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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft Vorlesung HS 2017 Vorabzug Dr. iur. Thomas Ender Rechtsanwalt und Notar Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht [email protected] [email protected] Dr. iur. Erich Rüegg Rechtsanwalt und Notar [email protected] [email protected] BAUR HÜRLIMANN AG Oberstadtstrasse 7 5402 Baden Bahnhofplatz 9 8021 Zürich 1

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft Vorlesung HS 2017

Vorabzug

Dr. iur. Thomas Ender

Rechtsanwalt und Notar

Fachanwalt SAV Bau- und Immobilienrecht

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Dr. iur. Erich Rüegg

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft II

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis ...................................................................................................... II

Literaturverzeichnis .................................................................................................. XI

Abkürzungsverzeichnis .......................................................................................... XIII

Materialienverzeichnis .......................................................................................... XVII

I. Einführung ....................................................................................................................... 1

1. Was bedeutet "Baurecht"… ........................................................................................... 1

A. Allgemeines ............................................................................................................... 1

B. Die Kategorien von Normen im Baurecht .................................................................. 1

Was darf wo gebaut werden? ................................................................................. 2

Wie darf man bauen? ............................................................................................. 2

Der Schutz bestimmter Rechtsgüter ...................................................................... 3

Die Verfahrensregeln ............................................................................................. 3

Das Rechtsverhältnisse zwischen den am Bauen beteiligten "privaten" Parteien . 3

C. Die Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Baurecht ............................ 3

2. Die Grundlagen des privaten Baurechts ........................................................................ 4

A. Das Obligationenrecht (OR) ....................................................................................... 4

B. Die Rechtsprechung .................................................................................................. 5

3. Die SIA-Normen und die Normen anderer Verbände .................................................... 6

4. Die Parteien im privaten Baurecht ................................................................................. 6

Der Bauherr ............................................................................................................... 6

Der Unternehmer ....................................................................................................... 6

Der Teilunternehmer .............................................................................................. 7

Der Generalunternehmer ....................................................................................... 7

Der Totalunternehmer ............................................................................................ 8

Der Subunternehmer .............................................................................................. 8

Der Nebenunternehmer .......................................................................................... 8

Abgrenzungen ........................................................................................................ 8

C. Der Lieferant ........................................................................................................... 8

D. Der Planer .............................................................................................................. 8

E. Der Generalplaner ..................................................................................................... 9

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft III

F. Die Versicherung ....................................................................................................... 9

5. Der Vertragsabschluss nach den allg. Bestimmungen des OR ..................................... 9

A. Die übereinstimmende Willensäusserung .................................................................. 9

B. Der Antrag und die Annahme .................................................................................... 9

C. Die Form der Verträge .......................................................................................... 10

6. Grundlagen der wichtigsten Bauverträge .................................................................... 10

A. Der Werkvertrag ....................................................................................................... 10

B. Der einfache Auftrag ................................................................................................ 11

7. Die Qualifikation des Vertrages ................................................................................... 11

II. Der Bauwerkvertrag unter besonderer Berücksichtigung der SIA-Norm 118 ......... 13

1. Begriff und Erscheinungsformen des Werkvertrages .................................................. 13

2. Hauptpflicht des Unternehmers: Herstellung und Ablieferung des Werkes ................. 14

3. Hauptpflicht des Bestellers: Die Pflicht zur Leistung der Vergütung ........................... 15

A. Der Festpreis ........................................................................................................... 15

B. Die Übernahme des Werkes ohne feste Vergütung ................................................ 17

4. Der Mangel .................................................................................................................. 17

A. Begriff ....................................................................................................................... 17

B. Die Mängelrechte ..................................................................................................... 18

Das Wandelungsrecht .......................................................................................... 18

Das Minderungsrecht ........................................................................................... 18

Das Nachbesserungsrecht ................................................................................... 19

Das Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens ................................................. 19

C. Die Prüfungs- und Rügepflicht des Bestellers ...................................................... 20

D. Die Verjährung ..................................................................................................... 20

5. Die SIA-Norm 118 ....................................................................................................... 22

III. Der Planervertrag .......................................................................................................... 25

1. Allgemeines zum Planervertrag ................................................................................... 25

A. Der Begriff und die Terminologie ............................................................................. 25

B. Der Gegenstand und die Erscheinungsformen des Planervertrages ....................... 25

Gegenstand .......................................................................................................... 25

Erscheinungsformen ............................................................................................ 26

C. Die Qualifikation des Planervertrages .................................................................. 26

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft IV

Bedeutung der Qualifikation ................................................................................. 26

Die werkvertraglichen Bereiche ............................................................................ 26

Die auftragsrechtlichen Bereiche ......................................................................... 27

Der Gesamtvertrag als gemischtes Verhältnis ..................................................... 27

D. Die Abgrenzung des Planervertrags vom Bauwerkvertrag .................................. 27

2. Der Abschluss von Planerverträgen ............................................................................ 28

A. Die Entstehung des Planervertrages ....................................................................... 28

B. Die Parteien des Planervertrages ............................................................................ 30

C. Die Form des Planervertrages ............................................................................. 30

3. Das Planerhonorar ...................................................................................................... 31

A. Allgemeines ............................................................................................................. 31

B. Die Bemessung des Honorars ................................................................................. 31

Die Höhe des Honorars wird vereinbart ............................................................... 31

Die Höhe des Honorars wird nicht vereinbart ....................................................... 32

C. Der Ersatz von Auslagen ...................................................................................... 33

4. Die Beendigung von Planerverträgen .......................................................................... 33

A. Die ordentliche Beendigung durch Erfüllung ............................................................ 33

B. Der Aufhebungsvertrag ............................................................................................ 34

C. Die Beendigung durch Kündigung ........................................................................ 34

Allgemeines .......................................................................................................... 34

Die Kündigung des Planervertrags (als Werkvertrag) .......................................... 35

Die Kündigung des Planerauftrags ....................................................................... 35

Die Bestimmungen der SIA-Ordnungen ............................................................... 36

5. Die SIA-Ordnungen für Leistungen und Honorare (LHO) ............................................ 36

A. Die SIA-Ordnungen als Allgemeine Vertragsbedingungen für Architekten und Ingenieure ....................................................................................................................... 36

B. Zur Übernahme der SIA-Ordnungen (LHO) ............................................................. 37

C. Zur rechtlichen Qualifikation des SIA-Vertrages .................................................. 38

D. Aufbau der LHO ................................................................................................... 39

E. Zu den Allgemeinen Vertragsbedingungen der SIA-Ordnungen (am Beispiel der SIA-Ordnung 103) ........................................................................................................... 39

F. Zu den Leistungsbeschrieben (am Beispiel der SIA-Ordnung 103) ......................... 41

IV. Die Haftung der Planer ................................................................................................. 43

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft V

1. Allgemeines zur Haftung des Planers ......................................................................... 43

2. Grundlagen der vertraglichen Haftung ........................................................................ 43

3. Voraussetzungen der vertraglichen Haftung ............................................................... 44

Allgemeines ............................................................................................................. 44

Der Schadenersatzanspruch ................................................................................... 44

Die Voraussetzungen im Überblick ...................................................................... 44

Die Vertragsverletzung ......................................................................................... 45

Der Schaden ........................................................................................................ 45

Der Kausalzusammenhang .................................................................................. 47

Das Verschulden .................................................................................................. 47

Kasuistik ............................................................................................................... 48

A. Die Genugtuung ....................................................................................................... 48

B. Die weiteren Ansprüche des Bauherrn .................................................................... 49

C. Vertragliche Regelung der Haftung: Einschränkung oder Verschärfung .............. 49

D. Die Prüfungs- und Rügeobliegenheit im werkvertraglichen Bereich .................... 50

Die Prüfungsobliegenheit ..................................................................................... 50

Die Rügeobliegenheit ........................................................................................... 50

Die Genehmigung ................................................................................................ 51

Abweichende vertragliche Regelungen ................................................................ 51

E. Die Schadenminderungspflicht im auftragsrechtlichen Bereich ............................... 51

F. Die Verjährung ......................................................................................................... 51

Verjährung bei Ansprüchen aus einem Mangel ................................................... 51

Verjährung bei Ansprüchen aus anderen Vertragsverletzungen .......................... 52

Zusammenzug ...................................................................................................... 53

Unterbrechung der Verjährung, Verjährungsverzichtserklärung .......................... 53

4. Die Prüfungs-, Rüge- und Verjährungsvorschriften gemäss den SIA-Ordnungen (LHO) 53

5. Die Haftungsregelung gemäss SIA 1001/1, Planer-/Bauleitungsvertrag ..................... 54

6. Die ausservertragliche Haftung ................................................................................... 55

A. Haftung aus unerlaubter Handlung (Art. 41 ff. OR) .................................................. 55

a) Begriff ................................................................................................................... 55

b) Voraussetzungen ................................................................................................. 55

c) Zur Widerrechtlichkeit ........................................................................................... 56

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft VI

d) Zur Verjährung der Ansprüche aus unerlaubter Handlung ................................... 56

e) Art. 41 OR als Grundlage der Haftung der Subplaner gegenüber dem Bauherrn 57

f) Art. 41 OR als Grundlage der Haftung des Planers gegenüber den Unternehmern und anderen Planern ................................................................................................... 57

g) Art. 41 OR als Grundlage der Haftung des Planers gegenüber Dritten ............... 57

B. Die ausservertragliche Haftung des Planers als Geschäftsherr .............................. 57

V. Strafrecht auf dem Bau ................................................................................................. 58

1. Einleitung ..................................................................................................................... 58

2. Vorsatz und Fahrlässigkeit .......................................................................................... 59

Allgemeines ............................................................................................................. 59

Vorsatz ..................................................................................................................... 59

Fahrlässigkeit ....................................................................................................... 59

3. Tätigkeits- und Erfolgsdelikte ...................................................................................... 60

4. Zum Unterlassungsdelikt ............................................................................................. 60

Liegt ein Tun oder ein Unterlassen vor? .................................................................. 60

Die hypothetische Kausalität .................................................................................... 61

Die Garantenstellung ............................................................................................ 62

Allgemeines .......................................................................................................... 62

Garantenstellung aufgrund des Gesetzes ............................................................ 62

Garantenstellung aufgrund eines Vertrages ......................................................... 62

Garantenstellung aufgrund einer Lebens- und Gefahrengemeinschaft ............... 63

Garantenstellung durch die Schaffung einer Gefahr ............................................ 63

5. Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben ............................................................. 63

Die vorsätzliche Tötung ........................................................................................... 63

Die fahrlässige Tötung ............................................................................................. 64

Die einfache und die schwere Körperverletzung .................................................. 64

Allgemeines .......................................................................................................... 64

Vorsatz und Fahrlässigkeit, Unterlassung ............................................................ 65

Offizial- und Antragsdelikt .................................................................................... 65

6. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen (Sachbeschädigung) ............................ 65

7. Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde ........................................... 66

Allgemeines ............................................................................................................. 66

Täter und Tat ........................................................................................................... 66

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft VII

Zu den anerkannten Regeln der Baukunde ......................................................... 67

8. Kasuistik ...................................................................................................................... 68

VI. Der Grundstückkauf ...................................................................................................... 71

1. Begriff .......................................................................................................................... 71

2. Abgrenzungsfragen ..................................................................................................... 71

3. Formzwang: Öffentliche Beurkundung ........................................................................ 72

4. Die Hauptpflicht des Verkäufers: Die Besitzes- und Eigentumsverschaffungspflicht .. 74

5. Die Hauptpflicht des Käufers: Die Bezahlung des Kaufpreises ................................... 74

6. Die Rechtsgewährleistung ........................................................................................... 75

7. Die Sachgewährleistung .............................................................................................. 76

A. Der Sachmangel ...................................................................................................... 76

B. Die Gewährleistungsbeschränkungen ..................................................................... 77

C. Die Mängelrechte des Käufers ............................................................................. 79

Das Wandelungsrecht .......................................................................................... 79

Das Minderungsrecht ........................................................................................... 80

Das Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens ................................................. 80

D. Die Prüfungs- und Rügepflicht des Grundstückkäufers ....................................... 80

E. Die Verjährung ......................................................................................................... 81

VII. Die Bauversicherungen ................................................................................................ 82

1. Die Versicherungen rund um den Bau ........................................................................ 82

Einleitung ................................................................................................................. 82

Die Elemente des Bauschadenfalles ....................................................................... 82

2. Die Baugarantie ........................................................................................................... 83

Allgemeines ............................................................................................................. 83

Die Werk- oder Gewährleistungsgarantie ................................................................ 83

Die Erfüllungsgarantie .......................................................................................... 84

Die Anzahlungsgarantie ....................................................................................... 84

Die Deckung in zeitlicher Hinsicht ............................................................................ 84

3. Die Bauwesenversicherung ......................................................................................... 84

Allgemeines ............................................................................................................. 84

Die versicherten Gefahren ....................................................................................... 85

Zur Vorleistungspflicht .......................................................................................... 85

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft VIII

Die Ohnehinkosten ............................................................................................... 86

4. Zu den Haftpflichtversicherungen ................................................................................ 86

Allgemeines ............................................................................................................. 86

Die Leistungen der Haftpflichtversicherungen ......................................................... 86

Versichert ist der Haftpflichtige! ............................................................................ 87

Versicherung nur im Rahmen des versicherten Risikos ....................................... 87

Leistungen nur im Rahmen der Deckung ................................................................ 87

Der zeitliche Geltungsbereich .................................................................................. 88

Zum Eigenschaden .............................................................................................. 89

Die Versicherung als Mitglied einer ARGE ........................................................... 89

Der Aufbau des Haftpflichtversicherungsvertrags .................................................... 89

5. Die Betriebshaftpflichtversicherung des Unternehmers .............................................. 89

Allgemeines ............................................................................................................. 89

Die Deckung in zeitlicher und materieller Hinsicht ................................................... 90

Keine Deckung für Baumängel! ............................................................................ 90

6. Die Bauherrenhaftpflichtversicherung ......................................................................... 90

Allgemeines ............................................................................................................. 90

Das versicherte Risiko ............................................................................................. 90

Die Deckung in zeitlicher und materieller Hinsicht ............................................... 91

Die Aufklärungspflicht des Architekten ................................................................. 91

7. Die Berufshaftpflichtversicherung des Planers ............................................................ 91

Das versicherte Risiko ............................................................................................. 91

Die Deckung in zeitlicher und materieller Hinsicht ................................................... 92

Die wesentlichen Deckungsausschlüsse ............................................................. 93

Zur objektbezogenen Haftpflichtversicherung ...................................................... 94

8. Die Bauplatzversicherung ............................................................................................ 94

VIII. Altlastenrecht ................................................................................................................ 95

1. Vorbemerkungen ......................................................................................................... 95

2. Begriffe ........................................................................................................................ 95

3. Kataster der belasteten Standorte (KBS) .................................................................... 95

4. Die Kostenverteilung gemäss Art. 32d USG ............................................................... 96

5. Die Haftung für «Bauherren-Altlasten» (Art. 32bbis USG) ............................................ 97

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft IX

6. Gebäudeschadstoffe ................................................................................................... 97

Asbest ...................................................................................................................... 97

Radon ...................................................................................................................... 99

7. Die Vertragsgestaltung im Zusammenhang mit Kontaminationsmängel ................... 100

Ausgangslage ........................................................................................................ 100

Die Freizeichnung für Kontaminationsmängel ....................................................... 100

8. Die Sicherstellungs- und Bewilligungspflicht nach Art. 32dbis USG ........................... 101

IX. Eigentum ...................................................................................................................... 102

1. Einleitung ................................................................................................................... 102

2. Besitz und Grundbuch ............................................................................................... 103

Besitz und Grundbuch als Publizitätsmittel ............................................................ 103

Der Besitz .............................................................................................................. 103

Das Grundbuch .................................................................................................. 104

Allgemeines ........................................................................................................ 104

Aufbau ................................................................................................................ 104

Eintragungen ...................................................................................................... 105

Negative Rechtskraft des Grundbuchs ............................................................... 105

Positive Rechtskraft des Grundbuchs ................................................................ 106

3. Inhalt des Eigentums ................................................................................................. 106

4. Umfang des Eigentums ............................................................................................. 107

Einleitung ............................................................................................................... 107

Bestandteile ........................................................................................................... 107

Umfang des Grundeigentums ............................................................................ 107

Grundstück als dreidimensionaler Körper .......................................................... 107

Das Ausübungsinteresse ................................................................................... 108

Grundstücksgrenze "oben" ................................................................................. 108

Grundstücksgrenze "unten" ................................................................................ 109

Das Akzessionsprinzip ....................................................................................... 111

X. Beschränkte dingliche Rechte ................................................................................... 112

1. Einleitung ................................................................................................................... 112

2. Dienstbarkeiten .......................................................................................................... 112

Einleitung ............................................................................................................... 112

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft X

Grunddienstbarkeiten ............................................................................................. 113

Personaldienstbarkeiten ..................................................................................... 114

3. Grundpfandrechte ...................................................................................................... 114

Einleitung ............................................................................................................... 114

XI. Das Bauhandwerkerpfandrecht ................................................................................. 117

1. Einleitung ................................................................................................................... 117

2. Die Voraussetzungen der Errichtung des Bauhandwerkerpfandrechts ..................... 118

Die Forderung des Bauhandwerkers ..................................................................... 118

Das Grundstück als Pfandobjekt ............................................................................ 120

Die Ablösung des Bauhandwerkerpfandrechts durch hinreichende Sicherheit .. 121

3. Die Errichtung des Bauhandwerkerpfandrechts ........................................................ 121

Die Frist zur Eintragung ......................................................................................... 121

Das Verfahren auf Eintragung ............................................................................... 123

4. Die Wirkungen des Bauhandwerkerpfandrechts ....................................................... 124

XII. Die Submission ........................................................................................................... 126

1. Einleitung ................................................................................................................... 126

2. Das Submissionsverfahren ........................................................................................ 126

Die Ausschreibung ................................................................................................. 126

Die Einreichung der Angebote ............................................................................... 126

Der Vergabeentscheid («Zuschlag») .................................................................. 127

Der Vertragsabschluss ....................................................................................... 127

3. Das Submissionsverhältnis ....................................................................................... 127

4. Die Rechtsbehelfe des nichtberücksichtigten Submittenten ...................................... 128

A. Die Haftung aus «culpa in contrahendo» ............................................................... 128

B. Die Anfechtung des Zuschlags mittels Beschwerde in der öffentlichen Submission 129

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XI

Literaturverzeichnis DONATSCH ANDREAS/

TAG BRIGITTE

Strafrecht I, Verbrechenslehre, 9. Aufl., Zü-rich/Basel/Genf 2013 (zit. DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. …)

FUHRER STEPHAN Bauversicherungen, Skript Spezialisie-rungskurs "Fachanwalt Bau- und Immobi-lienrecht" 2008/2009, Zürich 2009 (zit. FUH-

RER, Bauversicherungen, S. …)

GAUCH PETER/

SCHLUEP WALTER R./

SCHMID JÖRG/

EMMENEGGER SUSAN

Schweizerisches Obligationenrecht, Allge-meiner Teil, Bd. I, 10. Aufl., Zürich/Ba-sel/Genf 2014 (zit. GAUCH, OR AT, Bd. I, Nr. …)

GAUCH PETER Der Werkvertrag, 5. Aufl., Zürich 2011 (zit. GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. …)

GAUCH PETER/

TERCIER PIERRE (Hrsg.)

Das Architektenrecht, 3. Aufl., Freiburg 1995 (zit. BEARBEITER, Das Architekten-recht, Rz. …)

SCHMID JÖRG/

HÜRLIMANN-KAUP BETTINA

Sachenrecht, 5. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2017 (zit. SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sa-chenrecht, Nr. …)

SCHMID JÖRG/

STÖCKLI HUBERT/

KRAUSKOPF FRÉDÉRIC

Schweizerisches Obligationenrecht, Beson-derer Teil, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2016 (zit. SCHMID/STÖCKLI/KRAUSKOPF, OR BT, Nr. …)

SIEGENTHALER THOMAS Neue SIA-Ordnungen 102/103 – was Planer und Bauherren wissen müssen, in: Ta-gungsband Schweizerische Baurechtsta-gung, Freiburg 2015, S. 27 ff. (zit. SIEGENT-

HALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. …)

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XII

STÖCKLI HUBERT/

SIEGENTHALER THOMAS

(Hrsg.)

Die Planerverträge, Verträge mit Architek-ten und Ingenieuren, Zürich/Basel/Genf 2013 (zit. BEARBEITER, Die Planerverträge, Nr. … zu § …)

STRATENWERTH GÜNTER/

WOHLERS WOLFGANG

Schweizerisches Strafgesetzbuch, Hand-kommentar, 3. Aufl., Bern 2013 (zit. STRA-

TENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N … zu Art. … StGB)

NIGGLI MARCEL ALEXANDER/

WIPRÄCHTIGER HANS

Basler Kommentar, Strafrecht II, Art. 111-392 StGB, 3. Aufl., Basel 2013 (zit. BEAR-

BEITER, BaKomm Strafrecht III, N … zu Art. … StGB)

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XIII

Abkürzungsverzeichnis a.a.O. am angeführten Ort

AB Allgemeine Bedingungen

Abs. Absatz

AGB Allgemeine Geschäftsbedingungen

allg. allgemein/e

AltlV Verordnung über die Sanierung von belasteten Standorten vom 26. August 1998 (Altlasten-Verordnung, SR 814.680)

a.M. anderer Meinung

ARGE Arbeitsgemeinschaft

Art. Artikel

AS Amtliche Sammlung des Bundesrechts

AT Allgemeiner Teil

Aufl. Auflage

BAFU Bundesamt für Umwelt

BaKomm Basler Kommentar

BauG AG Gesetz über Raumentwicklung und Bauwesen des Kanton Aargaus vom 19. Januar 1993 (Baugesetz, Syst. Nr. 713.100)

BB Besondere Bedingungen

Bd. Band

BGE Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Schweizeri-schen Bundesgerichts

BGer Bundesgericht

BNO Bau- und Nutzungsordnung

BR Baurecht (Fribourg)

Bsp. Beispiel

BT Besonderer Teil

BV Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossen-schaft vom 18. April 1999 (SR 101)

bzw. beziehungsweise

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XIV

ChemRRV Verordnung zur Reduktion von Risiken beim Umgang mit bestimmten besonders gefährlichen Stoffen, Zubereitun-gen und Gegenständen vom 18. Mai 2005 (Chemikalien-Risikoreduktions-Verordnung, SR 814.81)

CHF Schweizer Franken

d.h. das heisst

Dr. jur. doctor juris (Doktor der Rechtswissenschaft)

E. Erwägung

etc. et cetera

ETH Eidgenössische technische Hochschule

ethz ETH Zürich

f. und folgende/folgender (Seite, Randnummer etc.)

ff. und fortfolgende (Seiten, Randnummern etc.)

GBV Grundbuchverordnung vom 23. September 2011 (SR 211.432.1)

GebVG AG Gesetz über die Gebäudeversicherung des Kanton Aar-gaus vom 19. September 2006 (Gebäudeversicherungsge-setz, Syst. Nr. 673.100)

GwG Bundesgesetz über die Bekämpfung der Geldwäscherei und der Terrorismusfinanzierung vom 10. Oktober 1997 (Geldwäschereigesetz, SR 955.0)

HandKomm Handkommentar

hest. Gesundheitswissenschaften und Technologie

Hrsg. Herausgeber

HS Herbstsemester

i.d.R. in der Regel

inkl. inklusive

insb. insbesondere

i.V.m. in Verbindung mit

KBS Kataster der belasteten Standorte

LHO Ordnungen für Leistungen und Honorare

lit. litera

LRV Luftreinhalte-Verordnung vom 16. Dezember 1985 (SR 814.318.142.1)

m Meter

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XV

m2 Quadratmeter

MWST. Mehrwertsteuer

N Note, Randnote

Nr. Nummer, Randnummer

OR Bundesgesetz vom 30. März 1911 betreffend die Ergän-zung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht, SR 220)

Pra Die Praxis (Basel)

recht recht (Bern)

resp. respektive

RPG Bundesgesetz über die Raumplanung vom 22. Juni 1979 (Raumplanungsgesetz, SR 700)

Rz. Randziffer

S. Seite

SAV Schweizerischer Anwaltsverband

SBB Schweizerische Bundesbahnen

SIA Schweizerischer Ingenieur- und Architektenverein

Norm SIA 118 Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten (SIA-Norm 118)

SIA-Ordnung 102 Ordnung für Leistungen und Honorare der Architektinnen und Architekten

SIA-Ordnung 103 Ordnung für Leistungen und Honorare der Bauingenieurin-nen und Bauingenieuren

SIA-Ordnung 104 Ordnung für Leistungen und Honorare der Forstingenieure und Forstingenieurinnen

SIA-Ordnung 105 Ordnung für Leistungen und Honorare der Landschaftsar-chitektinnen und Landschaftsarchitekten

SIA-Ordnung 106 Ordnung für Leistungen und Honorare der Geologinnen und Geologen

SIA-Ordnung 108 Ordnung für Leistungen und Honorare der Ingenieurinnen und Ingenieure der Bereiche Gebäudetechnik, Maschinen-bau und Elektrotechnik

SIA-Ordnung 110 Ordnung für Leistungen und Honorare der Raumplanerin-nen und Raumplaner auf den Gebieten der kommunalen Gesamtplanung und der Sondernutzungsplanung

SIA-Ordnung 1001/1 Planer-/Bauleitungsvertrag

sog. so genannt/e

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XVI

SR Systematische Sammlung des Bundesrechts (= RS)

StGB Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezember 1937 (SR 311.0)

StoV Verordnung über umweltgefährdender Stoffe vom 9. Juni 1986 (Stoffverordnung, SR 814.013)

StSV Strahlenschutzverordnung vom 26. April 2017 (SR 814.501)

SVG Strassenverkehrsgesetz vom 19. Dezember 1958 (SR 741.01)

Syst. Nr. Systematische Nummer

t Tonne

u.a. unter anderem/anderen

USG Bundesgesetz über den Umweltschutz vom 7. Oktober 1983 (Umweltschutzgesetz, SR 814.01)

usw. und so weiter

vgl. vergleiche

VVG Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag vom 2. April 1908 (Versicherungsvertragsgesetz, SR 221.229.1)

W2-Zone Wohnzone mit zwei zulässigen Vollgeschossen

ZB Zusatzbedingungen

z.B. zum Beispiel

ZGB Schweizerisches Zivilgesetzbuch vom 10. Dezember 1907 (SR 201)

zit. zitiert als

ZPO Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, SR 272)

z.T. zum Teil

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft XVII

Materialienverzeichnis

Auszug aus der SIA-Ordnung 102 ............................................................................. Anhang 1

Auszug aus der SIA-Ordnung 103 ............................................................................. Anhang 2

Auszug aus der SIA-Ordnung 108 ............................................................................. Anhang 3

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 1

I. Einführung

1. Was bedeutet "Baurecht"…

A. Allgemeines

1 Die Rechtsordnung kennt unterschiedlichste Rechtsgebiete, welche sich manchmal genau ab-grenzen lassen, und manchmal nicht so genau.

2 Es gibt bspw. das Strafrecht, welchem man ohne Probleme sein wichtigstes Gesetz zuordnen kann, nämlich das Strafgesetzbuch. Dort sind die mit Strafe bedrohten Tatbestände aufgeführt, und der zugehörige Strafrahmen auch gerade noch. Es gibt aber auch in vielen anderen Ge-setzen Strafnormen.

3 Dann gibt es beispielsweise das Obligationenrecht, welches durch ein einziges Gesetz, das OR, repräsentiert und dargestellt wird. Natürlich gibt es auch in anderen Gesetzen vertrags-rechtliche Bestimmungen.

4 Beim Baurecht gibt es kein Gesetz, welches die wichtigsten baurechtlichen Normen erfassen würde. Es ist nicht so, dass der Gesetzgeber einmal ein Baurecht erlassen hätte, wie er einmal ein Strafgesetzbuch, ein Obligationenrecht oder ein Zivilgesetzbuch erlassen hat. Und dass man für Baurecht einfach ein Gesetz oder ein Buch aus dem Regal ziehen könnte.

5 Baurecht ist weder ein definierter Begriff, noch ein definiertes Rechtsgebiet.

6 Das Baurecht umfasst jene Teile aus verschiedenen Rechtsgebieten, welche irgendwie mit dem Bauen zu tun haben oder das Bauen betreffen.

7 Es ist ein offener Begriff, und er wird – je nach Verwender – einmal offener und einmal enger gebraucht.

8 Mit der Umschreibung „alle Bestimmungen, welche mit dem Bauen zu tun haben" wird ein immens grosser Rahmen gezogen. Unendlich viele Normen haben mit dem Bauen zu tun. Das Baurecht betrifft viele Rechtsgebiete, und viele Gesetze. Diese wurden zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Gesetzgebern für unterschiedliche Gebiete erlassen, und sind deshalb auch nicht zwingend kohärent und aufeinander abgestimmt.

B. Die Kategorien von Normen im Baurecht

9 Es sind verschiedene Kategorisierungen möglich.

10 Da sind zum einen Bestimmungen, welche umschreiben, was man wo bauen darf. Es gibt Normen, die schreiben vor, wie man bauen muss, wenn man baut; was also alles einzuhalten ist. Sowohl während dem Bauen, wie auch am fertiggestellten Objekt. Dann gibt es Bestim-mungen, welche bestimmte Rechtsgüter schützen, und sich dabei auch an die am Bauen Be-teiligten Parteien richten. Es gibt Bestimmungen, die regeln die Verfahren zwischen den am

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 2

Bauen beteiligten Parteien, und wiederum andere Bestimmungen gestalten die Rechtsverhält-nisse zwischen den am Bauen beteiligten Parteien.

11 Wichtig ist, dass diese Kategorien sich immer wieder überschneiden. Es gibt viele Normen, welche in mehrere Kategorien passen.

Was darf wo gebaut werden?

12 Was darf man wo bauen? Darf man in einem bestimmten Gebiet oder auf einem bestimmten Grundstück überhaupt bauen? Die meisten dieser Bestimmungen, die auf diese Fragen eine Antwort liefern, gehören in den Bereich des öffentlichen Baurechts.

13 Auf der Bundesebene ist die gesetzliche Ordnung dafür primär das RPG, das Bundesgesetz über die Raumplanung. Es ist ein Rahmengesetz, welches den kantonalen und den kommu-nalen Baugesetzen die Leitlinien gibt; zum Teil offen, sehr oft aber schon sehr genau.

14 Die Kantone haben ihre kantonalen Baugesetze, welche im Minimum die Vorgaben des RPG umsetzen.

15 Auf Gemeindeebene werden die Vorgaben der kantonalen Baugesetze in den Bau und Nut-zungsordnungen umgesetzt; oft als BNO abgekürzt.

16 Das sind klassische öffentlich-rechtliche Baunormen. Wir sprechen vom öffentlichen Baurecht. Es sind aber nicht nur diese klassischen Baugesetze, welche das Baurecht ausmachen. Die Baugesetze sind nicht einmal nur das öffentliche Baurecht, auch das öffentliche Baurecht al-lein ist schon sehr viel weiter. Das Bauen wird beispielsweise auch bestimmt von den Umwelt-schutzvorschriften, von den Gewässerschutzvorschriften usw. Auch diese Bestimmungen wei-sen wir dem öffentlichen Baurecht zu.

Wie darf man bauen?

17 Wie man bauen darf, ergibt sich aus Normen, welche unterschiedlichsten Rechtsgebieten zu-zuweisen sind.

18 Während dem Bauen sind die kommunalen Vorschriften (z.B. wie der Strassenraum genutzt werden kann, wann überhaupt gearbeitet werden darf), die Bestimmungen über die Arbeitssi-cherheit, des Arbeitsgesetzes, der Umweltschutzgesetzgebung (z.B. Lärmschutz, Gewässer-schutz, Luftreinhaltung) und natürlich zu jeder Zeit die Regeln der Baukunde zu beachten.

19 Die Frage, wie hoch und wie gross gebaut werden darf, beantworten in der Regel die kommu-nalen Bau- und Nutzungsordnungen. Sie enthalten oft auch Ausnützungsziffern, welche die Masse der Baute im Verhältnis zur Grundstücksgrösse festlegen sowie Abstandsvorschriften von den Grenzen und von anderen Bauten. Neben der BNO können auch Dienstbarkeiten (also privatrechtliche Vereinbarungen mit dinglicher Wirkung – z.B. Abstandsvereinbarungen) mitbestimmend wirken.

20 Wie dick Bodenplatte und Mauerwerk sein müssen oder wie umfassend isoliert werden muss, ergibt sich zum einen aus den Regeln der Baukunde, aber auch aus öffentlich-rechtlichen Vor-schriften oder privaten Vereinbarungen.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 3

Der Schutz bestimmter Rechtsgüter

21 Bestimmungen, welche ganz bestimmte Rechtsgüter schützen und sich dabei auch an die am Bau beteiligten Parteien richten, gibt es sehr viele. Angefangen mit den Bestimmungen über den Persönlichkeitsschutz, also dem Schutz von Leib und Leben, welcher auch strafrechtlich geschützt ist. Dann ist bspw. an die Umweltschutzvorschriften und an die Gewässerschutzvor-schriften zu denken. Die Umweltschutzvorschriften betreffen das Bauen sehr stark, nicht nur, aber auch die Bestimmungen über die Abfallbehandlung, den Lärmschutz und die Luftreinhal-tung. Beim Gewässerschutz z.B. die Bestimmungen über die Grundwasserhaltung usw.

Die Verfahrensregeln

22 Das Baurecht betreffen auch Bestimmungen über das Verhältnis zwischen denen, die bauen wollen und den Behörden, welche darüber entscheiden, ob und wie gebaut werden darf. Also das Verhältnis zwischen dem Bauherrn und den Behörden; sei dies der Gemeinderat oder sei dies bei einem Weiterzug eines unangenehmen Entscheides das Baudepartement, der Regie-rungsrat, das Verwaltungsgericht oder dann das Bundesgericht. Diese Bestimmungen sind einerseits in den Baugesetzen selber und andererseits in den Verfahrensgesetzen, welche Bund und Kantone erlassen haben, enthalten.

Das Rechtsverhältnisse zwischen den am Bauen beteiligten "privaten" Parteien

23 Neben all diesen Regelungen gehören jene Bestimmungen zum Baurecht, welche das Ver-hältnis zwischen den verschiedenen privaten Baubeteiligten regeln. Diese fassen wir im Über-begriff "Privates Baurecht" zusammen.

24 Der Ausdruck "private Parteien" muss insofern relativiert werden, als das private Baurecht auch für das Gemeinwesen gilt, wenn es dem Privaten nicht hoheitlich gegenübertritt. So wird der Werkvertrag zwischen Gemeinde und Strassenbauer vom privaten Baurecht erfasst.

25 Dabei handelt es sich nicht nur um Regeln, die für das private Baurecht wichtig sind, sondern vielmehr um allgemeine Bestimmungen, wie sie auch zwischen allen privaten Rechtsträgern in völlig anderen Gebieten zur Anwendung gelangen können. Diese Bestimmungen haben aber konkret einen Bezug zum Baurecht. Das Werkvertragsrecht gilt bspw. ebenso, wenn der Bäcker ein Brot auf Bestellung zu backen hat, wie wenn der Baumeister ein Haus zu erstellen hat. Was ins private Baurecht gehört, ist also durch das Bauen an sich bestimmt und basiert nicht auf einer rechtlichen Zuordnung.

C. Die Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Baurecht

26 Die Abgrenzung zwischen öffentlichem und privatem Baurecht ist nicht immer einfach vorzu-nehmen. Man kann es vereinfacht so ausdrücken, dass das private Baurecht die Verhältnisse zwischen den privaten Baubeteiligten regelt. Es basiert in der Regel auf Vereinbarungen, wel-che die Baubeteiligten untereinander abgeschlossen haben. Der Bauherr hat z.B. mit dem Baumeister einen Werkvertrag abgeschlossen oder der Bauherr mit dem Planer einen Planer-vertrag. Diese Verträge regeln dann die Verhältnisse zwischen diesen Baubeteiligten.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 4

27 Demgegenüber regelt das öffentliche Baurecht die Verhältnisse zwischen dem Gemeinwesen und den Baubeteiligten. Gemeinwesen verschiedener Stufen - also Bund, Kanton und Ge-meinde. Im Gegensatz zu den Bestimmungen des privaten Baurechts kommen die öffentlich-rechtlichen Bestimmungen immer zur Anwendung. Sie gelten also unabhängig davon, ob eine Vereinbarung zwischen dem Gemeinwesen und dem Baubeteiligten getroffen worden ist. In aller Regel können im Bereich des öffentlichen Baurechts gar keine Vereinbarungen zwischen dem Gemeinwesen und dem Baubeteiligten getroffen werden. So kann die Gemeinde mit ei-nem Bauherrn nicht vereinbaren, dass er in einer W2-Zone vierstöckig bauen darf. Tut sie es trotzdem, hat diese Vereinbarung bspw. gegenüber den Nachbarn keine Wirkung. In gewissen eng begrenzten Bereichen besteht allerdings ein Vereinbarungsspielraum, so z.B. bei einer Ausnützungsübertragung.

2. Die Grundlagen des privaten Baurechts

A. Das Obligationenrecht (OR)

28 Hauptquelle des Privatrechts (und damit auch des privaten Baurechts) ist das Zivilgesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht (OR). Das ZGB und der erste Teil des OR sind 1912 in Kraft getreten. Dass das OR in einem separaten «Gesetzbuch» kodifiziert ist, beruht wohl auf dem Umstand, dass es in einer früheren Fassung schon vor dem ZGB, nämlich 1881 in Kraft trat. In der Fassung von 1912 bildet das OR materiell den fünften Teil des ZGB (offizielle Bezeich-nung: «Bundesgesetz betreffend die Ergänzung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Fünfter Teil: Obligationenrecht) ». ZGB und OR bilden eine Einheit. Insbesondere gelten die allgemeinen Bestimmungen des ZGB für das OR und umgekehrt.

29 Die Systematische Sammlung des Bundesrechts (SR) ist abrufbar unter https://www.ad-min.ch/gov/de/start/bundesrecht/systematische-sammlung.html.

30 Das OR besteht aus fünf Abteilungen. Die «Erste Abteilung» umfasst die «Allgemeinen Best-immungen» (Art. 1 – 183). Die «Zweite Abteilung» regelt «Die einzelnen Vertragsverhältnisse» (Art. 184 – 551).

31 Zu den in der zweiten Abteilung des OR geregelten Vertragsverhältnissen zählen auch «Der Werkvertrag» (Art. 363 – 379) und «Der Auftrag» (Art. 394 – 418). Diese beiden Vertragsfor-men sind für das private Baurecht von eminenter Bedeutung. Ihre gesetzliche Regelung ist sehr kurz und seit ihrer Inkraftsetzung (1912) weitestgehend unverändert geblieben.

32 Im Privatrecht gilt der Grundsatz der (Vertrags-)Inhaltsfreiheit. Gemäss Art. 19 Abs. 1 OR kann der Inhalt des Vertrages «innerhalb der Schranken des Gesetzes beliebig festgestellt werden». Ein Vertrag verstösst gegen die Schranken des Gesetzes, wenn er gegen eine öffentlich-recht-liche Vorschrift (z.B. Asbestverbot) oder gegen eine «unabänderliche Vorschrift» (Art. 19 Abs. 2 OR) des Privatrechts (z.B. das jederzeitige Kündigungsrecht eines Auftrages gemäss Art. 404 OR) verstösst. Welche Bestimmungen des Privatrechts «unabänderlich» sind, sagt das Gesetz fast nie. In den meisten Fällen muss dies durch Auslegung ermittelt werden. Man kann aber feststellen, dass zwingendes Privatrecht selten ist. In den allermeisten Fällen sind die Parteien frei, vom Gesetz durch Abrede abzuweichen.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 5

33 Ein Aspekt der (Vertrags-)Inhaltsfreiheit ist die (Vertrags-)Typenfreiheit. Die Parteien sind also nicht gebunden, bspw. einen Werkvertrag oder einen Auftrag abzuschliessen. Sie können ohne weiteres auch einen Vertrag eingehen, der im Gesetz (insb. in der zweiten Abteilung des OR) nicht geregelt ist.

34 Verträge sind grundsätzlich ohne Einhaltung einer bestimmten Form gültig (vgl. Art. 11 Abs. 1 OR): «Verträge bedürfen zu ihrer Gültigkeit nur dann einer besonderen Form, wenn das Ge-setz eine solche vorschreibt». Im Bereich des privaten Baurechts gibt es grundsätzlich keine Vorschriften, die eine besondere Form vorschreiben. Bauverträge können also (auch wenn sie etwa aufgrund der versprochenen Vergütung von immenser Bedeutung sind) ohne weiteres mündlich abgeschlossen werden. Davon gibt es eine wichtige Ausnahme: Gemäss Art. 216 Abs. 1 OR bedürfen Kaufverträge, die ein Grundstück zum Gegenstand haben, zu ihrer Gül-tigkeit der öffentlichen Beurkundung. Ferner ist zu beachten, dass die Parteien durch Abrede eine bestimmte Form vorbehalten können (Art. 16 OR; z.B. Schriftlichkeitsvorbehalt), was in Bauverträgen oft geschieht.

35 Gemäss Art. 18 Abs. 1 OR ist bei der Beurteilung eines Vertrages sowohl nach Form als nach Inhalt der übereinstimmende wirkliche Wille und nicht die unrichtige Bezeichnung oder Aus-drucksweise zu beachten, die von den Parteien aus Irrtum oder in der Absicht gebraucht wird, die wahre Beschaffenheit des Vertrages zu verbergen. Die Parteien können z.B. nicht rechts-beständig einen Vertrag, der inhaltlich einen Auftrag darstellt, einfach (z.B. durch Wahl einer entsprechenden Überschrift) zum Werkvertrag machen, weil sie z.B. das zwingende Kündi-gungsrecht des Auftragsrecht vermeiden möchten.

B. Die Rechtsprechung

36 Das Bundesgericht ist die oberste rechtsprechende Behörde des Bundes (Art. 188 Abs. 1 BV). Es hat dafür zu sorgen, dass das Bundesrecht (also auch das Bundesprivatrecht) einheitlich angewendet wird. Ganz besonders im Bereich des Privatrechts versteht sich das Bundesge-richt nicht als sog. appellatorische Instanz. Das bedeutet, dass das Bundesgericht die Fälle nicht noch einmal umfassend prüft, sondern sich im Wesentlichen auf die richtige Anwendung des Bundesrechts konzentriert. An die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts ist das Bundesgericht weitestgehend gebunden.

37 Auch wenn die Rechtsprechung – im Gegensatz zum anglo-amerikanischen Recht – keine primäre Rechtsquelle ist, kann die Bedeutung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung gar nicht genügend hoch eingeschätzt werden. Auch wenn streng genommen untere Gericht an bundesgerichtliche Entscheide nicht gebunden sind, wollen sie natürlich nicht, dass ihre Ent-scheide durch obere Instanzen aufgehoben werden. Aufgrund der Macht des Faktischen gilt daher, was das Bundesgericht sagt. Jedenfalls solange bis das Bundesgericht seine Recht-sprechung nicht ändert.

38 Die Rechtsprechung des Bundesgerichts ist online abrufbar unter http://www.bger.ch/index/ju-ridiction/jurisdiction-inherit-template/jurisdiction-recht.htm.

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3. Die SIA-Normen und die Normen anderer Verbände 39 Die Normen des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) haben in der Praxis

eine sehr grosse Bedeutung, weil sie unter vielen Aspekten als ausgewogen und daher von der Praxis als akzeptiert gelten. Das gilt ganz besonders für die SIA-Norm 118 «Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten» und die diversen SIA-Ordnungen für Planer (Ordnungen SIA 102 ff.).

40 Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (BGE 117 II 284) gelten die Normen des SIA nicht als regelbildende Übung. Das gilt auch (oder erst recht) für Normen anderer Verbände. Sie sind daher für die Vertragsparteien grundsätzlich nur verbindlich, wenn sie von den Par-teien vertraglich (durch ausdrückliche oder stillschweigende Abrede) übernommen wurden.

41 In der Praxis kommt es oft vor, dass bedeutende Nachfrager (grosse Bauherren, General- und Totalunternehmer) standardisierte Vertragsformulare verwenden. Diese enthalten zuweilen auch Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) mit abweichenden Regelungen zur SIA-Norm 118. Auch diese gelten nur, wenn sie im konkreten Fall durch individuelle Abmachung zum Vertragsinhalt erhoben wurden.

4. Die Parteien im privaten Baurecht 42 Wir haben gehört, dass das private Baurecht ein sehr breites Rechtsgebiet ist und eigentlich

alle Verhältnisse erfasst, welche zwischen den privaten Baubeteiligten gelten. Der Kreis der Mitspieler im privaten Baurecht ist also faktisch unbegrenzt.

43 Es ist sehr wichtig, dass man sich bei jeder rechtlichen Beurteilung eines Verhältnisses Re-chenschaft darüber gibt, wer eigentlich mit wem in welchem vertraglichen Verhältnis steht. Was in der Theorie so einfach klingt, ist in der Praxis aber nicht immer.

44 Nachfolgend werden daher die klassischen Mitspieler kurz vorgestellt.

Der Bauherr

45 Der Bauherr lässt bauen, er ist der Herr des Bauens, oder sollte es wenigsten sein. Oft ist der Bauherr der Grundeigentümer, er muss es aber nicht sein. Bauherr kann auch sein, wer auf fremdem Grund und Boden ein Werk errichten lässt. Der Begriff des Bauherrn ist kein rechtlich definierter Begriff. Die einzelnen Gesetzesbestimmungen verwenden andere Begriffe. Im Werkvertragsrecht ist der Bauherr oft der Besteller, im Auftragsrecht ist er hingegen der Auf-traggeber.

Der Unternehmer

46 Im privaten Baurecht sind unzählige Unternehmer tätig, sowohl im Bauhauptgewerbe als auch im Baunebengewerbe. Ihr Aufgabengebiet ist je nach Vertrag unterschiedlich gross.

47 Die drei typischen Erscheinungsformen des Bauunternehmers sind der Teilunternehmer, der Generalunternehmer und der Totalunternehmer. Diese Erscheinungsformen begegnen uns bei der Ausführung vieler grösserer Bauvorhaben. Es sind aber nicht rechtlich geordnete Un-

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 7

ternehmerformen, sondern Tatsachen der Lebenswirklichkeit.1 Während die Begriffe des Ge-neralunternehmers und des Totalunternehmers geläufig sind, ist dies der Begriff des Teilun-ternehmens noch nicht so. Meistens wird einfach von Unternehmer gesprochen.

Der Teilunternehmer

48 Der Teilunternehmer (oft auch Einzelunternehmer oder einfach Unternehmer genannt) ist der Bauunternehmer im herkömmlichen, klassischen Sinne. Er beteiligt sich neben zahlreichen anderen Bauunternehmen an der Errichtung eines grösseren Gesamtwerkes.2 An diesem er-bringt er eine Einzelleistung, resp. ein Teilwerk. Bspw. erstellt der Rohbauunternehmer den Rohbau, der Zimmermann den Dachstuhl, der Spengler die sanitären Anlagen und der Elekt-riker die elektrischen Anlagen.

49 Vertragspartner des Teilunternehmers ist entweder der Bauherr selber, ein Generalunterneh-mer oder ein Totalunternehmer. Der Teilunternehmer kann also auch ein Subunternehmer o-der sogar Sub-Subunternehmer sein.3

50 In der Regel werden die Verhältnisse zwischen Teilunternehmer und Bauherr durch das Werk-vertragsrecht bestimmt.

51 Architekten und Ingenieure sind in unserem Sprachgebrauch nicht Unternehmer.

Der Generalunternehmer

52 Der Begriff des Generalunternehmers ist nicht rechtlich definiert.

53 Der Generalunternehmer übernimmt die gesamte Ausführung einer grösseren Baute. Und zwar aufgrund eines Projektes, das ihm vom Bauherrn übergeben wird, welcher das Projekt durch Architekten oder Ingenieure hat erstellen lassen.4

54 Ein einfaches Beispiel ist der Generalunternehmer, welcher für einen Bauherrn ein Haus er-stellt. Er verpflichtet sich gegenüber dem Bauherrn, ein Einfamilienhaus schlüsselfertig zu er-stellen. Für den Bauherrn gibt es nur einen Werkvertrag, jenen mit dem Generalunternehmer, und auch nur einen Vertragspartner, den Generalunternehmer. Der Generalunternehmer schliesst mit den verschiedenen Unternehmern (dem Baumeister, dem Maler, dem Gipser) eigene Verträge ab, welche ihre Leistungen ihm gegenüber als seine Vertragspartner erbrin-gen. Der Generalunternehmer tritt somit an die Stelle der verschiedenen Unternehmer. Der grosse Vorteil für den Bauherrn ist demnach, dass der Generalunternehmer nun die Koordi-nation der Bauleistungen der einzelnen Unternehmen vorzunehmen hat.

55 Eine Generalunternehmerfunktionen kann weit oder weniger weit sein. Der Generalunterneh-mer muss nicht unbedingt das ganze Werk ausführen, seine Leistung kann sich auch auf ein Teilwerk beschränken. Generalunternehmer ist jene Person, welche unter einem einzigen Ver-trag ein Werk erstellt, welches verschiedene Gewerke und Branchen umfasst.

1 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 217. 2 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 218. 3 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 218. 4 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 223.

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56 Der Generalunternehmer plant gemäss Definition (mit Ausnahme der Ausführungsplanung) nicht. Im klassischen Generalunternehmerverhältnis übergibt der Bauherr dem Generalunter-nehmer die von seinem Planer erstellten Pläne, und lässt diese ausführen. Die Praxis ist in der Terminologie aber nicht immer exakt.

Der Totalunternehmer

57 Plant der Unternehmer selber, ist er Totalunternehmer. Der Totalunternehmer ist ein General-unternehmer, welcher gegenüber dem Bauherrn auch sämtliche Planungsleistungen erbringt. Er ist ein projektierender Generalunternehmer.5 Auch dieser Begriff ist rechtlich nicht definiert.

Der Subunternehmer

58 Der Subunternehmer ist ein Vertragspartner des Unternehmers, welcher Werkleistungen für das dem Bauherrn geschuldete Werk erbringt.

Der Nebenunternehmer

59 Der Nebenunternehmer erstellt aufgrund eines eigenen Werkvertrages mit dem Bauherrn für das gleiche Bauwerk eine Arbeit (Art. 30 SIA-Norm 118). Jeder Teilunternehmer ist also Ne-benunternehmer der anderen Unternehmer.6

Abgrenzungen

60 Wie bereits gesagt, sind die Begriffe "Generalunternehmer“, "Totalunternehmer" und "Gene-ralplaner" nicht genau definiert. Entscheidend ist, was zwischen den Parteien vereinbart ist. Dem entsprechenden Vertrag muss zu entnehmen sein, welche Leistungen dem Unternehmer übertragen sind, und welche Leistungen der Bauherr entweder selber erbringt oder durch an-dere Baubeteiligte ausführen lässt. Diese Abgrenzungen, Schnittstellenprobleme, sind ganz wichtige Aspekte einer sorgfältigen Vertragsgestaltung.

C. Der Lieferant

61 Der Lieferant liefert Baumaterialen. Entweder ist er Vertragspartner des Bauherrn oder des Unternehmers. In der Regel ist das Vertragsverhältnis mit ihm ein Kauf.

D. Der Planer

62 Der Begriff des Planers ist juristisch nicht definiert. Wir fassen den Planer sehr weit, Planer sind auch Personen, welche mit der Erstellung von Plänen nicht sehr viel zu tun haben. Planer sind der Architekt, der Ingenieur, der Bauleiter, alle Fachplaner.

63 Als Gesamtplaner bezeichnen wir den Planer, einen Architekten oder einen Bauingenieur, wel-cher im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben sämtliche Planerleistungen aus seinem Fachbereich, mindestens aber die Projektierung und die Bauleitung, übernimmt. Er ist bezo-gen auf den betreffenden Vertrag ein Gesamtplaner, dessen geschuldete Gesamtleistung in unterschiedliche Teilleistungen zerfällt.7

5 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 233. 6 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 219. 7 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.5 zu § 1.

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E. Der Generalplaner

64 Der Generalplaner ist ein Planer, welcher im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben mehrere Planerleistungen übernimmt; also auch jene aus Fachgebieten, welche nicht sein eigenes Fachgebiet sind. Er übernimmt die Planung und/oder Bauleitung eines Werkes oder Teilwer-kes, mit welchem herkömmlicherweise mehrere Planer beauftragt werden,8 je nachdem sogar die gesamte Planung des gesamten Werkes. Die Fachplaner sind seine Subplaner, mit dem Bauherrn besteht nur ein Vertrag. Die Koordination der unter seinem Vertrag zusammenge-fassten verschiedenen Planerleistungen ist seine Aufgabe; hat er die Gesamtleitung übernom-men, hat er sämtliche Planerleistungen zu koordinieren.

F. Die Versicherung

65 Wichtig im privaten Baurecht ist auch die Versicherungsbranche, für viele Baubeteiligte. Für den Bauherrn mit der Bauherrenhaftpflicht- und der Bauwesenversicherung, für den Unterneh-mer mit der Unternehmenshaftpflichtversicherung, für den Planer mit der Betriebshaftpflicht-versicherung. Die Versicherung sind hier speziell erwähnt, weil vom Planer Kenntnisse über die Möglichkeiten der Versicherung und deren Wirkungen verlangt werden.

5. Der Vertragsabschluss nach den allg. Bestimmungen des OR

A. Die übereinstimmende Willensäusserung

66 Gemäss Art. 1 Abs. 1 OR ist zum Abschluss eines Vertrages die übereinstimmende gegensei-tige Willensäusserung der Parteien erforderlich. Die Willensäusserungen können ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen (Art. 1 Abs. 2 OR).

67 Die Vertragsparteien müssen nicht über den gesamten Vertragsinhalt eine Vereinbarung tref-fen, doch müssen sie sich zumindest über die wesentlichen Vertragspunkte einig sein. In die-sem Zusammenhang wird zwischen objektiv und subjektiv wesentlichen Vertragspunkten un-terschieden. Objektiv wesentlich sind all jene Vertragspunkte, die den unentbehrlichen Kern eines Geschäftes umfassen. Über diese Punkte müssen sich die Parteien unter allen Umstän-den einigen, andernfalls selbst ihre übereinstimmenden Willenserklärungen nicht als Vertrag gelten.9 Bei den subjektiv wesentlichen Punkten handelt es sich um Punkte, die eine «conditio sine qua non», d.h. eine unerlässliche Bedingung für den Abschlusswillen zumindest einer Partei bilden.10

B. Der Antrag und die Annahme

68 Der Austausch der gegenseitigen Willenserklärungen (Antrag und Annahme) kann unter An-wesenden oder unter Abwesenden erfolgen.

