigung.

»Es ist nicht deshalb, wie ich glaube,« erwiederte Be-nedetti mit einem leisen Anklang von Verstimmung inseinem Ton, »daß der Kaiser die Frage vor eine Con-ferenz der europäischen Mächte zu bringen wünscht,Frankreich wird allerdings den Papst zu schützen wis-sen, aber dieser Schutz bedingt eben einen fortwäh-renden Kriegszustand. Es wird den Führern der Acti-onspartei in Italien stets sehr leicht sein, die französi-sche Intervention der Nation in einem höchst gehäs-sigen Lichte darzustellen und unserer römischen Po-litik egoistische Absichten unterzuschieben, dadurch

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wird die Aufregung und die ihr folgende stete unru-hige Bewegung nicht beendet. Anders wäre es, wenndurch die europäischen Mächte die Frage geregelt wür-de. Der Papst könnte einem Urtheilsspruch der Groß-mächte sich in Betreff der von ihm etwa zu fordern-den Concessionen eher fügen, als den Ansprüchen Ita-liens und dem einseitigen Rath, den wir ihm ertheilen,die italienische Regierung auf der anderen Seite wür-de den vorwärts drängenden Parteien gegenüber festerund sicherer dastehen, wenn sie sich von den europäi-schen Mächten umgeben sähe, und die Nation selbstkönnte der Gesammtheit dieser Mächte gegenüber je-denfalls keine ihr feindliche Absichten voraussetzen. –Der Kaiser hat deshalb die Absicht, eine Conferenz derMächte vorzuschlagen, möchte sich aber gern mit Ih-rem Könige darüber vorher in Accord setzen, und neigtzu der Ansicht, daß vielleicht Preußen, welches als Al-liirter Italiens vom vorigen Jahre der dortigen Sympa-thieen sicher ist, und welches zugleich als nichtkatholi-sche Macht dem römischen Stuhl gegenüber eine freie-re Stellung einnimmt, in dieser Sache die Initiative er-greifen könnte.«

»Ich muß Ihnen, mein lieber Botschafter,« erwieder-te Graf Bismarck, als Benedetti schwieg, »auch in die-ser Angelegenheit ebenso offen meine abweichendeMeinung aussprechen, als in Betreff des Orients. Ichhalte ein definitives Arrangement zwischen dem Papstund der italienischen Regierung – das heißt zwischen

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dem Papst von heute und der italienischen Regierungvon heute – für vollständig unmöglich. Italien wirdan der Forderung Roms als Hauptstadt festhalten, derPapst bleibt bei seinem: Non possumus stehen. Zwi-schen diesen Gegensätzen giebt es nichts Anderes alseinen practischen modus vivendi, und zwar wird dersel-be niemals de jure, sondern nur de facto gerade so langebestehen, als eine stärkere Macht ihn beiden Theilenmit gewaltig übermächtiger Hand auflegt. Diesen sta-tus quo, haben Sie geschaffen und haben die Macht,ihn zu erhalten; jeder Versuch, etwas Anderes an dieStelle zu setzen, müßte nach meiner Ansicht Alles inFrage stellen und könnte leicht herbeiführen, was ver-mieden werden soll, eine gewaltsame Catastrophe undeine große Gefahr für den europäischen Frieden. Wasnun Preußen und die Stellung des Königs insbesonde-re betrifft,« fuhr er fort, mit einem Federmesser einWenig an der Spitze seines Fingernagels schnitzelnd,»so muß ich Ihnen sagen, daß nach meiner Überzeu-gung unsere Lage uns ganz besonders zurückhaltendeRücksichten in dieser Frage auferlegt. Der König muß– gerade, weil er Protestant ist – als Landesherr einerso bedeutenden Anzahl sehr eifriger und sehr stren-ger Katholiken, ganz besonders vorsichtig sein; das ka-tholische Westphalen, die Rheinprovinz, Schlesien, dieso delicate polnische Frage – das Alles steht mit derStellung zum Papste in nahem Zusammenhang, und esscheint mir für den König von Preußen vorgezeichnet,

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den Papst ausschließlich als Oberhaupt der Kirche zubehandeln und dessen weltliche Stellung und sein Ver-hältniß zu Italien niemals zu berühren, jeder Schritt indieser Richtung müßte uns mehr mißgedeutet werden,als jeder anderen Macht. Ebensosehr bedingt unserVerhältniß zu Italien die höchste Vorsicht. Wir habenItalien Dienste geleistet, große Dienste; sollten wir unsjetzt in seine Angelegenheiten mischen ohne unmittel-bar zwingende Gründe, gleich, als glaubten wir uns be-sonders berechtigt, die Rolle des Mentors zu spielen? –und das in einer Sache, in der doch vom rein natio-nalen Standpunkt die Berechtigung nicht zu bestreitenist? Ich muß Ihnen sagen,« fuhr er nach einer kurzenPause fort, »daß ich nicht nur keine Veranlassung fürPreußen sehe, irgend eine active Rolle oder gar eineInitiative in dieser Sache zu übernehmen, sondern daßich sogar nach meiner innigen Überzeugung niemals inder Lage sein würde, dem Könige zu rathen, daß er aneiner Conferenz, wie die von Ihnen angedeutete, seineRegierung sich betheiligen lasse. Halten Sie ruhig undfest,« sprach er weiter, während Benedetti in unwill-kürlicher Ungeduld mit den Fingern auf der Decke desTisches spielte, »halten Sie ruhig und fest den statusquo aufrecht, und überlassen Sie es der Zeit, vielleichteiner späteren Regierung Italiens und einem späterenPontifikat, den Ausgleich zwischen zwei Principien zufinden, die sich heute noch in diametral unversöhnli-chem Gegensatz gegenüberstehen.«

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»Wenn aber die anderen Mächte,« sagte Benedetti,»wenn Österreich, wenn vielleicht selbst England, ge-leitet von dem Interesse für die Ruhe Europas –«

»Ich glaube,« fiel Graf Bismarck ein, »daß ich beider besonderen Stellung Preußens dem Könige niemalswürde rathen können, eine solche Conferenz anzuneh-men.«

Benedetti neigte einen Augenblick das Haupt vorsich nieder und schien seine Gedanken zu sammeln,oder seine Willenskraft über den Eindruck der Äuße-rungen des preußischen Ministers Herr werden lassenzu wollen. Als er sein Gesicht wieder erhob, zeigte esnun den Ausdruck heiterer Ruhe und artiger Höflich-keit.

»Ich bedauere,« sagte er, »daß Sie aus Gründen, wel-che ich als sehr überlegt und beachtenswerth anerken-nen muß, die Anschauungen des Kaisers über die Fra-gen des Orients und Italiens nicht theilen können –«

»Die Anschauungen des Kaisers über jene Fragen,«unterbrach ihn Graf Bismarck, »sind fast ganz mit denmeinigen übereinstimmend, es ist mir nur nicht mög-lich, mich davon zu überzeugen, daß der gegenwärtigeAugenblick geeignet sei, jene delicaten Fragen anzure-gen, und daß Preußen Veranlassung, ja eine Berech-tigung habe, in diesen Fragen eine besonders thätigeRolle zu spielen.«

»Eine gemeinsame Verständigung über diese großenFragen,« fuhr Benedetti fort, nachdem er mit großer

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Artigkeit den Worten des Ministers zugehört hatte,»würde zugleich den Ausgleich der gegenseitigen In-teressen in Betreff unmittelbar naheliegender Verhält-nisse vorbereitet und erleichtert haben. Sie wissen, wiewenig der Kaiser die Ansicht vieler Parteien in Frank-reich theilt, welche in der nationalen ConstituirungDeutschlands eine Drohung gegen uns erblicken.«

»Ich kenne den erleuchteten und vorurtheilsfreienGeist des Kaisers,« sagte Graf Bismarck sich vernei-gend.

»Diese ganze deutsche Frage wäre so leicht zu lö-sen,« fuhr Benedetti fort, »und alle aus derselben fol-genden Schwierigkeiten so leicht zu beseitigen, wennPreußen und Frankreich darüber einig wären, undwenn Frankreich die nationale Arrondirung erhielte,welche –«

»Frankreich hat den nationalen Entwicklungspro-ceß, in dem wir uns jetzt befinden, seit lange hintersich,« warf Graf Bismarck ein.

»Und dennoch,« fuhr Benedetti fort, »fehlt uns dieBeherrschung des natürlichen Sprachgebiets; von je-ner Theorie der natürlichen Grenzen will ich gar nichtreden, sie führt stets zu Unmöglichkeiten, aber dasSprachgebiet ist etwas Anderes, die Sprache bildet dieNationalitäten, und die wahrhaft sichere Bedingungdes ruhigen Gleichgewichts ist die Begrenzung derStaaten nach dem Sprachgebiet. Man hätte niemalsdiesen künstlichen, zwei Sprachen umfassenden Staat

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schaffen sollen, den man Belgien nennt, ein solcherStaat hat keine innere Lebensfähigkeit und wird im-mer ein Asyl für alle Elemente bilden, die den großenStaaten und ihrer Ruhe gefährlich werden können. Al-les, was Frankreich und seiner Regierung feindlich ist,setzt in Belgien seine Hebel an. Wenn wir wünschen,Belgien, das heißt das französische Belgien, zu besit-zen, so liegt diesem Wunsche wahrlich nicht Vergröße-rungssucht zugrunde, sondern in der That nur die sichtäglich mehr aufdringende Überzeugung, daß es fürdie Ruhe Frankreichs unerläßlich ist, das ganze fran-zösische Sprachgebiet zu beherrschen.«

»Wenn die europäische Diplomatie früher einen Feh-ler gemacht hat,« sagte Graf Bismarck, »so möchte esnicht ganz leicht sein, ihn wieder zu verbessern. Eshätte angehen können, den belgischen Staat nicht zuschaffen, ihn wieder verschwinden zu lassen, möchteohne tiefe Erschütterung Europas nicht möglich sein;England –«

»Der Kaiser,« fiel Benedetti mit größerer Lebhaftig-keit, als seiner Ausdrucksweise sonst eigen war, ein,»der Kaiser ist – und gewiß mit Recht – überzeugt, daßbei einem Einverständniß zwischen Deutschland undFrankreich ein Arrangement über die belgische Fragekaum einem Widerspruch, gewiß aber keinem Wider-stand in Europa begegnen würde.«

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»Sie sprechen von Deutschland,« sagte Graf Bis-marck, »Deutschland als politische Macht existirt nochnicht, wir haben den Norddeutschen Bund –«

»Ein Arrangement in Betreff Belgiens würde als Be-dingung die definitive nationale Constituirung Deutsch-lands in sich schließen, die der Kaiser nicht fürchtet,sondern wünscht, und der auch die öffentliche Mei-nung in Frankreich sich günstig zeigen würde, wennsie unter Verhältnissen einträte, die Frankreich den be-rechtigten Wunsch nach vollständiger Arrondirung sei-nes nationalen Sprachgebiets erfüllen würden.«

Graf Bismarck saß einen Augenblick nachdenkendda. Benedetti blickte mit unruhiger Spannung zu ihmhin.

»Mein lieber Botschafter,« sagte der Graf endlich,»Sie regen da Fragen und politische Perspectiven an,über welche es mir in der That völlig unmöglich ist, imgegenwärtigen Augenblick und bei der Allgemeinheit,in welcher Sie die Gesichtspunkte ausgesprochen ha-ben, mich eingehend auszusprechen. – Dinge von sol-cher Wichtigkeit,« fuhr er fort, »bedürfen der ernste-sten Überlegung, und dieser Überlegung müssen klarund bestimmt formulirte Gedanken als Grundlage die-nen. Wenn wir daher – später – eingehend über dieseFrage discutiren sollen, so müßten die Gedanken desKaisers in der klaren Form vor mir liegen, die er densel-ben stets so meisterhaft zu geben versteht, auch müßte

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ich ungefähr wissen, wie etwa andere Mächte darüberdenken möchten.«

»Ich werde,« sagte Benedetti eifrig, »sogleich nachParis schreiben, um mich genau über die Gesichtspunk-te zu informiren, die dort maßgebend sind, denn ichzweifle nicht, daß der Kaiser den Gedanken, der ihnbeschäftigt, auch bis in seine Details und seine Conse-quenzen durchdacht hat. Ich hoffe demnächst im Stan-de zu sein, Ihnen das Alles in bestimmter Form, etwain Gestalt eines Vertragsentwurfs, zur Erwägung stel-len zu können.«

»Seien Sie überzeugt,« sagte Graf Bismarck, »daß ichalle Ihre Mittheilungen über die Ideen des Kaisers stetsmit der ehrerbietigsten Aufmerksamkeit entgegenneh-men werde –«

»Und ich bin gewiß,« sagte Benedetti aufstehend,»daß wir endlich zu der vollständigen Verständigunggelangen, welche für die Zukunft Europas so heilsamsein muß.«

Er verabschiedete sich mit herzlicher Artigkeit vondem Grafen und verließ das Cabinet.

Graf Bismarck sah ihm mit einem zugleich scharfenund tief sinnenden Blicke nach.

Dann spielte ein fast mitleidiges Lächeln um seineLippen.

