Guido Zimmermann, Henrik Uterwedde, Daniela Schwarzer · 2021. 1. 31. · Daniela Schwarzer,...

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2013 Zur Diskussion gestellt Guido Zimmermann, Henrik Uterwedde, Daniela Schwarzer Strukturprobleme und schleichende Deindustrialisierung: Ist Frankreich das neue Sorgenkind Europas? Kommentar Stormy-Annika Mildner und Claudia Schmucker Stolpersteine auf dem Weg zu einem transatlantischen Handelsabkommen Forschungsergebnisse Oliver Falck, Stephan Heblich und Anne Otto Agglomerationsvorteile in der Wissensgesellschaft Marc Piopiunik Sechsstufige Realschule in Bayern: Auswirkungen auf die Schülerleistungen Wolfgang Nierhaus Wirtschaftswachstum in den VGR: Vorjahrespreisbasis Revisited Daten und Prognosen Ludwig Dorffmeister Europäischer Wohnungsbau: 2013 Ende der Durststrecke, für 2014 und 2015 positive Erwartungen Im Blickpunkt Marc Gronwald Kurz zum Klima: Neues vom Emissionshandel Stefan Sauer Konjunkturtest im Fokus: Umsatzbehinderungen im Einzelhandel Klaus Wohlrabe ifo Konjunkturtest Januar 2013 ifo Schnelldienst 66. Jg., 6.–7. KW, 14. Februar 2013 3 Institut Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München e.V.

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  • 2013

    Zur Diskussion gestelltGuido Zimmermann, Henrik Uterwedde, Daniela Schwarzer■ Strukturprobleme und schleichende Deindustrialisierung:

    Ist Frankreich das neue Sorgenkind Europas?

    KommentarStormy-Annika Mildner und Claudia Schmucker■ Stolpersteine auf dem Weg zu einem transatlantischen

    Handelsabkommen

    ForschungsergebnisseOliver Falck, Stephan Heblich und Anne Otto■ Agglomerationsvorteile in der Wissensgesellschaft

    Marc Piopiunik■ Sechsstufige Realschule in Bayern:

    Auswirkungen auf die Schülerleistungen

    Wolfgang Nierhaus■ Wirtschaftswachstum in den VGR:

    Vorjahrespreisbasis Revisited

    Daten und PrognosenLudwig Dorffmeister■ Europäischer Wohnungsbau: 2013 Ende der

    Durststrecke, für 2014 und 2015 positive Erwartungen

    Im BlickpunktMarc Gronwald■ Kurz zum Klima: Neues vom Emissionshandel

    Stefan Sauer■ Konjunkturtest im Fokus:

    Umsatz behinderungen im Einzelhandel

    Klaus Wohlrabe■ ifo Konjunkturtest Januar 2013

    ifo Schnelldienst66. Jg., 6.–7. KW, 14. Februar 2013

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    InstitutLeibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

    an der Universität München e.V.

  • ISSN 0018-974 X

    Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Werner Sinn, Dr. Christa Hainz, Annette Marquardt, Dr. Chang Woon Nam.Vertrieb: ifo Institut.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design.Satz: ifo Institut.Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

    ifo Schnelldienst

  • Strukturprobleme und schleichende Deindustrialisierung:Ist Frankreich das neue Sorgenkind Europas?

    Seit vergangenem Herbst häufen sich Negativmeldungen über die WirtschaftFrankreichs. Guido Zimmermann, Landesbank Baden-Württemberg, Stuttgart,sieht den Hauptgrund für den im internationalen Vergleich sehr starken Einbruchder Exporte Frankreichs in einem Strukturbruch in der Fähigkeit, internationalkompetitive Güter zu produzieren. Vor industriepolitischem Aktivismus sei aller-dings zu warnen, denn er sei in vielen Ländern in der Vergangenheit kein großerErfolg gewesen. Man sollte sich eher darüber sorgen, dass das stark exportab-hängige Verarbeitende Gewerbe in Deutschland in Zukunft verstärkt unter Druckstehen wird. Henrik Uterwedde, Deutsch-Französisches Institut, Ludwigsburg,verweist nicht nur auf die aktuellen Krisensymptome, wie Wachstumsschwäche,steigende Arbeitslosigkeit und anhaltende außenwirtschaftliche Defizite, sondernauch auf eine Reihe von Stärken und Potenzialen, beispielsweise die ausgezeich-nete Qualität der Infrastrukturen oder der anerkannt hohe Standard der sozialenSicherung. Damit verfüge Frankreich über Potenziale, die ihm helfen können, dieProbleme zu überwinden. Daniela Schwarzer, Stiftung Wissenschaft und Politik,Berlin, betont, dass Frankreich in den kommenden Jahren viel dafür tun muss, umseine verbleibenden industriellen Stärken nicht zu verlieren. Potenzial liege etwa intraditionell starken Bereichen wie Pharma, Luxusgüter, der Luft- und Raumfahrtoder der Kernenergie.

