Gründung, Geschichte und Wirken des Seeheimer Kreises · Herausgegeben von Johannes Kahrs und...

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Herausgegeben von Johannes Kahrs und Sandra Viehbeck

Gründung, Geschichte und Wirken des Seeheimer Kreises

In der Mitte der Partei

ISBN 3-00-016396-4

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In der Mitte der ParteiGründung, Geschichte und Wirken des Seeheimer Kreises

Herausgegeben vonJohannes Kahrs und Sandra Viehbeck

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© 2005 Die SEEHEIMER e.V., Berlin, Alle Rechte vorbehaltenRedaktion: Michael FuchsGestaltung und Satz: Sascha BittnerHerstellung: printjob24.de, Berlin ISBN 3-00-016396-4

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort Grußwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder Grußwort von Bundestagspräsidentin a. D. Annemarie Renger „Freunde sauberer Verhältnisse“ - Wie Egon Franke und Karl Herold die Kanalarbeiter gründeten „Unkeler Gefunkel“ - Auf die Pflege ihrer Gemeinsamkeiten legten die Kanaler großen Wert „Solide Unterstützung“ - Erste Kontakte zu den Seeheimern – Die Kanalarbeiter lösen sich auf „Reale Reformer“ - Die Anfänge der Seeheimer: Metzger-Kreis, Linke Mitte, Fritz-Erler-Kreis, Vogel-Kreis und Lahnsteiner Kreis „Signalwirkung“ - Der Parteitag in Hannover 1973 und die Vorstandswahlen „Organisierte Gegenmacht“ - Der Seeheimer Kreis gründet sich in Lahnstein – „Godesberg und die Gegenwart“ „Neue Herausforderungen“ - Die Seeheimer in der Regierungsverantwortung „Ungewohntes Bild“ - Kernkraftfrage, „angegrünte“ Schichten und die Löwenthal-Thesen „Sicherheitspolitischer Sinneswandel“ - Die Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss „Streit der Ideologien“ - Die 80er Jahre – Gründung der Kurt-Schumacher-Gesellschaft, Kritik am SPD/SED-Papier „Befürworter der Einheit“ - Die Seeheimer und die Wiedervereinigung „Paukenschlag“ - Die Seeheimer in den 90ern – der Weg zur Regierungsfähigkeit „Staffettenwechsel“ - Die Seeheimer am Anfang des 21. Jahrhundert Die Veranstaltungen des Seeheimer Kreises Der SEEHEIM Mittagstisch Die SEEHEIM Tagungen Die SEEHEIM Spargelfahrt

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Vorwort

Mehr als 30 Jahre liegt die Gründung des Seeheimer Kreises nun zurück. Mehr als 30 bewegte Jahre, in denen die Seeheimer vieles erreicht und so manches möglich gemacht haben:

Da sind die großen Namen der Genossinnen und Genossen der ersten Stunde, von Annemarie Renger bis Hans-Jürgen Wischnewski. Da sind die wichtigen Entscheidungen, bei denen die Seeheimer immer deutlich Position bezogen haben, nicht selten gegen heftige Kritik von außen. Das Richtige zu tun für Deutschland und seine Bürger war stets ihr Ziel.

„Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft“, hat Wilhelm von Humboldt einmal gesagt. Die Geschichte der Seeheimer gibt uns ein Bei-spiel dafür. Die Reformen, die Deutschland gerade heute so dringend nötig hat – wir werden sie mit ebensolcher Kraft angehen, wie es die Seeheimer auch in der Vergangenheit getan haben. Unsere Vergangenheit ist uns ein gutes Vorbild, wie wir zielstrebig unsere Positionen vertreten wollen. Basie-rend auf unseren sozialdemokratischen Überzeugungen werden die Seeheimer ihren Beitrag leisten für ein erfolgreiches Deutschland im 21. Jahrhundert.

Petra Ernstberger Klaas Hübner Johannes Kahrs

VORWORT GRUSSWORT DES BUNDESKANZLERS

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Grußwort von Bundeskanzler Gerhard Schröder

Die Seeheimer – was verbindet sich nicht alles mit diesem Namen! Da gehen die Gedanken zunächst zurück zu Egon Franke und Annemarie Renger und den Kanalarbeitern aus der Bonner Rheinlust. Seit mehr als drei Jahrzehnten gehören die Seeheimer zu den festen Größen der Sozialdemokratie, ja der deutschen Politik insgesamt. An allen wichtigen Wegmarkierungen der SPD waren sie entscheidend beteiligt. Sitzungen der Bundestagsfraktion und Parteitage waren ohne ihre gewichtigen Wortmeldungen nicht denkbar. Ihren Stempel haben sie nicht nur den dort gefassten Beschlüssen aufgedrückt; sie haben damit bis heute auch maßgeblich Anteil an den großen Ent-scheidungen und Weichenstellungen für unser Land.

Gerne versammeln sich aktive und ehemalige Abgeordnete, Freunde und Mitstreiter zur traditionellen Spargelfahrt der Seeheimer. In vertrauter Runde trifft man sich alljährlich zu einer Schiffstour bei Spargel und Wein zum Gedankenaustausch in geselliger Runde.

Nachdem inzwischen fast ein halbes Jahrhundert seit dem ersten informellen Zusammentreffen der Kanalarbeiter vergangen ist, soll diese Chronik die See-heimer und ihre Weggefährten zum Blick zurück animieren und sie an so manches in Vergessenheit geratene Ereignis erinnern. Ich wünsche allen bei der Lektüre viel Vergnügen.

Gerhard Schröder Bundeskanzler

VORWORT GRUSSWORT DES BUNDESKANZLERS

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Grußwort von Bundestagspräsidentin a. D. Annemarie Renger

2005 jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum sechzigsten Mal. Es war Kurt Schumacher, der in den ersten Nachkriegsjahren die deutsche Sozialdemokratie formte und prägte wie kein anderer. Peter Merseburger nannte ihn in seiner Biographie einen „der Grossen des deutschen Neu-beginns“. In seinen letzten Lebenswochen hat Kurt Schumacher festgestellt, dass die Frage der deutschen Einheit für unser Volk ein zentrales Problem sei, gleich-zeitig aber auch große Bedeutung für die Erhaltung der Freiheit in der Welt habe. An Kurt Schumacher und sein Vermächtnis möchte ich an dieser Stelle erinnern, der allen sozialdemokratischen Politikern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Weg gewiesen hat. Kanalarbeiter und Seeheimer haben im Sinne Schumachers über lange Jahre hinweg dieses wichtige Ziel unserer Nation verfolgt und ihren Anteil zur Überwindung der deutschen Teilung beigetragen. Mit dieser Chronik des Seeheimer Kreises können wir einen Blick zurück werfen auf annähernd 50 Jahre Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, die wir als Kanalarbeiter und Seeheimer maßgeblich mitgestaltet haben.

Dr. h.c. Annemarie Renger Bundestagspräsidentin a.D.

GRUSSWORT ANNEMARIE RENGER FREUNDE SAUBERER VERHÄLTNISSE

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„Freunde sauberer Verhältnisse“Wie Egon Franke und Karl Herold die Kanalarbeiter gründeten

„Sie sind wahrhaftig ein Phänomen“, schrieb Der Spiegel 1977: „Einzigartig in der Bonner Politik-Landschaft; ein Verein mit gut 20jähriger Tradition, aber ohne genaues Gründungsdatum; ohne Satzung und gewählte Organe, aber doch mit geregeltem Klubleben und informeller Hierarchie; ohne feste Mitgliedschaften, doch mit ausgeprägtem Zusammengehörigkeitsgefühl: die ‚Kanalarbeiter’ der SPD-Bundestagsfraktion, weniger bekannt auch unter dem Namen ‚Freunde sauberer Verhältnisse’“. Das Selbstverständnis der Kanalarbeiter, die in diesem Artikel beschrieben wurden, drückte sich schon in der Überschrift aus: „Ohne uns läuft nichts“. Wie kam es zu dem „ausgeprägten Zusammengehörigkeitsgefühl“ der Kanalarbeiter? Wie so vieles, fing alles beim Bier an: Das Lokal „Rheinlust“ an der Bonner Adenauerallee war Mitte der 50er Jahre beliebt bei Abgeordneten aller Parteien, auch zahlreiche Mitglieder der SPD-Fraktion trafen sich hier. Es waren Egon Franke aus Hannover und der Kulmbacher Karl Herold, die hier eine Art SPD-Stammtisch gründeten. „Dienstag in der ,Rheinlust’“ lautete der Spruch, mit dem sich die Kanaler in der Fraktion verabredeten.

Die Kanalarbeiter-Runde beim gemütlichen Bier im „Kessenicher Hof “ (H. J. Darchinger)

GRUSSWORT ANNEMARIE RENGER FREUNDE SAUBERER VERHÄLTNISSE

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Zum festeren Zusammenschluss, und vor allem zur Namensgebung, kam es aber erst, als die „Rheinlust“-Runde 1957 gemeinsam protestierte – gegen die kleiner werdenden Portionen im Bundeshaus-Restaurant. Die Abgeordneten besorgten sich an einem Kiosk Würstchen und Brot und verspeisten diese

„üppige“ Mahlzeit unter großer Anteilnahme in der Parlamentskantine, von der man sich lediglich das Besteck geliehen hatte. Als Journalisten fragten, was es denn mit der Aktion auf sich habe, antwortete Karl Herold: „Wir sind die Gewerkschaft der Kanalarbeiter“ – ein Name war gefunden. Helmut Schmidt kommentierte die Namensgebung in seinem Buch „Weg-gefährten. Erinnerungen und Reflexionen“ aus dem Jahr 1996 so: „Mit dem selbstironischen Namen Kanalarbeiter wollten sie andeuten, daß sie zwar wenig zu sagen hatten, wohl aber in den Wahlkreisen und in den unteren Parteigliederungen die schwierige Arbeit der Überzeugung leisten mußten.“Vom Kantinen-Protest abgesehen, begann die politische Karriere der Kanaler etwas später – aus verhältnismäßig geringfügigem Anlass: Der dama-lige Bundestags-Vizepräsident und Fraktionsgeschäftsführer Karl Mommer genehmigte Auslandsreisen von Fraktionskollegen prinzipiell nur, nachdem er ihre Fremdsprachenkenntnisse geprüft hatte. Erschienen dem promo-vierten Sozialwissenschaftler die Sprachkenntnisse des Kandidaten zu dürftig, wurde der Reiseantrag abgelehnt; eine Praxis, die auf Initiative der Kanalarbeiter abgeschafft wurde. Egon Franke, der keiner Fremdsprache mächtig war, drückte es so aus: „Das fanden wir ungerecht, das haben wir geändert.“

Egon Franke prägte die Kanalarbeiter über Jahrzehnte hinweg. Während des Dritten Reiches war er wagen „Vorbereitung zum Hochverrat“ von den Nazis für zweieinhalb Jahre ins Zuchthaus gesperrt worden, die letzten bei-den Kriegsjahre erlebte er in der berüchtigten Strafeinheit 999. Seit 1929 in der SPD, gehörte Franke neben Annemarie Renger, einem weiteren promi-nenten Mitglied der Kanalarbeiter und später des Seeheimer Kreises, in seiner Heimatstadt Hannover zu einem der engsten Mitarbeiter Kurt Schumachers und war maßgeblich beteiligt am Wiederaufbau der SPD nach 1945.

Der ehemalige Tischlergeselle Franke, von der Presse gern „Canale Grande“ genannt, war unbestrittener Wortführer der Kanalarbeiter, obwohl er nie dazu

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gewählt wurde. Die „sozialdemokratische Institution“, wie Franke einmal von Hans-Jochen Vogel genannt wurde, begrüßte die Mitglieder des Kreises gern mit „Liebe Freunde“ statt mit „Liebe Genossen“, Solidarität war für ihn stets die wichtigste Eigenschaft eines Sozialdemokraten.

36 Jahre lang war Egon Franke Mitglied des Deutschen Bundestages, vom 17. Mai 1951 bis zu seinem Ausscheiden am Ende der Zehnten Wahlperiode im Jahr 1987. Sehr früh schon hatte er sich der Deutschlandpolitik, der Berlin-Hilfe und der Zonenrandförderung angenommen. Als Herbert Wehner im Dezember 1966 in der Großen Koalition das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen übernahm, folgte Franke ihm als Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Gesamtdeutsche und Berliner Fragen nach. 1969 wurde er dann Nachfolger Wehners als Bundesminister für inner-deutsche Beziehungen im Kabinett Brandt, dem er bis 1982 in dieser Funktion angehörte.

Welche Bedeutung Egon Franke für die SPD-Fraktion in Bonn hatte, schilderte Helmut Schmidt: „[Er] war das wichtigste Scharnier zu den vielen traditionellen Arbeiterfunktionären in der Fraktion, denen die Koali-tion mit der CDU/CSU – noch dazu einschließlich Franz Josef Strauß, den

Süddeutsche Zeitng vom 16. März 1973

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sie doch so vehement bekämpft hatten – zunächst ziemlich unheimlich vorkam. Wenn wir einen im Parlament zu beschließenden Akt in müh-seligen Kompromißverhandlungen mit der CDU/CSU-Fraktion unter ihrem Vorsitzenden Rainer Barzel zur Beschlußreife gebracht hatten, war es oft Frankes Aufgabe, seine Kanalarbeiter beim Bier von der Angemessenheit des Beschlusses zu überzeugen.“

Aber nicht nur die Kanalarbeiter wurden gelegentlich überzeugt, in so man-chem Fall brachten sie auch einen Bundeskanzler dazu, seine Meinung zu überdenken – zum Beispiel Willy Brandt. Annemarie Renger erinnert sich in ihrem Buch „Ein politisches Leben“ an ein Treffen der Kanaler mit ihm, bei dem sie Brandt überzeugen wollten, die Gespräche zur Großen Koalition 1966 fortzusetzen:

„Willy Brandt war ursprünglich gegen eine Große Koalition, die Mehrheit der Fraktion schien aber die Notwendigkeit einzu-sehen. Also mußte Willy Brandt überzeugt werden. In dieser Zeit pflegte Willy Brandt enge Kontakte zu den ‚Kanalarbeitern’, die in der Fraktion die Mehrheit bildeten. Der ‚Schatzmeister’ unseres Kreises, Karl Herold, der spätere Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, hatte in der Nähe seines Wahlkreises Kulmbach eine Anzahl Karpfenteiche. Er hatte nun die ganze‚ Kanalarbeiter-Riege’ zu einem großen Karpfen-Essen eingeladen zusammen mit den für die Entscheidung der Koalitionsfrage wichtigen Leuten. Es dauerte nicht lange, und Willy Brandt konnte von der Notwendigkeit der Koalition über-zeugt werden, denn bei einer Abstimmung wäre die Mehrheit in der SPD-Fraktion gesichert. Die Gespräche konnten also weitergehen.“

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„Unkeler Gefunkel“Auf die Pflege ihrer Gemeinsamkeiten legten die Kanaler großen Wert

„Berühmt-berüchtigt“ waren die Kanalarbeiter auch für ihre personalpo-litischen Absprachen. Nicht nur einmal haben sie die Wahlen zum Frak-tionsvorstand nach ihren Vorstellungen gestaltet – möglich war dies durch solide Mehrheiten: In der 3. Legislaturperiode von 1957 bis 1961 waren mehr als zwei Drittel der SPD-Fraktion Kanaler. Egon Franke: „Wer was werden will in der Fraktion, muß sich bei uns schon mal blicken lassen.“ Die Publi-zistin Sybille Krause-Burger beschrieb das 1979 in einem Artikel so: „Die Zu-sammengehörigkeit, die hier gepflegt und genossen wird, verwandelt Egon Franke, wenn es sein muß, im Handumdrehen in ein machtvolles politisches Instrument. Dann strömen die Kanalarbeiter in Massen in den großen Saal (des Kessenicher Hofs) nebenan. Dann mag ihnen sogar der Bundeskanzler die Ehre erweisen. Den Dank für die Herablassung holt er sich später bei der Abstimmung im Plenum ab.“

Bedeutendstes gesellschaftliches Kanaler-Ereignis eines jeden Jahres seit 1961 war die „Spargelfahrt“. Von der Bonner Gronau aus fuhr man mit der „MS Beethoven“ oder der „Filia Rheni“ stromaufwärts nach Unkel, um dort im Rheinhotel Schulz gemeinsam zu speisen und einen Wein namens

„Unkeler Gefunkel“ zu trinken. 1980 recherchierte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, dass die Mitgliederzahl des dortigen SPD-Ortsvereins nach der ersten Spargelfahrt sprunghaft von 67 auf 92 angestiegen war. Ab 1988 legte das Schiff allerdings nicht mehr in Unkel an, seitdem wurde der Bornheimer Spargel an Bord gegessen.

