Groys - The Bar-Gera · PDF fileBoris Groys Tod Stalins im Jahre 1 des sogenannten...

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Die nonkonformistische Kunst der fünfziger bis siebziger Jahre in Russlandl Die russisch-sowjetische Kunst der fünfziger, sechzi- ger und siebziger Jahre wurde vor allem durch den Prozess der der nach dem Boris Groys Tod Stalins im Jahre 1 des sogenannten nTauwetters,' offiziell eingeleitet worden war. Das Bild der sowjetischen ldeologie, wie es nach aussen hin dargeboten wurde, hat sich dabei freilich kaum verändert - es war nach wie vor die Rede vom Auf- bau des Kommunismus und vom Befreiungskampf gegen den imperialistischen Kapitalismus des We- stens. Doch die Stimmung im Land selbst hat sich deutlich verändert. Die offizielle ideologische Spra- che wurde praktisch von allen als leer, unglaubwür- dig und letztendlich irrelevant empfunden. Die Begei- sterung für die grosse Utopie des Kommunismus war definitiv passö. Der Glauhe an das Zukünftige wurde allerdings eine deutlich po- tergrund einer immer noch offiziell geltenden ldeolo- gie, die dem sowjetischen Menschen das Recht auf das Private absprach - auch wenn der poststalinisti- sche sowjetische Staat diesen Rückzug de facto stillschweigend akzeptierte und sogar förderte. So war die offizielle sowjetische Kulturpolitik der damali- gen Zeit zutiefst gespalten - wenn nicht sogar schi- zophren. Auf der Ebene der ldeologie wurde von den sowjetischen Menschen gefordert, kollektivistisch zu fühlen, politisch engagiert zu agieren und zukunfts- orientiert zu leben. De facto wurde aber jedes politi- sche Engagement, inklusive des Eintretens für das kommunistische ldeal, systematisch unterbunden. Der Staat setzte in seiner alltäglichen Praxis auf durchaus konservative Werte wie Stabilität, Sicher- heit und persönlichen Konsum - wenn auch im Rah- men des Möglichen und Erlaubten. lnfolge dieser Po- litik enistand übrigens jenes kleinbürgerliche Milieu, jene neue, konsumorientierte, postkommunistische gesellschaftliche Mitte, die den sowjetischen Staat in 11 ersetzt durch ein lnteresse am lndividuell- . Dieser denn er vollzog sich vor dem Hin-

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Die nonkonformistische Kunst der fünfzigerbis siebziger Jahre in Russlandl

Die russisch-sowjetische Kunst der fünfziger, sechzi-ger und siebziger Jahre wurde vor allem durch denProzess der der nach dem

Boris Groys Tod Stalins im Jahre 1 des sogenanntennTauwetters,' offiziell eingeleitet worden war. DasBild der sowjetischen ldeologie, wie es nach aussenhin dargeboten wurde, hat sich dabei freilich kaumverändert - es war nach wie vor die Rede vom Auf-bau des Kommunismus und vom Befreiungskampfgegen den imperialistischen Kapitalismus des We-stens. Doch die Stimmung im Land selbst hat sichdeutlich verändert. Die offizielle ideologische Spra-che wurde praktisch von allen als leer, unglaubwür-dig und letztendlich irrelevant empfunden. Die Begei-sterung für die grosse Utopie des Kommunismus wardefinitiv passö. Der Glauhe an das Zukünftige wurde

allerdings eine deutlich po-

tergrund einer immer noch offiziell geltenden ldeolo-gie, die dem sowjetischen Menschen das Recht aufdas Private absprach - auch wenn der poststalinisti-sche sowjetische Staat diesen Rückzug de factostillschweigend akzeptierte und sogar förderte. Sowar die offizielle sowjetische Kulturpolitik der damali-gen Zeit zutiefst gespalten - wenn nicht sogar schi-zophren. Auf der Ebene der ldeologie wurde von densowjetischen Menschen gefordert, kollektivistisch zufühlen, politisch engagiert zu agieren und zukunfts-orientiert zu leben. De facto wurde aber jedes politi-sche Engagement, inklusive des Eintretens für daskommunistische ldeal, systematisch unterbunden.Der Staat setzte in seiner alltäglichen Praxis aufdurchaus konservative Werte wie Stabilität, Sicher-heit und persönlichen Konsum - wenn auch im Rah-men des Möglichen und Erlaubten. lnfolge dieser Po-litik enistand übrigens jenes kleinbürgerliche Milieu,jene neue, konsumorientierte, postkommunistischegesellschaftliche Mitte, die den sowjetischen Staat in