    It’s Agriculture, Stupid! Stolpersteine auf dem Weg zu einemtransatlantischen HandelsabkommenStormy-Annika Mildner und Claudia Schmucker

    Ein EU-US-Freihandelsabkommen ist seit Jahren überfällig. Anfang Februar 2013wird die US-EU High Level Group on Growth and Jobs höchstwahrscheinlich dieAufnahme von Verhandlungen empfehlen. Stormy-Annika Mildner, Stiftung Wis-senschaft und Politik (SWP), und Claudia Schmucker, Deutsche Gesellschaft fürAuswärtige Politik (DGAP), sehen in den anhängigen Agrarstreitfällen möglicheHindernisse für ein Abkommen. Will die EU ein transatlantisches Handelsabkom-men, wird sie nicht umhinkommen, bei einigen dieser Streitigkeiten größere Kom-promissbereitschaft als in der Vergangenheit zu zeigen.

    Agglomerationsvorteile in der Wissensgesellschaft: Empirische Evidenz für deutsche GemeindenOliver Falck, Stephan Heblich und Anne Otto

    Sind Ansammlungen von hochqualifizierten Arbeitskräften in einer Region ein Ga-rant für Wachstum? Eine Politik zur Förderung regionaler Entwicklung unterstelltoftmals diesen Zusammenhang und fördert die Ansiedlung und Vernetzung wis-sensintensiver Branchen und Unternehmen. Die hier gezeigte empirische Evidenzlegt allerdings nahe, dass solche Agglomerationsvorteile nicht überall wirken. DerErfolg einer solchen Cluster- und Netzwerkpolitik hängt maßgeblich von der Wir-kungskraft der regionalen Agglomerationskräfte ab und ist somit nicht garantiert.

    ifo Schnelldienst 3/2013

    Zur Diskussion gestellt

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    Kommentar

    Forschungsergebnisse

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  • Die Einführung der sechsstufigen Realschule in Bayern: Evaluierung der Auswirkungen auf die SchülerleistungenMarc Piopiunik

    Während Haupt- und Realschüler vor der bayerischen Schulreform bis zum Endeder sechsten Klasse gemeinsam gelernt haben, werden sie seither bereits nachder vierten Klasse getrennt. Eine aktuelle Studie des ifo Instituts hat die Auswir-kungen dieser Reform auf die Schülerkompetenzen anhand von PISA-Daten ana-lysiert und kommt zu dem Ergebnis, dass diese Reform die Leistungen von Haupt-und Realschülern verschlechtert hat.

    Wirtschaftswachstum in den VGR: Vorjahrespreisbasis RevisitedWolfgang Nierhaus

    Das Statistische Bundesamt hat 2005 die Berechnung des realen BIP für die Bun-desrepublik Deutschland von der Festpreisbasis auf die Vorjahrespreisbasis umge-stellt. Seit Februar 2006 wird auf regionaler Ebene dieses Konzept ebenfalls ange-wendet. Der vorliegende Beitrag diskutiert die Eigenschaften der Volumenrechnung.

    Europäischer Wohnungsbau: Ende der Durststrecke in diesem Jahr –positive Erwartungen für 2014 und 2015Ausgewählte Ergebnisse der Euroconstruct-Winterkonferenz 2012Ludwig Dorffmeister

    Nach den neusten Prognosen der Mitglieder des Euroconstruct-Netzwerks dürf-ten sich die Wohnungsbauleistungen in den 19 Partnerländern 2013 stabilisieren.Insgesamt sind die Bauexperten zuversichtlich, dass der Wohnungsbau 2014 einWachstum von fast 2½% aufweisen wird.