Die Ziele der Kanalarbeiter waren klar definiert: Unbedingte Loyalität zur Regierung und Treue zum Godesberger Programm, das für den Wan-del der Partei zu einer gemeinwohlorientierten sozialreformerischen Volks-partei stand. Entschieden traten sie gegen eine Re-Ideologisierung der Partei ein, verurteilten die Tendenzen zu einer elitären Entwicklung und eine theo-retische Überfrachtung. Die Kanaler wollten eine SPD, die auf Bundesebene

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koalitions- und mehrheitsfähig war und die sich nicht von linken Minderheiten beherrschen lässt.

Auf die Rolle von Egon Franke bei der Realisierung des Godesberger Programms 1959 ging Hartmut Soell in seiner Fritz-Erler Bio-graphie ein:

„Mit der Wahl des niedersächsischen Landes-ausschußvorsitzenden Egon Franke ins Par-teipräsidium wurde nicht nur, wie Erler schrieb, ‚ein bisher von der Parteiführung schwer zu erreichendes Gebiet etwas stärker herangezogen’ und jemand für die ‚Arbeit des

Präsidiums interessiert, der bisher der ganzen Einrichtung ablehnend gegenüberstand’. Franke war neben seiner Eigenschaft als ein im Bündnis der Bezirksvorsitzenden Mitbestimmender – dieses Bündnis hatte, weil es einen Großteil der eher ‚traditionalistischen’, theoretisch nicht so interessierten Gruppen zusammenband, bei der Durchsetzung des Godesberger Programms (1959) eine kaum zu unterschätzende Rolle gespielt – auch Sprecher der ‚Kanalarbeitergewerkschaft’, einer informellen aber bei personalpolitischen Entscheidungen einfluß-reichen Gruppe von SPD-‚Hinterbänklern’ jüngeren und mittleren Alters.“

Die Kanalarbeiter grenzten sich entschieden ab – nach beiden Seiten. „Wenn mich meine Jusos in Nordenham fragen, ob ich mich als demokratischer Sozialist verstehe, antworte ich denen immer: Ich bin Sozialdemokrat“, sagte der Kanaler Heinrich Müller („der lange Hein“). „Einem Sozial-demokraten zu sagen, du stehst rechts, ist eine intellektuelle Schweinerei“, ergänzte wiederum Egon Franke.

Egon Franke auf dem SPD-Parteitag in Hannover 1960 (H. J. Darchinger/AdsD)

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„Solide Unterstützung“Erste Kontakte zu den Seeheimern – Die Kanalarbeiter lösen sich auf

Im Dezember 1972 kam es erstmals zu Gesprächen zwischen den Kanal-arbeitern und den späteren Seeheimern. Hans-Jochen Vogel und Heinz Ruhnau versuchten die in der Bundestagsfraktion starke Gruppe der Kanal-arbeiter für eine koordinierte innerparteiliche Offensive gegen den wachsen-den Einfluss des Neomarxismus in der SPD zu gewinnen. Die zunächst eher zögerliche Haltung, auch aufgrund der Vorbehalte gegen eine organisierte Gruppenbildung, änderte sich nach der herben Niederlage bei den Vorstands-wahlen auf dem Parteitag 1973 in Hannover. Danach waren auch die letzten Vorbehalte gegen eine innerparteiliche Koordinierung der nicht-marxistischen Kräfte bei den Kanalern aufgehoben. Günther Metzger, einer die Initia-toren des Seeheimer Kreises, charakterisierte die Anfänge des gemeinsamen Aktionsfelds zwischen Kanalarbeitern und Seeheimern folgendermaßen:

„Nach der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler gab es in der Bundestagsfraktion eine Reihe jüngerer Abgeordneter, die den

Zwei „Kanalarbeiter“ – Annemarie Renger in Stockholm

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Versuch unternahmen, über die sogenannten Kanalarbeiter hinaus, die zweifellos die Mehrheit in der Bundestagsfraktion stellten, einen Kreis zu bilden, der in Solidarität und Zusammenarbeit mit den Kanalar-beitern die politische Diskussion, die politische Sacharbeit und die Schaffung einer geistigen Grundlage für die politische Arbeit fördern und ausbauen sollte. Den Kanalarbeitern war damals ja immer wie-der zum Vorwurf gemacht worden, daß sie in erster Linie einen Sauf-Club darstellten. Das war sicher nicht richtig. Ich habe sehr bald im Umgang mit den älteren Mitgliedern der Fraktion erfahren, daß es um eine sehr solide Unterstützung einer Politik auf der Grundlage des Godesberger Programms ging.[…]“

In den Jahren der Regierung Schmidt gelang es Kanalarbeitern und See-heimern gemeinsam in Regierung und Parlament konstruktiv zusammen-zuarbeiten. Erst mit dem Ende der SPD/FDP-Koalition 1982 lösten sich die Kanalarbeiter auf. Die verbliebenen Mitglieder schlossen sich dem See-heimer Kreis an. Was haben die Kanalarbeiter – gegen alle Anfeindungen, nur ein „Bier- und Skatverein“ zu sein – erreicht? Die treffendste Antwort auf diese Frage hat Annemarie Renger, die Grande Dame der Kanaler, einmal dem Journalisten Helmut Herles gegeben, überliefert ist sie in seinem Buch

„Machtverlust oder des Ende der Ära Brandt“:

„Mit dem Ende der Regierung Schmidt ist die über lange Jahre erfolg-reiche, selbstgesetzte Aufgabe der Kanalarbeiter, ein verläßlicher Part-ner sozialdemokratischer Regierungsverantwortung zu sein, entfallen. Der ‚Kanal’ ist stolz darauf, durch seine spezifische Haltung bedeut-same und – wie selbst die jetzigen Koalitionsvereinbarungen zeigen – jedenfalls einstweilen nicht umkehrbare Reformen von Staat und Ge-sellschaft ermöglicht zu haben. Er hat dazu in Kauf genommen, als eine Ja-Sager-Truppe ohne eigene intellektuelle ausgreifende Entwür-fe verzeichnet zu werden. Die Pflege offener, geselliger und freund-schaftlicher Beziehungen der Abgeordneten untereinander bleibt eine Aufgabe.“

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„Reale Reformer“Die Anfänge der Seeheimer: Metzger-Kreis, Linke Mitte, Fritz-Erler-Kreis,

Vogel-Kreis und Lahnsteiner Kreis

Für die Vertreter des „Godesberger Flügels“ innerhalb der SPD gab es in den 70er Jahren diverse Bezeichnungen, abhängig zum einen vom Betrachtungs-zeitraum, zum anderen davon, ob man von der Partei- bzw. Fraktionsebe-ne sprach. Zu den bekanntesten Bezeichnungen für die Vorläufer des See-heimer Kreises gehören „Metzger-Kreis“, „Linke Mitte“, „Fritz-Erler-Kreis“,

„Vogel-Kreis“ oder auch „Lahnsteiner Kreis“.Der Zusammenhalt der ersten Seeheimer gründete vor allem auf der Kon-frontation mit der 68er-Generation. Meist war eine persönliche Auseinander-setzung mit der Offensive der neomarxistischen Bewegung das Schlüssel-erlebnis für die Initiatoren des Seeheimer Kreises. So für Hans-Jochen Vogel in München, Günther Metzger in Hessen-Süd sowie Peter Corterier und Ernst Eichengrün als Führungsspitze der Jusos vor dem Linksrutsch 1969. Jürgen Maruhn und Ernst Eichengrün hatten bereits 1960 eigens den Studentischen Hochschulbund (SHB) gegründet um sich vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) abzusetzen, dass sich der SHB allerdings wenige Jahre später zunehmend radikalisierte, konnten sie nicht verhindern. Aus den Reihen der Studentenbewegung und der Jugendorganisationen kam oft der Vorwurf, die Seeheimer seien angepasst. Peter Corterier, einer der Mitbegründer des Seeheimer Kreises äußerte sich dazu bereits 1970:

„Der Vorwurf der Anpassung ist innerparteilich sehr populär, wie ja überhaupt das Phänomen des innerparteilichen Opportunismus nach links heutzutage weitgehend tabuiert ist und auch von der Öffentlich-keit unbeachtet bleibt. Hier wird mancher als erleuchteter Märtyrer gefeiert, der in Wirklichkeit nur klug taktiert.“

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Peter Corterier und Hans Jochen Vogel im Jahre 1969 (H. J. Darchinger/AdsD)

Der „Linksruck“ innerhalb der SPD vollzog sich in Anbetracht der Schwer-fälligkeit politischer Parteien relativ schnell: Die Juso-Linkswende 1969, der Steuerparteitag 1971 – der einige Vorschläge des Parteivorstands zu Guns-ten radikaler Anträge zurückgewiesen hatte – bis zum Hannoveraner Partei-tag 1973, auf dem die Parteilinke ein Drittel der Delegierten stellte. Bereits im September 1970 hatte der damalige Oberbürgermeister von München, Hans-Jochen Vogel, in einem Brief an Willy Brandt darauf hingewiesen, dass eine innerparteiliche Organisierung des „Godesberger Flügels“ notwendig sei:

„Meine Freunde und ich führen den Kampf [gegen die neomarxisti-schen Kräfte] mit aller Entschlossenheit. […] Solange sich die realen Reformer innerhalb der Partei nicht ebenso straff organisieren, leidet ihre Wirksamkeit ganz empfindlich, zumal sich die andere Seite rück-sichtsloser Methoden bedient.“

Noch vor der Bundestagswahl 1972 lud der damalige Wirtschafts- und Finanzminister Helmut Schmidt eine Reihe von Vertretern der „Godesberger Linie“ in sein Ferienhaus am Brahmsee ein, um über ein weiteres innerpartei-

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liches Vorgehen zu diskutieren. Hans-Jochen Vogel schilderte in seinem Buch „Nachsichten“ die Gründe für eine solche Zusammenkunft:

„Innerparteiliche Auseinandersetzungen über die Fragen, über die in München gestritten wurde, fanden zu jener Zeit – Willy Brandt war in dieser Hinsicht etwas zu optimistisch – auch an anderen Orten, so etwa in Frankfurt am Main, in Berlin und in Kiel, statt. Darüber hi-naus gab es die Sorge, die Partei könnte insgesamt hinter Godesberg zurückfallen und dadurch auch ihren Erfolg bei den nächsten Bun-destagswahlen mit der Konsequenz gefährden, daß sie wieder in die Opposition zurückkehren müßte. Ebenso wurden weitere Übertritte im Parlament und ein neuerliches und dann erfolgreiches Mißtrau-ensvotum nicht für ausgeschlossen gehalten. Zu den Besorgten ge-hörte auch Helmut Schmidt, damals Wirtschafts- und Finanzminis-ter und stellvertretender Parteivorsitzender. Er lud deshalb Hermann Schmidt-Vockenhausen, damals Vizepräsident des Bundestages, Adolf Schmidt, damals Vorsitzender der Bergbaugewerkschaft und Bundes-tagsabgeordneter, und mich zu einem Gespräch in sein Ferienhaus am Brahmsee ein. In dem Gespräch, das im August 1972 stattfand, wurde ausführlich darüber geredet, wie dieser Entwicklung begegnet werden könnte, ohne daß man zu konkreteren Ergebnissen gekommen wäre. Insbesondere blieb offen, ob für die, die in der Partei ähnlich dachten, eine gewisse Struktur angestrebt werden und was im Falle des Verlus-tes der Regierungsmacht in der Partei geschehen sollte.“

Zu diesem Zeitpunkt gab es auf der Ebene der Fraktion bereits eine „gewisse Struktur“ wie es Hans-Jochen Vogel nannte. Als nach den Bundestagswah-len 1969 eine Reihe junger Abgeordneter neu in den Deutschen Bundestag einzogen, hatten viele bereits Kampfabstimmungen und Befragungen zu ih-ren Positionen zur Notstandsgesetzgebung und der Großen Koalition hinter sich. Ihr Ziel war es, einen Gegenpol zum bereits auf der Ebene der Bundes-tagsfraktion agierenden linken „Frankfurter Kreis“ zu organisieren. Für die-sen sich formierenden Gesprächszirkel bürgerte sich bald der Name „Metzger-Kreis“ ein, benannt nach einem der Initiatoren, Günther Metzger.