8 WERZ, Die Planerverträge, Nr. 16.149 zu § 16. 9 GAUCH, OR AT, Bd. I, Nr. 332. 10 GAUCH, OR AT, Bd. I, Nr. 341.

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69 Sind die Parteien anwesend (telefonisch verbundene Parteien gelten als anwesend), so muss der Antrag, wenn dieser nicht befristet ist, sofort angenommen werden. Andernfalls ist der Antragsteller nicht mehr gebunden (Art. 4 Abs. 1 OR).

70 Wird ein unbefristeter Antrag unter Abwesenden gestellt, bleibt der Antragsteller solange ge-bunden, als er den Eingang der Annahme bei ihrer ordnungsgemässen und rechtzeitigen Ab-sendung erwarten darf (Art. 5 Abs. 1 OR).

71 Im Baubereich werden Anträge oft in Form von schriftlichen Offerten (also unter Abwesenden) unterbreitet. Nimmt der Besteller (Bauherr) diese Offerte fristgerecht an, so ist der Vertrag zustande gekommen. Der Inhalt der Offerte wird damit automatisch zum Vertragsinhalt. Das gilt auch für sog. Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB), insbesondere etwa für die SIA-Norm 118. Sind diese Gegenstand der Offerte, so werden sie bei deren Annahme zum Ver-tragsinhalt und umgekehrt.

72 Antwortet der Empfänger der Offerte mit einem Gegenangebot, in dem er z.B. einen tieferen Preis verlangt, so handelt es sich dabei juristisch gesehen um einen neuen Antrag (zeitlich erste Willenserklärung). Der Vertrag kommt nur zu Stande, wenn dieser neue Antrag von der Gegenpartei angenommen wird.

73 Die Annahme der Offerte kann – was im Baubereich nicht selten vorkommt – durch konklu-dentes Verhalten erfolgen, etwa indem der Unternehmer mit den offerierten Arbeiten beginnt, ohne dass der Besteller, der Kenntnis vom Arbeitsbeginn hat, dagegen einschreitet.

C. Die Form der Verträge

74 Dem Gesagten zufolge, ist mit dem weitverbreiteten Irrtum aufzuräumen, dass ein bindender Vertrag erst besteht, wenn ein Dokument (die Vertragsurkunde) von beiden Parteien unter-zeichnet wurde. Gerade im Baubereich kommt es oft vor, dass überhaupt keine solche Ver-tragsurkunde besteht oder sie oftmals lange Zeit nach dem Vertragsabschluss im Rechtssinne unterzeichnet wird.

75 Etwas anderes gilt im Falle einer gesetzlichen Formvorschrift. So hält schliesslich das OR in Art. 11 Abs. 1 fest, dass Verträge zu ihrer Gültigkeit nur dann einer besonderen Form (d.h. etwa nicht mündlich abgeschlossen werden können) bedürfen, wenn das Gesetz eine solche vorschreibt. Im Baubereich betrifft dies Grundstückgeschäfte. Diese bedürfen nach Art. 216 Abs. 1 OR der öffentlichen Beurkundung.

6. Grundlagen der wichtigsten Bauverträge

A. Der Werkvertrag

76 Durch den Werkvertrag verpflichtet sich der Unternehmer zur Herstellung eines Werkes und der Besteller zur Leistung einer Vergütung (Art. 363 OR).

77 Der Unternehmer hat das versprochene Werk herzustellen und der Besteller verpflichtet sich im Gegenzug zur Leistung einer Vergütung.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 11

78 Das Herstellen des Werkes als typische Unternehmerpflicht besteht in der Ablieferung eines Arbeitserfolges, d.h. im Erzeugen eines individuellen Arbeitsergebnisses. Der Arbeitserfolg gehört somit zum Gegenstand der vom Unternehmer geschuldeten Leistung. Pointiert ausge-drückt schuldet der Unternehmer nicht nur ein Werken, sondern ein Werk.

79 Das vereinbarte Arbeitsresultat kann verschiedenartige Tätigkeiten umfassen, so etwa das Anfertigen, das Herstellen, das Ändern oder das Reparieren eines Werkes.

80 Beim geschuldeten Werk handelt es sich in der Regel um ein körperliches Werk. Das körper-liche Werk kann eine bewegliche oder unbewegliche Sache oder eine Mehrheit von Sachen umfassen. Ein Werk kann jedoch auch unkörperlicher, resp. geistiger Natur sein, sofern des-sen Resultat als richtig oder falsch beurteilt werden kann. So handelt es sich bei Bauplänen, Vermessungsarbeiten, Gutachten und dgl. um Werke, sofern deren Ergebnis nach objektiven Kriterien auf die Richtigkeit überprüft werden kann.

B. Der einfache Auftrag

81 Wie auch Art. 363 OR zum Werkvertrag, sagt Art. 394 OR wenig Konkretes zur Typendefinition des einfachen Auftrages aus. Nach Art. 394 Abs. 1 OR verpflichtet sich der Beauftragte einzig, die ihm übertragenen Geschäfte oder Dienste vertragsgemäss zu besorgen.

82 Im Unterschied zum Werkvertrag, ist die Entgeltlichkeit beim einfachen Auftrag nicht voraus-gesetzt; nach Art. 394 Abs. 3 OR ist ein Entgelt nur dann geschuldet, wenn es verabredet oder üblich ist. Die Annahme, dass eine Leistung unentgeltlich erbracht wird, ist aber wohl nur dann vertretbar, wo es an wirtschaftlichen Interessen des Beauftragten an einem Entgelt mangelt.

83 Der einfache Auftrag kann sehr unterschiedliche Leistungen zum Inhalt haben, was sich be-reits aus dessen grossen Verbreitung in der Praxis erkennen lässt. Im weitesten Sinne geht es um das Erbringen einer Arbeitsleistung, wobei im Unterschied zum Werkvertrag kein Werk (also ein Arbeitserfolg), sondern lediglich ein sorgfältiges Tätigwerden geschuldet ist. Dies än-dert aber nichts daran, dass der Auftraggeber stets einen bestimmten Erfolg anstreben soll.

84 Zum Auftragsrecht lassen sich beispielsweise folgende Tätigkeiten zählen: Überwachung ei-nes Hauses, Heilbehandlung eines Patienten, Prozessführung durch einen Rechtsanwalt oder aber die Bauleitung im Rahmen des Neu- oder Umbaus einer Baute.

7. Die Qualifikation des Vertrages 85 Es ist nicht entscheidend, wie die Parteien ihren Vertrag über ein Bauvorhaben bezeichnen.

Die Rechtsqualifikation eines Vertrages ist dem Willen der Parteien schlicht entzogen. Salopp gesagt - man kann einer Kuh lange Esel sagen, sie ist und bleibt eine Kuh. Die Qualifikation eines Vertrages ergibt sich einzig aus seinem Inhalt und ist im Streitfall vom Richter durch Auslegung des Vertragsinhaltes zu ermitteln.11

86 Gleiches gilt in Bezug auf die Qualifikationen der Vertragsparteien. Ein Ingenieur kann sich zu Architekturleistungen oder ein Architekt zu Ingenieurleistungen verpflichten. Solange keine

11 Zum Ganzen GAUCH/ MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.52 zu § 1.

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höchstpersönliche Leistungspflicht besteht, ist der Planer aber nicht verpflichtet, die verspro-chenen Leistungen selber auszuführen. Allein die Tatsache, dass ein Ingenieur einen Vertrag abschliesst, lässt also keinen Schluss auf den Vertragsinhalt zu. Massgeblich ist einzig die Vertragsleistung, welche die Parteien umschreiben.

87 Das kann ohne weiteres dazu führen, dass ein Ingenieur oder ein Architekt sich zu General-unternehmer- oder Totalunternehmerleistungen verpflichtet und dann im konkreten Vertrags-verhältnis als General- oder Totalunternehmer agiert.

88 Letztlich kann dem Risiko einer richterlichen Fremdbestimmung, d.h. der Auslegung des Ver-trages durch den Richter nur eine sorgfältig vorgenommene Vertragsgestaltung begegnen. Daher ist die präzise Umschreibung der Leistungen und die Abgrenzung der eigenen Leistun-gen von den Leistungen anderer Planer oder Unternehmer sehr wichtig; selbst wenn dies im Einzelfall nicht immer einfach ist.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 13

II. Der Bauwerkvertrag unter besonderer Berücksichtigung der SIA-Norm 118

1. Begriff und Erscheinungsformen des Werkvertrages 89 Art. 363 OR lautet: «Durch den Werkvertrag verpflichtet sich der Unternehmer zur Herstellung

eines Werkes und der Besteller zur Leistung einer Vergütung.» So kurz und bündig können (gute) Gesetzesbestimmungen sein! Auch ansonsten hat sich der Gesetzgeber kurz gehalten: Die Bestimmungen des OR zum Werkvertrag umfassen gerade einmal 17 Artikel.

90 Gemäss Art. 363 OR trifft den Unternehmer also eine Herstellungspflicht im Sinne einer qua-lifizierten Arbeitsleistung, nämlich die Leistung von Arbeit mit einem bestimmten Arbeitser-folg.12 Dadurch unterscheidet sich der Werkvertrag vom Auftrag: Während der Beauftragte zu einer vertragsgemässen (sorgfältigen) Tätigkeit im Hinblick auf einen Erfolg verpflichtet ist, schuldet der Unternehmer im Werkvertrag den versprochenen (Arbeits-)Erfolg. Die Herstel-lungspflicht, die der Unternehmer schuldet, ist also nicht bloss erfolgsorientiert, sondern er-folgsverpflichtet. Ob ein Werkvertrag oder ein Auftrag (oder ein ganz anderer Vertrag) vorliegt, beurteilt sich nach dem durch Auslegung zu ermittelnden Vertragsinhalt (Art. 18 OR). Diese auch als Vertragsqualifikation genannte Tätigkeit entzieht sich dem Parteiwillen. Der Richter hat daher stets von Amtes wegen zu prüfen, ob eine von den Parteien selbst vorgenommene Vertragsqualifikation dem Inhalt des abgeschlossenen Vertrages entspricht. «Nie wird z.B. ein Auftrag deshalb zum Werkvertrag, weil die Parteien ihn aus Irrtum oder aus Absicht als «Werk-vertrag» bezeichnen, oder umgekehrt».13

91 Beim Bauwerkvertrag, von dem wir nachfolgend sprechen, ist der geschuldete Arbeitserfolg ein Bauwerk. Der Bauwerkvertrag ist eine wichtige Erscheinungsform des Werkvertrages. Der Werkvertrag kennt aber eine Vielzahl anderer Erscheinungsformen. Namentlich kann der ge-schuldete Arbeitserfolg auch ein unkörperliches Werk sein. Das trifft im Baubereich etwa zu, wenn Pläne erstellt werden14, Land vermessen wird15 oder ein Gutachten erstellt wird.16

92 Zu beachten ist, dass der Begriff des Bauwerks, das Gegenstand eines Bauwerkvertrages ist, im juristischen Sinne wie folgt verstanden wird: Das Bauwerk ist der Arbeitserfolg, der nach dem konkreten Bauwerkvertrag geschuldet ist. Das kann z.B. eine Malerarbeit, eine Kältean-lage, ein Strassenbelag etc. sein. Das so verstandene Bauwerk ist nicht etwa mit dem techni-schen Bauwerksbegriff im Sinne eines funktionalen Ganzen (z.B. eines Mehrfamilienhauses, einer Brücke etc.) zu verwechseln.

12 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 18. 13 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 12. 14 BGE 119 II 428. 15 BGE 109 II 34 ff. 16 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 34.

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2. Hauptpflicht des Unternehmers: Herstellung und Ablieferung des Werkes

93 Wie bereits gesagt, schuldet der Unternehmer die erfolgsverpflichtete Herstellung eines Wer-kes (vgl. dazu Rz. 89 ff.). Das Werk muss dabei rechtzeitig und mängelfrei hergestellt und abgeliefert werden.17

94 Gemäss Art. 364 Abs. 2 OR ist der Unternehmer grundsätzlich verpflichtet, das Werk persön-lich auszuführen oder unter seiner Leitung ausführen zu lassen. Nach diesem Grundsatz ist der Unternehmer zumindest zur persönlichen Leitung, die auch die notwendige Instruktion und Beaufsichtigung umfasst, verpflichtet.18 Ausnahmsweise ist der Unternehmer nicht zur persönlichen Ausführung bzw. Leitung verpflichtet, wenn «es nach der Natur des Geschäftes auf persönliche Eigenschaften des Unternehmers nicht ankommt» (Art. 364 Abs. 2 OR). Ob ein solcher Ausnahmefall vorliegt, entscheidet sich im Einzelfall unter Mitberücksichtigung ei-ner allfällige Verkehrsübung.19 Diese Regeln gelten auch für den Beizug von Subunterneh-mern. Ist der Unternehmer nach der Grundsatzregel zumindest zur persönlichen Leitung ver-pflichtet, so muss auch ein beigezogener Subunternehmer unter der persönlichen Leitung des Unternehmers stehen.20

95 Eine rechtzeitige Ablieferung des Werkes setzt voraus, dass der Unternehmer das vollendete (ganze) Werk zum Ablieferungstermin dem Besteller übergibt. Ist kein Ablieferungstermin vereinbart, so ist im Normalfall vom Unternehmer gefordert, dass er das Werk innert einer Frist abliefert, die ein versierter Fachmann nach rechtzeitigem Beginn und unter Einsatz üblicher Arbeitsmittel und –kräfte bei zügiger Arbeit benötigt.21 Ist nichts anderes vereinbart, so muss der Unternehmer sofort nach Vertragsabschluss mit der Arbeit bzw. mit der allenfalls notwen-digen Arbeitsvorbereitung beginnen (Art. 75 OR).

96 Wird die ursprünglich vereinbarte Herstellungspflicht des Unternehmers rechtsgeschäftlich ge-ändert, so liegt eine Bestellungsänderung vor. Unproblematisch ist zunächst die sog. verein-barte Bestellungsänderung, die auf einem (zweiseitigen) Änderungsvertrag zwischen Unter-nehmer und Besteller beruht. Weit häufiger kommt in der Praxis die sog. einseitige Bestel-lungsänderung vor. Mit ihr will der Besteller durch einseitige Willenserklärung den Leistungs-inhalt des Werkvertrages ändern. Abgesehen vom Recht auf «Teilrücktritt» in sinngemässer Anwendung von Art. 377 OR, womit der Besteller den Leistungsinhalt aber nur reduzieren, nicht aber anderweitig modifizieren kann, steht dem Besteller von Gesetzes wegen kein Recht auf einseitige Bestellungsänderung zu. Oft ist ein solches jedoch vereinbart, etwa durch (voll-ständige) Übernahme der SIA-Norm 118 (vgl. dazu Rz. 149). Allenfalls ergibt sich ein solches aufgrund des sog. hypothetischen Parteiwillens, indem der Richter eine Vertragslücke so schliesst, wie es vernünftige Vertragsparteien unter den konkreten Umständen getan hätten, wenn sie die Vertragslücke (fehlendes Recht zur einseitigen Bestellungsänderung) bedacht hätten. Nach diesem Kriterium wird man dem Besteller etwa zugestehen müssen, eine einsei-tige Bestellungsänderung vorzunehmen, wenn diese für eine einwandfreie Ausführung des

17 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 605. 18 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 611. 19 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 614. 20 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 622 f. 21 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 649.

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Bauwerks erforderlich ist oder vom Unternehmer nur eine untergeordnete Änderung seiner Leistungspflicht verlangt wird.22

97 Oft entsteht zwischen den Parteien Streit, weil der Unternehmer nachträglich behauptet, eine vom Besteller erteilte Weisung stelle eine (einseitige) mehrvergütungspflichtige Bestellungs-änderung dar. Daher vereinbaren die Parteien auf Verlangen des Bestellers in der Werkver-tragsurkunde oder in allgemeinen Geschäftsbedingungen oft einen Formvorbehalt, wonach z.B. eine Mehrvergütung nur geschuldet ist, wenn die entsprechende Leistung vom Unterneh-mer vorgängig offeriert und diese Offerte vom Besteller schriftlich angenommen wird. Solche Formvorbehalte sind rechtlich durchsetzbar. Doch hat die Praxis – oft in Konkretisierung des Rechtsmissbrauchsverbots – zahlreiche Ausnahmen entwickelt. So steht etwa der vereinbarte Formvorbehalt einer Mehrvergütung nicht entgegen, wenn der Besteller die Genehmigung formwidrig (z.B. nicht schriftlich oder nachträglich statt im Voraus), aber doch erklärt (z.B. nachträglich in einem von ihm unbeanstandeten, jedoch nicht unterzeichneten Protokoll). Ein weitere wichtige Ausnahme vom Formvorbehalt stellen Fälle dar, in denen der Besteller aus-drücklich oder stillschweigend auf die Geltendmachung des Formvorbehalts verzichtet, z.B. wenn der Besteller von der begonnenen Ausführung der Bestellungsänderung Kenntnis erhält, jedoch davon absieht, den Genehmigungsvorbehalt zu reklamieren oder vom Unternehmer verlangt, mit den entsprechenden Arbeiten vor der formgerechten Genehmigung zu begin-nen23.

3. Hauptpflicht des Bestellers: Die Pflicht zur Leistung der Vergütung 98 Das Gesetz unterscheidet zwischen einer festen Übernahme des Werkes und der Übernahme

des Werkes ohne feste Vergütung:

A. Der Festpreis

99 Art. 373 Abs. 1 OR bestimmt: «Wurde die Vergütung zum Voraus genau bestimmt, so ist der Unternehmer verpflichtet, das Werk um diese Summe fertigzustellen, und darf keine Erhöhung fordern, selbst wenn er mehr Arbeit oder grössere Auslagen gehabt hat, als vorgesehen war.»

100 Ein solcher Festpreis kommt in der Praxis in verschiedenen Erscheinungsformen vor. Von diesen kommt dem Pauschalpreis die stärkste Preisbindung zu. Mit dem Pauschalpreis wird die Ausführung des gesamten Werkes übernommen und abgegolten. Er ist unabhängig von den ausgeführten Mengen und dem Aufwand des Unternehmers, und zwar auch dann, wenn der Mehraufwand bei Vertragsabschluss nicht vorauszusehen war. Allerdings steht auch dem Pauschalpreisunternehmer eine Mehrvergütung zu, wenn eine Bestellungsänderung vorliegt. Pauschaliert ist der Preis, nicht die damit verbundene Leistung. Was der Unternehmer zum vereinbarten Pauschalpreis leisten muss, ergibt sich aus dem konkreten Werkvertrag und ist durch Auslegung zu ermitteln.24

101 In der Praxis wird oft darüber gestritten, ob eine vom Unternehmer erbrachte Leistung unter den ursprünglich vereinbarten Leistungsinhalt und damit unter den Pauschalpreis fällt oder ob 22 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 779. 23 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 789b. 24 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 905a.

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eine Bestellungsänderung vorliegt. Gegen einen solchen Disput versucht sich der Besteller mit dem bereits erwähnten Formvorbehalt (vgl. dazu Rz. 97) oder im Fall eines Festpreisun-ternehmers ganz besonderes oft durch eine sog. Vollständigkeitsklausel zu schützen. Sie bezweckt, den Abgeltungsumfang eines Pauschalpreises auf Leistungselemente auszudeh-nen, die in der Leistungsbeschreibung nicht enthalten sind.25 Vollständigkeitsklauseln kommen in der Praxis in unzähligen Erscheinungsformen vor. Sie können rechtsbeständig vereinbart werden, auch wenn sie zuweilen die Grenze einer vernünftigen Risikoallokation weit über-schreiten, in dem sie z.B. etwa das Baugrundrisiko auf den Unternehmer verschieben. Im Zweifelsfall sind sie aber eng auszulegen und erfassen nur solche Leistungen, die der Bestel-ler in seiner Leistungsbeschreibung unbewusst ausgelassen hat und deren Fehlen der Unter-nehmer tatsächlich erkannte oder nach dem von ihm objektiv zu erwartenden Sachverstand hätte erkennen können.

102 Vollständigkeitsklauseln werden in der Praxis oft gepaart mit Klauseln, die festhalten, dass der Unternehmer sich auf die Richtigkeit der Angaben des Bestellers über kostenbildende Fakto-ren (Mengenangaben, Angaben über den Baugrund, über Gebäude- und Bodenkontaminatio-nen etc.) nicht verlassen darf oder den Unternehmer gar zur Überprüfung solcher Angaben verpflichtet. Auch solche Klauseln sind durchsetzbar, jedoch unter strengen Voraussetzungen: Zunächst müssen sie eindeutig sein und dürfen sich nicht etwa auf eine unspezifizierte Floskel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) beschränken. Im Weiteren darf sich der Bestel-ler nicht widersprüchlich verhalten (was in der Praxis oft vorkommt), etwa indem ihm aufgrund der Preisverhandlungen klar sein muss, dass gar keine oder nur ungenügende Reserven für Abweichungen von seinen (angeblich unverbindlichen) Informationen einkalkuliert sind oder der Besteller dem Unternehmer während der Submissionsphase gar nicht genügend Zeit für eine Überprüfung lässt.26

103 Eine weitere Form des Festpreises ist der Globalpreis. Er ist ein Pauschalpreis mit vertragli-chem Teuerungsvorbehalt. Abgesehen von dieser Besonderheit gelten die Ausführungen über den Pauschalpreis sinngemäss.

104 Eine in der Praxis überaus häufige Erscheinungsform des Festpreises ist der Einheitspreis. Vertraglich vereinbart ist dann der Preis für eine (in t, m2, Stück etc.) auszumessende Leis-tungseinheit, so dass sich die geschuldete Vergütung aus der vom Unternehmer geleisteten Einheiten, multipliziert mit dem vereinbarten Einheitspreis, ergibt.

105 Wie bereits gesagt, besteht die Festpreisbindung auch dann, wenn der Unternehmer mehr Arbeit oder grössere Auslagen gehabt hat, als vorgesehen war (Art. 373 Abs. 1 OR) oder die Fertigstellung des Werkes weniger Arbeit verursacht, als vorgesehen war (Art. 373 Abs. 3 OR). Die Festpreisbindung findet jedoch seine Grenze in Art. 373 Abs. 2 OR: «Falls jedoch aus-serordentliche Umstände, die nicht vorausgesehen werden konnten oder die nach den von beiden Beteiligten angenommenen Voraussetzungen ausgeschlossen waren, die Fertig-stellung hindern oder übermässig erschweren, so kann der Richter nach seinem Ermes-sen eine Erhöhung des Preises oder die Auflösung des Vertrages bewilligen.» Diese Be-stimmung hat allerdings derart hohe Anwendungsvoraussetzungen, dass sie in der Praxis

25 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 909a. 26 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1099.

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kaum eine Rolle spielt. Insbesondere ist zu beachten, dass sich das vorausgesetzte Miss-verhältnis zwischen der Leistung des Unternehmers und der vertragsgemässen Vergütung immer auf die Gesamtleistung und die Gesamtvergütung bezieht. Daher war z.B. vor eini-gen Jahren die Teuerung von Baustahl von ca. 100 % innert weniger Monate unter Art. 373 Abs. 2 OR nicht relevant, weil sich dadurch die typische Gesamtleistung des Unter-nehmers im Hochbaubereich nur um wenige Prozentpunkte verteuerte.

B. Die Übernahme des Werkes ohne feste Vergütung

106 Art. 374 OR bestimmt: «Ist der Preis zum voraus entweder gar nicht oder nur ungefähr bestimmt worden, so wird er nach Massgabe des Wertes der Arbeit und der Aufwendun-gen des Unternehmers festgesetzt.» Diesfalls kommt es also auf den Aufwand des Unter-nehmers an (und nicht etwa auf den Wert des vollendeten Werkes). Der Aufwand ist, man-gels anderer Abrede, nach den effektiven Selbstkosten und einem Zuschlag für Risiko und Gewinn zu ermitteln.

4. Der Mangel

A. Begriff

107 Der Mangel, von dem wir nachfolgend sprechen, ist ein juristischer Begriff. Er versteht sich als Vertragsabweichung. Ein Mangel im juristischen Sinn liegt also vor, wenn die effektive Be-schaffenheit des abgelieferten Werkes von seiner Sollbeschaffenheit abweicht. Ein Werkman-gel ist daher immer auch ein relativer Tatbestand. Derselbe Sachverhalt kann im einen Vertrag als Mangel erscheinen, im anderen dagegen nicht (z.B. je nach den vertraglichen Anforderun-gen an die Schalldämmung).

108 Der so verstandene Mangelbegriff muss nicht notwendigerweise mit dem technischen Begriff des Mangels übereinstimmen: Wird ein Haus versehentlich grau statt mit dem vereinbarten Weiss gestrichen, so liegt eine Vertragsabweichung und damit ein Mangel vor, auch wenn die graue Farbe technisch einwandfrei ist. Ein Mangel liegt selbst dann vor, wenn technisch ge-sehen ein qualitativ besseres Werk abgeliefert wird, z.B. wenn ein höherwertiger Strassenbe-lag als der geschuldete Recyclingbelag eingebaut wird.

109 Ein Mangel beruht entweder auf einer fehlenden vereinbarten (zugesicherten) oder fehlenden vorausgesetzten Eigenschaft. Fehlende vorausgesetzte Eigenschaften betreffen entweder die Normalbeschaffenheit oder die Gebrauchstauglichkeit. Mangels konkreter Eigenschaftsverein-barung darf der Besteller daher ein normal beschaffenes Werk von mindestens durchschnittli-cher Güte, das nach den anerkannten Regeln der Technik erstellt ist, erwarten. Für die vo-rausgesetzte Gebrauchstauglichkeit kommt es auf den Gebrauchszweck, dem das Werk die-nen soll, an.

110 Es gibt tatsächliche und rechtliche Werkmängel, je nachdem, ob die Vertragsabweichung auf tatsächlichen (z.B. im Fall eines undichten Daches) oder auf rechtlichen Kriterien (z.B. falls Elektroinstallationen nicht den Vorschriften über die Niederspannungsinstallationen entspre-chen) beruht.

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B. Die Mängelrechte

111 Art. 368 OR regelt:

«Leidet das Werk an so erheblichen Mängeln oder weicht es sonst so sehr vom Vertrage ab,

dass es für den Besteller unbrauchbar ist oder dass ihm die Annahme billigerweise nicht zuge-

mutet werden kann, so darf er diese verweigern und bei Verschulden des Unternehmers Scha-

denersatz fordern.

Sind die Mängel oder die Abweichungen vom Vertrage minder erheblich, so kann der Besteller

einen dem Minderwerte des Werkes entsprechenden Abzug am Lohne machen oder auch, so-

fern dieses dem Unternehmer nicht übermässige Kosten verursacht, die unentgeltliche Verbes-

serung des Werkes und bei Verschulden Schadenersatz verlangen.

Bei Werken, die auf dem Grund und Boden des Bestellers errichtet sind und ihrer Natur nach

nur mit unverhältnismässigen Nachteilen entfernt werden können, stehen dem Besteller nur die

im zweiten Absatz dieses Artikels genannten Rechte zu.»

112 Gemäss dieser Bestimmung umfassen die Mängelrechte des Bestellers also das Wandelungs-recht (Art. 368 Abs. 1 OR), das Minderungsrecht (Art. 368 Abs. 2 OR), das Nachbesserungs-recht (Art. 368 Abs. 2 OR) sowie das Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens (Art. 368 Abs. 1 und 2 OR):

Das Wandelungsrecht

113 Wandelung bedeutet Vertragsaufhebung.27 Bei gegebenen Wandelungsvoraussetzungen ist der Besteller berechtigt, vom Werkvertrag zurückzutreten. Der Rücktritt geschieht mit rückwir-kender Kraft. Aufgrund der strengen Anforderungen von Art. 368 Abs. 1 OR (Unzumutbarkeit der Annahme bzw. Unbrauchbarkeit) und den Einschränkungen von Art. 368 Abs. 3 OR hat die Wandelung in der Praxis des Bauwerkvertrages keine grosse Bedeutung.

Das Minderungsrecht

114 Das Recht des Bestellers gemäss Art. 368 Abs. 2 OR, «einen dem Minderwerte des Werkes entsprechenden Abzug am Lohne» zu machen, bezeichnen die Juristen als Minderungsrecht. Es handelt sich also um das Recht des Bestellers, im Fall eines Mangels, die Vergütung her-abzusetzen.

115 Der Umfang der Minderung bemisst sich nach der sog. relativen Methode: Demgemäss ent-spricht das Verhältnis zwischen der herabgesetzten Vergütung und der vereinbarten Vergü-tung dem Verhältnis zwischen dem tatsächlichen Wert des mangelhaften Werkes und dem Wert des mängelfrei gedachten Werkes. Damit soll der kaufmännische Gehalt des Werkver-trages gewahrt bleiben: Je günstiger der Besteller im konkreten Fall (und im Verhältnis zum Marktwert) bestellt hat, desto geringer der Herabsetzungsbetrag und umgekehrt.

116 Die relative Berechnungsmethode des Herabsetzungsbetrages wird in der Praxis durch zwei tatsächliche Vermutungen, die die bundesgerichtliche Rechtsprechung entwickelt hat, verein-facht: Nach der ersten tatsächlichen Vermutung entspricht der vereinbarte Preis dem Wert des mängelfrei gedachten Werkes. Gemäss der zweiten tatsächlichen Vermutung entspricht der

27 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1531.

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Minderwert den Verbesserungskosten. Solange es dem Unternehmer also nicht gelingt, diese beiden tatsächlichen Vermutungen durch den sog. Gegenbeweis umzustossen, ist der Herab-setzungsbetrag gleich den Verbesserungskosten.

Das Nachbesserungsrecht

117 Mit dem Nachbesserungsrecht kann der Besteller die unentgeltliche Verbesserung des man-gelhaften Werkes verlangen. Dies allerdings nur unter der Voraussetzung, dass die Nachbes-serung «dem Unternehmer nicht übermässige Kosten verursacht» (Art. 368 Abs. 2 OR). Mas-sgebend ist dabei das Verhältnis zwischen den Nachbesserungskosten und dem Nutzen, den die Mangelbeseitigung für den Besteller hat.28 Das Preis-/Leistungsverhältnis des Werkvertra-ges oder die Höhe der geschuldeten Vergütung sind dabei nicht relevant. Die Verbesserungs-kosten können daher ohne Weiteres auch den Werklohn übersteigen (Beispiel: Ein Unterneh-mer hat im Inneren einer Wohnung pilzbefallenen Baustoff, der bei den Bewohnern Asthma auslöst, verwendet, so dass der Nutzen des Bestellers an der Beseitigung des Mangels sehr gross ist).

118 In der Praxis kommt es oft vor, dass der Unternehmer statt einer Nachbesserung, die den Mangel beseitigt, eine Alternativlösung (eine sog. «Behelfslösung») anbietet (z.B. Teilersatz eines Strassenbelags im Bereich der Rissbildung, «Zubessern» von Rissen). Eine solche Behelfslösung muss der Besteller nicht akzeptieren, denn er hat Anspruch auf ein mängel-freies (vertragskonformes) Werk. Die Weigerung des Bestellers hat aber Einfluss auf die Frage, ob das Kosten-/Nutzen-Verhältnis der Nachbesserung unverhältnismässig und diese damit übermässige Kosten im Sinne des Gesetzes verursacht. Vermag der Nutzen der Nach-besserung die Kostendifferenz zwischen der «Behelfslösung» und der vertragskonformen Nachbesserung nicht zu rechtfertigen, ist dem Besteller die «Behelfslösung» in guten Treuen zumutbar. Auch in diesem Fall bleibt es jedoch dabei, dass der Besteller die «Behelfslösung» nicht akzeptieren muss. Es steht ihm diesfalls aber kein Nachbesserungsrecht zu, so dass der Besteller auf die übrigen Mängelrechte, in aller Regel auf die Minderung, angewiesen ist.29

Das Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens

119 Ein Mangelfolgeschaden hat seine Ursache in einem Werkmangel. Er ist aber nicht im Mangel selbst begründet, so dass der Mangelfolgeschaden dem Besteller trotz Wandelung, Minderung oder tadelloser Nachbesserung verbleibt. Der Mangelfolgeschaden besteht also nicht im ver-mögensmässigen Nachteil, der durch den Mangel selbst begründet ist. Er kommt zum Mangel hinzu und tritt sozusagen «ausserhalb des Mangels» ein.30

120 Beispiele für einen Mangelfolgeschaden sind: Mietzinsausfall, Mietzinsherabsetzung, wegen Nachbesserungsarbeiten entgangener Gewinn, vorprozessuale Anwaltskosten, Gutachter-kosten.

121 Für den Mangelfolgeschaden haftet der Unternehmer nur bei Verschulden. Der Unternehmer muss in Anwendung von Art. 97 Abs. 1 OR allerdings beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft. Zudem gilt im Vertragsrecht der objektive Verschuldensbegriff. Der Unternehmer kann

28 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1749. 29 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1770 ff. 30 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1864.

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sich daher nicht mit rein subjektiven Kriterien (wie z.B. aufgrund einer krankheitsbedingten Beeinträchtigung) exkulpieren.

C. Die Prüfungs- und Rügepflicht des Bestellers

122 Art. 367 Abs. 1 OR regelt:

«Nach Ablieferung des Werkes hat der Besteller, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange

tunlich ist, dessen Beschaffenheit zu prüfen und den Unternehmer von allfälligen Mängeln in

Kenntnis zu setzen.»

123 Die Folge der Verletzung dieser Pflichten sind fatal: Art. 370 Abs. 2 OR fingiert (unwiderlegbar) eine stillschweigende Genehmigung des Werkes, wenn der Besteller die gesetzlich vorgese-hene Prüfung und Anzeige (Rüge) unterlässt.

124 Ist das Werk abgeliefert, so läuft für den Besteller also zunächst eine Prüfungsfrist. Das Gesetz regelt die Dauer dieser Frist nicht. Diese Prüfungsfrist ist aber in der Praxis bei Bauwerkver-trägen nicht von besonderer Relevanz, weil Bauwerke in der Regel gemeinsam abgenommen und im Rahmen dieser Abnahme auch geprüft werden.

125 Viel einschneidender ist die Rügepflicht, also die Pflicht des Bestellers, den Unternehmer von allfälligen Mängel in Kenntnis zu setzen. Obwohl das Gesetz in Art. 367 Abs. 1 OR keine Frist für die Rüge nennt, gilt nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung – analog zum Kaufrecht gemäss Art. 201 Abs. 1 OR – eine Pflicht zur Sofortrüge. Sofort bedeutet nach der bundesge-richtlichen Rechtsprechung sieben Tage, falls es sich nicht um einen Mangel handelt, der sich durch Zeitablauf verschlimmert (ein solcher müsste noch rascher gerügt werden).

126 Die Mängelrüge, womit der Besteller den Mangel anzeigt, muss den Mangel so genau be-zeichnen, dass der Unternehmer aufgrund seines Sachverstandes erkennen kann, was ge-meint ist (allgemein gehaltene Anzeigen wie z.B. «alles ist ein Pfusch» oder dergleichen ge-nügen nicht). Ferner muss der Besteller mit seiner Mängelrüge zum Ausdruck bringen, dass er den Unternehmer für den Mangel haftbar macht. Die Mängelrüge bedarf keiner bestimmten Form, kann also auch mündlich erfolgen (was aber aus Beweisgründen natürlich nicht zu emp-fehlen ist).

D. Die Verjährung

127 Art. 371 OR bestimmt:

«Die Ansprüche des Bestellers wegen Mängel des Werkes verjähren mit Ablauf von zwei Jah-

ren nach der Abnahme des Werkes. Soweit jedoch Mängel eines beweglichen Werkes, das

bestimmungsgemäss in ein unbewegliches Werk integriert worden ist, die Mangelhaftigkeit des

Werkes verursacht haben, beträgt die Verjährungsfrist fünf Jahre.

Die Ansprüche des Bestellers eines unbeweglichen Werkes wegen allfälliger Mängel des Wer-

kes verjähren gegen den Unternehmer sowie gegen den Architekten oder den Ingenieur, die

zum Zwecke der Erstellung Dienste geleistet haben, mit Ablauf von fünf Jahren seit der Ab-

nahme des Werkes.

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Im Übrigen kommen die Regeln für die Verjährung der entsprechenden Ansprüche des Käufers

sinngemäss zur Anwendung.»

128 Ist die Verjährung eingetreten, so geht die Forderung von Gesetzes wegen nicht unter. Sie wird aber einredebelastet. Der Besteller kann alsdann die Einrede der Verjährung erheben, mit dem Ergebnis, dass die verjährte Forderung rechtlich nicht durchsetzbar ist (d.h. nicht mehr klagbar ist). Der Richter darf die Verjährung nicht von Amtes wegen berücksichtigen (Art. 142 OR), sondern eben nur, wenn die Einrede erhoben wird.

129 Bei unbeweglichen Bauwerken verjähren die Ansprüche des Bestellers – also insbesondere etwaige Mängelrechte – innert fünf Jahren seit der Abnahme. Ausnahmsweise beträgt die Ver-jährungsfrist zehn Jahre, wenn ein Mangel absichtlich (arglistig) verschwiegen wird.

130 Fünf Jahre sind schnell vorbei! In der Praxis kommt es daher oft vor, dass sog. Verjährungs-einredeverzichte eingeholt werden. Mit einer solchen Erklärung verzichtet der Unternehmer darauf, die Einrede der Verjährung zu erheben, regelmässig unter dem Vorbehalt, dass die Verjährung im Zeitpunkt der Abgabe (Unterzeichnung) der Erklärung nicht bereits eingetreten ist. Unter der Voraussetzung, dass durch den Verjährungsverzicht die Verjährung nicht über die höchstzulässige Dauer von zehn Jahren hinaus ausgedehnt wird, sind solche Verjährungs-einredeverzichte gültig.

131 Was ist nun aber zu tun, falls der Unternehmer nicht gewillt ist, einen solchen Verzicht abzu-geben oder die Zeit nicht mehr reicht, um ihn einzuholen? Dann muss die Verjährung unter-brochen werden. Das geschieht entweder durch Anerkennung (Art. 135 Ziff. 1 OR) oder durch qualifizierte Rechtsverfolgung (Art. 135 Ziff. 2 OR):

132 Im Fall von Mängelrechten liegt eine verjährungsunterbrechende Anerkennung nur unter stren-gen Voraussetzungen vor. Bessert der Unternehmer einen Mangel nach, so ist deswegen die Verjährung für später auftretende Mängel nicht unterbrochen. Erfolgt die Nachbesserung aus Kulanz oder ohne Anerkennung einer Rechtspflicht, so wirkt sie ebenfalls nicht verjährungs-unterbrechend. Es ist daher besser, sich nicht auf die Verjährungsunterbrechung durch Aner-kennung zu verlassen.

133 Im Übrigen wird die Verjährung, wie bereits gesagt, durch qualifizierte Rechtsverfolgung un-terbrochen. Dies geschieht in der Praxis entweder durch ein Betreibungsbegehren oder durch ein Schlichtungsgesuch (an den zuständigen Friedensrichter). In den Fällen, in denen ein Han-delsgericht zuständig ist (Handelsgerichte gibt es nur in den Kantonen St. Gallen, Zürich, Aar-gau und Bern), findet gemäss Zivilprozessordnung kein Schlichtungsverfahren statt. Diesfalls muss Klage erhoben werden. Es ist in diesem Zusammenhang gut zu merken:

134 Mittels Zahlungsbefehl betreiben kann man nur Geldforderungen. Steht dem Besteller aber zunächst nur ein Nachbesserungsrecht zu, was bei Übernahme der SIA-Norm 118 der Fall ist (vgl. dazu Rz. 149), so kann die Verjährung nur durch Schlichtungsgesuch (oder bei handels-gerichtlicher Zuständigkeit durch Klage) unterbrochen werden. Ein Betreibungsbegehren ge-nügt in einem solchen Fall nicht, selbst wenn im Betreibungsbegehren der Mangel in Geld quantifiziert wird.

135 Was als verjährungsunterbrechende qualifizierte Rechtsverfolgung gilt, ist in Art. 135 Ziff. 2 OR abschliessend geregelt: Entgegen einem weit verbreiteten Irrtum (bis hoch hinauf in die

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Teppichetagen) wirkt daher die blosse Geltendmachung des Rechts, etwa in dem bei einem Mangel die Nachbesserung verlangt oder bei einer Forderung gemahnt wird, nicht verjäh-rungsunterbrechend.

136 Wird die Verjährung rechtsgültig unterbrochen, so beginnt sie neu zu laufen (Art. 137 Abs. 1 OR). Sie steht also nicht etwa still.

5. Die SIA-Norm 118 137 Im Rahmen der Einführungsvorlesung haben wir bereits gesehen, dass die Normen des

Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA) in der Praxis eine sehr grosse Be-deutung haben, weil sie unter vielen Aspekten als ausgewogen und daher von der Praxis als akzeptiert gelten. Das trifft ganz besonders für die SIA-Norm 118 «Allgemeine Bedingungen für Bauarbeiten» (SIA 118:2013) zu.

138 Ebenso ist noch einmal der wichtige Umstand in Erinnerung zu rufen, dass gemäss bundes-gerichtlicher Rechtsprechung (BGE 117 II 284) die Normen des SIA nicht als regelbildende Übung gelten. Auch die SIA-Norm 118 ist daher für die Vertragsparteien nur verbindlich, wenn sie von den Parteien vertraglich (durch ausdrückliche oder stillschweigende Abrede) übernom-men wurde. Das geschieht in der Praxis oft dadurch, dass sie in der Vertragsurkunde zum Vertragsbestandteil erhoben oder im Vorspann zum Leistungsverzeichnis als geltend aufge-führt wird. Auch der Verweis auf die SIA-Norm 118 in der Offerte genügt, wenn die Offerte in der Folge angenommen wird.

139 Nachfolgend gehen wir auf einige Besonderheiten der SIA-Norm 118 ein:

140 Gemäss Art. 25 Abs. 3 SIA-Norm 118 hat der Unternehmer die ihm übergebenen Pläne, den von ihm zu bearbeitenden Baugrund und die bestehende Bausubstanz nur dann zu prüfen, wenn der Bauherr weder durch eine Bauleitung vertreten noch selbst sachverständig, noch durch einen beigezogenen Sachverständigen beraten ist. Gemäss OR gilt die gleiche Rechts-lage als Grundsatz. Die Ausnahmen gehen jedoch weiter: Auch der sachverständig vertretene Bauherr darf unter Umständen eine Überprüfung der Pläne nach Treu und Glauben erwarten, wenn z.B. der Sachverstand des Unternehmers bedeutend weiter reicht als der Sachverstand auf Seiten des Bauherrn oder wenn der Unternehmer gerade wegen seines spezifischen Sach-verstandes als «Fachfirma» beigezogen wurde.31

141 Gemäss Art. 33 Abs. 2 SIA-Norm 118 vertritt die Bauleitung den Bauherrn, sofern die Voll-macht nicht in der Vertragsurkunde eingeschränkt ist, gegenüber dem Unternehmer. Alle Wil-lensäusserungen der Bauleitung, die das Werk betreffen, sind für den Bauherrn rechtsverbind-lich, insbesondere Weisungen, Bestellungen, Bestätigungen und Planlieferungen.

142 Werden Arbeiten, die nach Aufwand vergütet werden (sog. Regiearbeiten), ausgeführt, so gilt nach Art. 47 SIA-Norm 118 eine (tägliche) Rapportpflicht. Werden solche Rapporte nicht oder nicht fristgerecht ausgefertigt, gehen deswegen die nicht rapportierten Vergütungsansprüche nicht unter (es handelt sich lediglich um eine sog. Ordnungsvorschrift). In der Baupraxis wer-den solche Regierapporte oft von der Bauleitung unterzeichnet. Damit sind solche Regierapp-

31 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1976.

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orte nicht (unumstösslich) anerkannt. Es gilt jedoch die tatsächliche Vermutung, dass der Rap-port richtig ist und der ausgewiesene Aufwand nötig war.32 Der Besteller kann den unterzeich-neten Regierapport immer noch bestreiten. Er muss aber den Gegenbeweis erbringen, dass er nicht richtig ist.

143 Wird die Ausführung einer zu festen Preisen übernommenen Bauleistung durch besondere Verhältnisse erschwert, die ohne Verschulden des Bauherrn erst nach Vertragsabschluss eintreten oder zutage treten, so hat der Unternehmer die geschuldete Leistung gleichwohl zum vereinbarten Prei zu erbringen, ohne Anspruch auf zusätzliche Vergütung (Art. 58 Abs. 1 SIA-Norm 118). Der Unternehmer hat jedoch Anspruch auf zusätzliche Vergütung, wenn den Be-steller ein Verschulden trifft. Als Verschulden sind dem Bauherrn insbesondere mangelhafte Angaben in den Ausschreibungsunterlagen über den Baugrund und die bestehende Bausub-stanz anzurechnen, wenn der Bauherr durch eine Bauleitung vertreten oder selbst sachver-ständig ist oder durch einen beigezogenen Sachverständigen beraten war (Art. 58 Abs. 2 SIA-Norm 118).

144 Gemäss Art. 84 Abs. 1 SIA-Norm 118 steht dem Besteller das Recht zu (einseitigen) Bestel-lungsänderungen zu. Er kann verlangen, dass der Unternehmer Leistungen auf andere Art als vereinbart, in grösseren oder kleineren Mengen oder überhaupt nicht ausführt, solange der Gesamtcharakter des zur Ausführung übernommenen Werkes unberührt bleibt.

145 Das Bauprogramm, das der Unternehmer auf Verlangen des Bauherrn vorlegt, ist nur dann verbindlich, wenn dies die Vertragsurkunde vorsieht (Art. 93 Abs. 2 SIA-Norm 118). Es ist also immer gut darauf zu achten, dass ein in diesem Sinne verbindliches Bauprogramm vereinbart wird.

146 Gemäss Art. 144 Abs. 1 SIA-Norm 118 hat der Unternehmer Anspruch auf monatliche Ab-schlagszahlungen. Nach Obligationenrecht besteht ein solches Recht nicht. Von den Ab-schlagszahlungen («Akontozahlungen») wird jedoch ein Rückbehalt von 10 % des Leistungs-wertes am Ende des Rechnungsmonates abgezogen (Art. 150 Abs. 1 SIA-Norm 118).

147 Bringt der Unternehmer in seiner Schlussabrechnung keinen schriftlichen Vorbehalt an, so erklärt er mit deren Einreichung, dass er keine weiteren Rechnungen stellen wird und auf jeden weiteren Vergütungsanspruch für Leistungen verzichtet, die er bis dahin nicht in Rechnung gestellt hat (Art. 156 SIA-Norm 118).

148 Hat die Bauleitung bei der gemeinsamen Prüfung im Rahmen der Abnahme des Werkes einen Mangel zwar erkannt, auf dessen Geltendmachung aber ausdrücklich oder stillschweigend verzichtet, so gilt das Werk für den Mangel, soweit er erkannt wurde, als genehmigt. Ein still-schweigender Verzicht wird vermutet für erkannte Mängel, die ein allfälliges Prüfungsproto-koll nicht aufführt; ferner für Mängel, die bei der gemeinsamen Prüfung offensichtlich waren, jedoch nicht geltend gemacht wurden (Art. 163 SIA-Norm 118). Bei der Protokollierung der Werkabnahme ist also Vorsicht geboten.

149 Liegt ein Mangel vor, so hat der Besteller zunächst einzig das Recht, vom Unternehmer inner-halb angemessener Frist die Nachbesserung zu verlangen (Art. 169 Abs. 1 SIA-Norm 118).

32 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1028.

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Dem Unternehmer steht also ein vertragliches primäres Nachbesserungsrecht zu. Wird ihm dieses nicht gewährt, so sind die entsprechenden Mängelrechte verwirkt.

150 Gemäss Art. 172 Abs. 1 SIA-Norm 118 besteht eine Rügefrist von zwei Jahren. Während dieser Frist kann der Besteller in Abweichung vom Gesetz Mängel aller Art jederzeit rügen (Art. 173 Abs. 1 SIA-Norm 118). Der Besteller ist also gemäss SIA-Norm 118 von der Pflicht zur Sofortrüge entbunden. Das ist wohl eine der Hauptwohltaten der SIA-Norm 118 für den Besteller.

151 Art. 174 Abs. 3 SIA-Norm 118 statuiert eine wichtige Umkehr der Beweislast: «Wird streitig, ob ein behaupteter Mangel wirklich eine Vertragsabweichung darstellt und daher ein Mangel im Sinne dieser Norm ist, so liegt die Beweislast beim Unternehmer.» Diese Beweislastum-kehr gilt nur während der zweijährigen Rügefrist, also nicht für sog. verdeckte Mängel, die erst nach Ablauf der zweijährigen Rügefrist auftreten (Art. 179 Abs. 5 SIA-Norm 118). Die Umkehr der Beweislast betrifft zudem nur den Mangeltatbestand selber. Der tatsächliche Zustand, von dem der Besteller behauptet, er stelle einen Mangel dar, muss der Besteller beweisen. Wer in der Baubranche die Beweislast trägt, ist oft mit dem Problem des Beweisverlustes konfrontiert (z.B. muss ein undichtes Dach sofort repariert werden). In solchen Fällen ist der Beweisbelas-tete auf eine vorsorgliche Beweisführung angewiesen. Das zuständige Gericht ernennt da-bei in einem schnellen Verfahren einen gerichtlichen Experten, der den Tatbestand begutach-tet, ohne dass bereits ein Prozess in der Hauptsache hängig sein muss. Vorsicht mit sog. Parteigutachten, also Gutachten, die von den Parteien ohne Mitwirkung des Gerichts eingeholt werden! Sie können zwar gerichtlich verwendet werden. Sie haben aber keinen erhöhten Be-weiswert und gelten als blosse (wenn auch sachverständige) Parteibehauptung. Ein Privat-gutachten ist zwar besser als nichts. Wenn aber die Zeit für eine (gerichtliche) vorsorgliche Beweisführung reicht, ist diese klar vorzuziehen.

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III. Der Planervertrag

1. Allgemeines zum Planervertrag

A. Der Begriff und die Terminologie

152 Der Planervertrag ist ein Vertrag zwischen einem Planer und einem Vertragspartner mit dem Zweck der Erbringung einer baubezogenen Planerleistung. Planer kann beispielsweise ein Architekt oder ein Bauingenieur sein.

153 Eine Planerleistung kann namentlich die Ausarbeitung von Plänen, die Erstellung eines Kos-tenvoranschlages oder auch die bauleitende Überwachung von Bauarbeiten sein. Es ist zwar nicht ganz richtig, auch für den Bauleiter den Ausdruck Planer zu verwenden. Im Sprachge-brauch der Baupraxis hat sich der Begriff des Planervertrages für diese Leistungen jedoch eingebürgert.33

B. Der Gegenstand und die Erscheinungsformen des Planervertrages

Gegenstand

154 Der Begriff des Planervertrages ist rechtlich nicht definiert. Welche Leistungen Planerleistun-gen und deshalb Gegenstand eines Planervertrages sind, lässt sich keiner Gesetzesnorm ent-nehmen.

155 Im Hinblick auf die Bestimmung und Eingrenzung der Leistungen eines Planers, ist auf die Praxis zurückzugreifen. In der Praxis zeichnet sich aufgrund der zunehmenden Komplexität von Bauvorhaben, der damit zusammenhängenden höheren wirtschaftlichen und technischen Anforderungen und der Zunahme an zu beachtenden Vorschriften ein eigentliches Berufsbild des Planers ab.34

156 Die Tätigkeiten des Planers können in die Bereiche "Beratung", "Planung" und "Überwachung" geordnet werden. Was sich in der Praxis als die eigentlichen planenden Tätigkeiten und Schritte herausgebildet hatte, fand Eingang in die verschiedenen Leistungsbeschriebe der SIA-Ordnungen (vgl. jeweils Art. 4; chronologische Ordnung der Leistungen anhand des übli-chen Ablaufs der Planung). Vorliegend von Relevanz sind insbesondere:

- SIA-Ordnung 102: Ordnung für Leistungen und Honorare der Architektinnen und Ar-chitekten;

- SIA-Ordnung 103: Ordnung für Leistungen und Honorare der Bauingenieurinnen und Bauingenieure;

- SIA-Ordnung 108: Ordnung für Leistungen und Honorare der Ingenieurinnen und In-genieure der Bereiche Gebäudetechnik, Maschinenbau und Elektrotechnik.

157 In den Leistungsbeschrieben aufgeführt sind vor allem Tätigkeiten, die den genannten Berei-chen "Beratung", "Planung" und "Überwachung" zuzuordnen sind.

33 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.2 zu § 1. 34 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.3 zu § 1.

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Erscheinungsformen

158 Der Planervertrag weist verschiedene Erscheinungsformen auf.

159 Geordnet nach Fachbereich kann er ein typischer Architektenvertrag (oder auch Architektur-vertrag genannt) sein, er kann ein Vertrag über Bauingenieur- oder Elektroingenieurleistungen sein, oder über die anderen Ingenieurfachbereiche.

160 Geordnet nach Umfang der Leistungen kann sich der Planervertrag auf einzelne Teilleistungen beschränken, also nicht die planerische Gesamtleistung eines Projektes umfassen. Insbeson-dere bei grösseren Bauwerken werden die Projektierung, die Bauleitung oder auch die Kos-tenkontrolle getrennt vergeben.35 Nicht jeder begnadete Architekt ist ein guter Bauleiter.

161 Von einem Gesamtvertrag spricht man, wenn der Planer Gesamtplaner ist, nämlich dann, wenn ihm sämtliche Planerleistungen im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben übertragen werden, mindestens aber die Projektierung und die Bauleitung.36

162 Der Generalplanervertrag geht noch weiter. Er umfasst im Zusammenhang mit einem Bauvor-haben oder einem Teilwerk alle Planungsleistungen oder mehrere Planungsleistungen unter-schiedlicher Fachgebiete, mit welchen herkömmlicherweise mehrere Planer beauftragt wer-den. 37 Der Generalplaner schliesst dann mit den Fachplanern Verträge über Teilleistungen oder Gesamtverträge ab.