»Das Spiel ist fein ausgesonnen,« sagte er, »und dochso schlecht versteckt, daß man es auf den ersten Blickerkennt. Ich soll Rußland und Italien verletzen, die

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Sympathieen beider Mächte verlieren und damit in ei-ne Isolirung gedrängt werden, die mir keine andereWahl läßt, als mich Frankreich in die Arme zu wer-fen. Und als Lockspeise wird mir die ConstituirungDeutschlands gezeigt, für den Preis der AnnectirungBelgiens, die dann das neue Deutschland vor Europavertreten, und nöthigenfalls gegen Europa verteidigensoll! Mag er doch mit England sich über Belgien ver-ständigen,« fuhr er fort, »ich habe wahrhaft keine Nei-gung, Castanien für Frankreich aus dem Feuer zu ho-len, und einen Preis für Deutschlands Zukunft zu zah-len. Wenn der deutsche Löwe seine Krallen erhebt, sowird er nicht für Frankreich kämpfen, sondern alleinund ohne Kaufpreis sich seine Stellung in Europa er-ringen.«

Er blickte lange vor sich hin, sein Auge schien dieBilder ferner Zeiten zu verfolgen.

»Er hat die Hoffnung behalten,« sprach er dann,»daß er mich endlich doch bereit finden könnte, aufseinen Handel einzugehen, gut, das zieht den schwe-ren Zusammenstoß hinaus und giebt mir immer mehrZeit der Vorbereitung. Bei alledem leistet mir dieserGaribaldi einen großen Dienst,« fuhr er lächelnd fort,»er wird die Angelegenheiten Italiens ein Wenig durch-einanderbringen, Frankreich wird gegen ihn und viel-leicht gegen Italien auftreten müssen, dieser schlaueRatazzi wird bei Seite gestellt werden, und die Last,

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welche sich Napoleon durch seinen italienischen Feld-zug auf die Schultern geladen hat, wird ihn fortan nochetwas schwerer drücken, das ist die Situation, die ichbedarf, meine Hände müssen freier und freier werden,er muß immer tiefer und tiefer in seine eigenen Net-ze sich verstricken. Hätte ich nachsinnen wollen, wieam besten diese feinen Combinationen von Salzburgzu zerstören seien, ich hätte kaum ein besseres Mit-tel finden können, als diesen neuen Zug Garibaldis;nun, die Welt wird nicht verfehlen, mich mit demsel-ben in Verbindung zu setzen! Mag es sein, mag mansagen und denken von mir, was man will, wenn nurmein Werk gelingt und Deutschland hoch herauf trittauf den ersten Platz in der Reihe der Nationen, dannwird doch der Augenblick kommen, wo man auch mirwird Gerechtigkeit widerfahren lassen!«

Wieder versank er sinnend in die Verfolgung der Bil-der, die vor seinem Innern aufstiegen.

»Doch,« sagte er dann, tief aufathmend, indem erwieder vor seinen Schreibtisch trat, »die Vorbereitungder europäischen Constellationen darf meinen Blicknicht ablenken von der inneren Lage. Auch Preußenmuß innerlich gerüstet werden, der neuen Zeit entge-genzutreten und sie zu erfassen mit freiem Geiste. Oh,wenn sie wüßten,« fuhr er fort, »alle, die zu übereil-tem Fortschritt drängen, die mich angefeindet habenalle diese Jahre lang, wenn sie wüßten, wie tief ich

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davon durchdrungen bin, daß nur der Geist der Frei-heit, daß nur der mächtig vorwärts strebende natio-nale Aufschwung den zweiten Theil des großen Wer-kes vollenden kann, dessen Grund nur gelegt werdenkonnte durch die straff absolutistische Anspannung derMilitairkraft! Sie ahnen nicht, daß meine Ziele freierund weiter vielleicht sind als die ihren, gewiß wenig-stens,« sagte er mit strahlendem Blick, »sind sie klarer!– Aber nicht mit einem Mal kann der Hauch freierer Be-wegung einen Staatsorganismus durchdringen, wennnicht das heilsame Fluidum Verderben und Zerstörungbringen soll. Schrittweise muß ich vorwärtsgehen auchauf diesem Wege. – Da ist zunächst eine Änderung imJustizministerium nöthig, und nicht leicht ist es, an dieStelle des Grafen Lippe eine geeignete Kraft zu setzen,die energisch und productiv ist, und zugleich auch fä-hig, neuen Principien, wenn die Zeit kommt, Geltungzu verschaffen nicht bloß durch Negation des Alten,sondern durch schöpferisches Aufbauen. Dieser vielge-wandte Minister des Königs Georg hat mir schon vorlängerer Zeit eine vortreffliche Idee gegeben,« spracher weiter, »eine Kraft aus dem neu erworbenen Lan-de in die Regierung aufzunehmen, ich habe darübernachgedacht, und ich glaube gefunden zu haben, wasich bedarf. Der früherer Minister Leonhardt scheint mirnach allem, was ich höre, ganz der Mann zu sein, umdie schwierige Nachfolgerschaft des Grafen Lippe zuübernehmen. Er ist eine Autorität in der Jurisprudenz

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und Gesetzgebung, ein fester Charakter, ich muß mitihm in Verbindung treten, und finde ich ihn, wie icherwarte, so will ich ihn dem König vorschlagen, dessengeradem Sinn und klarem Geiste der Mann zusagenmuß. Ob das freilich viel für die Beruhigung der Han-noveraner helfen wird, scheint mir zweifelhaft; manwird den Minister als Abtrünnigen und Verräther dar-stellen, und die Agitationen werden fortgehen. Der ar-me König Georg! – wie gern würde ich ihm helfen! Eswerden noch schwere Schritte gegen ihn nöthig wer-den,« sagte er mit traurigem Ton, »er hat den Vermö-gensvertrag unterzeichnet, es ist ihm zugestanden, wasirgend möglich war, doch die Agitationen hören nichtauf und früher oder später wird eine Sequestration nö-thig werden, um die Sicherheit des Staates zu schüt-zen. Das sind die Folgen tragischer Conflicte, und eintief tragischer Conflict ist es, den unsere Zeit hervor-gerufen, doch die glorreiche Zukunft wird ihn herrlichlösen.«

Wieder sann er längere Zeit nach.Dann bewegte er die Glocke.»Ich lasse den Legationsrath von Keudell bitten,« be-

fahl er dem eintretenden Kammerdiener.»Dieser schlaue Windthorst hat wohl ganz andere

Gedanken gehabt,« sagte er dann, sich lächelnd dieHand reibend, »als er mir einen hannoverischen Ju-risten für das Justizministerium empfahl, er wird ein

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Wenig erstaunt sein, wenn der Plan mit Leonhardt re-üssirt, und vielleicht werde ich da einen Gegner mehrhaben. Wohlan,« rief er, »viel Feind’, viel Ehr’! undwenn das Glück mir überall so günstig ist, wie die-ser Salzburger Tripotage gegenüber, so könnte ich fastdas Dichterwort wiederholen, durch welches Herr vonManteuffel einst so großen Sturm in den Kammern er-regte, denn in der That, es werden die einen meinerFeinde – von den anderen abgethan.«

Und heiter lachend begrüßte er Herrn von Keudell,der mit seinen Vortragspapieren in das Cabinet trat.

EINUNDVIERZIGSTES CAPITEL.

Die eleganten Salons der Marchesa Pallanzoni warenhell erleuchtet und mit einem aus frischen Blumendüf-ten und feinen Essenzen gemischten Parfüm erfüllt.

Es war nicht der Tag, den die junge Frau zu ih-rem Empfange bestimmt hatte, sie war, wenn sie keinTheater besuchte, fast an jedem Abende zu Hause undempfing diejenigen ihrer intimeren Bekannten, denensie die Erlaubniß gegeben, sie zwanglos zu besuchen.Schnell hatte sich um die schöne, reiche und interes-sante Italienerin ein Kreis von der Elite der elegantenjungen Männerwelt gebildet, der Graf Rivero war über-stürmt worden mit Bitten um Einführung bei seinerschönen Landsmännin, und es war die beste und aus-gesuchteste Herrenwelt, welche er in die Salons der

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Marchesa eingeführt hatte. Und es war nicht ein Sa-lon wie diejenigen der Damen der Halbwelt, in wel-chem die jungen Herren sich so gern zusammenfin-den, der feinste Ton herrschte hier, und wenn auch dieMarchesa mit der liebenswürdigsten Anmuth es ver-stand, ihrer Gesellschaft die völlig freieste Bewegungzu geben und jeden zur natürlichsten Entwicklung sei-ner liebenswürdigsten Eigenschaften zu ermuntern, sowar doch jedes Wort, das die zartesten Grenzen der fei-nen Sitte überschritten hätte, gewiß, sogleich die Zu-rechtweisung der Dame des Hauses zu erfahren, sei esdurch einen Blick, so hoch herab niederwerfend, wieder einer Königin, sei es durch eine ebenso feine undgeistreiche als scharfe und bestimmte Rüge. Währendin den meisten Salons von Paris der alte, wirklich guteTon mehr und mehr verschwindet und nur in einzel-nen exclusiven Kreisen des Faubourg Saint Germain zufinden ist, erinnerte der Salon der Marchesa Pallanzonian die beste Gesellschaft vergangener Tage, und dieseganze sonst so zügellose und so wenig an Rücksich-ten gewöhnte Herrenwelt fügte sich dem anmuthigenScepter, das die schöne Fremde so sicher und unbeug-sam führte, keiner dieser jungen Herren blieb aus; ob-gleich an den Ton des Café Anglais gewöhnt, folgtensie alle dem reizvollen Zug, den dieser gute und vor-nehme Ton auf sie ausübte, und ihr in den Gesprä-chen über Pferde, Hunde und Halbweltsdamen träge

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gewordener Geist erwachte wieder zu frischer Thätig-keit, um ein Lächeln des Beifalls von dieser Frau zuerlangen, welche für Plattheiten nur ein mitleidig be-dauerndes Lächeln und für Unverschämtheiten einenniederschmetternden Blick hatte, unter dessen eisig-kalter Verachtung die Keckheit des rücksichtslosestenRoués in Nichts zusammensank.

So lieferte die schöne Marchesa den Beweis, daß ander Verschlechterung des Tons in der Gesellschaft, ander wunderbar schiefen Stellung, welche die gute Ge-sellschaft der Halbwelt gegenüber einnimmt, an all derErniedrigung und dem Elend, das daraus folgt, nur dieFrauen der Gesellschaft schuld sind, die Frauen, wel-che es heut zu Tage nicht mehr verstehen, die Män-ner zu erziehen und zu fesseln, und welche, wenn siesehen, daß die Damen der Halbwelt ihnen die Her-ren entführen, nicht daran denken, jene Damen durchGeist und Anmuth zu übertreffen und durch Tugendund Würde in den Staub zu werfen, sondern vielmehrsich Mühe geben, den schlechten Ton, die gemeinenManieren, die extravaganten Toiletten und die nochextravaganteren Sitten derselben nicht nur nachzuah-men, sondern noch zu überbieten.

Es war nach dem Diner.Noch war die Stunde des eigentlichen Empfangs

nicht gekommen, zwei mit allem Reiz geschmackvollerEleganz ausgestattete Salons lagen vor dem kleinen,ebenfalls geöffneten Boudoir der Dame des Hauses, vor

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der Thür auf dem Vestibüle standen die Lakaien, an derThür des Salons der Kammerdiener bereit, den etwaKommenden zu öffnen, Alles athmete vornehme Ele-ganz und jenes unnachahmliche Etwas, das man nurin den großen Häusern vom besten Ton findet.

In dem halb vom sinkenden Tageslicht, halb von ei-ner röthlich unter grünen Ranken hervorschimmern-den Ampel beleuchteten Boudoir saß die schöne Mar-chesa leicht zurückgelehnt in ihrer Causeuse, sie stütz-te den schönen Kopf, der Mode zum Trotz mit einfa-chen Flechten des glänzenden, schwarzen Haares coif-firt, auf die zarte, bläulich geäderte Hand, während derweite Spitzenärmel über den schlanken, marmorwei-ßen Arm zurückfiel. Ihr Kleid vom leichtesten Sommer-stoff mit kleinen, violetten Blumen umschwebte duftigihre zierlich anmuthige Gestalt, und der leichte Stoffbewegte sich zitternd bei jedem Athemzug ihres Bu-sens.

Ihr Auge ruhte mit einem wunderbar tiefen, halbneugierig lauschenden, halb treuherzig freundlichenAusdruck auf dem erregten Gesicht des Herrn vonWendenstein, welcher vor ihr auf einem niedrigenLehnstuhl saß und lebhaft zu ihr sprach.

Er hatte ihr die Geschichte seiner Flucht aus dem Ge-fängniß erzählt – bewegt durch die Erinnerung, hatteseine Erzählung einen Reiz gewonnen, der die jungeFrau lebhaft anzusprechen und zu fesseln schien.

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Der junge Mann hatte geendet und sein Blick ruhtemit dem Ausdruck der Bewunderung auf dem reizen-den Bilde der jungen, schönen Frau, die mit so tiefemInteresse seinen Worten zu lauschen schien.