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ersetzt durch ein lnteresse am lndividuell-. Dieser

denn er vollzog sich vor dem Hin-

den achtziger Jahren ohne spektakuläre revoltionäreAktionen und fast ohne Widerstand zu seinem defini-tiven Fall gebracht hat.Dieser Schizophrenie der poststalinistischen sowje-tischen ldeologie entsprach auch die nicht wenigerschizophrene geistige Verfassung des künstleri-schen Milieus der damaligen Zeit, ln diesem Milieuwurden nämlich die modernistischen, avantgardisti-schen Kunstformen mit durchaus konservativem so-ziopolitischem lnhalt gefüllt. Wenn die offizielle so-wjetische Kunst figurativ in der Form und - im Sinneder sowjetischen ldeologie - utopisch im Inhalt war,so war die inoffizielle Kunst modernistisch bis ab-strakt in der Form und konservativ, rückwärtsge-wandt im lnhalt. Die Kunstverfahren der Avantgarde,die sowohl im Russland der Revolutionszeit wie auchim Westen entwickelt wurden, um den Ausbruch insUtopische, Kollektive und Politische aus der Engedes bürgerlichen Lebens heraus zu feiern, wurdenin der poststalinistischen Zeit von den russischenKünstlern benutzt, um die Rückkehr zum bürgerlichenlndividualismus zu markieren. Daher ist es gefährlich,eine direkte Parallele zwischen der westlichen undder östlichen Kunstentwicklung zu ziehen, ohne diespezifischen soziopolitischen Kontexte zu berück-sichtigen, in denen diese Entwicklungen stattfanden.Das Verhältnis zwischen der westlichen und der öst-lichen Kunst ist in jenen Jahren insbesondere durchdie Missverständnisse geprägt, die durch die Situa-tion desSalten Krieges verursacht wurden. Auf bei-den Seiten wollten die Künstler oppositionell seinund gegen die herrschende ldeologie protestieren.lm Westen wollte die Kunst deswegen antikapitali-stisch sein - die ideologische Unterfütterung derdamals dominierenden künstlerischen Praktiken wur-de zumeist mittels einer mehr oder weniger soziali-stischen Rhetorik angefertigt. Vergleichbare Kunst-verfahren in Russland wurden dagegen im Nameneines radikalen lndividualismus praktiziert und warengegen jede Art von sozialistischer, kollektivistischer

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Vereinnahmung gerichtet. Deswegen mochten dicrussischen Künstler der damaligen Zeit die westüche

Sunstszene überhaupt nicht - wegen ihrer proüoziali-gischen Gesinnung schien ihnen diese Szene aufÖer Seite ihrer Unterdrücker situiert zu sein. Und un*gekehrt mochten die westlichen Repräsentanten #r§unstszene ihre östlichen Kollegen nicht, weil sie auf

fler Seite des bürgerlichen lndividualismus und letzt-endlich des Kapitalismus zu stehen schienen - il"oyiederum auf der Seite der Feinde der avanciert*nwestlichen Kun{. Kurzum: Der Kalte Krieg hat nichtnur die frrrei gesellschaftlichen Systeme gegeneinan-der in Stellung gebracht - auch die oppositione§nBewegungen innerhalb jedes der beiden Systenrehassten sich gegenseitig nach dem Motto: Der Fein$les Feindes meines Feindes ist aucfi #in Feind.Erst heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, kannman sehen, dass diese oppositionellen Bewegungenletztendlich doch das gleiche Ziel hatten - nämlichden Sieg einer allumfassenden Konsumgesellschaft,die alle ideologischen und kulturellen Differenzen ir-relevant machen würde. Erst jetzt, da der Endsiegdieser totalen Konsumgesellschaft schon hinter unsliegt, ist unsere Sicht der Dinge frei von den dama-ligen ideologischen Oppositionen geworden und er-laubt uns, auch die Kunstentwicklungen der damali-gen Zeit geschichtlich adäquat zu kontextualisieren.Dies bezieht sich auch auf die sogenannte nonkon-formistische oder inoffizielle russische Kunst, die in