C. Die Qualifikation des Planervertrages

Bedeutung der Qualifikation

163 Ein Planervertrag kann verschiedentlichsten Inhalts sein, weswegen er nicht einheitlich quali-fiziert werden kann. Für die Qualifikation des jeweiligen Planervertrages ist auf den Vertrags-inhalt und demnach auf die Vereinbarungen der Parteien abzustellen.38

164 Ein Planervertrag kann ein einfacher Auftrag nach Art. 394 ff. OR oder ein Werkvertrag nach Art. 363 ff. OR sein. Er kann sich aber auch aus als gemischter Vertrag, der die Elemente des Werkvertrags und des Auftrags vereint oder sich als sog. Innominatkontrakt, d.h. als Vertrag, der gesetzlich nicht geregelt ist, qualifizieren.39

165 Die Qualifikation des jeweiligen Planervertrages sowie die Abgrenzung zu anderen Vertrags-typen ist von Bedeutung, da die Rechte und Pflichten der Vertragsparteien und die Beendi-gungsmöglichkeiten teilweise unterschiedlich ausgestaltet sind.

Die werkvertraglichen Bereiche

166 Ist der konkrete Planervertrag ein reiner Planungsvertrag, der sich auf die Herstellung von Bauplänen, namentlich von Skizzen und Bauprojekten, Ausführung- und Detailplänen, be-schränkt, so handelt es sich in der Regel um einen Werkvertrag.40

35 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.6 zu § 1. 36 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.5 zu § 1. 37 WERZ, Die Planerverträge, Nr. 16.149 zu § 16. 38 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.29 zu § 1. 39 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, a.a.O. 40 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.30 zu § 1.

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167 Mit der Herstellung der Pläne schuldet der Planer einen unkörperlichen Arbeitserfolg. Geschul-det sind mängelfrei erstellte Pläne.41 Gegenstand der Planerleistung sind die Pläne, was eine werkvertragliche Leistung ist. Wir sprechen von einem Geist-Werkvertrag. Merke aber: Ge-genstand der werkvertraglichen Leistung des Planers ist nicht das Bauwerk (vgl. dazu Rz.175), sondern die im Plan festgehaltene geistige Schöpfung, mithin also der Plan, wie z.B. der Vor-projektplan, der Projektplan, der Ausführungsplan, Skizzen, usw.

Die auftragsrechtlichen Bereiche

168 Ein Vertrag über die Erstellung eines Kostenvoranschlages wird demgegenüber von der neu-eren bundesgerichtlichen Rechtsprechung als Auftrag qualifiziert, was nicht zu überzeugen vermag.42

169 Der Vertrag über die Vergabe von Arbeiten ist ein Auftrag.43 Beim Vergabevertrag schuldet der Planer nicht die Herstellung von Plänen, sondern etwa die Vorbereitung der Ausschreibung, das Einholen von Unternehmerofferten, das Stellen eines Vergabeantrages an den Auftragge-ber.44

170 Ebenfalls in den Anwendungsbereich des einfachen Auftrags fällt der Bauleitungsvertrag, der den Planer mit der Leitung der Bauausführung betraut.45

171 Bei der Erstellung eines Kostenvoranschlages, der Vergabe von Arbeiten oder der Bauleitung schuldet der Planer die vertragsgemässe Besorgung des ihm überlassenen Geschäftes, d.h. ein sorgfältiges Tätigwerden im Interesse des Vertragspartners. Anders als beim Werkvertrag ist demnach nicht ein Arbeitsergebnis als Produkt einer intellektuellen Tätigkeit geschuldet.

Der Gesamtvertrag als gemischtes Verhältnis

172 Schwierigkeiten bereitet hingegen die Qualifikation eines Gesamtvertrages, in welchem ein Planer, oft ein Architekt, ein Ingenieur oder ein Planerteam sämtliche Planerleistungen für die Durchführung eines Bauvorhabens übernimmt, mindestens aber die Projektierung und die Lei-tung der Bauausführung. Das Bundesgericht qualifiziert den Architektenvertrag als ein ge-mischtes Vertragsverhältnis. Bei der Beurteilung einzelner Leistungen des Architekten sind deshalb unterschiedliche Rechtsfolgen denkbar. So haftet der Architekt beim Gesamtvertrag für einen Planfehler aus Werkvertrag und für die unsorgfältige Bauaufsicht im Rahmen der Bauleitung aus Auftrag. Das gibt zwar komplizierte Verhältnisse und wird in der Lehre auch immer wieder kritisiert, die Qualifikation als gemischtes Vertragsverhältnis und die Spaltung der Rechtsfolgen entspricht nun aber seit längerem der konstanten Rechtsprechung.46

D. Die Abgrenzung des Planervertrags vom Bauwerkvertrag

173 Der Planervertrag ist insbesondere vom Bauwerkvertrag zu unterscheiden, der der Verwirkli-chung eines spezifischen Bauvorhabens dient.

41 Zum Ganzen GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.30 zu § 1. 42 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.34 ff. zu § 1. 43 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.42 zu § 1. 44 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, a.a.O. 45 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.45 zu § 1. 46 Zum Ganzen GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.47 zu § 1.

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174 Der Bauwerkvertrag bildet das Kernstück des privaten Baurechts.47 Der Bauwerkvertrag ist – wie der Name sagt – ein Werkvertrag.

175 Gegenstand des Bauwerkvertrages ist ein körperliches Werk, das Bauwerk selber. Sein be-sonderes Merkmal besteht darin, dass der Werkunternehmer die Leistung von Bauarbeiten mit oder ohne Lieferung von Werkstoff schuldet. Gegenstand des Bauwerkvertrages kann ein Hochbau oder ein Tiefbau sein. Er kann zum Bauhauptgewerbe oder zum Baunebengewerbe gehören.48

176 Während der Planervertrag als Werkvertrag ein unkörperliches Werk zum Gegenstand hat (die im Plan festgehaltene geistige Schöpfung resp. der Plan), ist Gegenstand des Bauwerkvertra-ges das erstellte körperliche Werk an sich (siehe näheres zum Bauwerkvertrag Rz. 89 ff.).

2. Der Abschluss von Planerverträgen

A. Die Entstehung des Planervertrages

177 Da es an einer speziellen gesetzlichen Regelung für den Planervertrag mangelt, sind die Best-immungen des allgemeinen Teils des OR (Art. 1 ff. OR) und je nach Vertragsqualifikation die Regeln des Werkvertrags- und/oder des Auftragsrechts einschlägig.

178 Wie in Rz. 66 erwähnt, ist zum Abschluss eines Planervertrages die übereinstimmende ge-genseitige Willensäusserung der Parteien erforderlich.

179 Gemäss Art. 1 Abs. 2 OR können die Willenserklärungen ausdrücklich oder stillschweigend erfolgen. Es ist daher denkbar, dass ein Planervertrag bereits zustande kommt, wenn der Bau-herr mit dem Planer Pläne oder sonstige Unterlagen bespricht oder den Planer auf seinem zu bebauenden Grundstück gewähren lässt.49

180 Für den Antrag zum Abschluss eines Planervertrages und für die Annahme gelten grundsätz-lich Art. 3 ff. OR (vgl. Rz. 68 ff.).

181 Wie in Rz. 105 erläutert, handelt es sich beim Vertrag zur Erstellung eines Kostenvoranschla-ges und dem Vergabe- und Bauleitungsvertag um Planerverträge, die den auftragsrechtlichen Bestimmungen unterstehen. Zu beachten ist daher die auftragsrechtliche Besonderheit nach Art. 395 OR. Danach gilt ein nicht sofort abgelehnter Auftrag als angenommen, wenn er sich auf die Besorgung solcher Geschäfte bezieht, die der Beauftragte kraft obrigkeitlicher Bestel-lung oder gewerbsmässig betreibt oder zu deren Besorgung er sich öffentlich empfohlen hat. Diese Bestimmung ist auch auf Planer anwendbar, die gewerbsmässig ihre Tätigkeit ausüben und ihre Tätigkeit bewerben. Gleiches gilt im Übrigen für den Planervertrag, der sich als Ge-samtvertrag erweist. Im Rahmen des Abschlusses des Gesamtvertrages ist es nicht möglich, zwischen den Leistungsinhalten, die dem Werkvertragsrecht und den Leistungsteilen, die dem Auftragsrecht unterstehen, zu unterscheiden.50

47 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 204. 48 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 206. 49 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.43 zu § 2. 50 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O.

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182 Der Bauherr und der Planer müssen sich bei der Vertragsverhandlung, wie im Rahmen der Einführung erläutert, über alle objektiv und subjektiv wesentlichen Vertragspunkte einig sein (vgl. Rz. 67). Dazu gehören folgende Punkte:

- wer überhaupt Partei des Vertrages ist und welche Partei welche Rolle einnimmt (wer mit wem, und wer ist der Planer und wer der Bauherr);

- welche Leistung(en) der Planer zu erbringen hat;

- wie sich das Planerhonorar bemisst und wie hoch es ist;

- welche Fristen und Termine einzuhalten sind;

- für was der Planer die Haftung zu übernehmen hat; und

- welche Abreden in Bezug auf das Urheberrecht getroffen werden.51

183 Objektiv wesentlich sind jene Vertragspunkte, welche den unentbehrlichen Geschäftskern um-fassen, das, und nur das, was geregelt sein muss, damit der Vertrag ein "sinnvolles Ganzes" ist.52

184 Die Leistung, die der Planer zu erbringen hat, gehört zu den objektiv wesentlichen Vertrags-punkten. In den SIA-Ordnungen 102/103 wird den Architekten und den Ingenieuren geraten, dass sie die zu erbringenden Leistungen so weit wie möglich beschreiben und mit dem Auf-traggeber vereinbaren. Dies ist insofern schwierig, als zu Beginn der gemeinsamen Zusam-menarbeit das zu realisierende Projekt noch grösstenteils unbekannt ist. Gleichwohl handelt es sich bei der Bemerkung zur genauen Beschreibung der Planerleistungen nicht um einen Ratschlag an die Parteien; fehlt es nämlich an einer derartigen Abrede und entsprechend an der Einigung der Parteien über einen objektiven wesentlichen Vertragspunkt, ist kein Vertrag zustande gekommen. Den Parteien steht es aber frei, wie detailliert sie die Planerleistungen festlegen möchten. In der Praxis verbreitet und zu empfehlen ist die Orientierung an den Leis-tungsbeschrieben der einschlägigen SIA-Ordnungen (LHO; siehe Rz. 88).53

185 Leistungen der Planer sind nicht unbedingt entgeltlich; der Planer kann auch unentgeltlich tätig werden. Die Parteien müssen sich also darüber einig sein, ob ein Honorar geschuldet ist. In der Regel wird angenommen, dass die Planerleistungen entgeltlich erbracht werden. Eine an-derslautende Vereinbarung müsste der Bauherr beweisen.54

186 Untersteht ein Planervertrag den Regeln des einfachen Auftrags, hat der Planer Anspruch auf eine Vergütung, wenn dies verabredet oder üblich ist (Art. 394 ff. OR). Ist keine Vereinbarung verabredet, ist die Planerleistung nach Massgabe der Verkehrsübung zu entgelten (Art. 394 Abs. 3 OR). 55 Gleiches gilt sinngemäss für den Gesamtvertrag. Entsprechend handelt es sich bei der Gegenleistung des Bauherrn zumindest nach Auftragsrecht nicht um einen objektiv wesentlichen Vertragspunkt.

187 Ob die Entgeltlichkeit bei Planerleistungen, die dem Werkvertragsrecht zuzuordnen sind, ein objektiv wesentlicher Vertragspunkt ist oder nicht, ist umstritten. GAUCH vertritt die Ansicht, 51 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.7 zu § 2. 52 GAUCH, OR AT, Bd. I, Nr. 329. 53 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.45 zu § 2. 54 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.3 zu § 7. 55 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O.

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dass die Entgeltlichkeit nach Art. 363 OR nicht bloss typenbestimmend, sondern auch ein ob-jektiv wesentlicher Vertragspunkt ist.56 Nach STÖCKLI findet die auftragsrechtliche Bestimmung nach Art. 394 Abs. 3 OR sinngemäss Anwendung, womit es sich nicht um einen objektiv we-sentlichen Vertragspunkt handelt und entsprechend der Vertrag, auch wenn die Parteien über die Entgeltlichkeit und das Honorar keine Einigung treffen, gültig zustande kommt.57

188 Bei der Höhe des Entgelts handelt es sich nicht um einen Vertragspunkt, der objektiv wesent-lich ist. Beim Planervertrag, auf den das Auftragsrecht Anwendung findet, ist bei der Bemes-sung der Vergütung die Verkehrsübung beizuziehen (Art. 394 Abs. 3 OR). Entsprechendes gilt auch beim Gesamtvertrag. Für den Planervertrag nach Werkvertragsrecht bestimmt sich die Vergütung gemäss Art. 374 OR nach Massgabe des Wertes der Arbeit und der Aufwendungen des Unternehmers.58

189 Es ist allerdings denkbar, dass eine Partei den Willen zum Abschluss von einer Einigung über die Höhe der Vergütung abhängig macht. In einem solchen Fall liegt ein subjektiv wesentlicher Vertragspunkt vor. Erzielen die Parteien keine Einigung, kommt kein Vertrag zustande.59

B. Die Parteien des Planervertrages

190 Wie bereits vorgängig gesagt, sind die Parteien des Planervertrages einerseits der Planer, welcher die Planerleistungen erbringt und andererseits dessen Vertragspartner.

191 Die Berufsausbildung des Planers ist in Bezug auf das Vorliegen eines Planervertrages nicht von Relevanz. Ebenso kommt es nicht darauf an, ob der Planer den Planervertrag im Rahmen seiner Berufsausübung oder ausserberuflich abschliesst.60

192 Der Planer kann den Planervertrag mit einem Bauherrn, mit einem Totalunternehmer oder (als Subplaner) mit einem weiteren Planer abschliessen.61

C. Die Form des Planervertrages

193 Für den Abschluss von Planerverträgen sieht das Gesetz keine besondere Formvorschrift vor; es besteht weitgehende Formfreiheit. So hält schliesslich auch Art. 1.2.1 der SIA-Ordnungen 102 und 103 fest, dass Planerverträge «schriftlich, mündlich oder durch entsprechendes Han-deln abgeschlossen» werden.62

194 Wie in Rz. 75 erwähnt, gilt es aber in Zusammenhang mit einem gemischten Kauf-/Planerver-trag eine wichtige Ausnahme zu beachten. Um einen derartigen Vertrag handelt es sich, wenn darin nicht nur der Verkauf einer Bauparzelle vereinbart, sondern der Planer auch mit Planer-arbeiten betraut wird. Wird nun hinsichtlich der Vergütung nur ein einziger Preis (für den Kauf-preis und das Planerhonorar) für die gesamte Gegenleistung (Grundstück und Planerleistun-gen) vereinbart, so muss der Kauf-/Planervertrag öffentlich beurkundet werden. Anderes gilt,

56 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 381. 57 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.46 zu § 2. 58 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.47 zu § 2. 59 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.48 zu § 2. 60 Zum Ganzen GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.9 zu § 1. 61 Zum Ganzen GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, a.a.O. 62 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.49 zu § 2.

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wenn für den Kaufpreis und die Planerleistungen separate Vergütungen vereinbart werden; dann bedarf lediglich der kaufvertragliche Teil der öffentlichen Beurkundung.63

195 Den Parteien steht es selbstverständlich offen, vertraglich eine bestimmte Form vorzubehal-ten. Dies ist in Art. 1.2 der SIA-Ordnung 102/103 als kluger Ratschlag festgehalten, wonach die «Ausfertigung einer Vertragsurkunde und die Schriftlichkeit von Vertragsänderungen […] empfohlen» werden.64

3. Das Planerhonorar

A. Allgemeines

196 Unter dem Honorar versteht man die Entschädigung, die dem Planer für seine Bemühungen zusteht. Der Begriff des Honorars wird jedoch, anders als in den einschlägigen SIA-Ordnun-gen, weder im Werkvertrags- noch im Auftragsrecht verwendet. Dort ist jeweils von der Ver-gütung die Rede (vgl. Art. 363 und Art. 394 Abs. 3 OR).65

B. Die Bemessung des Honorars

Die Höhe des Honorars wird vereinbart

197 Der Planer ist verpflichtet, vor der Aufnahme seiner Arbeiten, einen zumindest unerfahrenen Bauherrn über die Höhe des erfahrungsgemäss zu erwartenden Honorars aufzuklären. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 2 ZGB). Gleiches wird in den SIA-Ordnungen 102/103 festgehalten. Bei dieser Angabe handelt es sich lediglich um eine Schät-zung, die nicht als Willenserklärung, sondern als reine Vorstellungsäusserung des Planers über den mutmasslichen Preis verstanden werden darf.66

198 Die Höhe des Honorars kann von den Parteien frei festgesetzt und ausdrücklich oder still-schweigend vereinbart werden.67

199 Wollen nun die Parteien über die Höhe der Vergütung eine Vereinbarung treffen, können sie diese mit einem festen Geldbetrag angeben (Festpreis) oder bloss die massgebenden Fakto-ren, nach denen die Vergütung später bestimmt werden soll, festlegen. Als Faktoren können der Zeitaufwand und die entsprechenden Stundenansätze (Vergütung nach Zeitaufwand) oder aber ein Interessenswert (Prozenthonorar) vereinbart werden.68

Der Festpreis («Pauschal- oder Globalhonorar»):

200 Von einem Festpreis spricht man, wenn die Parteien die Geldsumme für die zu erbringenden Leistungen zum Voraus genau bestimmen. In einem solchen Fall ist es belanglos, welcher Aufwand effektiv bei der Ausführung der Planerleistungen anfällt. Verkalkuliert sich der Planer,

63 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.50 zu § 2. 64 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.51 zu § 2. 65 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.2 zu § 7. 66 Zum Ganzen EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.11 zu § 7. 67 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.12 zu § 7. 68 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.13 zu § 7.

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kann er nachträglich keine Korrektur vornehmen. Inhaltlich fällt der Festpreis unter die werk-vertragliche Bestimmung von Art. 373 OR, wobei diese Bestimmung selbst anwendbar ist, wenn sich der Planervertrag als einfacher Auftrag oder gemischter Vertrag qualifiziert. Nach Art. 373 Abs. 2 OR kann aber das Gericht die Erhöhung des Honorars oder die Vertragsauflö-sung bewilligen, wenn ausserordentliche Umstände vorliegen.69

201 Ob die Auslagen im Pauschalhonorar inbegriffen sind, ist durch Auslegung zu ermitteln. Die MWST ist im Pauschalhonorar eingeschlossen, wenn die Parteien nicht etwas anderes ver-einbart haben. Eine solche Vereinbarung treffen die Parteien bei der vorbehaltslosen Über-nahme der SIA-Ordnungen 102 und 103.70

202 Bei nachträglicher Verpflichtung zu zusätzlichen Leistungen oder der Reduzierung des Leis-tungsumfanges, erhöht oder reduziert sich das Pauschalhonorar, sofern die Parteien keine abweichende Vereinbarung getroffen haben.71

Die Vergütung nach Zeitaufwand:

203 Beim Zeithonorar wird der Planer nach Massgabe des tatsächlichen betriebenen Zeitaufwan-des vergütet. Regelmässig werden die einzelnen Stundenansätze - allenfalls unter Berück-sichtigung des Aufgabengebietes und der damit zu übernehmenden Verantwortung - festge-legt. Als Kriterien für die Festsetzung des Stundenansatzes gelten insbesondere die Ausbil-dung und die Erfahrung des Sachbearbeiters, die zeitliche Dringlichkeit und die Schwierigkeit der Planerleistungen. In den Ansätzen mitberücksichtigt sind die Generalunkosten und der Unternehmergewinn des Planers.72

204 Um der Gefahr entgegenzutreten, dass das Honorar in unerwartete Höhe steigt, wird in der Praxis häufig ein Kostendach vereinbart.

Das Prozenthonorar:

205 Beim Prozenthonorar erfolgt die Berechnung des Planerhonorars in Prozenten des Interes-senwertes, wobei sich als Interessenswert in erster Linie die Baukosten eignen.73

206 Die Parteien müssen aber die Honorarbemessung nicht individuell aushandeln. Es steht ihnen offen, die einschlägigen SIA-Ordnungen zu übernehmen.74 Da die SIA-Ordnungen 102 und 103 aber diverse Fragen offen lassen, sind bei blosser Übernahme durch Verweis allerdings Differenzen zwischen den Parteien über die Höhe des Honorars vorprogrammiert.75 Eine indi-viduellen Aushandlung der Honorarbemessung zwischen den Parteien ist somit vorzuziehen.

Die Höhe des Honorars wird nicht vereinbart

207 Treffen die Parteien über die Höhe der Vergütung keine Vereinbarung, so gelangen die ge-setzlichen Bestimmungen zur Anwendung.

69 Zum Ganzen EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.14 zu § 7. 70 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.16 zu § 7. 71 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.17 zu § 7. 72 Zum Ganzen EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.20 zu § 7. 73 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.28 zu § 7. 74 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.30 zu § 7. 75 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.31 zu § 7.

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208 Handelt es sich bei den Planerleistungen um Leistungen, die dem Auftragsrecht unterstehen, so hat der Planer, wie bereits vorgängig erläutert, einen Anspruch auf eine Vergütung, wenn dies verabredet oder üblich ist (Art. 394 Abs. 3 OR). Mangelt es an einer Vereinbarung, ist die Verkehrsübung massgebend. Leistet demnach ein Planer im Rahmen seiner Berufsausübung Planerleistungen, ist üblicherweise eine Vergütung geschuldet. Nebst einem allfälligen Hono-rar hat der Planer Anspruch auf den Ersatz von Auslagen und Verwendungen (Art. 402 Abs. 2 OR).

209 Über die Höhe der Vergütung enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung. Es rechtfertigt sich allerdings, Art. 394 Abs. 3 OR nicht nur für die Entgeltlichkeit an sich, sondern ebenfalls für die Höhe der Vergütung heranzuziehen und für die Honorarbemessung auf die Verkehrs-übung abzustellen.

210 Ist hingegen das Werkvertragsrecht einschlägig, so ist für die Vergütung des Planers als sol-che und auch für deren Höhe nicht die Übung massgebend. Anders als das Auftragsrecht in Art. 394 Ab. 3 OR verweist das Werkvertragsrecht nicht auf die Verkehrsübung. Bei der be-rufsmässigen Erbringung von Planerleistungen wird aber von einer stillschweigenden Verein-barung einer Vergütung ausgegangen. Das Werkvertragsrecht spricht lediglich von einer Ver-gütung, die den Wert der Arbeit und deren Aufwendungen abdeckt (Art. 374 OR).76

211 Lehre und Rechtsprechung gehen sodann davon aus, dass die SIA-Ordnungen (LHO) für die Planerverträge nicht a priori der gefestigten Verkehrsübung entsprechen.77

4. Die Beendigung von Planerverträgen

A. Die ordentliche Beendigung durch Erfüllung

212 Sind alle im Planervertrag begründeten Pflichten erfüllt und alle daraus fliessenden Rechte erschöpft, so erlischt der Planervertrag von selbst. Erfüllen somit die Parteien das vereinbarte Leistungsprogramm vollständig und vertragskonform, so wird die vertraglich geschaffene Bin-dung aufgelöst.78

213 Die (entweder auf Vertragsabrede der Parteien oder auf Vertragsergänzung durch das Gericht beruhenden) Nebenpflichten bleiben aber unter Umständen bestehen. Unter einer solchen Nebenpflicht versteht man namentlich die Pflicht des Planers, die «Arbeitsergebnisse […] wäh-rend zehn Jahren ab Beendigung des Auftrags aufzubewahren» (Art. 1.3.7 der SIA-Ordnung 102/103) oder die Pflicht, der vertraulichen Behandlung der «Kenntnisse aus der Auftragsbe-arbeitung» (Art. 1.3.2 der SIA-Ordnung 102/103).79

76 Zum Ganzen EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.4 zu § 7. 77 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.38 zu § 7. 78 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.73 zu § 2. 79 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O.

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B. Der Aufhebungsvertrag

214 Möchten beide Parteien die Leistungspflichten nicht vollständig erfüllen und den Planervertrag vorzeitig aufheben, so können sie einen Vertrag abschliessen, der die Aufhebung des Planer-vertrages und deren Folgen regelt. Dabei steht es den Parteien offen, den Planervertrag rück-wirkend oder lediglich für die Zukunft aufzuheben.80

215 In der Praxis kommt es gelegentlich vor, dass die Planer eine Kündigung durch den Bauherrn bestätigen oder sie anerkennen. Eine solche Äusserung gilt nicht als Zustimmung zum Ab-schluss eines Aufhebungsvertrages, da es bereits am Angebot des Bauherren zum Abschluss eines Aufhebungsvertrages fehlt.81

C. Die Beendigung durch Kündigung

Allgemeines

216 Möchte nur eine Partei vorzeitig den Vertrag auflösen, fällt ein Aufhebungsvertrag von vorn-herein ausser Betracht. In einem solchen Fall kann der Planervertrag durch eine einseitige Kündigung aufgelöst werden.

217 Die einschneidende Rechtsgrundlage des Kündigungsrechts ist aber wiederum von der Ver-tragsqualifikation abhängig. So gestaltet sich die Rechtslage unterschiedlich, je nachdem, ob es sich beim konkreten Planervertrag um einen Werkvertrag, einen einfachen Auftrag oder einen Gesamtvertrag handelt.82

218 Eine Kündigung wird mit dem direkten Zugang beim Kündigungsgegner oder mit dem Ablauf einer Kündigungsfrist wirksam (es muss sich somit nicht zwingend um eine fristlose Kündigung handeln). Von da an erlischt einerseits die Pflicht des Planers zur Erbringung von künftigen Planerleistungen und andererseits die Pflicht des Bauherren zur Vergütung der Planerleistun-gen und zum Ersatz von Auslagen.83

219 Die Erklärung des Kündigenden ist empfangsbedürftig, muss aber vom Kündigungsgegner nicht angenommen bzw. akzeptiert werden.84

220 Zudem darf die Kündigung grundsätzlich an keine Bedingungen geknüpft werden.85 Die Ver-knüpfung der Kündigung mit einer Bedingung ist einzig dann zulässig, wenn beim Kündigungs-gegner keine unklare Situation eintritt.86 Zur Veranschaulichung kann folgendes Beispiel ge-nannt werden: Der Planer ist mit dem Erstellen der Pläne in Verzug und der Bauherr spricht die Kündigung aus. Letzterer hält aber fest, dass die Kündigung nur wirksam ist, wenn der Planer nicht innert einer angesetzten Nachfrist die Pläne fertig erstellt. Die Situation ist dem-nach für den Planer klar. Er weiss, dass er die Vertragsleistung, mit der er in Verzug ist, innert der angesetzten Nachfrist erbringen muss, andernfalls die Kündigung wirksam ist.

80 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.75 zu § 2. 81 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O. 82 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.76 zu § 2. 83 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.79 zu § 2. 84 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.82 zu § 2. 85 STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O. 86 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.83 zu § 2.

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221 Zudem ist eine einmal ausgesprochene Kündigung unwiderruflich. Es steht den Parteien aber offen, nach der Kündigung eine Einigung über die Fortführung des Planervertrages zu treffen oder gar einen neuen Planervertrag (mit altem Inhalt) abzuschliessen.87

Die Kündigung des Planervertrags (als Werkvertrag)

222 Ist der Planervertrag (seinem konkreten Inhalt entsprechend) ein Werkvertrag, so kann der Besteller nach Art. 377 OR solange das Werk unvollendet ist, gegen Vergütung der bereits geleisteten Arbeit und gegen volle Schadloshaltung des Planers jederzeit vom Vertrag zurück-treten. Volle Schadloshaltung bedeutet, dass der Besteller bei vorzeitiger Kündigung den Un-ternehmer so bezahlen muss, wie wenn der Vertrag richtig erfüllt worden wäre (sog. positives Interesse). Vereinfacht gesagt, steht dem Unternehmer die Vergütung für künftige Leistungen zu, die ihm infolge der Kündigung entgeht, wobei er sich anrechnen lassen muss, was er nicht leisten musste.88

223 Ein Kündigungsrecht steht dem Planer seinerseits nicht zu.89

224 Die Parteien können das Kündigungsrecht nach Art. 377 OR wegbedingen oder ändern; Art. 377 OR gilt nicht als zwingend.

Die Kündigung des Planerauftrags

225 Handelt es sich beim konkreten Planervertrag um einen einfachen Auftrag, so bildet die Kün-digung Gegenstand des Art. 404 OR. Gleiches gilt gemäss Rechtsprechung für den Gesamt-vertrag.90 Nach Abs. 1 dieser Bestimmung kann der Auftrag von jedem Teile jederzeit wider-rufen oder gekündigt werden. Dieses Recht steht beiden Parteien zu; auch dem Planer. Das Kündigungsrecht unterliegt keinerlei Voraussetzungen. Der Vertrag kann auch bei Fehlen ei-nes objektiven Grundes oder zu Unzeit aufgelöst werden. 91 Art. 404 Abs. 1 OR ist gemäss Rechtsprechung zwingender Natur. Es steht den Parteien nicht frei, eine davon abweichende Auflösungsordnung zu vereinbaren oder das jederzeitige Auflösungsrecht wegzubedingen.92

226 Anders als bei der Kündigung nach Werkvertragsrecht, besteht eine Pflicht zur Schadloshal-tung nur, wenn die Kündigung zur Unzeit erfolgt (Art. 404 Abs. 2 OR).93 Zu Unzeit erfolgt eine Kündigung durch den Bauherr, wenn der Planer zur Vertragsauflösung keinen begründeten Anlass gegeben hat oder die Auflösung mit Blick auf den Zeitpunkt und auf die vom Planer getroffenen Dispositionen Nachteile bringt.94 Dies ist denkbar, wenn der Planer zur Erbringung seiner Planerleistung extra sein Personal aufgestockt hat. Die Ersatzpflicht beim einfachen Auftrag beschränkt sich aber auf das negative Interesse, d.h. der Kündigungsgegner ist so zu halten, wie wenn der Vertrag gar nie zustande gekommen wäre. Wie auch nach Art. 377 OR hat der Bauherr dem Planer jedoch die bis anhin geleistete Arbeit in jedem Fall zu vergüten.95

87 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.84 zu § 2. 88 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.86 f. und 2.112 zu § 2. 89 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.82 und 2.95 zu § 2. 90 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.104 zu § 2. 91 Zum Ganzen STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.93 zu § 2. 92 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.104 zu § 2. 93 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.96 zu § 2. 94 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.115 zu § 2. 95 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.106 zu § 2.

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Die Bestimmungen der SIA-Ordnungen

227 Die SIA-Ordnungen 102 und 103 regeln in Art. 1.10 die vorzeitige Beendigung des Vertrages und die damit einhergehenden Folgen, doch verweisen sie im Wesentlichen lediglich auf das Gesetz, mit Ausnahme allerdings des Kündigungsrechts des Planers im Werkvertrag (Rz. 262).96

C. Der Ersatz von Auslagen

228 Nach Art. 402 Abs. 1 OR schuldet der Auftraggeber dem Beauftragten die Auslagen und Ver-wendungen, die dieser in richtiger Ausführung des Auftrages gemacht hat. Gleiches gilt im Werkvertragsrecht nach Art. 374 OR (der jedoch nur von Aufwendungen des Unternehmers spricht und somit inhaltlich weiter gefasst ist).97

229 Unter Auslagen versteht man den Geldaufwand wie etwa die Barauslagen, Spesen, Unkosten, Nebenkosten und Verwendungen und Aufwendungen. Das sind insbesondere Kosten für Fo-tokopien, Modelle, Porti, Telefon- und Reisespesen, öffentlich-rechtliche Gebühren und dgl. Als Auslage kann auch die MWST gelten, es sei denn, die Parteien haben eine Vereinbarung getroffen, wonach die MWST im Honorar inbegriffen sei.98

230 Die SIA-Ordnungen 102 und 103 führen etwa als Auslagen weiter die Kosten für den Einsatz von Spezialgeräten, die Kosten für Gebühren und spezielle Versicherungen, die Kosten der Baustellenbüros und die Kosten von EDV-Aufwendungen auf.99

231 Geschuldet sind nur die effektiv entstandenen Aufwendungen; es besteht ein Anspruch auf Verzinsung, nicht hingegen auf einen Gewinn. Zu ersetzen sind aber nur diejenigen Aufwen-dungen, die der Planer in richtiger Erfüllung seines Auftrags getätigt hat. Übertriebene oder unnötige Aufwendungen sind in keinem Fall vom Bauherr geschuldet.100

5. Die SIA-Ordnungen für Leistungen und Honorare (LHO)

A. Die SIA-Ordnungen als Allgemeine Vertragsbedingungen für Architekten und In-genieure

232 Wie bereits erwähnt, ist der Planervertrag kein im Gesetz besonders geregelter Vertragstyp. In der Praxis sind deshalb die SIA-Ordnungen sehr wichtig. Die SIA-Ordnungen sind vom Schweizerischen Ingenieur- und Architekten-Verein (SIA), ein privater Verein nach ZGB, ohne staatlichen Auftrag herausgegeben worden und sie regeln nach ihrer eigenen Bezeichnung die Leistungen und Honorare von Planern.101

233 Zum Kreis dieser Honorarordnungen zählen die folgenden Publikationen:

96 STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 2.76 zu § 2. 97 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.167 zu § 7. 98 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O. 99 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, a.a.O. 100 EGLI/STÖCKLI, Die Planerverträge, Nr. 7.169 f. zu § 7. 101 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planungsverträge, Nr. 1.54 zu § 1; SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen

102/103, S. 29.

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- SIA-Ordnung 102: Ordnung für Leistungen und Honorare der Architektinnen und Ar-chitekten;

- SIA-Ordnung 103: Ordnung für Leistungen und Honorare der Bauingenieurinnen und Bauingenieure;

- SIA-Ordnung 108: Ordnung für Leistungen und Honorare der Ingenieurinnen und In-genieure der Bereiche Gebäudetechnik, Maschinenbau und Elektrotechnik.

- SIA-Ordnung 110: Ordnung für Leistungen und Honorare der Raumplanerinnen und Raumplaner auf den Gebieten der kommunalen Gesamtplanung und der Sondernut-zungsplanung.

234 Daneben gibt es die SIA-Ordnung 104 für Leistungen und Honorare der Forstingenieure und Forstingenieurinnen, die SIA-Ordnung 105 für Leistungen und Honorare der Landschaftsar-chitektinnen und Landschaftsarchitekten und die SIA-Ordnung 106 für Leistungen und Hono-rare der Geologinnen und Geologen.

235 Die SIA-Ordnung 103 enthält Allgemeine Geschäftsbedingungen für den Bauingenieurver-trag.102 Sie umfasst von Kopf bis Fuss 71 Textseiten, Format A4. Es ist also ein eigentliches kleines Buch; die detaillierten Regelungen ermöglichen es, die Vertragsurkunde selber dann sehr kurz zu fassen. Für diese stellt der SIA auch ein Formular zur Verfügung (zurzeit das Formular SIA 1001/1, Planer-/Bauleitungsvertrag, Ausgabe 2014).

B. Zur Übernahme der SIA-Ordnungen (LHO)

236 Wichtig ist, dass die SIA-Ordnungen nicht von Gesetzes wegen gelten. Sie haben gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung keine regelbildende Übung, und sind daher nur dann ver-bindlich, wenn sie von den Parteien vertraglich übernommen worden sind. Es sind allgemeine Vertragsbedingungen. Die Parteien müssen die SIA-Ordnungen somit zum Vertragsinhalt er-heben, wenn gewollt ist, dass sie gelten. Dies kann in einem Satz erfolgen: "Es gilt die SIA-Ordnung 102". Die gewünschte SIA-Ordnung kann aber auch bei den Vertragsbestandteilen aufgeführt werden. Ohne eine solche Übernahme gelten die SIA-Ordnungen nicht, insbeson-dere auch dann nicht, wenn der Vertragspartner ein Architekt oder ein Ingenieur ist, und auf seine Mitgliedschaft beim SIA hinweist.103 Auch Parteien, welche nicht Mitglieder des SIA sind, können die Geltung der SIA-Ordnungen vereinbaren.104 Nicht relevant ist zudem für die Gel-tung der Übernahme, ob die Parteien die SIA-Ordnung käuflich erworben oder ob sie sie ko-piert haben.

237 Werden die SIA-Ordnungen nicht übernommen, kommt der Vertrag trotzdem zustande, es gilt dann einfach das dispositive Gesetzesrecht.

238 Die vertragliche Übernahme der in den SIA-Ordnungen enthaltenen Bestimmungen erfolgt durch ausdrückliche oder stillschweigende Abrede der Parteien.105 Auch wenn eine Über-nahme formlos möglich ist, stellen sich im Streitfalle natürlich fast unlösbare Beweisprobleme,

102 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 29. 103 So auch GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.85 zu § 1. 104 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.87 zu § 1. 105 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.88 zu § 1.

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wenn die Übernahme nicht schriftlich erfolgt ist. Das gilt umso mehr, wenn nur Teile der SIA-Ordnungen übernommen werden sollen.

239 Es ist auch möglich, nur einen Teil der SIA-Ordnungen zu übernehmen; die Parteien können beispielsweise den Leistungsbeschrieb zum Vertragsinhalt erheben, die restlichen Bestim-mungen aber nicht.

240 Die SIA-Ordnungen werden von Zeit zu Zeit überarbeitet. Es ist deshalb wichtig, dass man genau vermerkt, welche Ausgabe der SIA-Ordnung man übernimmt; in der Regel wird das die aktuelle sein.106 Zurzeit sind für die Architekten, Ingenieure und Gebäudetechniker die Ausga-ben 2014 massgeblich.107

241 Wichtig ist, dass individuelle Abreden der Parteien Allgemeinen Geschäftsbedingungen immer vorgehen. Das ist ein allgemeiner Grundsatz, und gilt nicht nur für die SIA-Ordnungen. Wenn die Parteien also in der Vertragsurkunde oder anderswo etwas anders regeln, als es die SIA-Ordnung 103 vorsieht, gilt das individuell vereinbarte.108 Auch Bestimmungen der Vertragsur-kunde gehen den Bestimmungen der LHO vor.

242 Zu beachten bleibt: Stimmt eine Partei der Übernahme nur global zu, d.h., übernimmt sie eine Bestimmung, ohne sie zu kennen oder gelesen zu haben, geniesst sie besonderen Schutz. Allgemeine Vertragsbedingungen, und damit auch die Bestimmungen der SIA-Ordnungen, über deren Inhalt sich die betreffende Partei bis zum Vertragsabschluss nicht in zumutbarer Weise informieren konnte, erlangen keine Geltung. Privaten Bauherren sollte der Planer dem-nach den Text rechtzeitig überlassen, damit er ihn in Ruhe lesen und überdenken kann. Bei baukundigen Vertragspartnern darf er davon ausgehen, dass sie die SIA-Ordnungen kennen, wie diese Kenntnis auch bei ihm erwartet werden darf. Ungewöhnliche und überraschende Bestimmungen, mit denen die global zustimmende Partei nicht rechnen musste, gelten nicht. Zudem gelten jene Bestimmungen nicht, die vom dispositivem Gesetzesrecht abweichen, ohne dass sich die Abweichung mit der Eigenart des konkret vereinbarten Planervertrags rechtfertigen lässt. Dies alles sind allgemeine Grundsätze des Rechts der Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen.109 In der Baupraxis erlangen sie wenig Bedeutung. Dies insbesondere deshalb, weil die SIA-Ordnungen im Grossen und Ganzen eben ausgewogen sind. Es ist mir aus neuerer Zeit kein Fall bekannt, dass unter Verweis auf diese Ausnahmen Bestimmungen der SIA-Ordnungen die Geltung verweigert worden wäre.

C. Zur rechtlichen Qualifikation des SIA-Vertrages

243 Die SIA-Ordnung 103 bezeichnet den Vertragspartner des Ingenieurs konsequent als Auftrag-geber. Damit wird der Eindruck erweckt, der Planervertrag des Ingenieurs sei ein Auftrag. Wir haben bereits gehört, dass dies nicht so ist. Die Worte "Auftrag" und "Auftraggeber" werden in einem juristisch untechnischen Sinne verwendet. Sie wollen den Ingenieur-Vertrag nicht als Auftrag qualifizieren (was rechtlich ohnehin bedeutungslos wäre), noch wollen sie den Gegen-stand der SIA-Ordnung 103 auf jene Ingenieurverträge beschränken, die den Vorschriften des

106 Dazu GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.93 zu § 1. 107 Zur Revision 2014 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 29. 108 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.99 f. zu § 1. 109 Zum Ganzen GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.105 ff. zu § 1.

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einfachen Auftrags unterstehen.110 Der Ingenieurvertrag kann ein Auftrag sein, er kann aber auch ein Werkvertrag oder ein Gesamtvertrag sein. Die SIA-Ordnung 103 wählt den Begriff des "Auftraggebers" deshalb, damit die Norm lesbar bleibt. Dasselbe gilt auch für die SIA-Ordnung 102; auch hier wird der Begriff „Auftrag“ oft verwendet, ohne dass der SIA irgendet-was über die Qualifikation des Architektenvertrags sagen möchte.

D. Aufbau der LHO

244 Die Honorarordnungen sind einheitlich aufgebaut. Grob lassen sich 3 Themen unterscheiden: Allgemeine Vertragsbedingungen, eine umfassende Beschreibung der Leistungen des Pla-ners, die Vergütungsordnung.111

245 Die Ordnungen 102, 103 und 108 sind über weite Strecken gleich aufgebaut. Nach einer Ein-leitung folgt Art. 1, welcher Allgemeine Vertragsbedingungen enthält. Diese sind identisch. Art. 2 betrifft die Aufgaben und die Stellung des Planers; hier sind die Texte auf den jeweiligen Planer abgestimmt. Art. 3 enthält Bestimmungen über die Leistungen des Ingenieurs, und un-ter Art. 4 folgt dann der jeweilige Leistungsbeschrieb. Art. 5 hält die Grundzüge der Vergütung der Architekten- oder Ingenieurleistungen und Art. 6 die Honorarberechnung nach dem effek-tiven Zeitaufwand fest. In Art. 7 folgt schliesslich die Honorarberechnung nach den Baukosten, resp. den aufwandbestimmenden Baukosten (bei den Architekten).112

E. Zu den Allgemeinen Vertragsbedingungen der SIA-Ordnungen (am Beispiel der SIA-Ordnung 103)

246 In Art. 1 regelt die SIA-Ordnung 103 allgemeine Vertragsgrundsätze. Sie verweist primär auf die Vertragsurkunde. Alle SIA-Verträge sind so aufgebaut, dass die LHO – wie bereits mehr-fach gesagt – die Allgemeinen Geschäftsbedingungen darstellen, während die Details in einer kurz gefassten Vertragsurkunde geregelt sind; zum Beispiel das Formular SIA 1001/1, Planer-/Bauleitungsvertrag, Ausgabe 2014. Es muss aber nicht dieses Formular sein; die Parteien können die Vertragsurkunde frei gestalten. Die Vertragsurkunde ist das für den Vertragsab-schluss massgebliche Dokument.

247 Die Pflichten des Ingenieurs umschreibt Art. 1.2 wie folgt:

248 Sorgfaltspflicht: Der Ingenieur hat die Interessen des Auftraggebers nach bestem Wissen und Können zu wahren und die vertraglich vereinbarten Leistungen unter Beachtung der all-gemein anerkannten Regeln seines Fachgebietes zu erbringen (Art. 1.2.1).

249 Treuepflicht: Der Ingenieur darf von Dritten keine persönlichen Vergünstigungen entgegen-nehmen. Er hat Kenntnisse aus der Auftragsbearbeitung vertraulich zu behandeln (Art. 1.2.2).

250 Vertretung: Wie weit der Ingenieur den Bauherrn vertreten darf, richtet sich nach dem Vertrag. Das müssen die Parteien in der Vertragsurkunde regeln. Für alle wesentlichen Vorkehrungen, sowie für Anordnungen, die terminlich, qualitativ oder finanziell wesentlich sind, hat er Wei-sungen des Bauherrn einzuholen. Soweit Tätigkeiten mit der Auftragserledigung üblicherweise

110 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.74 zu § 1. 111 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.63 zu § 1. 112 Dazu GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1.64 zu § 1.

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direkt zusammenhängen, ist er bevollmächtigt, den Bauherrn gegenüber Dritten zu vertreten (Art. 1.2.3).

251 Informationspflicht: Der Ingenieur hat den Bauherrn umgehend über alle Entwicklungen zu orientieren, welche für das Projekt von Bedeutung sind. Die SIA-Ordnung 103 umschreibt dies zwar zurückhaltender, diese Informationspflicht ist aber Ausfluss der Sorgfaltspflicht. Umge-kehrt ist auch der Bauherr verpflichtet, dem Ingenieur umgehend projektrelevante Informatio-nen, insbesondere behördliche Verfügungen, zu überlassen (Art. 1.4.5).

252 Arbeitssicherheit: Bei der Erbringung seiner vertraglichen Leistungen gewährleistet der Be-auftragte die Sicherheit der am Bauwerk Beschäftigten, indem er als Arbeitgeber die einschlä-gigen Sicherheitsvorschriften einhält, und mit den Arbeitgebern anderer Betriebe die erforder-lichen Absprachen trifft. Eine Pflicht zur Kontrolle der Einhaltung der Sicherheitsregeln durch die Arbeitnehmer anderer Betriebe besteht (nach Wortlaut von Art. 1.2.5 SIA-Ordnung 103) allerdings nicht (Art. 1.2.5).113 Hier bleibt darauf hinzuweisen, dass sich eine Pflicht dafür aller-dings aus Bauleitungs-Pflichten ergeben kann. Entscheidend ist, ob dem Ingenieur in seiner Funktion eine Garantenstellung zukommt; allein gestützt auf die Bestimmungen der SIA-Ord-nung 103 sollte sich der Ingenieur nicht zu sehr in Sicherheit wiegen, sich nicht um die Arbeits-sicherheit anderer Baubeteiligten kümmern zu müssen.

253 Weisungsrecht/Abmahnungspflicht: Der Bauherr ist gegenüber dem Ingenieur weisungs-berechtigt (Art. 1.5.1). Der Ingenieur hat den Bauherrn auf die Folgen seiner Weisungen, ins-besondere hinsichtlich Termine, Qualität und Kosten, aufmerksam zu machen und bei un-zweckmässigen Anordnungen und Begehren abzumahnen. Hat er abgemahnt und beharrt der Bauherr auf seiner Weisung, ist der Ingenieur für die Folgen nicht verantwortlich. Wenn die Abmahnung allerdings Sicherheitsregeln betrifft, welche der Bauherr nicht einhalten will, kann sich der Ingenieur nicht damit begnügen, abgemahnt zu haben. Wenn er dann seine Haftung gegenüber Dritten ausschliessen will, muss er sein Mandat niederlegen (Art. 1.2.6).

254 Prüfungspflichten: Der Ingenieur hat sachverständig erstellte Arbeitsergebnisse von Dritten nicht zu prüfen; er muss aber Mängel, die er erkennt, dem Bauherrn anzeigen und ihn auf nachteilige Folgen aufmerksam machen (Art. 1.2.7).114 So verständlich es ist, dass die SIA hier die Haftung des Ingenieurs eher gering halten wollte, so fraglich ist diese Einschränkung auch. Denn entscheidend ist nicht, ob der Ingenieur den Mangel erkannt hat, sondern ob er ihn er-kennen musste.

255 Rechenschaftsablegung und Unterlagen/Aufbewahrung von Dokumenten: Als Ausfluss seiner vertraglichen Pflichten hat der Ingenieur jederzeit Rechenschaft abzulegen, und alle Unterlagen herauszugeben, zu deren Erstellung es sich vertraglich verpflichtet hat. Die Ar-beitsergebnisse bleiben Eigentum des Beauftragten, und er hat sie während 10 Jahren aufzu-bewahren (Art. 1.2.8, .9).115

256 Bei den Rechten des Ingenieurs ist auf folgende hinzuweisen:

257 Rechte an Arbeitsergebnissen des Beauftragten: Die Rechte an den Arbeitsergebnissen verbleiben beim Beauftragten, insbesondere urheberrechtlich geschützte Werke. Als solche 113 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 30 f. 114 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 31. 115 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 32.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 41

gelten Entwürfe und Teile von Werken, sofern es sich um geistige Schöpfungen mit individu-ellem Charakter handelt (Art. 1.3.1). Jeder Architekt meint, sein Werk sei selbstverständlich urheberrechtlich geschützt. Das ist aber nicht unbedingt der Fall, es muss sich um geistige Schöpfungen mit individuellem Charakter handeln. Mit der Bezahlung des Honorars steht den Bauherren das nicht ausschliessliche Recht zu, die Arbeitsergebnisse des Ingenieurs für das vereinbarte Projekt zu verwenden (Art. 1.5.3).

258 Beizug von Dritten zur Vertragserfüllung: Der Ingenieur ist befugt, für die Erfüllung seiner vertraglichen Pflichten in eigenem Namen und auf eigene Kosten Dritte beizuziehen. Er kann also Subplaner verpflichten (Art. 1.3.3).116

259 Abschlagszahlungen, Sicherstellung, Vorauszahlung/Einstellung der Arbeiten bei un-berechtigter Nichtleistung von Vergütungen durch den Auftraggeber: Der Ingenieur hat Anspruch auf Abschlagszahlungen im Umfang von 90 % der vertragsgemäss erbrachten Leis-tungen. Wenn der Bauherr unter Verletzung seiner Vertragspflichten seine Zahlungen verwei-gert, hat der Ingenieur das Recht, seine Arbeiten bis zur Erfüllung der Zahlungspflicht einzu-stellen (Art. 1.3.4, .5).117

260 Haftung (Art. 1.7): Siehe dazu die Ausführungen in Rz. 341.

261 Verjährungs-/Rügefristen (Art. 1.8): Siehe dazu die Ausführungen in Rz. 335 ff.

262 Vorzeitige Beendigung des Vertrages: Der Vertrag kann unabhängig von seiner rechtlichen Qualifikation (Werkvertrag oder Auftrag) von jeder Partei jederzeit widerrufen oder gekündigt werden (Art. 1.10). Für die auftragsrechtlich zu qualifizierenden Verträge entspricht dies der gesetzlichen Regelung, für die werkvertraglich zu qualifizierenden Verträge nicht. Erfolgt eine solche Kündigung durch den Bauherrn zur Unzeit, so ist der Ingenieur berechtigt, nebst dem Honorar für die vertragsgemäss geleistete Arbeit einen Zuschlag zu fordern. Dieser beträgt 10 % des Honorars für den entzogenen Auftragsteil oder mehr, wenn der nachgewiesene Scha-den grösser ist. Eine Kündigung zur Unzeit liegt vor, wenn der Beauftragte keinen begründeten Anlass zur Kündigung gegeben hat und die Kündigung hinsichtlich des Zeitpunktes und der von ihm getroffenen Dispositionen für ihn nachteilig ist.118

F. Zu den Leistungsbeschrieben (am Beispiel der SIA-Ordnung 103)

263 Auch im Aufbau der Leistungsbeschriebe entsprechen sich die SIA-Ordnungen weitgehend. Die einzelnen Leistungsphasen werden aufgeschlüsselt in "Organisation", "Auftragsgegen-stand / Beschrieb und Visualisierung", "Kosten / Finanzierung", "Termine", "Administration", "Leistungen und Entscheide des Auftraggebers".119

264 Die Leistungsbeschriebe sind ausführlich, und für beide Parteien des Planervertrages sehr wertvoll. Sie gliedern die Leistungen des Planers entsprechend den üblichen Phasen des Bau-ablaufs. Der Aufbau des Leistungsbeschriebs ist abgestimmt auf das Leistungsmodell gemäss der Norm Modell Bauplanung Verständigungsnorm 112 des SIA. Der Beschrieb ist keine

116 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 34. f. 117 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 32. 118 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 41 f. 119 GAUCH/MIDDENDORF, Die Planerverträge, Nr. 1. 66 zu § 1.

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Checkliste. Er umschreibt die Grundleistungen, und allfällig besonders zu vereinbarende Leis-tungen. Werden besonders zu vereinbarende Leistungen nicht vereinbart, muss sie der Planer nicht erbringen, auch dann nicht, wenn die entsprechende SIA-Ordnung übernommen worden ist.

265 In Art. 4.2 führt die SIA-Ordnung 103 die Leistungen über alle Phasen auf, die der Auftragge-ber zu erbringen hat, welche der Ingenieur als Gesamtleiter zu erbringen hat, und welche der Ingenieur als Fachplaner zu erbringen hat. Damit kann die SIA-Ordnung 103 mit dem selben Leistungsbeschrieb sowohl Grundlage für die Arbeit des Ingenieurs als Gesamtleiter wie auch für die Arbeit des Ingenieurs als Fachplaner sein. Art. 4.2.1 grenzt dann die Aufgaben des Bauherrn von jenen des Ingenieurs ab.

266 Die Leistungen selber werden in die folgenden umfassenden Phasen eingeteilt:

- Art. 4.3.1:

Strategische Planung (Bedürfnisformulierung und Lösungsstrategien);

- Art. 4.3.2:

Vorstudien (Definition des Bauvorhabens, Machbarkeitsstudie, Auswahlverfahren);

- Art. 4.3.3:

Projektierung (Vorprojekt, Bauprojekt, Bewilligungsverfahren/Auflageprojekt);

- Art. 4.3.4:

Ausschreibung (Ausschreibung, Offertvergleich, Vergabeantrag);

- Art. 4.3.5:

Realisierung (Ausführungsprojekt, Ausführung, Inbetriebnahme, Abschluss);

- Art. 4.3.6:

Bewirtschaftung (Betrieb, Überwachung/Überprüfung/Wartung, Instandhaltung).

267 Dieser Aufbau und die detaillierten Bestimmungen dazu sind für Planer und Bauherren von grösster Bedeutung, weil sie für den Bauherrn die gesamten Planungsabläufe (welche Ent-scheidungen müssen wann von wem getroffen werden, welche Grundlagen muss wer wem wann zur Verfügung stellen) transparent machen. Sie sind aber auch immer Grundlage der rechtlichen Beurteilung der Arbeit des Planers, weil sie die Aufgaben eben sehr detailliert um-schreiben, und der Ingenieur (sei dies in der Honorardiskussion, sei dies bei der Prüfung der Frage, warum es zu einem Bautenschaden gekommen ist) wird nachweisen müssen, dass er diese Leistungen auch erbracht hat. Sie sind gleichzeitig Hilfestellung für den Planer, weil sich daraus im Ausschlussverfahren auch entnehmen lässt, welche Leistungen er eben nicht er-bringen musste, oder welche Leistungen er nur dann hätte erbringen müssen, wenn er damit besonders beauftragt worden wäre, weil es eine besonders zu vereinbarende Leistung war.