»Ich danke Ihnen, Herr von Wendenstein,« sagte dieMarchesa nach einigen Augenblicken des Stillschwei-gens, indem ein wie unwillkürlich ihren Lippen sichentringender Seufzer ihre Worte begleitete, »ich dan-ke Ihnen für Ihre Erzählung und muß mir Glück wün-schen, daß ich Sie heute im Bois de Boulogne entführtund gezwungen habe, mein einsames Diner zu theilen.Sie haben mich so liebenswürdig unterhalten und mirnun diese so merkwürdige Flucht so lebendig erzählt,ich habe dabei den Reiz des Romans empfunden mitdem Eindruck der Wahrheit, der um so lebhafter ist,da ich den Helden der Erzählung vor mir sehe.«

Sie sah ihn mit einem langen Blicke wie prüfend an,als wolle sie sich die Situationen, die er ihr erzählt, inseinem Anblick zurückrufen.

Eine leichte Röthe flog über sein Gesicht, es war, alsob sich einen Augenblick ein Schleier über seine Augenlegte, und mit unmerklich bebender Stimme sprach er:

»Ich bin unendlich glücklich, Frau Marchesa, daß ichein Wenig zu Ihrer Unterhaltung habe beitragen kön-nen, noch mehr darüber, daß Sie so gütigen Antheil anmeinem persönlichen Schicksal genommen haben.«

»Wie sollte ich nicht,« sagte sie langsam, währendihr Blick fortwährend auf ihm ruhte, »wie sollte mich

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das nicht auf das Tiefste bewegen, da ja Ihr persön-liches Schicksal nur der Ausdruck der Zeitereignisseist, wie sie auf den einzelnen Menschen zurückwirken,und da ich ja ganz besonders sympathisch berührt wer-de durch das Schicksal, das Sie getroffen; die Principi-en, für welche Sie leiden und die Verbannung ertragen,sind ja die meinigen.«

»Die Verbannung hört auf ein Leiden zu sein, wennsie so reizende Augenblicke bietet, wie den gegenwär-tigen,« sagte der junge Mann im Tone der einfachenGalanterie, während jedoch aus seinen Augen ein ei-genthümlich zitternder Blick zu der schönen Frau hin-überstrahlte.

Sie schien weder das Wort zu hören, noch den Blickzu sehen, obgleich ihr Auge fortwährend auf dem Ge-sicht des Herrn von Wendenstein ruhte.

»Sehen Sie, mein Freund,« sagte sie langsam, indemsie ihre feine Hand auf die seine legte, »sehen Sie, wasSie jetzt in Ihrem Vaterlande durchmachen und leiden,widerfährt ja auch uns in meiner Heimath, die Thro-ne brechen zusammen, die Fürsten irren in der Ver-bannung umher, und selbst das, was uns das Heilig-ste ist, die Kirche und ihr Oberhaupt, sind den Angrif-fen der Alles zerstörenden und nivellirenden Principi-en der Zeit ausgesetzt. – Bei uns,« fuhr sie fort, indemihr Blick immer wärmer erglühte und eine lebhaftereBewegung in ihren Zügen sichtbar wurde, »bei uns in

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Italien aber ist der Widerstand gegen die bösen Princi-pien der höllischen Gewalten aufgegeben, die natür-lichen Vertreter des Rechts haben entweder mit derusurpatorischen Regierung schmähliche Verträge ge-schlossen, oder sie vergessen in apathischer Unthätig-keit ihre Pflichten und ziehen sich von dem Kampfe,den ihre Stellung ihnen aufzunehmen befehlen müß-te, zurück. Mit tiefem Schmerz,« fuhr sie fort, »habeich das Alles gesehen, und daß ich es habe sehen müs-sen, das hat mich fortgetrieben, um hier im Strudel desPariser Lebens den Jammer meiner Heimath zu verges-sen. Allein können wir armen Frauen ja nichts thun,«sprach sie seufzend, »als weinen und klagen, und daswürde uns nur lächerlich machen vor unseren Geg-nern, wir sind darauf angewiesen, uns an die Kraft derMänner anzuschließen, und dann, oh dann,« rief siemit blitzenden Augen, »dann können wir viel – unend-lich viel! Ich fühle die Kraft in mir, den Kampf gegen ei-ne Welt aufzunehmen, wenn eines Mannes starker Armmich leiten würde, wenn ich in seinem Blick die Auf-munterung und die Belohnung finden würde für dieAnspannung aller meiner Fähigkeiten im Dienst einergroßen und heiligen Sache. Verzeihen Sie,« sagte sienach einem Augenblick in traurigem Tone, »verzeihenSie diese Aufwallung, Ihre Erzählung hat mich hin-gerissen, ich sah, was Entschlossenheit und Muth ge-gen die Gewalt des Unrechts thun können, und tiefer

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Schmerz erfüllte mich, daß bei uns diese Entschlossen-heit und dieser Muth nicht zu finden sind.«

Ihre Hand ruhte noch immer auf der seinigen undschien mit leisem, kaum fühlbarem Druck sich an seineFinger zu schmiegen.

Ein Zittern flog durch die Gestalt des jungen Man-nes, vor seinem Blick flimmerte es wie eine duftigeWolle, er erhob die schöne, warme Hand zu seinen Lip-pen und drückte auf dieselbe einen langen Kuß, dessenglühende Sprache mehr sagte, als Worte ausdrückenkonnten.

Die Marchesa zog endlich ihre Hand langsam zu-rück, hob sie ein Wenig gegen ihr Gesicht empor undließ ihren Blick wie träumend auf der Stelle ruhen, dieseine Lippen berührt hatten, und welche von der zar-ten, weißen Haut sich in brennendem Roth abhob.

»Doch,« sagte sie dann in einem Tone, als ob sie sichmit Anstrengung ihren Gedanken entrisse, »doch sindes nicht dieselben Principien, ist es nicht dasselbe heili-ge Recht, um das es hier und dort handelt? – und wennman an der einen Stelle daran arbeitet, diesem Rech-te zum Siege zu verhelfen, dient man dann nicht auchdemselben Rechte im eigenen Vaterlande? Bei Ihnenkämpft man,« fuhr sie fort, »bei Ihnen sind Männer,die sich nicht beugen, die nicht zurückweichen wollen,dort ist die Hoffnung auf den Sieg, dort ist der Raumfür die Arbeit einer Frau, die dafür glüht, die danach

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brennt, sich für das ewige Recht in den Kampf zu stür-zen und alle ihre Kräfte in diesem Kampfe aufzubie-ten!«

Immer flammender ruhten die Blicke des jungenMannes auf dem erregten Gesicht der schönen Frau,aus deren Augen glühendes Feuer in leuchtenden Wel-len zu ihm hinüber strömte, abermals ergriff er ihreHand, drückte in heißen Küssen seine Lippen daraufund sank, immer seine Blicke in die ihrigen tauchend,langsam auf dem weichen Teppich zu ihren Füßen indie Knie.

»Wenn Sie uns beistehen und uns begeistern,« sagteer mit gepreßter Stimme, während seine Brust sich inheftigen Athemzügen hob und senkte, »wenn Sie unsbegeistern, ist der Sieg unser!«

»Die Begeisterung,« erwiederte sie in fast flüstern-dem Ton, »müssen Sie aus Ihrer Sache selbst schöpfen,aber was ich dazu thun kann, diese Begeisterung inheiligem Feuer glühend zu erhalten, das will ich thun,ich will mit Ihnen denken und arbeiten, kämpfen mitden Mächten der Welt, ich will Sie ermuthigen, wenndas Unglück Sie niederbeugt, ich will Sie trösten, wennder Schmerz Sie übermannt, ich will Ihre Freude thei-len, wenn die Hoffnung des endlichen Sieges Sie er-füllt, ich will vor allem sehen und hören für Sie, was indiesem Labyrinth der großen Politik zu sehen und zuhören ist, und eine Frau kann mehr sehen und hören

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als Sie, ich will,« sagte sie mit einem unendlich wei-chen Lächeln, »Ihre Freundin, Ihre Verbündete sein,wollen Sie mich als solche annehmen?«

Und wie in Gedanken verloren, machte sie sanft ih-re Hand los, welche er noch immer an seine Lippengedrückt hielt, und strich langsam über seine Stirn.

Eine dunkle Gluth sprühte aus den Augen des jungenMannes, er erhob sich auf ein Knie, breitete die Armeaus und beugte sich zu der schönen Frau hinüber, wel-che mit ihren wunderbar leuchtenden Blicken ihm sonahe war, daß er den warmen, duftigen Athem aus ih-ren halbgeöffneten Lippen über sein Gesicht hinwehenfühlte.

Die äußere Thür des zweiten Salons wurde geöffnet– die Marchesa machte schnell eine leicht abwehrendeBewegung, indem zugleich ein Ausdruck des Bedau-erns in ihrem Blick erschien.

Herr von Wendenstein sprang rasch empor und setz-te sich auf den kleinen Fauteuil, den er vorher innegehabt.

»Wir sind also Verbündete,« flüsterte die junge Fraumit reizendem Lächeln, »morgen mehr davon.«

»Der Herr Graf von Rivero!« rief der Kammerdiener.Einen Augenblick darauf erschien die schlanke Ge-

stalt des Grafen unter der Portière des Boudoirs.Bei dem Anblick der jungen Frau und des Herrn von

Wendenstein, der noch nicht vollständig seine Fassungwiedergefunden hatte, zog ein dunkler Schatten über

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das Gesicht des Grafen, und sein tiefer Blick richtetesich forschend auf die Marchesa.

Diese zeigte die vollkommenste Ruhe, mit heiteremTon begrüßte sie den Grafen und streckte ihm, sichein Wenig auf ihrer Causeuse emporrichtend, die Handentgegen.

»Ich habe Ihren Verbannten ein Wenig zu trösten ge-sucht,« sagte sie lächelnd, »er hat mit mir dinirt undmir soeben die Geschichte seiner Flucht aus dem preu-ßischen Gefängniß erzählt, das hätte mich noch mehrin Unruhe versetzt,« fuhr sie mit scherzendem Tone,aber mit einem Blick voll Theilnahme auf den jungenMann fort, »Wenn mir nicht die Anwesenheit des Hel-den der Erzählung schon von Anfang an die Garantieeines glücklichen Ausgangs gegeben hätte.«

»Die Zeit bringt wunderbare Situationen mit sich,«sagte der Graf ruhig, »wohl dem, der, wie unser jun-ger Freund, seine Erlebnisse in freundlichem Boudoirerzählen kann.«

Der Kammerdiener meldete den Herzog von Hamil-ton, bald folgten noch mehrere junge Herren, die Mar-chesa erhob sich und verließ das Boudoir, bald ent-spann sich eine allgemeine Conversation, man mach-te ein Wenig Musik, man plauderte, und überall wardie schöne und anmuthige Marchesa, bald einen Ein-zelnen in eine kurze Unterhaltung ziehend, bald den

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Mittelpunkt eines kleinen Kreises bildend und mit ih-ren Worten die Geister ebenso beherrschend, wie mitihren Blicken und ihrem Lächeln die Herzen.

Sie hatte soeben mit einem Scherzwort eine Grup-pe ihrer Gäste verlassen, als der Graf Rivero sich ihrnäherte.

»Ich werde morgen Paris verlassen,« sagte er mit ge-dämpftem Tone, während sein Gesicht den lächelndenAusdruck der Salonconversation beibehielt, »und ichdenke einige Zeit, vielleicht länger als ich jetzt überse-hen kann, in Rom zu bleiben, ich hoffte Sie noch alleinzu finden –«

Die Marchesa sah ihn etwas erstaunt an.»Wollen Sie nach den anderen hier zurückbleiben?«

fragte sie.»Meine Zeit ist gemessen,« erwiederte er, »auch ist es

kaum nöthig, da ich Ihnen nichts besonderes mehr zusagen habe, Rosti bleibt hier, Sie werden Ihre ausführ-liche Instruction erhalten, ich erwarte, daß Sie scharfund genau Alles beobachten, was vorgeht, und mir Al-les berichten, was Sie bemerken; je ausführlicher undwahrer Ihre Berichte sein werden, um so höher wirdman die Dienste anerkennen, die Sie leisten. Besonde-re Aufträge werden Ihnen zugehen, vor allem hütenSie sich,« fuhr er fort, indem er mit düsterem und dro-hendem Ausdruck seinen Blick auf ihr ruhen ließ, »hü-ten Sie sich, eigene Wege zu gehen und selbstständig

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sein zu wollen. Bei dem ersten falschen oder zweideu-tigen Schritt wird meine Hand Sie vernichtend treffen,und wäre ich in der weitesten Ferne.«

Die Marchesa senkte das Auge unter dem Blick desGrafen. »Sie können sich, wie bisher, auf mich verlas-sen,« sagte sie, leicht das Haupt neigend, in demüthi-gem Ton.