    Kurz zum Klima: Neues vom EmissionshandelMarc Gronwald

    Um das Europäische Emissionshandelssystem (EU ETS) wird derzeit aufgrund derniedrigen Preise für Verschmutzungsrechte eine Diskussion geführt. Der Beitragfasst den aktuellen Stand zusammen und kommentiert ihn aus ökonomischer Sicht.

    Konjunkturtest im Fokus: Sonderfrage zu Umsatzbehinderungenim EinzelhandelStefan Sauer

    Die am ifo Konjunkturtest teilnehmenden Handelsunternehmen werden viertel-jährlich nach Beeinträchtigungen ihrer Umsatztätigkeit gefragt. Im Januar 2013gaben 42,7% der Einzelhändler an, von Behinderungsfaktoren betroffen zu sein.

    ifo Konjunkturtest Januar 2013 in KürzeKlaus Wohlrabe

    Der ifo Geschäftsklimaindex für die gewerbliche Wirtschaft Deutschlands ist erneutgestiegen. Die deutsche Wirtschaft startet hoffnungsvoll ins neue Jahr.

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    Daten und Prognosen

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    Im Blickpunkt

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    Frankreich: Das enfant ter-rible du jour der Eurozone

    Phasen und Ursachen desDeindustrialisierungsprozessesin Frankreich

    Der Deindustrialisierungsprozess in Formeines abnehmenden Anteils der Beschäf-tigten im Verarbeitenden Gewerbe1 in Re-lation zur Gesamtbeschäftigung2 verläuftin allen entwickelten Ländern nun schonseit Jahrzehnten und kann seit spätestensder Jahrtausendwende nur in einem gro-ßen historischen Kontext im Zuge des Auf-baus globaler Beschaffungsketten (Sup-ply Chains) verstanden werden, bei demsich die Schwellenländer tendenziell in-dustrialisieren und die entwickelten Län-der deindustrialisieren (vgl. Baldwin 2012;Trennega 2011). Einiges deutet gleichzei-tig aber auch darauf hin, dass die Indus-trie seit 2005 global in eine neue, dyna-mische Phase eingetreten ist, so dass mit-unter schon von einer neuen Industriel-len Revolution gesprochen wird (vgl.Marsh 2012a, McKinsey 2012 und Bald-win 2012).3 Diese ist durch folgende Merk-male gekennzeichnet: (1) das »vernetzte

    Verarbeitende Gewerbe«, das Design undphysische Produktion – wenn auch räum-lich oft getrennt – miteinander verbindet;(2) die globale »Nischen«-Produktion, beider sich Firmen auf eine enge Produktpa-lette spezialisieren, diese aber global ver-kaufen; und (3) der schnelle Transfer von»Produktionsintelligenz« in Form von De-signs, intellektuellem Eigentum und Tech-nologie (vgl. Marsh et al. 2012). In vielenLändern wird daher von der Politik geprüft,wie durch eine Wiederbelebung des Po-tenzials der Industrie Arbeitsplätze unddas Wirtschaftswachstum gefördert wer-den können (vgl. Marsh 2012b).

    Alles deutet leider darauf hin, dass Frank-reich nicht an dieser neuen Dynamik imIndustriesektor beteiligt ist und sich derüber die Branchen hinweg natürlich sehrheterogene Deindustrialisierungsprozessseit 2000 und vor allem seit Ausbruch derFinanzkrise 2008 beschleunigt hat. Die-ser Prozess kann für Frankreich historischgesehen in vier Phasen unterteilt werden(vgl. Eudeline et al. 2012): Von 1980–1989nahm die Beschäftigung im Verarbeiten-den Gewerbe in Relation zur Gesamtbe-schäftigtenzahl von 22,1% auf 17,8%zwar ab, der Außenhandelsbilanzsaldodes Verarbeitenden Gewerbes war aberim Schnitt ausgeglichen, und die Gewinn-margen der Industrieunternehmen stie-gen sogar an. Die Deindustrialisierung wardamit zwar real spürbar, konnte aber ge-meistert werden. Von 1990–2000 sankder Anteil der Beschäftigten von 17,8%auf 14,3%. In dieser Phase begann derAußenhandelsbilanzsaldo des Verarbei-tenden Gewerbes strukturell defizitär zuwerden. Von 2001–2007 sank der Anteilder Beschäftigten von 14,2% auf 12%,die Gewinnspannen gingen zurück unddas Außenhandelsbilanzdefizit des Verar-beitenden Gewerbes verfestigte sich wei-ter. Seit 2008 verstärkte der Ausbruch derFinanzkrise die Deindustrialisierung Frank-reichs, die Gewinnspannen verringerten