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IV. Die Haftung der Planer

1. Allgemeines zur Haftung des Planers 268 Bei der Haftung des Planers geht es um die Verantwortlichkeit für Planungsfehler und den

Schaden, der dem Bauherrn oder einem Dritten entstanden ist. Haftung bedeutet, dass ein Schuldner für die Erfüllung einer Schuld einstehen muss.120

269 Wir unterscheiden zwei Haftungsarten:

270 Zum einen die vertragliche Haftung. Hier geht es um vertragliche Schadenersatzansprüche des Geschädigten (z.B. des Bauherrn) gegen den Schädiger (z.B. den Planer); dies z.B. dann, wenn der Planer seinen Vertrag fehlerhaft erfüllt hat, und dem Bauherrn deswegen ein Scha-den entstanden ist. Eine vertragliche Haftung setzt immer einen Vertrag zwischen Schädiger und Geschädigtem voraus.

271 Zum anderen die ausservertragliche Haftung: Sie besteht unabhängig von einem Vertrag zwi-schen Geschädigtem und Schädiger. Dieser Anspruch ergibt sich nicht aus dem Vertrag, wel-chen z.B. der Planer mit dem Bauherrn abgeschlossen hat. Er besteht ausservertraglich. Ent-sprechend stehen solche Ansprüche gegenüber dem fehlbaren Planer auch nicht nur seinem Vertragspartner, sondern jedem Geschädigten zu; dazu Rz. 362.

2. Grundlagen der vertraglichen Haftung 272 Wie bereits erläutert, werden Teile des Planervertrags rechtlich als Werkvertrag, andere Teile

als einfacher Auftrag qualifiziert. Diese Unterscheidung wirkt sich auch auf die Haftung des Planers aus.

273 Zur Erinnerung: Das Erstellen von Plänen gilt als werkvertragliche Leistung. Die Erstellung eines Kostenvoranschlages, die Bauleitung oder etwa die Vergabe von Arbeiten gelten als Auftrag.

274 In Bezug auf die Haftung sind die Unterschiede des Werkvertrags- und des Auftragsrechts aber nicht so fundamental:121

275 Beim einfachen Auftrag ist ein sorgfältiges Tätigwerden geschuldet, beim Werkvertrag hinge-gen ein Erfolg. Das Werkvertragsrecht statuiert aber in Art. 364 Abs. 1 OR ebenfalls eine all-gemeine Sorgfaltspflicht. In beiden Fällen setzt zudem ein Schadenersatzanspruch ein Ver-schulden des Planers voraus (Art. 97 Abs. 1 OR i.V.m. Art. 398 Abs. 2 OR für die Haftung nach Auftragsrecht und Art. 368 Abs. 1 und 2 OR für die Haftung nach Werkvertragsrecht). Weiter sind die Rechtsbehelfe des Werkvertragsrecht (Nachbesserung, Minderung und Wandelung), auf die nachfolgend näher eingegangen wird, auf die Herstellung von Plänen nicht recht pas-send, 122 womit in der Regel, wie bei der Haftung nach Auftragsrecht, Schadenersatz geschul-det ist.

120 GAUCH, OR AT, Bd. I, Rz. 105 ff.; DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.22 zu § 8. 121 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.13 zu § 8. 122 Zum Ganzen DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.14 zu § 8.

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276 Wesentliche Unterschiede bestehen vor allem hinsichtlich der strengen Prüfungs- und Rüge-obliegenheiten des Werkvertragsrecht (Art. 367 Abs. 1 und Art. 370 OR) sowie der Verjährung der Haftungsansprüche. Die Ansprüche nach Werkvertragsrecht verjähren grundsätzlich nach zwei Jahren (Art. 371 Abs. 1 OR), die auftragsrechtlichen hingegen erst nach zehn Jahren (Art. 127 OR). Handelt es sich um ein unbewegliches Werk, so beträgt die Verjährungsfrist nach Werkvertragsrecht fünf Jahre (Art. 371 Abs. 2 OR).123

277 Da es sich gemäss Rechtsprechung beim Gesamtvertrag um einen gemischten Vertrag han-delt, sind die massgebenden Haftungsbestimmungen vom jeweiligen Leistungsteil des Ge-samtvertrages abhängig; d.h. man muss sich stets fragen, welche Leistung der Planer nicht korrekt erbracht und ob diese Leistung auftragsrechtlichen oder werkvertragsrechtlichen Cha-rakter hat.

3. Voraussetzungen der vertraglichen Haftung

Allgemeines

278 Ist der Schaden Folge einer mangelhaften Planung, also werkvertraglicher Natur, so ist Art. 368 OR über die Rechte des Bestellers bei Mängeln die Grundlage des Anspruches auf Scha-denersatz.

279 Unterstehen die Leistungen des Planers, wie namentlich die Bauleitung, die Erstellung einer Baukostenschätzung oder die Vergabe, dem Auftragsrecht und verstösst der Planer gegen seine Sorgfaltspflichten, so hat der Bauherr gestützt auf Art. 398 Abs. 2 i.V.m. Art. 97 Abs. 1 OR einen Anspruch auf Schadenersatz.

Der Schadenersatzanspruch

Die Voraussetzungen im Überblick

280 Der Bauherr hat gegenüber dem Planer einen Anspruch auf Schadenersatz, wenn:

- sich der Planer vertragswidrig verhält und damit eine Vertragsverletzung begeht (z.B. fehlerhafte Pläne, ungenügende Abklärungen, unsorgfältige Bauleitung, fehlerhafte Berechnung der Baukosten, fehlerhafte Kostenkontrolle);

- der Bauherr dadurch einen Schaden erleidet (Schaden);

- zwischen der Vertragsverletzung und dem eingetretenen Schaden ein Kausalzusam-menhang besteht (natürliche und adäquate Kausalität);

- der Planer für den Schaden die Verantwortung trägt (Verschulden).

Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein.124

123 Zum Ganzen DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.15 zu § 8. 124 Zum Ganzen DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.24 ff. zu § 8.

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Die Vertragsverletzung

281 Nach Werkvertragsrecht ist ein Arbeitserfolg geschuldet. Entsprechend muss der Planer für den Erfolg der vertraglich zugesprochenen Planungsleistung auch einstehen. Dieser Erfolg wird aber nicht erreicht, wenn das Werk fehlerhaft ist. Der Planer hat damit eine vertragliche Pflicht nicht oder nicht richtig erfüllt, d.h. den Vertrag verletzt.

282 Nach Auftragsrecht ist ein pflichtgemässes und sorgfältiges Tätigwerden geschuldet. Bringt der Planer die erforderliche Sorgfalt nicht auf, hat er den Vertrag verletzt.

283 "Vertragsverletzung bedeutet Pflichtverletzung."125

284 Eine Vertragsverletzung liegt etwa vor, wenn:

- der Planer entgegen den Weisungen des Bauherrn geplant hat;

- bei der Planung die Regeln der Baukunde nicht beachtet worden sind (z.B. eine Brüs-tung zu tief geplant, eine Armierung falsch gezeichnet oder ein ungenügendes Gefälle);

- eine Fehlberechnung vorliegt (z.B. Armierung falsch berechnet);

- ein ungeeignetes Produkt eingesetzt worden ist (z.B. ungeeignete Dorne); oder

- der Planer bei der Planung die öffentlich-rechtlichen Vorschriften nicht abgeklärt und beachtet hat.126

Der Schaden

285 Ein Schaden ist eine unfreiwillige Vermögensminderung, d.h. eine Abnahme der Aktiven, eine Vermehrung der Passiven oder ein entgangener Gewinn.

286 Nach der sog. Differenztheorie entspricht der Schaden der Differenz zwischen dem gegenwär-tigen Stand des Vermögens und dem Stand, den das Vermögen ohne das schädigende Er-eignis aufweisen würde.

287 Der Schaden kann ein Personen-, ein Sach- oder ein Vermögensschaden sein.127 Die Unter-scheidung ist im Vertragsrecht nicht von grosser Bedeutung: "Grundsätzlich wird für jede Art von Schaden gehaftet, der durch Vertragsverletzung entstanden ist"128; der Planer haftet also für jede Schadenskategorie, wenn er eine Vertragsverletzung begangen hat. Im ausserver-traglichen Haftpflichtrecht (Kap. IV/6/A, Rz. 350 ff.) und im Versicherungsrecht (Rz. 537 ff.) wird die Unterscheidung aber relevant.

288 Ein Personenschaden liegt vor, wenn eine Person in ihrer Gesundheit geschädigt, verletzt oder getötet wird, und deshalb einen Schaden erleidet. Zum Personenschaden wird auch der Vermögensschaden gezählt, welcher Folge des Personenschadens ist: also nicht nur der Arm-bruch, sondern auch die Heilungskosten und der Erwerbsausfall.

289 Ein Sachschaden entsteht bei Zerstörung, Beschädigung oder Verlust einer Sache129 (z.B. ein Kran stürzt auf ein Haus). Zum Sachschaden wird auch der Vermögensschaden gezählt,

125 SCHUMACHER, Das Architektenrecht, Nr. 425. 126 Zum Ganzen DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.32 zu § 8. 127 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.35 zu § 8. 128 SCHUMACHER, Das Architektenrecht, Nr. 529. 129 SCHUMACHER, Das Architektenrecht, Nr. 534 ff.

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welcher Folge des Sachschadens ist. Sachschaden ist also beispielsweise nicht nur das zer-störte Haus, sondern auch der Mietausfall, wenn das Haus wegen dem Schaden für eine be-stimmte Zeit nicht mehr vermietet werden kann.

290 Ein reiner Vermögensschaden liegt vor, wenn allein das Vermögen des Geschädigten be-einträchtigt wird, ohne dass ein Personen- oder Sachschaden vorliegt.

291 Die mangelhaften Pläne selbst stellen keinen Schaden dar. Der Bauherr kann für einen feh-lerhaften Plan keinen Schadenersatz verlangen.130

292 Die mangelhafte Planung kann zu einem Mangel an einem Bauwerk führen. Daraus entsteht ein sog. Mangelfolgeschaden; der Schaden besteht z.B. in den Kosten der Verbesserung durch einen Dritten, oder aber im Minderwert der Baute (Vermögensschaden). Zudem kann das mangelhafte Bauwerk zu weiterem Schaden führen, wenn z.B. der Eigentümer einer Baute gegenüber einem Dritten haftet und dafür in Anspruch genommen wird (z.B. dann, wenn der Planer die Vorschriften für Geländer/Brüstungen nicht einhält und ein Kind sich infolge eines Sturzes durch die Öffnung des Balkongeländers verletzt (Personenschaden)).131

293 Der mangelhafte Plan kann aber auch ohne Schaden an einem Bauwerk zu einem Schaden führen. Wenn z.B. aufgrund eines Fehlers in einem initialen Plan die Pläne der anderen Planer umgezeichnet werden müssen, oder wenn ein fehlerhafter Plan neu gezeichnet werden muss, und sich daraus eine Verzögerung ergibt, welche zu einem Schaden des Bauherrn führt.

294 Schaden kann etwa sein:132 - Die Kosten der Verbesserung des Mangels durch einen Dritten, mit den sog. Begleit-

kosten (z.B. Kosten der Unterbringung des Bauherrn und seiner Familie während der Verbesserung);

- Ein Minderwert der Baute, weil ein Mangel nicht behebbar ist;

- Unnötige Baukosten, die wegen der Fehlplanung entstanden sind, resp. Mehrkosten der Unternehmer wegen der Fehlplanung;

- Schaden aus einer Haftung des Bauherrn gegenüber einem Dritten wegen der Fehl-planung. Beispiel: ein Verspätungsschaden, wenn das Werk wegen dem Planfehler zu spät fertig wird, und der Totalunternehmer (als Vertragspartner des Planers) dem Bau-herrn eine Konventionalstrafe und/oder Schadenersatz bezahlen muss;

- Schaden aus einer Haftung des Bauherrn gegenüber einem Dritten wegen der Fehl-planung. Beispiel: Ein Hang rutscht, das Nachbargebäude wird beschädigt; der Bau-herr (als Vertragspartner des Planers) wird dem Nachbarn gegenüber aus Art. 685 ZGB haftpflichtig;

- Entgangener Gewinn. Beispiel: Die fehlerhaft geplante Fabrik kann erst mit grosser Verspätung eröffnet werden. Der Betriebsausfall führt zu entgangenem Gewinn;

- Entgangener Gewinn. Beispiel: Der Bauherr könnte das Werk weiterverkaufen, die Ver-kaufschance entgeht aber wegen der Verspätung;

130 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.80 zu § 8. 131 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.66 und 8.76 f. zu § 8. 132 Beispiele bei DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.81 ff. zu § 8.

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- Nutzlose Aufwendungen. Beispiel: Gestützt auf einen fehlerhaften Bericht wird eine Kanalisationsleitung nur punktuell saniert. Sie bleibt undicht, und muss dann totalsa-niert werden. Die Aufwendungen für die punktuelle Sanierung waren nutzlos.

295 Der blosse Verlust einer Nutzungsmöglichkeit (z.B. ein Raum kann wegen einem Wasser-schaden für eine bestimmte Zeit nicht genutzt werden) ist kein Schaden. Er ist aber dann ein Schaden, wenn der Bauherr den Raum vermietet hätte, und ihm dadurch Mietzins entgangen ist.133

Der Kausalzusammenhang

296 Zwischen der Vertragsverletzung und dem Schaden muss ein natürlicher Kausalzusammen-hang bestehen. Die natürliche Kausalität ist gegeben, wenn die Vertragsverletzung nicht weg-gedacht werden kann, ohne dass auch der eingetretene Erfolg entfiele. Die natürliche Kausa-lität reicht sehr weit, ist doch im Grunde jedes vorgängige Verhalten kausal für das eingetre-tene Ergebnis.

297 Um die Haftung auf ein vernünftiges Mass zu reduzieren, muss daher zwischen der Vertrags-verletzung und dem Schaden weiter ein adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Die adä-quate Kausalität ihrerseits ist erst gegeben, wenn nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung die Vertragsverletzung geeignet ist, einen Erfolg in der Art des eingetretenen herbeizuführen. Dadurch werden unter all den denkbaren natürlichen Ursa-chen dem haftpflichtigen Planer nur die ihm fairerweise anzurechnenden Ursachen angelas-tet.134

Das Verschulden

298 Der Bauherr hat gegenüber dem Planer grundsätzlich nur einen Anspruch auf Schadenersatz, wenn ihm die Vertragsverletzung vorzuwerfen ist, d.h. wenn er sich schuldhaft verhalten hat. Schuldhaft handelt der Planer, wenn sein Verhalten von dem angemessenen Durchschnitts-verhalten unter denselben Umständen negativ abweicht.135

299 Im Rahmen des Verschuldens wird zwischen Vorsatz/Absicht, Eventualvorsatz und Fahrläs-sigkeit unterschieden. Vorsätzlich handelt ein Planer, wenn er die Vertragsverletzung und die dadurch verursachte Schädigung gewollt hat. Wenn der Planer den Schaden zwar nicht ge-wollt hat, aber als mögliche Folge bewusst in Kauf genommen hat, handelt er eventualvorsätz-lich. Wenn er sich hingegen der Vertragsverletzung und der Schädigung des Bauherrn nicht bewusst ist, obwohl er die Schädigung bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit hätte erkennen können, handelt er fahrlässig.136 Dies etwa dann, wenn er gegen eine Verhaltenspflicht (z.B. eine Regel der Baukunde) verstösst, die er nicht kennt oder er nicht wahrnimmt, dass er gegen sie verstösst. In einem solchen Fall wird dem Planer vorgeworfen, dass er sich nicht nach der unter den konkreten Umständen gebotenen Sorgfalt verhalten hat und er den Schaden bei

133 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.107 ff. zu § 8. 134 Zum Ganzen DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.37 zu § 8. 135 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.41 zu § 8. 136 SCHUMACHER, Das Architektenrecht, Nr. 534 ff.

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gehöriger Sorgfalt hätte voraussehen und verhindern können. Entscheidend ist, wie eine ver-nünftige Person mit der entsprechenden Ausbildung in der vorgelegenen Situation sich ver-halten hätte. Persönliche Umstände bleiben ausser Acht.137

300 Nach Art. 97 Abs. 1 OR wird das Verschulden des Planers vermutet. Es steht ihm aber frei, zu beweisen, dass er die gebotene Sorgfalt aufgewendet hat.138

Kasuistik

301 Beispiele einer Fehlplanung, die zu einer Haftung des Planers führen kann:139 - Realisierung einer bestimmten Konstruktionsweise eines Daches ohne Beachtung der

Regeln der Baukunde, was zu einer ungenügenden Dachschräge und dem Eindringen von Wasser führt;

- Aushebung einer Baugrube für den Bau eines mehrgeschossigen Hauses ohne vor-gängig abzuklären, ob die Gefahr eines Hangrutsches besteht;

- Verstoss gegen die Regeln der Baukunde bei fehlender Abdichtung der Kelleraussen-wände mit Bitumen, was zum Eindringen von Wasser führt;

- Nichttreffen der nötigen Sicherheitsvorkehren im Rahmen der Planung eines Baupro-jektes;

- Ausserachtlassen der Erdbebensicherheit bei der Projektierung und Realisierung eines Bauwerkes;

- Fehlende Bewilligungsfähigkeit eines Bauprojektes z.B., weil es nicht zonenkonform ist oder den baupolizeilichen Vorschriften nicht entspricht;

- Fehlerhafte Erstellung der Ausschreibungsunterlagen;

- Erstellung eines fehlerhaften Berichtes, der die Grundlage für den Entscheid einer Sa-nierungsmassnahme bildet;

- Erstellen eines fehlerhaften Zeitplanes, indem etwa wesentliche Arbeitsschritte nicht aufgeführt oder miteinander koordiniert werden, was Mehrkosten verursacht;

- Nichtbeachtung einer Weisung des Bauherrn, weshalb das Bauwerk nicht den Wün-schen des Bauherrn entspricht.

A. Die Genugtuung

302 Wird ein Bauherr infolge eines Planungsfehlers getötet oder verletzt, so steht den Angehörigen des Getöteten oder dem Verletzten ein Genugtuungsanspruch zu (Art. 47 i.V.m. Art. 99 Abs. 3 OR). Eine Genugtuung ist Ersatz eines immateriellen Schadens.

303 Zudem hat der Bauherr einen Anspruch auf eine Geldsumme als Genugtuung, wenn er in seiner Persönlichkeit schwer verletzt wurde (Art. 49 i.V.m. Art. 99 Abs. 3 OR). Eine schwere Persönlichkeitsverletzung kommt in Frage, wenn die Lebensqualität des Bauherrn über lange Zeit infolge eines krassen Planungsfehlers erheblich beeinträchtigt wird.140 Dies wäre etwa 137 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.41 ff. zu § 8. 138 LOCHER, Die Planerverträge, a.a.O. 139 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.60 ff. zu § 8. 140 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.180 zu § 8.

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denkbar, wenn infolge eines Planungsfehlers in ein Bauwerk während längerer Zeit Wasser eintritt und der daraus folgende Schimmelbefall ursächlich für eine starke Lungenerkrankung des Bauherrn ist.

B. Die weiteren Ansprüche des Bauherrn

304 Bei der Haftung für Planungsfehler (werkvertraglicher Natur) steht stets der Schadenersatz im Vordergrund, da dem Bauherrn etwa mit der Nachbesserung eines mangelhaften Plans in der Regel nicht gedient wird. Der verbesserte Plan führt letztlich nicht zur Beseitigung des entstan-denen Mangels am Bauwerk.

305 Dennoch steht es dem Bauherrn (im werkvertraglichen Bereich) frei, sich zusätzlich zum An-spruch auf Schadenersatz der weiteren Sachgewährleistungsrechte nach Art. 368 OR (Nach-besserung, Wandelung und Minderung) bedient zu machen, weswegen der Vollständigkeit halber kurz auf diese Rechtsbehelfe einzugehen ist:

306 Die Wandelung: Ist die vom Planer erbrachte Leistung derart fehlerhaft, dass sie der Bauherr nicht gebrauchen und ihm die Annahme nicht zugemutet werden kann, kann er nach Art. 368 Abs. 1 OR den Planervertrag aufheben und, sofern er den Planer schon bezahlt hat, das ent-richtete Honorar zurückfordern.141 Fehlt es aber an einem erheblichen Mangel, entfällt das Recht auf Wandelung.

307 Die Minderung: Weist die Leistung des Planers weniger schwerwiegende Mängel auf, so steht es dem Bauherrn zu, eine Minderung des Planerhonorars zu verlangen (Art. 368 Abs. 2 OR).142

308 Die Nachbesserung: Sofern keine übermässigen Kosten anfallen, ist der Bauherr nach Art. 368 Abs. 2 OR berechtigt, vom Planer zu verlangen, dass er die mangelhafte Leistung nach-bessert.143 Da der Planer allerdings nur die Planerleistungen und nicht die Herstellung des Bauwerks schuldet, beschränkt sich die Nachbesserung auf den fehlerhaften Plan. Der Planer muss den Mangel am Bauwerk nicht beseitigen. Dies hat zur Konsequenz, dass eine Nach-besserung dem Bauherrn meistens nur etwas bringt, solange das Bauwerk noch nicht fertig erstellt ist.144

309 Die Ersatzvornahme: Lässt sich bereits während der Ausführung der Planungsleistungen be-stimmt voraussehen, dass die Planungsleistungen mangelhaft vorgenommen werden, kann der Bauherr eine angemessene Frist zur Abhilfe ansetzen und dem Planer androhen, dass er bei Nichteinhalten der Nachfrist die Planerleistungen zur Verbesserung, resp. zur Fortführung auf Gefahr und Kosten des Planers einem Dritten übertragen wird (Art. 366 Abs. 2 OR).

C. Vertragliche Regelung der Haftung: Einschränkung oder Verschärfung

310 Aufgrund der Vertragsfreiheit steht es den Parteien offen, die Voraussetzungen der Haftung oder die Rechtsfolgen der gesetzlichen Haftungstatbestände abweichend zu regeln oder die

141 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.184 zu § 8. 142 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.185 zu § 8. 143 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.186 zu § 8. 144 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.187 zu § 8.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 50

gesetzliche Haftung zu verschärfen.145 Bei Übernahme der LHO und/oder der Verwendung des SIA 1001/1, Planer-/Bauleitungsvertrag, wird eine solche Änderung vereinbart; dazu nachste-hend Rz. 341.

311 Die Parteien können die gesetzliche Haftung beschränken oder ausschliessen (sog. Freizeich-nung).146 Eine Freizeichnung für vorsätzliche oder grobfahrlässige Schädigung ist allerdings ungültig (Art. 100 Abs. 1 OR).147

D. Die Prüfungs- und Rügeobliegenheit im werkvertraglichen Bereich

312 Um seine Ansprüche gegenüber dem fehlbaren Planer geltend machen zu können, muss der Bauherr:

- rechtzeitig die Planungsleistungen prüfen (Prüfungsobliegenheit);

- Mängel dem Planer umgehend anzeigen (Rügeobliegenheit);

- während der Verjährungsfrist tätig werden.148

313 Bei der Prüfungs-und Rügeobliegenheit handelt es sich nicht um Pflichten des Bauherrn, son-dern um sog. Obliegenheiten. Wenn der Bauherr die Planerleistungen nicht prüft oder es ver-säumt, die Mängel zu rügen, so verliert er seine Rechte.149

Die Prüfungsobliegenheit

314 Gemäss Art. 367 Abs. 1 OR muss der Bauherr das abgelieferte Werk prüfen, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist.

315 Da der Bauherr aber regelmässig nicht über die fachlichen Kenntnisse verfügt und Mängel oftmals erst während der Bauausführung oder danach auftreten, dürfen an die Prüfungsoblie-genheit des Bauherrn keine allzu grossen Anforderungen gestellt werden.150

Die Rügeobliegenheit

316 Entdeckt der Bauherr bei der Prüfung der Planerleistungen Mängel, muss er diese umgehend rügen (Art. 367 Abs. 2 und Art. 370 Abs. 2 OR). Gleiches gilt für versteckte Mängel, die der Bauherr im Rahmen der ordentlichen Prüfung noch nicht erkannt und erst nachträglich ent-deckt hat; diese Mängel müssen sofort gerügt werden (Art. 370 Abs. 3 OR).151 Sofort meint innert weniger Tage!

317 Der Bauherr muss den Planer nicht nur über den Mangel in Kenntnis setzen, sondern muss auch deutlich festhalten, dass er die Planerleistung als nicht vertragsgemäss betrachtet und den Planer diesbezüglich haftbar macht. Die Rüge muss hinreichend klar formuliert sein, so-dass der Planer genau erkennen kann, um welchen Mangel es sich handelt.152

145 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.171 zu § 8. 146 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.171 zu § 8. 147 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.173 zu § 8. 148 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.196 ff. zu § 8. 149 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.200 zu § 8. 150 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.203 zu § 8. 151 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.205 zu § 8. 152 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.206 zu § 8.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 51

Die Genehmigung

318 Der Bauherr darf schliesslich die Planerleistungen nicht genehmigen. Tut er dies, stehen ihm keine Haftungsansprüche zu.153

319 Die Genehmigung kann ausdrücklich (vgl. Art. 370 Abs. 1 OR) oder stillschweigend erfolgen. So wird gemäss Art. 370 Abs. 2 OR eine stillschweigende Genehmigung angenommen, wenn der Bauherr die Planerleistungen nicht prüft. Es genügt etwa bereits, wenn der Bauherr die Planerleistungen vorbehaltslos bezahlt, sie entgegennimmt oder darüber verfügt.154

Abweichende vertragliche Regelungen

320 Art. 367 OR, welcher die Prüfung der Planerleistungen und die Mängelrüge regelt, ist disposi-tives Recht. Die Parteien können eine davon abweichende Vereinbarung treffen155, z.B. durch Übernahme der LHO und/oder der Verwendung des SIA 1001/1, Planer-/Bauleitungsvertrag; dazu nachstehend Rz. 335.

321 Die Parteien können daher eine andere Frist für die Prüfung des Werks oder die Mängelrüge vorsehen. Ebenso ist es möglich, die Frist der Verjährung oder den Beginn der Verjährung zu modifizieren156; dazu nachstehend Rz. 335.

E. Die Schadenminderungspflicht im auftragsrechtlichen Bereich

322 Anders als das Werkvertragsrecht, kennt das Auftragsrecht keine Prüfungs- und Rügeoblie-genheit. Den Bauherrn trifft allerdings eine Schadenminderungspflicht. Er ist verpflichtet, dem Planer Mängel anzuzeigen, sofern dadurch ein Schaden verhindert werden kann. Unterlässt er dies, muss er den dadurch aufgetretenen Schaden selber tragen.157

F. Die Verjährung

Verjährung bei Ansprüchen aus einem Mangel

323 Die Haftung des Planers für einen Mangel an einem Plan verjährt grundsätzlich nach zwei Jahren. Gleiches gilt, wenn der fehlerhafte Plan zu einem Mangel an einem beweglichen Werk führt (Art. 371 Abs. 1 OR i.V.m. Art. 210 Abs. 1 OR).158

324 Untersteht der Planervertrag dem Werkvertragsrecht, so gilt auf jeden Fall die zweijährige Ver-jährungsfrist (Art. 371 Abs. 1 OR); für Leistungen eines Architekt oder eines Ingenieur auch dann, wenn der Planervertrag dem Auftragsrecht untersteht.159

325 Ansprüche des Bauherrn aus Mängeln an einem unbeweglichen Werk verjähren erst nach fünf Jahren (Art. 371 Abs. 2 OR); dies deshalb, weil Mängel an einem unbeweglichen (Bau)werk häufig erst nach einer längeren Zeit erkennbar werden.160 Diese gilt auch dann,

153 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.193 zu § 8. 154 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.194 zu § 8. 155 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.211 zu § 8. 156 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.212 zu § 8. 157 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.208 zu § 8. 158 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.223 zu § 8. 159 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.225 zu § 8. 160 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.228 zu § 8.

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wenn ein mangelhafter Plan zu einem Mangel an einem unbeweglichen Werk führt.161 Diese Fünfjahresfrist gilt für die Architekten und die Ingenieure (Art. 371 Abs. 2 OR) ungeachtet der Qualifikation des Vertrages,162 also unabhängig davon, ob Werkvertrags- oder Auftragsrecht zur Anwendung kommt.

326 Unter einem unbeweglichen Bauwerk versteht man eine Sache, die durch Verwendung von Material und der Leistung von Arbeit geschaffen wurde und fest mit dem Erdboden verbunden ist.163 Als unbewegliche Werke qualifiziert werden etwa:

- Häuser und andere Hochbauten;

- Strassen, Wege, Tunnels und Brücken;

- Gleisanlagen;

- in den Boden verlegte Leitungen;

- Sanitäranlagen;

- Verputz- oder Malerarbeiten an Wohnhäusern.164

327 Kennt der Planer einen Mangel und verschweigt er ihn absichtlich, so beträgt die Verjährungs-frist zehn Jahre (Art. 371 Abs. 3 i.V.m. Art. 210 Abs. 6 OR).

328 Die Verjährungsfrist beginnt mit der Ablieferung des Werks zu laufen (Art. 371 Abs. 1 i.V.m. Art. 210 Abs. 1 OR), resp. mit der Ablieferung desjenigen Teils eines unbeweglichen Bau-werks, auf den sich die mangelhafte Planungsleistung bezieht. Entscheidend ist also, wann das Werk vom Bauherr abgenommen wird und nicht, wann die Fehlplanung stattfindet oder wann der Planer seine mangelhaften Pläne dem Bauherrn übergibt.165

329 Irrelevant ist, ob der Bauherr den Mangel kennt oder nicht. Die Ansprüche des Bauherrn kön-nen verjähren, bevor er einen Mangel überhaupt entdeckt.166

330 Die Parteien können die Verjährungsfrist nach Art. 371 OR verkürzen oder verlängern, sofern sie die Verlängerung auf maximal zehn Jahre seit der Ablieferung des Werks begrenzen. Bei der zehnjährigen Verjährungsfrist im Falle einer absichtlichen Täuschung handelt es sich aber um zwingendes Recht (Art. 371 Abs. 3 OR).167 Diese Bestimmung ist dem Parteiwillen entzo-gen. Ebenso darf letztlich von der zehnjährigen Verjährungsfrist gemäss Art. 127 OR nicht abgewichen werden (vgl. Art. 129 OR).168

Verjährung bei Ansprüchen aus anderen Vertragsverletzungen

331 Wenn die Haftung des Planers nicht auf einen Mangel des beweglichen oder unbeweglichen Werks zurückzuführen ist, sondern eine andere Vertragsverletzung vorliegt, gilt die allgemeine Verjährungsfrist von zehn Jahren (Art. 127 Abs. 1 OR). Diese Frist gilt auch für alle (nicht auf

161 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.255 zu § 8. 162 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.229 zu § 8. 163 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.230 zu § 8. 164 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.233 ff. zu § 8. 165 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.226 zu § 8. 166 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.247 zu § 8. 167 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.259 zu § 8. 168 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, a.a.O.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 53

einen Mangel des beweglichen oder unbeweglichen Werks zurückzuführenden) auftragsrecht-lichen Ansprüche gegenüber dem Planer.169 Z.B. Ansprüche aus der Verletzung der Sorgfalts- und Treuepflicht oder des Weisungsrechts des Bauherrn.170

332 Die allgemeine Verjährungsfrist beginnt mit der Fälligkeit einer Forderung zu laufen (Art. 130 Abs. 1 OR), d.h. zum Zeitpunkt der Vertragsverletzung. Massgebend ist somit nicht die Ablie-ferung des Werks wie nach Art. 371 OR.171

Zusammenzug

333 Zusammenzug:

• Zwei Jahre: Ansprüche aus Mängeln an einem Plan

• Zwei Jahre. Ansprüche aus Mängeln an einem beweglichen Werk, welche auf einen Planmangel zurückzuführen sind

• Fünf Jahre: Ansprüche aus Mängeln an einem unbeweglichen Werk

• Zehn Jahre: Ansprüche, welche nicht auf Mängel des beweglichen oder unbeweglichen Werks zurückzuführen sind

• Zehn Jahre: bei absichtlicher Verschweigung eines Mangels

Unterbrechung der Verjährung, Verjährungsverzichtserklärung

334 Die Verjährungsfrist kann unterbrochen werden durch Klage vor Gericht, durch Betreibung oder durch Anerkennung durch den Haftpflichtigen. Der Haftpflichtige kann auf die Erhebung der Einrede der Verjährung verzichten. Eine blosse Anzeige an den Haftpflichtigen, oder eine blosse Rüge, unterbricht die Verjährung nicht!

4. Die Prüfungs-, Rüge- und Verjährungsvorschriften gemäss den SIA-Ordnungen (LHO)

335 Art. 1.9 der LHO befasst sich mit den Verjährungs- und Rügefristen.

336 Ansprüche gegenüber dem Planer aus Mängeln des unbeweglichen Werkes verjähren innert fünf Jahren. Die Frist beginnt mit der Abnahme des unbeweglichen Werkes oder Werkteils zu laufen (Art. 1.9.1). Das gilt also auch unabhängig davon, ob Werkvertrags- oder Auftragsrecht zur Anwendung kommt.

337 Für alle anderen Ansprüche will sich der SIA nicht festlegen, und auch die gesetzlich vorgese-hene Ordnung nicht ändern. Die LHO verweisen auf die gesetzlichen Regeln (Art. 1.9.2, 1.9.3).

338 Der SIA wollte die Strenge der gesetzlichen Rügeobliegenheiten entschärfen. Art. 1.9.4 sieht nun eine Rügefrist von 60 Tagen vor: "Mängel sind innert 60 Tagen nach Entdeckung zu rü-gen." Diese Rügefrist gilt generell für alle Arten von Mängeln, also auch für solche, welche bei

169 LOCHER, Die Planerverträge, Nr. 9.164 zu § 9. 170 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.249 zu § 8. 171 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.251 zu § 8.

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der Abnahme des Planwerkes sogleich erkannt werden (offene Mängel).172 Sie gilt indessen nicht in jedem Fall:

339 Plan- und Berechnungsfehler, welche zu einem Mangel eines unbeweglichen Werkes oder Werkteils führen, kann der Auftraggeber während der ersten zwei Jahre nach dessen Ab-nahme jederzeit rügen (Art. 1.9.4). Damit können solche Plan- und Berechnungsfehler innert zwei Jahren nach der Abnahme des Werkes gerügt werden. Es besteht in den zwei Jahren nach Abnahme somit keine sofortige Rügeobliegenheit mehr.

340 Ein aus einer verzögerten Rüge entstehender Schaden trägt allerdings der Auftraggeber (Art. 1.9.4).

5. Die Haftungsregelung gemäss SIA 1001/1, Planer-/Bauleitungsver-trag

341 Der SIA 1001/1 Planer-/Bauleitungsvertrag sieht in seinem Art. 8.2 ein Wahlrecht für das Aus-mass der Haftung des Planers vor. Nach der Einleitung

Der Beauftragte haftet für mit leichter Fahrlässigkeit begangene Vertragsverletzungen bei gegebenen übrigen Voraussetzungen:

können die Parteien folgende Varianten ankreuzen:

höchstens im Umfang der Versicherungsdeckung

höchstens im Umfang des Betrages von CHF _____

in der Höhe unbeschränkt

Wird keine der vorstehenden Möglichkeiten angekreuzt, haftet der Beauftragte höchs-tens im Umfang der Versicherungsdeckung.

342 Die Varianten 1 und 2 würden zu einer erheblichen Beschränkung der Haftung des Planers führen. Was vordergründig als allseits vernünftige Lösung erscheint, ist in der Regel aber nicht sachgerecht. Bei der Beschränkung auf eine bestimmte Summe weiss der Bauherr wenigs-tens, worauf er sich einlässt. Beim Verweis auf die Versicherungsdeckung weiss er es nicht, weil er die Versicherungsdeckung des Planers in der Regel nicht kennt. Und auch wenn er sie (im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses) kennt: Die Risiken bleiben gross. Der Planer kann dem Bauherrn alle Einreden des Versicherers aus dem Versicherungsvertrag ihm gegenüber entgegenhalten. Der Planer kann die Versicherung wechseln und dabei eine Deckungslücke schaffen; die Versicherung kann wegen unterbliebener Prämienzahlung den Versicherungs-vertrag kündigen; fast jeder Versicherungsvertrag hat einen Selbstbehalt des versicherten Pla-ners, was zu einer entsprechenden Reduktion der Ansprüche des Bauherrn führen würde, wenn nicht gar zu einem Wegfall, wenn der Schaden im Rahmen des Selbstbehaltes liegt. Zudem würde sich diese Bestimmung auch auf alle Deckungssauschlüsse (z.B. Schadener-satzansprüche aus Kostenüberschreitung, aus Nichteinhaltung von Fristen, aus mangelhafter Kontrolle von Bauabrechnungen) beziehen; deren Kenntnis hat der Bauherr naturgemäss

172 SIEGENTHALER, Neue SIA-Ordnungen 102/103, S. 39.

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nicht. Im Weiteren kann die Versicherung die Deckung verneinen, wenn der Versicherungs-nehmer (also der Planer) Obliegenheiten aus dem Versicherungsvertrag verletzt.173 Die Be-stimmung schafft damit Intransparenz. Um die Tragweite nachvollziehen zu können, müsste der Bauherr die Police genau studieren, und insbesondere dafür sorgen, dass der Versiche-rungsschutz aufrecht erhalten bleibt.

343 Keine Geltung entfaltet diese Haftungseinschränkung bei vorsätzlicher oder grobfahrlässiger Schädigung, wie sie es ja auch selber gerade sagt. Eine Freizeichnung für vorsätzliche oder grobfahrlässige Schädigung ist generell ungültig (Art. 100 Abs. 1 OR; vgl. Rz. 311).174.

6. Die ausservertragliche Haftung

A. Haftung aus unerlaubter Handlung (Art. 41 ff. OR)

a) Begriff

344 Bei fehlerhafter Planung oder Bauleitung, resp. bei allen Schädigungen, welche der Planer verursacht, steht dem Bauherrn (bei gegebenen Voraussetzungen) alternativ zur vertraglichen Haftung des Planers ein ausservertraglicher Anspruch auf Schadenersatz zu. Dieser Anspruch ergibt sich nicht aus dem Vertrag, welcher der Planer mit dem Bauherrn abgeschlossen hat. Er besteht ausservertraglich. Entsprechend stehen solche Ansprüche gegenüber dem fehlba-ren Planer auch nicht nur seinem Vertragspartner, sondern jedem Geschädigten zu; dazu Rz. 362.

345 Grundlage ist Art. 41 OR: "Wer einem andern widerrechtlich Schaden zufügt, sei es mit Absicht oder aus Fahrlässigkeit, wird ihm zum Ersatze verpflichtet."

b) Voraussetzungen

346 Damit dem Bauherrn (oder einem Dritten) einen solchen ausservertraglichen Anspruch auf Schadenersatz zusteht, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

- Dem Bauherrn muss einen Schaden entstanden sein (Schaden);

- Zwischen dem Schaden und dem fehlerhaften Verhalten muss ein Kausalzusammen-hang bestehen (natürliche und adäquate Kausalität);

- Der Planer muss sich schuldhaft verhalten haben (Verschulden);

- Das Verhalten des Planers muss widerrechtlich sein (Widerrechtlichkeit).

347 Zu den ersten drei Voraussetzungen kann weitgehend auf die Ausführungen zur werkvertrag-lichen Haftung (Rz. 280 ff.) verwiesen werden.

348 Im Gegensatz zur werkvertraglichen Mängelhaftung gelten für den Anspruch aus unerlaubter Handlung die Prüfungs- und Rügeobliegenheiten nicht.175

173 Zur Diskussion über diese Bestimmung und die Wahlmöglichkeiten SIEGENTHALER THOMAS, Versi-

cherungsdeckung statt Scheinlösung, in BR/DC 2016, S. 212 f. und RÜEGG ANDREAS, Bedenkliche Haftungsbeschränkung auf Versicherungsdeckung, BR/DC 2016, S. 213 f.

174 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.173 zu § 8. 175 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.269 zu § 8.

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349 Im Unterschied zur vertraglichen Haftung muss bei der ausservertraglichen Haftung das Ver-halten des Planers widerrechtlich sein.176

c) Zur Widerrechtlichkeit

350 Widerrechtlich ist ein Verhalten, welches gegen ein absolut geschütztes Rechtsgut (z.B. Leib, Leben oder Eigentum) verstösst oder im Rahmen einer rein materiellen Schädigung eine Rechtsnorm verletzt, die gerade eine Verletzung in der Art der eingetretenen verhindern wollte (sog. Verstoss gegen eine Schutznorm).

351 Die Verletzung der absolut geschützten Rechtsgüter Leib und Leben führt in der Regel zu einem Personenschaden (Rz. 288); ein Personenschaden ist damit immer widerrechtlich. Wenn z.B. das Geländer eines Treppenabsatzes zu niedrig ist und der Bauherr darüber stürzt, fällt und sich verletzt, liegt ein Personenschaden vor. Das Verhalten des Planers war damit widerrechtlich.

352 Die Verletzung des absolut geschützten Rechtsguts Eigentum führt in der Regel zu einem Sachschaden (Rz. 289); ein Sachschaden ist damit immer widerrechtlich. Wenn z.B. aufgrund einer fehlerhaften Planung das Dach eines Hauses undicht ist und das dadurch eindringende Wasser das Mobiliar des Bauherrn beschädigt, liegt ein Sachschaden vor.177 Das Verhalten des Planers war damit widerrechtlich.

353 Liegt kein Personen- oder Sachschaden, sondern ein reiner Vermögensschaden (Rz. 290) vor, ist der Schaden nur dann widerrechtlich, wenn ein Verstoss gegen eine Schutznorm vorliegt. Solche Schutznormen finden sich vor allem im Strafgesetzbuch (StGB; z.B. Betrug, Veruntreu-ung, ungetreue Geschäftsbesorgung etc.).

354 Der Planer verhält sich nicht widerrechtlich, wenn der Bauherr in die Verletzung seiner Rechte einwilligt. Keine Einwilligung ist aber bei Personenschäden möglich.

355 Zeichnen sich die Parteien von der gesetzlichen Haftung frei, ist durch Auslegung zu ermitteln, ob sich diese Freizeichnung ebenfalls auf den Anspruch aus unerlaubter Handlung bezieht.178

d) Zur Verjährung der Ansprüche aus unerlaubter Handlung

356 Bei den Ansprüchen aus unerlaubter Handlung unterscheidet man zwischen der relativen und der absoluten Verjährungsfrist. Die relative Verjährungsfrist beträgt ein Jahr und läuft ab Kenntnis des Schadens und des Ersatzpflichtigen (Art. 60 Abs. 1 OR). Die absolute Verjäh-rungsfrist beträgt zehn Jahre ab dem Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses (Art. 60 Abs. 2 OR).

357 Ist das Dach eines Hauses undicht und stellt sich etwa erst nach Ablauf von fünf Jahren her-aus, dass für den Wassereintritt eine fehlerhafte Planung ursächlich ist, so verjährt der An-spruch auf Schadenersatz ein Jahr nachdem der Bauherr vom Schaden und dem sich fehler-haft verhaltenden Planer Kenntnis erhalten hat. Spielt sich die genau gleiche Situation erst

176 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.267 zu § 8. 177 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, a.a.O. 178 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, a.a.O.

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nach mehr als zehn Jahren seit der fehlerhaften Planung ab, so ist der Anspruch aus uner-laubter Handlung verjährt. Die relative Verjährungsfrist von einem Jahr spielt dann keine Rolle mehr.

358 Sowohl die absolute wie auch die relative Verjährungsfrist können unterbrochen werden durch Klage vor Gericht, durch Betreibung oder durch Anerkennung durch den Haftpflichtigen. Der Haftpflichtige kann auf die Erhebung der Einrede der Verjährung verzichten. Eine blosse An-zeige an den Schädiger oder ein "Einschreibebrief" unterbricht die Verjährung aber nicht!

e) Art. 41 OR als Grundlage der Haftung der Subplaner gegenüber dem Bauherrn

359 Dem Planer steht es frei, auf einen Subplaner zurückzugreifen. Da es aber zwischen dem Bauherrn und dem Subplaner an einem Vertragsverhältnis mangelt, muss der Bauherr einen Haftungsanspruch gegenüber dem Subplaner auf die Bestimmungen der unerlaubten Hand-lung nach Art. 41 Abs. 1 OR stützen.179

f) Art. 41 OR als Grundlage der Haftung des Planers gegenüber den Unternehmern und anderen Planern

360 Unter Umständen verursacht der Planer den Unternehmern oder anderen Planern einen Scha-den. Da es in diesen Fällen in der Regel aber an einem Vertragsverhältnis fehlen wird, wird der Planer diesen gegenüber nicht vertraglich, sondern ebenfalls ausservertraglich haftbar. Wie gegenüber dem Bauherrn, ist eine Haftung aus unerlaubter Handlung nach Art. 41 OR oder eine Haftung als Geschäftsherr nach Art. 55 OR denkbar.180

361 Bspw. haftet der Planer gegenüber den Unternehmern, wenn aufgrund einer fehlerhaften Pla-nung deren Eigentum (etwa Werkezuge oder Maschinen) beschädigt wird.181

g) Art. 41 OR als Grundlage der Haftung des Planers gegenüber Dritten

362 Der Planer kann auch gegenüber Nachbarn des Bauherrn, Passanten oder späteren Mietern nach den ausservertraglichen Regeln, namentlich aus unerlaubter Handlung nach Art. 41 OR oder als Geschäftsherr nach Art. 55 OR, haftbar werden.182

363 Denkbar ist dies etwa, wenn durch Aushubarbeiten an einem Grundstück das Grundstück des Nachbarn ins Rutschen gerät und dafür ein Fehler in der Planung ursächlich ist.

B. Die ausservertragliche Haftung des Planers als Geschäftsherr

364 Nach Art. 55 OR haftet der Planer für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben. Anderes gilt nur, wenn der Planer nachweisen kann, dass er die gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden in der Art des eingetretenen zu verhindern oder dass der Schaden trotz Anwendung der gebotenen Sorgfalt eingetreten wäre.

179 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.273 zu § 8. 180 Zum Ganzen DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.274 zu § 8. 181 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.275 zu § 8. 182 DENZLER/HOCHSTRASSER, Die Planerverträge, Nr. 8.279 zu § 8.

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V. Strafrecht auf dem Bau

1. Einleitung 365 Ein Planungsfehler kann zu einem Schaden und entsprechender Schadenersatz- oder Ge-

währleistungspflicht des Planers führen. Immer wieder sind aber Planungsfehler oder eine an-dere Sorgfaltspflichtverletzung des Planers auch strafrechtlich relevant.

366 Der Planer sieht sich daher unter Umständen mit zwei Verfahren konfrontiert: Dem Zivil- und dem Strafverfahren. Während es beim Haftpflichtanspruch des Bauherrn gegen den Planer um die Regulierung von Schadenersatz geht, also um vermögensrechtliche Angelegenheiten unter den Parteien, geht es im Strafrecht um den Strafanspruch des Staates gegenüber einem Täter, welcher gegen die öffentliche Ordnung verstossen hat. Für schwere Verstösse hat der Staat im Strafrecht Straftatbestände definiert. Wer gegen eine solche Strafnorm verstösst, macht sich strafbar. Der Staat sorgt dafür, dass der Täter bestraft wird.

367 Will der geschädigte Bauherr Schadenersatz geltend machen, ist er gezwungen (sofern er sich mit dem Planer nicht aussergerichtlich einigen kann), den Zivilrichter anzurufen. Der Bauherr muss demnach im Haftpflichtrecht als Teil des Privatrechts selbst aktiv werden. Das ist im Strafrecht anders. Ist ein Schadenfall strafrechtlich relevant, so führen die staatlichen Unter-suchungsorgane (Polizei und Staatsanwaltschaft) von sich aus die Ermittlungen durch und leiten eine Strafuntersuchung ein.

368 Strafbar ist, wer eine Tat begeht, die das Gesetz mit Strafe bedroht (Art. 1 StGB).

369 Das Strafgesetzbuch (StGB) unterscheidet zwischen Verbrechen und Vergehen, wobei für die Abgrenzung auf die Schwere der Strafe, mit der eine Straftat bedroht ist, abgestellt wird (Art. 10 Abs. 1 StGB). Als Verbrechen gilt eine Tat, die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht ist (Art. 10 Abs. 2 StGB). Unter einem Vergehen versteht man hingegen eine Tat, die mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft wird (Art. 10 Abs. 3 StGB).

370 Im Baubereich werden oft folgende Straftatbestände relevant:

- Bauspezifische Straftatbestände

• Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 StGB);

• Beseitigung oder Nichtanbringung von Sicherheitsvorrichtungen (Art. 230 StGB);

• Beschädigung von elektrischen Anlagen, Wasserbauten und Schutzvorrichtungen (Art. 228 StGB);

• Verursachen einer Überschwemmung oder eines Einsturzes (Art. 227 StGB).

- Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben

• Tötung (Art. 117 StGB);

• Körperverletzung (Art. 122 ff. StGB).

- Strafbare Handlungen gegen das Vermögen

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• Sachbeschädigung (Art. 144 StGB).

2. Vorsatz und Fahrlässigkeit

Allgemeines

371 Ein Verbrechen oder ein Vergehen ist immer strafbar, wenn es vorsätzlich begangen wurde (Art. 12 Abs. 1 StGB). Die fahrlässige Begehung einer Straftat ist hingegen nur dann strafbar, wenn die entsprechende Strafnorm dies ausdrücklich sagt.

Vorsatz

372 Vorsätzlich begeht nach Art. 12 Abs. 2 StGB ein Verbrechen oder ein Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt.

373 Mit Wissen handelt ein Täter, wenn ihm die wesentlichen Umstände einer Straftat bewusst sind, d.h. wenn er den Zusammenhang zwischen einem strafbaren Verhalten und dem straf-rechtlich verpönten Ergebnis erkennt.

374 Mit Willen handelt ein Täter, wenn er den Willen hat, eine Straftat zu begehen. Beim Willen wird weiter zwischen dem direkten Vorsatz und dem Eventualvorsatz unterschieden.

375 Mit direktem Vorsatz handelt ein Täter, wenn er das strafrechtlich verpönte Ergebnis, z.B. den Tod eines Menschen, verwirklichen will.

376 Eventualvorsätzlich handelt hingegen derjenige, der die Verwirklichung einer Straftat zwar nicht will, sie aber für möglich hält, und das strafrechtlich verpönte Ergebnis in Kauf nimmt (vgl. Art. 12 Abs. 2 StGB zweiter Satz). Der Täter handelt somit eventualvorsätzlich, wenn er durch die Abgabe eines Schusses zwar nicht den Tod eines Menschen verwirklichen will, er dessen Eintritt aber für möglich hält und ihn zumindest in Kauf nimmt.

Fahrlässigkeit

377 Fahrlässig handelt, wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt oder darauf nicht Rücksicht nimmt (Art. 12 Abs. 3 StGB).

378 Ein Täter ist unvorsichtig, wenn er das strafrechtlich verpönte Ergebnis seines Verhaltens überhaupt nicht in Erwägung zieht oder das Ergebnis zwar für möglich hält, jedoch leichtfertig hofft, dass es schon nicht eintreten wird.

379 Die Unvorsichtigkeit ist schliesslich pflichtwidrig, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3 StGB zweiter Satz).

380 Die erforderliche Sorgfalt bemisst sich demnach im Strafrecht nach den Umständen des Ein-zelfalls und nach den persönlichen Verhältnissen des Täters. Der Täter muss nur diejenige Sorgfalt aufwenden, zu welcher er nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten überhaupt in der Lage ist.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 60

381 Das verpönte Ergebnis des Verhaltens des Täters muss zudem voraussehbar und vermeidbar sein.

382 Der zivilrechtliche Fahrlässigkeitsbegriff geht demnach weiter als der strafrechtliche. Zur Erin-nerung: Im Haftpflichtrecht gilt ein objektivierter Fahrlässigkeitsbegriff. Danach ist entschei-dend, wie eine vernünftige Person mit der entsprechenden Ausbildung in der vorgelegenen Situation sich verhalten hätte. Persönliche Umstände bleiben ausser Acht (vgl. Rz. 299). Kann dem Planer im Strafprozess keine Sorgfaltspflichtverletzung und demnach keine Fahrlässig-keit vorgeworfen werden, heisst das somit noch nicht, dass er nicht haftpflichtig wird. Letztlich ist ein Zivilrichter nicht an die Beurteilung des Strafrichters gebunden; gleiches gilt umgekehrt.

383 Erfahrungsgemäss ist es aber häufig so, dass ein Strafurteil stark präjudizierend wirkt. Unter dem Begriff präjudizieren verstehen die Juristen ein eigentliches Vorwegnehmen eines Ent-scheides. Folgend orientiert sich der Zivilrichter oft am Strafverfahren. So wird der Zivilrichter nach einer strafrechtlichen Verurteilung eines Planers kaum je eine Haftpflicht des Planers verneinen. Es ist aber denkbar, dass der Planer trotz Freispruch im strafrechtlichen Verfahren im Zivilprozess zur Bezahlung einer Schadenersatzforderung verurteilt wird.

3. Tätigkeits- und Erfolgsdelikte 384 Es wird unterschieden zwischen dem Tätigkeits- und dem Erfolgsdelikt.

385 Bei einem Tätigkeitsdelikt wird einzig ein bestimmtes Verhalten unter Strafe gestellt. Dieses Verhalten kann sich in einem aktiven Tun oder in einem Unterlassen (d.h. in der Nichtvor-nahme einer gebotenen Handlung) äussern.183 So macht sich bspw. bereits strafbar, wer in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug lenkt (Art. 91 Abs. 1 SVG). Es muss keine Person in Gefahr geraten.184

386 Anderes gilt bei einem Erfolgsdelikt. Ein Erfolgsdelikt charakterisiert sich nicht alleine durch ein bestimmtes Verhalten, sondern erfordert darüber hinaus einen gedanklich, resp. zeitlich abgrenzbaren Erfolg.185 Beispiele für Erfolgsdelikte sind etwa die Sachbeschädigung nach Art. 144 StGB, die Tötung nach Art. 111 StGB und die schwere und die einfache Körperverletzung nach Art. 122 f. StGB.

387 Erfolgsdelikte verlangen einen Zusammenhang zwischen der Handlung und dem Erfolg. Es stellt sich somit die Frage der natürlichen und adäquaten Kausalität (vgl. Rz. 296 f.).

4. Zum Unterlassungsdelikt

Liegt ein Tun oder ein Unterlassen vor?

388 Eine Straftat kann nicht nur durch eine aktive Handlung, sondern auch durch die Nichtvor-nahme einer gebotenen Handlung, d.h. durch Unterlassen, verwirklicht werden. Art. 11 Abs. 1

183 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 101. 184 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 102. 185 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, a.a.O.