»Ich will nicht,« fuhr der Graf fort, »daß von mei-ner Abwesenheit früher gesprochen werde, als einigeTage nach meiner Abreise. Sie werden dann sagen,plötzliche Familienereignisse hätten mich abgerufen,um dringende Geschäfte zu erledigen.«

Sie nickte zustimmend mit dem Kopf.»Um immer gut unterrichtet zu sein,« sprach sie

dann, »fehlt mir aber noch viel; ich habe hier einenSalon von Herren, Herren der besten Gesellschaft, esist wahr; aber die richtige Stellung habe ich noch im-mer nicht, mir fehlen die Damen. Mag mein Salon überallen Vorwurf erhaben sein, es bleibt doch immer ei-ne Gesellschaft von Herren, welche kommen, um einerFrau den Hof zu machen –«

»Seien Sie ruhig,« sagte der Graf. »Auch dafür habeich gesorgt. Sie werden der Kaiserin vorgestellt und indie Tuilerien eingeladen werden, dort werden Sie IhrenDamenkreis finden, es ist Alles eingeleitet, der AbbéRosti wird Ihnen das Nähere sagen; der Nuntius wirdIhre Vorstellung veranlassen, die Kaiserin wird Sie aufdas Beste empfangen.«

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Ein Blitz stolzer Freude leuchtete im Auge der Mar-chesa auf.

»Noch einmal: Hüten Sie sich vor falschen Schrittenund eigenmächtigen Handeln – und – jetzt kein Wortweiter,« sagte der Graf leise. »Ah!« rief er dann laut inheiterem Ton, »da ist ja eine seltene Erscheinung. Seitlängerer Zeit habe ich Sie nicht gesehen – wo steckenSie? Unser junger Freund scheint Neigung zum Ein-siedlerleben gewonnen zu haben –«

Und er reichte dem Herrn von Grabenow die Hand,welcher soeben eingetreten war und sich näherte, umdie Dame des Hauses zu begrüßen.

Der junge Mann sah bleich und traurig aus. Alle je-ne fröhliche, sprudelnde Lebenslust, welche früher sofrisch aus seinen blauen Augen geblitzt hatte, war ver-schwunden, diese klaren, heiteren Augen waren um-geben von einem dunklen Schattenringe und blicktenunstät wie suchend und fragend umher.

Herr von Grabenow wechselte die conventionellenHöflichkeitsformeln mit der Marchesa, aber man konn-te leicht bemerken, daß sein Geist kaum bei dieser Un-terhaltung war, die Bemerkungen der Marchesa fandenkeine Erwiderung, die über die gewöhnlichsten Trivia-litäten hinausgegangen wäre.

Die Marchesa sah ihn mit dem Ausdruck leichterVerwunderung an und wendete sich dann mit einerscherzhaften Bemerkung zu dem Herzog von Hamil-ton, der in der Nähe stand.

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Der Graf Rivero hatte den jungen Preußen mit tieferTheilnahme angesehen, er legte seinen Arm in den desHerrn von Grabenow und führte ihn langsam durchden Salon in eine Ecke, welche von den lachenden undplaudernden Gruppen entfernt war und eine vertrauli-che Unterhaltung erlaubte.

»Was fehlt Ihnen, mein junger Freund?« sagte derGraf mit einem innigeren Ton, als er ihm sonst in derUnterhaltung eigen war, »man sieht Sie so wenig – undIhr Gesicht zeigt den Ausdruck wahren und tiefen See-lenleidens. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen meine Theil-nahme aufdränge, aber – Sie wissen, ich habe immerSympathie für Sie gehabt, trotz der Verschiedenheitunseres Alters, und wenn mein Rath – mein Beistand–«

Herr von Grabenow verneigte sich verbindlich, ohnedaß der tief schmerzliche, abgespannte Ausdruck einenAugenblick von seinem Gesicht verschwand.

»Ich danke Ihnen,« unterbrach er rasch, »für Ihrefreundliche Gesinnung. Es fehlt mir eigentlich nichts,ich bin ein Wenig leidend seit einiger Zeit. Eine Erkäl-tung ist mir, wie ich glaube, auf die Nerven gefallenund das drückt mich ein Wenig nieder –«

Er machte einen Versuch zu lächeln – ein unwillkür-licher Schauer ließ seinen Körper wie im Fieber erzit-tern.

Der Graf legte leicht seine Hand auf die Schulter desjungen Mannes.

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»Sie haben einen ernsten Kummer, Herr von Grabe-now,« sagte er, »der ältere Mann darf dem Jünglingegegenüber vielleicht wagen, zudringlich zu erscheinen,– sollten Sie nicht Vertrauen zu mir haben können?«

Herr von Grabenow warf einen langen Blick auf denGrafen und seufzte tief auf.

»Es sind in der That die Nerven,« sagte er, »ich –«»Vor einiger Zeit begegnete ich Ihnen in der Ausstel-

lung,« fuhr der Graf Rivero fort, »Sie waren nicht al-lein, – eine Dame –«

»Oh ja, – oh ja, – ich erinnere mich!« rief der jun-ge Mann mit schmerzlichem Lächeln, »oh, es warenschöne Zeiten – sehr schöne Zeiten. Sie sind vorbei,«flüsterte er leise, »vorbei für immer!«

»Da liegt also Ihr Kummer,« sagte der Graf, immerforschend das in heftigem inneren Kampf zuckendeGesicht des Herrn von Grabenow betrachtend, »ichdachte es wohl, in Ihren Jahren läßt sich ja jede Freu-de und jeder Schmerz auf die Liebe zurückführen, dasist das schöne Alter der Illusionen – später wird dasanders, anderes Denken, anderes Streben füllt das Le-ben aus, es läßt das nicht mehr so viel leiden, aber esmacht auch nicht so glücklich!«

Des Grafen Blick schimmerte feucht, ein Seufzer zit-terte über seine Lippen.

»Anderes Denken, anderes Streben!« sagte Herr vonGrabenow mit einem matten Lächeln, »wann wird daskommen?«

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»Es wird kommen, mein junger Freund,« sprach derGraf, »es wird bei Ihnen kommen, wie es bei jedemkommt, wie die Blumen des Lebens nicht unvergäng-lich blühen, so dauern auch seine Schmerzen nichtewig, und den abgefallenen Blüthen folgen die Früch-te, in Schmerzen gereift – zur Ernte der Ewigkeit.«

Der junge Mann sank fast in sich zusammen, wieder-um zitterte jener Schauer durch seine Glieder.

»Was ist Ihnen widerfahren?« sprach der Graf mittiefer Stimme, welche fast einen befehlenden Ton an-nahm, »vertrauen Sie sich mir an, ist Ihre Geliebte Ih-nen untreu geworden?«

»Untreu?« rief der junge Mann, sich plötzlich em-porrichtend und mit flammendem Blick aus seinen fie-berhaft glänzenden Augen den Grafen umfassend, »un-treu? Das ist unmöglich, unmöglich! Und doch, viel-leicht wäre ich ruhiger, vielleicht könnte ich leichteranderes Denken und anderes Streben finden, wenn esso wäre, dann wäre es wenigstens aus, und was auchmein Herz leiden müßte, dies Leiden könnte ein Endehaben, es könnte eine Ruhe darauf folgen – und wärees die Ruhe des Todes, aber so –«

»Kann es Schlimmeres geben als Falschheit und Un-treue eines Herzens, das wir lieben?« fragte der Graf.

Herr von Grabenow sah ihn lange an.»Ja,« sagte er dann mit einer Stimme, die so tief ver-

zweifelt aus seiner Brust heraufklang, daß der Graf un-willkürlich erbebte, »ja, es kann Schlimmeres geben!

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Herr Graf,« fuhr er dann fort, »Sie sind anders wiedie anderen, ich glaube, Sie verstehen die Leiden desmenschlichen Herzens, eines Herzens, dessen Schlä-ge noch nicht erstorben sind in der modernen Blasirt-heit dieser Welt, Sie kennen die Menschen und habenviel Herrschaft über sie, Sie können mich verstehen,und können mir vielleicht helfen; Ihnen will ich meinLeid klagen,« fuhr er in heftiger Erregung fort, seineWorte abgebrochen hervorstoßend, »oh, ich habe lan-ge einsam gelitten, alle meine Klagen sind fest ver-schlossen geblieben in meiner Brust, alle meine Thrä-nen sind zurückgeflossen zum eigenen Herzen; oh, dasthut weh, sehr weh, wenn man nach innen weinenmuß, wenn die Thräne, die Gott bestimmt hat, dasWeh der schmerzdurchzuckten Seele hinauszuströmenin die weite Luft, wenn die Thräne heiß und bren-nend zurückströmt in die wunde Brust, ätzende Qualbringend statt erquickender Beruhigung! Ich will Ihnenmeinen Jammer klagen, geben Sie mir Trost, geben Siemir Hilfe, wenn Sie können!«

»Sprechen Sie,« sagte der Graf tief bewegt, »und sei-en Sie überzeugt, daß Sie Niemand besser Ihr Leid an-vertrauen können als mir.«

»Sie haben mich mit jenem jungen Mädchen gese-hen,« sprach Herr von Grabenow rasch, lebhaft undfast keuchend seine Worte hervordrängend, als wolleer nach so langer Zurückhaltung so schnell als irgend

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möglich seine Brust von der erdrückenden Last befrei-en, die auf ihr ruhte, »Sie haben gesehen, wie schön siewar, als einen Augenblick der Schleier fiel, mit dem Sieso ritterlich ihr Gesicht schnell wieder verhüllten, oh– die Schönheit, die von ihrem holden Antlitz strahlte,war nichts – nichts – gegen die Schönheit ihrer Seele.Sie war meine Geliebte, sie hatte mir Alles gegeben,was die Liebe der Liebe zu geben hat, aber ich schwörees Ihnen bei dem Haupt meiner Mutter, bei dem Glau-ben an meine Seligkeit, sie war rein, rein und gut, wienur ein Wesen aus der Hand der allgütigen Gottheit ge-kommen ist, ich hatte so süße, so schöne Hoffnungen,ich wollte für sie mit den Vorurtheilen der Welt kämp-fen, ich wollte ihr mein ganzes Leben weihen, und eswäre mir gelungen, ich hätte Alles überwunden, ichhatte sie hinübergeführt in meine Heimath und ihr denPlatz in meiner Familie gegeben, den sie verdient, da–«

Er hielt inne – wie gebrochen von seiner Erinnerung.»Nun?« fragte der Graf.»Da war sie verschwunden, plötzlich verschwunden,

ohne eine Spur zu hinterlassen,« sagte der junge Manntonlos, »alle meine Bemühungen, etwas von ihr zu ent-decken, sind vergebens, ich habe Paris durchforschtnach allen Richtungen, vergebens, nach jedem Tagerastlosen Suchens senkte sich wieder die Nacht mit ih-rer dumpfen Verzweiflung auf mich herab, tagelang binich in lethargischer Abgespanntheit in meinem Zimmer

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geblieben, allein ringend mit meinem Schmerz, dannwieder hat es mich erfaßt mit Todesangst, ich habedie Straßen durchirrt, das Bois de Boulogne durchflo-gen, bis meine Pferde vor Ermattung zusammenbra-chen, ich habe alle Salons besucht, obgleich sie nie indie Welt ging, immer in der Hoffnung, ihr zu begegnen,eine Spur zu entdecken, aber immer, immer vergeblich,sie ist und bleibt verschwunden, verloren für immer.«

»Und haben Sie keine Idee, was geschehen seinkönnte, hat sie Ihnen kein Zeichen, keine Erklärung,kein Wort des Abschieds gegeben?« fragte der Graf.

»Ich habe einige Tage, nachdem sie plötzlich aus ih-rer Wohnung verschwunden war, einen Brief von ihrerhalten, worin sie mir schreibt, daß eine Wendungeingetreten wäre, die das Räthsel ihres Lebens löse,daß sie eine Heimath gefunden habe, aber von einerheiligen und liebevollen Autorität abhängig sei, der siegehorchen müsse, und welche ihr bestimmt verbiete,mir mehr mitzutheilen. Ich möge Vertrauen haben, siewerde mich ewig lieben und mir ewig treu bleiben, inder Zukunft könne vielleicht noch ein Glück für unserblühen. Das Alles schrieb sie mir kurz, aber herzlichund innig, voll tiefer Liebe, oh, ich habe diesen Brieftausendmal gelesen und wieder gelesen, um zwischenden Zeilen eine Spur zur Aufklärung zu finden, abervergeblich.«

»Und ihre Familie?« fragte der Graf. »Oder stand sieallein?«

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»Ihr Vater, den sie sehr liebte, war von einem plötz-lichen Schlagfluß getroffen und gestorben zur Zeit, dasie verschwand, ihre Mutter weiß nichts von ihr, ach,ihre Mutter wird wenig nach ihr fragen, sie hatte bö-se Absichten mit ihr, denen zu entgehen sie mir dasVersprechen abgenommen hatte, sie in ein Kloster zubringen, bevor ich Paris verlassen würde.«

»So hat sie sich vielleicht jetzt schon in ein Klosterzurückgezogen, um den Schmerz des Abschiedes zu er-sparen,« sagte der Graf.

»Nein,« erwiederte Herr von Grabenow einfach, »daswürde sie mir gesagt haben, sie war einer Unwahrheitunfähig.«

Bei diesen mit zitternder Stimme, aber mit dem festüberzeugten Ausdruck eines rührenden Vertrauens ge-sprochenen Worten glänzte eine Thräne im Auge desGrafen.

Es zuckte um seine Lippen, als wolle er sprechen,aber wie mit mächtiger Willenskraft drückte er die Be-wegung nieder, welche sein Gesicht durchbebte.