dieser Ausstellung der Sammlung Bar-Gera präsen-tiert wird. Die Geschichte der Entstehung und Ent-wicklung dieser Kunst vom Tod Stalins bis zur Gor-batschowschen Perestroika ist inzwischen mehrmalsin grossen Zügen beschrieben worden, auch wenneine detaillierte kunsthistorische Darstellung dieserPeriode immer noch aussteht.2 Deswegen genügt eshier zu sagenr dass sich eine grosse Zahl russischerKünstler nach dem Tod Stalins und der darauffolgen-den relativen Liberalisierung des kulturellen Lebensim Lande von dem offiziell geltenden sozialistischen

Realismus abgewandt und versucht hat, an die Tradi-tionen der westlichen und russischen Moderne wie-der anzuknüpfen. Diese Künstler wurden von den so-wjetischen Behörden nicht mehr so rücksichtslosunterdrückt, wie es in der Stalinzeit üblich war. Dassicherte ihnen das physische Überleben und dieMöglichkeit einer kontinuierlichen künstlerischen Ar-beit. Allerdings wurden sie von den Museen, vomAusstellungsbetrieb, von Publikationen und vonMöglichkeiten, mit ihren Arbeiten offiziell in der brei-ten Öffentlichkeit zu wirken und ihren Lebensunter-halt zu verdienen, fast vollständig abgeschnitten.Als Ergebnis entstand in grossen Städten wie Mos-kau oder Leningrad eine inoffizielle künstlerischeSzene, die in einer Situation der Halblegalität und am

Rande der sowjetischen Normalität existierte. Ohneoffizielle Genehmigung und soziale Absicherung, diein der Sowjetunion der damaligen Zeit allein durchMitgliedschaft im Künstlerverband erreichbar waren,welche den Künstler allerdings zum Schaffen im

Sinne des sozialistischen Realismus verpflichtete,konnten die inoffiziellen Künstler ihren Beruf nicht öf-fentlich praktizieren. Aber sie konnten ihren Lebens-unterhalt im Bereich der angewandten Kunst, durcheinen anderen Beruf oder auch durch den Verkaufihrer Werke an wenige interessierte Privatsammlerverdienen. Sicherlich fühlten sich die nonkonformisti-schen Künstler wegen ihres unsicheren sozialen Sta-tus isoliert und bedroht. Doch ausser dem Gefühl derAngst vermittelte diese lsolation zugleich eine ge-wisse Euphorie. Der Kreis der inoffiziellen Künstlerfühlte sich nämlich ungeheuer privilegiert, weil er fürsich einen relativ unabhängigen Lebensstil in An-spruch nehmen konnte in einem Land, in dem dieerdrückende Mehrheit der Bevölkerung davon nichteinmal träumen konnte. Dafür wurden die Nonkonfor-misten von ihrer sozialen Umgebung nicht nur ängst-Iich gemieden, sondern auch insgeheim bewundert,beneidet und umworben. Einen inoffiziellen Künstlerals Freund zu haben, hielten viele in diesen Jahren in