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StGB: Ein Verbrechen oder Vergehen kann auch durch pflichtwidriges Untätigbleiben began-gen werden.

389 Das Unterlassungsdelikt ist zum Begehungsdelikt subsidiär. Es muss daher vor der Beurtei-lung eines Unterlassungsdeliktes vorerst geprüft werden, ob überhaupt ein Unterlassen und nicht ein aktives Tun vorliegt. Die Abgrenzung ist nicht immer einfach; zur Verdeutlichung:

390 Der Bauingenieur, der an einer Stahlaufhängung einer frei schwebenden Betondecke in einem Hallenbad Mängel feststellt und trotz Unklarheit über die Mängelursache keinen Fachmann (etwa einen Stahlfachmann/Korrosionsexperten) mit einer sorgfältigen Untersuchung beauf-tragt oder die zuständige Behörde informiert, sondern vielmehr dem Bauherrn bestätigt, dass die fragliche Aufhängung kontrolliert und als in einwandfreiem Zustand befunden worden sei, verletzt seine Sorgfaltspflicht. Dem Bauingenieur ist in diesem Fall ein aktives Tun und nicht eine Unterlassung vorzuwerfen. Die Mitteilung an den Bauherrn, dass sich die Konstruktion der Decke des Hallenbades in einwandfreiem Zustand befindet, qualifiziert sich als eine Tätig-keit. Rein aufgrund des Umstandes, dass der Bauingenieur in seinen Berichten gewisse Tat-sachen, die er festgestellt hat, nicht erwähnt, zeichnet sich sein Verhalten noch nicht als Un-terlassen ab.186

391 Dagegen handelt es sich um ein Unterlassungsdelikt, wenn bei einem Grabenaushub von ei-ner bestimmten Tiefe keine sachgemässe Verspriessung erstellt wird, obwohl dies nach den gesetzlichen Bestimmungen zur Unfallverhütung zwingend vorausgesetzt wird (vgl. dazu Rz. 439).187

Die hypothetische Kausalität

392 Voraussetzung der Strafbarkeit ist bei einem Erfolgsdelikt der Kausalzusammenhang zwi-schen der Tat und dem "Erfolg" (dazu Rz. 296 f.). Bei einem Unterlassungsdelikt fehlt es aber gerade an einer Handlung. Zwischen dem Unterlassen und dem strafrechtlich verpönten Erfolg kann gar kein natürlicher (und auch adäquater) Kausalzusammenhang bestehen. Ein passives Verhalten kann seiner Natur nach keine Wirkung erzielen.188

393 Es stellt sich deshalb die Frage, ob durch die Vornahme der gebotenen Handlung der Eintritt der verpönten Schädigung hätte abgewendet werden können (sog. hypothetische Kausali-tät).189

394 Die Beurteilung der hypothetischen Kausalität erfolgt nach dem Bundesgericht und der vor-herrschenden Lehrmeinung nach der sog. Wahrscheinlichkeitstheorie. Danach ist ein Zusam-menhang gegeben, wenn die gebotene Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne dass der Eintritt der verpönte Schädigung höchstwahrscheinlich entfiele.190

186 Zum Ganzen BGE 115 IV 203 ff. 187 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 9 zu Art. 229 StGB. 188 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 325. 189 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 326. 190 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, a.a.O.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 62

Die Garantenstellung

Allgemeines

395 Ist ein Rechtsgut eines Menschen gefährdet (z.B. Leib und Leben), sind nicht alle Personen verpflichtet, einen drohenden Schaden zu verhindern.191 Der Kreis an verantwortlichen Perso-nen ist eng umgrenzt.

396 Ein Verbrechen oder Vergehen kann durch pflichtwidriges Untätigbleiben begangen werden (Art. 11 Abs. 1 StGB). Pflichtwidrig untätig bleibt aber nur, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtsstellung dazu verpflichtet ist (Art. 11 Abs. 2 StGB), namentlich auf Grund:

- des Gesetzes;

- eines Vertrages;

- einer freiwillig eingegangenen Gefahrengemeinschaft; oder

- der Schaffung einer Gefahr.

Man spricht in diesem Zusammenhang von der sog. Garantenstellung.

Garantenstellung aufgrund des Gesetzes

397 Nicht jede in irgendeinem Gesetz statuierte Pflicht begründet eine strafrechtlich relevant Ga-rantenpflicht.192 Garantenpflichten bestehen bei engen persönlichen Beziehungen, z.B. im Fa-milienrecht. Doch auch das OR und andere Gesetze enthalten Pflichten, die eine Person zur Überwachung einer Gefahrenquelle anhalten (und demnach eine Garantenpflicht begrün-den).193 Das gilt etwa für den Geschäftsherrn bzw. Arbeitgeber für seine Hilfspersonen (Art. 55 bzw. Art. 101 OR), für den Tierhalter (Art. 56 OR), für den Werkeigentümer (Art. 58 OR) oder für den Halter eines Motorfahrzeuges (Art. 58 SVG).194 Eine Garantenpflicht trifft etwa weiter diejenigen, die einer Amts- oder Berufspflicht unterliegen. Zum Beispiel ist der Arzt zur Leis-tung von Notfalldienst und die Feuerwehrleute zur Rettung von Menschen verpflichtet, die sich in einer Gefahrensituation befinden.195

Garantenstellung aufgrund eines Vertrages

398 Eine Garantenpflicht kann aufgrund eines Vertrages entstehen, in dem die verpflichtete Person und der Träger, dessen Rechtsgut es zu schützen gilt, eine Vereinbarung treffen (dies ist etwa der Fall, wenn ein Patient und ein Arzt miteinander einen Vertrag zur Behandlung eines Lei-dens oder ein Bergsteiger mit einem Bergführer ein Vertrag zur Begleitung auf einer Gebirgs-tour abschliessen).196 Denkbar ist zudem, dass eine Garantenpflicht aufgrund eines Vertrages entsteht, der mit einer einzelnen Person oder einer Institution abgeschlossen wurde und den Zweck hat, die dem Auftraggeber obliegenden Obhuts- und Sicherheitspflichten einem Dritten zu übertragen (bspw. ein Vertrag zwischen einem Geschäftsführer und einem Ladendetektiv

191 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 311. 192 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 312. 193 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 314. 194 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, a.a.O. 195 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 315. 196 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, a.a.O.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 63

zur Überwachung eines Ladenlokals).197 In beiden Anwendungsfällen muss die Pflicht zur Ver-hütung einer Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter zum zentralen Vertragsinhalt ge-hören; Pflichten die sich bloss aus Treu und Glauben nach Art. 2 ZGB oder aus vertraglichen Nebenpflichten ergeben, begründen in der Regel keine Garantenstellung.198 In Frage kommen aber etwa besondere Obhuts-, Schutz-, Sicherungs- oder Überwachungspflichten.

Garantenstellung aufgrund einer Lebens- und Gefahrengemeinschaft

399 Eine Garantenstellung kann entstehen, wenn sich Personen zusammentun, um eine drohende Gefahr gemeinsam zu minimieren. In diesem Fall dürfen die Angehörigen einer Gemeinschaft darauf vertrauen, dass sich die übrigen Mitglieder dafür einsetzen, eine Bedrohung der Rechtsgüter abzuwehren. Eine Gefahrensgemeinschaft liegt namentlich bei einer Hochge-birgstour, bei einer Wildwasserfahrt oder bei einem Tauchgang vor.199

Garantenstellung durch die Schaffung einer Gefahr

400 Wer eine Gefahrensituation verursacht, ist verpflichtet dafür zu sorgen, dass sich die be-stimmte Gefahr nicht verwirklicht;200 er hat die notwendigen Vorsichts- und Schutzmassnah-men zu ergreifen. Hebt etwa eine Person neben einer Strasse einen Graben aus und ist die Signalisation nach einem Sturm ungenügend oder fehlt sie nach dem Unwetter gar gänzlich, so liegt eine Garantenstellung und demnach ein Fall des Unterlassens vor, wenn der Verant-wortliche trotz Wissen über das Fehlen der Signalisation nichts unternimmt und ein Dritter im Graben verunfallt.201

5. Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben

Die vorsätzliche Tötung

401 Wer einen Menschen vorsätzlich tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft (Art. 111 StGB).

402 Der Taterfolg besteht im Tod eines Menschen, wobei für die Annahme des Todeseintrittes der Hirntod massgebend ist. Unter einem Hirntod versteht man das unwiderrufliche Erlöschen der Gehirnfunktion.202

403 Als Tathandlung kommt jedes Verhalten in Frage, das für den Todeseintritt natürlich und adä-quat kausal ursächlich ist (vgl. dazu Rz. 387 i.V.m. Rz. 296 f.). Das Opfer darf sich dabei nicht eigenverantwortlich selbst gefährden.203

404 Der Täter muss vorsätzlich handeln, wobei für die Anforderungen an den Vorsatz auf die vor-gängigen Ausführungen verwiesen werden kann (vgl. dazu Rz. 372 ff.).

197 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 316. 198 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, a.a.O. 199 Zum Ganzen DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 317 f. 200 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 319. 201 DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 319 f. 202 Zum Ganzen STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 4 zu Art. 111 StGB. 203 STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 5 zu Art. 111 StGB.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 64

Die fahrlässige Tötung

405 Wer den Tod eines Menschen fahrlässig verursacht, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft (Art. 117 StGB).

406 Bezüglich dem deliktischen Erfolg und der Tathandlung kann auf die Ausführungen zu der vorsätzlichen Tötung verwiesen werden (vgl. dazu Rz. 401 ff.).

407 Der Täter muss sich fahrlässig, d.h. sorgfaltswidrig verhalten haben (vgl. dazu Rz. 377 ff.) und die Fahrlässigkeit muss sich im Eintritt des Todes eines Menschen niederschlagen. Der To-deseintritt als Folge des pflichtwidrigen Verhaltens des Täters muss voraussehbar und ver-meidbar gewesen sein.

408 Der Tatbestand der fahrlässigen Tötung kann allerdings, und das ist in Bezug auf den Planer von praktischer Relevanz, auch durch Unterlassen verwirklicht werden.204

409 Strafbarkeit besteht bei einem Unterlassungsdelikt nur dann, wenn der Täter eine Garanten-stellung innehat und rechtlich verpflichtet ist, das Leben anderer zu schützen. Bei einem Planer ergibt sich die Garantenpflicht v.a. aus Vertrag (Art. 11 Abs. 2 lit. b StGB; vgl. dazu Rz. 398) oder aus Ingerenz (Art. 11 Abs. 2 lit. d StGB; Schaffung einer Gefahr; vgl. Rz. 400). Zudem ist die Unterlassung nur dann strafbar, wenn der Tod des Opfers nach der allgemeinen Lebenser-fahrung hätte abgewendet werden können, wenn der Täter die ihm gebotene Pflicht zu han-deln beachtet hätte (hypothetische Kausalität, vgl. dazu Rz. 392 ff.).

Die einfache und die schwere Körperverletzung

Allgemeines

410 Nach Art. 122 StGB macht sich strafbar:

- wer einen Menschen lebensgefährlich verletzt;

- wer den Körper, ein wichtiges Organ oder Glied eines Menschen verstümmelt oder ein wichtiges Organ oder Glied unbrauchbar macht, einen Menschen bleibend arbeitsun-fähig, gebrechlich oder geisteskrank macht, das Gesicht eines Menschen arg und blei-bend entstellt;

- wer eine andere schwere Schädigung des Körpers oder der körperlichen oder geistigen Gesundheit eines Menschen verursacht.

411 Liegt eine solche Verletzung vor, spricht man von einer schweren Körperverletzung. Eine schwere Körperverletzung wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder mit einer Geldstrafe nicht unter 180 Tagessätzen bestraft. Ein Tagessatz beträgt höchstens CHF 3'000.00 und ist von den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters abhängig (Art. 34 Abs. 1 StGB).

412 Eine einfache Körperverletzung dagegen ist eine Körperverletzung, welche keine schwere ist: Wenn ein Mensch in anderer Weise an Körper oder Gesundheit geschädigt wird (Art. 123 Abs. 1 StGB). Das Strafmass dafür ist eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe (vgl. dazu näher Art. 123 StGB).

204 STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 1 zu Art. 117 StGB.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 65

413 Um Körperverletzungen handelt es sich insbesondere, wenn einer Person Knochenbrüche, eigentliche Wunden oder eine Schussverletzung zugefügt werden.205

414 Bei beiden Delikten handelt es sich um Erfolgsdelikte, d.h. es muss ein Mensch am Körper oder Gesundheit geschädigt werden und die natürliche und adäquate Kausalität muss gege-ben sein.

415 Eine Körperverletzung wird aber unter Umständen dem Täter nicht zugerechnet, wenn sich das Opfer selbstgefährdet. Als Lehrbuchbeispiel gilt hier derjenige, der mit einem HIV-Patien-ten ungeschützten Geschlechtsverkehr pflegt und sich mit dem HIV-Virus ansteckt, obwohl er vorgängig Kenntnis über die Erkrankung des Partners hatte.

Vorsatz und Fahrlässigkeit, Unterlassung

416 Sowohl bei der schweren wie auch bei der einfachen Körperverletzung ist die vorsätzliche (vgl. dazu Rz. 372 ff.) wie auch die fahrlässige (vgl. dazu Rz. 377 ff.) Tatbegehung strafbar. Die vorsätzliche Begehung ist in den Art. 122 und 123 StGB geregelt (Rz.410 ff.), die fahrlässige Körperverletzung für beide Arten in Art. 125 StGB: Wer einen Menschen fahrlässig am Körper oder an der Gesundheit schädigt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft.

417 Für die fahrlässige Tatbegehung braucht es auch in diesem Fall ein sorgfaltswidriges Verhal-ten sowie Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit der Körperverletzung (vgl. dazu Rz. 377 ff.).

418 Auch eine fahrlässige Körperverletzung kann durch Unterlassung begangen werden, sofern der Täter eine Garantenpflicht trifft und wenn die Verletzung nach der allgemeinen Lebenser-fahrung hätte abgewendet werden können, wenn der Täter die ihm gebotene Pflicht zu han-deln beachtet hätte (hypothetische Kausalität, vgl. dazu Rz. 392 ff.).

Offizial- und Antragsdelikt

419 Die vorsätzliche schwere und einfache Körperverletzung und die fahrlässige schwere Körper-verletzung sind Offizialdelikte. Sie werden von Amtes wegen verfolgt. Demgegenüber ist die fahrlässige einfache Körperverletzung ein Antragsdelikt. Bei einem Antragsdelikt leitet die Strafverfolgungsbehörde ein Strafverfahren erst auf Antrag des Verletzten ein.

6. Strafbare Handlungen gegen das Vermögen (Sachbeschädigung) 420 Wer eine fremde Sache beschädigt oder zerstört oder unbrauchbar macht, wird mit Freiheits-

strafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe bestraft (Art. 144 StGB).

421 Sachbeschädigung ist ein Erfolgsdelikt.

422 Sachbeschädigung ist ein Antragsdelikt. Die Tat wird also nur auf Antrag (meistens des Ge-schädigten) verfolgt. Ausgenommen sind grosse Schäden, welche von Amtes wegen verfolgt werden.

205 STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 2 zu Art. 117 StGB.

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423 Art. 144 StGB sieht keine Bestrafung der fahrlässigen Tat vor. Bestraft wird also nur der Vor-satz206, aber damit natürlich auch der Eventualvorsatz. Wer also eine Sachbeschädigung zwar nicht direkt will, sie aber für möglich hält, und sie in Kauf nimmt, macht sich strafbar.

7. Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde

Allgemeines

424 Wer vorsätzlich bei der Leitung oder Ausführung eines Bauwerkes oder eines Abbruches die anerkannten Regeln der Baukunde ausser Acht lässt und dadurch wissentlich Leib und Leben von Mitmenschen gefährdet, macht sich strafbar (Art. 229 Abs. 1 StGB). Strafbar ist auch, wer die anerkannten Regeln der Baukunde fahrlässig ausser Acht lässt (Art. 229 Abs. 2 StGB).

425 Als Strafe kann bei Vorsatz eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe aus-gesprochen werden, wobei die Freiheitsstrafe mit einer Geldstrafe zu verbinden ist (Art. 229 Abs. 1 StGB). Bei Fahrlässigkeit wird eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geld-strafe ausgesprochen (Art. 229 Abs. 2 StGB).

426 Vom Tatbestand der Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde werden all jene Fälle erfasst, bei denen durch eine bautypische Gefahr die Rechtsgüter Leib und Leben von Mitmenschen gefährdet werden.207 Der Schutzzweck der Norm ist auf das Rechtsgut der kör-perlichen Integrität beschränkt.208 Die Gefährdung des Eigentums oder des Vermögens der Mitmenschen wird von Art. 229 StGB nicht erfasst; eine solche Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde ist nicht strafbar.209

427 Art. 229 StGB ist ein konkretes Gefährdungsdelikt.210 Die Verletzung der Regeln der Baukunde allein begründet demnach keine Strafbarkeit. Es braucht immer noch eine Gefährdung von Leib und Leben von Mitmenschen. Befindet sich kein Mitmensch (oder nur der Täter ) in der Gefahrenzone, so entfällt Art. 229 StGB.211 Gleichzeitig führt auch nicht jede Gefährdung von Leib und Leben von Mitmenschen zur Strafbarkeit; sind keine Regeln der Baukunde verletzt, liegt keine Strafbarkeit vor, auch wenn eine Gefährdung bestanden hatte.

Täter und Tat

428 Als Täter kommen alle Personen in Frage, die im Rahmen der Leitung oder Ausführung von Bauarbeiten oder beim Abbruch eines Bauwerks für die Einhaltung der Regeln der Baukunde verantwortlich sind.212 Das gilt namentlich auch für Architekten, Ingenieure, Bauleiter, Baufüh-rer, Bauarbeiter und dgl.213

206 WEISSENBERGER, BaKomm Strafrecht II, N 81 zu Art. 144 StGB. 207 STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 2 zu Art. 229 StGB. 208 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 6 zu Art. 229 StGB. 209 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, a.a.O. 210 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 41 zu Art. 229 StGB. 211 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, a.a.O. 212 STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 1 zu Art. 229 StGB. 213 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, I. Kriminalistik zu Art. 229 StGB.

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429 Bauleitende Funktion hat, wer die unmittelbare Befehlsgewalt über die Personen ausübt, die die Bauarbeiten ausführen, d.h. derjenige der «jederzeit mit bindenden Weisungen in die ge-samte Bauführung eingreifen darf und diese Befugnis auch tatsächlich ausübt».214

430 In der Verantwortung steht auch der Arbeitgeber; er hat die Arbeitsbedingungen seiner Arbei-ter zu kontrollieren, und eine Gefährdung seiner Mitarbeiter zu verhindern; er muss die Ar-beitsbedingungen und die Einhaltung der Arbeitsschutzvorschriften durch seine Mitarbeiter kontrollieren (vgl. dazu Rz. 439 Bsp. 3).215

431 Bauausführende Funktion hat, wer bei den Bauarbeiten selbst Hand anlegt und für eine hand-werklich einwandfreie Arbeit verantwortlich ist.216

432 Als Bauwerke gelten sämtliche baulichen und technischen Anlagen, die fest mit dem Grund und Boden verankert sind; inkl. allfällige Hilfskonstruktionen (Kräne, Gerüste etc.). Damit ge-meint sind insbesondere alle Hoch- und Tiefbauten (wie Häuser, Bahnen, Strassen, Kanäle etc.) aber auch blosse Teile derartiger Bauten (wie Brücken, Tunnels, Leitungen, Treppen, Aufzüge etc.), sofern sie mit dem Erdreich fest verbunden sind.217 Als Abbruch gelten schliess-lich auch blosse Teildemontagen.218

433 Strafbar ist, wer die anerkannten Regeln der Baukunde ausser Acht lässt. Dies ist durch ein aktives Tun oder aber durch ein Unterlassen der gebotenen Sicherungsmassnahmen mög-lich.219 Art. 229 StGB begründet eine Garantenstellung des Täters durch Schaffung einer Ge-fahr (Art. 11 Abs. 2 lit. d StGB); Personen, denen die Leitung oder die Ausführung von Bau-werken obliegt, haben für die von ihnen geschaffene Gefahr die Sicherheitsregeln einzuhalten (vgl. dazu Rz. 439 Bsp. 2).220

Zu den anerkannten Regeln der Baukunde

434 Zu den Regeln der Baukunde werden die vorgeschriebenen oder die ihrer Natur nach gebote-nen Grundsätze gezählt, von denen die einwandfreie Beschaffenheit eines Bauwerkes ab-hängt. Dazu zählen Regeln für die Planung/Berechnung, die technische Konstruktion und die handwerksmässige Ausführung. Nebst den Regeln für eine einwandfreie Beschaffenheit eines Bauwerks werden aber ebenso diejenigen Regeln unter die Regeln der Baukunde subsumiert, die sich auf ein sachgemässes und möglichst gefahrloses Vorgehen bei der Ausführung der Bauarbeiten selbst beziehen. Dazu zählt man etwa die Vorschriften zu den Sicherungsmass-nahmen oder dem Feuerschutz.221

435 Anerkannt ist eine Regel dann, wenn sie von der Praxis der Bauenden als richtig übernommen wird. Es handelt sich somit um Regeln, die praktiziert werden, sich verfestigt haben und von

214 Zum Ganzen ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 10 zu Art. 229 StGB. 215 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, a.a.O. 216 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, a.a.O. 217 BGE 115 IV 45 E. 2b; BGE 90 IV 246 E. 1a.; zum Ganzen ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Straf-

recht II, N 7 zu Art. 229 StGB. 218 Zum Ganzen STRATENWERTH/WOHLERS, HandKomm, N 1 zu Art. 229 StGB. 219 Zum Ganzen ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 9 zu Art. 229 StGB; STRATEN-

WERTH/WOHLERS, HandKomm, a.a.O. 220 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 9 zu Art. 229 StGB. 221 Zum Ganzen ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 14 zu Art. 229 StGB.

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den Praktikern auch auf eine allgemeine Akzeptanz stossen. Entscheidend ist dabei die Durch-schnittsmeinung der Fachleute des jeweiligen Baugewerbes.222

436 Das blosse Anfertigen von mangelhaften Plänen und Zeichnungen erfüllt den Tatbestand von Art. 229 StGB solange nicht, als mit der Ausführung des Bauwerks noch nicht begonnen wurde (vgl. Rz. 439 Bsp. 2).223

437 Sowohl die vorsätzliche wie auch die fahrlässige Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde ist strafbar (vgl. dazu Rz. 372 ff.; Art. 229 Abs. 1 und 2 StGB).

438 Werden neben einer Verletzung oder Tötung einer Person noch weitere Personen gefährdet, so ist Art. 229 StGB (Verletzung durch Gefährdung der Regeln der Baukunde) nebst den Arti-keln 111 ff. StGB zur Tötung und den Art. 122 ff. StGB zur Körperverletzung anwendbar (sog. echte Konkurrenz). Wird aber nur eine Person gefährdet, nämlich die getötete, resp. verletzte Person, so wird Art. 229 StGB durch die Art. 111 ff. StGB, resp. Art. 122 ff. StGB konsumiert (sog. unechte Konkurrenz).224

8. Kasuistik 439 Zur Veranschaulichung können folgende Beispiele aus der bundesgerichtlichen Rechtspre-

chung genannt werden:

(1) Bauleiter / Fahrlässige Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Bau-kunde225

Fahrlässiges Verhalten eines Bauleiters, der die Anweisungen zum Ausbaggern ei-nes Hofplatzes trifft, ohne sich aber im Voraus zu vergewissern, ob sich in der Erde Leitungen befinden und im Falle der Beschädigung von Leitungen keine Weisungen an die Arbeiter erteilt. Wer einen gefährlichen Zustand (vorliegend das Ausbaggern des Bodens) schafft, ist verpflichtet, die gebotenen Vorsichtsmassnahmen zu treffen. Der Bauleiter hätte seine Arbeiter gehörig unterrichten und für den Fall eines Leitungsbru-ches vorbereiten müssen.

Vorliegend wurde mit einem Baggerlöffel eine unter der Erdoberfläche liegende Gas-leitung beschädigt, resp. teilweise abgebrochen, was zur Folge hatte, dass Gas in das zur Leitung gehörende Haus einströmen konnte. Der Baggerführer bemerkte den Gas-austritt trotz Hinweis eines Arbeiters nicht und verliess die Baustelle. Der Baumeister hörte davon und ging zur Baustelle. Unterdessen kam es im Haus zu einer heftigen Explosion, die das Haus fast vollständig und weitere benachbarte Häuser z.T. erheb-lich beschädigte. Eine Radfahrerin wurde von den herabfallenden Trümmern tödlich verletzt.

222 Zum Ganzen ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, a.a.O. 223 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 9 zu Art. 229 StGB. 224 Zum Ganzen ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 54 zu Art. 229 StGB; STRATEN-

WERTH/WOHLERS, HandKomm, N 5 zu Art. 229 StGB. 225 BGE 90 IV 246.

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(2) Baggerfahrer / Fahrlässige Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde226

Fahrlässiges Verhalten des Fahrers eines Raupenbaggers, der im Begriffe war, einen Bauschutthügel zu beseitigen (Vorarbeit). Er drückte im Rahmen eines Rückfahrma-növers beim Abdrehen der vollen Baggerschaufel mit dem hinteren Teil des sich dre-henden Baggeroberteils einen Maurer gegen einen Schacht, obwohl er den Maurer davor beobachtet hatte, wie er seinen Arbeitsplatz am Schacht einrichtete. Indem sich nun der Baggerführer beim Rückfahrmanöver nicht hinreichend vergewisserte, dass sich niemand in unmittelbarer Nähe des Baggers aufhielt, verletzt er seine Pflicht zur Überwachung der Gefahr, die er durch die Maschine und deren Funktion auf dem Bau-platz geschaffen hat.

Der Mauerer, der gebückt über einem aus der Erde ragenden Frischwasserkontroll-schacht arbeitete und vom Raupenbagger erfasst und zwischen Schacht und Maschine eingeklemmt wurde, erlitt Verletzungen.

(3) Arbeitgeber (Inhaber einer Firma für Leichtmetallbedachungen) / Fahrlässige Tötung und Gefährdung durch Verletzung der Regeln der Baukunde227

Pflichtwidriges Verhalten des Arbeitsgebers, der es bei der Begehung einer Baustelle (inkl. Dach) unterlässt, dafür zu sorgen, dass die offenen Dachluken nicht nur mit Plastikfolie, sondern vorschriftsgemäss entweder in solider Weise überdeckt oder mit einem starken Schutzgeländer umgeben werden. Nicht nur derjenige hat für die Unfall-verhütung zu sorgen, der die spezifische Unfallgefahr geschaffen hat, sondern es hat jeder Arbeitgeber die erkennbaren Mängel, die für seine Arbeitnehmer eine Gefahr bil-den, zu beheben.

Vorliegend stürzte ein Arbeitgeber durch die Dachluke auf den darunterliegenden Be-tonboden und erlitt tödliche Kopfverletzungen.

(4) Leiter eines Aushubes / fahrlässige Tötung und fahrlässige Gefährdung der Verletzung der Regeln der Baukunde228

Pflichtwidriges Verhalten eines Baupoliers, der den Aushub einer Grube leitete, indem er entgegen der Verordnung über die Unfallverhütung den Grabenaushub spriessen-frei ausführen lässt. Es handelte sich um eine senkrecht ausgehobene Grube mit einer Tiefe von 2.1 m und einer Grundfläche von 4.25 m x 3.7 m. Bei grösseren Bau-gruben kann nicht entscheidend sein, dass der Bauarbeiter bei herabstürzenden Ma-terialien (anders als bei engen Baugruben) zurückweichen könnte.

Vorliegend stürzte die Wand der nicht verpriessten Baugrube ein und begrub einen Arbeiter unter sich.

226 BGE 115 IV 45. 227 BGE 109 IV 15. 228 BGE 109 IV 125.

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(5) Projektierender Ingenieur und Bauleiter / fahrlässige Tötung und fahrlässige Gefährdung der Verletzung der Regeln der Baukunde229

Pflichtwidriges Verhalten des projektierenden Ingenieurs und zugleich örtlichen Baulei-ters, der einen erforderlichen Sicherheitsnachweis für eine Böschung nicht erstellt, von den Empfehlungen des geotechnischen Gutachters abweicht und den stellvertretenden Gruppenführer vor Ort nicht ausreichend instruiert.

Vorliegend rutschten an der vom Ingenieur projektierten Baugrubenböschung Erd-massen ab, wobei ein Schalungselement kippte. Dadurch wurde ein Arbeiter tödlich verletzt.

Weiter macht sich etwa ein bauleitender Architekt wegen Gefährdung der Verletzung der Regeln der Baukunde strafbar, wenn er beim Aushub einer Baugrube die Weisung erteilt, eine Baugrubenböschung, die über keine Sicherung verfügt, steiler zu erstel-len, als anhand der geotechnischen Beschaffenheit möglich wäre. Beim Erteilen einer Weisung handelt es sich, wie wir gesehen haben, um ein Begehungsdelikt.230

229 Urteil des BGer 6B_1038/2015 vom 22. Juni 2016. 230 ROELLI/FLEISCHANDERL, BaKomm Strafrecht II, N 9 zu Art. 229 StGB.

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VI. Der Grundstückkauf

1. Begriff 440 Durch den Grundstückkaufvertrag verpflichtet sich der Verkäufer, dem Käufer ein Grund-

stück (Art. 655 Abs. 2 ZGB) zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen (Art. 184 OR i.V.m. Art. 221 OR).

441 «Der Grundstückkauf» ist in wenigen Bestimmungen (Art. 216–221 OR) innerhalb des Sechsten Titels «Kauf und Tausch» des Obligationenrechts geregelt, wovon sich eine einzige (Art. 219 OR) mit der Gewährleistung des Grundstückverkäufers befasst. Gemäss Art. 221 OR finden auf den Grundstückkauf die Bestimmungen über den Fahrniskauf (Art. 187–215 OR) «im übrigen», d.h. soweit sie nicht durch Art. 216–220 OR derogiert werden, «entsprechende Anwendung».

442 Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, gelten die für den Grundstückkauf massgebli-chen Gesetzesbestimmungen seit Einführung des Obligationenrechts unverändert.

2. Abgrenzungsfragen 443 Ist eine Bauleistung Gegenstand eines Grundstückkaufes, in dem ein Verkäufer verspricht, auf

einem eigenen Grundstück eine Baute zu errichten, fertigzustellen, umzubauen oder zu er-neuern und dann das so bebaute Grundstück dem Käufer zu einem Pauschalpreis zu Eigen-tum zu übertragen, so liegt grundsätzlich ein gemischtes Vertragsverhältnis in Form eines sog. «Grundstückkauf-/Werkvertrages»231 (Grundstückkauf mit Bauleistungspflicht) vor.232 Diesfalls untersteht die Mängelhaftung des Verkäufers für die von ihm zu erbringenden Bau-leistungen grundsätzlich einheitlich dem Werkvertragsrecht, und zwar auch für solche Leistun-gen, die für die «gekaufte» Baute schon vor Vertragsabschluss erbracht worden sind.233 Das gebietet die Vernunft, denn eine «Vertragsspaltung» führte für den Käufer zu unhaltbaren Er-gebnissen und Abgrenzungen, namentlich hinsichtlich Verjährungsbeginn und Nachbesse-rungsrecht. Der Grundsatz der einheitlichen Anwendung von Werkvertragsrecht auf den Grundstückkauf mit Bauleistungspflicht gilt nicht ohne Ausnahmen. Eine solche Ausnahme betrifft den Fall, in dem es bei der versprochenen Bauleistungspflicht lediglich um eine unter-geordnete Nebenleistung (z.B. in Form von kleineren Reparaturarbeiten) geht. Alsdann bleibt es bei einem (reinen) Kaufvertrag234 und eine allfällige Mängelhaftung des Verkäufers für die erbrachte (untergeordnete) Bauleistung beurteilt sich nach Kaufvertragsrecht.

444 Ein (reiner) Kaufvertrag steht zur Debatte, wenn der Verkäufer verspricht, dem Käufer eine Sache zu Eigentum zu übertragen, die es im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses noch gar nicht gibt. Dann liegt ein «Kauf über eine künftige Sache» vor.235 Ein Grundstückkauf mit Bauleistungspflicht (sog. «Grundstückkauf-/Werkvertrag») unterscheidet sich von einem

231 Urteil des BGer 4C.301/2002 E. 2.1. 232 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 232, 347. 233 BGE 118 II 142 E. 1a; Urteil des BGer 4C.190/2003 E. 2.2; 4C.301/2002 E. 2.2; GAUCH, Der Werk-

vertrag, Nr. 349. 234 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 347. 235 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 126.

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«Kaufvertrag über eine künftige Sache» durch die Herstellungspflicht.236 Beim «Grundstück-kauf-/Werkvertrag» trifft den Verkäufer für die zu erbringende Bauleistung eine einklagbare Pflicht, die zu übertragende Baute zu errichten, fertigzustellen, umzubauen oder zu erneuern. Beim «Kaufvertrag über eine künftige Sache» schuldet der Verkäufer demgegenüber (nur) die Übereignung der künftigen Sache, nicht aber deren Herstellung.237 Die Abgrenzung ist immer aufgrund der Auslegung des konkreten Einzelvertrages durchzuführen.238

445 Für einen gemischten «Grundstückkauf-/Werkvertrag» spricht, wenn dem Käufer Einfluss auf den Herstellungsprozess eingeräumt wird239, insbesondere wenn er die Pläne genehmigen soll240, zu Bestellungsänderungen berechtigt ist oder er Einfluss auf die Wahl der Handwerker ausüben darf. Ob der vertragliche Einfluss des Käufers auf den Herstellungsprozess nur einen Teil der herzustellenden Baute beschlägt, spielt dabei keine Rolle.241 Es genügt, wenn er z.B. den Innenausbau nach seinen individuellen Wünschen gestalten und Abweichungen vom Standardausbau verlangen kann (etwa durch Änderung der Raumeinteilung).242

446 Keine werkvertragliche Herstellungspflicht und damit ein reiner Kaufvertrag besteht dagegen, wenn der Erwerber keinen Einfluss auf den Herstellungsprozess ausüben kann243 oder ihm nur geringfügige Wahlmöglichkeiten ohne intensiven Einfluss auf die Herstellung der Baute zu-stehen, indem er (oftmals durch Gewährung von Budgetpositionen) Boden- und Wandbeläge oder die Küchen- und Sanitärapparate bestimmen kann. Ein (reiner) Kaufvertrag liegt auch dann vor, wenn dem Erwerber vertraglich zwar intensive Einflussmöglichkeiten auf den Her-stellungsprozess zustehen, diese indessen «toter Buchstabe» bleiben, weil der Bau im Zeit-punkt des Vertragsabschlusses bereits fertig erstellt ist, denn gemäss Art. 18 OR kommt es auf den wirklichen Vertragsinhalt an.

3. Formzwang: Öffentliche Beurkundung 447 Art. 216 Abs. 1 OR lautet: «Kaufverträge, die ein Grundstück zum Gegenstande haben,

bedürfen zu ihrer Gültigkeit der öffentlichen Beurkundung».

448 Öffentliche Beurkundung bedeutet, dass das formbedürftige Rechtsgeschäft in einem Schriftstück festgehalten wird, und zwar durch eine vom Staat mit dieser Aufgabe betraute Person (Urkundsperson), in der vom Staat geforderten Form und in dem dafür vorgesehenen Verfahren244.

449 Solange die Form der öffentlichen Beurkundung nicht gewahrt ist, ist der Grundstückkaufver-trag nicht gültig zustande gekommen (Art. 11 Abs. 2 OR).

236 Urteil des BGer 4C.301/2002 E. 2.1. 237 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 127. 238 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 128. 239 Urteil des BGer 4C.301/2002 E. 2.1; BGE 117 II 259 E. 2b. 240 BerK/GIGER, N 26 zu Art. 184 OR; GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 128. 241 Urteil des BGer 4C.301/2002 E. 2.1. 242 Urteil des BGer 4C.301/2002 E. 2.2. 243 Urteil des BGer 4C.301/2002 E. 2.1. 244 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, OR AT, Bd. I, Nr. 524.

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450 Streitpotential hat immer wieder die Frage nach dem Umfang des Formzwangs (was muss alles öffentlich beurkundet sein?). Es gilt der Grundsatz: Formbedürftig ist der ge-samte Einzelvertrag, und zwar mit sämtlichen Vertragspunkten, die objektiv und subjektiv wesentlich sind.245

451 Ebenso streitträchtig ist der Umstand, dass nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die unrichtige Beurkundung des Kaufpreises – unabhängig davon, ob der Kaufpreis zu hoch oder zu tief beurkundet ist – ein Formmangel, der die Nichtigkeit des Grundstückkaufvertrages zur Folge hat, darstellt.246 Das Bundesgericht hielt im Urteil 5A.33/2006 in E. 4 fest: «Mit Bezug auf den vertragswesentlichen Punkt des Kaufpreises besteht in der Lehre Einigkeit, dass sich dieser aus der Gesamtheit aller (Geld)leistungen zusammensetzt, welche der Käufer dem Ver-käufer als Entgelt für die Übertragung des Eigentums am Grundstück erbringen muss, und sich der Beurkundungszwang auf diesen Gesamtbetrag erstreckt». Das müssen nicht immer nur Leistungen sein, die ein genau beziffertes «Preisschild» haben. Dem Formzwang unterlie-gen dem Gesagten zufolge auch andere Leistungen, die ein Entgelt für die Eigentumsver-schaffungspflicht darstellen, wie z.B. die Ablösung einer Grundpfandschuld oder die Pflicht zur Einräumung einer Dienstbarkeit (Wegrecht, Näherbaurecht etc.).

452 In der Praxis häufig sind Fälle, in denen ein Grundstückkaufvertrag nur abgeschlossen wird, wenn der Käufer mit dem Verkäufer auch einen Bauwerkvertrag für die Erstellung einer Baute auf dem gekauften Grundstück eingeht. Es stellt sich alsdann die Frage, ob der Bauwerkver-trag ebenfalls dem Formzwang der öffentlichen Beurkundung unterliegt. Die Frage ist zu be-jahen, wenn für das Grundstück und das Bauwerk ein Gesamtpreis vereinbart ist. Werden dagegen der Kaufpreis für das Grundstück und die Vergütung für das Bauwerk klar und korrekt abgegrenzt, so unterliegt der Werkvertrag nicht dem Formzwang, und zwar eben auch dann nicht, wenn er ohne den Kaufvertrag nicht abgeschlossen worden wäre.247

453 Sog. Reservationsvereinbarungen werden in der Praxis sehr häufig unterzeichnet, bevor der entsprechende Grundstückkaufvertrag beurkundet wird, oft gepaart mit einer Anzahlung auf den Kaufpreis. Solche Reservationsvereinbarungen sind, weil nicht öffentlich beurkundet, grundsätzlich formnichtig. Das bedeutet, dass keine der Parteien deren Erfüllung verlangen und der Käufer auch die Anzahlung zurückfordern kann. Formnichtig sind grundsätzlich auch in der Reservationsvereinbarung enthaltende Konventionalstrafen (sog. Pönalen) oder Reu-geldvereinbarungen. Das Bundesgericht hat aber dazu in einem neueren Entscheid (BGE 140 III 200) eine wichtige Präzisierung vorgenommen: Eine Konventionalstrafe (Pönale), die nur das negative Interesse entschädigen und den Verkäufer daher nur so stellen soll, wie wenn er mit dem Käufer gar nie in Kontakt gekommen wäre (also den Verkäufer z.B. bloss für unnötige Notarkosten entschädigen soll), unterliegen nicht dem Formzwang und sind daher auch ohne öffentliche Beurkundung durchsetzbar. Soll die in der Reservationsvereinbarung enthaltene Konventionalstrafe dagegen auch die Erfüllung der Hauptpflichten absichern (also den Käufer «bestrafen», weil er es sich anders überlegt hat und das Grundstück nun doch nicht kaufen will), so bleibt es dabei, dass solche Klauseln formnichtig und daher nicht durchsetzbar sind.

245 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, OR AT, Bd. I, Nr. 537. 246 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, OR AT, Bd. I, Nr. 563. 247 GAUCH/SCHLUEP/SCHMID, OR AT, Bd. I, Nr. 540.

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4. Die Hauptpflicht des Verkäufers: Die Besitzes- und Eigentumsver-schaffungspflicht

454 Gemäss Art. 184 Abs. 1 OR ist der Verkäufer verpflichtet, dem Käufer den Kaufgegenstand zu übergeben und ihm das Eigentum daran zu verschaffen. Den Verkäufer trifft also eine Besit-zes- und Eigentumsverschaffungsplicht.

455 Die Pflicht des Verkäufers, dem Käufer «den Kaufgegenstand zu übergeben», begründet also zunächst eine Besitzesverschaffungspflicht. Geschuldet ist die Verschaffung der tatsächli-chen Gewalt über den Kaufgegenstand, also dessen unmittelbaren Besitz.248 Andere Formen der Besitzverschaffung gemäss Art. 922 ff. ZGB, insbesondere die Verschaffung des unmittel-baren Besitzes «ohne Übergabe» gemäss Art. 924 ZGB, genügen nur dann, wenn sich die Kaufvertragsparteien darauf geeinigt haben.249 Ohne entsprechende vertragliche Grundlage genügt es daher nicht, wenn der Verkäufer den Kaufgegenstand in vermietetem Zustand über-gibt.250

456 Die Eigentumsverschaffungsplicht erfüllt der Grundstückverkäufer, indem er die von seiner Seite erforderlichen Voraussetzungen schafft, damit der Käufer im Grundbuch als neuer Ei-gentümer eingetragen werden kann (Art. 656 Abs. 1 ZGB). Das erfordert die Abgabe einer Grundbuchanmeldung seitens des Verkäufers (Art. 963 Abs. 1 ZGB), sofern die Urkundsper-son dazu nicht von Amtes wegen verpflichtet ist (Art. 963 Abs. 3 ZGB). In jedem Fall muss seitens des Grundstückverkäufers ein gültiger Ausweis über sein Verfügungsrecht vorliegen, und er muss die von ihm erforderlichen Massnahmen für einen gültigen Rechtsgrundausweis erfüllen (Art. 965 Abs. 1 ZGB), sodass dem Grundbuchverwalter die formell und materiell kor-rekte Grundbuchanmeldung vorliegt251, damit die Eintragung im Hauptbuch (Art. 972 Abs. 1 ZGB) herbeigeführt werden kann, mit rückbezüglicher Wirkung auf den Zeitpunkt der Ein-schreibung im Tagebuch (Art. 972 Abs. 2 ZGB).

457 Verletzt der Verkäufer seine Besitzes- und/oder Eigentumsverschaffungspflicht, so steht dem Käufer ein klagbarer Erfüllungsanspruch zu.252 Er kann insbesondere die gerichtliche Zu-sprechung des Eigentums (Art. 665 Abs. 1 ZGB) verlangen oder nach den Verzugsregeln (Art. 102 ff. OR bzw. Art. 190 f. OR) vorgehen.

5. Die Hauptpflicht des Käufers: Die Bezahlung des Kaufpreises 458 Durch den Kaufvertrag verpflichtet sich der Käufer, dem Verkäufer den Kaufpreis zu bezahlen

(Art. 184 Abs. 1 OR).

459 Häufig geht der Käufer bei Grundstückkaufverträgen darüber hinaus sog. Unternehmerklau-seln (sog. Baumeisterverpflichtungen, Handwerkerservitute etc.) ein, womit er sich vorvertrag-

248 ZürK/SCHÖNLE, N 69 zu Art. 184 OR. 249 ZürK/SCHÖNLE, N 69 zu Art. 184 OR. 250 BasK/KOLLER, N 55 zu Art. 184 OR. 251 BerK/GIGER, N 139 zu Art. 184 OR. 252 ZürK/SCHÖNLE, N 156 zu Art. 184 OR.

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lich verpflichtet, dem Verkäufer oder einem Dritten entgeltliche Bauleistungen auf dem gekauf-ten Grundstück zu übertragen.253 Solche Klauseln sind zwar grundsätzlich rechtlich durchsetz-bar, werfen aber viele Probleme auf, insbesondere bei der Preisbestimmung der Bauleistung. Beispielsweise verstossen die Parteien gegen die Pflicht zu ernsthaftem Verhandeln, wenn sie nur zur Preisbestimmung Konkurrenzofferenten einholen. Sie können sich damit haftbar ma-chen (aus sog. «culpa in contrahendo»). Noch grössere Probleme schaffen sog. «Architek-tenklauseln», womit sich der Käufer verpflichtet, den Verkäufer oder einen Dritten mit der «Architektur» zu beauftragen. Denn gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist das Recht des Auftraggebers, den Auftrag gemäss Art. 404 Abs. 1 OR jederzeit zu kündigen, zwin-gender Natur. Die Parteien können also von dieser Bestimmung nicht rechtsbeständig abwei-chen. Wenn also die «Architektenklausel» zum Abschluss eines sog. Gesamtauftrages (Pla-nung und Bauleitung) verpflichten will, ist sie aufgrund des jederzeitigen Kündigungsrechts gemäss Art. 404 Abs. 1 OR faktisch nicht durchsetzbar. Denn solche Gesamtaufträge umfas-sen immer auch auftragsrechtliche Elemente.

6. Die Rechtsgewährleistung 460 Wird dem Käufer der Kaufgegenstand aus Rechtsgründen, die schon zur Zeit des Vertragsab-

schlusses bestanden haben, durch einen Dritten ganz oder teilweise entzogen, so haftet der Verkäufer dafür aus Rechtsgewährleistung (Art. 192 Abs. 1 OR). Zu unterscheiden sind zwei Tatbestände: Entweder wird dem Käufer das Eigentum am Kaufgegenstand, nachdem ihm dieses (vermeintlich) übertragen wurde, durch einen Dritten aufgrund eines besseren Rechts (ganz oder teilweise) entzogen. Oder aber der Kaufgegenstand wird vertragswidrig mit einer «dinglichen Last» zugunsten eines Dritten beschwert.

461 Gemäss Art. 973 Abs. 1 ZGB ist der Käufer, der sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen und daraufhin Eigentum erworben hat, in diesem Erwerb zu schützen. Alsdann spielt die Rechtsgewährleistung keine Rolle. Sie ist daher im Bereich des Grundstück-kaufes kaum praxisrelevant.254 Eine Ausnahme bildet der Fall, in dem der Kaufgegenstand mit einem Bauhandwerkerpfandrecht belastet wird. Erforderlich ist, dass der Rechtsgrund für das Bauhandwerkerpfandrecht schon im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses bestand (Art. 192 Abs. 1 OR), die pfandberechtigten Bauleistungen also spätestens zu diesem Zeitpunkt er-bracht sein müssen. Zu ergänzen ist, dass die Frage, ob die Vormerkung eines Bauhandwer-kerpfandrechts ein Anwendungsfall der Rechts- oder Sachgewährleistung (vgl. Rz. 463 ff.) ist, in der Lehre hoch umstritten ist.

462 Hinsichtlich der Modalitäten der Rechtsgewährleistung ist zu erwähnen, dass der Rechtsge-währleistungsanspruch des Grundstückkäufers keiner Prüfungs- und/oder Rügeobliegenheit (vgl. Rz. 485 ff.) unterliegt. Die Verjährungsfrist beträgt – anders als bei der Sachgewährleis-tungspflicht (vgl. Rz. 488) – zehn Jahre (Art. 127 OR).

253 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 416. 254 BasK/HONSELL, N 3 zu Art. 192 OR; ZürK/SCHÖNLE/HIGI, N 2a zu Art. 192 OR; BerK/GIGER, N 32

zu Art. 192 OR.

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7. Die Sachgewährleistung

A. Der Sachmangel

463 Ein «Mangel der Kaufsache» liegt gemäss Art. 197 Abs. 1 OR vor, wenn es dem Kaufgegen-stand an einer zugesicherten oder vorausgesetzten Eigenschaft fehlt. Die fehlende vorausge-setzte Eigenschaft zeichnet sich dadurch aus, dass körperliche oder rechtliche Mängel entwe-der den Wert oder die Tauglichkeit des Kaufgegenstandes zum vorausgesetzten Gebrauch aufheben oder erheblich mindern. Ob es an einer zugesicherten oder vorausgesetzten Eigen-schaft fehlt, beurteilt sich anhand des konkreten Kaufvertrages255: Ein Sachmangel liegt dem-gemäss vor, wenn die effektive Beschaffenheit des gekauften Grundstücks von der vertraglich versprochenen Beschaffenheit abweicht, sei es, dass die vertraglich geschuldete Beschaffen-heit konkret versprochen (zugesichert) wurde, sei es, dass sie vom Käufer nach dem Vertrau-ensprinzip vorausgesetzt wurde und vorausgesetzt werden durfte.256 Gleich wie im Werkver-tragsrecht ist der Sachmangel also ein relativer Tatbestand.257 Derselbe Sachverhalt kann so-mit im einen Vertrag als Mangel erscheinen, im anderen dagegen nicht.258 Das Gesetz erwähnt in Art. 197 Abs. 1 OR körperliche und rechtliche Mängel als Erscheinungsformen des Sach-mangels:

464 An einem körperlichen Mangel leidet ein Grundstück, wenn ihm eine physische Eigenschaft fehlt, die es nach dem Kaufvertrag haben sollte. Dazu zählen insbesondere Gebäudemängel wie z.B. die ungenügende Tragkraft der Böden eines Gewerbehauses259, Gebäudefeuchtigkeit mangels Entwässerung260, ein kleineres als das zugesicherte Gebäudevolumen261, schlechter Baugrund262, Gebäude- und Bodenkontaminationen, oder eine aufgrund der Zugangsverhält-nisse eingeschränkte Nutzbarkeit eines Gebäudebestandteils.263

465 Im Gegensatz zum körperlichen Mangel ist die Abweichung von der Soll-Beschaffenheit beim rechtlichen Mangel nicht tatsächlicher, sondern rechtlicher Natur. Auch der rechtliche Mangel betrifft also die Beschaffenheit des Kaufgegenstandes und ist daher ein Sachmangel. Er ist wohl zu unterscheiden vom Rechtsmangel, bei dem die Vertragsabweichung in einem Ent-wehrungstatbestand besteht, also die Rechte am Kaufgegenstand betroffen sind. Die rechtli-chen Kriterien, die den rechtlichen Mangel begründen, sind zur Hauptsache öffentlich-rechtli-cher Natur. Ein rechtlicher Mangel liegt z.B. vor, wenn die öffentlich-rechtlichen Vorschriften betreffend elektrische Niederspannungsinstallationen verletzt oder die Auflagen und Bedin-gungen der Baubewilligung nicht erfüllt sind oder die zugesicherte Bebaubarkeit nicht gegeben ist.

466 Der Sachmangel beruht, wie bereits gesagt, auf einer fehlenden zugesicherten oder fehlenden vorausgesetzten Eigenschaft. Ist eine fehlende zugesicherte Eigenschaft die Mängelursache,

255 Urteil des BGer 4A_173/2014 E. 5.2; 114 II 239 E. 5a/aa. 256 BGE 114 II 239 E. 5a/aa; ZürK/SCHÖNLE/HIGI, N 62 zu Art. 197 OR. 257 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1360. 258 BGE 114 II 239 E. 5a/aa. 259 BGE 73 II 218. 260 BGE 66 II 132. 261 BGE 87 II 244. 262 BGE 87 II 137 (im Zusammenhang mit einem Grundlagenirrtum). 263 Urteil des BGer 4A_351/2010; 4A_617/2011 E. 8.2.2.

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so entsteht zwischen den Parteien oft Streit, ob eine entsprechende Willensäusserung des Verkäufers eine Zusicherung im Rechtssinne war oder bloss eine sog. (unverbindliche) rekla-mehafte Anpreisung. Mit einer Zusicherung behauptet der Verkäufer, dass die Sache eine bestimmte, objektiv feststellbare Eigenschaft aufweise.264 Auf die Verwendung der in diesem Zusammenhang oft vorkommenden Wörter „Zusicherung“ oder „Garantie“ kommt es nicht an265, sondern auf die objektive Feststellbarkeit der behaupteten Sacheigenschaft.

467 Die Zukunft kann man nicht zusichern! Grundsätzlich müssen zugesicherte Eigenschaften nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung spätestens im Zeitpunkt des Übergangs von Nutzen und Gefahr vorhanden sein. Eine Ausnahme lässt das Bundesgericht dann – und nur dann – zu, wenn der Verkäufer haupt- oder nebenvertraglich verpflichtet und objektiv auch in der Lage ist, die Kaufsache noch in den zugesicherten, zukünftigen Zustand zu überführen, was beispielsweise im Fall von Montage- und Fertigungspflichten der Fall ist.266

468 Werden dennoch (vermeintliche) «Zusicherungen» für die Zukunft gemacht, so kann zwischen den Parteien Streit darüber entstehen, ob die Parteien nicht ein selbständiges Erfolgsver-sprechen vereinbaren wollten. Mit einem solchen selbständigen Garantieversprechen ver-spricht der Garant typischerweise einen zukünftigen Erfolg, der über die vertragsgemässe Be-schaffenheit des Kaufgegenstandes hinausgeht, weil er, in den Worten des Bundesgerichts, «wesentlich noch von anderen künftigen Faktoren abhängt, welche – wie z.B. die Konjunk-turentwicklung – von der Sacheigenschaft unabhängig sind und ausserhalb der Einflussmög-lichkeiten des Verkäufers liegen».267 Der Verkäufer kann damit also namentlich auch Sachei-genschaften zusichern, die im Zeitpunkt des Überganges von Nutzen und Gefahr noch nicht vorhanden sein können. Mit solchen Zusicherungen ist also höchste Vorsicht geboten. Denn die Konsequenzen eines selbständigen Erfolgsversprechens sind einschneidend. Bei Verlet-zung des Erfolgsversprechens muss der Garant den Käufer schadenersatzmässig und ver-schuldensunabhängig so stellen, als wäre der garantierte Erfolg eingetreten (Erfüllungsinte-resse). Es besteht keine Prüfungs- und Rügeobliegenheit. Ferner besteht eine Verjährungsfrist von zehn Jahren (statt fünf wie bei der kaufrechtlichen Gewährleistung).

B. Die Gewährleistungsbeschränkungen

469 Beim Grundstückkauf sind vertragliche Gewährleistungsbeschränkungen häufig. Wenn sog. «Altliegenschaften» gekauft werden, sind sie sogar die Regel. Die Parteien vereinbaren dann typischerweise – einmal etwas ausführlicher und einmal etwas weniger ausführlich – dass die Gewährleistung für Sach- und Rechtsmängel vollumfänglich wegbedungen wird. Man spricht bei solchen Vertragsbestimmungen auch von Freizeichnungsklauseln.