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Diese informellen Treffen und „Faktionali-sierungstendenzen“ innerhalb der SPD stie-ßen auf heftige Kritik des Bundeskanzlers und Parteivorsitzenden Willy Brandt – die sich ge-gen jede Flügelbildung richtete. „Der Par-teivorsitzende möchte lieber anders als aus Zeitungsmeldungen erfahren, wenn auf einer Nachfolgeveranstaltung zur Parteiratssitzung über die Probleme der Regierungsbildung ge-sprochen werden soll“, sagte er in der Süddeut-schen Zeitung vom 12. Dezember 1972. Anlass für Brandts Verärgerung war u. a. ein Treffen des „Fritz-Erler-Kreises“ in der Bonner Gaststä-

tte „Kessenicher Hof“, zu dem rund 60 Personen kamen. Die Initia-toren waren Helmut Schmidt, Bundesverteidigungsminister Georg Leber, Bundesbauminister Hans-Jochen Vogel und der Hamburger Innen-senator Heinz Ruhnau. Man wollte, so die Teilnehmer, „die theoretische Diskussion in der SPD nicht mehr allein den Linken überlassen.“

Günther Metzger im Jahre 1972 (H. J. Darchinger/AdsD)

Süddeutsche Zeitung vm 12. Dezember 1972

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Nur zehn Tage später wird in einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erstmals auch von einem Arbeitskreis „Linke Mitte“ innerhalb der SPD-Bundestagsfraktion gesprochen, der nun parallel zu den Kanalarbeitern existierte. Tatsächlich handelte es sich praktisch um den „Metzger-Kreis“, der sich zum Ziel setzte, „unter Beachtung der Grundsätze der parlamentarischen Demokratie sehr pragmatisch ausgerichtete sozialdemokratische Politik zu betreiben.“

Mitglieder waren u. a. Günther Metzger, Horst Seefeld, Lothar Wrede, Ludwig Fellermaier, Rainer Offergeld, Alwin Brück, Alfons Pawelczyk, Peter Corterier, Manfred Wende, Peter Würtz und Roelf Heyen. Sie übten scharfe Kritik an den Fraktionskollegen des linken Flügels, die – so zitiert die Frankfurter Allgemeine Zeitung – „verstaubtes Gedankengut aus dem vergangenen Jahrhundert zum politischen Maßstab ihres Handels machen. Unter ihnen seien sogar einige, die das System der parlamentarischen Demo-kratie stürzen wollten. Der Arbeitskreis ‚linke Mitte’ will nicht zulassen, daß vornehmlich solche Parteimitglieder die Diskussion in der SPD bestimmen.“Die „Linke Mitte“ versammelte sich jeden Dienstag vor der Fraktionssitzung der SPD. Und auch heute noch treffen sich die Seeheimer in den Sitzungs-wochen jeden Dienstag gegen 13.30 Uhr zum Mittagstisch – eine Kontinui-tät über 30 Jahre hinweg.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. Dezember 1972

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„Signalwirkung“Der Parteitag in Hannover 1973 und die Vorstandswahlen

Der Parteitag in Hannover vom 10. bis zum 14. April 1973 überraschte viele Sozialdemokraten. Bereits im Vorfeld war abzusehen, dass es zwischen den Lagern innerhalb der Partei zu heftigen Auseinandersetzungen kom-men würde. Ein strittiges Thema war der so genannte „Radikalenerlaß“ bzw.

„Ministerpräsidentenbeschluß“, der Rechts- sowie Linksradikalen den Zu-gang zum öffentlichen Dienst verschließen sollte. Dieser Erlass wurde von den Linken als Berufsverbot angesehen und war für sie Sinnbild des polizei-staatlichen Charakters der Bundesrepublik. Entscheidender für einige bedeutende Köpfe der SPD – und der Kanalar-beiter – waren allerdings die Wahlen zum 34-köpfigen Parteivorstand, bei denen Annemarie Renger, Egon Franke, Käte Strobel und Carlo Schmid Niederlagen erlitten. Die damalige Bundestagspräsidentin Renger schilderte ihre persönlichen Eindrücke:

„Im Vorfeld des Parteitages hatten einige Genossen im Vorstand auf mich eingeredet, ich möchte doch von einer Kandidatur für den Vorstand absehen, denn meine Wahl sei nicht gesichert. Herbert Wehner und Holger Börner, letzterer damals Bundesgeschäftsführer, meinten, ich könnte doch als Bundestagspräsidentin an den Sitzungen teilnehmen. Ich dachte nicht daran ihrem Rat zu folgen. Ich wollte wissen, ob es der Parteitag fertigbekäme, die erste sozialdemokratische Präsidentin abzuwählen, und ich wollte das sagen, was nach meiner Meinung gesagt werden mußte. Wenn das so weiterginge mit den lin-ken Tönen, wären wir früher oder später nicht mehr regierungsfähig.“

Hans-Jochen Vogel schockierte vor allem das Scheitern Carlo Schmidts, einer der Symbolfiguren der deutschen Sozialdemokratie der Nachkriegszeit:

„Erstmals fand auf diesem Parteitag auch eine Personaldiskussion statt, bei der sich die Kandidaten für den Parteivorstand einzeln vor-stellen mußten. Carlo Schmid tat das mit den Worten: ‚Ich heiße

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Carlo Schmid, bin 77 Jahre alt, also nicht mehr jusofähig. Im übrigen eine Zeitlang im Bundestag und auch in der Partei tätig gewesen.’ Er fiel im ersten Wahlgang durch und zog seine Kandidatur zurück. ‚Das wird meine Liebe zur Partei nicht vermindern’, sagte er bei dieser Gelegenheit. ‚Ich werde mein Können und meine Kraft zur Verfügung stellen wie bisher.’ Der Parteitag antwortete darauf mit einer stehenden Ovation. Damals erschien mir das als ein Akt kollektiver Heuchelei. Heute sehe ich darin eher ein Beispiel für die befreiende Wirkung einer ebenso noblen wie souveränen Äußerung einer großen Persönlichkeit.“

Die „Linke Mitte“ konnte mit dem Ausgang der Wahlen trotzdem zufrieden sein, mit Hans-Jochen Vogel, Bruno Friedrich, Hermann Buschfort, Heinz Ruhnau und Hans Apel wurden einige der späteren führenden Köpfe des See-heimer Kreises neu in den Parteivorstand gewählt. Der Parteitag hatte indes Signalwirkung für die Kanalarbeiter, die sich einer innerparteilichen Zusammenarbeit mit dem „Metzger-Kreis“ nun nicht mehr verschlossen. Ziel war von nun an die Bündelung der gemäßigten Kräfte der Sozialdemokratie.

Heinz Ruhnau auf dem SPD-Parteitag in Hannover 1973 (H. J. Darchinger/AdsD)

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„Organisierte Gegenmacht“Der Seeheimer Kreis gründet sich in Lahnstein –

„Godesberg und die Gegenwart“

Zum ersten Mal trafen sich rund 40 der späteren Seeheimer im August 1973 im Dorint-Hotel im rheinland-pfälzischen Städtchen Lahnstein. Aber erst das größer angelegte Treffen im September 1974 an gleicher Stelle kann als das eigentliche Gründungstreffen des Seeheimer Kreises gelten. Dem Ort Lahnstein verdankte der Kreis die anfänglich noch gebräuchliche Bezeich-nung „Lahnsteiner Kreis“. Ab 1978 fanden die regelmäßigen Treffen dann aber im hessischen Ort Seeheim, einem Luftkurort an der Bergstraße, im dortigen Lufthansa-Schulungszentrum statt. „Das Gute war, dass abends keiner wegkonnte“, sagte Günther Metzger später einmal über die Wahl des Tagungsortes. Der Name „Seeheimer Kreis“ hat sich bis heute erhalten.

Angesichts der Entwicklungen auf Partei- und Fraktionsebene und des Ver-laufs des Parteitags, hielten es führende SPD-Politiker für notwendig, einen Gegenpol zu den Parteilinken auf Bundesebene zu schaffen. So schrieb Ernst Eichengrün im Frühjahr 1974 in seinem Papier „Was wird aus der SPD?“:

„Die radikalen Linken sprechen oft von der ‚organisierten Gegenmacht’, die gegen das ‚Kapital’ antreten muß. Sie selbst haben seit Jahren im Frankfurter, Leverkusener und anderen Kreisen und nicht zuletzt in der Juso-Organisation diese organisierte Gegenmacht gegen die bis-herige Politik der Partei aufgebaut. Auch wir müssen endlich einsehen, daß es ohne eine solche Gegenmacht nicht geht.“

Mit den ersten Treffen in Lahnstein wurde somit der Grundstein gelegt für eine über die Fraktionsebene hinaus agierende Organisation, die ihren klaren Bezugspunkt im Godesberger Programm von 1959 hatte und stets die Regierungsfähigkeit der Partei in den Mittelpunkt rückte.In einem Redemanuskript zum Jubiläumstreffen 1994 nannte Hans- Jochen Vogel einige Politiker und Politikwissenschaftler, die an der

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Das Schulungszentrum der Lufthansa in Seeheim-Jungheim

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Gründung und den ersten Schritten des Kreises maßgeblich beteiligt waren. Dies waren neben ihm selbst, Richard Löwenthal, Ludwig Rosenberg, Alexander und Gesine Schwan, Heinz Ruhnau, Herbert Ehrenberg, Annemarie Renger, Antje Huber, Hermann Buschfort, Jürgen Maruhn, Peter Streichan, Günther Metzger, Hans Apel, Klaus Riebschlä-ger und Ludwig Koch.

In „Nachsichten“ erläutert Hans-Jochen Vogel die Umstände, die zum ersten Treffen in Lahn-stein führten:

„Unter dem Eindruck der andauernden Auseinandersetzungen ka-men im August 1973 auch auf meine Einladung hin in Lahnstein rund vierzig Parteimitglieder zusammen, die sich als realistische Re-former verstanden und mit ihrem Treffen einen im Gespräch am Brahmsee geäußerten Gedanken aufgriffen. Aus dieser Begegnung gingen im weiteren Verlauf die so genannten Seeheimer hervor. Als wir in Lahnstein eintrafen, erwartete uns im Hotel ein in Gedicht-form abgefaßter Brief des Vorsitzenden der dortigen Jungsozialisten, in dem er uns riet, uns eher den guten Weinen der dortigen Lagen zu widmen und bald wieder nach Hause zu fahren. Der Name des Absenders lautete Rudolf Scharping.“

Auf diesen ersten Treffen in Lahnstein war beschlossen worden, die Grün-dung von regionalen Gesprächskreisen zu fördern und diese durch informel-le, organisatorische und argumentative Hilfe von Seiten der Bundesebene zu unterstützen. Man wollte so die Mehrheitsströmungen in den Parteiunter-gliederungen stärken und besser koordinieren. Mit dem Text „Godesberg und die Gegenwart“ erschien 1975 das erste theoretische Grundsatzpapier der Seeheimer. Es war vornehmlich dazu gedacht, Gleichgesinnten in den Parteigremien argumentativ gegen die

Herbert Ehrenberg auf dem SPD-Parteitag in Mannheim 1975 (H. J. Darchinger/AdsD)

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Linke bei Seite zu stehen und aus der theoretischen und ideologischen Defensive herauszukommen. Handlungsbedarf für den Seeheimer Kreis war zweifelsohne vorhanden. Die SPD hatte bei einer Reihe von Landtagswahlen in der ersten Jahreshälfte 1974 teilweise drastische Stimm-verluste zu verzeichnen – in Hamburg waren es sogar mehr als 10 Prozentpunkte. Eine Studie hatte ergeben, dass der größte Schwachpunkt der SPD ihre Uneinigkeit sei. Hans-Jochen Vogel forderte bei einer Aussprache im Parteivorstand daraufhin, sich nicht länger um die Integration der neomarxistischen Linken zu bemühen:

„Aber sind wir denn in erster Linie ein Sozialisationsgremium, um verrückt gewordene Großbürgersöhne […] Mann für Mann zu erzie-hen, oder sind wir eine politische Partei, für die die Erhaltung der Mehrheit und der politischen Macht zur Veränderung im Interesse der breiten Mehrheit des Volkes im Vordergrund steht. Ich entscheide mich da ganz klar dafür, daß Integrations- und Erziehungsversuche dann abgebrochen werden müssen, wenn es ans Mark dieser Partei geht.“

Die Linke forderte zu diesem Zeitpunkt von der SPD, sich von der Idee der Volkspartei zu ver-abschieden. Es galt daher für die Seeheimer das öffentliche Erscheinungsbild der SPD bis zum nächsten Bundesparteitag in Mannheim im No-vember 1975 zu korrigieren. „Godesberg und die Gegenwart“ war ein maßgeblicher Schritt auf diesem Weg. In der Schrift, die zu großen Teilen von den Politikwissenschaftlern Richard Löwenthal und Jürgen Maruhn verfasst wurde, wurden die

Antje Huber auf dem SPD-Parteitag in Mannheim 1975 (H. J. Darchinger/AdsD)

Hermann Buschfort, einer der Initiatoren von „Godesberg und die Gegenwart“ (Bildstelle Deutscher Bundestag)

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VorwortUnsere Partei befindet sich in einer schwierigen Phase ihrer Entwicklung. Äußerlich ist diese Phase durch die Wahlniederlagen des Jahres 1974 gekennzeichnet, die der SPD gegenüber den vorhergehenden Landtagswahlen Verluste von durchschnittlich fast 5 Stimm-prozenten und gegenüber der letzten Bundestagswahl einen Durchschnittsverlust von fast 7 Stimmprozenten brachten. Innerhalb der Partei ist eine starke Auffächerung der Meinungen zu verzeichnen. Gleichzeitig wachsen die Herausforderungen, denen sich die Bundesrepublik gegenübersieht. Auch sind Probleme neu in unseren Gesichtskreis getreten, von denen man im Jahre 1959 noch keine Vorstellung besaß.

In dieser Situation muß sich das Godesberger Programm in besonderem Maße bewähren. Einerseits muß es gegen Bestrebungen geschützt werden, die unsere theoretischen Grundlagen aufs Neue einengen und dogmatisieren wollen. Mit Recht hat Kurt Schumacher schon auf dem Parteitag 1948 festgestellt: „Eine einheitliche Parteitheorie wäre der Tod der Freiheit“. Andererseits müssen die Grundsätze des Programms immer wieder konkretisiert und auf die Gegenwart angewandt werden. Der Entwurf des Orientierungsrahmens ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Der vorliegende Text, der von den Unterzeichneten gemeinsam mit den Genossen Herbert Ehrenberg, Ernst Eichengrün, Michael Hereth, Richard Löwenthal, Jürgen Maruhn, Ludwig Rosenberg, Alexander Schwan, Theo Tilders und einer großen Anzahl weiterer Genossinnen und Genossen erarbeitet worden ist, will der Partei auf diesem Wege als Diskussionsbeitrag helfen. Er soll zugleich auch dazu dienen, den Entwurf der Orientie-rungsrahmens mitzutragen und gegebenenfalls in einzelnen Punkten noch zu ergänzen. Gerade deshalb sind Äußerungen, Anregungen und auch kritische Stellungnahmen zu dem Text sehr erwünscht.

Godesberg und die Gegenwart – das heißt nicht, einer angeblichen reinen Lehre zuliebe in die Opposition zurückkehren; das heißt vielmehr, die Sozialdemokratische Partei Deutsch-lands als Volkspartei reformfähig, mehrheitsfähig und regierungsfähig zu erhalten, in einer Zeit, in der unser Volk mehr denn je die starke Kraft zwischen den Extremen, die Kraft der Vernunft, die Kraft braucht, die den Werten der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität verpflichtet ist.