    Ist Frankreich das neue Sorgenkind Europas?Strukturprobleme und schleichende Deindustrialisierung:

    Guido Zimmermann*

    Seit vergangenem Herbst häufen sich Negativmeldungen über die Wirtschaft Frankreichs. Wachs-

    tumsschwäche, hohe und steigende Arbeitslosigkeit, anhaltende außenwirtschaftliche Defizite und

    ein hoher Schuldenstand verweisen auf Strukturprobleme und eine schleichende Deindustriali-

    sierung. Wie kann das Land die Krise überwinden?

    * Dr. Guido Zimmermann ist Senior Credit Analyst derGroup Covered Bonds/Financials Research bei derLandesbank Baden-Württemberg, Stuttgart.Die hier vertretenen Ansichten entsprechen nichtnotwendigerweise denen der Landesbank Baden-Württemberg.

    1 Das Verarbeitende Gewerbe dient als Proxy für dieIndustrie, die gemeinhin noch die Bergbau- undBauindustrie umfasst.

    2 Über eine Definition des Phänomens der Deindus-trialisierung besteht in der Literatur kein Konsens,zumeist ist hiermit aber der Aspekt des Arbeits-platzverlusts gemeint. Als »Deindustrialisierung« solldaher im Folgenden in erster Linie der Verlust vonArbeitsplätzen in der Industrie bezeichnet werden(vgl. Scheuer und Zimmermann 2006). Trennega(2011) sieht einen Prozess der Deindustrialisierungdann vorliegen, wenn sowohl der Anteil der Be-schäftigung des Verarbeitenden Gewerbes an derGesamtbeschäftigung als auch der Anteil des Ver-arbeitenden Gewerbes am Bruttoinlandsproduktzurückgeht.

    3 Vgl. aber Gordon (2012) für eine wesentlich pes-simistischere Einschätzung.

  • Zur Diskussion gestellt

    sich zunehmend – getrieben durch ein niedrigeres Produk-tivitätswachstum –, und das Außenhandelsbilanzdefizit desVerarbeitenden Gewerbes vergrößerte sich abermals.

    Demmou (2010) hat in einer vielzitierten Studie die Ursa-chen für den Niedergang des Verarbeitenden Gewerbes inFrankreich für den Zeitraum 1980–2007 untersucht. Diediagnostizierten Ursachen sind die folgenden: (1) Das Out-sourcing von Geschäftsprozessen aus der Industrie an denDienstleistungssektor zur Effizienzsteigerung; (2) die Erhö-hung der Arbeitsproduktivität; und (3) das Outsourcing vonStellen in das Ausland durch einen Verlust der internatio-nalen Wettbewerbsfähigkeit. 25% der Stellenverluste kön-nen gemäß dieser Studie durch das Outsourcing der Indus-trie von Marktdienstleistungen erklärt werden, was aber wie-derum lediglich ein statistisches Artefakt, aber keinen wirk-lichen Arbeitsplatzabbau impliziert. Weitere 30% der ab-gebauten Stellen sind auf eine Veränderung der Nachfra-gestruktur (in Verbindung mit relativen Produktivitätsgewin-nen im Verarbeitenden Gewerbe) zurückzuführen. Je nachMessmethodik werden zwischen 13% und 40% durch Stel-lenverlagerungen in das Ausland erklärt. Dieser Effekt derGlobalisierung hat seit 2000 an Bedeutung gewonnen (ca.28% Erklärungsgehalt für 2007–2011 (vgl. Eudeline et al.2012)). Zudem ist seit 2000 der Effekt zu konstatieren, dassdie Exporte von Mid-Tech- und High-Tech-Produkten ab-genommen haben.4 Vieles deutet darauf hin, dass sich diefranzösische Industrie aktuell in einem Teufelskreis befin-det, in dem die französischen Unternehmen, bedingt durchden harten globalen Wettbewerb, es nicht mehr schaffen,ihre Gewinnspannen aufrechtzuerhalten. Dies hat wieder-um dazu geführt, dass die Investitionen in Forschung undEntwicklung zurückgefahren wurden, was wiederum dasAngebot an High-Tech-Produkten senkte. Seit 2008 scheintzudem noch ein nicht wirklich erklärbarer Strukturbruch in der totalen Faktorproduktivität aufzutreten, der den De-industrialisierungsprozess zusätzlich beschleunigt (vgl. Eudeline et al. 2012).