470 Solche Freizeichnungsklauseln unterliegen Schranken. Von diesem werden nachfolgend nur die wichtigsten behandelt:

264 Urteil des BGer 4A_480/2007 E. 3.1; 4A_417/2007 E. 4.3; 4C.119/2005 E. 2.3; 4C.16/2005 E. 1.5;

BGE 88 II 410 E. 3c; ZürK/SCHÖNLE/HIGI, N 85 zu Art. 197 OR; BerK/GIGER, N 15 zu Art. 197 OR. 265 Urteil des BGer 4A_480/2007 E. 3.1; 4A_417/2007 E. 4.3; 4C.119/2005 E. 2.3; 4C.16/2005 E. 1.5. 266 BGE 122 III 426 E. 5c; ZürK/SCHÖNLE/HIGI, N 104 zu Art. 197 OR. 267 Urteil des BGer 4C.260/2001 E. 3a, mit weiteren Hinweisen; ZürK/SCHÖNLE/HIGI, N 104 zu Art. 197

OR.

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471 Eine allgemeine Gültigkeitsschranke bildet das Persönlichkeitsrecht gemäss Art. 27 ZGB. Weil die körperlich-seelische Integrität zum höchstpersönlichen Bereich, der jeder vertraglichen Bindung entzogen sein soll, gehört, verstösst nach der wohl herrschenden Lehrmeinung jede Wegbedingung oder Einschränkung der Haftung für Körperschäden gegen Art. 27 Abs. 2 ZGB und ist daher nichtig (Art. 20 OR).268

472 Art. 199 OR bestimmt: «Eine Vereinbarung über Aufhebung oder Beschränkung der Gewährs-pflicht ist ungültig, wenn der Verkäufer dem Käufer die Gewährsmängel arglistig (=absichtlich) verschwiegen hat.» Diese Bestimmung setzt voraus, dass erstens der Käufer den absichtlich verschwiegenen Mangel nicht kennt (Bekanntes kann man nicht verschweigen), zweitens der Verkäufer ihn dagegen kennt und trotzdem die Aufklärung bewusst unterlässt und drittens den Verkäufer eine Aufklärungspflicht trifft, die sich in der Regel aus Treu und Glauben ergibt. Treu und Glauben gebieten eine Aufklärung, wenn der Käufer in Kenntnis des verschwiegenen Mangels den Kaufvertrag nicht oder nur mit erheblich anderem Inhalt abgeschlossen hätte.269

473 Die Rechtsfolgen eines absichtlich verschwiegenen Mangels sind einschneidend. Abgesehen davon, dass für solche Mängel gemäss Art. 199 OR nicht freigezeichnet werden kann, ist zu beachten, dass sich der Verkäufer nicht darauf berufen kann, der Käufer hätte den Mangel bei Anwendung gewöhnlicher Sorgfalt kennen sollen (Art. 200 Abs. 2 OR). Ferner besteht keine Prüfungs- und Rügeobliegenheit (Art. 203 OR). Der Käufer verwirkt also seine Mängelrechte nicht, wenn er absichtlich verschwiegene Mängel nicht rügt. Zudem verjähren diese Mängel erst in zehn Jahren (Art. 210 Abs. 6 OR) und möglicherweise besteht auch Grund für eine Anfechtung wegen absichtlicher Täuschung (Art. 28 OR).

474 Ist eine Freizeichnungsklausel rechtsbeständig vereinbart, so stellt sich die Frage nach ihrer Tragweite (welche Mängel fallen darunter). Diese ist durch Auslegung zu ermitteln. Das Bun-desgericht hat dazu verschiedene Auslegungsregeln ermittelt. Eine dieser Regeln besagt, dass ein Mangel von einer Freizeichnungsklausel nicht erfasst wird, wenn er gänzlich aus-serhalb dessen liegt, womit ein Käufer vernünftigerweise rechnen musste.270 Das Bundesge-richt hat diese Auslegungsregel noch ergänzt bzw. präzisiert: Demgemäss kann ein Mangel auch dann ausserhalb des vernünftigerweise Vorstellbaren liegen, wenn zwar nicht der Man-gel, jedoch sein Ausmass derart unerwartet ist, dass der Kaufgegenstand für den vorgesehe-nen Zweck untauglich ist.271 In diesem Sinne kann es auch auf «das Verhältnis zwischen Kauf-preis für das mutmasslich mängelfreie und für den vorausgesetzten Gebrauch taugliche Kaufobjekt und den Kosten einer allfälligen Mängelbehebung zur Herstellung der Tauglichkeit zum vorausgesetzten Gebrauch» ankommen.272 Der wirtschaftliche Zweck einer Altbaute gilt als beeinträchtigt und der Mangel daher ausserhalb des vernünftigerweise Vorstellbaren, wenn die Mängelbehebungskosten 10 % des Kaufpreises übersteigen.273

268 BasK/WIEGAND, N 4 zu Art. 100 OR; GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 2573; a.M. BerK/WEBER, N 34

zu Art. 100 OR. 269 Vgl. Urteil des BGer 4A_70/2011 E. 4.1; 4A_226/2009 E. 3.2.3; 4C.16/2005 E. 1.5. 270 Statt aller BGE 130 III 686 E. 4.3.1; ZürK/SCHÖNLE/HIGI, N 51 zu Art. 199 OR. 271 BGE 130 III 686 E. 4.3.1. 272 Urteil des BGer 4A_226/2009 E. 3.2.2; BGE 130 III 686 E. 4.3.1. 273 Urteil des BGer 4A_551/2010 E. 2.6; 4A_529/2010 E. 4.1.

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475 Der Verkäufer haftet nicht für Mängel, die der Käufer zur Zeit des Kaufes gekannt hat (Art. 200 Abs. 1 OR). Das Gesetz geht diesfalls von einer Genehmigung zufolge vorbehaltloser An-nahme aus (Genehmigungsfiktion).274 Wenn der Käufer einen mangelhaften Zustand vor o-der bei Vertragsabschluss feststellt, so kauft er das Grundstück bewusst in diesem Zustand. Somit fällt eine Mängelhaftung des Verkäufers von vornherein ausser Betracht.

476 Gemäss Art. 200 Abs. 2 OR haftet der Verkäufer für Mängel, «die der Käufer bei Anwendung gewöhnlicher Aufmerksamkeit hätte kennen sollen» nur dann, «wenn er deren Nichtvorhan-densein zugesichert hat». Art. 200 Abs. 2 OR bewirkt keine Vorverlegung der Prüfungsoblie-genheit auf den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses. Der Käufer muss daher die Sache nicht prüfen und erst recht nicht durch Sachverständige prüfen lassen275, sondern nur die gewöhn-liche Aufmerksamkeit walten lassen.276 An die gewöhnliche Aufmerksamkeit des Käufers ge-mäss Art. 200 Abs. 2 OR sind – im hier zur Diskussion stehenden vorvertraglichen Stadium – keine hohen Anforderungen zu stellen. So darf dem unerfahrenen Käufer nicht zugemutet wer-den, Pläne oder sonstige technische Unterlagen, die zu Vertragsbestandteilen erklärt werden, daraufhin zu analysieren, ob die Vorschriften betreffend Wärmedämmung, Lärmschutz in Ge-bäuden und Grundsätze der Bauphysik eingehalten worden sind.

C. Die Mängelrechte des Käufers

477 Dem Käufer stehen – ähnlich wie dem Besteller im Werkvertrag – im Falle von Sachmängeln die Wandelung, die Minderung und das Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens zur Ver-fügung.

478 Im Gegensatz zum Werkvertrag steht dem Grundstückkäufer von Gesetzes wegen aber kein Recht auf Nachbesserung zu.

Das Wandelungsrecht

479 Mit der Wandelung gibt das Gesetz dem Käufer das Recht an die Hand, den Vertrag aufzu-heben, d.h. von ihm (juristisch-technisch) zurückzutreten. Die Vertragsaufhebung geschieht mit rückwirkender Wirkung.277

480 Das Wandelungsrecht steht dem Käufer nicht uneingeschränkt zu. Verlangt der Käufer die Wandelung, so steht es dem Richter gemäss Art. 205 Abs. 2 OR frei, «bloss Ersatz des Min-derwertes zuzusprechen, sofern die Umstände es nicht rechtfertigen, den Kauf rückgängig zu machen». Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Wandelung gerechtfertigt, wenn dem Kaufobjekt wesentliche Eigenschaften fehlen oder es sich als unbrauchbar er-weist.278 Die Wandelung ist daher gerade beim Grundstückkauf stark eingeschränkt. Beim Kauf von unüberbauten Grundstücken stehen Fälle im Vordergrund, in denen sich das Kaufobjekt für den zugesicherten oder vorausgesetzten Gebrauch als untauglich erweist (z.B. Bauland, das sich als unüberbaubar erweist). Bei überbauten Grundstücke sind es Fälle, in denen die

274 BasK/HONSELL, N 1 zu Art. 200 OR. 275 BGE 131 III 145 E. 6.3 = Pra 2005 Nr. 50. 276 BGE 66 II 132 E. 5; BasK/HONSELL, N 3 zu Art. 200 OR. 277 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 1531. 278 Urteil des BGer 4A_252/2013 E. 4.

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Verwendung des Kaufobjektes zum vorausgesetzten Gebrauch unzumutbar ist (z.B. Kontami-nation eines Wohnhauses mit gesundheitsgefährdenden Stoffen, die sich nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand beseitigen lassen).

Das Minderungsrecht

481 Mit der Minderung kann der Käufer «Ersatz des Minderwertes der Sache» (Art. 205 Abs. 1 OR) fordern. Analog wie im Werkvertragsrecht erfolgt die Herabsetzung des Kaufpreises nach der relativen Berechnungsmethode. Demgemäss entspricht das Verhältnis zwischen dem her-abgesetzten Preis und dem vereinbarten Preis dem Verhältnis zwischen dem objektiven Wert des Kaufgegenstandes mit dem Mangel und dem objektiven Wert ohne Mangel.279

482 Wie mit Werkvertragsrecht gelten auch für den Grundstückkauf zwei vom Bundesgericht ent-wickelte tatsächliche Vermutungen: Gemäss der ersten tatsächlichen Vermutung entspricht der vereinbarte Preis vermutungsweise dem objektiven Wert des Kaufobjektes. Es wird also vermutet, dass die Parteien ein ausgewogenes Geschäft abgeschlossen haben, sodass der Herabsetzungsbetrag und der objektiver Minderwert identisch sind.280 Nach der zweiten tat-sächlichen Vermutung entspricht der Minderwert den Verbesserungskosten.281 Ist der Mangel nicht behebbar, so ist der Minderwert anders zu bestimmen, so etwa nach dem Mietzinsver-lust, der aufgrund des Mangels zu befürchten ist.282

Das Recht auf Ersatz des Mangelfolgeschadens

483 Gemäss Art. 208 OR, der sich mit der Durchführung der Wandelung befasst, hat der Verkäufer «den Schaden zu ersetzen, der dem Käufer durch die Lieferung fehlerhafter Ware unmittelbar verursacht worden ist» (Art. 208 Abs. 2 OR). Der Verkäufer hat überdies «den weiteren Scha-den zu ersetzen, sofern er nicht beweist, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last falle» (Art. 208 Abs. 3 OR).

484 Das Bundesgericht lehnt eine analoge Anwendung von Art. 208 Abs. 2 und 3 OR auf Fälle, in denen der Käufer keine Wandelung verlangt bzw. verlangen kann, ab283. Der Käufer, der Min-derung geltend macht, ist nach dieser Rechtsprechung für seinen Anspruch auf Ersatz des Mangelfolgeschadens daher auf die allgemeine Schadenersatzklage gemäss Art. 97 ff. OR angewiesen. Im Ergebnis führt dies dazu, dass bei Minderung auch jener Mangelfolgescha-den, der bei Wandelung als unmittelbarer Schaden i.S.v. Art. 208 Abs. 2 OR gelten würde, nur verschuldensabhängig geschuldet ist.

D. Die Prüfungs- und Rügepflicht des Grundstückkäufers

485 «Der Käufer soll, sobald es nach dem üblichen Geschäftsgange tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten hat, diesem sofort Anzeige machen» (Art. 201 Abs. 1 OR). Versäumt der Käufer dies, so gilt die Kaufsache als genehmigt, sofern der Mangel bei ordnungsgemässer Prüfung

279 BGE 111 II 162; BerK/GIGER, N 20 zu Art. 205 OR; BasK/HONSELL, N 8 zu Art. 205 OR. 280 BGE 111 II 162. 281 BGE 111 II 162. 282 Urteil des BGer 4A_291/2010 E. 4. 283 BGE 133 III 335 E. 2.4.1.

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erkennbar ist und es sich daher um einen sog. offenen Mangel handelt (Art. 201 Abs. 2 OR).284 Trifft letzteres nicht zu, handelt es sich also um einen geheimen Mangel, so muss dieser nach seiner Entdeckung ebenfalls sofort gerügt werden, ansonsten auch in diesem Fall die Geneh-migungsfiktion eintritt (Art. 201 Abs. 2 OR).

486 Um seiner Prüfungsobliegenheit nachzukommen, muss der Käufer den Kaufgegenstand ei-ner «übungsgemässen Untersuchung» (Art. 201 Abs. 2 OR) unterziehen. Es kommt also beim Prüfungsumfang und -inhalt auf die Übung an.285 Dabei sind auch die Umstände des Einzelfalls und die Art des vorgefundenen Mangels zu beachten.286 Dabei kommt es auf die Sachkenntnis des Käufers an. Profis sind strenger zu beurteilen als «Einmal-Käufer». In beiden Fällen muss der Käufer aber kein Sachverständiger beiziehen.

487 Will der Käufer seiner Rügeobliegenheit nachkommen, so muss er Mängel, die bei korrekter Erfüllung seiner Prüfungsobliegenheit erkennbar sind (sog. offene Mängel), und die sich später ergebenden Mängel (sog. geheime Mängel) «sofort» (Art. 201 Abs. 1 und 3 OR) rügen. Wie wir bereits gesehen haben, beträgt für das Werkvertragsrecht die Rügefrist nach bundesge-richtlicher Rechtsprechung sieben Kalendertage bzw. fünf Werktage, wenn ein Zuwarten mit der Rüge zu keiner Vergrösserung des Schadens führt.287 Wenn das Bundesgericht mit dieser Frist richtig liegt, so gibt es keinen Grund, diese nicht auch auf das Kaufvertragsrecht anzu-wenden.

E. Die Verjährung

488 Entgegen dem zu engen Wortlaut des Art. 219 Abs. 3 OR, der nur «für die Mängel eines Ge-bäudes» eine fünfjährige Verjährungsfrist vorsieht, gilt diese Verjährungsfrist für sämtliche Sachmängel eines gekauften Grundstückes, also auch für die Mängel eines unüberbauten Grundstückes (einschliesslich des Flächenmasses)288 oder für Mängel an Anlagen, die nicht als Gebäude qualifizieren.289

489 Fristauslösend ist der Eigentumserwerb (Art. 219 Abs. 3 OR). Massgeblicher Zeitpunkt ist also die Einschreibung der Eigentumsübertragung im Tagebuch des Grundbuchamtes, sofern die Anmeldung rechtskonform erfolgt ist und daher der Hauptbucheintrag nachfolgend zu Stande kommt (Art. 972 Abs. 1 und 2 ZGB).

490 Für die Verjährungsunterbrechung gilt das für das Werkvertragsrecht Gesagte.

284 Urteil des BGer 4C.273/2006 E. 3.1. 285 BasK/HONSELL, N 5 zu Art. 201 OR. 286 BGE 131 III 145 E. 7.2 = Pra 2005 Nr. 50. 287 Urteil des BGer 4C.159/1999 E. 1b/aa und 2; 4C.82/2004 E. 2.3 = Pra 2004 Nr. 146; 4A_51/2007

E. 4.5; 4A_336/2007 E. 4.4; 4A_82/2008 E. 7.1. 288 BGE 104 II 265 E. 3; Urteil des BGer 4A_235/2008 E. 5.1. 289 BerK/GIGER, N 119 zu Art. 221 OR.

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VII. Die Bauversicherungen

1. Die Versicherungen rund um den Bau

Einleitung

491 Bauschadenfälle gab es schon immer und wird es immer wieder geben. Um die damit verbun-denen Risiken aller Baubeteiligten für jeden Einzelnen in einem tragbaren Rahmen zu halten, ist eine Risiko-Analyse jedes einzelnen Baubeteiligten, auf seine Interessen hin betrachtet, vonnöten. Dies zunächst in Hinblick auf seine allgemeine Betriebs- oder Unternehmensfüh-rung, dann aber auch in Hinblick auf ein bestimmtes Projekt.

492 Beispiel: Der Planer hat eine Haftpflichtversicherung abgeschlossen, welche seine Haftpflicht in dem durch die Police definierten Umfang deckt. Beim Abschluss dieser Versicherung hat er eine sorgfältige Risikoanalyse vorgenommen, welche Risiken seinem Unternehmen blühen, welche er selber tragen will, und welche er nicht selber tragen, also versichern will. Im Hinblick auf ein bestimmtes Projekt erkennt er aber, dass dieses Projekt Risiken birgt, welche seine Versicherung gemäss Police nicht tragen würde. Er kommt zum Schluss, dass eine objektbe-zogene Versicherung abzuschliessen ist. In der Risikoanalyse kann sich dann auch die Not-wendigkeit anderer Versicherungen ergeben, welche andere Baubeteiligte abzuschliessen ha-ben (z.B. Bauwesenversicherung; Haftpflichtversicherung seiner Subplaner).

493 Mit dem Abschluss der Versicherungen transferieren die Baubeteiligten Risiken auf die Versi-cherung. Das Restrisiko bleibt.290

Die Elemente des Bauschadenfalles

494 Den klassischen Bauschadenfall prägen die folgenden Elemente:

495 Ein Schaden: Es ist aus irgendeinem Grund ein Schaden entstanden. Dieser kann Folge einer Vertragsverletzung eines Baubeteiligten sein, er kann ein blosser Unfall sein. Die Sachver-haltsermittlung ist (auch aus Sicht der Versicherung) sehr wichtig, und nicht immer einfach.

496 Der oder die Geschädigten: Geschädigt können alle Baubeteiligten sein. Oft ist es der Bau-herr, aber nicht zwingend. Geschädigter eines Bauschadenfalls kann auch ein Unternehmer sein, oder auch der Planer, oder ein Nachbar, oder ein – bis zum Bauschadenfall unbeteiligter – Dritter.

497 Ein oder mehrere Haftpflichtige: Ist der Bauschadenfall auf eine Sorgfaltspflichtverletzung eines Baubeteiligten zurückzuführen, stellt sich die Frage dessen Haftpflicht. Wenn Sorgfalts-pflichtverletzungen mehrerer Baubeteiligter zur Diskussion stehen, ist das Verhältnis der Haf-tungsgründe zu klären.

498 Die Versicherungen: In sehr vielen Bauschadenfällen kommt eine oder mehrere Versiche-rungen zum Zuge. Nicht nur mehrere Haftpflichtversicherungen, wenn mehrere Haftpflichtige da sind, sondern vielleicht auch Sachversicherungen und die Bauwesenversicherung.

290 FUHRER, Bauversicherungen, S. 2 f.

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499 Der Versicherungsnehmer: Der Versicherungsnehmer ist der durch die Versicherung versi-cherte Bauteilnehmer.

500 Die Deckung: Keine Versicherung deckt jede Art von Schäden, welche im Risikobereich des Versicherungsnehmers entstehen. Jede Versicherung bietet Deckung für bestimmte Schaden-arten und bestimmte Vorfälle. Die Frage, ob ein Baubeteiligter für den Bauschadenfall über-haupt Deckung hat, ist daher sehr wichtig.

501 Das Quantitativ.

2. Die Baugarantie

Allgemeines

502 Die Baugarantie ist ein Vertrag zwischen Versicherer und Unternehmer zugunsten des Bau-herrn, mit welchem sich der Versicherer verpflichtet, zugunsten des Bauherrn eine Bürgschaft oder eine Garantie zu leisten.291

503 Sie kommt in verschiedenen Erscheinungsformen vor. Es wird unterschieden zwischen der Werk- oder Gewährleistungsgarantie (Sicherheitsleistung für Ansprüche nach der Abnahme des Werkes), der Ausführungs- oder Erfüllungsgarantie (Sicherheitsleistung für Ansprüche bis zur Abnahme des Werkes) und der Anzahlungsgarantie (Sicherheitsleistung für allfällige - teil-weise oder vollständige - Rückzahlung von Anzahlungen).292

504 Als Sicherheit für mögliche Verluste aus Nichterfüllung, nicht rechtzeitiger Erfüllung oder man-gelhafter Erfüllung (z.B. Art. 149 SIA-Norm 118), kann sich der Bauherr das Recht vorbehalten, einen Teil des Werklohnes zurückzubehalten. Die SIA-Norm 118 sieht einen Rückbehalt von 10 % des Leistungswertes vor; sofern der Leistungswert CHF 300'000 übersteigt, beträgt der Rückbehalt 5 % des Wertes (Art. 150 SIA-Norm 118). Die Auszahlung des Rückbehaltes kann der Unternehmer nur dann verlangen, wenn er eine Solidarbürgschaft einer Bank oder einer Versicherung beibringt (Art. 181 SIA-Norm 118).

505 Die Baugarantie kann als echte Garantie (Art. 111 OR) ausgestaltet sein, oder als Solidarbürg-schaft. Als echte Garantie (auf erstes Verlangen) bietet sie dem Bauherrn einen erheblich komfortableren Schutz, weil die Versicherung dann verpflichtet ist, auf erste Aufforderung hin und unter Ausschluss aller Einwendungen aus dem Grundverhältnis zu leisten. Der Unterneh-mer kann den unberechtigten Abruf einer solchen Garantie praktisch nicht verhindern.

Die Werk- oder Gewährleistungsgarantie

506 Als Werk- oder Gewährleistungsgarantie sichert die Garantie die Verpflichtung des Unterneh-mers, seine Gewährleistungspflichten zu erfüllen. Mit der Leistung dieser Bürgschaft oder Ga-rantie erfüllt der Unternehmer die Voraussetzungen für die Ausbezahlung des Rückbehaltes gemäss Art. 181 SIA-Norm 118.

291 FUHRER, Bauversicherungen, S. 19. 292 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O.

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507 Die von den Versicherungen gestellten Standard-Solidarbürgschaften gelten in der Regel nur für verdeckte Mängel; sie erfüllen damit die Voraussetzungen nach Art. 181 SIA-Norm 118 an sich nicht. Dennoch gibt es in der Praxis kaum je Probleme deswegen, weil die Standard-Solidarbürgschaften von den Bauherren akzeptiert werden.

Die Erfüllungsgarantie

508 Als Erfüllungsgarantie garantiert die Baugarantie dem Bauherrn die Vertragserfüllung durch den Unternehmer, also schon während der Bauphase. Der Bauherr kann die Garantie abrufen, wenn der Unternehmer seine Verpflichtungen aus dem Vertragsverhältnis verletzt.

Die Anzahlungsgarantie

509 Als Anzahlungsgarantie sichert die Garantie den Anspruch des Bauherrn auf teilweise oder vollständige Rückzahlung von dem Unternehmer geleisteten Anzahlungen.

Die Deckung in zeitlicher Hinsicht

510 Die Garantie ist zeitlich immer befristet. Ihre Ablaufdauer ist auf der Police vermerkt.

3. Die Bauwesenversicherung

Allgemeines

511 Die Bauwesenversicherung wird oft (vereinfacht) als Kaskoversicherung für noch nicht vollen-dete Bauwerke bezeichnet. Sie versichert die Bauleistungen, sowie die zugehörigen Baustoffe und Bauteile, im Umfang der Versicherungssumme. Bauleistungen meint die von den ver-schiedenen am Bau beteiligten Parteien erbrachten Leistungen, eingeschlossen auch die Ei-genleistungen des Bauherrn. Werden solche Leistungen durch den Eintritt der versicherten Gefahr beschädigt oder zerstört, übernimmt die Bauwesenversicherung die Kosten der Wie-derherstellung des Zustandes vor dem Schadenereignis.293 Zwar ist der Begriff der Kaskover-sicherung zutreffend; aber wie bei der echten Kaskoversicherung braucht es einen "Unfall" (das versicherte Ereignis), welches die Leistungspflicht auslöst: Für blosse Mängel gibt es keine Deckung!

512 Welche Bauleistungen versichert sind, wird in der Police genannt. Sie definieren den Versi-cherungsschutz in Bezug auf das zu erstellende Bauwerk (z.B. Mehrfamilienhaus auf Parzelle 27, Oberstadtstrasse 7, in Baden), und auf den versicherten Vollendungsgrad (z.B. schlüssel-fertig).

513 Die Bauwesenversicherung endet mit der Vollendung des Werkes. Sie übernimmt also keine Leistungen mehr, wenn das Werk vollendet bzw. abgenommen ist. Sie erbringt dann, wenn nach Vollendung ein Fehler entdeckt wird, welcher auf einen unentdeckten Bauunfall zurück-zuführen ist, welcher nicht entdeckt worden ist (z.B. ein undichtes Wasserrohr, weshalb Was-ser in die Isolation oder den Unterboden fliesst), keine Leistungen.

293 FUHRER, Bauversicherungen, S. 6.

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Die versicherten Gefahren

514 Versicherte Gefahren in der Bauwesenversicherung sind Schäden durch unvorhergesehene Bauunfälle sowie Verluste durch Diebstahl, von fest mit dem Bauwerk verbundenen Sachen. Als versicherte Bauunfälle gelten etwa:294

- Einsturz der versicherten Sachen, weil Gerüste, Spriessungen oder Spundwände ver-sagen;

- Rutschungen der Baugrubenböschung, Grundwassereinbrüche, unvorhergesehene Bewegungen des Baugrundes;

- Zufällige oder böswillige Beschädigungen, Sabotage;

- Beschädigungen durch Manipulationsfehler, Sturz von Baumaterialien und Baugeräten (ein Baukran fällt auf versicherte Sachen);

- Beschädigungen infolge von Materialfehlern oder fehlerhafter Bauausführung;

- Beschädigungen wegen mangelnder Bauaufsicht (Unternehmer, Bauleiter);

- Beschädigungen infolge fehlerhafter Planung und Berechnung der Architekten oder der Ingenieure.

515 Zusatzversicherungen und Deckungserweiterungen sind möglich. Sowohl die versicherten Sa-chen wie auch die versicherten Gefahren lassen sich im Baukastensystem durch zusätzliche Module ergänzen. Die Versicherungen sind nicht komplett identisch aufgebaut, sie variieren von Versicherung zu Versicherung. Entscheidend ist immer die konkrete Police.295

Zur Vorleistungspflicht

516 Von grosser praktischer Bedeutung ist die Frage der Vorleistungspflicht der Bauwesenversi-cherung. Die Bauwesenversicherung hat im Versicherungsfall zu zahlen. Nach dem allgemei-nen Regressrecht kann sie dann, nachdem sie für den Schaden aufgekommen ist, auf einen Dritthaftpflichtigen regressieren, sofern dieser entweder ausservertraglich haftet und ihm ein Verschulden vorgeworfen kann, oder vertraglich haftet und dabei grobfahrlässig gehandelt hat.296

517 Nach den AVB der Versicherungsgesellschaften ist die Koordination von Haftpflicht-und Bau-wesenversicherungsleistungen aber etwas abweichend geregelt. Die Deckung durch die Bau-wesenversicherung ist in bestimmten Konstellationen subsidiär zu Leistungen, die Dritthaft-pflichtige übernehmen müssen: Die Deckung ist subsidiär, wenn ein Baubeteiligter haftet, wel-cher ebenfalls in die Bauwesenversicherung einbezogen ist. Die Deckung durch die Bauwe-senversicherung entfällt in diesen Fällen aber nur dann, falls und soweit ein solcher Haftpflich-tiger haftpflichtversichert ist. Da die Abwicklung eines Haftpflichtschadens aber oft eine ge-wisse Zeit erfordert, die am Bau beteiligten und von einem Schadenfall betroffenen Parteien jedoch darauf angewiesen sind, dass sie rasch entschädigt werden, damit die Arbeiten am

294 Beispiele bei FUHRER, Bauversicherungen, S. 7. 295 FUHRER, Bauversicherungen, S. 7 ff. 296 FUHRER, Bauversicherungen, S. 9.

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Bau möglichst wenig verzögert werden, verpflichtet sich die Bauwesenversicherung in der Re-gel zur Vorleistung (aber: das ist nicht in jeder Police so geregelt!). Sie bezahlt also den Scha-den, und nimmt dann auf die anderen Versicherungen Rückgriff.297

Die Ohnehinkosten

518 Ohnehinkosten sind in der Bauwesenversicherung nicht gedeckt. Ohnehinkosten sind ohnehin kein Schaden. Es sind Kosten, welche bei richtiger Einschätzung des Risikos ohnehin ange-fallen wären. Zum Beispiel Kosten für Baugruben-bzw. Hangsicherungsmassnahmen, die nicht vorgesehen gewesen waren, jedoch nach einem Baugrubeneinsturz oder durch unvor-hergesehene Instabilität des Baugrundes notwendig werden. Diese Ohnehinkosten gehen zu-lasten des Versicherten, denn er hätte sie ohnehin aufwenden müssen, wollte sie aber einspa-ren, und kann sie jetzt nicht – einfach weil ein Bauschadenfall eingetreten ist –, dem Versiche-rer überwälzen.298

4. Zu den Haftpflichtversicherungen

Allgemeines

519 Eine Versicherung soll eine Person oder eine Sache vor den finanziellen Folgen der Realisie-rung einer bestimmten Gefahr schützen. Bei der Sachversicherung vor den Folgen des Ver-lusts oder der Zerstörung der Sache, bei der Unfallversicherung vor den Folgen eines Unfalles. Die Besonderheit der Haftpflichtversicherung besteht nun darin, dass das befürchtete Ereignis, vor dessen Folgen die Versicherung schützen soll, Ansprüche sind, die von Dritten gegen die versicherte Person gerichtet werden.299 Die Haftpflichtversicherung schützt das Vermögen der versicherten Person.

520 Die ersten beiden Fragen bei der Beurteilung eines Schadenfalles sind deshalb die folgenden:

521 Gewährt der Versicherungsvertrag für die erhobenen Ansprüche Versicherungsschutz? Das ist die Frage der Deckung. Sie wird nach den Bestimmungen des Versicherungsvertrages be-antwortet.

522 Hat der Geschädigte Dritte seine Haftpflichtansprüche gegen die versicherte Person zu Recht erhoben? Das ist die Frage der Haftung. Sie wird nach materiellem Privatrecht (OR, ZGB) beantwortet.

Die Leistungen der Haftpflichtversicherungen

523 Die Haftpflichtversicherungen umschreiben ihre Leistungen mit der Formel „Entschädigung begründeter und Abwehr unbegründeter Ansprüche". In einem ersten Schritt hat die Versiche-rung also zu prüfen, ob die geltend gemachten Haftpflichtansprüche vom Versicherungsschutz umfasst sind oder nicht. Sie hat die Deckungsfrage zu prüfen. Sind die Ansprüche gedeckt, so muss der Versicherer seine vertraglichen Leistungen erbringen. Diese unterscheiden sich

297 FUHRER, Bauversicherungen, S. 9 f. 298 FUHRER, Bauversicherungen, S. 10. 299 FUHRER, Bauversicherungen, S. 11.

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dann je nachdem, ob der Versicherte für den geltend gemachten Schaden haftet oder nicht. Im zweiten Schritt wird also die Haftungsfrage geprüft. Wenn der Haftpflichtige haftet, entschä-digt der Versicherer den Geschädigten; wenn die Versicherung der Meinung ist, dass er nicht haftet, versucht sie, die Ansprüche abzuwehren.300

Versichert ist der Haftpflichtige!

524 Wichtig ist, dass die Haftpflichtversicherung den Schutz des Vermögens des Haftpflichtigen bezweckt. Versichert ist also der Haftpflichtige, und nicht der Geschädigte. Die Haftpflichtver-sicherung ist keine Versicherung zum Schutz des Geschädigten.301 Das wird gerne und oft vergessen.

525 Es besteht kein direktes Forderungsrecht des Geschädigten gegenüber der Haftpflichtversi-cherung des Schädigers. Es gibt davon zwar Ausnahmen, eine ganz wichtige im Strassenver-kehr bei der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung, nicht aber bei den normalen Berufshaft-pflichtversicherungen.

526 Um Ansprüche des Geschädigten erwahren zu können, besteht ein gesetzliches Pfandrecht des Geschädigten am Ersatzanspruch des Versicherungsnehmers gegen den Haftpflichtver-sicherer (Art. 60 VVG).302

Versicherung nur im Rahmen des versicherten Risikos

527 Alle Haftpflichtversicherungen versichern nur im Rahmen des in der Police genannten Risikos. Ist der Schadenfall auf eine andere Tätigkeit oder ein anderes Risiko zurückzuführen, besteht keine Versicherungsdeckung. Der Versicherte sollte deshalb kontinuierlich überprüfen, ob die einst abgeschlossene Berufshaftpflichtversicherung noch immer dem aktuellen Tätigkeitsbe-reich entspricht. Wer die Tätigkeit als Architekt versichert hat, und als Generalunternehmer oder als Totalunternehmer tätig ist, wird für Fehler, welche der Vertragsleistung Ingenieur zu-zurechnen ist, aus dieser Versicherung keine Versicherungsdeckung haben.

Leistungen nur im Rahmen der Deckung

528 Aus der Tatsache, dass die Haftpflichtversicherung allein das Vermögen des Schädigers schützt, und sich ihre Leistungspflicht allein aus dem Versicherungsvertrag zwischen ihr und dem Haftpflichtigen ergibt, ergibt sich auch, dass die Versicherung in einem Schadenfall von vornherein nur im Rahmen der Deckung leisten muss.

529 Wenn der Haftpflichtige in einem Schadenfall keine Deckung hat, ist die Versicherung draussen, und kann sich der Geschädigte allein an den Haftpflichtigen halten. Die Versiche-rung wird sich in solchen Fällen auch nicht (zu Gunsten ihres Versicherungsnehmers) mit der Abwehr unbegründeter Ansprüche befassen.

300 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O. 301 WERZ, Die Planerverträge, Nr. 16.2 zu § 16. 302 Dazu auch FUHRER, Bauversicherungen, S. 11.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 88

530 Die Versicherungsleistung ist von vornherein begrenzt auf die Höhe der Versicherungssumme. Diese wird zwischen der Versicherung und dem Versicherungsnehmer vereinbart. Die Versi-cherungssumme muss nicht für alle Schadenarten gleich sein; regelmässig wird für Bauten-schäden eine niedrigere Summe als für Personen- und Sachschäden vereinbart (sog. Subli-mite); das ist auch eine Frage des Preises der Versicherung. Während die Versicherungssum-men für Personen-und Sachschäden regelmässig in genügender Höhe vereinbart werden, ist die Versicherungssumme für Bautenschäden oft erheblich zu niedrig angesetzt. Letztlich ist es eine Frage der Risikoüberlegungen des Versicherungsnehmers.

531 Die Versicherung wird - auch wenn die Deckung bejaht wird - keine Leistungen erbringen, für welche ein Selbstbehalt des Geschädigten besteht. Der Selbstbehalt wird zwischen der Versi-cherung und dem Versicherungsnehmer vereinbart. Die Wahl des Selbstbehaltes ist dem Ver-sicherungsnehmer überlassen, und ist ebenfalls Teil seiner individuellen Risikoüberlegungen.

532 Die Versicherung kann zudem alle Einreden vorbringen, welche ihr aus dem Versicherungs-verhältnis mit dem Schädiger zustehen. Bei grobfahrlässigem Handlungen ihres Versiche-rungsnehmers kann sie ihre Leistungen kürzen. Hat der Versicherungsnehmer die Prämie nicht bezahlt, kann sie - nach den Bestimmungen des Versicherungsvertrages - ihre Leistun-gen einstellen, und vom Vertrag zurücktreten.

533 Dies alles kann sich für den Geschädigten dramatisch auswirken. Denn für die Kosten jener Schadenanteile, für welche die Versicherung nicht aufkommt, stehen für die Schadenregulie-rung keine Mittel zur Verfügung. Der Haftpflichtige muss persönlich dafür aufkommen – wenn er dies kann.

Der zeitliche Geltungsbereich

534 Die Frage der Deckung hängt auch davon ab, an welches Ereignis die Versicherungsdeckung anknüpft und ob in diesem Zeitpunkt ein Versicherungsvertrag besteht; ohne geltenden Ver-trag leistet keine Versicherung. Es sind verschiedene Anknüpfungen möglich: Es gibt das Schadenursachenprinzip (ist der Schaden während der Versicherungsvertragsdauer verur-sacht worden?), das Schadeneintrittsprinzip (ist der Schaden während der Versicherungsver-tragsdauer eingetreten?; massgeblich ist die erstmalige Feststellung des Schadens), und das Anspruchserhebungsprinzip (auch claims-made-Prinzip genannt: ist der Schaden während der Versicherungsvertragsdauer gegenüber dem Planer geltend gemacht worden?). Auf die zeit-liche Deckung muss beim Wechsel der Versicherung geachtet werden, um Deckungslücken zu vermeiden. Beispiel: Der Planer ist von 2010 bis 2014 bei der A-Versicherungsgesellschaft haftpflichtversichert. Bei dieser gilt das claims-made-Prinzip. Dann wechselt er zur B-Versi-cherungsgesellschaft, bei welcher das Schadenursachenprinzip gilt. Im Jahr 2016 wird ihm ein Planungsfehler angezeigt, welchen er seiner Versicherung melden will. Die A-Versicherungs-gesellschaft leistet nicht, weil er bei ihr nicht mehr versichert ist; die B-Versicherungsgesell-schaft leistet nicht, weil der Schaden nicht während der Geltung ihres Vertrages verursacht worden ist. Durch sorgfältige Vertragsgestaltung beim Versicherungswechsel kann man eine solche Lücke vermeiden, aber man muss eben daran denken, das Vorrisiko mitzuversichern.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 89

Zum Eigenschaden

535 Schäden, welche der Versicherungsnehmer selber erleidet, werden von der Haftpflichtversi-cherung nicht gedeckt. Denn für solche Schäden wird der Versicherungsnehmer ja nicht von Dritten in Anspruch genommen. Beispiel (aus der Eigentümerhaftpflicht): Wenn das Nach-bargebäude, welches ebenfalls dem versicherten Bauherrn gehört, aufgrund der Bautätigkeit auf dem Hauptgrundstück beschädigt wird, wird die Bauherrenhaftpflichtversicherung nicht leisten; es liegt ein Eigenschaden vor. Ebenso wenig wird sie Schäden auf dem Baugrundstück selber decken.

Die Versicherung als Mitglied einer ARGE

536 Besondere Aufmerksamkeit bedarf die Frage der Versicherung, wenn der Unternehmer oder der Planer im Rahmen einer Arbeitsgemeinschaft tätig wird. Hier gelten bei allen Versicherun-gen spezielle Bestimmungen. In der Regel ist in den Stammpolicen der Beteiligten die Haftung aus Arbeiten, die im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften ausgeführt werden, ausgeschlossen. Entweder muss der Planer oder der Unternehmer dafür sorgen, dass dieses Risiko bei ihm eingeschlossen wird, oder aber es ist eine projektbezogene Haftpflichtversicherung abzu-schliessen.303

Der Aufbau des Haftpflichtversicherungsvertrags

537 Die Haftpflichtversicherungen sind im Bausteinsystem aufgebaut. Die Versicherungen arbei-ten mit einem Einschluss-und Ausschlussprinzip. Versicherte Risiken werden eingeschlossen, nicht versicherte Risiken ausgeschlossen.

538 Die Grunddeckung ergibt sich aus den allgemeinen Bedingungen (AB). Sie ist in der Regel beschränkt auf Personen-und Sachschäden. Das ist zwar wichtig, aber meist nicht genügend.

539 Mit den Zusatzbedingungen (ZB) erweitern die Parteien die eingeschlossenen Risiken, und verringern die ausgeschlossenen Risiken.

540 Darüber hinaus können die besonderen Bedingungen (BB) abgeschlossen werden, welche die Versicherungsdeckungen vergrössern und die Ausschlüsse verringern.

541 Dieser Aufbau macht die Analyse eines Versicherungsvertrages sehr kompliziert. Es ist manchmal sehr schwierig, die Übersicht darüber zu behalten, was nun Ausschluss vom Aus-schluss vom Ausschluss ist.

5. Die Betriebshaftpflichtversicherung des Unternehmers

Allgemeines

542 Die Betriebshaftpflichtversicherung des Bauunternehmers deckt das Haftungsrisiko aus den Betriebstätigkeiten des Unternehmers.

303 FUHRER, Bauversicherungen, S. 18.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 90

Die Deckung in zeitlicher und materieller Hinsicht

543 In zeitlicher Hinsicht gilt in der Regel das Schadeneintrittsprinzip (ist der Schaden während der Versicherungsvertragsdauer eingetreten?). Massgeblich ist die erstmalige Feststellung des Schadens).

544 Gedeckt sind in der Regel Personen- und Sachschäden. Es gibt aber unterdessen immer mehr Versicherungen, welche auch reine Vermögensschäden als Folge von unvorhergesehenen Bauzwischenfällen versichern.304

545 Es fällt auf, dass die Baubeteiligten den Deckungsumfang der Betriebshaftpflichtversicherung des Unternehmers immer wieder überschätzen.

Keine Deckung für Baumängel!

546 Nicht versichert sind Ansprüche aus Schäden am entstehenden Werk, soweit sie die von der Bauunternehmung geleisteten Arbeiten oder gelieferten Sachen betreffen. Ausgeschlossen sind auch Ansprüche aus Schäden an den direkt bearbeiteten Sachen oder Bauteilen sowie aus der Verletzung vertraglicher Hauptleistungspflichten.305 Das heisst im Klartext, dass der Unternehmer für die Behebung von Mängeln, für welche er gewährleistungspflichtig ist, nie Versicherungsdeckung beanspruchen kann.

6. Die Bauherrenhaftpflichtversicherung

Allgemeines

547 Mit der Bauherrenhaftpflichtversicherung versichert sich der Bauherr dagegen, von Dritten für Schäden in Anspruch genommen zu werden, welche im Zusammenhang mit einem Bauvor-haben entstehen können. Die versicherte Gefahr ist die Erhebung von Schadenersatzansprü-chen durch Dritte.306

Das versicherte Risiko

548 Zu denken ist an eine Inanspruchnahme des Bauherrn aus der Grundeigentümerhaftung (Art. 679 und 685 ZGB: Überschreitung des Grundeigentums während der Bauphase) oder der Werkeigentümerhaftung (Art. 58 OR: Werkmängel während der Bauphase). Es handelt sich um Kausalhaftungen, da der Grundeigentümer ohne Verschulden haftet.

549 Anwendungsfälle können etwa sein

- auf den Nachbargrundstücken entstehen Risse an bestehenden Bauten;

- es bilden sich Senkungen auf dem Nachbargrundstück;

- das Haus auf dem Nachbargrundstück gerät als Folge des Aushubs auf dem unterlie-genden Grundstück ins Rutschen, oder der Garten stürzt ab;

304 FUHRER, Bauversicherungen, S. 17. 305 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O. 306 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O.

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- wegen einer fehlerhaften Abschrankung stürzt ein Passant in die Baugrube.

Ein „berühmter" Anwendungsfall ist zudem die Haftung des Kantons Wallis für die Schäden am Staudamm von Zeuzier, welcher durch Probebohrungen für den Rawil-Tunnel entstanden sind.

550 Die Police nennt konkret das Bauvorhaben, welches versichert werden soll. Die Bauherren-haftpflichtversicherung wird damit projektbezogen abgeschlossen.

Die Deckung in zeitlicher und materieller Hinsicht

551 Bei der Bauherrenhaftpflicht gilt in zeitlicher Hinsicht in der Regel das Schadenursachenprin-zip; gedeckt sind Schäden, die während der Vertragsdauer verursacht worden sind. Bei der Schadenbehandlung ist daher abzuklären, wann die angeblich schadenverursachenden Ar-beiten ausgeführt wurden.

552 In materieller Hinsicht deckt die Bauherrenhaftpflichtversicherung Personenschäden und Sachschäden, Vermögensschäden nur soweit, sofern sie auf einen Personenschaden oder einen dem Geschädigten zugefügten versicherten Sachschaden zurückzuführen sind. Reine Vermögensschäden sind damit nicht gedeckt.

Die Aufklärungspflicht des Architekten

553 Die Absicherung des Haftpflichtrisikos des Bauherrn ist wichtig. Ein Architekt muss dies wis-sen. Er hat dem Bauherrn den Abschluss einer solchen Versicherung zu empfehlen. In dem dem Bundesgerichtsurteil BGE 111 II 1972 zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Architekt dies unterlassen, und er wurde verpflichtet, dem Bauherrn den Schaden zu ersetzen, welcher diesem aus der fehlenden Versicherungsdeckung entstanden ist. Über die Richtigkeit dieses Urteils kann diskutiert werden.

7. Die Berufshaftpflichtversicherung des Planers 554 In die nachfolgenden Ausführungen sind (unzitiert) Ausführungen aus einem Vortrag von

lic.iur. Andreas Rüegg, Fachexperte Bau Haft, Allianz Suisse Versicherungsgesellschaft, Zü-rich, eingeflossen. Er hat freundlicherweise seine Zustimmung zur Verwendung seines Refe-rates gegeben, und auch die zugehörigen Slides zur Verfügung gestellt. Die Auszüge aus den AVB und den Policen auf den Slides sind Auszüge aus den AVB der Allianz Suisse Versiche-rungsgesellschaft.

Das versicherte Risiko

555 Die Berufshaftpflichtversicherung deckt die Verschuldenshaftungen des Planers für die Nicht-erfüllung der Planungs-oder Bauleitungstätigkeit am Bauobjekt selbst, und die Haftpflicht aus unerlaubter Handlung gegenüber Dritten. Die Versicherungsdeckung besteht immer nur im Rahmen des gemäss Police deklarierten Risikos.

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Die Deckung in zeitlicher und materieller Hinsicht

556 In zeitlicher Hinsicht: Die Berufshaftpflichtversicherung der Planer kennt verschiedene De-ckungsprinzipien. Welches im konkreten Vertrag gilt, ergibt sich aus den AVB: je nachdem gilt das Schadenursachenprinzip (ist der Schaden während der Versicherungsvertragsdauer ver-ursacht worden?), das Schadeneintrittsprinzip (ist der Schaden während der Versicherungs-vertragsdauer eingetreten?; massgeblich ist die erstmalige Feststellung des Schadens), oder das Anspruchserhebungsprinzip (ist der Schaden während der Versicherungsvertragsdauer gegenüber dem Planer geltend gemacht worden?).

557 In materieller Hinsicht:

558 Als Grundrisiko versichert die Berufshaftpflichtversicherung des Planers die Haftung für Per-sonen- und Sachschäden. Gedeckt sind insbesondere die Haftung aus Planungs- oder Bau-leitungsarbeiten, jedoch ohne die Haftung für Schäden am betreffenden Bauwerk. Das tönt zwar gut, und ist auch wichtig, aber – wie zu zeigen sein wird - nicht genügend.

559 Beispiele:307

- Durch einen Fehler des bauleitenden Architekten stürzt eine Decke ein, wodurch Mo-biliar beschädigt und der Bauherr verletzt wird. Die Versicherung deckt aus dem Grund-risiko den Schaden am Mobiliar und den Personenschaden des Bauherrn, nicht aber den Schaden an der Decke.

- Weil der verantwortliche Ingenieur Sicherungsmassnahmen unterlassen hat, kommt es bei einem Aushub zu einem Hangrutsch, und das über der Baugrube liegende Haus des Nachbarn wird beschädigt. Hier liegt ein Sachschaden vor, welcher von der Grund-versicherung gedeckt wird.

- Der Bauleiter übersieht eine Bodenöffnung oder vergisst, deren Sicherung anzuord-nen, weshalb ein Arbeiter in die Tiefe stürzt und Verletzungen erleidet. Es liegt ein Personenschaden vor, welcher von der Grundversicherung gedeckt ist.

560 Mit der Deckungserweiterung für Bautenschäden wird die Haftung des Planers für Schäden und Mängel an Bauten und Bauteilen versichert, die aufgrund von Plänen oder unter der Bau-leitung des Versicherten erstellt werden. Mit dieser Deckungserweiterung geht die Berufshaft-pflichtversicherung für Architekten und Ingenieure erheblich weiter als die Betriebshaftpflicht-versicherung für Bauunternehmen. Der Ingenieur kann seine vertragliche Leistung versichern. Natürlich ist die Prämie für das Bautenschadenrisiko höher, und es wird regelmässig auch ein höherer Selbstbehalt vereinbart werden.

561 Beispiele:308

- Wegen einem Fehler in der Planung oder der Bauleitung wird das Dach eines Neubaus undicht und muss saniert werden. Es liegt ein Bautenschaden vor.

- Die Höhe einer frei gebauten Lagerhalle entspricht wegen einem Planungsfehler nicht den vorgegebenen Massen. Dem Bauwerk fehlt damit eine zugesicherte Eigenschaft, weshalb ein Mangel und damit ein Bautenschaden vorliegt.

307 FUHRER, Bauversicherungen, S. 18. 308 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O.

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- Beim Neubau eines Wohn-und Geschäftshauses werden die Schallschutzvorschriften nicht eingehalten. Der Betrieb eines Gewerbes im Erdgeschoss führt zu unzulässigen Geräuschemissionen in den darüber liegenden Wohnungen.

562 In Ergänzung zur Bautenschadendeckung kann der Planer reine Vermögensschäden versi-chern. Versichert ist dann die Haftung auch für reine Vermögensschäden, d.h. Schäden, die nicht auf einen Personen-, Sach- oder Bautenschaden zurückzuführen sind.

563 Beispiele: 309

- Wegen einem Planungsfehler werden Materialien in einer Qualität, die weder erforder-lich noch sinnvoll ist, verbaut. Es liegt kein Bautenschaden vor, da das Bauwerk einen Mangel aufweist. Der Planer hat aber unnötige Mehrkosten verursacht, für welche er haftet. Es ist ein reiner Vermögensschaden.

- Ein Architekt veranlasst unnötigerweise den Einsatz seiner teuren Spezialmaschine. Es wäre auch mit einer günstigeren Maschine gegangen. Dem Bauherrn sind unnötige Zusatzkosten (ein reiner Vermögensschaden) entstanden, für welche der Planer haftet.

Die wesentlichen Deckungsausschlüsse

564 Von der Deckung ausgeschlossen ist der Eigenschaden. Erstellt der Planer ein Gebäude auf eigene Rechnung, um es nachher zu verkaufen, und begeht er einen Planungsfehler, handelt es sich beim entsprechenden Bautenschaden um einen Eigenschaden, weil im Zeitpunkt der Schadensverursachung der Versicherungsnehmer Eigentümer des Gebäudes war.

565 Kostenüberschreitungen, Terminüberschreitungen

566 Freiwillig übernommene zusätzliche Haftung (zum Beispiel Übernahme des Baugrundrisikos)

567 Planung und Bauleitung im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften, eine Versicherung dieses Risikos im Rahmen einer Zusatzversicherung ist aber möglich.

568 Gewährleistung. Die Gewährleistung des Planers ist nicht gedeckt. Zwar kann der Bauten-schaden (d.h. der Schaden oder Mangel am vom Versicherungsnehmer geplanten oder unter dessen Bauleitung erstellten Bauobjekt) mit einer Zusatzversicherung gedeckt werden; der Bautenschaden ist eigentlich auch ein Gewährleistungsschaden. Diese Deckung erstreckt sich aber nicht auf den Planmangel des Versicherungsnehmers. Die Richtigstellung eines Planes fällt nach wie vor unter den Ausschluss der Gewährleistung. Die Planungskosten für Um- oder Neuplanungen sind daher nicht gedeckt.

569 Erstellt ein Planer ein Objekt als General- oder Totalunternehmer, sind Bautenschäden und reine Vermögensschäden dann nicht versichert, wenn sie auf einen Bauleitungsfehler zurück-zuführen sind.310

309 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O. 310 FUHRER, Bauversicherungen, a.a.O.

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Zur objektbezogenen Haftpflichtversicherung

570 In der Regel hat der Planer eine Berufs- oder Betriebshaftpflichtversicherung abgeschlossen, welche ihm die Risiken des täglichen Berufslebens deckt. Bei bestimmten Objekten, insbeson-dere wenn der Planer mit anderen Planern zusammenwirkt, oder wenn die Versicherungssitu-ation bei einem Objekt im Rahmen einer ganzheitlichen Betrachtung beurteilt wird, kann sich der Abschluss einer objektbezogenen Haftpflichtversicherung aufdrängen. Versichert sind un-ter dieser Police dann die verschiedenen in der Police genannten Planer. Im Rahmen der Schadenerledigung hat dieses Modell den Vorteil, dass eine Beurteilung, welcher Planer wel-chen Fehler gemacht hat, unterbleiben kann.

8. Die Bauplatzversicherung 571 Die Bauplatzversicherung ist eine Kollektivversicherung für komplexe Bauvorhaben mit gros-

sen Bausummen (ab einer Bausumme von etwa CHF 30 Mio). Sie deckt in einer einzigen Police die meisten der Bauversicherungen ab. Sie kann die Bauwesenversicherung, die Bau-herrenhaftpflichtversicherung, die Berufshaftpflichtversicherungen der Planer, die Betriebs-haftpflichtversicherungen der Unternehmer und die Versicherung der Lieferanten umfassen. Je nach Ausgestaltung können die Unternehmer auch die von ihnen beizubringende Bauga-rantie über die Bauplatzversicherungspolice laufen lassen.

572 Versichert sind der Versicherungsnehmer (der Eigentümer oder der GU/TU), die Planer, die Unternehmer und die Lieferanten. Die versicherten Unternehmen gelten untereinander als Dritte.

573 Die Bauplatzversicherung bietet Deckung für Personen-, Sach- und Bautenschäden. Mitversi-chert sind Ansprüche aus Schäden, welche sich die versicherten Unternehmen gegenseitig zufügen.

574 Die Bauplatzpolice wird immer individuell verhandelt.

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VIII. Altlastenrecht

1. Vorbemerkungen 575 Das Altlastenrecht hat eine grosse Praxisrelevanz. Das Thema gehört in jedem (oder zumin-

dest fast jedem) Grundstückkaufvertrag ordnungsgemäss abgehandelt.