Hermann Buschfort Heinz Ruhnau Hans-Jochen Vogel

Das Vorwort der Programmschrift „Godesberg und die Gegenwart“, unterzeichnet von Hermann Buschfort, Heinz Ruhnau und Hans-Jochen Vogel

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grundsatzpolitischen Prämissen des Godesberger Programms verteidigt und die neomarxistischen Schlüsselbegriffe kritisiert. Außerdem widmete sich das Papier aktuellen Debatten über Umwelt und Wachstum, Humanisierung der Arbeitswelt und betriebliche Mitbestimmung. Dem Parteivorstand wurde „Godesberg und die Gegenwart“ als Beitrag zur Diskussion über den „Orientierungsrahmen ’85“ vorgelegt. Der Parteivor-sitzende Willy Brandt lobte den Text als nützlichen Beitrag für die Diskus-sion innerhalb der SPD. Erwartungsgemäß wurde von Seiten der Jusos, die

„Godesberg und die Gegenwart“ als eine Art „Abrechnung“ betrachteten, heftige Kritik an der Schrift laut.

Im Vorfeld des Mannheimer Parteitags im November 1975 zitierte Die Welt einen Sprecher des „Vogel-Kreises“ folgendermaßen: „Wir werden nicht lethargisch wie das Kaninchen auf die Schlange starren und zusehen, wie uns die Linken den Boden unter den Füßen wegziehen.“

Ein weiteres schlagkräftiges Instrument des Kreises – neben der Schrift „Godesberg und die Gegenwart“ – war der seit Dezember 1974 von Jürgen Maruhn veröffentlichte Informationsdienst. Mit diesem Rundbrief sollten Aktivitäten auf lokaler Ebene unterstützt werden. Der Informationsdienst

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. Februar 1975

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wurde regelmäßig an bis zu 1.000 Empfänger verschickt. Im Anschreiben an die Adressaten wird die Zielsetzung deutlich:Er diene der Bereitstellung von Informationen „zur innerparteilichen Situation und Grundsatzdiskussion. Angesichts der massiven Informations-politik und innerparteilichen Fraktionsbildung unter dem Stichwort ‚Linke’ ist es notwendig, daß sich die gemäßigte Parteimehrheit auf Bundesebene wenigstens um einen begrenzten Informationsaustausch bemüht.“Der Rundbrief war somit eine Art Informationsplattform. Bis nach der Wiedervereinigung war der Informationsdienst eines der wichtigsten Kommunikationsinstrumente des Seeheimer Kreises im gesamten Bundes-gebiet.Über den Informationsdienst und dessen Inhalte, sowie über die vermeint-lichen Abspaltungstendenzen einer eigenen „Vogelpartei“ in Süddeutsch-land berichtete auch die Frankfurter Rundschau im Mai 1975. Mit ironischem Unterton wurden in dem Artikel die Beobachtungen des CSU- Bayern-Kuriers kommentiert, der in München bereits eine eigene „Filiale“ des „Lahnsteiner Kreises“ ausgemacht und über die Vorbereitung einer eigenen Partei „zum höheren Ruhme Hans-Jochen Vogels“ gemutmaßt hatte.

Frankfurter Rundschau vom 20. Mai 1975

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„Neue Herausforderungen“Die Seeheimer in der Regierungsverantwortung

Am 16. Mai 1974 wurde nach dem Rücktritt Willy Brandts mit Helmut Schmidt ein ausgewiesener Vertreter des „Godesberger Flügels“ zum Bundeskanzler gewählt. Ebenso wie die Seeheimer, war auch der neue Kanzler für eine entschiedene Abgrenzung gegenüber den marxistischen Linken und für die Begrenzung ihres innerparteilichen Einflusses. Bereits vor dem Kanzlerwechsel war es wegen dieses Themas zwischen Willy Brandt und Helmut Schmidt immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten gekommen.

Neben den Bundesministern Hans-Jochen Vogel und Georg Leber, die bereits dem zweiten Kabinett Brandt angehört hatten, wurden im ersten Kabinett Schmidt drei weitere Seeheimer zu Bundesministern ernannt: Hans Apel (Finanzen), Kurt Gscheidle (Verkehr, Post- und Fernmeldewesen) und Karl Ravens (Raumordnung und Bauwesen). Mit Kanalarbeiter-Chef Egon Franke als Minister für innerdeutsche Beziehungen war ein weiterer Vertreter des Godesberger Flügels im Kabinett.

Noch bedeutender wurde die Rolle des Seeheimer Kreises im zweiten Kabinett von Helmut Schmidt, in dem noch mehr Bewahrer der Godesberger Positionen ein Ministeramt bekleideten: Hans-Jochen Vogel (Justiz), Hans Apel (Finanzen), Herbert Ehrenberg (Arbeit und Sozialordnung), Georg Leber (Verteidigung), Antje Huber (Jugend, Familie und Gesundheit), Kurt Gscheidle (Verkehr, Post- und Fernmeldewesen) und Karl Ravens (Raum-ordnung, Bauwesen und Städtebau). Ab 16. Februar 1978 übernahm der ebenfalls zu den Seeheimern gehöri-ge Dieter Haack das Amt für Raumordung, Bauwesen und Städtebau, zum gleichen Zeitpunkt wurde Rainer Offergeld Minister für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit als Nachfolger von Marie Schlei. Egon Franke von den Kanal-arbeitern war auch weiterhin Minister für innerdeutsche Beziehungen.

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Hans-Jochen Vogel erinnerte sich in seinem Buch „Nachsichten“ an das Jahr 1976:

„In dieser Zeit verfestigten sich die Kontakte derjenigen Sozial-demokraten und Sozialdemokratinnen, von deren erster Begegnung in Lahnstein im Frühjahr 1973 ich am Ende des vorigen Kapitels be-richtet habe. Sie – im Durchschnitt rund achtzig bis hundert Partei-mitglieder aus dem ganzen Bundesgebiet – tagten in gewissen Ab-ständen zunächst weiterhin in Lahnstein und später in Seeheim bei Darmstadt, wovon sich die Bezeichnung „Die Seeheimer“ herleitete. Wichtig waren ihnen die Bewahrung des Godesberger Programms, die Analyse neuer Herausforderungen und die Entwicklung program-matischer Antworten, die Beeinflussung personeller Entscheidungen im Sinne dieser Ziele und die Erhaltung der Regierungsfähigkeit der

Das Bundeskabinett 1976 mit einer großen Anzahl von Ministern die dem „Godesberger Flügel“ angehörten hintere Reihe von links nach rechts: Karl Ravens, Josef Ertl; mittlere Reihe: Hans Rohde, Antje Huber, Kurt Gscheidle, Marie Schlei, Werner Maihofer, Herbert Ehrenberg, Hans Fridrichs, Hans-Jochen Vogel vordere Reihe: Egon Franke, Georg Leber, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher, Hans Apel, Hans Matthöfer (H. J. Darchinger/AdsD)

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Partei. In gewissem Sinne waren die Seeheimer auch die Antwort auf entsprechende Kontaktkreise in der anderen Hälfte des innerpartei-lichen Spektrums wie etwa dem Frankfurter oder dem Leverkusener Kreis. Und auch eine Antwort auf die sogenannte Doppelstrategie, die glaubte, Mitarbeit in der Partei und Bekämpfung von Teilen ihrer Füh-rung und der eigenen Regierung miteinander verbinden zu können.“

Die Unterstützung der Regierung und des Kanzlers war eine der Hauptprämis-sen der Seeheimer. Die langjährige konstruktive Zusammenarbeit zwischen dem Kanzler und dem Seeheimer Kreis spiegelte sich auch in einem Briefwech-sel zwischen Helmut Schmidt und Günther Metzger wider. Der Darmstädter Oberbürgermeister (1981-1993) und ehemalige Bundestagsabgeordnete Gün-ther Metzger wies darin auf den Einsatz der Seeheimer im Sinne Schmidts im Vorfeld und auf dem Münchner Parteitag 1982 hin. Ebenso stellte er in sei-nem Schreiben heraus, dass für den Seeheimer Kreis die Glaubwürdigkeit der Partei, die Unterstützung der Regierungspolitik und die Solidarität zum Kanzler im Vordergrund ständen.

„Lieber Helmut,nach dem Bundesparteitag in Berlin hast Du mir in einem Brief am 17.12.1979 für meine Arbeit im Vorfeld gedankt und geschrieben, daß ich mich auch umgekehrt auf Dich verlassen könnte.Ich möchte gerne heute eine Bitte aussprechen, die von vielen Freun-den unterstützt wird, die mit mir die Arbeit in den letzten Jahren fort-gesetzt haben. Den Münchener Parteitag haben wir mit großer Sorg-falt und viel Engagement vorbereitet. Im Vordergrund standen und stehen die Glaubwürdigkeit unserer Partei, die Unterstützung Deiner Regierungspolitik und die Solidarität zu Dir. Dabei mußt Du wissen, daß Du viele treue und tüchtige Mitstreiter hast – in allen Bereichen unserer Partei -, die hinter Dir und Deiner Politik stehen. Ich glaube, wir haben auch für München wieder gute Arbeit geleistet. Das gilt vor allem für die Sachentscheidungen. […]“

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„Ungewohntes Bild“Kernkraftfrage, „angegrünte“ Schichten und die Löwenthal-Thesen

Mitte der 70er Jahre war aber nicht nur die Hochzeit der Seeheimer in der Regierung Schmidt, plötzlich standen ganz neue politische Themen auf der Tagesordnung. Vor dem Münchner Freundeskreis der Seeheimer erklär-te der Politologe Richard Löwenthal, die Zeit der Debatten über den Neo-marxismus in der SPD neige sich dem Ende zu, die neuen Diskussionsfel-der seien vielmehr die Fragen zur Kernenergie, den Wachstumsgrenzen, der Umweltgefährdung und der Lebensqualität. Weite Teile der Gesellschaft hat-ten in den 70er Jahren die Inhalte dieser neuen Bewegungen aufgenommen, viele organisierten sich zudem in den allerorts entstehenden Friedens- und Antikernkraftinitiativen. Innerhalb der SPD lösten diese neuen sozialen Bewegungen zahlreiche Diskussionen aus.Annemarie Renger schildert in ihrem Buch „Ein politisches Leben“ die ge-wandelte Stimmungslage in Deutschland wie auch in der SPD am Ende der 70er Jahre:

„Die Partei wurde evangelischer; junge Pfarrer traten in die SPD ein und hielten Friedenspredigten – ‚Frieden schaffen ohne Waffen’, war ein vereinfachender, griffiger Slogan. Man erhob den Schutz der Um-welt zu einem absoluten Wert bis zur Verneinung der Industriege-sellschaft. Der profilierteste Vertreter dieser Richtung war Erhard Eppler, der mir immer wie ein ‚Hoherpriester’, ausgestattet mit einem starken Sendungsbewußtsein, vorkam. Oft hatte ich das Gefühl, er klage von jedermann Buße und Unrechtsbewußtsein ein: als Ausbeu-ter der Dritten Welt, als Umweltsünder, als gnadenloser Konsument aller Ressourcen, von den technischen Errungenschaften bis zur Kern-energie. Umweltschutz und Sicherung der Arbeitsplätze schienen in einen unüberwindbaren Widerspruch zu geraten. Die Umwelt bekam völlige Priorität vor der Arbeitsplatzsicherung, was neue Probleme mit den Gewerkschaften brachte.“

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Der Seeheimer Kreis plädierte in diesem Zusammenhang für ein „Huma-nes Wirtschaftswachstum“, die Vereinbarkeit von Ökonomie und Ökologie. Dabei wurde auch weiterhin der technologische Fortschritt und die Deckung des steigenden Energiebedarfs für notwendig erachtet. Großen Anklang fand das Referat „Wege in die Zukunft – welche Bewußtseinsänderung ist heute nötig?“ des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker, das dieser auf Einladung von Hans-Jochen Vogel im November 1978 vor dem Seeheimer Kreis gehalten hatte. Vogel hatte bereits früh – und parallel zu Erhard Eppler – Begriffe wie „Lebensqualität“ und „qualitatives Wachstum“ in die Debatte gebracht. Weizsäckers Vortrag gab neue Impulse. Der damalige Direktor des „Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaft-lich-technischen Welt“ in Starnberg sprach sich für eine Krisenvermeidung der kleinen Schritte aus. Auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen versuchte er, die beherrschenden Krisenszenarien der Zeit zu rationalisieren. Seiner Meinung nach brachten weder eine Abwendung von der Markt-wirtschaft, noch vom wirtschaftlichen Wachstum oder anderen tragenden Faktoren der westlichen Industriegesellschaft einen erkennbaren Vorteil für die Lösung ökologischer Probleme.

„Menschliches Wachstum, Energiekrise und sozialdemokratische Politik“ war dann auch das Thema der Tagung des Seeheimer Kreises im Juni 1979 im Lufthansa-Bildungszentrum Seeheim. Herbert Ehrenberg betonte in seinem Referat „Pflicht des Sozialstaats: Vorsorge für humanes Wachstum“, dass der

„Kampf für eine humane Entfaltung der menschlichen Produktivkräfte“ im-mer elementarer Bestandteil sozialdemokratischer Tradition gewesen sei. Ne-ben den weltpolitischen Themen wie der Stationierung der SS-20-Raketen durch die Sowjetunion und deren Einmarsch in Afghanistan war auch das Thema Kernenergie einer der zentralen Punkte des Berliner Parteitags im De-zember 1979. In beiden Punkten gelang es Helmut Schmidt, für seine Li-nie Mehrheiten auf dem Parteitag zu erlangen. Man stimmte der westlichen Nachrüstung zu, um das atomare Gleichgewicht zu erhalten – und kündig-te gleichzeitig konkrete Vereinbarungen über eine Begrenzung der Rüstung an. Auch das Regierungskonzept zur Kernenergie wurde angenommen.