Einige Herren traten heran.»Mein Gott, Herr von Grabenow,« rief einer von ih-

nen, »was geht mit Ihnen vor, man sieht Sie niemalsmehr, und wahrhaftig, sehen Sie, meine Herren, ersieht in der That leidend aus, wir müssen überlegen,was mit Ihnen zu thun ist, um Sie dem Leben wieder-zugeben.«

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»Begleiten Sie uns heute Nacht nach dem CaféAnglais,« rief ein anderer junger Mann, »wir haben ei-ne allerliebste Parthie arrangirt, das wird Sie wiederaufheitern –«

»Herr von Grabenow wird schwer aufzuheiternsein,« rief der Herzog von Hamilton, der hinzugetre-ten war, »wenn eine gewisse kleine Dame nicht von derParthie ist, mit der wir ihn in dem chinesischen Theaterbegegnet haben –«

»So laden wir sie ein,« rief man, »– laden wir sie ein!«»Oh, sie würde nicht kommen!« sagte der Herzog,

während Herr von Grabenow tief erbleichte.Der Graf stand seitwärts und wendete kein Auge von

dem jungen Mann.»Warum würde sie nicht kommen?« rief der Vicomte

von Valmory, »wenn Herr von Grabenow es wünscht,kommt sie gewiß, so gut wie sie in der Soirée der Ma-dame de l’Estrada war –«

Ein jäher Blitz sprühte in dem Auge des jungen Man-nes auf, seine Lippen zitterten, seine Haare schienensich emporzusträuben, er trat einen Schritt vor undman mußte eine Antwort erwarten, welche dem Ge-spräch eine sehr ernste Wendung gegeben hätte.

Rasch trat in diesem Augenblick der Graf Rivero zudem jungen Mann hin, sorglos ruhige Heiterkeit lag aufseinem Gesicht.

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»Verzeihen Sie, meine Herren,« sagte er zu den jun-gen Leuten, daß ich Ihr Gespräch unterbreche, es be-trifft ja keine ernsten Gegenstände – und ich habe mitHerrn von Grabenow noch ein paar Worte zu sprechen,die wichtig sind, ein Pferdekauf, über den wir soebenzu plaudern begonnen hatten, lassen Sie mir unserenFreund ein Wenig.«

Er hatte bei diesen Worten in scheinbar leichter Be-wegung den Arm des jungen Mannes berührt, aber sei-ne Finger drückten diesen Arm mit eiserner Gewalt;Herr von Grabenow blickte in das Gesicht des Grafenund begegnete einem so herrschenden Ausdruck be-fehlenden Willens in dessen Auge, daß er nach einemaugenblicklichen Zögern mit leichter Verbeugung ge-gen die Herren dem Grafen folgte, der ihn langsam,immer seinen Arm haltend, in den zweiten Salon führ-te, in dem in diesem Augenblick Niemand anwesendwar.

»Warum verhindern Sie mich, Herr Graf,« fragte derjunge Mann mit gepreßter Stimme, »diesen Unver-schämten zu züchtigen, der es wagt –«

»Vielleicht die Wahrheit zu sagen,« antwortete derGraf.

»Die Wahrheit?« rief Herr von Grabenow zitternd.»Jedermann kennt diesen Salon der Madame de l’Estradaund es sollte die Wahrheit sein, daß meine Julia –«

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»Haben Sie mir nicht selbst erzählt,« sagte der Graf,»daß ihre eigene Mutter sie dem Abgrund der Verderb-niß zuführen wollte, kann sie nicht, ohne zu ahnen,wohin sie ging, dorthin geführt sein, kann nicht diesgerade ihr die Augen ganz geöffnet haben?« –

»Aber, mein Gott!« rief Herr von Grabenow.»Wenn nun über diese Sache Erörterungen stattfan-

den, wenn Sie sich deshalb schlügen, wenn Paris dreiTage über diese Sache spräche,« fuhr der Graf ruhigfort, »glauben Sie, daß Sie damit Ihrer Geliebten einenDienst leisteten, wenn dieselbe wirklich, wie sie Ihnengesagt und wie Sie es glauben, eine Heimath und eineFamilie gefunden hat?«

»Wahr, wahr!« sagte der junge Mann, »aber meinGott! soll ich ruhig mit anhören –«

»Wollen Sie den Rath eines älteren Mannes und ei-nes aufrichtigen Freundes annehmen?« fragte der Graf.

»Sprechen Sie,« sagte Herr von Grabenow ruhig undergeben.

»Der Aufenthalt in Paris,« fuhr der Graf fort, »reibtIhre Kräfte auf, dieses ewige, vergebliche Suchen, Hof-fen und Zweifeln vernichtet Sie körperlich und geistig,Sie müssen vor allem den inneren Halt, die FestigkeitIhrer Seele wieder gewinnen. Kehren Sie in Ihre Hei-math zurück, ergreifen Sie einen Beruf, und wenn Siesich nur der Cultur Ihrer Güter widmen, aber schaffenSie, stählen Sie Ihr Herz in Thätigkeit und Arbeit! –Sie sehen,« fuhr er fort, »ich sehe Ihre Liebe und Ihr

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Leiden für ernst an, denn ich rathe Ihnen zu ernstenHeilmitteln.«

»Ich danke Ihnen dafür von Herzen,« erwiederteHerr von Grabenow, »aber, soll ich sie aufgeben, jedeMöglichkeit aufgeben, ihre Spur zu finden?«

»Hören Sie mich an,« sagte der Graf, »entweder istIhre Geliebte das, wofür Sie sie halten, dann steht sieunter irgend welchem starken Einfluß und Schutz undSie werden sie nicht finden, wenigstens jetzt nicht, Siemüssen dann ihrer Liebe vertrauen, oder sie hat Siegetäuscht –«

»Nein!« rief Herr von Grabenow zuversichtlich.»Dann,« fuhr der Graf fort, ohne diesen Ausruf zu be-

achten, »finden Sie sie wahrscheinlich auch nicht, undwenn Sie sie fänden, so wäre es besser, daß Sie sie garnicht gesucht hätten.«

Herr von Grabenow zögerte.Der Graf sah ihn lange und ernst an.»Haben Sie Vertrauen zu mir?« fragte er dann, »und

glauben Sie, daß ich ein Wenig Erfahrung und auch einWenig Macht über Menschen und Verhältnisse habe?«

»Ja, das glaube ich – und ich habe Vertrauen zu Ih-nen,« sagte Herr von Grabenow.

»So verspreche ich Ihnen denn,« sprach der Graf mitvollem Ton seiner tiefen Stimme, »Ihre Sache zu dermeinigen zu machen. Kehren Sie ruhig zurück in Ih-re Heimath, Sie werden mir einige Notizen geben undich will Ihnen Nachricht geben, sobald es mir möglich

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sein wird, Ihnen etwas über das Schicksal Ihrer Gelieb-ten mitzutheilen. Seien Sie überzeugt, daß es mir mitmeinen vielen Verbindungen und Anknüpfungspunk-ten leichter möglich sein wird, zu einem Resultat zugelangen, als Ihnen, um so mehr, da ich ruhig und kalt-blütig sein werde. – Doch jetzt lassen Sie uns gehen,«fuhr er fort, »damit wir hier nicht wieder gestört wer-den, wir setzen unser Gespräch besser draußen fort.«

Sie verließen unbemerkt den Salon und stiegen aufdie Straße hinab.

Lange gingen sie Arm in Arm auf dem breiten Trot-toir bei Boulevard Malesherbes auf und nieder in eifri-ger Unterredung, und als sie sich endlich trennten, dasagte Herr von Grabenow mit trübem und thränendemBlick zwar, aber mit fester Stimme:

»Ich werde Ihnen ewig dankbar sein, Sie haben mirdie Kraft zum Leben wiedergegeben, ich werde in we-nigen Tagen nach meiner Heimath zurückreisen, undstark und ruhig den Kampf mit dem Leid des Lebensaufnehmen. Gebe Gott, daß Sie mir einst das Glückwiedergeben können!«

»Leben Sie wohl,« sagte der Graf tief bewegt, »Siehaben einen Freund für das Leben gewonnen, und soGott es will, sollen Sie aus meiner Hand Ihre Geliebtewieder erhalten!«

Mit raschem Händedruck wendete er sich ab undschritt der Chaussee d’Antin zu, während Herr vonGrabenow nach seiner Wohnung zurückkehrte.

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»Es sind gute und reine Herzen,« flüsterte der Grafvor sich hin, »sie sollen glücklich werden, wenn sie aus-harren und die Treue bewahren. Vielleicht wird es mirvergönnt, das Glück dieser Kinder zu begründen undden finsteren Schatten zu versöhnen, den das unglück-liche Opfer dieses dämonischen Weibes, die ja dochmein Werkzeug war, in meine Seele wirft.«

Herr von Wendenstein hatte bei der Ankunft der üb-rigen Gesellschaft die Salons der Marchesa Pallanzo-ni verlassen und war mit hochathmender Brust in dieNachtluft hinausgeeilt. Seine Blicke glühten in trun-kenem Feuer, seine Pulse schlugen, alle seine Gedan-ken verwirrten sich. Sein ganzes früheres Leben, trotzder gewaltig erschütternden Ereignisse des letzten Jah-res, so ruhig gleichförmig in seiner friedlichen Stil-le, versank in seiner Erinnerung, überrauscht von die-sen glänzenden Fluthen des Pariser Treibens, das denjungen, lebenslustigen Mann in seinem vielfarbigenGlanz umspielte. Und inmitten all’ dieses reichen Far-benschimmers erhob sich das Bild dieser Frau, derenwunderbare Schönheit mit berauschender Gewalt sei-ne Sinne fesselte und deren kühner, stolzer Geist ihnfortriß in glühender Bewunderung. Wohl sah er ne-ben diesem üppigen, alle Sinne fesselnden Bilde einbleiches, zartes Antlitz mit tiefen, treuen Augen sicherheben, aber diese Mahnung an eine stille Vergan-genheit mit ihren Träumen und ihren Hoffnungen ver-sank, wenn auch unter schmerzlichen Zuckungen des

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Herzens, in den schimmernden Lichtwellen der Gegen-wart.

Was lange unbewußt in dem Herzen des jungenMannes sich entwickelt hatte, während er die glühen-de Lebenslust der großen Weltstadt mit durstigen Zü-gen einsog, das war heute zur flammenden Klarheitgeworden, er hatte zu den Füßen dieser Frau gekniet,die alle seine Lebensnerven vibriren ließ, er hatte ih-ren Athem auf seinem Gesicht gefühlt, er war hinge-rissen von dem sympathischen Strom, der sie umfloß,er fühlte die Sehnsucht seiner Liebe in heller Lohe ihrentgegenschlagen.

Er hatte keinen Gedanken über die Zukunft, er dach-te nicht an die Vergangenheit, er fühlte sich versinkenin den feurigen Wogen eines übermächtigen Gefühls.

Langsam war er durch die Straßen gegangen; kaumdas Treiben auf den Boulevards beachtend, wendete ersich in die Rue du Faubourg Montmartre und stieg ineinem der ersten Häuser dieser Straße die Treppe zuseiner mit einfacher Eleganz eingerichteten Wohnungempor.

In tiefen Gedanken trat er in den Salon neben sei-nem Schlafzimmer, sein Diener, ein emigrirter hanno-verischer Soldat, hatte die Lampe auf den Tisch gestelltund einige Briefe daneben gelegt.

Abgespannt und ohne seine Toilette zu ändern, warfsich Herr von Wendenstein auf das Canapé neben demTisch.

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Längere Zeit lag er in träumende Gedanken versun-ken, sein Blick schimmerte in feuchtem Glanz, glühendströmte sein Athem aus seinen geöffneten Lippen.

»War es Leben,« flüsterte er, »diese Existenz, die ichgesucht habe, dort in der ruhigen Heimath, wo ein Tagdem anderen folgte in gleichmäßigem Einerlei, wo alleGefühle so langsam und ruhig keimten und sich ent-wickelten, wie die Blumen auf einem Getreidefelde? –Oh, das Leben, wahre Leben mit seinen Gluthen undseinen Aufregungen, mit seinen tiefen Erschütterun-gen und seinem süßen Rausch, das Leben der großenWelt, wie faßt es mich so mächtig und gewaltig hier indem Mittelpunkt Europas, wie zieht mich der Strudelmit allen meinen Sinnen hinein, wie fühle ich hier, wases heißt, zu lieben, zu versinken in dem berauschendenStrom des flammenden Glücks!«

Er schloß die Augen und bedeckte das Gesicht mitden Händen. Als er nach einigen Minuten wieder auf-sah, fiel sein Blick auf die Briefe, welche sein Dienerauf den Tisch neben ihn gelegt hatte.

Fast mechanisch streckte er die Hand danach ausund ergriff ein ziemlich starkes Couvert, welches demRande des Tisches zunächst lag.

»Die Handschrift meines Vaters,« sagte er, indem errasch das Siegel erbrach.

Langsam las er den Brief seines Vaters, der ihm miteinfachen Worten, wie es die Art des alten Herrn war,

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mittheilte, was in der Familie und im Kreise der Be-kannten geschehen sei, und ihm zugleich in dem Toneines älteren Freundes Muth einsprach für die schwereZeit, in der er lebte und die er noch vor sich hatte.