576 Gemäss Informationen, die das Bundesamt für Umwelt (BAFU) veröffentlicht, gibt es in der Schweiz 38’000 belastete Standorte. Davon sind 4000 sanierungsbedürftig. 800 sind bereits saniert worden. Die Gesamtfläche der belasteten Standorte entspricht der Fläche des Kantons Zug.

2. Begriffe 577 Zwar hat sich der Begriff «Altlastenrecht» eingebürgert und wird deshalb auch hier verwendet.

Er ist aber terminologisch falsch. Die Bedeutung des Begriffs geht weiter als die Terminologie nahelegt: Wie wir noch sehen werden, ist eine Altlast ein sanierungsbedürftiger belasteter Standort. Beim Altlastenrecht geht es aber nicht nur um sanierungsbedürftige belastete Stand-orte. Darüber hinaus geht es auch um Gebäudeschadstoffe, die nicht als belastete Standorte zu verstehen sind.

578 Gemäss Art. 2 der Altlastenverordnung (AltlV) sind belastete Standorte Orte, deren Belas-tung von Abfällen stammt und die eine beschränkte Ausdehnung aufweisen. Sie umfassen Ablagerungsstandorte, Betriebsstandorte und Unfallstandorte.

579 «Sanierungsbedürftig sind belastete Standorte, wenn sie zu schädlichen oder lästigen Einwir-kungen führen oder wenn die konkrete Gefahr besteht, dass solche Einwirkungen entstehen» (Art. 2 Abs. 2 AltlV). Alsdann spricht man von einer Altlast im juristisch-technischen Sinn (Art. 2 Abs. 3 AltlV).

580 Ist ein belasteter Standort altlastenrechtlich beurteilt, so ist er entweder überwachungsbe-dürftig, sanierungsbedürftig (=Altlast) oder weder überwachungs- noch sanierungsbe-dürftig (Art. 8 Abs. 2 AltlV).

581 In der Praxis spricht man auch oft von sog. «Bauherren-Altlasten». Gemeint sind damit belas-tete Standort, die zwar nicht sanierungsbedürftig sind, aber im Rahmen eines Bauvorhabens zu Mehrkosten für die Entsorgung von kontaminiertem Aushubmaterial führen. Sie sind daher keine Altlasten im juristisch-technischen Sinn.

582 Gemäss BGE 136 II 142 sind Gebäudeschadstoffe (z.B. Asbest) keine belasteten Standorte, weil sie begrifflich nicht unter die abschliessende Aufzählung der Ablagerungs-, Betriebs- oder Unfallstandorte zu subsumieren sind.

3. Kataster der belasteten Standorte (KBS) 583 Im Kataster der belasteten Standorte (KBS) werden Standorte eingetragen, von denen fest-

steht oder mit grosser Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass sie belastet sind (Art. 5 Abs. 3 AltlV).

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584 Bei der Erhebung der belasteten Standorte teilt die Behörde diese wie folgt ein (Art. 5 Abs. 4 AltlV): Standorte, bei denen keine schädlichen oder lästigen Einwirkungen zu erwarten sind, und Standorte, bei denen untersucht werden muss, ob sie überwachungs- oder sanierungs-bedürftig sind.

585 Erst in einem zweiten Schritt, wenn die notwendigen Abklärungen getroffen sind, erfolgt die altlastenrechtliche Beurteilung (Klassierung) in überwachungs-, sanierungs- oder weder über-wachungs- noch sanierungsbedürftig.

586 Die kantonalen KBS sind nicht für alle belasteten Standorte zuständig. Der Bund ist zuständig für Grundstücke der SBB, der Flughäfen, der Autobahnen und der Armee.

587 Achtung: Gebäudeschadstoffe (z.B. Asbest) sind in den KBS nicht verzeichnet.

588 Die meisten Kantone und auch der Bund veröffentlichen ihre KBS online.

4. Die Kostenverteilung gemäss Art. 32d USG 589 Gemäss Art. 32d Abs. 4 des Umweltschutzgesetzes (USG) erlässt die Behörde eine Verfü-

gung über die Kostenverteilung, wenn ein Verursacher dies verlangt oder die Behörde die Massnahmen selber durchführt. Verteilungsfähig sind allerdings gemäss Art. 32d Abs. 1 USG nur Kosten für notwendige Massnahmen zur Untersuchung, Überwachung und Sanie-rung belasteter Standorte.

590 Eine Kostenverteilungsverfügung nach Art. 32d USG steht also für Gebäudeschadstoffe nicht zur Verfügung (weil diese keine belasteten Standorte im Rechtssinne sind) und für sog. «Bau-herren-Altlasten» höchstens für notwendige Untersuchungskosten zur Verfügung (weil diese definitionsgemäss weder überwachungs- noch sanierungsbedürftig sind).

591 Für die Kostenverteilung knüpft das Altlastenrecht an den Versucher- bzw. Störerbegriff. Dabei wird unterschieden zwischen dem Verhaltensstörer (dem Versucher des belasteten Standor-tes) und dem Zustandsstörer (blosser Inhaber des belasteten Standortes).

592 Es gelten vier Regeln für die Kostenverteilung nach Art. 32d USG: Nach der ersten Regel trägt der Störer (in der Terminologie des Gesetzes der Verursacher) die Kosten für die vorerwähn-ten notwendigen Massnahmen (Art. 32d Abs. 1 USG). Die zweite Regel bestimmt, dass meh-rere Störer nach Massgabe ihrer Anteile an der Verursachung haften, in erster Linie jedoch der Verhaltensstörer (Art. 32d Abs. 2 Satz 1 und 2 USG). Die dritte Regel befasst sich mit einem Sonderfall der zweiten Regel und besagt, dass ein blosser Zustandsstörer keine Kosten trägt, wenn er bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt von der Belastung keine Kenntnis haben konnte (Art. 32d Abs. 2 Satz 3 USG). Und schliesslich trägt der Staat nach der vierten Regel gemäss Art. 32d Abs. 3 USG die sog. Ausfallkosten. Darunter versteht man den Kostenanteil der Verursacher, die nicht ermittelt werden können oder zahlungsunfähig sind.

593 Kann sich der Zustandsstörer nach der vorerwähnten dritten Regel gemäss Art. 32d Abs. 2 Satz 3 USG von seiner Haftung nicht befreien (keine Kenntnis von der Belastung bei Anwen-dung gewöhnlicher Sorgfalt), so haftet er praxisgemäss mit einer Kostenquote von 10–30 %

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neben dem Verhaltensstörer, der 70–90 % der Kosten zu übernehmen hat.311 Ein derartiger Kostenanteil zulasten des schuldlosen Zustandsstörers ist nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung jedoch nur zulässig, wenn, neben der blossen Eigentümerstellung zum Zeit-punkt der Kostenverteilungsverfügung, weitere Umstände hinzutreten, z.B. wenn die be-troffene Person schon im Zeitpunkt der Belastung für den Standort verantwortlich war und diese daher hätte verhindern können, wenn sie für den Verursacheranteil ihres Rechtsvorgän-gers haftet (kraft Geschäftsübernahme oder als Erbe) oder durch die Belastung und/oder Sa-nierung einen (nicht unwesentlichen) wirtschaftlichen Vorteil erlangt hat oder erlangen wird.312

594 Die latente Kostenpflicht des Zustandsstörers geht mit dem Eigentum am belasteten Standort auf den Erwerber über. Die latente Kostenpflicht knüpft an die Rechtsbeziehung zum belaste-ten Standort und entsteht somit originär beim neuen Eigentümer.313

595 Dagegen verbleibt die Kostenpflicht des Verhaltensstörers im Fall der Einzelrechtsnachfolge (sog. Singularsukzession), namentlich im Fall des Verkaufs des Grundstückes mit dem belas-teten Standort, als persönliche Schuld bei diesem. Die entsprechende, allenfalls auch latente, Kostenpflicht kann aber durch Gesamtrechtsnachfolge (sog. Universalsukzession) übertragen werden, namentlich durch Vermögens- oder Geschäftsübernahme sowie durch Erbgang.314 Eine Erbenhaftung kommt allerdings nur dann in Frage, wenn zum Zeitpunkt des Erbgangs eine rechtliche Grundlage für eine Sanierungs- und Kostentragungspflicht bestanden hat und die Erben die Möglichkeit gehabt haben, das Erbe auszuschlagen oder unter öffentlichem In-ventar anzunehmen, was die Vorhersehbarkeit einer Sanierungspflicht bedingt.315

5. Die Haftung für «Bauherren-Altlasten» (Art. 32bbis USG) 596 Art. 32bbis USG handelt von sog. «Bauherren-Altlasten», also von belasteten Standorten, die

zwar nicht sanierungsbedürftig sind, aber im Rahmen von Bauvorhaben zu Mehrkosten für die Entsorgung des Aushubmaterials führen. Die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Be-stimmung sind derart kompliziert und auch restriktiv, so dass diese Haftungsnorm kaum pra-xisrelevant ist. Es wird daher vorliegend nicht näher darauf eingegangen.

6. Gebäudeschadstoffe

Asbest

597 Asbest ist eine Sammelbezeichnung für verschiedene, natürlich vorkommende, faserförmige Silikat-Minerale. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Asbestverbot von 1989 wurde As-best in der Schweiz als Baustoff verwendet. Dabei war der Einsatzbereich vielfältig, und ent-sprechend häufig kommt Asbest in Hochbauten immer noch vor. Es ist nur dann gefährlich,

311 BAFU (Hrsg.) 2009: Realleistungs- und Kostentragungspflicht. Ein schrittweises Vorgehen bei der

Bestimmung von Realleistungs- und Kostentragungspflichten nach dem Altlastenrecht. Bundesamt für Umwelt, Bern, Umwelt-Vollzug Nr. 0905, Ziff. 5.4.1.3; BGE 139 II 106 E. 5.1.

312 BGE 139 II 106 E. 5.6. 313 BGE 139 II 106 E. 5.3.1. 314 BGE 139 II 106 E. 5.3.2. 315 BGE 142 II 232 E. 6.3.

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wenn freigesetzte Asbestfasern über die Atemluft in die Lunge geraten und dort Krebserkran-kungen hervorrufen oder fördern können. Daher gilt: Je ungebundener das Asbestvorkommen, desto gefährlicher ist die Asbestkontamination.

598 Asbest wurde in der Schweiz durch Einführung des Anhangs 3.3, des sog. Asbest-Anhangs, zur Verordnung über umweltgefährdende Stoffe (Stoffverordnung; StoV) weitgehend verboten. Dieser Anhang trat zwar am 1. März 1989 in Kraft, sah aber für die Verwendung gewisser Baustoffe noch Übergangsfristen bis 1. Januar 1991 und 1. Januar 1995 vor. Die Stoffverord-nung wurde durch die am 1. August 2005 in Kraft getretene Chemikalien-Risikoreduktions-Verordnung (ChemRRV) ersetzt. Anhang 1.6 dieser Ordnung enthält ein umfassendes As-bestverbot. Asbest wird aber auch in der Luftreinhalte-Verordnung (LRV) thematisiert. Ge-mäss Anhang 1 Ziff. 83 LRV gehört Asbest zu den krebserzeugenden Stoffen der Klasse 1. Es besteht daher gemäss Anhang 1 Ziff. 82 Abs. 1 LRV die Pflicht, die Emission von Asbest-fasern so weit zu begrenzen, als dies technisch und betrieblich möglich und wirtschaftlich trag-bar ist (sog. Minimierungsgebot). Zu beachten ist allerdings, dass die in der LRV geregelten Emissionsgrenzwertregeln auf Wohnungen nicht anwendbar sind. Zwar gelten Bauten und da-mit auch Häuser als ortsfeste Anlagen (Art. 2 Abs. 1 lit. a LRV). Jedoch müssen gemäss Le-galdefinition von Art. 7 Abs. 1 USG Einwirkungen (Emissionen) durch den Bau und Betrieb von Anlagen entstehen. Bezogen auf Wohnungen bedeutet dies, dass es hinsichtlich eines asbestkontaminierten Innenraums gegenüber seinen eigenen Bewohnern an den erforderli-chen Emissionen fehlt, ganz im Gegensatz zu Asbestemissionen, die allenfalls zu Dritten über die Aussenluft transportiert werden (z.B. im Zusammenhang mit Reparatur-, Umbau- oder Sa-nierungsmassnahmen).

599 Nach meiner Ansicht begründet eine Asbestkontamination grundsätzlich immer einen Sach-mangel, und zwar nicht nur, wenn es in schwach- oder gar ungebundener Form vorkommt und daher gefährlich ist. Denn auch festgebundenes Asbest beeinträchtigt regelmässig die Wert-beständigkeit des Kaufgegenstandes wesentlich, sodass es an einer vorausgesetzten Sach-eigenschaft fehlt. Anders verhält es sich ausnahmsweise nur dann, wenn der Kaufgegenstand mit geringen Kosten dekontaminiert werden kann, beispielsweise im Fall eines asbestverklei-deten Elektrotableaus, weil es alsdann am Erfordernis der erheblichen Wertminderung fehlt.

600 Da dem Gesagten zufolge eine Asbestkontamination keinen belasteten Standort und daher insbesondere auch keine Altlast im Sinne des Altlastenrechts begründet, erfassen in Grund-stückkaufverträgen enthaltene Freizeichnungsklauseln (Einschränkung oder Wegbedingung der Gewährleistung) für belastete Standorte Asbestkontaminationen in aller Regel nicht. An-ders wäre nur dann zu entscheiden, wenn die (subjektive oder objektivierte) Vertragsausle-gung zu einem gegenteiligen Schluss führt. Die entsprechende Beweishürde ist aber für den Verkäufer sehr hoch, denn das Bundesgericht misst der Verwendung von Gesetzesterminolo-gie insbesondere im Altlastenrecht eine erhöhte Bedeutung zu (vgl. dazu nachfolgend Rz. 610).

601 Ruft eine Asbestkontamination einen Personenschaden hervor, so ist eine Freizeichnung für einen solchen Schaden nach der wohl herrschenden Lehre nicht möglich.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 99

602 Wenn es um die Frage geht, ob eine Asbestkontamination von einer allgemein gehaltenen und unspezifizierten Freizeichnungklausel erfasst wird, so ist zunächst klar: Der in Immobilienfra-gen unerfahrene Käufer muss mit einer Asbestkontamination vernünftigerweise nicht rechnen. Gegenüber ihm wird daher der Grundstückkäufer eine Freizeichnungsklausel, die Asbest oder einen einschlägigen übergeordneten Begriff (z.B. «umweltgefährdende Stoffe») unerwähnt lässt, nicht entgegenhalten können. Schwieriger ist die Frage, wenn ein erfahrener oder gar professioneller Käufer auftritt. Nach meiner Auffassung muss ein solcher Käufer mit Asbest-vorkommen rechnen und kann daher nicht einwenden, eine entsprechende Kontamination liege ausserhalb des vernünftigerweise Vorstellbaren, sodass es bei der Rechtsbeständigkeit der Freizeichnung bleibt.

Radon

603 Radon ist ein (natürliches) Edelgas, das im Boden durch radioaktiven Zerfall (zum grössten Teil aus der Uran-Radium-Reihe) entsteht und unsichtbar sowie geruchs- und geschmackslos ist. Gelangt Radon durch durchlässige Bodenschichten in die freie Luft, so verdünnt sich die Radonkonzentration auf einen ungefährlichen Wert. Dringt es dagegen, unterstützt durch den durch aufsteigende warme Luft hervorgerufenen sog. «Kamineffekt», in Gebäude ein, kann die Radondichte eine gefährliche Konzentration annehmen. Wird es in einer solchen erhöhten Konzentration eingeatmet, so steigt das Risiko, an Lungenkrebs zu erkranken. Ursache dafür ist nicht das Radongas selbst, sondern weitere radioaktive Zerfallsprodukte in Form von Schwermetallen, die sich im Atemtrakt abscheiden, anreichern und die Atemwege entspre-chend bestrahlen. Am meisten exponiert sind dabei die Bronchien, und entsprechend erhöht ist das Risiko, an einem Bronchialkarziom zu erkranken. Gemäss Bundesamt für Gesundheit ist Radon nach dem Rauchen die häufigste Ursache für Lungenkrebs.

604 Die massgeblichen Radongrenzwerte sind in der Strahlenschutzverordnung (StSV) geregelt.

605 Haben die Kaufvertragsparteien hinsichtlich Radonbelastung keine abweichende Eigen-schaftsvereinbarung getroffen, so liegt ein rechtlicher Mangel vor, wenn die Richt- oder Grenz-werte gemäss Art. 110 StSV nicht eingehalten sind. Denn die damit verbundene Sanierungs-last beeinträchtigt regelmässig zumindest die Wertbeständigkeit des Kaufgegenstandes we-sentlich.

606 Hinsichtlich Freizeichnung für die Folgen einer Radonbelastung gelten die gleichen Regeln wie für Asbest. Daher gilt auch hier: Freizeichnungsklauseln für belastete Standorte erfassen Radonbelastungen in aller Regel nicht, für einen durch Radon hervorgerufenen Personen-schaden lässt sich nach herrschender Lehrmeinung nicht freizeichnen, und eine allgemein gehaltene und unspezifizierte Freizeichnungsklausel erfasst eine Radonbelastung für den in Immobilienfragen unerfahrenen Käufer nicht. Von einem erfahrenen oder professionellen Käu-fer wird man dagegen erwarten dürfen, dass er sich der Problematik bewusst ist und daher ein mögliches Radonrisiko nicht ausserhalb des vernünftigerweise Vorstellbaren liegt, sodass eine Freizeichnung gegenüber einem solchen Käufer auch unter diesem Gesichtspunkt rechtsbe-ständig ist.

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7. Die Vertragsgestaltung im Zusammenhang mit Kontaminations-mängel

Ausgangslage

607 Im Zusammenhang mit Grundstückkaufverträgen und Boden- und Gebäudekontaminationen sind zwei Umstände besonders zu beachten: Erstens bildet ein Kontaminationstatbestand in aller Regel ein Sachmangel, sei es, dass es an einer zugesicherten Eigenschaft fehlt (falls Kontaminationsfreiheit zugesichert wurde), sei es, dass es an einer vorausgesetzten Eigen-schaft fehlt (weil Kontaminationen regelmässig die Gebrauchstauglichkeit und/oder die Wert-beständigkeit tangieren). Zweitens wird bei Liegenschaften mit Bestandesbauten (sog. Altlie-genschaften) im Grundstückkaufvertrag praxisgemäss die Gewährleistung für Sachmängel wegbedungen.

Die Freizeichnung für Kontaminationsmängel

608 Zu berücksichtigen ist zunächst, dass Kontaminationsmängel in der Regel von einer allgemein gehaltenen und unspezifizierten Freizeichnungsklausel nicht erfasst werden, sofern der frei-zeichnende Käufer in Immobilienfragen unerfahren und der Kaufgegenstand nicht ein offen-sichtliches Kontaminierungsrisiko aufweist (etwa aufgrund der Nutzung der Nachbargrundstü-cke, bereits aufgetretener belasteter Standorte auf solchen Nachbargrundstücken etc.). Ist der Kaufgegenstand in diesem Sinne «unverdächtig», so liegen belastete Standorte für unerfah-rene Käufer also regelmässig ausserhalb des vernünftigerweise Vorstellbaren, sei es hinsicht-lich des Mangels selber, sei es hinsichtlich seines Ausmasses, das den Kaufgegenstand für den vorgesehenen Zweck einschränkt oder gar untauglich macht. Verfügt der Käufer dagegen über Geschäftserfahrung im Immobilienbereich, so wird er regelmässig nicht einwenden kön-nen, belastete Standorte seien ausserhalb des vernünftigerweise Vorstellbaren.

609 Verschweigt der Verkäufer eine Grundstückskontamination, so ist eine solche Verschweigung regelmässig treuwidrig und damit arglistig i.S.v. Art. 199 OR, mit den damit verbundenen ein-schneidenden Rechtsfolgen (insbes. Wegfall der Prüfungs- und Rügeobliegenheit und Verjäh-rungsfrist von zehn statt fünf Jahren).

610 Sind Inhalt und Tragweite einer Eigenschaftsvereinbarung oder Freizeichnungsklausel hin-sichtlich Kontaminationen umstritten, so kommt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung bei der objektivierten Auslegung einer allenfalls verwendeten Gesetzesterminologie erhöhte Bedeutung zu. Denn gemäss dieser Rechtsprechung sind juristisch-technische Begriffe ent-sprechend ihrem juristischen Sinn zu verstehen316. Es ist daher höchste Vorsicht mit der Ter-minologie in Grundstückkaufverträgen geboten: Meinen die Parteien wirklich nur sanierungs-bedürftige belastete Standorte, wenn von Altlasten die Rede ist oder meinen sie nicht vielmehr (umgangssprachlich) einfach alle Kontaminationsformen (also insbesondere auch Gebäude-schadstoffe)?

611 Muss der Käufer den Inhalt des Katasters der belasteten Standorte (KBS) kennen, mit der Konsequenz, dass bei entsprechender Unkenntnis die Haftung wegen eines pflichtwidrigen nicht gekannten Mangels wegfällt (Art. 200 Abs. 2 OR)? Der Fall, in dem der Käufer einen 316 BGE 4C.301/2004.

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Eintrag im Kataster der belasteten Standorte (KBS) nicht kennt, ist kaum mehr praxisrelevant, sei es, dass der Eintrag im Grundbuch angemerkt ist (Art. 32dbis Abs. 4 USG), sei es, dass die Urkundsperson entsprechende Abklärungen im Hinblick auf eine allfällige Veräusserungsbe-willigung gemäss Art. 32dbis Abs. 3 USG (vgl. dazu nachfolgend Rz. 612 ff.) standardmässig vornimmt. Und selbst wenn beides nicht zutreffen sollte, ist vom Käufer heutzutage bei An-wendung gewöhnlicher Sorgfalt zu erwarten, dass er einen allfälligen Eintrag im KBS kennt.

8. Die Sicherstellungs- und Bewilligungspflicht nach Art. 32dbis USG 612 Gemäss Art. 32dbis Abs. 1 USG kann die Behörde vom Verursacher verlangen, die Deckung

seines voraussichtlichen Anteils an den Kosten für Untersuchung, Überwachung und Sanie-rung in geeigneter Form sicherzustellen, wenn von einem belasteten Standort schädliche oder lästige Einwirkungen zu erwarten sind. Solche Standorte sind Altlasten im juristischen-techni-schen Sinn. Eine Sicherstellungspflicht (ausserhalb einer Grundstückübertragung oder –par-zellierung) kommt also nur bei Altlasten in Frage.

613 Gemäss Art. 32dbis Abs. 3 USG ist die Veräusserung oder die Teilung eines Grundstückes, auf dem sich ein im Kataster der belasteten Standorte eingetragener Standort befindet, bewilli-gungspflichtig. Die Bewilligung wird erteilt, wenn vom Standort keine schädlichen oder lästigen Einwirkungen zu erwarten sind, die Kostendeckung für die zu erwartenden Massnahmen si-chergestellt ist oder ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Veräusserung oder an der Teilung besteht.

614 Unproblematisch ist die Bewilligung, wenn der belastete Standort weder untersuchungs-, noch überwachungs-, noch sanierungsbedürftig ist. Für diese Fälle haben die Kantone zum Teil eine sog. Allgemeinverfügung erlassen, wonach die Bewilligung generell erteilt wird.

615 In den anderen Fällen braucht es regelmässig eine Sicherstellung. Dabei fordern die Ämter meistens eine unbefristete und sog. abstrakte Bankgarantie. Solche Bankgarantien sind oft für den Verkäufer nur schwer beizubringen.

616 Sicherzustellen sind nur altlastenrechtlich bedingte Kosten, die den Veräusserer im Rahmen einer Kostenverteilungsverfügung treffen würden, also i.d.R. 20 % beim Zustandsstörer bzw. 100 % beim Verhaltensstörer.

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IX. Eigentum

1. Einleitung 617 Das Eigentumsrecht ist im Zivilgesetzbuch geregelt; im vierten Teil, "Das Sachenrecht".

618 Das Sachenrecht regelt die dinglichen Rechte an Sachen. Sachen sind unpersönliche, körper-liche (körperlich greifbare, dreidimensionale) und für sich bestehende, abgegrenzte Gegen-stände, die rechtlich beherrschbar (also erwerbbar und benutzbar) sind.317

619 Dingliche Rechte sind absolute Rechte an Sachen. Sie richten sich gegen jedermann, sie wir-ken gegen jedermann, sie können jedermann gegenüber durchgesetzt werden.318

620 Im Gegensatz zu den dinglichen Rechten als absolute Rechte, stehen die relativen Rechte (persönliche, obligatorische Rechte, Forderungen). Sie regeln eine Zwei- (oder Mehr-)partei-enbeziehung und wirken nicht über diese Beziehung hinaus.319 So ist eine Forderung, welche z.B. aufgrund eines Vertrages entsteht, ein relatives, "persönliches" Recht, das sich nur und gerade gegen den Schuldner richtet.320

621 Die dinglichen Rechte können wir vereinfacht einteilen in Eigentum und in die beschränkten dinglichen Rechte (dazu Rz. 683 ff.). Zu den beschränkten dinglichen Rechten gehören zum Beispiel die Dienstbarkeiten und die Pfandrechte. Daneben gibt es persönliche Rechte mit dinglicher Komponente (Realobligationen).

622 Eigentum ist ein Recht an einer Sache. Es vermittelt dem Berechtigten das umfassende Herr-schaftsrecht an einer Sache, und zwar jedermann gegenüber. Anders als z.B. eine Forderung aus einem Vertrag, welche ein Rechtverhältnis zwischen zwei oder mehreren bestimmten Per-sonen ist, wirkt das Eigentum zugunsten des Berechtigten gegenüber jedermann; wir sprechen deshalb von einem absoluten Recht. Es richtet sich auf die unmittelbare Beherrschung einer körperlichen Sache. Wir sprechen deshalb von einem dinglichen Recht.321

623 Umgangssprachlich verwenden wir für die Umschreibung des Eigentumsrechts oft das Verb "gehören": das Buch gehört mir, ich bin Eigentümer des Buches. "Gehören" ist allerdings wei-ter, es umfasst insbesondere auch die Rechtsverhältnisse, welche nicht Eigentum, sondern Besitz sind.

624 Wir unterscheiden zwischen Grundeigentum und Fahrniseigentum.

625 Fahrniseigentum ist Eigentum an einer beweglichen Sache.

626 Grundeigentum ist Eigentum an Grund und Boden, Eigentum an Grundstücken. Grundstücke im Rechtssinne sind nicht nur die Liegenschaften, sondern auch die ins Grundbuch aufgenom-menen selbständigen und dauernden Rechte und die Miteigentumsanteile an Grundstücken. Auch eine Stockwerkeigentumseinheit ist damit ein Grundstück. Umgangssprachlich meinen wir, wenn wir von Grundstücken sprechen, die Liegenschaften.

317 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 3 ff. 318 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 18. 319 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 16. 320 GAUCH, OR AT, Nr. 64. 321 GAUCH, OR AT, Nr. 61; SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 31 ff.

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627 Die Zweiteilung in Rechte an unbeweglichen Sachen (Immobiliarsachenrecht) und an beweg-lichen Sachen (Mobiliarsachenrecht) zieht sich durchs ganze Sachenrecht hindurch.322

628 Die gesetzliche Grundlage des Eigentums findet sich in Art. 641 ZGB: "Wer Eigentümer einer Sache ist, kann in den Schranken der Rechtsordnung über sie nach seinem Belieben verfügen. Er hat das Recht, sie von jedem, der sie ihm vorenthält, herauszuverlangen und jede unge-rechtfertigte Einwirkung abzuwehren."

2. Besitz und Grundbuch

Besitz und Grundbuch als Publizitätsmittel

629 Besitz und Grundbuch sind im Sachenrecht wichtig. Besitz und Grundbuch sind die Erschei-nungsformen (Publizitätsformen) für dingliche Rechte. Das Eigentumsrecht kommt äusserlich durch Besitz und Grundbuch zum Ausdruck.323

630 Dingliche Rechte richten sich gegen jedermann. Weil jedermann diese Rechte respektieren muss, muss das Recht erkennbar sein. Es ist also ein bestimmtes Mass an Publizität, an Of-fenlegung der an den Sachen bestehenden Rechte erforderlich. Diese Publizität wird für Rechte an beweglichen Sachen primär durch den Besitz an der beweglichen Sache ausge-drückt. Publizitätsmittel für die Rechte an unbeweglichen Sachen ist das Grundbuch.324

Der Besitz

631 Besitzer ist, wer die tatsächliche Gewalt über eine Sache hat (Art. 919 Abs. 1 ZGB). Erforder-lich ist die tatsächliche Gewalt über die Sache (Sachherrschaft), und der Wille zur Sachherr-schaft. Die Sachherrschaft muss während einer bestimmten Dauer bestehen. Sie setzt eine gewisse räumliche Beziehung einer Person zu einer Sache voraus; die Sache muss sich in der Einflusssphäre der besitzenden Person befinden. Beispiele: Sachherrschaft besteht be-züglich meiner Kleider, bezüglich der Möbel meiner Wohnung, bezüglich dem Auto in meiner Garage.325

632 Besitz ist nicht Eigentum. In der Alltagssprache werden die beiden Ausdrücke aber oft syno-nym verwendet.326 Der Besitzer muss nicht Eigentümer sein. So ist der Mieter einer Sache regelmässig ihr Besitzer: Er übt die Sachherrschaft aus; Eigentümer ist aber der Vermieter.

633 Das Gesetz vermutet, dass der Besitzer einer beweglichen Sache ihr Eigentümer ist (Art. 930 Abs. 1 ZGB). Der Besitz wird damit als die äussere Erscheinungsform des dahinterstehenden Rechts an der Fahrnissache (des Eigentums) betrachtet.327

634 Für die Übertragung des Eigentums an Fahrnis braucht es die Übertragung des Besitzes auf den Erwerber (Art. 714 Abs. 1 ZGB; traditio).328

322 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 60. 323 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 95. 324 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 63 ff. 325 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 96 ff. 326 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 104 327 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 82 und 263. 328 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 82.

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Das Grundbuch

Allgemeines

635 Über die Rechte an Grundstücken wird ein Grundbuch geführt (Art. 942 Abs. 1 ZGB). Das Grundbuch verwirklicht das Publizitätsprinzip im Immobilienbereich, macht also die dinglichen Rechte an Grundstücken nach aussen sichtbar.329 Das Gesetz vermutet, dass die im Grund-buch in der Rubrik "Eigentümer" eingetragene Person tatsächlich Eigentümerin des betroffe-nen Grundstücks ist (Art. 937 Abs. 1 ZGB).330

636 Für die Führung des Grundbuches werden von den Kantonen jeweils sog. Grundbuchkreise gebildet, wobei jedes Grundstück in das Grundbuch aufgenommen wird, indem es liegt (Art. 951 und Art. 953 ZGB). Kleine Kantone haben gelegentlich nur einen Kreis für das ganze Kantonsgebiet. Oft bilden die Bezirke, Ämter oder Gerichtskreise den Grundbuchkreis. In Zü-rich entsprechen die Grundbuchkreise den Amtskreisen der Notariate. Im Aargau waren bis vor kurzem die Bezirke die Grundbuchkreise; heute bestehen nur noch vier Grundbuchkreise, und damit nur noch vier Grundbuchämter. Die Grundstücke sind regelmässig nach Gemeinden geordnet in das Grundbuch aufgenommen.

637 Das Grundbuch ist öffentlich.331 Jedermann hat ohne Voraussetzungen das Recht zu erfahren, wer als Eigentümer eines Grundstücks eingetragen ist, wie die Eigentumsform und das Er-werbsdatum ist, wie die Grundstücksbezeichnung und Beschreibung lautet, welche Dienstbar-keiten und Grundlasten eingetragen und welche Anmerkungen eingeschrieben sind (Art. 26 GBV). Dieses voraussetzungslose Auskunftsrecht betrifft aber nur den Hauptbucheintrag, nicht aber die Belege. Wer ein Interesse glaubhaft macht, kann auch Auskunft über weitere Eintragungen erhalten (Art. 970 ZGB); so kann er unter Umständen auch die Herausgabe ei-nes Belegs verlangen. Der Einwand, einen Grundbucheintrag nicht gekannt zu haben, ist aus-geschlossen (Art. 970 Abs. 4 ZGB).

Aufbau

638 Das Grundbuch umfasst verschiedene Bestandteile.

639 Der Kern des Grundbuches ist das Hauptbuch. Im Hauptbuch hat jedes Grundstück sein eige-nes Grundbuchblatt und seine eigene Nummer. Im Hauptbuch sind alle rechtswirksamen und bereits gelöschten dinglichen Rechte (Eigentum, Dienstbarkeiten und Grundlasten, Pfand-rechte), Vormerkungen und Anmerkungen eingeschrieben.332

640 Das Hauptbuch wird ergänzt durch die Urkunden: Die Pläne, die Grundstückbeschreibung, die Belege. Belege sind die Urkunden über die Rechtsakte, die zur Eintragung, Änderung oder Löschung eines Rechts im Grundbuch geführt haben. Als Beispiele: der Kaufvertrag, der Pfandvertrag, der Dienstbarkeitsvertrag.333

641 Von grosser Bedeutung ist das Tagebuch. Das Tagebuch ist ein chronologisches Protokoll über die Behandlung der Geschäftsfälle (Art. 10 GBV). In das Tagebuch wird jeden Tag jedes

329 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 364. 330 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 367. 331 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 448 ff. 332 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 438 ff. 333 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 442ff.

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Geschäft resp. jede Grundbuchanmeldung nach der Reihenfolge seines Einganges eingetra-gen. Die Eintragung im Hauptbuch nimmt regelmässig mehr Zeit in Anspruch. Die Wirkung der dann im Hauptbuch eingetragenen Rechte wird auf den Zeitpunkt der Einschreibung im Tage-buch zurückbezogen. Für die Rangfolge der eingetragenen Rechte ist das Tagebuch deshalb sehr entscheidend.334

Eintragungen

642 Im Grundbuch können nur jene Rechte eingetragen ("eintragen" ist hier umgangssprachlich und nicht grundbuchsprachlich gemeint) werden, für welche das Gesetz die Eintragung vor-sieht. Es besteht ein numerus clausus der eintragbaren Rechte.335 Man kann also nicht alles ins Grundbuch schreiben lassen, was man möchte.

643 Wir unterscheiden verschiedene Kategorien:

644 Die Anmerkungen: Angemerkt werden können bestimmte Tatsachen oder Rechtsverhält-nisse, welche unabhängig von der Anmerkung im Grundbuch bestehen. Die Anmerkung wirkt nie konstitutiv; Anmerkungen haben immer nur informierenden Charakter. Angemerkt werden können z.B. das Reglement der Stockwerkeigentümergemeinschaft, die Nutzungs- und Ver-waltungsordnung beim Miteigentum, öffentliche Wegrechte, Enteignungsbann, Projektmutati-onen, Eigentumsbeschränkungen.336 Merke aber: Weder die Anmerkungen noch das Grund-buch enthalten alle wesentlichen Angaben, welche das Grundstück betreffen! Insbesondere öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkungen sind aus dem Grundbuch nicht (immer) er-sichtlich.

645 Die Vormerkungen: Vorgemerkt werden können bestimmte im Gesetz vorgesehene persön-liche Rechte,337 wie z.B. Kaufrechte, Vorkaufsrechte, Rückkaufsrechte, Miete und Pacht, be-stimmte Rechte im Baurechtsverhältnis. Diese Rechte bestehen unabhängig von der Vormer-kung; durch die Vormerkung werden sie aber jedem (auch späteren) Eigentümer des Grund-stücks gegenüber durchsetzbar. Wir sprechen von realobligatorischer Wirkung. Vorgemerkt werden können zudem Verfügungsbeschränkungen338 und vorläufige Eintragungen339 (z.B. des Bauhandwerkerpfandrechts).

646 Die Eintragungen (im engeren Sinne, also grundbuchsprachlich gemeint) des Eigentums, von Dienstbarkeiten und Grundlasten, und von Grundpfandrechten.340 Bei diesen Eintragungen entsteht das dingliche Recht erst mit der Eintragung im Grundbuch.

Negative Rechtskraft des Grundbuchs

647 "Soweit für die Begründung eines dinglichen Rechts die Eintragung in das Grundbuch vorge-sehen ist, besteht dieses Recht als dingliches nur, wenn es aus dem Grundbuch ersichtlich ist" (Art. 971 Abs. 1 ZGB). Ohne Eintrag besteht ein solches dingliches Recht also nicht, es entsteht erst mit dem Eintrag.

334 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 446. 335 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 462 ff. 336 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 493 ff. 337 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 475 ff. 338 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 480 ff. 339 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 487 ff. 340 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 465 ff.

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648 Für die Übertragung des Eigentums an Immobilien braucht es die Eintragung des Erwerbers im Grundbuch (Art. 656 Abs. 1 und Art. 971 f. ZGB; traditio).341 Beschränkte dingliche Rechte entstehen erst mit der Eintragung im Grundbuch.

649 Wie bei jeder Regel gibt es Ausnahmen (z.B. ausserbuchlicher Eigentumserwerb, z.B. im Erb-gang).342

Positive Rechtskraft des Grundbuchs

650 Wer sich in gutem Glauben auf einen Eintrag im Grundbuch verlassen hat und gestützt darauf Eigentum oder ein dingliches Recht erworben hat, ist in seinem Erwerbe zu schützen (Art. 973 ZGB). Wenn also ein Recht zu Unrecht im Grundbuch eingetragen ist, und ein gutgläubiger Dritter sich auf diesen Eintrag verlassen und gestützt darauf das Eigentum oder ein dingliches Recht am Grundstück erworben hat, erwirbt das Eigentum oder das dingliche Recht so, wie es aus dem Grundbuch hervorgeht. Das zu Unrecht nicht oder nicht richtig eingetragene Recht des wirklichen Berechtigten geht durch den Schutz des gutgläubigen Dritten unter.343

3. Inhalt des Eigentums 651 Das Eigentum ist ein dingliches Recht, das als absolutes Recht gegenüber jedermann gilt.

Jeder Eigentümer hat das Recht, Dritte an der Einwirkung auf die Sache zu hindern (Aus-schliessungsbefugnis). Es gewährt die Sachherrschaft in jeder Hinsicht: der Eigentümer kann die Sache nutzen und über sie verfügen.344

652 Das Eigentumsrecht verleiht dem Eigentümer ein Verfügungsrecht über die Sache (Art. 641 Abs. 1 ZGB). Der Eigentümer kann in den Schranken der Rechtsordnung über die Sache be-liebig verfügen. Der Begriff "verfügen" wird in einem sehr weiten Sinn verwendet. Er umfasst ein tatsächliches Verfügen (wie Gebrauch, Verbrauch, Zerstörung der Sache), aber auch ein rechtliches Verfügen (das Recht, obligatorische Verpflichtungen in Bezug auf die Sache ein-zugehen – z.B. die Sache zu vermieten, oder dingliche Belastungen darüber einzugehen – z.B. die Sache zu verpfänden oder zu verkaufen).345

653 Das Verfügungsrecht besteht nur in den Schranken der Rechtsordnung. Gesetzliche Schran-ken finden sich im öffentlichen Recht (z.B. ein Bauverbot aus raumplanungsrechtlichen Grün-den) oder im privaten Recht (z.B. das Verbot übermässiger Immissionen noch Art. 684 ZGB). Neben den gesetzlichen Schranken gibt es auch gewillkürte Schranken, also solche, welche auf Vereinbarung zwischen den Eigentümern beruhen (z.B. ein Bauverbot aufgrund einer Dienstbarkeit, etwa eine Höhenbeschränkung; oder auch obligatorische Rechte, wenn der Ei-gentümer das Grundstück vermietet hat).

654 Der Eigentümer kann die Sache von jedem, der sie ihm unberechtigt vorenthält, herausverlan-gen (Herausgabeklage, Eigentumsklage).346

341 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 367. 342 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 569 ff. 343 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 579 ff. 344 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 654 f. 345 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 657 f. 346 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 659.

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655 Der Eigentümer kann jede ungerechtfertigte Einwirkung auf die Sache abwehren (Eigentums-freiheitsklage).347 Beispiele für eine ungerechtfertigte Einwirkung: eine fremde Person depo-niert unberechtigt Bauschutt auf dem Grundstück; jemand benutzt unberechtigt einen Fussweg über das Grundstück; jemand errichtet unberechtigt ein Gebäude auf dem Grundstück; der Nachbar errichtet ein Gebäude, welches in Teilen auf das Grundstück überragt (unterirdisch oder oberirdisch); jemand überfliegt in geringer Höhe ein Grundstück.348

4. Umfang des Eigentums

Einleitung

656 Das Eigentumsrecht betrifft die Sache. Was eine Sache ist und welchen Umfang sie hat, gibt bei Fahrnis weniger Klärungsbedarf als bei Grundstücken. Die Fahrnis-Sache ist körperlich umgrenzt und erfassbar. Immerhin muss die Frage der Bestandteile geregelt werden, welche zur Hauptsache gehören. Zudem sieht das Gesetz auch vor, dass die sog. Zugehör das recht-liche Schicksal der Hauptsache teilt; auf die Zugehör gehen wir hier jedoch nicht näher ein. Bei Grundstücken ist die Abgrenzung, was zur "Sache" gehört, und was nicht, schwieriger.

Bestandteile

657 Wer Eigentümer einer Sache ist, hat das Eigentum an allen ihren Bestandteilen (Art. 642 Abs. 1 ZGB). Bestandteil einer Sache ist alles, was nach der am Orte üblichen Auffassung zu ihrem Bestande gehört und ohne ihre Zerstörung, Beschädigung oder Veränderung nicht abgetrennt werden kann (Art. 642 Abs. 2 ZGB). Der Bestandteil muss körperlich sein; Rechte (z.B. Pat-entrechte) sind keine Bestandteile. Der Bestandteil muss zudem in einer materiellen (physi-schen) Beziehung zur Hauptsache stehen.349

Umfang des Grundeigentums

Grundstück als dreidimensionaler Körper

658 Das Eigentum an Grund und Boden erstreckt sich nach oben und unten auf den Luftraum und das Erdreich, soweit für die Ausübung des Eigentums ein Interesse besteht (Art. 667 ZGB).

659 In horizontaler Hinsicht werden die Grenzen durch die Grundbuchpläne resp. die Geometer-pläne und durch die Vermarkung auf dem Grundstück selber (Marksteine) angegeben (Art. 668 ZGB).

660 In vertikaler Sicht erstreckt sich das Grundeigentum in den Himmel und in das Erdreich, soweit für die Ausübung ein Interesse besteht (Art. 667 ZGB). Das ist die Idee unseres Eigentums-begriffes. Das Grundeigentum umfasst demnach die Luftsäule über dem Grundstück nicht bis zu den Sternen oder in den Himmel, und auch den Boden nicht bis in die sagenhafte Unter-welt.

347 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O. 348 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 671. 349 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 696 ff.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 108

661 Das Gesetz versteht das Grundstück als einen begrenzten dreidimensionalen Körper, und nicht als blosse Fläche,350 und auch nicht als nach unten oder oben unbegrenzten dreidimen-sionalen Körper. Sowohl nach oben wie nach unten bildet das Ausübungsinteresse die Grund-stücksgrenze.

Das Ausübungsinteresse

662 Das Eigentum reicht so weit, wie ein Ausübungsinteresse besteht. Die Umschreibung erfolgt in Lehre und Rechtsprechung in den Details sehr uneinheitlich. Es muss sich um ein "auf die Beherrschung des Raumes gerichtetes Nutzungsinteresse handeln, für das die tatsächliche und rechtliche Beherrschungsmöglichkeit erforderlich ist"351. Wobei dies nur eine von diversen jeweils ähnlichen aber eben nicht genau gleichen Definitionen ist. Einigkeit besteht indes darin, dass eine technische Beherrschung möglich sein muss, und auch eine rechtliche.

663 Das Ausübungsinteresse kann sowohl eine positive wie negative Wirkung entfalten. Ein posi-tives Interesse liegt dann vor, wenn der Eigentümer unter der Erdoberfläche die aus dem Ei-gentumsrecht fliessenden Nutzungsbefugnisse ausüben will. Wir sprechen vom Ausübungs- oder Beherrschungsinteresse. Das negative Interesse, das sogenannte Abwehrinteresse, be-steht darin, dass sich der Eigentümer gegen Tätigkeiten Dritter wehren kann, welche sich für die Nutzung seiner Liegenschaft nachteilig auswirken können. Viele neuere Gerichtsent-scheide betreffen allein das negative Interesse: oft geht es um die Entfernung von Ankern des Nachbarn im eigenen Grund.

664 Wie gross die räumliche Ausdehnung ist, lässt sich also nicht in allgemeingültiger Weise fest-legen, sondern bestimmt sich von Fall zu Fall nach den konkreten Umständen und dem schutz-würdigen Interesse des Eigentümers, diesen Raum selbst zu nutzen oder zu beherrschen und das Eindringen anderer abzuwehren; so hat es das Bundesgericht im Urteil 5A_639/2010 vom 7. März 2011 umschrieben, und so ähnlich sind auch die Umschreibungen in den anderen Urteilen.

665 Die Beweislast für den Nachweis des schutzwürdigen Interesses trägt der Grundeigentümer. Er muss beweisen, dass er ein schutzwürdiges Interesse an der Ausübung seiner Eigentums-rechte in der Höhe und in der Tiefe hat, er muss den Nachweis für den Umfang seines Eigen-tumsrechts erbringen; und nicht der Dritte, dass das Eigentumsrecht nicht besteht (BGE 132 III 689).

Grundstücksgrenze "oben"

666 Bei der Ausdehnung nach oben geben bezüglich dem Ausübungs- oder Beherrschungsinte-resse die Bauordnungen (meistens) das eigene Ausübungsinteresse vor, indem sie Gebäude-höhen oder Geschossigkeiten festlegen. Daraus ergibt sich, wie hoch gebaut werden darf. Beim Abwehrinteresse ist es komplizierter: Die Frage stellt sich regelmässig im Zusammen-hang mit dem Überflug eines Grundstücks. Das Bundesgericht hat mit den Jahren die folgen-den Grundsätze entwickelt:

350 Pra 2007/Nr. 18. 351 MATZKE, in: recht 2007 S. 235 ff., S. 237.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 109

667 Flugzeuge, die ein Grundstück (eine Wegparzelle) in geringer Höhe überfliegen, bewirken eine Verletzung des Eigentumsrechts, wenn Menschen und Sachen, die sich darauf befinden, durch den Luftverkehr konkret gefährdet sind (BGE 95 II 397 ff.).

668 Der Luftraum steht der Luftfahrt nur soweit zur Verfügung, als die dem Grundeigentümer vom Privatrecht eingeräumten Rechte nicht beeinträchtigt werden. Das Überfliegen eines Grund-stücks in geringer Höhe ohne vertragliche Bewilligung des Grundeigentümers in der Umge-bung eines privaten Flugplatzes ist widerrechtlich. Die Errichtung einer Baute in der Anflug-schneise eines Flugplatzes, mit der unter anderem auch die Verhinderung des Flugbetriebs bezweckt wird, kann rechtsmissbräuchlich sein, wenn kein vernünftiger anderer Zweck mit dem Bau verfolgt wird (BGE 103 II 96 ff.).

669 In BGE 134 II 49 ff. hat das Bundesgericht daran festgehalten, dass es keine fixe Höhe des "Privat-Luftraumes" gibt. Das Ausübungsinteresse ist abhängig von der Nutzung und der Lage des konkret betroffenen Grundstücks, von der Art und der Grösse der Flugzeuge und von den Auswirkungen des Überflugs. Ein Überflug eines landenden Grossraumflugzeugs über Wohn-liegenschaften in 125m Höhe verletzt das Eigentum, in 400m Höhe aber nicht. Überflüge klei-ner Maschinen in einer Höhe von 220 bis 250m verletzen das Eigentum nicht.

Grundstücksgrenze "unten"

670 Die Bauordnungen haben regelmässig keine Bestimmungen über den Bau im Untergrund. Während genau festgehalten wird, wie hoch eine Baute sein darf, gilt das für "nach unten" nicht. An sich darf man so tief bauen, wie man will, resp. wie man kann; bzw. eben so tief, wie das eigene Ausübungsinteresse schutzwürdig ist und damit das Grundeigentumsrecht greift.

671 Die Rechtsprechung hat verschiedene Kriterien entwickelt. Das Ausübungsinteresse muss im-mer konkret sein; ein abstraktes Interesse reicht nicht. Ob ein Ausübungsinteresse schutzwür-dig ist, hängt von der Lage und Beschaffenheit des konkreten Grundstücks ab; massgeblich ist immer das individuelle Grundstück. Die beabsichtigte Nutzung muss übungsgemäss sein und der allgemeinen Verkehrsauffassung entsprechen, wie weit sich die Nutzung des Bodens erstreckt. Zu berücksichtigen sind zudem natürliche, technische und rechtliche Hindernisse: Die Nutzung muss technisch möglich und rechtlich zulässig sein. Und immer muss eine Be-ziehung zwischen dem Interesse und dem Grundeigentum bestehen.

672 Ob das Grundstück ein Ausübungsinteresse zulässt, wird streng von Fall zu Fall beurteilt. Das Bundesgericht hat in BGE 132 III 353 abgelehnt, die Entfernung von abgespannten Erdankern anzuordnen, obwohl spätere Bauwerke mit diesen Ankern in Konflikt geraten könnten. Zwar sei technisch und wirtschaftlich gesehen ein Aushub in die Tiefe der Anker möglich, aber es bestehe kein konkretes oder präzises Bauprojekt. Zudem wäre ein unterirdischer Ausbau auch ausserhalb der Einflusszone der strittigen Anker möglich. Sodann spreche die Beschaffenheit der Baute, öffentlich-rechtliche Bau- und Umweltvorschriften sowie Parkplatzrichtlinien der Ge-meinde "eher" gegen einen unterirdischen Ausbau; dieser sei "nicht sinnvoll" oder "wenig rea-listisch". Dieser Entscheid "atmet" geradezu die Ermessensausübung.

673 In einem anderen Urteil im Jahre 2011 (Urteil des BGer 5A_639/2010 vom 7. März 2011) hat das Bundesgericht die Entfernung von Ankern hingegen angeordnet: Die Eigentümer verfüg-

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 110

ten über eine rechtskräftige Baubewilligung, welchem die Anker in die Quere gekommen wä-ren. Das geplante Projekt, resp. die damit verbundene Ausnutzung in den Hanglagen sei orts-üblich. Zwar sei das Projekt technisch schwierig, aber realisierbar. Die Wirtschaftlichkeit zu prüfen hat das Bundesgericht jedoch abgelehnt, auch die Vorinstanz sei dazu nicht gehalten gewesen.

674 Wenig Abgrenzungsfragen stellen sich bei einer Nutzung von wenigen Metern; hier ist das Ausübungsinteresse zu bejahen. Soweit nach heutigen technischen Massgaben und nach Massgabe der Rechtsordnung eine Inanspruchnahme möglich ist, dürfte die Schutzwürdigkeit des Ausübungsinteresses zu bejahen sein. «Weiter unten» ist die vorgängige Beurteilung schwierig. Die Gerichte nehmen eine umfassende Bewertung der Interessen vor. Die Gewich-tung für den Leser der Urteile ist nicht immer schlüssig oder vergleichbar. Der Richter hat ein grosses Ermessen.

675 Auch ein zukünftiges Interesse kann ein schutzwürdiges Interesse sein, wenn seine Realisie-rung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge in absehbarer Zukunft wahrscheinlich ist (BGE 132 III 689, 699; BGE 132 III 353, E. 2.1; BGE 100 IV 155, E. 2). Das ist eine erhebliche Einschränkung. Wer also beispielsweise auf eine Änderung der lokalen Baugesetzgebung warten muss, wird kein schutzwürdiges Interesse geltend machen können.

676 Im Gegensatz zum zukünftigen Interesse steht die Anwartschaft: Allein die Möglichkeit, dass technische Entwicklungen irgendeinmal ein konkretes Interesse möglich machen würden, ist nicht beachtlich. Das Bundesgericht hat in BGE 119 Ia 390 ff. die Auffassung ausdrücklich verworfen, wonach Grundeigentum grundsätzlich bis in tiefste Lagen möglich sei, und dass faktisch eine Anwartschaft des Grundeigentümers auf künftig mögliche Nutzungen besteht.

677 Das Interesse wirkt nicht zurück. Wer im Untergrund z.B. einen Tunnel gebaut hat, weil das Eigentum nach den Kriterien im Zeitpunkt des Tunnelbaus so weit hinunter nicht reichte, muss nicht befürchten, dass sein Tunnel plötzlich ins Eigentum des oberirdischen Eigentümers ge-rät, weil die technische Entwicklung mit der Zeit den Boden weiter hinunter beherrschbar macht. Massgeblich ist der Zeitpunkt, in welchem der Untergrund damals rechtmässig und ohne Verletzung des Eigentumsrechts des Grundeigentümers in Anspruch genommen worden ist.

678 Folgendes Beispiel dazu: Im Entscheid 1C_27/2009 vom 17. September 2009 ging es um eine Enteignungsentschädigung. Seit ungefähr 1897 unterquert der Zimmerbergtunnel ein Grund-stück, ohne dafür eine Dienstbarkeit zu haben. Die heutige Grundeigentümerin konnte deshalb nicht so bauen wie sie gewollt hätte, und verlangte eine Entschädigung für die Beeinträchti-gung, resp. die Enteigung einer Tunneldienstbarkeit. Das Bundesgericht hat lapidar festge-stellt, dass die fragliche Parzelle bis Mitte des letzten Jahrhunderts landwirtschaftlich, als Baumgarten und Rebland, genutzt worden sei. Das Ausübungsinteresse sei deshalb im Zeit-punkt des Tunnelbaus 1895 nicht bis zum Tunnelscheitel gegangen, womit der Tunnel aus-serhalb des Privateigentums errichtet worden sei. Und dass deshalb beim Bau des Tunnels eine Dienstbarkeit, resp. eine entsprechende Enteignung nicht nötig gewesen sei. Das Aus-übungsinteresse reichte damals bis zur Wurzelspitze zzgl. eines geringen Spielraumes für die Wurzeln. Und darunter durfte der Staat Konzessionen vergeben, was er für den Bahnlinienbau und damit auch den Tunnelbau gemacht hatte. Zwar mag sich das Ausdehnungsinteresse des

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 111

Grundeigentümers in vertikaler Hinsicht im Laufe der Jahre verändert haben, da sich auch die technischen Möglichkeiten für die Nutzung des Untergrunds verbessert haben. Das ändert indes nichts an der Tatsache, dass der Tunnel in diesem Zeitpunkt bereits rechtmässig und ohne die Notwendigkeit der Durchführung eines formellen Enteignungsverfahrens errichtet worden war. Die Grundeigentümerin konnte deshalb im Bereich des Tunnels kein Eigentum geltend machen. Die Frage nach einer Entschädigung könnte sich dann stellen, wenn der Be-trieb im Tunnel ganz andere und merkbare Dimensionen angenommen hätte, als im Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Bodens resp. des Enteignungsverfahrens angenommen werden musste. Der Tunnelbetrieb habe aber in den letzten Jahren nichts mit sich gebracht, was als unvorhersehbar zu werten sei.