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Hans-Jochen Vogel erinnert sich in seinem Buch „Nachsichten“ an die Be-gebenheiten und zieht eine kurze Parteitagsbilanz für die Seeheimer:

„Noch in einem zweiten Punkt behielt Helmut Schmidt auf diesem Parteitag die Oberhand, und das war die Kernkraftfrage. Hier beschloß eine Mehrheit, die etwa sechzig Prozent der Delegierten umfaßte, an der vom Hamburger Parteitag getroffenen Entscheidung festzuhalten. Dieser wollte die Option für die Kernenergie offenhalten und die Option, künftig auf Kernenergie verzichten zu können, öffnen. […] Während der Debatte entzündeten die Delegierten, die seiner Meinung waren, und viele Zuhörer Kerzen, um so ihrer Ableh-nung der Kernenergie Ausdruck zu geben. Das ergab in dem raum-schiffähnlichen Sitzungssaal des ICC ein ganz ungewohntes Bild, das in seiner Widersprüchlichkeit einiges von der Spannung des Themas widerspiegelte. […] Der Berliner Parteitag brachte den Seeheimern, die sich diesmal gut vorbereitet hatten, bei den Wahlen eine leichte Stärkung. Ich selber erreichte bei den Vorstandswahlen erstmals ein Ergebnis, aus dem zu entnehmen war, daß mir die Delegierten quer zu den diversen Richtungen Vertrauen entgegenbrachten.“

Die Positionen zur Industrie- und Ökologiepolitik der Gewerkschaften und des Seeheimer Kreises deckten sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre weitgehend. Das Einhergehen von Wirtschaftswachstum und friedlicher Nutzung von Kernenergie stand für die Seeheimer immer im Mittelpunkt ihres Handelns. Dieser Standpunkt wurde allerdings nicht in der ganzen Partei vertreten, innerparteilich verliefen die Konfliktlinien quer durch die Mitgliedschaft. Diskussionen über alte und potentielle neue Wählerschaften entbrannten. Willy Brandt bekannte sich anlässlich einer Gedenkfeier zu Ehren von Willi Eichler am 21. Oktober 1981 zu einer „neuen“ SPD, die breite ge-sellschaftliche Strömungen, insbesondere die Jugend, repräsentiere. Die

„angegrünten Schichten“ würden nichts anstreben, „was dem demokratischen Sozialismus fremd sein müßte“. Eine Gruppe um Annemarie Renger, damals Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags, und Richard Löwenthal, damals

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stellvertretender Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission, entwickel-ten darauſhin ein Papier zur „Identität und Zukunft der SPD“. Die Situation stellte sich für sie folgendermaßen dar:

„Die Abwanderung von Anhängern und Wählern gleichzeitig in zwei Richtungen: Auf der einen Seite zeigte sich ein deutlicher Verlust von Jungwählern, eine mangelnde Anziehung auf neue Jugendschichten und eine Abwanderung von primär ökologisch interessierten Gruppen zu ‚grünen’ und ‚alternativen’ Listen oder zur Wahlenthaltung. Auf der anderen Seite verlor die SPD einen Teil ihrer sog. ‚Stammwähler’, besonders, aber keineswegs ausschließlich, unter den Facharbeitern und in den Großstädten, nach deren Meinung die Partei sich zu sehr der unruhigen Jugend anpasse und zu wenig um die Verteidigung des Rechtsstaates und die Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähig-keit kümmere, die deshalb zur CDU abwanderten oder ebenfalls bei der Wahl zu Hause blieben.“

Johannes Rau, Erhard Eppler und Hans-Jochen Vogel auf dem SPD-Parteitag in Berlin 1979 (Landesarchiv Berlin-Fotostelle/AdsD)

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Das Papier war als Aufforderung an die Partei und deren Führung gedacht, sich intensiver mit diesem Thema zu befassen. Annemarie Renger erinnert sich in ihrer Biographie „Ein politisches Leben“ an die Umstände, die zur Erarbeitung der Thesen geführt hatten, sowie an die am Entwurf des

„Löwenthal-Papiers“ beteiligten Personen:

„Der Umweltschutz wurde zu einer Art Ersatzideologie. Meine Freunde und ich waren der Meinung, daß die einseitige Ausrichtung der Politik auf den Schutz der Umwelt, in Verbindung mit den Friedens- und sozialen Fragen, auch dazu dienen sollte, die Gesellschaft eklatant zu verändern. Merkzeichen dafür war die negative Beurteilung der Industriegesellschaft, die völlige Regulierung der Pro-duktion nach der Umweltverträglichkeit, wobei die Definition völlig unklar war. Man tendierte dazu, Entscheidungen nach unten, basis-demokratisch zu verlagern. Den ‚Aussteigern’ aus dieser Gesellschaft begegnete man mit mehr Verständnis als den Arbeitnehmern, die sich um ihren Arbeitsplatz sorgten. In dieser für den Industriestandort Deutschland gefährlichen Ent-wicklung, die ein rapides Anwachsen der Arbeitslosigkeit bedeutet hätte, mußte gegengesteuert werden. An mehreren Wochenenden haben sich einige Freunde zusammengesetzt und in Teamarbeit – unter Leitung von Richard Löwenthal – ein richtungsweisendes Papier ausgearbeitet. Zu unserm Kreis gehörten: Hermann Rappe, Vorsitzender der IG Chemie, Dieter Haack, Wohnungsbauminister, Egon Franke, Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen, Lothar Wrede, Parlamentarischer Staatssekretär ebenda, Herbert Ehrenberg, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Stephan Thomas, Programmdirektor des Deutschlandfunks und Annemarie Renger.“

Eine heftige Kritik Willy Brandts war die Folge der Veröffentlichung der sechs Thesen. Der Parteivorsitzende verwehrte sich dagegen, sich nach 50 Jahren Zugehörigkeit zur Arbeiterbewegung, vom „Metaller“ Löwenthal, vom Hamburger „Hafenarbeiter“ Weichmann und von der „Textilarbeiterin“ Renger belehren zu lassen, was der deutsche Arbeiter denke.

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Für die Initiatoren der Thesen stellte sich die Kritik als unverhältnismäßig dar, da abweichende Meinungen, die aus dem linken Lager kamen, oft mit allzu großem Verständnis aufgenommen wurden. Helmut Schmidt schreibt in sei-nem Buch „Weggefährten“ darüber:

„1981 hat er [Richard Löwenthal] sechs Thesen zur Politik der SPD in Umlauf gesetzt. Brandt reagierte allergisch und mahnte seinen alten Freund Löwenthal zur Parteidisziplin; gleichzeitig ließ er aber andere prominente Sozialdemokraten, die laufend öffentlich meine Regierung kritisierten und dabei die Beschlüsse des Parteitages und des Parteivorstandes, dem sie selbst angehörten, immer wieder verletzten, völlig frei agieren. Das brachte mich in Harnisch. Ich sprang Rix bei, der mit Recht besorgt war über den Rückzug der SPD aus der Mitte des Wählerspektrums. Ich konnte mich dabei auf viele Gespräche mit Arbeitnehmern und Gewerkschaftsfunktionären stützen, die in zu-nehmenden Maße durch die linken Spielereien verunsichert wurden.“

Richard Löwenthal im Gespräch mit Willy Brandt anlässlich der Sitzung der Historischen Kommission der SPD in Bonn 1981 (H. J. Darchinger/AdsD)

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„Sicherheitspolitischer Sinneswandel“Die Kontroverse um den NATO-Doppelbeschluss

Neben den Fragen zur Kernenergie war das Thema der Zeit natürlich der viel diskutierte NATO-Doppelbeschluss. Die Initiative zu diesem Beschluss, der am 12. Dezember 1979 im NATO-Rat verabschiedet wurde, ging vor allem vom deutschen Kanzler aus. Helmut Schmidt bilanzierte auf der 34. Jahres-tagung der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg im November 1988:

„So wurde ich zu einem der vier Urheber des berühmten Doppel-beschlusses – mancher würde von dem berüchtigten Doppelbe-schluß sprechen –, der schließlich 8 Jahre später zum Mittelstrecken-abkommen und zur doppelten Null-Lösung führte. Die doppelte Null-Lösung war das Ziel gewesen, das wir als optimales Ergebnis dieser Maßnahme bereits 1979 festgelegt hatten. 1987 war ich mit dem Ergebnis dieser Bemühungen durchaus zufrieden, obwohl es sehr dazu beigetragen hatte, dass ich schon 1982 mein Amt verlor.“

Auf dem Berliner Parteitag im Dezember 1979 nahmen – wie bereits erwähnt – die Diskussionen über den NATO-Doppelbeschluss neben den Fragen zur Kernenergie einen wesentlichen Raum ein. Helmut Schmidt beharrte darauf, dass es zu keiner zeitlichen Verschiebung oder gar einer einseitigen Festlegung auf Verhandlungen ohne den Nachrüstungsteil des Beschlusses kommen sollte. Trotz der klaren Position des Kanzlers war es im Vorfeld des Parteitags noch unklar, ob der Leitantrag des Parteivorstands ausreichende Zustimmung finden würde. Im Kreise der Seeheimer wurde der bevorstehende Parteitag intensiv vorbereitet, um die erforderlichen Mehr-heiten zu sichern. Der damalige Verteidigungsminister und Seeheimer Hans Apel beschreibt in seinen Erinnerungen an die Jahre 1978 bis 1988 die beiden Seeheimer-Tagungen im Juni und November 1979 folgendermaßen:

„In zwei zweitägigen Zusammenkünften in Seeheim, im Schulungs-zentrum der Lufthansa, haben wir die kritischen Themen, vor allem die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Nato-Doppel-

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beschluß, aufgearbeitet und uns für die inhalt-liche Debatte auf dem Parteitag vorbereitet. Allein die Probleme des Nato-Doppelbe-schlusses haben uns mehr als fünf Stunden beschäftigt.“

In Berlin stimmten schließlich 90% der Delegierten für den Leitantrag des Parteivor-stands – eine letzte große Mehrheit für den Doppelbeschluss. Innerhalb der Partei wurde die Front dagegen immer deutlicher und viele Mitglieder der SPD schlossen sich der Friedens-bewegung an oder gründeten eigene Initia-tiven. Im Dezember 1980 wurde zunächst der „Bielefelder Appell“ von einigen SPD-Linken initiiert. Diesem Appell folgten noch eine Vielzahl ähnlicher Aufrufe, Beschlüsse und Resolutionen quer durch die SPD, stets mit dem Ziel, eine Aufhebung des NATO-Doppelbeschlusses zu erreichen. Diesen Anti-Doppelbeschluss-Initiativen setzte im Juli 1981 der Seeheimer Horst Niggemeier den Dattelner Friedensaufruf „Für Entspannung, Ab-rüstung und Frieden in Freiheit“ entgegen. Dies war ein klares Bekenntnis zum NATO-Bündnis und dem Doppelbeschluss und prangerte die stetig fortschreitende Aufrüstung der Sowjetunion als Bedrohung Westeuropas an.

Auf dem Münchener Parteitag im April 1982 konnte man sich nach heftigen Debatten in einem dritten Abstimmungsanlauf auf ein Moratorium einigen, dass – so Peter Corterier – den Schein eines Kompromisses erwecken sollte, tatsächlich aber auf ein Kippen des Doppelbeschlusses hinauslief. Im Ergeb-nis blieb die Entscheidung darüber, ob der Stationierung zugestimmt würde, somit offen. Dies aber gab dem Kanzler einen äußerst engen Handlungsspiel-raum und deutlich begrenzte Möglichkeiten für eine flexible Außenpolitik. Nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982 beschleunigte sich der sicherheitspolitische Gesinnungswandel deutlich. Am 11. September 1983 beschloss der erste Landesverband – Baden-Württemberg – den Ausstieg aus dem NATO-Doppelbeschluss und vollzog damit den endgültigen Bruch mit

Der ehemalige Finanz- und Verteidigungsminister Hans Apel (H. J. Darchinger/AdsD)

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der bisherigen Sicherheitspolitik. Der über Jahre mühsam aufrecht erhaltene Widerstand des Regierungsflügels zerbröckelte. Mit welcher Vehemenz und Intensität die Debatten um den NATO-Doppelbeschluss und die Stationie-rung der Mittelstreckenraketen innerhalb der SPD geführt wurden, beschrieb der Seeheimer Peter Corterier in der von der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit herausgegebenen Aufsatzsammlung „Raketen-poker um Europa“:

„Ich habe nie vorher und nachher in meinem Leben an Veranstal-tungen teilgenommen, bei denen einem mit solcher Intoleranz und Feindseligkeit begegnet wurde und wo man als Befürworter des Doppelbeschlusses so behandelt wurde, als sei man gerade dabei, den 3. Weltkrieg aktiv vorzubereiten. An Andersdenkenden wurde in der SPD regelrecht Rache geübt: Fast alle Mandatsträger, die bis zum Schluss für den Doppelbeschluss eintraten und die Helmut Schmidt die Treue hielten, mussten dies mit dem Verlust ihrer Mandate be-zahlen. Die Auseinandersetzungen um den Doppelbeschluss werden sicherlich nicht als Musterbeispiel für ein trotz aller sachlichen Gegen-sätze faires Ringen um die beste Lösung in einer Demokratie in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen.“

Bei der entscheidenden Abstimmung im Deutschen Bundestag am 22. November 1983 enthielten sich neben Helmut Schmidt noch weitere 24 SPD-Abgeordnete der Stimme. Der Seeheimer Dieter Haack, damals Mitglied im Vorstand der SPD-Bundestagsfraktion und im Kabinett Schmidt Minister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, trug im Namen der Unterzeichner im Bundestag eine Erklärung vor, mit der sie ihre Enthaltung begründeten. Statt eines bedingungslosen Neins zur Stationierung plädierten sie vielmehr für ein Aussetzen der Stationierung für einen überschaubaren Zeitraum, um Nachverhandlungen zu ermöglichen.