Sinnend legte er den Brief neben sich. Die treuen,ernsten Worte des Vaters waren in seinen Rausch hin-eingeklungen wie eine Mahnung aus einer von purpur-nen Wollen verhüllten Welt, einer Welt, in welche dieWurzeln seines Herzens noch tief, tief verwachsen wa-ren.

Der Brief des Oberamtmanns enthielt noch zwei an-dere.

Der junge Mann ergriff den einen, – er war von sei-ner Mutter.

Lange las er die Zeilen, welche die alte Dame ihmschrieb und aus welchen es ihm entgegenathmete wiebei eigenthümliche Hauch des alten kühlen, schallen-den Hauses in Blechow. Seine stille, glückliche Kind-heit, seine einfach frohe Jugend trat ihm entgegen ausdem Briefe der Mutter, die in kurzer, sentenzenhafterWeise ihm so viel gute, kluge und liebe Worte schrieb,und die daneben nicht vergaß, ihn zum Schluß zu er-mahnen, daß er seine Wäsche nicht verderben lassenund seine Gesundheit schonen möge in dem unruhigenLeben von Paris.

Eine Thräne trat in sein Auge, mit wehmüthigem Lä-cheln legte er endlich das Blatt wieder auf den Tischzurück und griff nach dem dritten Brief.

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Fast zögernd öffnete er denselben, – er war von He-lene.

Als er die Schriftzüge des jungen Mädchens erblick-te, führte er, einer unwillkürlichen Regung folgend, dasPapier an seine Lippen.

Dann las er die vier eng beschriebenen Seiten, undals all’ diese Reinheit, diese Liebe, diese Treue, diesVertrauen ihm aus den einfachen, aber vom Duft einersüßen Poesie erfüllten Worten entgegentrat, flog seineganze Seele hin nach der fernen Heimath, er sah dieblühenden Rosenbeete im Pfarrgarten von Blechow,er sah das dunkelverhüllte Zimmer in Langensalza, inwelchem die treuen lieben Augen ihm entgegenstrahl-ten, als er in der Nacht des Todeskampfes befangendalag, er sah die dunkle Nacht in der Eilenriede, alser mit bangem, gepreßtem Herzen die Geliebte zumAbschied an die Brust drückte, um hinauszureiten derunbekannten Zukunft entgegen, und vor diesen reinenBildern versank all’ der glühende Glanz des Pariser Le-bens wie die wallenden Nebel vor der aufsteigendenSonne.

Er sprang auf und ging mit raschen Schritten durchdas Zimmer.

»Wie spricht nur der gute Geist meiner Kindheit ausdiesen Briefen!« rief er, »darf ich mich in dieses Meerversenken, dessen Wogen mich hier umspülen, unddessen geheimnißvolle Wunder mich locken und ru-fen?«

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Er ging in heftiger Bewegung auf und nieder.»Aber,« rief er dann, »ist mein Herz, mein Blut da-

zu geschaffen, um all’ dies berauschende Glück vonsich zu stoßen, um darauf zu verzichten, nachdem esmir erschienen, nachdem ich es kennen gelernt? – Istes ein Verbrechen, zu genießen, was diese Welt mirbietet und was ja doch nur vorübergehend ist, vor-übergehend sein muß? – Kann ich nicht zurückkehrenzu jener stillen Einfachheit, nachdem ich den glühen-den Rausch des Lebens genossen und mein dürstendesHerz erquickt habe mit dem süßen Trank aus der Quel-le, die hier so reich mir fließt?«

Er preßte die Hand auf seine brennende Stirn undblieb vor dem Tisch stehen.

Sein Blick fiel auf einen Brief, der noch uneröffnetneben den anderen Papieren lag.

Er ergriff das Couvert, öffnete das Siegel und fandeinen Brief des Regierungsraths Meding, welcher ihnmit kurzen Worten ersuchte, ihn so bald als thunlichzu besuchen, um im Interesse des Dienstes des Königseine Mittheilung entgegenzunehmen.

Mit jener militairischen Pünktlichkeit, welche allenpersönlichen Gefühlen übergeordnet bleibt, sah derjunge Mann nach seiner Uhr.

Es war zehn Uhr. Er ergriff seinen Hut, verschloß dieBriefe, die er erhalten, und verließ seine Wohnung.

Er stieg die Rue du Faubourg Montmartre hinauf,ging über die Place Saint Georges an dem Hôtel des

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Herrn Thiers vorbei und wendete sich einige Schritteweiter in die Rue Mansart, welche die Rue Saint Geor-ges mit der Rue Blanche verbindet.

Vor der großen porte cochère eines Hôtels nahe derEcke blieb er stehen, zog den Cordon und schritt überden Hof nach dem im Grunde desselben vor einemGarten mit großen alten Bäumen liegenden Hause.

Der auf dem Vestibül wartende Kammerdiener sagteihm, daß Herr Meding zu Hause sei und einige Her-ren bei ihm wären, er öffnete dem jungen Mann dieThür und Herr von Wendenstein trat in einem Salonim Geschmack Louis XVI., an welchen sich ein zweitesmit bequemen Canapés und Fauteuils gefülltes Zimmeranschloß; die großen Flügelthüren nach dem tiefschat-tigen Garten waren weit geöffnet, auf dem weiten stei-nernen Balkon, von welchem man zu dem Garten hin-abstieg, standen ebenfalls Lehnstühle und eine Gesell-schaft von sechs bis sieben Herren saß rauchend undplaudernd umher.

Der Regierungsrath Meding trat dem jungen Han-noveraner mit herzlichem Gruß entgegen und sagteihm: »Ich freue mich, Sie heute abend noch zu sehen,ich hatte Sie gebeten zu kommen, um Ihnen zu sagen,daß die Aufrechterhaltung der Ordnung unter der han-noverischen Emigration, welche, wie Sie wissen, nachder Schweiz hat übersiedeln müssen, die Anwesenheitmöglichst vieler Officiere erfordert. So sehr ich Ihre Ab-wesenheit von Paris bedauern werde, so scheint es mir

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doch im Interesse des Dienstes unseres allergnädigstenHerrn sehr wünschenswerth, daß Sie bald nach Zürichgehen und sich dort Herrn von Hartwig, der die Emi-gration commandirt, zur Verfügung stellen.«

Ein eigenthümlicher Ausdruck zeigte sich auf demGesicht des jungen Officiers.

Zunächst leuchtete es in seinem Auge auf bei derMittheilung, daß ihm Gelegenheit werden solle, derSache, welche für ihn heilig war und der er gern al-le seine Kräfte widmete, dienen zu können, dann zoges wie ein Schatten über seine Züge bei dem Gedankendaran, daß er Paris verlassen solle und alle die süßenTräume, die ihm hier aufgegangen waren.

»Ich werde einige Zeit zur Vorbereitung und zur Ord-nung meiner Angelegenheiten bedürfen,« sagte er, »so-bald –«

»Wir wollen morgen weiter darüber sprechen,« er-wiederte der Regierungsrath Meding und wendete sichzu einer Gruppe von Herren, unter denen der dänischeAgitator Hansen in lebhaftem Gespräch mit einem jun-gen eleganten Manne sich befand, dessen geistvollesGesicht von kurzem blonden und leicht gelockten Haarumrahmt war.

»Hansen,« sagte Herr Valfrey, der Redakteur des Mé-morial diplomatique, »glaubt nicht, daß in Salzburg et-was Positives geschehen sei, er ist Pessimist und siehtin einer Allianz mit Österreich kein Heil für die Zu-kunft, während es mir doch auf der Hand zu liegen

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scheint, daß nur durch die innige Verbindung dieserbeiden Mächte für die Zukunft das Unglück der Ver-gangenheit wieder gut gemacht werden kann.«

»Und warum ist unser sonst unermüdliche Freund sooppositionell gegen die officielle und officiöse Gedan-kenrichtung, wie wir ihr in allen Journalen begegnen?«sagte Herr Meding lächelnd.

»Weil,« rief der kleine Hansen lebhaft mit seinemscharfen, etwas zischenden skandinavischen Dialect,»weil ich ein Mann der That bin und weil ich noch niegesehen habe, daß bei Phrasen und Hin- und Herdeli-beriren etwas herauskommt. – Davon aber bin ich ganzüberzeugt,« fuhr er mit bitterem Lächeln fort, »daß die-ser österreichische Reichskanzler, den man mit Rechteinen politischen Charmeur genannt, nichts Anderesals Phrasen nach Salzburg gebracht hat, und daß derKaiser Napoleon gewiß Nichts gethan hat, um diesePhrasen zu Handlungen zu verdichten. – Und das,« riefer, »das geschieht einem Manne gegenüber, der die In-korporation des thätigen Handelns ist, das geschiehtdem Grafen Bismarck gegenüber, der die Worte nur zugebrauchen versteht, um sie wie den rollenden Don-ner den zuckenden Blitz seiner That begleiten zu las-sen! – Wahrlich, auf diese Weise wird man seine Wegenicht durchkreuzen. Es gäbe in der That nur einen Wegfür Österreich, eine Revanche für Sadowa zu nehmen,man müßte es verstehen, Herrn von Beust zum Mini-ster in Berlin zu machen.«

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Herr Meding wendete sich nach dem zweiten Salonund sagte lächelnd:

»Hören Sie, Ihr Landsmann wird uns etwas Musikmachen, das ist besser als die sterile Politik.«

Hansen und Valfrey setzten flüsternd ihr eifriges Ge-spräch fort.

Der Lieutenant von Wendenstein hatte sich ein GlasPorter-Vier mit Champagner gemischt, der ihm in ei-ner carafe frappée von einem Lakaien servirt wurde,zündete eine Cigarre an und trat unter die Thür desSalons, gedankenvoll hinaufblickend über die hohenBäume zum dunklen Nachthimmel.

Inzwischen hatte sich der Graf Schmettow, Jäger-meister des Königs von Dänemark, ein eleganter Mannvon etwa sechsunddreißig Jahren, mit blondem Haarund langem Schnurrbart, der in Paris seiner Liebe fürdie Künste lebte, an das Piano gesetzt und begann infertigem und ausdrucksvollem Spiel eine Art von Pot-pourri aus dänischen Nationalmelodien vorzutragen.

»Es ist ein wunderbarer Reiz in Ihren nordischenMelodien,« sagte der Regierungsrath Meding, als derGraf innehielt, »ich fühle mich stets durch den kraftvol-len und doch so geheimnißvoll sympathischen Klangmächtig angesprochen.«

»Ja,« erwiederte der Graf, »es liegt ein tief melodi-sches Element in unseren Volksweisen, doch muß ich

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Ihnen sagen, daß Ihre deutschen Componisten es ver-stehen, gerade die wunderbare Einfachheit des Volks-liedes unendlich glücklich nachzuahmen.«

Und er begann nach einigen einleitenden Accordendie Melodie zu spielen:

»Es ist bestimmt in Gottes Rath,Daß man vom Liebsten, was man hat,Muß scheiden.«

Die so eigenthümlich ergreifenden Töne klangendurch die Salons, unwillkürlich verstummten die Ge-spräche oder sanken zum leisen Flüsterton herab.

Der Lieutenant von Wendenstein zuckte in sich zu-sammen, als die einfache Melodie zu ihm herüber-klang.

Wie mit einem Zauberschlag stieg hinter dem Schat-ten der mächtigen Platanen, auf denen sein Auge ruh-te, das Amtshaus in Blechow herauf, das alte Wohn-zimmer, in welchem seine Mutter in so lieber Traulich-keit schaltete. Vor seiner Seele erhob sich lebendig wiedie Gegenwart jener bange Abend des Abschieds vordem Feldzuge, als Helene bleich und zitternd ihm die-ses Lieb als letzten Scheidegruß mitgab auf den Wegvoll Todesgefahr, er sah sie wieder vor sich, jene lie-ben, treuen Augen, die ihm geleuchtet hatten, als eraus den Banden des Todes zum Leben erstand, undals jenes tröstende Schlußwort: »auf Wiedersehen« ausden Tiefen seines Herzens auf seine Lippen trat.

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Sein Auge strahlte im reinen Licht, ein glückliches,ruhiges Lächeln spielte um seine Lippen – die glän-zenden, berauschenden Nebel sanken nieder, und alsder Graf Schmettow mit leise verklingendem Accordschloß, flüsterte der junge Mann leise vor sich hin, dasWort Fausts verändernd:

»Die Erde sinkt – der Himmel hat mich wieder.«»Ich liebe dies Lied sehr,« sagte Herr Meding. »Sie

haben Recht, lieber Graf, es ist so vollendet gemacht,daß man glaubt, eine im Volksmund aufbewahrte Tra-dition der langentschwundenen Vergangenheit zu hö-ren.«

Herr von Wendenstein war herangetreten.»Ich habe überlegt,« sagte er, »ich kann morgen früh

Alles ordnen und im Laufe des Tages nach der Schweizabreisen.«

»Um so besser,« erwiederte der Regierungsrath Me-ding, »je schneller Sie dorthin kommen, um so größerwird der Dienst sein, den Sie der Sache des Königs lei-sten.«

Nach kurzer Zeit brach man auf.Herr von Wendenstein ging ruhig und heiter nach

Hause, Zweifel und Kampf war aus seiner Seele ver-schwunden und bald versank er in friedlichen Schlafvoll schöner, reiner Träume.

Der Brief Helenes lag auf seinem Nachttisch.