Das Akzessionsprinzip

679 Das Eigentum an Grund und Boden umfasst alle Bauten und Pflanzen sowie die Quellen (Art. 667 Abs. 2 ZGB). "Baute" ist dabei jedes Bauwerk, das unter Verwendung von Baumate-rialien mit dem Boden ober- oder unterirdisch fest und dauerhaft verbunden ist.352 Die Baute auf einem Grundstück gehört also dem, welcher im Grundbuch als Eigentümer eingetragen ist. Und nicht dem, welcher sie gebaut hat. Und wer auf fremdem Grund baut, baut fremdes Eigentum!

680 Das eben erläuterte Akzessionsprinzip wird durch Sonderbestimmungen durchbrochen. Es kommt in diesen wenigen Fällen zur einer Trennung des Eigentums am Boden vom Eigentum an der Baute oder an der Pflanze.

681 Art. 675 Abs. 1 ZGB sieht mit dem Institut des Baurechts die Möglichkeit vor, das Eigentum an einer Baute vom Eigentum am Boden zu trennen. Bauwerke und andere Vorrichtungen, die auf fremdem Boden eingegraben, aufgemauert oder sonstwie dauernd auf oder unter der Bo-denfläche mit dem Grundstück verbunden sind, können einen besonderen Eigentümer haben, wenn ihr Bestand als Dienstbarkeit in das Grundbuch eingetragen ist. Baurechte können ein eigenes Grundbuchblatt haben, und werden im Rechtsverkehr dann wie Grundstücke behan-delt.

682 Leitungen zur Versorgung und Entsorgung, welche sich ausserhalb des Grundstücks befinden, dem sie dienen, gehören dem Eigentümer des Werks und zum Werk, von dem sie ausgehen oder zugeführt werden (Art. 676 ZGB).353

683 Bauten und andere Vorrichtungen, die von einem Grundstück auf ein anderes überragen, ver-bleiben Bestandteil des Grundstücks, von dem sie ausgehen, wenn dessen Eigentümer auf ihren Bestand ein dingliches Recht hat. Das Recht auf den Überbau wird als Grunddienstbar-keit begründet und im Grundbuch eingetragen (Art. 674 ZGB).

352 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 888 ff. 353 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 902.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 112

X. Beschränkte dingliche Rechte

1. Einleitung 684 Wir haben gesehen, dass es neben dem Eigentum als dinglichem Recht die beschränkten

dinglichen Rechte gibt (Rz. 621). Zu den beschränkten dinglichen Rechten gehören zum Bei-spiel die Dienstbarkeiten und die Pfandrechte. Merke: Die Rechte heissen beschränkte dingli-che Rechte, und nicht beschränkt dingliche Rechte. Nicht die Dinglichkeit ist beschränkt, son-dern das Recht (zur Sachherrschaft). Die beschränkten dinglichen Rechte wirken – wie jedes dingliche Recht – gegenüber jedermann.354

685 Die beschränkten dinglichen Rechte geben dem Berechtigten nicht ein umfassendes Herr-schaftsrecht (wie das Eigentum), sondern nur eine begrenzte Herrschaftsbefugnis, welche durch das Recht umschreiben werden. Die Sachherrschaft ist beschränkt.355

686 Es gibt nur die vom Gesetz vorgesehenen Arten. Es sind dies:

- Die Dienstbarkeiten (hierzu Kap. 2, Rz. 687 ff.) und Grundlasten;

- Das Grundpfand (hierzu Kap. 3, Rz. 703 ff.);

- Das Fahrnispfand.

2. Dienstbarkeiten

Einleitung

687 Dienstbarkeiten vermitteln dem Berechtigten die Befugnis, die Sache in bestimmter Hinsicht zu nutzen und zu gebrauchen. Wir sprechen von Nutzungs- und Gebrauchsrechten. Sie be-stehen hauptsächlich an Grundstücken.356

688 Mit einer Dienstbarkeit belastet ist (fast) immer ein Grundstück. Einzige Ausnahme ist die Nutz-niessung: Sie kann auch an Fahrnis begründet werden.357

689 Inhalt aller Dienstbarkeiten ist – aus der Sicht des Belasteten – immer ein Dulden oder Unter-lassen. Ein Tun, eine Verpflichtung zu einer positiven Leistung, kann mit einer Dienstbarkeit nur nebensächlich verbunden werden.358 Die Dienstbarkeiten können mannigfache Inhalte ha-ben. Meistens kann man sich aus der Bezeichnung des Rechts schon sehr gut vorstellen, was der Inhalt ungefähr ist.

690 Aus dem Hauptbuch des Grundbuchs ist – wie immer – nur das Stichwort ersichtlich: z.B. Last: Wegrecht zu Gunsten Grundstück Nr. 239. Wo das Recht verläuft und wie es ausgestaltet ist, ist dem Beleg zu entnehmen, also dem Vertrag oder anderen Rechtstiteln, welche zum Eintrag der Dienstbarkeit geführt hat.

354 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1153 ff. 355 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1153. 356 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1162. 357 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1210. 358 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1206.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 113

691 Meistens wird eine Dienstbarkeit mit einem Vertrag zwischen dem Berechtigten und dem Ei-gentümer des belasteten Grundstücks abgeschlossen: der Dienstbarkeitsvertrag. Diese Ver-träge müssen öffentlich beurkundet werden.359 Der Dienstbarkeitsvertrag schafft den Rechts-grund für die Entstehung der Dienstbarkeit. Die Dienstbarkeit entsteht dann mit der Eintragung des Vertrages im Grundbuch.360

692 Aus der Sicht des Berechtigten unterscheiden wir die Grunddienstbarkeiten und die Personal-dienstbarkeiten.

Grunddienstbarkeiten

693 Bei den Grunddienstbarkeiten ist immer ein Grundstück berechtigt, will heissen, der Eigentü-mer des berechtigten (herrschenden) Grundstücks. Es sind also zwei Grundstücke betroffen, das herrschende Grundstück (die Dienstbarkeit ist als Recht eingetragen), und das dienende Grundstück (die Dienstbarkeit ist als Last eingetragen).

694 Der Eigentümer des belasteten Grundstücks muss die Ausübung des Rechts des Eigentümers des berechtigten Grundstücks dulden, und darf nichts tun, was dessen Rechtsausübung hin-dert.

695 Die Parteien können den Inhalt der Dienstbarkeit weitgehend frei festlegen.361 Der Inhalt muss aber begrenzt sein. Der Grundeigentümer darf nicht von jeder Nutzung ausgeschlossen wer-den.

696 Grunddienstbarkeiten können auf unbestimmte Zeit begründet werden. Die Befristung ist eher die Ausnahme.

697 Beispiele von Grunddienstbarkeiten:362

- Wegrechte

- Ausbeutungsrechte

- Quellenrechte

- Durchleitungsrechte

- Baurechte: Näherbaurechte, Grenzbaurechte, Baubeschränkungen, Bauverbote, Überbaurechte

- Gewerbebeschränkungen

698 Die Parteien können regeln, wer die Kosten der Errichtung und des Unterhalts von Einrichtun-gen, welche zur Ausübung der Dienstbarkeit dienen, trägt. Auskunft gibt wiederum der Beleg. Ist nichts geregelt, geht der Unterhalt zu Lasten des Berechtigten. Wenn die Anlage auch dem Belasteten dient, tragen beide Parteien den Unterhalt nach Massgabe ihrer Interessen (Art. 741 ZGB).

359 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1245. 360 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1241, für die Grunddienstbarkeiten. 361 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1259 ff. 362 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1274.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 114

Personaldienstbarkeiten

699 Bei den Personaldienstbarkeiten ist eine bestimmte Person berechtigt; es gibt hier kein herr-schendes Grundstück.

700 Personaldienstbarkeiten sind:363

- die Nutzniessung

- das Wohnrecht

- das Baurecht (vgl. Rz. 681)

- das Pflanzungsrecht

- das Quellenrecht

- die sog. anderen Dienstbarkeiten

701 Einzelne Personaldienstbarkeiten sind übertragbar, d.h. sie können also von der berechtigten Person an eine dritte Person abgetreten werden. Nicht übertragbar sind die Nutzniessung und das Wohnrecht. Bei den übrigen Dienstbarkeiten kann die Übertragbarkeit vereinbart, resp. ausgeschlossen werden.364

702 Wenn eine Personaldienstbarkeit selbständig (d.h. übertragbar) und dauernd (d.h. für eine Dauer von mehr als 30 Jahren) begründet ist, liegt ein sog. selbständiges und dauerndes Recht vor. Ein solches selbständiges und dauerndes Recht kann als Grundstück in das Grund-buch aufgenommen werden. Es wird dann für das selbständige und dauernde Recht ein eige-nes Grundbuchblatt eröffnet. Auf dem Blatt des belasteten Grundstücks bleibt es bei der Ein-tragung als Dienstbarkeit. Inhaltlich bleibt das Recht eine Dienstbarkeit. Man sieht solche Ver-selbständigungen oft bei Baurechten oder bei Benutzungsrechten (z.B. Benutzungsrecht an einem Parkplatz). Die Aufnahme als Grundstück in das Grundbuch bewirkt, dass das Recht den Bestimmungen über das Grundeigentum unterliegt, und wie ein Grundstück gehandelt werden kann. Zudem hat die Blatteröffnung den Vorteil, dass das Recht dann mit einem Grund-pfand belastet werden kann.365

3. Grundpfandrechte

Einleitung

703 Bei einem Pfandrecht haftet die Sache dem Berechtigten für eine Forderung; das Pfandrecht sichert eine Forderung. Der Berechtigte hat ein Verwertungsrecht an der Sache, um persönli-che Ansprüche zu sichern. Wir sprechen von Sicherungs- oder Verwertungsrechten. Pfand-rechte bestehen an Fahrnis (Fahrnispfand, Faustpfand) oder an Grundstücken (Grund-pfand).366 Die Grundpfänder sind Grundlage jedes Hypothekarkredits. Ohne Grundpfand würde der Immobilienverkehr nicht funktionieren.

363 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1213 und 1323. 364 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1325 f. 365 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1327 ff. 366 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1163.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 115

704 Es gibt zwei Arten von Grundpfändern:

- Die Grundpfandverschreibung; und

- der Schuldbrief. Bei diesem wird unterschieden zwischen dem Papierschuldbrief (der wird wiederum unterteilt in den Inhaber- und den Namenschuldbrief) und dem Regis-terschuldbrief. Im Rechtsverkehr hat der Schuldbrief die viel grössere Bedeutung als die Grundpfandverschreibung.

705 Sind mehrere Grundstücke mit einem Pfandrecht (z.B. mit einem Schuldbrief) verpfändet, sprechen wir von einem Gesamtpfandrecht.

706 Die Pfandrechte können zudem unterschieden werden in rechtsgeschäftliche und in gesetzli-che Grundpfandrechte.

707 In der Regel werden Pfandrechte rechtsgeschäftlich, durch Vertrag begründet. Der Pfandver-trag bedarf der öffentlichen Beurkundung und wird zwischen Gläubiger (in der Regel eine Bank) und dem Grundeigentümer (regelmässig gleichzeitig der Schuldner) vereinbart. Ein rechtsgeschäftliches Pfandrecht kann eine Grundpfandverschreibung oder ein Schuldbrief sein. Das Pfandrecht entsteht erst durch Eintragung im Grundbuch. Die Pfandbelastung ist aus dem Grundbuch ersichtlich.

708 Ein gesetzliches Grundpfandrecht entsteht ohne Vertrag. Bei ganz bestimmten Verhältnissen erhält der Gläubiger einen Anspruch auf die Errichtung eines Pfandrechts an einem Grund-stück, auch gegen den Willen des Grundeigentümers. Die einen gesetzlichen Pfandrechte be-stehen sogar ohne Eintrag im Grundbuch (unmittelbares gesetzliches Pfandrecht), die ande-ren entstehen erst durch Eintragung im Grundbuch (mittelbares gesetzliches Pfandrecht). Die Pfandbelastung ist nur bei den mittelbaren gesetzlichen Pfandrechten aus dem Grundbuch ersichtlich! Gesetzliche Pfandrechte sind immer Grundpfandverschreibungen.367

709 Mittelbare gesetzliche Grundpfandrechte sind etwa:368

- Das Verkäuferpfandrecht: Der Verkäufer hat ein Pfandrecht am verkauften Grundstück in Höhe des Kaufpreises. Er muss es innert drei Monaten nach Eigentumsübertragung geltend machen (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB);

- Das Pfandrecht für die Forderung der Miterben aus Teilung an den Grundstücken, die der Gemeinschaft gehörten Art. 837 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB);

- Das Bauhandwerkerpfandrecht (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB; dazu Rz. 713 ff.);

- Das Pfandrecht für die Beitragsforderungen der Stockwerkeigentümergemeinschaft (Art. 712i ZGB);

- Das Pfandrecht für den Baurechtszins im Baurechtsverhältnis (Art. 779i und 779k ZGB).

710 Unmittelbare gesetzliche Grundpfandrechte sind im kantonalen Recht vorgesehen. Sie sind je nach Kanton unterschiedlich. Es sind dies etwa:369

367 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1495 ff. 368 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1664. 369 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1654.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 116

- Das Pfandrecht für die Grundstückgewinnsteuerforderung;

- Das Pfandrecht für die Forderungen der Gebäudeversicherung für fällige und verfal-lene Jahresprämien (z.B. AG § 20 Abs. 3 GebVG);

- Das Pfandrecht für die Mehrwertabgabe bei Ein- oder Umzonungen (z.B. AG § 28c BauG);

- Das Pfandrecht für die Grundeigentümerbeiträge an Erschliessungsanlagen (z.B. AG § 34 Abs. 5 BauG);

- Das Pfandrecht für die Forderungen aus Landumlegungen sowie Grenzbereinigungen (z.B. AG § 79 Abs. 2 BauG).

711 Wie gesagt, bestehen die unmittelbaren gesetzlichen Grundpfandrechte ohne Grundbuchein-trag. Das macht sie sehr gefährlich. In den Kantonen, welche ein Pfandrecht für die Grund-stückgewinnsteuer kennen (z.B. Zürich, Graubünden, St. Gallen usw.) ist das ein Risiko, wel-che beim Abschluss des Kaufvertrages geregelt werden muss.

712 Die Vollstreckung eines Pfandrechts ist im SchKG geregelt und erfolgt im Verfahren auf Grund-pfandverwertung.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 117

XI. Das Bauhandwerkerpfandrecht

1. Einleitung 713 Ein Grundpfandrecht ist ein beschränktes dingliches Recht, das dem Inhaber unter bestimm-

ten Voraussetzungen das Recht einräumt, ein Grundstück verwerten zu lassen und sich aus dem erzielten Erlös für eine unbezahlte Forderungen bezahlt zu machen.370 Das Grundpfand-recht sichert eine Forderung mit einem Grundstück als Pfandobjekt. Wird die Forderung nicht befriedigt, kann das Grundstück verwertet werden. Das Grundpfand verleiht dem Berechtigten aber kein Recht auf die Nutzung des Grundstücks oder auf den Besitz daran.

714 Wir unterscheiden zwischen vertraglichen Grundpfandrechten und gesetzlichen Grundpfand-rechten.

715 Ein vertragliches Pfandrecht ist der Regelfall; es wird gestützt auf einen Pfandvertrag zwischen Gläubiger und Grundeigentümer vereinbart, wobei der Grundeigentümer regelmässig der Schuldner ist. In der Regel werden sog. Schuldbriefe errichtet und im Grundbuch eingetragen. Der Schuldbrief ist die Grundlage jedes Hypothekarkredits.

716 Ein gesetzliches Grundpfandrecht dagegen kann ohne Vertrag zwischen Schuldner und Gläu-biger im Grundbuch eingetragen werden, wenn bestimmte gesetzlich definierte Voraussetzun-gen erfüllt sind.

717 Ein wichtiges gesetzliches Grundpfandrecht ist das Bauhandwerkerpfandrecht.

718 Ein Handwerker oder Unternehmer hat für seine Forderung einen Anspruch auf Errichtung eines Grundpfandrechts (als Bauhandwerkerpfandrecht bezeichnet), wenn er

- zu Bauten oder anderen Werken

- zu Abbrucharbeiten

- zum Gerüstbau

- zur Baugrubensicherung

- oder dergleichen

Material und Arbeit oder Arbeit allein geliefert hat (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB).

719 Dieses Recht sichert Forderungen des Unternehmers und Handwerkers gegen den Grundei-gentümer, gegen weitere Handwerker/Unternehmer (wenn also der Baupfandberechtigte Sub-unternehmer ist), gegen den Mieter/Pächter (namentlich im Fall eines sog. Mieterbaus) oder gegen eine andere am Grundstück berechtigte Person (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB). Das Bau-handwerkerpfandrecht setzt somit nicht eine vertragliche Beziehung zwischen dem Eigentü-mer des belasteten Grundstücks und dem Unternehmer, welcher das Pfandrecht eintragen lässt, voraus.

720 Das Bauhandwerkerpfandrecht basiert auf folgenden zwei Überlegungen:

370 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1474.

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Grundzüge des Rechts für Bauwissenschaft 118

- Durch die Bauarbeiten (Neubauten, Umbauten oder blossen Ausbesserungen etc.) ge-winnen die Grundstücke durch die geleistete Arbeit und das gelieferte Material der Handwerker und Unternehmer regelmässig an Wert. Nach dem sog. Akzessionsprinzip (Art. 667 ZGB; Rz. 679) wird aber das eingebaute Material Bestandteil des Grund-stücks und steht im Eigentum des Grundeigentümers; weiter steht den Handwerkern und Unternehmer für ihre Forderungen kein Faustpfand- oder Retentionsrecht zur Ver-fügung;371

- Nach Werkvertragsrecht ist der Werklohn grundsätzlich bei der Ablieferung des Werks zu zahlen (Art. 372 Abs. 1 OR); der Unternehmer ist vorleistungspflichtig. Daher war es den Bauhandwerkern (bereits bei Erlass des ZGB) nach den wirtschaftlichen Ge-pflogenheiten beinahe unmöglich, für ihren Werklohn eine Vorauszahlung oder sons-tige Sicherheit zu verlangen.372

721 Der Anspruch auf Errichtung eines Bauhandwerkerpfandrechts ist zwingend; der Bauhand-werker kann auf das Pfandrecht nicht zum Voraus verzichten (Art. 837 Abs. 2 ZGB).

2. Die Voraussetzungen der Errichtung des Bauhandwerkerpfand-rechts

Die Forderung des Bauhandwerkers

722 Das Bauhandwerkerpfandrecht sichert eine Forderung der Handwerker und Unternehmer.

723 Es stellt sich vorerst die Frage, was das Gesetz unter Handwerker und Unternehmer (kurz Bauhandwerker) versteht. Als Bauhandwerker gelten (natürliche und juristische) Personen, die in selbständiger Stellung auf dem Grundstück Arbeit leisten (und evtl. zusätzlich das Material liefern). Es sind dies Baumeister, Maler, Gipser, Schreiner, Installateure, aber auch Bau- oder Generalunternehmer.373 Die Angestellten der Bauhandwerker haben keinen Anspruch auf Pfanderrichtung.

724 Bauhandwerker sind auch die Subunternehmer. Es ist belanglos, ob die Bauhandwerker den Eigentümer des Grundstücks oder «nur» einen Unternehmer als Schuldner haben (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB in fine; siehe dazu Rz. 719). Der Grundeigentümer muss nicht Vertrags-partner des Bauhandwerkers sein. Erfüllt der Subunternehmer die Voraussetzungen des Bau-handwerkerpfandrechts selber, so hat er einen eigenständigen Anspruch auf Pfanderrichtung; unabhängig davon, ob der Grundeigentümer vom Subunternehmer wusste oder gar vertraglich mit dem Generalunternehmer dessen Beizug ausschloss.374

725 Es ist also möglich, dass der Generalunternehmer für seine Werklohnforderung gegenüber dem Bauherrn gleichermassen ein Bauhandwerkerpfandrecht eintragen lässt, wie der Subun-ternehmer für seine Werklohnforderung gegenüber dem Generalunternehmer,375 dass also auf

371 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1695. 372 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1696. 373 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1708. 374 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1713 f. 375 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1714.

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demselben Grundstück für die Forderung aus derselben Arbeit zwei Bauhandwerkerpfand-rechte eingetragen werden.

726 Ein Pfandrechtsanspruch besteht selbst dann, wenn ein Mieter oder Pächter oder eine sons-tige am Grundstück berechtigte Person (Wohnberechtigter, Nutzniesser etc.) als Bauherr auf-tritt und Werkvertragsarbeiten bestellt hat.376 Vorausgesetzt ist in diesen Fällen jedoch, dass der Grundeigentümer der Ausführung der Arbeiten zugestimmt hat (Art. 837 Abs. 2 ZGB).377

727 Pfandgesichert ist eine Forderung der Bauhandwerker nur dann, wenn sie für eine Baute oder ein sonstiges Werk (vgl. Art. 837 1 Ziff. 3 ZGB) Arbeit alleine oder Material und Arbeit geliefert haben.

728 Die Baute muss dauerhaft mit dem Boden verbunden sein; es darf sich nicht um eine Fahrnis-baute handeln (vgl. Art. 677 ZGB).378 Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB erwähnt aber nicht nur die Bauten, sondern spricht weiter von «anderen Werken». Unter «andere Werke» wird alles sub-sumiert, was vom Menschen mit technischen Hilfsmittel auf der Erdoberfläche oder im Erdreich gebaut wird (Strassen, Wege, Tunnels etc.).379

729 Eine Arbeitsleistung ist stets vorausgesetzt; eine Materiallieferung kann hingegen zur Arbeit hinzutreten.380 Blosse Lieferanten, d.h. die Verkäufer von Baumaterialien, besitzen grundsätz-lich keinen Anspruch auf Pfanderrichtung. Dies gilt auch, wenn der Lieferant die Sachen ei-gens hergestellt hat. Handelt es sich jedoch um eine Spezialanfertigung, die anderweitig nicht oder nur schwer verwertbar ist (Werklieferungsvertrag; z.B. massgeschneiderte Fenster, ei-gens für die Baustelle hergestellten Beton), so bejaht die Rechtsprechung einen Pfanderrich-tungsanspruch. Ob der Lieferant die speziell angefertigten Sachen selber einbaut, ist irrele-vant.381

730 Der Architekt und der Ingenieur haben für ihre Honorarforderung keinen Anspruch auf Pfan-derrichtung. Ihre Arbeitsleistung ist nicht mit dem Bau verbunden, resp. zu einer solchen Ver-bindung bestimmt.382

731 Das Bauhandwerkerpfandrecht begründet für den Bauherrn nach dem Gesagten ein Doppel-zahlungsrisiko: Bezahlt der Generalunternehmer oder der Unternehmer den Subunternehmer nicht, lässt der Subunternehmer ein Bauhandwerkerpfandrecht eintragen. Kann oder will der Generalunternehmer oder Unternehmer das Pfandrecht nicht ablösen, wird der Bauherr die Forderung des Subunternehmers begleichen müssen, wenn er die Zwangsverwertung seines Grundstücks nicht riskieren will. Hat er selber die Forderung des Generalunternehmers oder Unternehmers bereits beglichen, bezahlt er doppelt.383

376 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1706. 377 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O. 378 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1707. 379 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O. 380 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1710. 381 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1710 f. 382 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1712. 383 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1715.

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Das Grundstück als Pfandobjekt

732 Der Anspruch auf Pfanderrichtung besteht «an diesem Grundstück» (Art. 837 Abs. 1 Ziff. 3 ZGB). Das Pfandrecht ist also auf dem Grundstück einzutragen, bei welchem durch die Bau-arbeiten ein Mehrwert entstanden ist.384

733 Als Grundstücke kommen die Liegenschaften, Baurechtsgrundstücke, Miteigentumsanteile an einem Grundstück oder Stockwerkeigentumsanteile in Frage (vgl. Art. 655 ZGB).385

734 Der Anspruch auf Pfanderrichtung ist an das Grundstück gebunden. Daraus folgt, dass im Falle der Veräusserung des Grundstücks ein Anspruch auf Errichtung des Bauhandwerker-pfandrechts gegenüber dem neuen Grundeigentümer besteht.

735 Im Falle des Stockwerkeigentums ist zu unterscheiden:

- Hat der Bauhandwerker ausschliesslich Leistungen an den im Sonderrecht stehenden Gebäudeteilen erbracht, ist das Bauhandwerkerpfandrecht zu Lasten des jeweiligen Stockwerkeigentumsanteils einzutragen;

- Beziehen sich die Arbeiten auf gemeinschaftliche Teile, so kann die Stammparzelle (Gesamtliegenschaft) nur mit einem Bauhandwerkerpfandrecht belastet werden, wenn noch auf keinem Stockwerkeigentumsanteil ein Pfandrecht errichtet worden ist (was praktisch nie zutrifft); regelmässig muss die Pfandsumme deshalb anhand der Wert-quoten auf die einzelnen Stockwerkeigentumseinheiten aufgeteilt werden.386

736 Ist das öffentliche Gemeinwesen Bauherr, ist das Grundstück nur dann als Pfandobjekt taug-lich, wenn das fragliche Grundstück zum Finanzvermögen des Gemeinwesens gehört. Wenn das Grundstück zum Verwaltungsvermögen gehört oder im Gemeingebrauch steht, kann kein Pfandrecht eingetragen werden.387

737 Ins Verwaltungsvermögen des Staates fallen all jene Liegenschaften, die der unmittelbaren Erfüllung der öffentlichen Aufgaben dienen (Schulhäuser, Gemeindehaus, Alterszentren etc.).

738 Dem Finanzvermögen werden demgegenüber alle Liegenschaften zugeordnet, mit denen kaufmännisch gearbeitet werden kann; oder anders: die die Erfüllung der öffentlichen Aufga-ben nicht beeinträchtigen. Dazu zählen ebenso Landreserven und Baurechte.

739 Handelt es sich um Verwaltungsvermögen, so ist der Subunternehmer anders geschützt. Weil er kein Bauhandwerkerpfandrecht eintragen kann, muss das Gemeinwesen für anerkannte oder gerichtlich festgestellte Forderungen als Bürge haften (Art. 839 Abs. 4 ZGB). Vorausge-setzt ist einzig, dass sich die Schuldpflicht des Gemeinwesens nicht aus einer direkten ver-traglichen Verpflichtung zwischen dem Gemeinwesen und ihm ergibt.388

740 Ist nicht sicher, ob das fragliche Grundstück zum Verwaltungsvermögen gehört, kann der Bau-handwerker eine vorläufige Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts im Grundbuch verlan-

384 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1721. 385 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O. 386 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1733 ff. 387 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1722 ff. 388 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1724b.

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gen (Art. 839 Abs. 5 ZGB). Ob dann das Grundstück effektiv zum Verwaltungs- oder Finanz-vermögen gehört, entscheidet das Gericht im sog. Verfahren um definitive Eintragung des Pfandrechts.

Die Ablösung des Bauhandwerkerpfandrechts durch hinreichende Sicherheit

741 Die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts kann nicht verlangt werden, wenn der Grund-eigentümer für die Forderung eine hinreichende Sicherheit leistet (Art. 839 Abs. 3 ZGB). Die Sicherheitsleistung bewirkt somit die Zerstörung des Pfandrechtsanspruchs.389

742 Der Grundeigentümer kann aber das Pfandrecht nur abwehren, wenn er die Sicherheit auch tatsächlich leistet; das blosse Anbieten genügt nicht.390

743 Die Sicherheit kann geleistet werden, bevor das Bauhandwerkerpfandrecht im Grundbuch (provisorisch oder definitiv) eingetragen ist; dann entfällt der Pfanderrichtungsanspruch des Bauhandwerkers.391

744 Es steht dem Grundeigentümer aber offen, nach der (provisorischen oder definitiven) Eintra-gung des Bauhandwerkerpfandrechts in Grundbuch eine Sicherheit zu entrichten; tut er dies, so ist der Eintrag im Grundbuch zu löschen.392

745 Eine Sicherheit ist hinreichend, wenn

- sie die Forderung des Bauhandwerkers (inkl. Zinsen) inhaltlich vollumfänglich abdeckt;

- für den Bauhandwerker verfahrensrechtlich keine ungünstigere Situation eintritt (Bsp. Verlegung des Gerichtsstandes).393

3. Die Errichtung des Bauhandwerkerpfandrechts

Die Frist zur Eintragung

746 Das Gesetz verleiht den Bauhandwerkern lediglich einen Anspruch auf Errichtung eines Bau-handwerkerpfandrechts. Damit ist aber das Pfandrecht noch nicht entstanden, es bedarf viel-mehr der Eintragung im Grundbuch.

747 Die Eintragung im Grundbuch kann frühestmöglich ab dem Zeitpunkt erfolgen, an dem sich der Bauhandwerker zur Leistung von Arbeit verpflichtet hat (Art. 839 Abs. 1 ZGB). In der Praxis kommt es aber beinahe nie zu einer solch frühen Eintragung.

748 Entscheidend ist vielmehr, dass die Eintragung spätestens vier Monate nach Vollendung der Arbeit erfolgt sein muss (Art. 839 Abs. 2 ZGB). Diese Viermonatsfrist ist eine sog. Verwir-kungsfrist – wird sie nicht gewahrt, so erlischt der Pfanderrichtungsanspruch.394

389 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1749. 390 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1742. 391 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1744. 392 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O. 393 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1746 ff. 394 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1753.

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749 Vollendet ist ein Werk nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung, wenn die Arbeiten gemäss Werkvertrag ausgeführt worden sind und das Ergebnis dieser Arbeit, d.h. das Werk, abgeliefert werden kann.395 Wann dieser Zeitpunkt eingetreten ist, ist nicht immer leicht zu bestimmen und muss im Zweifelsfall vom Gericht entschieden werden.

750 Bei der Beurteilung, ob Bauarbeiten noch als fristauslösend gelten oder nicht, kommt es nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der ausgeführten Arbeiten an. Eine noch so geringe Tätigkeit kann daher noch fristauslösend sein, wenn sie zu einer ordentlichen Arbeitsvollen-dung gehört (z.B. Beschriftung einer HLK-Anlage, damit sie ordnungsgemäss bedient werden kann, Anbringung von Lichtschachtabdeckungen etc.). Der Unternehmer darf aber seine letz-ten Arbeiten nicht rechtsmissbräuchlich hinauszögern. Nicht fristauslösend sind Nachbesse-rungsarbeiten («Garantiearbeiten»).

751 Folgende Sonderfälle der Arbeitsvollendung, resp. des Fristbeginns müssen etwa beachtet werden:

- Vorzeitige Auflösung eines Werkvertrages: Ein Werkvertrag wird vorzeitig aufge-löst, wenn der Besteller dem Unternehmer die Arbeiten entzieht oder der Unternehmer die Weiterarbeit verweigert. In einem solchen Fall ist für die Viermonatsfrist der Zeit-punkt des Entzugs der Arbeiten oder der Verweigerung der Weiterarbeit massge-bend.396

- Arbeiten auf mehreren Grundstücken: Hat ein Bauhandwerker (gestützt auf einen oder mehrere Werkverträge) auf mehreren Grundstücken Arbeiten verrichtet, beginnt die Frist für jedes Grundstück einzeln.397 Ein einheitlicher Fristenlauf gilt nur dann, wenn die grundstücksübergreifenden Arbeiten eine funktionale Einheit bilden.

- Arbeiten auf einem Grundstück für mehrere Bauten oder andere Werke: Wie beim vorangehenden Sonderfall, beginnt die Frist grundsätzlich pro Bau, resp. Werk geson-dert.398

- Bauarbeiten an einem zu Stockwerkeigentum aufgeteilten Grundstück: Betreffen die Bauarbeiten gemeinschaftliche Teile, ist von einem einheitlichen Beginn der Frist auszugehen; anderes gilt bei Arbeiten an einzelnen Stockwerkeinheiten. Da beginnen die Fristen jeweils mit der Vollendung der Arbeiten in den einzelnen Stockwerkeinhei-ten.399

752 Innerhalb der Viermonatsfrist muss die Eintragung im Grundbuch erfolgen (Art. 839 Abs. 2 ZGB). Dies hat zur Folge, dass

- die Einreichung einer Klage auf Werklohnzahlung oder auf Eintragung des Bauhand-werkerpfandrechts,

- die gerichtliche Bewilligung der Eintragung eines Bauhandwerkerpfandrechts,

395 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1756. 396 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1758. 397 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1759. 398 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1760. 399 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1761.

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- das Begehren um Eintragung beim Grundbuchamt (sofern vom Grundbuchverwalter noch nicht behandelt)

die Viermonatsfrist nicht wahren. Ausreichend ist einzig die Eintragung im Grundbuch durch den Grundbuchverwalter.400

753 Die provisorische Einschreibung im Grundbuch in Form einer Vormerkung ist jedoch bereits fristwahrend; unter der Eintragung (vgl. Art. 839 Abs. 2 ZGB) ist also nicht nur die definitive Eintragung zu verstehen.401

754 Zudem ist die Einschreibung im Tagebuch ausreichend. Wie wir nämlich gesehen haben, ist zwar für die Entstehung dinglicher Rechte grundsätzlich die Eintragung in das Hauptbuch des Grundbuches massgebend (Art. 972 Abs. 1 ZGB), deren Wirkung wird aber auf den Zeitpunkt der Eintragung im Tagebuch zurückbezogen (Art. 972 Abs. 2 ZGB; vgl. dazu Rz. 641). Für die Eintragung im Tagebuch genügt schliesslich ein Eingangsvermerk des Grundbuchverwalters; eine physische Einschreibung ist nach gängiger Grundbuchpraxis nicht nötig.402

Das Verfahren auf Eintragung

755 Das Gesetz hält fest, dass die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts nur möglich ist, wenn der Eigentümer des Grundstücks die Pfandsumme anerkannt oder die Pfandsumme vom Gericht festgestellt ist (Art. 839 Abs. 3 ZGB).

756 Der Eigentümer eines Grundstücks anerkennt die Forderung, wenn er gegenüber dem zustän-digen Grundbuchamt schriftlich sein Einverständnis erteilt, sein Grundstück mit einem Pfand-recht bis zu einem gewissen Betrag zu belasten.403 Diese Anerkennung bezieht sich nicht auf die Werklohnforderung des Bauhandwerkers, sondern bloss auf das Pfandrecht und dessen Höhe.404 Einzig darin liegt die Bewilligung der Eintragung des Pfandrechts in das Grundbuch.405 Es ist also nichts darüber gesagt, ob der Grundeigentümer die Werklohnforderung anerkannt, resp. ob sie überhaupt besteht.

757 In der Praxis anerkennen die Grundeigentümer das Pfandrecht sehr selten; Regelfall bildet vielmehr die gerichtliche Feststellung der Pfandsumme.

758 Da aber Gerichtsprozesse regelmässig lange dauern, droht die Viermonatsfrist rasch unbe-nützt zu verstreichen. Aus diesem Grund sieht das Gesetz die Möglichkeit der Klage auf vor-läufige Eintragung des Pfandrechts vor.406

759 In diesem Gerichtsverfahren hat der Bauhandwerker bloss glaubhaft zu machen, dass die Vo-raussetzungen für das Pfandrecht in einer bestimmten Höhe erfüllt sind. Es handelt sich im Grunde um eine vorsorgliche Massnahme zur Wahrung der Eintragungsfrist. Anwendbar ist das summarische Verfahren.407

400 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1763. 401 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1764. 402 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O. 403 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1766. 404 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1767. 405 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1768. 406 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1770. 407 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, a.a.O.

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760 Heisst das Gericht die Klage um vorläufige Eintragung (Vormerkung) gut, so tut es zweierlei:

- Es erteilt in seinem Entscheid dem Grundbuchamt eine Anweisung oder es ermächtigt den Bauhandwerker zur Anmeldung des provisorischen Pfandrechts beim Grundbuch (Art. 963 Abs. 2 ZGB; Art. 124 Abs. 1 GBV). Der Grundbuchverwalter hat dann die Anmeldung zu vollziehen und das Pfandrecht vorläufig einzutragen (vorzumerken).

- Es setzt dem Bauhandwerker eine Frist an, innert der er auf definitive Eintragung des Pfandrechts klagen muss (Art. 263 ZPO).408

761 Droht die Frist bereits abzulaufen (was in aller Regel der Fall ist), kann das Gericht die vorläu-fige Eintragung des Pfandrechts superprovisorisch anordnen. In einem solchen Fall wird sofort ein Entscheid gefällt; ohne vorherige Anhörung des Grundstückeigentümers (Art. 265 Abs. 1 ZPO). Das Gericht muss aber im Nachgang den Grundstückseigentümer anhören und im Ent-scheid über die provisorische Eintragung festlegen, ob der superprovisorische Eintrag des Pfandrechts im Grundbuch bestehen bleibt oder gelöscht werden muss (Art. 265 Abs. 2 ZPO).409

762 Hat schliesslich der Bauhandwerker die provisorische Eintragung erfolgreich erwirkt, muss er innert der vom Gericht angesetzten Frist in einem ordentlichen Zivilprozess auf definitive Ein-tragung des Bauhandwerkerpfandrechts klagen. Hier genügt es nicht mehr, wenn der Bau-handwerker seinen Pfanderrichtungsanspruch bloss glaubhaft macht, er muss ihn vielmehr strikte beweisen.410 Der Prozess kann wie folgt ausgehen:

- Das Gericht kann den Pfanderrichtungsanspruch als erwiesen ansehen und die defini-tive Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts anordnen (vgl. dazu Rz. 760). Somit trägt das Grundbuchamt, wiederum auf Anmeldung hin, das Pfandrecht definitiv im Grundbuch ein. Als Errichtungsdatum gilt das Datum der Einschreibug der vorläufigen Eintragung im Tagebuch (Art. 972 Abs. 2 ZGB). Das Pfandrecht ist damit entstanden.411

- Das Gericht weist die Klage auf definitive Eintragung des Pfandrechts ab und weist den Grundbuchverwalter an, die vorläufige Eintragung im Grundbuch zu löschen.412

4. Die Wirkungen des Bauhandwerkerpfandrechts 763 Durch die Eintragung im Grundbuch wird schliesslich das Bauhandwerkerpfandrecht als be-

schränkt dingliches Recht begründet.

764 Wie wir eingangs gesehen haben (vgl. dazu Rz. 713), sichert das Bauhandwerkerpfandrecht die Werklohnforderung des Bauhandwerkers als Verwertungsrecht. Wird die Werklohnforde-rung nicht beglichen, kann der Bauhandwerker das nun belastete Grundstück verwerten las-sen und sich aus dem Erlös des Grundstücks bezahlt machen (Art. 816 Abs. 1 ZGB).

408 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1773. 409 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1774a. 410 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1775. 411 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1776. 412 SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1777.

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765 Das Bauhandwerkerpfandrecht umfasst das gesamte Grundstück; es beschränkt sich nicht einzig auf den vom Bauhandwerker geschaffenen Mehrwert. Gesichert sind zudem – ohne zeitliche Beschränkung – die angefallenen Verzugszinsen (Art. 818 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB).413

766 Ist der Grundstückseigentümer nicht mit dem Werklohnschuldner identisch, so riskiert Ersterer, dass sein Grundstück für eine fremde Schuld zwangsverwertet wird (Drittpfandverhältnis; vgl. dazu Rz. 731).

767 Der Bauhandwerker geniesst aber bei einer Zwangsverwertung gegenüber den restlichen Pfandgläubiger nicht etwa einen Vorrang; vielmehr erhält das Bauhandwerkerpfandrecht sei-nen Rang nach dem Datum der Eintragung im Grundbuch (Art. 972 Abs. 1 und 2 ZGB). Lassen hingegen mehrere Bauhandwerker auf demselben Grundstück ein Bauhandwerkerpfandrecht eintragen, haben sie untereinander den gleichen Rang, d.h. den gleichen Anspruch auf Befrie-digung aus dem Pfanderlös (Art. 840 ZGB). Diese Ranggleichheit besteht selbst, wenn sie an verschiedenen Tagen im Grundbuch eingetragen wurden (Art. 840 ZGB).

768 Werden die Bauhandwerker bei der Zwangsverwertung für ihre Forderungen auf Werklohn nicht oder nicht vollständig befriedigt und ist dieser Verlust auf die Pfandrechte der im Rang vorangehenden Pfandgläubigerinnen (v.a. Banken) zurückzuführen, so müssen ihnen die vo-rangehenden Pfandgläubigerinnen aber unter bestimmten Voraussetzungen den Ausfall er-setzen (sog. Vorrecht nach Art. 841 ZGB). Dieses sog. Vorrecht hat aber im Grunde keine praktische Bedeutung.

413 Zum Ganzen SCHMID/HÜRLIMANN-KAUP, Sachenrecht, Nr. 1781.

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XII. Die Submission

1. Einleitung 769 Submission bezeichnet ein Verfahren, womit ein Nachfrager verschiedene Anbieter in Wett-

bewerb treten lässt, um den unter verschiedenen Kriterien «besten» Vertragspartner auszu-wählen. Wenn die Submission vom öffentlichen Beschaffungsrecht erfasst wird, spricht von «öffentlicher Submission», andernfalls von «privater Submission». Mit der Submission kann der Ausschreibende Wirtschaftsgüter aller Art nachfragen. Im Rahmen dieser Vorlesung spre-chen wir aber nur von der Submission von Werkleistungen.

2. Das Submissionsverfahren 770 Regelmässig läuft eine Submission in folgenden Verfahrensschritten ab414:

- Ausschreibung der Arbeiten;

- Einreichung der Angebote;

- Vergabeentscheid («Zuschlag»);

- Abschluss des Werkvertrages.

Die Ausschreibung

771 Bei der Ausschreibung unterscheidet man zwischen offener und begrenzter Ausschreibung, je nachdem ob sich die Einladung zur Offerte an alle Anbieter («zur freien Konkurrenz») oder nur an bestimmte Unternehmer richtet. Das sog. «selektive Verfahren» ist eine Sonderform der begrenzten Ausschreibung, in dem die Anbieter zuerst einen Antrag auf Teilnahme am Sub-missionsverfahren stellen müssen. Die in der Folge ausgewählten («präqualifizierten») Unter-nehmer dürfen alsdann am Submissionsverfahren teilnehmen und ein Angebot einreichen.415

772 Das zentrale Element der Ausschreibung sind die Ausschreibungsunterlagen. Sie beinhalten die Verhandlungsgrundlage und die Submissionsbedingungen. Die Submissionsbedingungen regeln das Verfahren (Eingabefrist, Eingabeort, Zulässigkeit von Unternehmervarianten, Dauer der Bindung der Offerte, Zuschlagskriterien etc.). Mit der Verhandlungsgrundlage um-schreibt der Ausschreibende dagegen den Inhalt des abzuschliessenden Vertrages (bei grös-seren Vergaben regelmässig in Form der vorgesehenen Vertragsurkunde, der sog. Besonde-ren Bestimmungen, des Leistungsverzeichnisses und von Plänen).416

Die Einreichung der Angebote

773 Mit der Einreichung eines Angebotes (der «Offerte») unterwirft («submittiert») sich der Anbie-ter dem Annahmewillen des Ausschreibenden. Solange der Unternehmer an sein Angebot

414 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 458 ff. 415 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 458. 416 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 459.

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gebunden ist, kann der Ausschreibende die Offerte des Submittenten durch Annahme zum Vertrag erheben.417

774 Reicht der Unternehmer eine Offerte ein, die von den Ausschreibungsunterlagen (der sog. «Amtsvariante») abweicht, so liegt eine sog. «Unternehmervariante» vor. Falls die Ausschrei-bungsbedingungen eine solche Unternehmervariante nicht zulassen, führt dies regelmässig zum Ausschluss des betreffenden Bieters. Sind dagegen Unternehmervarianten erlaubt, so unterliegen auch diese dem Annahmewillen des Ausschreibenden.418

Der Vergabeentscheid («Zuschlag»)

775 Mit dem Vergabeentscheid entscheidet der Anbieter oder dessen zuständige Stelle, mit wel-chem Anbieter der Werkvertrag abgeschlossen werden soll. In einer öffentlichen Submission bildet der Zuschlag eine verwaltungsrechtliche Verfügung, die Voraussetzung ist, dass der Ausschreibende den Werkvertrag mit dem Zuschlagsempfänger abschliessen darf. Der Zu-schlag selber hat aber keine vertragsschliessende Wirkung.419 Auch bei der privaten Submis-sion bildet die blosse Bekanntgabe des Vergabeentscheides regelmässig noch keine rechts-geschäftliche Erklärung, mit welcher der Ausschreibende das Angebot annimmt.

Der Vertragsabschluss

776 Durch den Abschluss des Werkvertrages findet das Submissionsverfahren seinen Abschluss. Der Vertragsabschluss kann auf verschiedene Art geschehen, etwa indem die Parteien die Vertragsurkunde unterzeichnen oder indem der Ausschreibende das Angebot des Unterneh-mers annimmt.

3. Das Submissionsverhältnis 777 Mit der Ausschreibung tritt der Ausschreibende mit den Submittenten in ein Verhandlungsver-

hältnis, das im Falle einer Submission auch als Submissionsverhältnis bezeichnet wird. Das Submissionsverhältnis untersteht grundsätzlich dem Privatrecht. Im Fall einer öffentlichen Submission wird das Submissionsverhältnis aber durch öffentlich-rechtliche Bestimmungen des Submissionsrechts (Vergaberechts) ergänzt. Weil das Submissionsverhältnis in allen Fäl-len also auch ein privatrechtliches Verhandlungsverhältnis darstellt, ist es immer auch ein Treueverhältnis, das den Ausschreibenden und die Submittenten zu einem Verhalten nach Treu und Glauben verpflichten. Das bedeutet für den Ausschreibenden namentlich, dass er die Submittenten im Rahmen der Submissionsbedingungen «chancengleich» behandeln muss. Die Submittenten verhalten sich treuwidrig, wenn sie Preisabsprachen treffen. Ein sol-ches treuwidriges Verhalten macht die entsprechenden Personen haftbar aus der Verletzung von vorvertraglichen Pflichten (aus sog. «culpa in contrahendo»; siehe dazu im Detail weiter unten).

417 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 460. 418 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 460a. 419 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 461a.

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4. Die Rechtsbehelfe des nichtberücksichtigten Submittenten 778 Geht der Submittent leer aus, weil der Zuschlag gar nicht oder an einen anderen Wettbewerber

erfolgt, so ist dies grundsätzlich eine normale Folge des durch die Submission beabsichtigten Wettbewerbs. Der nicht berücksichtigte Submittent hat alleine daraus keinerlei Ansprüche, auch nicht etwa für den (bei grösseren Bauwerken sehr erheblichen) Aufwand für die Ausar-beitung der Offerte. Etwas Anderes würde nur gelten, wenn dies in den Submissionsbedin-gungen anders geregelt ist.

A. Die Haftung aus «culpa in contrahendo»

779 Wie bereits dargelegt, ist das Submissionsverhältnis ein Spezialfall eines Verhandlungsver-hältnisses und damit immer auch ein Treueverhältnis. Aus diesem Treueverhältnis ergibt sich die Pflicht zu ernsthaftem Verhandeln. Diese Pflicht verletzt der Ausschreibende namentlich dann, wenn er zum vorneherein weiss, dass er die ausgeschriebenen Arbeiten überhaupt nicht, an einen zum Voraus bestimmten Unternehmer (der allenfalls an der Submission nicht einmal teilgenommen hat) oder an einen bestimmten Submittenten jedenfalls nicht vergeben wird. Das kommt nicht selten dann vor, wenn der Ausschreibende mit der Submission einfach den «Markt testen» will, um Konkurrenzpreise zu erhalten, etwa weil er mit einem Dritten (z.B. dem Verkäufer) abgemacht hat, diesem bestimmte Arbeiten zu Konkurrenzpreisen zu verge-ben.420

780 Ein anderer Fall einer Treuepflichtverletzung liegt vor, wenn der Ausschreibende die ausge-schriebenen Arbeiten in Verletzung der Submissionsbedingungen vergibt. Das trifft z.B. dann zu, wenn der Ausschreibende ein submissionswidriges Angebot berücksichtigt (etwa wenn er den Zuschlag an eine Unternehmervariante vergibt, obwohl solche nach den Submissionsbe-dingungen ausgeschlossen waren) oder wenn er den Zuschlag ohne sachlichen Grund einem Dritten, der am Wettbewerb gar nicht teilgenommen hat, erteilt.421 Ein qualifiziert treuwidriges Verhalten liegt vor, wenn der Ausschreibende – ohne Zustimmung des Submittenten – eine von diesem eingereichte Unternehmervariante dahingehend missbraucht, um die Arbeiten zwar nach dieser Unternehmervariante, jedoch an einen anderen Anbieter zu vergeben.

781 In solchen Fällen von treuwidrigem Verhandeln wird der Ausschreibende dem oder den Sub-mittenten aus sog. «culpa in contrahendo» (aus der Verletzung vorvertraglicher Pflichten) haft-bar. Zu ersetzen ist das sog. negative Vertragsinteresse. Der Geschädigte ist dabei so zu stellen, wie wenn er am Wettbewerb nicht teilgenommen hätte. In der Regel wird es also um den Ersatz der Aufwendungen für die Ausarbeitung der Offerte gehen. Um eine solche Haftung zu begründen, muss der Geschädigte im Fall, in dem der Ausschreibende submissionswidrig (also in Verletzung der Submissionsbedingungen) vergeben hat, zusätzlich nachweisen, dass er eine sachlich begründete Chance für den Zuschlag hatte.422

782 Eine privatrechtliche Anfechtungsmöglichkeit des Werkvertrages, den der Ausschreibende in Verletzung der Submissionsbedingungen abgeschlossen hat, besteht nicht.423

420 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 492. 421 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 494. 422 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 495. 423 GAUCH, Der Werkvertrag, Nr. 500.

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B. Die Anfechtung des Zuschlags mittels Beschwerde in der öffentlichen Submis-sion

783 Der in einem öffentlichen Submissionsverfahren ausgeschlossene oder übergangene Submit-tent kann die Zuschlagsverfügung mittels Beschwerde anfechten. Das Rechtsmittel, das ein solcher Submittent ergreift, wird regelmässig als Submissionsbeschwerde bezeichnet.

784 Submissionsbeschwerden richten sich gegen die Zuschlagsverfügung, nicht etwa gegen den Vertragsabschluss. Sie sind regelmässig innert kurzer Frist einzureichen. Falls kantonales Be-schaffungsrecht zur Anwendung kommt, beträgt die Beschwerdefrist regelmässig nur 10 Tage. Falls das Bundesvergaberecht anwendbar ist, beträgt die Beschwerdefrist 20 Tage. Dabei ist stets zu bedenken, dass für eine erfolgsversprechende Begründung einer Submissionsbe-schwerde oft weitere umfangreiche Sachverhaltsabklärungen nötig ist. Der unterlegene Unter-nehmer muss daher in jedem Fall sofort reagieren, falls er eine Submissionsbeschwerde ein-reichen möchte.

785 Beschwerdegründe sind die unrichtige Feststellung des Sachverhaltes und Rechtsverletzun-gen, einschliesslich Überschreitung und Missbrauch des Ermessens. Die Unangemessenheit der Zuschlagsverfügung kann demgegenüber nicht angefochten werden.

786 Die Submissionsbeschwerde richtet sich, wie gesagt, gegen die Zuschlagsverfügung. Die Be-schwerdeinstanz kann daher nur die Zuschlagsverfügung aufheben, nie aber den allenfalls bereits abgeschlossenen Vertrag.

787 Ist der Werkvertrag bereits abgeschlossen, so kann die Beschwerdeinstanz nur noch die Rechtswidrigkeit des Zuschlags feststellen. Der Beschwerdeführer kämpft dann höchstens noch um Schadenersatz, nicht mehr aber um den Zuschlag.

788 Will der Beschwerdeführer den Abschluss des Werkvertrages verhindern, so muss er die auf-schiebende Wirkung seiner Beschwerde verlangen. Die aufschiebende Wirkung wird regel-mässig nur erteilt, wenn die Beschwerde als ausreichend begründet erscheint und keine über-wiegenden öffentlichen oder privaten Interesse entgegenstehen.

789 Zwei Sonderfälle geben im Rahmen von öffentlichen Submissionen immer wieder Anlass zu Streit:

- Oft enthalten Unternehmerofferten spekulative Elemente, in dem Leistungen, von de-nen der Unternehmer annimmt, dass sie nicht oder nicht in der vorgesehenen Menge zur Ausführung gelangen werden, tief oder gar zum Nullpreis bzw. zu einem bloss sym-bolischen Preis angeboten werden (z.B. mit CHF 1.00). Es kommt zuweilen sogar vor, dass Angebote bei einzelnen Leistungen sog. Minusangebote enthalten, etwa wenn ein Tiefbauunternehmer geltend macht, er könne etwaig aufgefahrenes Kies wieder-verwenden und werde dafür auch etwas bezahlen. Nach der überwiegenden Meinung in der juristischen Lehre sind solche Preisbildungen grundsätzlich zulässig (teilweise abweichend die Rechtsprechung bei Minuspreisen). Wenn jedoch solche Null-/Minus-preisofferten bei anderen Positionen (z.B. bei der Installationsglobale/-pauschale) kompensiert werden, ist die Vergleichbarkeit der Angebote nicht mehr gegeben. Ein solcher Anbieter ist daher vom Submissionsverfahren auszuschliessen.

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- Ebenso streitanfällig ist die Gewichtung der Zuschlagskriterien. Zwar ist die ausschrei-bende Behörde an die einmal bekanntgegebene Reihenfolge der Zuschlagkriterien und die damit implizit zum Ausdruck gebrachte Gewichtung gebunden. Steht das Zuschlag-kriterium Preis rangmässig z.B. vor dem Zuschlagskriterium Referenzobjekte, so darf die Behörde bei der Angebotsbewertung den Preis nicht weniger gewichten als die Referenzobjekte. Solange die Gewichtung der Zuschlagskriterien der Rangfolge nicht widerspricht, kommt der Vergabebehörde bei der Gewichtung ein grosses Ermessen zu, und eine Pflicht zur vorgängigen Bekanntgabe besteht nicht; es sei denn, der Ge-setzgeber verlangt die vorgängige Bekanntgabe explizit.