    Kann und sollte die Deindustrialisierunggestoppt werden?

    Obwohl in Frankreich schon länger über den Verlust derWettbewerbsfähigkeit geklagt wird (vgl. Baverez 2003), sohat doch schlussendlich der vernichtende »Gallois-Report«(vgl. Gallois 2012) über die Wettbewerbsfähigkeit Frankreichsdie Regierung Hollande im November 2012 aufgerüttelt5 und

    sie veranlasst, verschiedene – aber leider auch inkohären-te – Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähig-keit zu ergreifen. Ob aber mit einer expliziten Industriepoli-tik zu Gunsten des Verarbeitenden Gewerbes, wie z.B. vonAghion et al. (2011) befürwortet, dauerhaft wirklich mehr Ar-beitsplätze geschaffen werden können, ist zumindest zu hin-terfragen, da die Industrie im 21. Jahrhundert in erster Liniedurch Computerisierung und weniger durch »Man Power«geprägt sein dürfte (vgl. Baldwin 2012). Inwieweit die In-dustrie wirklich essenziell für die Innovationsfähigkeit einerVolkswirtschaft ist, ist ebenfalls sehr umstritten.6 Gleichfallskontrovers ist die Frage, ob eine Industriepolitik zu befür-worten ist oder nicht.7

    Vor industriepolitischem Aktivismus ist u.E. zu warnen. Zumeinen ist Industriepolitik in vielen Ländern in der Vergangen-heit nicht großer Erfolg beschieden gewesen. Die Industriehat des Weiteren keine Sonderrolle inne, die eine Politik zumErhalt des Anteils der Industrie an der Bruttowertschöp-fung rechtfertigen könnte. Zudem muss man sich die Fra-ge stellen, ob ein Land sich tektonischen Verschiebungenin den komparativen Vorteilen wirklich widersetzen sollte.Wie die Innovationsmaschine USA des Weiteren gezeigt hat,ist das Verarbeitende Gewerbe nicht die einzige Quelle vonInnovation und technischem Fortschritt (vgl. Gordon 2011).Der wichtigste Punkt ist, dass Deindustrialisierung nichts Ne-gatives sein muss, solange genügend Ersatzarbeitsplätzebereitgestellt werden (vgl. Scheuer und Zimmermann 2006;Tregenna 2011). Dies hängt aber wiederum von Strukturre-formen in Form eines Abbaus von Funktionsstörungen aufden Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkten ab, wie auch derInternationale Währungsfonds (vgl. IWF 2012) kürzlich fürFrankreich anmahnte. Die Deindustrialisierung Frankreichsim Sinne eines Abbaus von Arbeitsplätzen ist aufgrund derzunehmenden Computerisierung des Verarbeitenden Ge-werbes damit vielleicht nicht umkehrbar, die wirtschaftspo-litischen Entscheidungsträger haben es aber selbst in derHand, durch Strukturreformen in anderen Branchen Arbeits-plätze zu schaffen und die Möglichkeit für vermehrte Inno-vationen zu generieren.