Moskau und Leningrad für ein faszinierendes Aben-teuer - in der heutigen Sprache ausgedrückt, es warcool, ein inoffizieller Künstler zu sein. Auch die offizi-elle Künstlerszene beneidete die Nonkonformistenum ihre Freiheit - und vor allem diejenigen hatten da-mals offiziell Erfolg, die am geschicktesten die Zen-sur zu umgehen und Arbeiten auszustellen vermoch-ten, die an die Vorbilder aus der inoffiziellen Kunsterinnerten. Dem Kreis der Nonkonformisten gehörtenauch unabhängige Autoren, Dichter und Musiker an,die noch weniger als die Künstler die Möglichkeitenhatten, sich in der sowjetischen Wirklichkeit zu eta-blieren. ln vielen Künstlerateliers fanden regelmässigkleine Ausstellungen, Dichterlesungen und Konzertestatt, zu denen oft relativ viele Besucher erschienen.Die Atmosphäre war fröhlich und entspannt - unddie ständige Angst vor möglichen Repressionen ver-lieh dem Ganzen eine zusätzliche Faszination. Diesehöchst ambivalente Nachbarschaft von Ausgeschlos-senheit und Auserwähltheit bestimmte das Selbst-verständnis der inoffiziellen Künstler und diktierteihnen auch ihre künstlerische Strategie.Dabei verstanden die meisten inoffiziellen MoskauerKünstler der damaligen Zeit ihre Kunst als einehöhere Mission, als ein Mittel, wichtige Wahrheitenund Offenbarungen in die profane sowjetische Weltzu bringen, die sie umgab. lhre Kunst war vom glei-chen Pathos der unbedingten künstlerischen Wahr-heit inspiriert wie etwa die Kunst der französischenModerne der Vorkriegszeit oder die der amerikani-schen Neo-Avantgarde der frühen Nachkriegszeitvon Jackson Pollock und Mark Rothko bis BarnettNewman. Mit einer gewissen zeitlichen Verspätungim Vergleich zu ihren französischen oder amerikani-schen Kollegen fühlten sich auch die russischenNonkonformisten berufen, den radikalen Anspruchder frühen Moderne auf endgültige künstlerische Ein-sicht in einem Land zur Geltung zu bringen, in demdiese Moderne keine gesicherte soziale Position fürsich beanspruchen konnte. Allerdings hatten die

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Russen dabei viel schlechtere Karten. lhre fast voll-ständige lsolation vom internationalen Kunstgesche-hen erlaubte ihnen nicht, eine vergleichbar innovativeKunst zu schaffen, die ihrem subjektiven Anspruchauf genuine lndividualität auch eine "objektive" kunst-historische Glaubwürdigkeit verleihen konnte. Wennein Kunstwerk im internationalen Kontext nicht inno-vativ und originell aussieht, helfen nämlich auchkeine Beteuerungen, dass dieses Kunstwerk einemauthentischen inneren lmpuls entsprungen sei. DieEntdeckung, dass jede Kunst in unserer Zeit im inter-nationalen Vergleich nach kunsthistorisch akzeptier-ten Kriterien und vor dem Hintergrund einer kollekti-ven Kunsterfahrung beurteilt wird, war für viele derrussischen Nonkonformisten ziemlich schmerzhaft,da sie die radikal individualistische Rhetorik der Mo-derne meistens unkritisch übernahmen und ihr naivGlauben schenkten. Rückblickend muss man aber

tellen, dass die Lebenssituation der inoffiziellenKunst vor diesem Schock, das heisst in den fünfziger,sechziger und siebziger Jahren, schlicht und ein{achdem Paradies nahe war. Es existierte kein Kunst-markt, und auch eine offizielle Anerkennung warunmöglich. Deswegen waren die Beziehungen imKreis der inoffiziellen Künstler frei von Neid, Ehrgeizund Rivalität. Zugleich war das Leben billig und dasLebensminimum staatlich gesichert, was dem Künst-ler die Sorge um das tägliche Brot abnahm. Soschwebte die Szene in einer Art