„Mit unserer Fraktion teilen wir die Motive und Zielsetzung des vorliegenden Antrags der SPD-Bundestagsfraktion. Unsere ab-weichende Meinung bezieht sich ausschließlich auf das absolute

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Nein zum zweiten Teil des Doppelbeschlusses der NATO in diesem Antrag. Das unkonditionierte, d.h. unbedingte und unbefristete Nein, das sich mit der Meinung vieler unserer Bürger deckt und verständ-lich und legitim ist, scheint uns nicht als politisches Instrument für das Sozialdemokraten gemeinsame Ziel des Abbaus atomarer Über-rüstung geeignet zu sein. Wir halten deshalb auch heute am Sinn-gehalt des NATO-Doppelbeschlusses fest, der für uns in Überein-stimmung mit Helmut Schmidt ein wirkungsvolles Instrument zum Abbau und zur Begrenzung eurostrategischer Atomwaffen ist. […] Wir müssen die Sorgen der Menschen in unserem Volk in Politik umsetzen. Dabei wissen wir, daß die Ängste vieler Menschen auch auf die feh-lende Glaubwürdigkeit politischer und militärischer Konzepte zurück-zuführen sind. Aus diesem Dilemma kommen wir aber nicht mit einer absoluten Ja- oder Nein-Position heraus, weder mit Selbstgerechtigkeit noch mit Friedensbekenntnissen allein. Wir machen uns unsere Ent-scheidung nicht leicht und stehen damit in der Kontinuität sozialde-mokratischer Politik.“

Dieter Haack im Gespräch mit Dietrich Stobbe auf dem SPD-Parteitag in Berlin 1979 (Landesarchiv Berlin-Fotostelle/AdsD)

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Die weiteren Entwicklungen in den 80er Jahren sollten Helmut Schmidt und den Befürwortern der Nachrüstung Recht geben. Trotz der Stationierung der amerikanischen Pershing-II-Raketen wurden nach einer Phase der Eiszeit die Gespräche zwischen den beiden Blöcken wieder aufgenommen. Schließ-lich unterzeichneten an jenem geschichtsträchtigen 8. Dezember 1987 in Washington der amerikanische Präsident Ronald Reagan und der sowjetische Generalsekretär Michail Gorbatschow den INF-Vertrag über den vollstän-digen Abbau der „Intermediate-range Nuclear Forces“, der Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern.Zu diesem späten Triumph gratulierten die noch verbliebenen Befürworter des NATO-Doppelbeschlusses dem Altbundeskanzler Schmidt in einem Brief:

„Lieber Helmut, der INF-Vertrag ist unterschrieben! Alle Welt müßte nun mit einem Fackelzug nach Hamburg ziehen, um dem Bundes-kanzler zu danken, der mit seiner Idee des Nato-Doppelbeschlusses den Prozeß mit dem Ziel dieses Ergebnisses in Gang gesetzt hat. Wir von der SPD-Fraktion, die trotz schwerster Anfechtungen im November 1983 zur Stange gehalten haben, gratulieren zu diesem späten, aber großartigen Erfolg Deiner weitsichtigen Politik. Und nun handeln wir, wie es am Ende der Ballade von Prinz Eugen heißt: ‚Der Trompeter tät den Schnurrbart streichen/ und sich auf die Seite schleichen/ zu der Marketenderin’!“

Die Unterzeichner dieses Briefs waren Annemarie Renger, Hans Apel, Rudolf Purps, Erwin Stahl, Dieter Haack, Wilfried Penner, Hans-Jürgen Wischnewski, Axel Wernitz, Hans de With, Karl Ahrens, Peter Würtz, Horst Grunenberg und Horst Niggemeier. Helmut Schmidt erwiderte darauf in seinem Antwortschreiben:

„Liebe Freunde! Lange Zeit hat mir kein Brief soviel Freude gemacht wie der Eure vom 8. Dezember. Ich grüße die hinterbliebenen Stand-haften im 11. Deutschen Bundestag und verspreche, auch meinerseits weiterhin standhaft zu bleiben.“

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„Streit der Ideologien“Die 80er Jahre – Gründung der Kurt-Schumacher-Gesellschaft,

Kritik am SPD/SED-Papier

Nachdem die SPD nicht mehr in der Regierungsverantwortung war, sank der Einfluss des Seeheimer Kreises innerhalb der Partei. Es war nun nicht mehr notwendig, für Entscheidungen der Regierung die entsprechenden inner-parteilichen Mehrheiten zu organisieren. Peter Streichan charakterisierte die Situation in einem Interview folgendermaßen: „Man hatte alles getan, um in der Regierungsverantwortung vor dem Bürger gut zu bestehen, so dass es nun einen natürlichen Prozess des Nachlassens gab […]“Nach der sicherheitspolitischen Wende auf dem Parteitag in Köln 1983 wurde in den nun tonangebenden Kreisen innerhalb der SPD nicht mehr mit aller Entschlossenheit am westlichen Bündnis und der Mitgliedschaft in der NATO festgehalten. Man kritisierte einseitig die USA und verdrängte demokratische Freiheitsgrundsätze. Ebenso bröckelte massiv die Abgrenzungs-politik zu den kommunistischen Gruppen und Organisationen in Deutsch-land. Horst Ehmke beklagte in einer Rede anlässlich des 40. Jahrestags des

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5. Februar 1988

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Kriegsendes den Antikommunismus in der Nachkriegs-SPD, der unter dem Einfluss der Alliierten die Entnazifizierung ersetzt hätte. Diesem Trend versuchten einige Seeheimer mit der Gründung der „Kurt-Schumacher-Gesellschaft“ entgegen zu wirken. Am 27. Mai 1985 wurde unter Vorsitz von Annemarie Renger, die in der Nachkriegszeit eine der engsten Mitarbeiterinnen Kurt Schumachers war, eine Gesellschaft gegründet, deren Ziel es war, politisch die Erinnerung an die freiheitliche, antikommunistische Ausrichtung der Partei durch Kurt Schumacher wach zu halten.

Hermann Rappe fasste in einem Schlusswort auf der ersten Tagung, die anlässlich des Gedenkens an den 90. Geburtstag von Kurt Schumacher einbe-rufen worden war, die Grundüberzeugungen der Mitglieder zusammen:

„1. Wir sind der Republik und in der parlamentarischen Demokratie verhaftet. Wir wollen eine Partei mit der Grundorientierung west-licher Politik, integriert ins Westliche Bündnis; wir sind – wie Schumacher sagte – eine Partei des Westens. 2. Wir sind eine Partei der klaren Abgrenzung zu den Kommunisten.

Kurt Schumacher und Annemarie Renger im Jahre 1952 (A. Scholz/AdsD)

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3. Wir wollen eine Partei der Arbeit sein und uns offenhalten für den technologischen Fortschritt. 4. Wir sind eine Partei der Freiheit.5. Und wir sind die Partei der sozialen Sicherheit auf der Basis unserer Verfassung eines sozialen Rechtsstaates.“

Die Kurt-Schumacher-Gesellschaft hat es sich in den vergangenen 20 Jahren zur Aufgabe gemacht, Vorträge und Seminare zu veranstalten sowie Broschüren zur Entwicklung der SPD her-auszugeben. Konzentrierte man sich in den 80er Jahren vor allem auf die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, so stand in den 90ern die Frage der inneren Vereinigung mit den Sozial-demokraten aus dem Osten im Mittelpunkt. Die nach der Wende in Leipzig gegründete Kurt-Schumacher-Gesellschaft der DDR hat sich bald mit der westdeutschen Schwester-Gesell-schaft vereinigt. Bereits vor der Wende 1989 hat die Gesellschaft eng mit dem Arbeitskreis so-zialdemokratischer Häftlinge zusammengearbeitet und konnte zahlreiche Oppositionelle aus der DDR auf den Tagungen begrüßen. Die ehemalige Bundestagspräsidentin Annemarie Renger ist auch heute noch Vorsitzende der Kurt-Schumacher-Gesellschaft, ihr zur Seite steht mit Johannes Kahrs

– als stellvertretendem Vorsitzenden – einer der aktuellen Sprecher des See-heimer Kreises.

In den 90er Jahren intensivierten sich auch die Gespräche zwischen Vertretern der SPD und der SED, die schließlich 1987 zu einem gemeinsam erarbeiteten Papier führten. Von der SPD-Grundwertekommission und der Delegation der Akademie für Gesellschaftspolitik des ZK der SED war das Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ vorgelegt worden. Nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit in beiden Teilen Deutsch-lands sorgte der Text für großes Aufsehen, auch innerhalb der SPD war das

Hermann Rappe, Vorsitzender der IG Chemie-Papier-Keramik 1984 (Cintula/AdsD)

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Papier umstritten. Die Seeheimer beschäftigten sich auf ihrer Tagung in Bad Honnef im Dezember 1987 eingehend damit. Die meisten Teilnehmer lehnten einen entscheidenden Absatz ab: „Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und der Wettbewerb der Syste-me den Willen zur Reform auf beiden Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicherheit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Anne-marie Renger äußerte sich zum SPD/SED-Papier in ihrem Buch

„Ein politisches Leben“ entsprechend:

„Sicher war es eine der Absichten dieses Papiers, oppositionellen Kräften innerhalb der SED und der DDR überhaupt Anhaltspunkte zu geben, auf die sie sich ge-genüber der Partei- und Staatsmacht berufen konnten. Im we-sentlichen aber war es der Abschied von der Hoffnung auf die künftige Einheit Deutschlands und eine Anerkennung des Weges zu einem eigenen Sozialismus der SED. […] Die Gleichstellung der beiden Systeme und die Anerkennung der Daseinsberechtigung des kommunistischen Systems in der DDR, das weder seinen Bür-gern die demokratischen Grundrechte noch die individuelle Freiheit

gewährleistete, hielt ich für uner-laubt und eine grobe irreführende Verunglimpfung unserer gesellschaftlichen Ordnung.“

Auch der im März 2005 verstorbene frühere Staatsminister im Bundeskanzleramt, Hans-Jür-gen Wischnewski, äußerte sich in einem Inter-view kritisch:

„Ich habe die Gespräche, die damals geführt worden sind, durchaus für notwendig und richtig gehalten, und in diesem Papier kann

Hans-Jürgen Wischnewski auf dem SPD-Parteitag in Münster 1988 (H. J. Darchinger/AdsD)

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das meiste von mir unterstützt werden. Und die Tatsache, daß es drü-ben veröffentlicht werden mußte, war hilfreich, insbesondere auch für die Gegner des SED-Regimes. Aber es hat zumindest einen Satz ge-geben, der für mich unerträglich war, der aber für die SED von ent-scheidender Bedeutung war. Das war der Satz, der für sie der Anlaß war, das überhaupt zu machen, in dem es hieß: ‚ […] daß man sich ge-genseitig nicht in Frage stellt.’ Ein Sozialdemokrat muß immer ein nicht-demokratisches System in Frage stellen. Unabhängig von allem anderen, und dieses war der Grund, warum ich diesem Papier meine Zustimmung nicht geben konnte – und im übrigen viele andere auch. Heute hat es die Geschichte überrollt. Aber die geschichtliche Ent-wicklung ist so gewesen, daß ich mich mit meiner Auffassung bestä-tigt fühle.“

Trotz mannigfaltiger Kritik wurde auf der Tagung in Bad Honnef dennoch dafür plädiert, das Papier zu nutzen, indem man von der SED forderte, auch zu tun, worauf sie sich festgelegt hatte.

1987 beteiligte sich der Seeheimer Kreis an der Debatte um eine Fortschreibung des Godesberger Programms. Diese Diskussionen mündeten schließlich im Berliner Programm von 1989. Während der 80er Jahre waren immer wieder Forderungen nach einer neuen Programmdebatte in Fortsetzung zu Godesberg laut geworden. Zum ersten Mal sprach 1981 der Seeheimer Bru-no Friedrich aus Franken davon. Der Parteivorstand beauftragte 1984 eine Programmkommission, der mit Richard Löwenthal, Hermann Rappe und Hol-ger Börner allerdings nur drei Vertreter der „Godesberger Linie“ angehörten. Als im August 1986 auf dem Nürnberger Parteitag ein erster Entwurf – der so genannte „Irsee-Entwurf “ – als Diskussionsgrundlage vorgelegt wurde, stieß dieser auf Kritik in Partei und Öffentlichkeit. Unter Federführung von Florian Gerster legte der Seeheimer Kreis im Dezember 1987 schließlich den eigenen Programmentwurf „Ein Seeheimer Beitrag zur Sozialdemokratischen Programmdiskussion“ vor. Das Leitmotiv dieses Entwurfs lautete:

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„Zentrales Anliegen der Seeheimer ist die Erhaltung – oder Wie-dergewinnung – der Mehrheitsfähigkeit der SPD und ein ausgewo-genes Verhältnis von Kontinuität und Wandel in der sozialdemo-kratischen Programmatik. Der Seeheimer Kreis hat nicht den Ehrgeiz, das ‚Rad neu zu erfinden’ und Positionen zu definieren, bei denen es keinen programmatischen Klärungsbedarf in der SPD gibt. Er bemüht sich um die Schaffung einer tragfähigen Plattform und um eine offe-ne und fruchtbare Programmdiskussion innerhalb und außerhalb der

SPD mit dem Ziel einer höchstmöglichen Grundübereinstimmung, damit das neue Grundsatzprogramm der SPD ‚über den Tag hinaus’ Bestand haben wird.“

Mit dem damals 38jährigen Wormser Bundes-tagsabgeordneten Florian Gerster erhielten die Seeheimer neue Impulse. Bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bundestag – er wur-de am 21. Mai 1991 zum Minister für Bun-desangelegenheiten und Europa des Landes Rheinland-Pfalz ernannt – prägte er zusam-men mit Gerd Andres nachdrücklich die Aktivitäten des Seeheimer Kreises.

„Befürworter der Einheit“Die Seeheimer und die Wiedervereinigung

Die Einflussmöglichkeiten der Seeheimer im Wendejahr 1989 schätzte Florian Gerster, einer der damalige Sprecher, im Januar des Jahres folgender-maßen ein: „Nach einer Neubelebung 1987 war 1988 ein Jahr ohne nennens-werte Seeheimer Aktivitäten. Der Bundesparteitag in Münster hat wegen der

Florian Gerster hält den Seeheimer Beitrag zur Programmdebatte in Händen (H. J. Darchinger/AdsD)

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Abwahl von Hans Apel unseren Einfluß im Parteivorstand geschwächt. In der Bundestagsfraktion haben wir eine mit hohem Aufwand mobilisierte Mehrheit […]“

Im Gegensatz zum linken SPD-Flügel stellten die Mitglieder des Seeheimer Kreises die deutsche Einheit nie in Frage. Mit großem Beifall hatte man die Rede Erhard Epplers zum 17. Juni 1989 begrüßt, in der dieser den um-strittenen Satz des SPD/SED-Papiers – keine Seite dürfe der anderen die Existenzberechtigung absprechen - modifizierte und klar stellte, keine Seite könne die andere daran hindern, sich selbst zugrunde zu richten. Im Sommer und Herbst 1989 verschärfte sich der Druck auf die DDR- Regierung, unvergesslich sind die Bilder der ausreisewilligen DDR- Bürger, die Zuflucht in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Budapest suchten. Aber auch innerhalb der Staatsgrenzen der DDR formierten die Bür-ger ihren Widerstand. Parallel zu den groß angelegten Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober, gründeten die späteren Seeheimer Stephan Hilsberg und Markus Meckel sowie Martin Gutzeit, Arndt Noack und Ibrahim Böhme die Sozialdemokratischen Partei SDP. Nur wenige Monate später, im Januar 1990, benannte sich die SDP schließlich in SPD um. Die Vereinigung der Ost- und der West-SPD war allerdings noch einer Zerreißprobe ausgesetzt. So drohte die Ost-SPD den Prozess der Vereinigung abzubrechen, nachdem es in der West-SPD zu Uneinigkeit über den ersten Staatsvertrag, der die Wirtschafts- und Währungsunion regeln

sollte, gekommen war, die Ost-SPD dem Vertragswerk aber bereits zugestimmt

Willy Brandt, Johannes Rau, Stephan Hilsberg, Hans-Jochen Vogel, Ibrahim Böhme und Markus Meckel anlässlich des Deutsch-Deutschen Gipfels in Bonn 1990 (T. Brakemeier/dpa - Report)

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hatte. Der damalige Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine forderte die Ableh-nung des Staatsvertrags durch die SPD im Bundestag und drohte gar mit einem Rückzug von der Kanzlerkandidatur.

Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel war in dieser Situation aber nicht bereit, die staatspolitische Verantwortung des Einigungsprozesses wahlkampftaktischen Überlegungen unterzuordnen. Mit dieser Haltung vertrat er die Linie der Seeheimer. Der ehemalige Re-gierende Bürgermeister von Berlin, der Seeheimer, Dietrich Stobbe, erläuterte in einem Interview die grundlegende Haltung des Kreises:

„Die Seeheimer waren einheitlich Befürworter der Einheit und dem-zufolge auch für die Verträge. Ich entsinne mich nicht an einzelne Abweichler, sondern man muß vielleicht sagen, daß es in einem ganz frühen Stadium einige Seeheimer die Einheit noch schneller wollten. Im Januar/Februar gab es in der Fraktion schon Stimmen, die sagten: ‚Ihr werdet sehen, am Ende des Jahres ist die Einheit perfekt.’ Da habe ich noch zusammengezuckt […]: ‚Das schaffen wir nicht so schnell.’ Diese Seeheimer wollten in die Vorhand kommen, sie erinnerten an die nationalen Traditionen der SPD und haben gesagt, daß wir da doch an

der Spitze stehen müssen. Sie verstanden die Welt nicht mehr wegen des Verhaltens man-cher Gruppen, meistens der linken.“

Nur 25 Abgeordnete der Parteilinken lehnten schließlich in der Bundestagsabstimmung den ersten Staatsvertrag zur Wirtschafts- und Wäh-rungsreform ab. Der Seeheimer Rudolf Purps, würdigte in einem persönlichen Schreiben vom 15. Juni 1990 die Integrationsleistung von Hans-Jochen Vogel und bat ihn gleichzeitig, auch weiterhin als Vorsitzender zur Verfügung zu stehen und die Vereinigung mit der Ost-SPD zu begleiten:

Rudolf Purps, Sprecher des Seeheimer Kreises in den 90er Jahren (Bildstelle Deutscher Bundestag)

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„Es ist zuförderst Dein persönlicher Einsatz gewesen, der die Partei vor großem Schaden bewahrt hat. […] Es ist meines Erachtens nicht zu vermitteln, daß Du als Architekt der Entscheidung der SPD für die Einheit im Augenblick des Erfolges nicht als Vorsitzender zur Verfügung ständest. Die großen Probleme, die nach der partiellen Vereinigung auf uns zukommen, kann nur jemand in den Griff be-kommen, der zugleich führt und moderiert und lang zäh und beharrlich arbeiten kann.“

Ein sehr persönliches Erlebnis im Zusammenhang mit der Wiederver-einigung der beiden deutschen Staaten schildert Annemarie Renger in ihrer Biographie. Wollte es der Zufall doch, dass gerade sie, die die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte als Politikerin mitgestaltet hatte, als stell-vertretende Bundestagspräsidentin in der Plenarsitzung des 9. Novembers 1989 den Fall der Mauer in Berlin verkünden durfte:

„Als ich am 9. November 1989 als amtierende Präsidentin die Plenar-sitzung leitete, kam der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Gerhard Jahn, zu mir ans Präsidium und rief: ‚Frau Präsidentin, warten Sie doch noch ein bißchen mit der Fortsetzung der Debatte, in Berlin scheint sich etwas wichtiges zu ereignen. Man spricht davon, daß die Mauer durchbrochen sei.’ Mit aller Vorsicht deutete ich nun ein noch ungeklärtes Ereignis in Berlin an und bat den Parlamentarischen Staatssekretär Horst Waffen-schimdt festzustellen, was denn in Berlin los sei. Es bedurfte einiger Zeit, bis wir eine authentische Auskunft bekamen: Die Mauer wurde tatsächlich durchbrochen, die Menschen lagen sich mit Tränen in den Augen in den Armen. Sekt floß, und ein einziger Jubel war ausge-brochen. Ich durfte dieses geschichtliche Ereignis verkünden, und wahrlich, ich mußte meine Stimme festigen und meine Gefühle zügeln, damit mich nicht die Rührung zu sehr ergriff.“

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„Paukenschlag“Die Seeheimer in den 90ern – der Weg zur Regierungsfähigkeit

Personell gestärkt durch neue Mitglieder aus der ehemaligen DDR gewann der Seeheimer Kreis zu Beginn der 90er Jahren wieder an Gewicht. Sah man sich durch die Wiedervereinigung doch auch in vielen Positionen bestätigt, die man während der 80er Jahre im Hinblick auf die Deutsch-land-, Sicherheits- und Außenpolitik vertreten hatte. Der ehemalige Seeheim- Sprecher Karl-Hermann Haack:

„Man hat den Seeheimern immer unterstellt, dass sie eine aussterben-de Spezies seien. Wir haben in der Fraktion aber immer eine feste Mehrheit gehabt, etwa ein Drittel. Wir haben auch intensiv für un-sere Mehrheiten gearbeitet. Bei der Abstimmung über den Grundge-setzartikel zum Asylverfahren, haben wir Telefonketten gebildet um die Leute aus ihren Büros zu telefonieren, weil die natürlich auch keine Lust hatten, in die Fraktion zu gehen und darüber abzustimmen und sich dann im Wahlkreis von den Kirchen verprügeln zu lassen.“

Neben den Diskussionspapieren „Unser Weg zur Regierungsfähigkeit der SPD“ und „Chancen zur Mehrheitsfähigkeit der Volkspartei SPD“ aus den Jahren 1992 und 1995, setzten die großen Klausurtagungen „SPD – quo vadis? – Zur deutschen Parteienlandschaft an der Jahrhundertwende“ (November 1994), „Projekt Moderne – Die Zukunft unserer Gesellschaft“ (Oktober 1996) in Tutzing und das Jubiläumstreffen in Seeheim-Jungheim im Juni 1994 große Akzente. Daneben organisierte der Seeheimer Kreis im November 1995 auch das erste Karl-Schiller-Symposium zum Thema

„Europäische Wettbewerbspolitik nach Maastricht“, bei dem Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik in einen offenen Dialog zentrale Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung diskutieren sollten. Die Idee zu einem solchen Forum war noch vom ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsminister Karl Schiller persönlich ausgegangen, der aber noch vor dem Symposium im Dezember 1994 im Alter von 83 Jahren starb.

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Das erste grundlegende Diskussionspapier zum Thema „Wiedergewinnung der Mehrheitsfähig-keit“ legte der Seeheimer Kreis im Vorfeld des SPD-Parteitags in Bonn im November 1992 vor. Unter dem Titel „Unser Weg zur Regie-rungsfähigkeit der SPD“ zeigten die Abgeord-neten Gerd Andres, Eike Ebert, Anke Fuchs, Karl-Hermann Haack, Manfred Hampel, Fritz-Rudolf Körper, Rudolf Purps, Dieter Schloten, Rolf Schwanitz, Johannes Singer, Hartmut Soell und Verena Wohlleben Chancen und Pers-pektiven für eine moderne SPD auf, die sich vor dem Hintergrund einer veränderten weltpoliti-schen Situation neu positioniert. Der Aufruf an die SPD lautete – so Karl-Hermann Haack – „Rückkehr zur Realität“ und somit Rückkehr zur Regierungs- und Mehrheitsfähigkeit. Gefordert wurde eine ganzheitliche Politik, die nicht nur auf Lobbyisten und so genannte ‚pressure groups’ Rücksicht nimmt, sondern auf die Interessen der Gesamt-heit der Bevölkerung eingeht und somit mehr Alltagserfahrung in die Partei-diskussion einbringt. „Wir wollen nicht Gefahr laufen, auf die Handlungs-fähigkeit konservativer Regierungen vertrauen zu müssen. Wir wollen selbst, vertrauend auf Geschichte, Programm und Erfahrung, das ausge-hende Jahrtausend mit sozialdemokratischer Verantwortung gestalten.“ Zur Rolle Deutschlands in Europa und der Welt wurde gefordert, dass die neue Bundesrepublik ihren Beitrag für den Aufbau eines sozialen Europas leiste und weltweit für soziale Gerechtigkeit kämpfe – so wie die sozialdemo-kratische Politik die sozialstaatliche Verfassung der Bundesrepublik geprägt hat. Zudem sah man es als unabdingbare Pflicht Deutschlands an, als Teil des friedlichen Europas auch künftig seiner internationalen Verantwortung gerecht zu werden, sowohl in der UNO, in der KSZE, in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union als auch in der NATO und in der WEU.

Karl-Hermann Haack, Sprecher des Seeheimer Kreises bis 2004 (Bildstelle Deutscher Bundestag)

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Stand das Papier aus dem Jahre 1992 noch ganz unter den Vorzeichen der Veränderungen in Deutschland und in Osteuropa und den sich daraus ergebenden Anforderungen für die SPD und die Bundesrepublik, so war das Positions-papier „Chancen zur Mehrheitsfähigkeit der Volkspartei SPD“ von 1995 vielmehr eine konkr-ete Analyse der Bundestagswahlen zwischen 1983 und 1994 und der Mitgliederentwicklung inner-halb der Partei. Kritisch wurde aber vor allem zur Wahlanalyse von 1994 durch den Parteivorstand Stellung genommen. Dieser verkannte u.a. die wirkliche Stammwählergruppe der SPD: Die kleinen Leute, für die die SPD immer noch

eine Art Schutzmacht darstellte. Die klassischen SPD-Hochburgen waren genau dort zu finden, wo traditionell Realitätsorientierte Politik gemacht wurde. Um eine Realitätsorientierte Politik – nicht nur auf kommunaler Ebene – haben sich die Seeheimer immer bemüht. Als Resümee des Papiers wurden zehn Thesen zur Mehrheitsfähigkeit der SPD aufgestellt, in denen u.a. der Wille zur Übernahme von politischer Ver-antwortung auch auf Bundesebene, die Rückbesinnung auf Werte wie Solida-rität und soziale Gerechtigkeit, sowie auf die traditionellen Wählerschichten und eine intensivere Mobilisierung von Jung- und Nichtwählern gefordert wurde.

Große Resonanz fanden auch die Tagungen des Seeheimer Kreises Mitte der 90er Jahre. Das sicherlich größte Echo löste die Veranstaltung „SPD – Quo vadis?“ aus, zu der man sich vom 25. bis 27. November 1994 in der Akademie für politische Bildung in Tutzing traf. Neben den Reden von Renate Schmidt und Hans-Ulrich Klose erntete vor allem die Stegreifrede des damaligen SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping großen Beifall. „Die Rede von Scharping war der Versuch, eine Politik der Mehrheitsfähigkeit zu beschreiben“, erinnert sich Karl-Hermann Haack. „Er beschrieb exakt die Politik, für die wir Seeheimer immer eingetreten sind.“

Gerd Andres, Sprecher des Seeheimer Kreises in den 90er Jahren (Bildstelle Deutscher Bundestag)

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Scharping forderte in deut-lichen Worten eine Kurs-änderung der SPD, vor allem in der Sozial- und Wirt-schaftspolitik, sowie eine offensive Herangehensweise an unliebsame Politikthemen, wie den Umbau des Sozial-staats. Die Frankfurter Allge-meine Zeitung kommentierte den Auftritt Scharpings wohlwollend als „Pauken-schlag“: „Schonungslos hielt der SPD-Vorsitzende seiner Partei den Spiegel vor. Die Zensur, die er ihr ob ihres programmatischen und organisatorischen Erscheinungsbildes gab, lautet ,ungenügend’. Scharping weiß, daß Schocktherapien nötig sind, um in der SPD etwas zu bewegen. ,Tutzing’ könnte ebenso wie ,Petersberg’ zur Chiffre eines solchen schmerzhaften Anstoßes werden. […] Es ist bemerkens-wert, daß Scharping seine Vorstellungen bei einer Parteigruppierung vortrug, die gemeinhin als gewerkschaftsnah gilt. Das gibt dem Tutzinger Ereignis Gewicht.“

Zwei Jahre später, im Oktober 1996, trafen sich die Seeheimer wieder in Tutzing. Thema: „Projekt Moderne – Die Zukunft unserer Gesellschaft. Neu-orientierung Sozialdemokratischer Perspektiven für das 21. Jahrhundert“. Das ließen sich auch Gerhard Schröder, Oskar Lafontaine und Rudolf Scharping nicht entgehen. Der Fernsehjournalist Ulrich Wickert referierte über das Thema „Braucht die Politik noch Moral?“. Klaus von Dohnanyi diskutierte u.a. mit dem damaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Olaf Henkel, über die Chancen und Risiken des Wirt-schaftsstandorts Deutschland. Und Franz Müntefering sprach über „Volks-parteien in der Mediengesellschaft – Strukturelle, organisatorische und politische Anforderungen an die Arbeit der SPD“.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. November 1994

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Mit der Übernahme der Regierungsverantwortung 1998 begann für die Seeheimer die Aufgabe den Prozess der Reformpolitik, und hier insbeson-dere den Umbau des Sozialstaats konstruktiv zu begleiten. Der damalige Sprecher Karl-Hermann Haack setzte zwei Schwerpunkte in der Arbeit der See-heimer. So wurde versucht, den ‚Umbau des Sozialstaats’ nicht allein auf neue finanzielle Rahmenbedingungen hin zu beschränken, sondern auch deutlich zu machen, dass das Projekt ebenso das Thema ‚Bürokratie’ bearbeiten muss. Der Leitsatz lautete: „Vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürger-staat“ und die Einbettung des Ganzen in den neu zu gestaltenden Rahmen eines europäischen Sozialmodells. Beide Projekte sind inzwischen Inhalte der offiziellen Partei- und Fraktionspolitik geworden.

„Staffettenwechsel“Die Seeheimer am Anfang des 21. Jahrhundert

Über die Jahre hinweg standen renommierte Politikerinnen und Politiker an der organisatorischen Spitze des Seeheimer Kreises, der seit 1994 unter dem Namen „Die SEEHEIMER e.V.“ auch als eingetragener Verein, mit dem Ziel politische Bildungsarbeit zu leisten, registriert ist. Im März 2004 fand der letzte Wechsel im Sprecherkreis statt. Karl-Hermann Haack und Reinhold Robbe gaben den „Staffelstab“ weiter an Petra Ernstberger, Klaas Hübner und Johannes Kahrs.