    Der Hauptgrund für den im internationalen Vergleich sehrstarken Einbruch der Exporte Frankreichs ist ein Struktur-bruch in der Fähigkeit, international kompetitive Güter zuproduzieren. Im Deindustrialisierungsprozess Frankreichsspielen damit Angebotsbeschränken die dominante Rolle(vgl. Noyer 2011). So kann auch in einem direkten Vergleichzwischen der französischen und deutschen Industrie – einVergleich, der die französische Wirtschaftspolitik sehr be-schäftigt – gezeigt werden, dass die Fähigkeit der französi-schen Industrie, auf Veränderungen der globalen Nachfra-

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    4 Gemäß dem Komplexitätsatlas der Harvard Kennedy School, der das inden produzierten Gütern eines Landes enthaltene produktive Wissen misst,befindet sich Frankreich lediglich auf Rang 11 (Deutschland Rang 2) von128 untersuchten Ländern (vgl. Hausmann et al. 2011).

    5 Gemäß dem Global Competitiveness Report 2012–2013 befindet sichFrankreich lediglich auf Platz 21 (Deutschland auf Platz 3) von 144 unter-suchten Ländern (vgl. World Economic Forum 2012).

    6 Vgl. hierzu Baghwati (2011) und Rodrik (2011) für zwei konträre Positionen.7 Interessant sind hier die diametral entgegen gesetzten Positionen der je-

    weiligen Sachverständigenräte in Deutschland (vgl. SVR 2009) und Frank-reich (vgl. Aghion et al. 2011).

  • Zur Diskussion gestellt

    ge flexibel zu reagieren, weitaus geringer ist als die der deut-schen, obwohl sich die Strukturen in Bezug auf sektorielleSpezialisierung und geographische Orientierung gar nichtso sehr unterscheiden (vgl. Coe-Rexecode 2011).

    Die Flexibilisierung der Angebotsseite einer Volkswirtschaftbenötigt Zeit, und dass die hierfür notwendigen Reformennun ausgerechnet in einem aktuell makroökonomisch sehrschwierigen Klima stattfinden müssen, ist bitter, da wir ausden Reformprozessen anderer Länder gelernt haben, dassangebotspolitische Reformen im Sinne eines »two-hand-ed-approach« (vgl. Jerger und Landmann 2006) durch nach-frageseitige Stimuli begleitet werden müssen, sollen sie er-folgreich sein. Der Ausblick für die französische Industrie istdamit nicht rosig. Denn die französische Industrie dürfte auchin der mittleren Frist mit einer Nachfrageschwäche nach ih-ren Produkten, niedrigen Gewinnmargen, einer hohen Steu-erbelastung, und dem Problem, geeignetes Personal zufinden, konfrontiert sein (vgl. Artus 2011).

    Rotierende Rezessionen und wechselndeSorgenkinder in der EWU

    Unabhängig von der Deindustrialisierung hat Frankreich vie-le Probleme, aber es sollte auch nicht vergessen werden,dass Frankreich vor noch nicht allzu langer Zeit nicht schlechtda stand (vgl. Blanchard 2007). Und die Eurozone hat ja nochjede Menge anderer Sorgenkinder: Griechenland, Italien, Spa-nien, Portugal, Irland, … Mehr über Frankreich sollte mansich u.E. daher darüber Sorgen machen, dass die Europäi-sche Währungsunion in ihrer jetzigen Form »Rotating Slumps«erzeugt (vgl. Landmann 2012), die auf Dauer keinem Mit-gliedsland erspart zu bleiben scheinen. Auch Deutschlandwar noch vor ein paar Jahren der »kranke Mann Europas«und ist bei weitem nicht so gut aufgestellt, wie es momen-tan in der öffentlichen Debatte oft suggeriert wird. Denn wieder Internationale Währungsfonds vor kurzem herausarbei-tete, dürfte auch das hochproduktive, aber stark exportab-hängige Verarbeitende Gewerbe in Deutschland in Zukunftverstärkt unter Druck stehen (vgl. Bornhorst und Mody 2012).

    Literatur

    Aghion P. et al. (2011), Crise et croissance: une stratégie pour la France, Rapport du Conseil d’Analyse Économique, La documentation française.

    Artus, P. (2011), »Unfortunately, France’s Deindustrialisation May Well Gather Pace«, Natixis Flash Economics, 30. November, No 870.

    Baldwin, R. (2012), »Global Supply Chains: Why They Emerged, Why TheyMatter, and Where They Are Going«, CTEI Working Papers CTEI-2012-13.

    Baverez, N. (2003), La France qui tombe: Un constat clinique du déclin français, Perrin.