Künstlers, der zurückgezogen am Rand von Moskaulebte und fast nie seine Wohnung verliess. Zugleichmalte er ununterbrochen die gleichen Motive: eineBlume, ein Gesicht, eine Landschaft. Die Bilder vonJakowlew erinnern wegen ihrer extremen Einfachheit,ihrer melancholischen Stimmung und der obsessivenWiederholung der gleichen Sujets an die späte Male-rei von Jawlensky und würden wahrscheinlich erstdann ihre Wirkung richtig entfalten, wenn sie in grös-serer Zahl präsentiert werden könnten. Der Künstlerhat aber seine Bilder immer wieder verschenkt oderfür sehr wenig Geld an alle diejenigen verkauft, diezu ihm in die Wohnung kamen und sein Werk moch-ten. So waren seine Bilder früher in vielen MoskauerWohnungen zu sehen - und sind nun in alle Him-melsrichtungen verstreut. Nicht weniger berühmt in

lener Zeil war Anatoli Swerew, der stets betrunkenund immer bestrebt war, den sprichwörtlichen so-wjetischen Normalmenschen auf jede erdenklicheWeise zu schockieren. Seine Bilder sehen hingegenviel konventioneller aus als etwa dielenigen des lei-sen und zurückhaltenden Jakowlew. Deswegenwurde Swerew trotz seines heftigen Lebensstilsauch vom offiziellen sowjetischen Kunstmilieu ge-schätzt, und seine Porträts zierten die Wände wennnicht der Stadtwohnungen, so doch der Datschasder zahlreichen sowjetischen Akademiker undApparatschiks. Beide, Jakowlew und Swerew, sindallerdings relativ untypische Figuren für die nonkon-formistische Szene, denn ihre Kunst ist spontan, ex-pressiv, obsessiv - und letztendlich publikumsorien-tiert. Die Helden der inoffiziellen Szene waren aberzumeist Künstler, die ihre eigenen, in der Regel ziem-lich esoterischen ästhetischen Lehren entwickeltenund von einem Kreis aus Eingeweihten und Vereh-rern umgeben waren.Zu diesen Künstlern gehörten unter anderen MichailSchwarzman, Wladimir Jankilewski, Julo Sooster,Wladimir Nemuchin, Wladimir Wejsberg, Dmitri Kras-nopewzew und Eduard Steinberg. Sie entwickelten

( - jenseits aller alltäglichen Sorgenund zugleich jenseits aller Hoffnungen auf einenmöglichen Erfolg, welche das Leben der sogenann-ten Kulturschaffenden üblicherweise nachhaltig ver-giften. Das Leben in dieser Zeit war ein melancholi-sches Fest. Und die Atmosphäre dieser festlichenMelancholie ist in den Werken der inof{iziellen Kunstüberall zu spüren.lnsbesondere sind die Bilder von Wladimir Jakowlewfür diese Zeit charakteristisch - eines fast blindenund auf fremde Menschen fast autistisch wirkenden

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ihre jeweils eigene künstlerische Methode ausge-hend von verschiedenen Strömungen der westlichenund der russischen Moderne und arbeiteten ihrLeben lang ziemlich systematisch an der Verfeine-rung und Vervollständigung dieser Methode. ln Er-

mangelung eines grösseren Publikums, breiter Aner-kennung oder professioneller Kritik verstanden dieseKünstler ihre eigene Arbeit in erster Linie als Mittelzur inneren Diszipllnierung und Selbstorganisation.Sie hatten also ein durchaus religiöses Verhältniszum eigenen Werk, dem ihr Leben vollständig unter-worfen war. Gerade deswegen waren sie imstande,jahrzehntelang jeden Tag systematisch zu arbeiten,ohne sich um die äussere Reaktion auf ihre Arbeit zukümmern. Unabhängig von den Ergebnissen dieserArbeit, die für einen äusseren Beobachter freilichsehr unterschiedlich ausfielen, demonstrieren dieseKünstler in Reinform eine religiöse Dimension derkünstlerischen Moderne, die so oft übersehen wird.Von Cözanne über den Kubismus bis hin zum ab-strakten Expressionismus, wie er von Pollock oderRothko repräsentiert wird, hat die moderne Kunstnämlich eine eigene, autonome Systematik ent-wickelt, die dem Künstler erlaubt, sich von seiner ge-sellschaftlichen Umgebung relativ unabhängig zu