Petra Ernstberger, Klaas Hübner und Johannes Kahrs umrissen bei ihrem Amtsantritt jeweils, wofür der Seeheimer Kreis steht und in welchem Selbst-verständnis die drei neuen Sprecher die Arbeit fortsetzen möchten:

„Ziel meines künftigen Engagements als Sprecherin ist es in erster Linie, das Gewicht der Seeheimer als pragmatische Kraft in der SPD-Fraktion weiter zu stärken. Eine Steigerung der Attraktivität für Ab-geordnete, unsere inhaltlichen Ziele mitzugestalten, zählt dazu ebenso

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wie die Schärfung des Profils der Seeheimer in der Öffentlichkeit. Bei inhaltlichen und organisatorischen Entscheidungen werden die See-heimer mit Nachdruck eine bedeutende Rolle übernehmen, um not-wendige Reformen entsprechend voranzubringen.“ (Petra Ernstberger)

„’Die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft’, dieses poli-tische Leitmotiv habe ich von Helmut Schmidt übernommen. Leiden-schaftlich für die Modernisierung unserer Gesellschaft einzutreten und diese Modernisierung in praktischen Schritten umzusetzen ist mein Ziel im und für den Seeheimer Kreis. Nicht alles was sich in der Vergangenheit bewährt hat, kann angesichts forschreitender Globali-sierung und sich zunehmend öffnender Märkte aufrechterhalten werden. Wir müssen neue und innovative Wege gehen, um vor allem die Chancen in diesen Entwicklungen zu erkennen und zu nutzen. Ich werde mich daher dafür engagieren, dass der mit der Agenda 2010 eingeleitete Modernisierungsprozess auch vollendet wird.“ (Klaas Hübner)

Johannes Kahrs, Reinhold Robbe, Petra Ernstberger und Klaas Hübner bei der Staffelübergabe 2004

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„Ich bin 1982 wegen Helmut Schmidts Politik in die SPD eingetre-ten. Nachdem ich 1998 in den Bundestag eingezogen war, bekam ich schnell Kontakt zu den Seeheimern und habe mich inhaltlich und menschlich in diesem Kreis sofort gut aufgehoben gefühlt – und tue dies heute mehr denn je.Mein Motto lautet: ‚Politik ist die Kunst, das Notwendige möglich zu machen.’ Reform- und Gestaltungswille sowie der gleichzeitige Ein-satz für die Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer und den Sozialstaat beschreiben die Vorstellungen des Seeheimer Kreises. Die Seeheimer stehen für eine undogmatische Debatte. Die Seeheimer verfolgen eine Politik, die erneuert und gleichzeitig sozialdemokratische Werte be-wahrt. Wir halten nichts von weltfremden Ideologien. Für uns steht die Umsetzbarkeit der anstehenden Neuerungen im Hinblick auf die derzeitigen gesellschaftlichen Herausforderungen unseres Landes im Mittelpunkt. Nur so bewegt sich Deutschland. ‚Es muss sich vieles verändern, damit alles so bleiben kann wie es ist.’“ (Johannes Kahrs)

Inhaltlich haben sich die Ziele der Seeheimer den sich stetig verändernden Gegebenheiten der Zeit angepasst. Längst steht nicht mehr wie zu Beginn der 70er Jahre die Abgrenzung gegenüber einer neomarxistischen Linken in-nerhalb der SPD im Vordergrund. Dennoch gelten bis heute entscheidende Positionen der Anfangszeit: Das Festhalten am Godesberger Programm als Grundlage des politischen Handelns und die konsequente Unterstützung der Bundesregierung durch pragmatische, an den finanziellen Möglichkeiten des Sozialstaates orientierte sozialdemokratische Politik.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht Deutschland vor neuen Problemen, die es zu bewältigen gilt: Globalisierung, Massenarbeitslosigkeit und Überalte-rung der Gesellschaft – soziale Errungenschaften wie Rentenversicherung und Krankenversicherung drohen, daran zu zerbrechen. Mit dem Eckpunk-tepapier aus dem Jahr 2003 befürworteten die Seeheimer ausdrücklich die Reformvorschläge der Agenda 2010 und den Leitantrag des Parteivorstands

„Mut zur Veränderung“: Dies könne aber erst ein Anfang zur Bewältigung der

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wirtschaftlich und finanziell dramatischen Lage sein. Die Seeheimer fordern noch weitergehende Reformen. Konkret heißt das ein Inangriffnehmen der Gesundheitsreform, die keine Zweiklassenmedizin bedeutet und die paritä-tisch und solidarisch von allen finanziert wird, sowie eine Weiterentwicklung der Rentenversicherung unter Erhaltung der Generationengerechtigkeit. Bil-dung und Ausbildung als entscheidende Investitionen in die Zukunft müsse noch mehr Priorität eingeräumt werden. Die Entbürokratisierung des Wirt-schaftssektors müsse weiter vorangetrieben werden, eine erste Maßnahme sei die Abschaffung der Zwangsmitgliedschaften in den Kammern. Zur Stär-kung der kommunalen Investitionsquote werde die Gemeindefinanzreform unerlässlich sein. Ziel müsse ein innovatives, wachstumsstarkes und sozial gerechtes Deutsch-land sein, in dem jede Bürgerin und jeder Bürger die gleichen Lebenschancen hat: „Dafür werden sich die Seeheimer auch in Zukunft einsetzen.“

Franz Müntefering, Reinhold Robbe und Peter Struck bei der Verabschiedung von Reinhold Robbe, der am 12. Mai 2005 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestags wurde (M. Urban)

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Die Veranstaltungen des Seeheimer KreisesDer SEEHEIM Mittagstisch

Bereits zu Beginn der 70er Jahre traf sich nach Angaben von Günther Metzger eine Gruppe von Abgeord-neten dienstags zum gemeinsamen Essen. Traditionsgemäß diente die Zusammenkunft der Vorbereitung der im Anschluss an das Essen stattfinden SPD-Fraktionssitzung. An dieser guten Sitte halten die See-heimer auch nach dem Umzug des Bundestags von Bonn nach Berlin fest. Heute findet der SEEHEIM Mittags-tisch jeweils um 13 Uhr 30 im Raum

„Sachsen“ der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft statt. Es ist zur Gewohnheit geworden, zu diesen Treffen auch Gesprächspartner aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien zum Meinungsaustausch über aktuelle Ereignisse und Themen einzuladen. So durften die Seeheimer in der aktuellen Wahlperiode neben Vertretern von Partei und Regierung auch den israelischen Botschafter Shimon Stein, die Professoren Karl Kaiser, Karl Lauterbach, Bert Rürup, Paul Kirchhof, die Journalistin Tissy Bruns sowie Monika Wulf-Mathies von der Deutschen Post AG und den Vorsitzender des DGB, Michael Sommer, begrüßen.

Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn beim SEEHEIM Mittagstisch 2005

VERANSTALTUNGEN DES SEEHEIMER KREISES - SEEHEIM MITTAGSTISCH SEEHEIM TAGUNGEN

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Die SEEHEIM Tagungen

Veranstaltete der Seeheimer Kreis in den vergangen Jahrzehnten meist eine groß angelegte Tagung im Jahr, so werden seit jüngster Zeit eine Früh-jahrs- und eine Herbsttagung abgehalten. In den letzten Jahren wurde u.a. diskutiert über die Themen „Reformen einleiten – Zukunft gewinnen“, „SPD-Brücke zwischen den Generationen“, „Zeitenwende – Politik für das 21. Jahr-hundert: Neue Rahmenbedingungen für eine globale Welt“, „Terror in der Welt – Krieg auf dem Balkan: Die neue Rolle Deutschlands im Bündnis“, „Vom bürokratischen Sozialstaat zum sozialen Bürgerstaat“, „Gemeinsame Europäische Außen- und Sicherheitspolitik: Ein Projekt mit Zukunft?“ und „Deutschland 2010 – Mut zur Zukunft“. Gesprächspartner aus dem

Bereich der Politik waren Bundeskanzler Gerhard Schröder, Bundes-tagspräsidenten Wolfgang Thierse und die Bundesminister Peter Struck, Wolfgang Clement, Edelgard Bulmahn, Rudolf Scharping und Ulla Schmidt. Aus dem Bereich der Wissenschaft diskutierten die Professoren Stefan Hradil, Jürgen W. Falter, Hans-Georg Petersen, Roland Roth, Gerd Mutz,

Reinhold Robbe, Gerhard Schröder und Karl-Hermann Haack auf der Seeheimer Tagung „Reformen einleiten – Zukunft gewinnen“ 1999 (M. Urban)

VERANSTALTUNGEN DES SEEHEIMER KREISES - SEEHEIM MITTAGSTISCH SEEHEIM TAGUNGEN

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Catherine Kelleher, Karl Kaiser, Hans Peter Bull und Karl W. Lauterbach. Auch aus dem Bereich der Presse konnten renommierte Journalisten für Referate und Podiumsdiskussionen gewonnen werden, so z. B. Stephan-Andreas Casdorff, Susanne Gaschke, Klaus Methfessel, Holger Klemm, Elisabeth Niejahr, Rolf Clement und Karl Feldmeyer. Ausländische Gäste waren Lorraine Millot von der fran-zösischen Tageszeitung Liberation, zwei Vertreter der Republik Ungarn, Gergely Pröhle und István Simicskó,

Carl Tham, Botschafter von Schweden und Sir Peter Torry, Botschafter von Großbritannien, sowie Bart J. Groot, ehemaliger General Manger Dow Olefinverbund und Fred B. Irwin, Präsident der American Chamber of Commerce in Germany e.V.

Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement auf der Seeheimer Tagung „Deutschland 2010 – Mut zur Zukunft“ 2004

Klaas Hübner, Bundesverteidigungsminister Dr. Peter Struck und Reinhold Robbe auf der Seeheimer Strategieklausur 2005

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Die SEEHEIM Spargelfahrt

1961 lud Egon Franke zum ersten Mal zur Spargelfahrt. Im Laufe der Jahre hat diese Fahrt einen festen Platz im politischen Veranstaltungs-kalender eingenommen. Aus der einst im kleinen Kreise abgehaltenen Spar-gelfahrt ist ein alljährliches Großereignis der SPD-Bundestagsfraktion geworden. Nach Angaben von Karl Ahrens reichten Mitte der 60er Jahre noch 40-50 Pfund Spargel aus um die Gäste zu bewirten – heute wird ein Vielfaches davon verzehrt. In der über 40-jährigen Geschichte dieser Veran-staltung musste die Fahrt bisher erst ein einziges Mal abgesagt werden. Die für den 26. Mai 1993 geplante 32. Spargelfahrt entfiel aufgrund der kurz-fristig anberaumten Asyldebatte – die „Ersatzspargelfahrt“ führte die See-heimer dann Ende November 1993 per Bus nach Nürmbrecht in den Ober-bergischen Kreis. Aufgrund des Umzugs des Bundestags von Bonn nach Berlin ließen sich die Seeheimer im Juni 1999 zum letzten Mal auf dem Rhein den Spar-gel schmecken. Seither wird auf Berliner Gewässern zum Spargelessen ge-beten. Über viele Jahre hinweg haben die Kanalarbeiter die Genossen zum Spargel gebeten, die Seeheimer haben diese Tradition gerne fortgeführt. Die Liste der Organisatoren der Spargelfahrt ist lang: Egon Franke, Wolfgang Schwabe, Karl Herold, Heinrich Müller, Lothar Wrede und Günther Tietjen. Der letzte Wechsel fand erst im Jahre 2003 statt, als Gunther Weißgerber nach über 10 Jahren das traditionelle „Steuerrad“ an Johannes Kahrs weiterreichte. Seither gilt für ihn das Motto:

„Dem Organisator der Spargelfahrt stets Mast- und Schotbruch und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel“

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Im Gästebuch zur Spargelfahrt verewigte sich auch so mancher Gast, allen voran Wolfgang Schwabe, der über Jahre hinweg seine Eindrücke in Gedicht-form festhielt. So schrieb er anlässlich der Fahrt am 1. Juni 1970:

„Was gut ist, kommt wieder! So heißt es auch heuer:Die Dampferkanalfahrt ist lieb uns und teuer.Die innerdeutschen Relationenvereinigen wiederum höchste Personen:Der Bundespräsident macht höchstselbst uns die Freude.Der Kanzler trifft seine Gattin hier heute.Und Carlo und Hermann und Helmut Schmidterscheinen gewissermaßen selbdritt.Für Schiffahrt und Spargel und Wein…herzlich Danke!Dir lieber Karl Herold und Dir, Egon Franke“

Johannes Kahrs und Gerhard Schröder bei der Übergabe des traditionellen „Steuerrads“ anlässlich der Spargelfahrt 2003 (F. Ossenbrink)

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Kölner Stadtanzeigervom 18. Juni 1998

Leipziger Volkszeitung vom 18. Mai 2000

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Der Tagesspiegel vom 18. Mai 2000

Karl-Hermann Haack und Gerhard Schröder 1998 (M. Urban)

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Gerhard Schröder und Helmut Schmidt 1998 (M. Urban)

Annemarie Renger, Gerhard Schröder, Hans-Jürgen Wischnewski und Gerd Andres 2003 (F. Ossenbrink)

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Susanne Kastner, Karl-Hermann Haack und Ulla Schmidt 2004 (M. Urban)

Wolfgang Thierse und Susanne Kastner 2004 (M. Urban)

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Johannes Kahrs, die Beelitzer Spargelkönigin und Franz Müntefering 2004 (M. Urban)

Gerhard Schröder am Bug der MS Havel Queen 2003 (S. Pilick/dpa - Fotoreport)

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Nachbemerkung

Wir bitten um Nachsicht, dass nicht alle Seeheimer, die über die vielen Jahre hinweg unseren Kreis geprägt und gestaltet haben, namentlich auf-geführt wurden, oder dass so manches Ereignis, an das sich der eine oder an-dere noch gerne zurück erinnern mag, aufgrund der Fülle an Informationen unerwähnt geblieben ist. Da es an einigen Stellen schwierig war, die Geschehnisse detailgetreu zu rekonstruieren, haben wir uns gerne auf die Biographien und Lebenserinnerungen einiger Seeheimer gestützt.

Besonderer Dank gilt Annekatrin Gebauer, deren in Kürze erscheinende Dissertation über den Seeheimer Kreis und die „Neue Linke“ wertvolle Informationen und Anregungen gegeben hat. Ebenso möchten wir uns viel-mals bei Gunther Weißgerber bedanken, dessen Broschüre zur Geschichte der Seeheimer Spargelfahrt „Chronik der Spargelfahrten – Kanalarbeiter, Seeheimer Kreis, Neue Mitte“ aus dem Jahr 2001 in diese Chronik mit ein-geflossen ist.

NACHBEMERKUNG BILDNACHWEIS

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Bildnachweis

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Bildstelle des Deutschen BundestagsS. 25, S. 50, S. 53, S. 54

H. J. DarchingerS. 7, S. 12, S. 16, S. 18, S. 21, S. 24, S. 25, S. 30, S. 37, S. 39, S. 46, S. 48

dpa S. 49, S. 69

Landesarchiv Berlin, FotosammlungS. 35

Frank OssenbrinkS. 64, S. 67

Privatarchiv Annemarie RengerS. 13

Schulungszentrum der Lufthansa in SeeheimS. 23

Marco UrbanS. 59, S. 61, S. 66, S. 67, S. 68, S. 68, S. 69

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Herausgegeben von Johannes Kahrs und Sandra Viehbeck

Gründung, Geschichte und Wirken des Seeheimer Kreises

In der Mitte der Partei

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