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ZWEIUNDVIERZIGSTES CAPITEL.

An einem Novemberabend des Jahres 1867 saß diePrinzessin Mathilde in dem reizenden, kleinen Salonder oberen Etage ihres Hôtels in der Rue de Courcel-les, zurückgelehnt in einen tiefen Fauteuil. Die großenEmpfangsabende, an welchen die Prinzessin Alles, wasParis an Großwürdenträgern, Diplomaten, Künstlernund Schriftstellern in ihren feenhaft mit Gewächshäu-sern umgebenen Appartements des untern Stockwerksmit der ihr eigenthümlichen geistreichen Anmuth umsich zu versammeln pflegte, hatte noch nicht begon-nen, und die Prinzessin war nur für die ihr näher ste-henden Personen im intimen Kreise zu Hause.

Die Tochter Jérômes hatte den schönen Kopf mitden feinen, geistvollen Zügen, den schwarzen, scharf-blickend funkelnden Augen und dem dunkeln glän-zenden Haar leicht auf die Hand gestützt, deren klas-sisch schöne Form und alabasterglänzende Weiße in al-ler Jugendfrische erhalten war und an die berühmteHand ihres großen Oheims erinnerte. In der Stellungder Prinzessin war das etwas starke Embonpoint ihrerFigur nicht bemerkbar, und man hätte ihrer ganzen Er-scheinung bei weitem nicht das Alter gegeben, das siewirklich erreicht hatte.

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Zu den Füßen der Prinzessin lag auf einem weichenKissen ein kleines Windspiel, das trotz seines Man-tels von dichtem, pelzverbrämtem Wollenstoff vor Käl-te zitterte, zwei andere kleine Hündchen von der zier-lichen, langhaarigen Raçe der Havanais hatten es sichin der Nähe auf niedrigen Tabourets bequem gemacht.

Der Salon war angefüllt mit allem, was ein hoch-gebildeter, hier und da vielleicht etwas launenhafterGeschmack zur Decoration eines eleganten Interieursvereinigen kann, an den Wänden hingen vortrefflicheÖlbilder mit Landschaften aus Westphalen und mitGenrebildern aus dem westphälischen Bauernleben,vermischt mit klassischen Gemälden der italienischenSchule, sowie einige eigene, mit ebensoviel Geschickals Genialität ausgeführte Bilder der Prinzessin.

In der einen Ecke des Salons war die EhrendameMadame de Reiset, eine anmuthig schöne, junge Frau,beschäftigt, an einem kleinen Tisch, bedeckt mit ge-schmackvoll zierlichem Geschirr von Silber und Sèvre-sporcellan, den Thee zu bereiten; neben der Prinzessinsaß auf einem kleinen Lehnstuhl Herr Meding, der ver-traute Diener des Königs von Hannover.

»Ich bedaure sehr,« sagte die Prinzessin, leicht mitder Spitze des zierlichen Fußes auf das Kissen ih-res Windspiels schlagend, »daß unsere Ideen über ei-ne Verbindung des hannoverischen Hauses mit Italien

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nicht schneller der Realisirung entgegengeführt wor-den sind. – Die jetzige Lage der Dinge dort muß al-le Projecte vertagen und ich hätte so sehr gewünscht,daß das hannoverische Haus durch eine Verbindungmit den großen Mächten mehr in die Lage gekommenwäre, Etwas für seine Zukunft zu thun.«

»Eure Kaiserliche Hoheit wissen,« erwiederte HerrMeding, »daß ich ohne Säumniß die Idee, über welcheSie mir die Ehre erzeigten, mit mir zu sprechen, über-bracht habe, indes ein plötzlicher und schneller Ent-schluß schien mir für meine allerhöchsten Herrschaf-ten sehr schwierig, da doch dabei verschiedene, sehrtief einschneidende Fragen in Erwägung gezogen wer-den mußten – die Religion – und die Principien, welchein Italien zum Ausdruck gekommen sind, und welcheja gerade der König von Hannover in seiner gegenwär-tigen Lage und Stellung bekämpfen muß –«

»Bah,« rief die Prinzeß, »der König wird sich dochnicht vergleichen wollen mit den Bourbons von Neapelund all den ausländischen Fürsten, die durch die Eini-gung Italiens depossedirt sind. Ich sage Ihnen frei, derKönig hat Unrecht gehabt, sich gegen die Macht unddie Verhältnisse zu stellen, aber jedenfalls war er dazuberechtigter, als die fremden Regenten, welche Theilevon Italien beherrschten; doch wie dem auch sei, ichmöchte gern seinem Hause nützlich sein, ich habe im-mer eine große Sympathie für ihn gehabt, ich erinneremich noch lebhaft unserer Begegnung in Potsdam; bei

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einem Diner bei dem alten Fürsten Wittgenstein saßich neben ihm und war in der That ganz ungemein an-genehm berührt von der edlen Erscheinung dieses soritterlichen und so unglücklichen Herrn. Die Königinvon Holland hat mir neuerdings wieder mit großemInteresse von ihm gesprochen, ich bin immer der Mei-nung, daß richtige Verbindungen mit den europäischenHöfen das Beste sind, was der König in seiner Lagethun kann. – Der Prinz von Carignan hat mir unend-lich viel von der Schönheit und Liebenswürdigkeit derPrinzessinnen erzählt, Sie wissen, was das Haus Habs-burg durch seine Verbindungen erreicht hat –«

»Sie können überzeugt sein, Prinzessin,« sagte HerrMeding, »daß ich Ihrer Ansicht vollkommen beistim-me, und gewiß stets gern bereit bin, in solchem Sinnezu vermitteln, sobald die Interessen meines Herrn da-durch gefördert werden.«

»Jetzt ist gar nichts zu machen und an gar nichts zudenken,« rief die Prinzessin, »diese neue Verwirrungin Italien stellt ja alle Verhältnisse auf den Kopf undbedroht Europa mit neuen Catastrophen. – Warum,«fuhr sie, den Fuß heftig hin und her bewegend, fort,»warum läßt man dies Italien nicht in Ruhe, was ha-ben wir in Rom zu thun, um eine Sache zu schützen,die unhaltbar ist, wenigstens gewiß unhaltbar mit äu-ßerer Gewalt! Wenn die Kirche und die Priester ihreHerrschaft über die Seelen nicht erhalten können mit

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den Mitteln des Geistes und der Überredung, so wer-den sie es gewiß niemals können durch Bajonette undKanonen. Oh, ich bedaure es sehr, daß man dem Kai-ser dazu räth, sich mit der sinkenden Macht des Papst-thums zu verbinden und sich zum Feinde Italiens zumachen, statt sich mit dieser neu und jugendkräftigemporstrebenden Macht recht innig zu verbinden, werwollte solcher Coalition widerstehen – und Frankreichwäre mächtiger als je!«

»Es ist für mich sehr schwer,« erwiederte Herr Me-ding, »mich als Fremder über die Politik Frankreichsund des Kaisers auszusprechen, da mir die nöthigeKenntniß der Verhältnisse zu einem competenten Urt-heil fehlt –«

Die Prinzessin lächelte leicht und blickte aus demWinkel des halbgeschlossenen Auges zu dem Spre-chenden hinüber.

»Eine sehr diplomatische Einleitung!« sagte sie.»Doch glaube ich,« fuhr Herr Meding fort, »daß die

Idee einer festen Verbindung mit Italien sehr ernstlichverfolgt wird, soweit man nach den in die äußere Er-scheinung tretenden Ereignissen urtheilen kann; derBesuch des Kaisers von Österreich hier –«

»Nichts – nichts!« rief die Prinzessin, »ich habe langemit Herrn von Beust mich unterhalten, ich bin nichtPolitiker von Metier, aber ich habe meine Meinungund sage sie frei, auf Österreich ist nicht zu rech-nen, da ist weder fester Willen noch richtige Kraft,

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Österreich würde Italien folgen, aber Italien handeltnicht mit kleinen Concessionen, Italien verlangt sei-ne nationale Einheit und seine Hauptstadt, und geradejetzt schicken wir uns abermals an, diesem nationalenAufschwung uns entgegenzustellen!« fügte er achsel-zuckend hinzu.

»Aber, Prinzessin,« sagte Herr Meding, »die Regie-rung des Kaisers wendet sich ja nicht gegen die italie-nische Regierung, die ganze Bewegung ist ja ein Frei-schaarenzug, Ratazzi war ganz einverstanden mit –«

»Ratazzi!« rief die Prinzessin mit einem unbeschreib-lichen Ton, »und vielleicht Madame Ratazzi auch?«

Unter der Portière des vorderen Salons erschien indiesem Augenblick ein Herr von etwa sechzig Jahrenmit dem großen Band der Ehrenlegion, sein scharfge-schnittenes Gesicht, von dünnem Haar umrahmt, zeig-te eine feine Intelligenz, und die verbindliche Höflich-keit des Hofmannes lag auf seinen Zügen. Ihm zur Sei-te schritt eine schlanke Dame von wunderbarer Schön-heit, das fast marmorbleiche Gesicht war wie durchdunkles Feuer von den tief blauschwarzen Augen mitlanggebogenen Wimpern erleuchtet, ebenso schwarze,reiche Flechten faßten die Stirn ein, die hohe Gestaltwar gehüllt in eine Robe von schwarzem Sammet – rei-cher Schmuck von prachtvollen Diamanten glänzte anihrem Hals und in ihrem Haar.

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Es war der Marquis von Chasseloup-Laubat mit sei-ner Gemahlin, welche der Cousine des Kaisers ihrenAbendbesuch machten.

Die Prinzessin reichte der Marquise die Hand undließ sie neben sich den Platz einnehmen, den Herr Me-ding aufstehend ihr eingeräumt hatte.

»Nehmen Sie sich in Acht, Marquis,« rief die Prinzes-sin heiter lachend, »Sie finden mich in einer sehr un-zufriedenen Stimmung, ich war soeben im Begriff, sehrunangenehme Dinge über die Politik zu sagen, die manin diesem Augenblicke macht, Ihre Loyalität würde ingroße Verlegenheit gekommen sein, wenn Sie meineAusfälle hätten anhören müssen –«

»Meine Loyalität wird stets mit dem größten Respectdie Meinung einer Dame und einer kaiserlichen Prin-zessin anhören,« sagte der Marquis sich verneigend,»nur werde ich mir vorbehalten, diese Meinung nichtimmer zu theilen –«

»Oder es nicht zu sagen, wenn Sie sie theilen,« lachtedie Prinzessin. – »Wissen Sie, meine Herren,« fuhr sienach einem Augenblick fort, während Madame de Rei-set den Thee servirte, »was ich mir vorgenommen habezu thun – ich werde ein Journal gründen, ein großesJournal, das wird eine sehr interessante Beschäftigungwerden – ich werde sehr deutlich meine Meinung sa-gen über Alles, was ich sehe und was mir mißfällt, oh,Sie sollen sehen, das würden herrliche Artikel werden,die ich schreiben würde oder schreiben lassen, denn

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ich müßte meine Redacteure haben. Wollen Sie Mit-glied meiner Redaction werden, Marquis?«

»Ich fürchte, daß dies Journal mit den Preßge-setzen in Conflict kommen würde,« sagte Herr vonChasseloup-Laubat, »namentlich wenn es die innerenAngelegenheiten ähnlich kritisirte, wie Eure Kaiserli-che Hoheit es mit der auswärtigen Politik zu beabsich-tigen scheinen.«

»Oh,« rief die Prinzessin halb scherzend, halb inwirklichem Zorn, »über die inneren Angelegenheitenwerde ich noch ganz anders meine Geißel schwingen,denn mit der Verwaltung habe ich wohl Grund aufschlechtem Fuß zu stehen. – Wissen Sie, was Ihr HerrHaußmann mir gethan hat?«

Der Marquis zuckte mit einem leicht verlegenen Lä-cheln die Achseln.

»Dieser Pascha von Paris,« rief die Prinzessin, »hatmir einen Theil meines Gartens von Saint Gratienexpropriirt und mir eine häßliche, dampfende undschnaubende Eisenbahn mitten durch meinen schö-nen, stillen Park gelegt, und was das Schönste ist, dieExpropriationsgelder hat er für den kaiserlichen Doma-nialfonds in Anspruch genommen und dorthin abgelie-fert, ist das nicht unerhört? – und als ich mich beimKaiser beschwerte, hat dieser verlegen seinen Knebel-bart gestrichen, den er übrigens gar nicht tragen sollte,denn er kleidet ihn sehr schlecht – und hat mir gesagt,man müsse Herrn Haußmann in allen diesen Dingen

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freie Hand lassen, er verstehe das ausgezeichnet, abersei ein Wenig selbstständig, und das sei nöthig, um sogroße Schöpfungen in’s Leben zu rufen. – Oh, wenn ichmein Journal hätte! – Aber die Gerechtigkeit wird ihnereilen,« rief sie nach einem augenblicklichen Schwei-gen, »diesen Herrn Haußmann, er wird einen schönenStand im Corps legislatif haben, wenn es zur Debattekommt, daß er den Etat der Stadt Paris um 530 Millio-nen überschritten hat –«

»Eure Kaiserliche Hoheit wissen?« rief der Marquisvon Chasseloup-Laubat erschrocken.