fühlen. Diese Autonomie, diese Selbstbezüglichkeitder modernen Kunst wurde oft als Hindernis für einpolitisches Engagement des Künstlers kritisiert. Nunbekommt diese Autonomie aber ihre eigene politi-sche Relevanz - und bietet sogar eine Überlebens-chance -, wenn die Gesellschaft ihre Mitglieder mitder Forderung konfrontiert, sich mit ihren offizielldefinierten politischen Rollen vollkommen zu identifi-zieren.Eine gewisse Ausnahme im Milieu der inoffiziellenKunst bildete allerdings die sogenannte Lianosowo-Gruppe, zu der einige Künstler und Dichter gehörten,die sich weniger für die modernistische Kunsttradi-tion als vielmehr für das Alltagsleben der sowjeti-schen Menschen interessierten. Oskar Rabin, der

ebenfalls zu dieser Gruppe gehörte, hat sich auchdirekt politisch engagiert und im Jahr 1974 eineerste, an das breite Publikum gerichtete öffentlicheAusstellung der inoffiziellen Kunst organisiert. DieseAusstellung fand auf einem verlassenen StückBrachland in Moskau statt und wurde kurz nach Be-ginn von Bulldozern zerstört, die die entsprechendenStaatsorgane zu diesem Zweck ausgeschickt hatten.Die Szene wurde von einigen anwesenden Sympathi-santen und westlichen Journalisten mit Entsetzenbeobachtet, und so führte das Ganze zu einem ziem-lichen Eklat. Diese sogenannte Bulldozer-Ausstel-lung erwies sich also im Endeffekt als ein grosserErfolg: Seitdem erhielten die Nonkonformisten zu-nehmend Möglichkeiten, ihr Werk legal und öffentlichzu präsentieren. So kann man vermuten, dass die in-offizielle Kunst früher oder später in den offiziellenKulturbetrieb integriert worden wäre, auch wenn dieSowjetunion nicht untergegangen wäre. Allerdingshat sich Ende der sechziger Jahre eine Künstler-gruppe gebildet, die sich wahrscheinlich auch untergünstigsten Voraussetzungen nicht ins ideologischeSystem des Staates hätte integrieren lassen. DerGrund dafür liegt darin, dass diese Gruppe geradedas Sowjetische als solches zum Gegenstand ihreslnteresses gemacht hat.Dabei ging es allerdings nicht um so etwas wie eineprotestierende Dissidentenkunst. Bei allem gebüh-renden Respekt ging die Haltung der Dissidentenden meisten Nonkonformisten ohnehin ziemlich aufdie Nerven. Eine unreflektierte oppositionelle Hal-tung liess sich nämlich leicht in das Weltbild der offi-ziellen sowjetischen ldeologie einbringen, in der einPlatz für ihre Feinde durchaus vorgesehen war. DerTotalitarismus bedeutet ja weniger die Homogenitätder Gesellschaft als vielmehr ihre äusserste Spal-tung in Freund und Feind. Was eine totalitäre ldeolo-gie wirklich ausschliesst, ist ein neutraler, analyti-scher Blick von aussen, der auf sie gerichtet wäre.Man durfte für diese ldeologie sein und überleben