»Ich weiß ein Wenig Alles,« sagte die Prinzessin mittriumphirendem Lächeln, »man hat seine guten Freun-de, und diesmal, das kann ich Sie versichern, bin ichsehr genau unterrichtet.«

»Ich biete mich Eurer Kaiserlichen Hoheit für dieBearbeitung der deutschen Angelegenheiten in IhremJournal an,« sagte Herr Meding, das Gespräch von dempeinlichen Punkte, den es berührt hatte, ablenkend.

»Ich danke, nein!« rief die Prinzessin, »Sie kann ichnicht gebrauchen, Sie sind recalcitrant – ich muß Ih-nen sagen, ich habe großen Respect vor diesem GrafenBismarck, der da weiß, was er will, man sollte ihn ru-hig gewähren lassen und keinen Streit mit ihm anfan-gen, denn daraus muß schließlich ein unglückseliger,furchtbarer Krieg mit all seinem entsetzlichen Elendentstehen, Sie würden mich in böse Conflicte mit derpreußischen Regierung bringen –«

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»Die Verhältnisse haben mich auf die Seite der Geg-ner des Grafen Bismarck gestellt,« erwiederte Herr Me-ding, »aber Eure Kaiserliche Hoheit können überzeugtsein, daß es nie größere Achtung vor einem politischenGegner geben kann, als ich sie vor diesem willensstar-ken, mächtigen Staatsmann empfinde.«

Ein hochgewachsener, schlanker Mann, dunkelblondmit intelligentem, blassem Gesicht, elegant in Manie-ren und Haltung, trat ein.

»Guten Abend, guten Abend,« rief die Prinzessin, mitleichtem Kopfnicken die tiefe Verbeugung erwiedernd,mit der Herr Henry de Pêne, der bekannte geistreicheSchriftsteller, sich ihr näherte, »gut, daß Sie kommen,Sie sind ein Mann vom Metier, Sie sollen mir rathen,wie ich es anfangen muß, um ein Journal zu gründen,damit ich endlich einmal der Welt zeigen kann, wieman frei und offen seine Meinung sagt!«

»Eure Kaiserliche Hoheit können das sehr leicht ha-ben,« erwiederte Herr de Pêne lachend, »kaufen Siedem armen Dusautoy seine ›Epoque‹ ab, die Last wirdihm zu groß, er möchte sich, wie ich höre, dieses Blat-tes entledigen, Eure Kaiserliche Hoheit finden da IhreSache ganz fertig –«

»Dusautoy, der Schneider des Kaisers!« rief die Prin-zessin mit hellem Lachen, »in seiner Hand kann frei-lich ein Journal nicht prosperiren, die erste Bedingungeines Organs der öffentlichen Meinung ist ja die Wahr-heit, die unverhüllte Wahrheit, Dusautoy aber, das ist

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stärker wie er, er muß ja diese arme Wahrheit, wennsie in ihrem mythologischen Costüm vor ihm erscheint,sofort in feine Fracks und Pantalons stecken!«

Alle lachten.»Kennen Eure Kaiserliche Hoheit das hübsche Qua-

train,« fragte Herr Meding, »das man gemacht hat, alsder Sultan sich bei Herrn Dufautoy, diesem vortreffli-chen Schneider mit der unglücklichen Idee, ein poli-tisches Journal zu besitzen, während seines Besuchesankleiden ließ?«

»Eh bien?« fragte die Prinzessin.Herr Meding recitirte:

»De Mahomet railiant la loiLe Sultan quitte sa défroque –Il s’habille chez Dusautoy:Il est vraiment de son époque!«

»Vortrefflich!« rief die Prinzessin lachend.»Der Padischah in die ›Epoque‹ gehüllt, das ist ein

herrliches Bild,« sagte Herr de Pêne.»Doch sagen Sie mir,« sagte die Prinzessin, »wie trö-

stet sich Paris über das Ende der Ausstellung, dieseewige Ressource der Pariser?«

»Man tröstet sich so gut man kann,« erwiederte Herrde Pêne, »man beginnt sich wieder für einige ersteVorstellungen zu interessiren, man spricht davon, daßHortense Schneider I. das Scepter der Großherzoginvon Gerolstein niederlegen will –«

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»In der That?« fragte die Prinzessin, »und wer wirdihre Nachfolgerin sein?«

»Mademoiselle Zulma Bouffar,« sagte Herr de Pêne,»welche viel Talent, eine schöne Stimme und jedenfallsmehr Jugend und Frische besitzt als feu la grande du-chesse, wie man Mademoiselle Schneider nennt.«

»Ich bin vor einigen Tagen nach dem Ausstel-lungsplatz gefahren,« sagte die Prinzessin nach ei-nem augenblicklichen Schweigen in nachdenklichemTon, »und ich muß Ihnen sagen, daß der Anblick die-ser allgemeinen Zerstörung und Auflösung einen tiefschmerzlichen Eindruck auf mich gemacht hat. Diesesso feenhaft arrangirte Marsfeld, das alle Wunder derKunst und Industrie, das die Elite aller Nationen inseinen Palästen und auf seinen frischen Rasenplätzenvereinigte, liegt nun wüst und unordentlich da, mansieht Nichts als Arbeiter, welche die Gegenstände derBewunderung der Welt einpacken, um sie nach allenRichtungen der Windrose wieder in die Welt zu versen-den, man hört das Hämmern der Packer, das klingt wiedie Schläge auf einen Sarg, in welchem man all dieseSchönheit, all diesen Reiz begräbt, und dazu kommtnoch dies traurige Novemberwetter, das den Himmelmit grauem Schleier bedeckt und die Erde mit schmut-zigem Schlamm überzieht. Oh, es ist kaum möglich,einen schärferen Gegensatz zu sehen zwischen demMarsfeld von diesem Sommer und dem Marsfeld von

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heute, kaum möglich, ein treffenderes Bild zu sehenvon der Vergänglichkeit Alles irdischen Reizes!«

»Ist es denn wahr, Prinzessin,« fragte Herr de Pêne,»daß auch der schöne Glaspalast vollständig wiederabgebrochen werden soll? Er ist doch ein wunderba-res Werk der Architektur, und es wäre wahrlich schade,ihn wieder zu vernichten. Die Ausstellungskommissionwünscht dringend, ihn zu erhalten, man könnte ihn zupermanenten Ausstellungen und zu verschiedenen öf-fentlichen Zwecken vortrefflich benützen.«

»Das Palais wird niedergerissen werden,« sagte diePrinzessin, »es soll nicht anders gehen, die Militairs be-haupten, daß sie den großen Übungsplatz des Marsfel-des nicht entbehren können.«

»Und ich glaube, sie haben Recht,« bemerkte derMarquis von Chasseloup-Laubat, »wir haben uns Mü-he gegeben, das Ausstellungsgebäude zu erhalten, aberwir haben uns doch überzeugen müssen, daß die Grün-de, welche das Kriegsministerium dem Kaiser ent-wickelte, durchschlagend seien. – Die französische Ar-mee und an ihrer Spitze das Elitecorps der Garde isteben die Grundlage, auf welcher der Glanz und dieGröße Frankreichs beruht, und das Marsfeld bietet al-lein der Garde die weite Fläche zu ihren Übungenund zugleich den historischen Boden, der doch für denGeist der Soldaten auch nicht gleichgültig ist.«

Die Prinzessin schwieg. »Wie mag es dem armenGrafen Goltz gehen?« fragte sie nach einer Pause.

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»Der Graf ist sehr leidend,« sagte der Marquis vonChasseloup-Laubat, »man glaubt, daß er unheilbarsei.«

»Es ist wirklich traurig,« rief die Prinzessin, »er warnoch wenige Tage vor seiner Erkrankung bei mir, ichliebte ihn nicht zu sehr – er hatte ein ewiges Lä-cheln, das mich agacirte, und zwei Tage darauf, alser Morgens seine Cigarre anzündete, er hatte die sehrschlechte Gewohnheit des Rauchens, fühlte er einenSchmerz in der Zunge und sein Arzt, der ihn unter-suchte, sagte ihm, es sei ein Krebsgeschwür. – Der ar-me Mann,« fuhr sie fort, »er liebte mich auch nicht sehr,das war natürlich – ich war ihm zu wenig diplomatisch,und dann – doch sein Schicksal thut mir herzlich leid! –Und denken Sie,« fuhr sie fort, »es ist eine Familienka-lamität, sein Vater war preußischer Gesandter zur ZeitNapoleon I. – und er starb ebenfalls am Zungenkrebs.«

Eine Pause trat in dem Gespräch ein. Der Marquisvon Chasseloup-Laubat erhob sich und verabschiedetesich mit seiner Gemahlin, welche mit keinem Wort ander Conversation theil genommen hatte, von der Prin-zessin.

Herr Henri de Pêne folgte bald dem Marquis und derMarquise.

Der Regierungsrath Meding, welcher sich inzwi-schen mit Frau von Reiset unterhalten hatte, nähertesich der Prinzessin, um sich zu verabschieden.

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»Ich bitte Sie,« sagte diese, »wenn Sie Ihrem Königeschreiben, ihm meine Complimente zu machen und ihnmeiner herzlichsten Theilnahme zu versichern.«

»Seine Majestät wird über die freundlichen Gesin-nungen Eurer Kaiserlichen Hoheit sehr erfreut sein,«sagte Herr Meding, indem er die dargebotene Hand derPrinzessin mit den Lippen berührte.

In diesem Augenblick trat schnell ein schlankerMann mit blassem Gesicht von südlichem Typus unddunkeln Augen ein. Sein dünnes Haar war sorgfältigfrisirt und gescheitelt, ein spitzgedrehter Schnurrbartbedeckte die Oberlippe.

Seine Haltung und der Ausdruck seiner Züge trugenden Stempel der Hast und Aufregung.

»Nun, Graf Vimercati, was bringen Sie Neues? – Siehaben etwas Wichtiges zu erzählen – ich sehe es Ihnenan!« rief die Prinzessin dem Vertrauten des Königs Vic-tor Emanuel zu, der in Paris weilte, um durch den Ein-fluß seiner persönlichen Verbindungen die Beziehun-gen zwischen den Höfen von Paris und Florenz innigerund vertrauter zu erhalten.

»Ich habe in der That Wichtiges und Neues zu er-zählen,« rief Graf Vimercati, indem seine Worte vonraschen Athemzügen unterbrochen wurden, »bei Men-tana vor Rom hat ein Zusammenstoß zwischen denFreischaaren Garibaldis und den französischen Trup-pen stattgefunden, fast die ganze Schaar Garibaldis ist

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niedergemacht durch das mörderische Feuer der Chas-sepotgewehre, die Aufregung ist furchtbar, ich habe so-eben einen Courier erhalten – ich weiß nicht, ob dieRegierung und die Gesandtschaft schon unterrichtetsind, wollte aber keinen Augenblick säumen, Eure Kai-serliche Hoheit au fait zu setzen.«

Die Prinzessin hatte sich aufgerichtet und standeinen Augenblick nachdenkend da. Zornige Bewegungarbeitete in ihren Zügen.

»Das ist die Folge der italienischen Politik, wel-che sich zwischen zwei unversöhnliche Gegensätze hatstellen wollen und die Feindschaft beider endlich da-vontragen wird. – Durch die Chassepotsalven von Men-tana ist Frankreich von Italien getrennt, und bitter wirdsich diese Trennung einst rächen. – Auch die Ideen,über welche ich mit Ihnen gesprochen,« fuhr sie zuHerrn Meding gewendet fort, »sind damit zu Unmög-lichkeiten geworden, denn nach diesem Ereigniß wirddie Zukunft unberechenbar.«

Sie ließ sich langsam wieder in ihren Fauteuil zu-rücksinken.

»Erlauben Eure Kaiserliche Hoheit, daß ich mich zu-rückziehe,« sagte Herr Meding, »es drängt mich, mei-nem Herrn von diesem wichtigen Ereigniß Kunde zugeben.«

Er küßte die Hand der Prinzessin, welche leicht denKopf neigte, und verließ den Salon.

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Die Prinzessin hatte Recht. Die Ideen, welche dieEntrevue von Salzburg veranlaßt hatten, welche beidem österreichischen Besuch in Paris hatten zur wei-teren Entwickelung kommen sollen, waren durch denZug Garibaldis und den Zusammenstoß bei Mentanabeseitigt. Italien zog sich tief verletzt von Frankreichzurück und wartete, bis eine günstige Gelegenheit ihmerlauben würde, die Hand auf seine nationale Haupt-stadt zu legen.

Österreich zog sich ebenfalls vorsichtig in sich selbstzurück und aus der Staatskanzlei am Ballhofsplatze zuWien gingen die feierlichsten Versicherungen herzli-chen Einvernehmens nach Berlin ab. Das kaiserlicheFrankreich stand isolirt in Europa da und hatte in die-ser Isolirtheit nicht den Trost des Wortes: »Der Starkeist am mächtigsten allein.«

Während so das Kaiserreich einsam dastand auf sei-nem leise und allmählich zerbröckelnden Fundament,während das berliner Cabinet in kalter und stolzer Ru-he unbeirrt seinen Weg verfolgte, verkündete die offi-cielle Presse triumphirend – und triumphirend wieder-holte die öffentliche Meinung in Frankreich:

Les chassepot sont fait merveillez.