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oder dagegen sein und untergehen - aber eine neu-trale Haltung blieb einfach undenkbar, unvorstellbar,strukturell ausgeschlossen. Deswegen verspürteneinige lntellektuelle und Künstler, die sich der Machtder sowjetischen Ideologie entziehen wollten, einenzunehmenden Unwillen, die radikale Kluft, die dieseldeologie in die Gesellschaft schlug, durch die eige-ne oppositionelle Haltung noch einmal zu bestätigen.Vielmehr wollte man diese Kluft selbst in Frage stel-len - und auf den kulturellen Kontext der Sowjet-union als ganzen mit einem ihm fremden, neutralen,beschreibenden, analysierenden Blick schauen. Unddas bedeutete vor allem, die kulturellen Codes unddie visuelle Welt, die von der sowjetischen ldeologieerzeugt und vom Gros der Nonkonformisten auf derSuche nach einem dieser ldeologie alternativenWeltbild völlig ausgeblendet wurden, künstlerisch zuthematisieren. Paradoxerweise blieb gerade die offi-zielle sowjetische Kultur bis zu ihrer Entdeckunggegen Ende der sechziger Jahre für die meisten rus-sischen Künstler und lntellektuellen die grösste Un-bekannte, weil diese Kultur selbst nicht imstandewar, ihre eigenen Mechanismen zu analysieren - unddie Opposition eine solche Analyse nicht wollte, weilsie die sowjetische Kultur für etwas bloss Falsches,Niedriges und der Analyse Unwürdiges hielt.Der Versuch, nicht länger hinter die Fassade der offi-ziellen sowjetischen Kultur oder über sie hinaus zublicken und statt dessen die Augen für diese Kulturselbst zu öffnen, wurde erst vom Kreis der sogenann-ten Moskauer Konzeptualisten Ende der sechziger,Anfang der siebziger Jahre unternommen. DieserKreis, zu dem Künstler wie llya Kabakov, Erik Bulatov,Vitaly Komar und Alexander Melamid, DmitriPrigow oder lvan Chuikov - um nur wenige Namenzu nennen - sowie einige Schriftsteller und Theoreti-ker zählten, strebte kein direktes politisches Engage-ment an. Vielmehr versuchten sie, den spezifischenvisuellen und ideologischen Kontext der Sowjetkulturmöglichst neutral und objektiv zu beschreiben. Diese

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Beschreibungen wirkten allerdings extrem ironischund dekonstruierend - vor allem in ihrer sogenann-ten Soz-Art-Variante, die Komar und Melamid prakti-zierten - und wurden deswegen von seiten der so-wjetischen ldeologie als besonders antisowjetischempfunden, wenn sie auch im Milieu der inoffiziellenKunst meistens als zu politisiert verpönt waren.Sicherlich war die Kunstpraxis des Moskauer Kon-zeptualismus stark von den verschiedenen Strömun-gen der damaligen westlichen Kunst - von der PopArt bis hin zur amerikanischen Concept Art - beein-flusst, die sich auf unterschiedliche Weise mit dervisuellen Welt und den kulturellen Codes der kom-merziellen Massenkultur des Westens beschäftigten.Trotzdem bedeutete diese Praxis keineswegs eineeinfache Übertragung der im Westen entwickeltenkünstlerischen Verfahren auf das spezifische Materialder sowjetischen Kultur. Die Eigentümlichkeit des so-wjetischen Kontextes bestand nämlich darin, dassder Stellenwert der einzelnen Kunstwerke innerhalbdieses Kontextes vor allem durch ihre rein ideologi-sche Relevanz für den herrschenden politischen Dis-kurs definiert wurde.Alle Krrterien des Geschmacks, der sinnlichen At-traktivität oder der künstlerischen Oualität, die in deran der kommerziellen Werbung orientierten Massen-kultur des Westens so bedeutend sind, spielten inder sowjetischen Kultur eine mehr als untergeord-nete Rolle. Entscheidend für den Erfolg oder Miss-erfolg eines Kunstwerks war weniger seine visuelleGestaltung als vielmehr die Fähigkeit des Künstlers,das Kunstwerk auf die eine oder andere Weise ideo-logisch zu legitimieren. Der für die westliche Kunstso charakteristische Kampf gegen die konventionel-len Kriterien der Oualität, der die Dynamik der westli-chen Kunst der letzten Jahrzehnte weitgehend defi-niert hat, war also für einen sowjetischen Künstlernicht so relevant. Um so mehr war für den sowjeti-schen Künstler aber der Kontext der ideologischenAuslegung seiner Kunst bedeutsam, der fast aus-

schliesslich über das Schicksal seiner Arbeit ent-schied. Die Künstler des Moskauer Konzeptualismusversuchten, diesen herrschenden Kontext möglichstgenau zu definieren und ihn als einen unter vielen an-deren möglichen kulturellen Kontexten zu begreifen.Darin lag sicherlich ein subversives Potential ihrerWerke, denn die sowjetische ldeologie wurde da-durch ihres zentralen Anspruchs auf historische Ex-

klusivität beraubt. Und vor allem reflektierten dieseKünstler den Massencharakter der damaligen sowje-tischen Kultur. So hat Erik Bulatov in seinen Bilderndas Verhältnis zwischen dem malerischen Bild unddem ideologischen Plakat auf eine Weise analysiert,die vielen damals das komplizierte Verhältnis zwi-schen sowjetischen Varianten der Hoch- und derMassenkultur erst bewusst machte.Die Kommentarabhängigkeit der sowjetischen Kunstwurde aber vor allem im Werk von llya Kabakov kon-sequent reflektiert. Schon die frühesten ArbeitenKabakovs spielen mit der Banalität des sowjetischenAlltags. Seine frühen Zeichnungen sehen oft wie zu-fällige Kritzeleien eines zerstreuten Menschen aus -oder aber sie benutzen ironisch die Klischees des of-fiziellen sowjetischen Zeichenstils. Dieser Stil warKabakov besonders gut vertraut, weil er viele Jahrelang als erfolgreicher Kinderbuchillustrator arbeitete.Das Kinderbuch war in der Sowjetunion übrigenseine von wenigen Überlebensnischen für die Über-reste der russischen Avantgarde, weil es bis zu

einem gewissen Grad den Künstlern und Dichterneinen spielerischen, absurdistischen, respektlosenUmgang mit Text und Bild erlaubte. Kabakov hatdiese Respektlosigkeit und den Hang zum Absurdenaber auf die nernsthaften" Bilder und Texte übertra-gen, wobei er gleichermassen ironisch mit den offizi-ellen ideologischen und den inoffiziellen modernisti-schen Kunstverfahren und Diskursen spielte. Damithat Kabakov einen Universalismus des Absurden de-monstriert, für den keine ideologischen Grenzen gel-ten, denn auf den beiden Seiten dieser Grenzen

sieht es bei näherem Hinsehen gleich absurd aus.Somit wurde der Moskauer Konzeptualismus zu einerunerwarteten kulturellen lnnovation und zu einemAusnahmefall in den Zeiten des Kalten Krieges, alsalle sowohl im Osten wie auch im Westen glaubten,für oder gegen den Kommunismus sein zu müssen.Erst heute, nach seinem Untergang, sieht man denrussischen Kommunismus in der historischen Per-spektive als eine spezifische Kulturform, die ihrenspezifischen Platz in der Weltgeschichte einnimmt.Die Kunst, die in den Zeiten der Sowjetunion als Re-lativierung des ideologischen Kontextes und damitals Kritik an ihm funktionierte, erweist sich heute alsMittel zur Rettung und Überlieferung dieses spezifi-schen Kontextes im System des internationalen kul-turellen Gedächtnisses, das im modernen Museums-system verkörpert ist.

1 Der vorliegende Text ist die leicht überarbeitete Fassung einesAufsatzes, der im Katalog der Ausstellung Europaweit - Kunstder 60er Jahre (Städtische Galerie Karlsruhe, Staatliche GalerieMoritzburg, Halle/Saale, 2OO2/03, Ostfildern-Ruit 2002) bereitserschienen ist.2 Die beste Übersicht über die russrsche Kunst dieser Zeit bietetdie Zeitschrift A-Ia (Russisch/Englisch), deren sieben Nummernzwischen 1980 und 1985 in Paris erschienen sind. Darüberhinaus: Boris Groys, Zeitgenössische Kunst aus Moskau. Vonder Neo-Avantgarde zum PostStalinismus, München | 991 ;

ders. (Hg.), Fluchtpunkt Moskau. Werke der Sammlung Ludwigund Arbeiten für Aachen, Ostfildern 1994; Alla Rosenfeld,Norton T. Dodge (Hg.), From Gulag to Glasnost. NonconformistArt from the Soviet Union, New York 1995; Andrei Erofeev, Jean-Hubert Martin (Hg.), Kunsf im Verborgenen. NonkonformistenRussland 1 957-1 995, München/New York 1 995.

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