    Bhagwati, J. (2011), »The Opposition's Opening Remarks«, TheEconomist.com Debate: Manufacturing, 28. Juni, online verfügbar unter:http://www.economist.com/debate/overview/207.

    Blanchard, O. (2007), »France's Economic Health«, MIT, Cambridge, onlineverfügbar unter: http://economics.mit.edu/files/763.

    Bornhorst, F. und A. Mody (2012), »Tests of German Resilience«, IMF WP/12/239, Oktober.

    Coe-Rexecode (2011), »Mettre un terme à la divergence de compétitivitéentre la France et l’Allemagne«, Etude réalisée pour le Ministère de l’Econo-mie, des Finances et de l’Industrie, 14. Januar.

    Demmou, L. (2010), »La désindustrialisation en France«, Documents de travail de la DG Trésor, Numéro 2010/01, Juni.

    Eudeline, J.-F. et al. (2012), »L’industrie manufacturière en France depuis2008: quelles ruptures?«, INSEE Note de Conjoncture, Dezember.

    Gallois, L. (2012), »Pacte pour la compétitivité de l'industrie française«, Rapport au Premier ministre, 5. November.

    Gordon, R.J. (2011), »Is Manufacturing in the EU Disappearing and Does ItNeed Policy Intervention?«, Presentation Aspen Institute Italia, Mailand, 9. Mai.

    Gordon, R.J. (2012), »Is U.S. Economic Growth Over? Faltering InnovationConfronts the Six Headwinds«, NBER Working Paper No. 18315, August.

    Hausmann, R. et al. (2011), The Atlas of Economic Complexity, Harvard Kennedy School.

    IWF – Internationaler Währungsfonds (2012), »France«, IMF Country ReportNo. 12/342, 2012 Article IV Consultation.

    Jerger, J. und O. Landmann (2006), »Dissecting the Two-handed Approach:Who's the Expert Hand for What?«, Applied Economics Quarterly 52(3), 50–70.

    Landmann, O. (2012), »Rotating Slumps in a Monetary Union«, Open Economies Review 23(2), 303–317.

    Marsh, P. (2012a), The New Industrial Revolution, Yale University Press, New Haven.

    Marsh, P. (2012b), »High-cost Nations Are Considering a Return to Manufacturing as Innovation Makes it Cleaner and More Competitive«, Financial Times, 11. Juni.

    Marsh, P. et al. (2012), »The Seven Ages of Industry«, Financial Times, 10. Juni.

    McKinsey (2012), Manufacturing the Future: The Next Era of Global Growthand Innovation, McKinsey Global Institute/McKinsey Operations Practice.

    Noyer, C. (2011), »Introductory Letter«, Banque de France, Annual Report.

    Rodrik, D. (2011), »The Manufacturing Imperative«, Project Syndicate, 10. August.

    Scheuer, M. und G. Zimmermann (2006), »Deindustrialisierung: Eine neue»britische Krankheit«?«, Wirtschaftsdienst (4), 245–251.

    SVR – Sachverständigenrat zur Begutachtung der wirtschaftlichen Entwick-lung (2009), Jahresgutachten 2009/10, Wiesbaden.

    Tregenna, F. (2011), »Manufacturing Productivity, Deindustrialization, and Reindustrialization«, UN University Working Paper No. 2011/57.

    World Economic Forum (2012), Global Competitiveness Index 2011–2012,online verfügbar unter: http://www3.weforum.org/docs/WEF_GCR_Report_2011-12.pdf.

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  • Zur Diskussion gestellt

    Frankreich kann seine Krise überwinden

    Frankreichs Wirtschaft liefert seit dem vergangenen HerbstNegativschlagzeilen am laufenden Band. »Wird Frankreichdas neue Griechenland?« titelt die Bild-Zeitung (31. Okto-ber 2012); der Economist ortet eine »Zeitbombe im HerzenEuropas« (17. November 2012); für Focus online ist unserNachbar der »neuerkrankte Mann Europas« (1. Februar2013). Es ist wahr: Die aktuellen Krisensymptome in unse-rem Nachbarland – Wachstumsschwäche, hohe und stei-gende Arbeitslosigkeit, anhaltende außenwirtschaftliche De-fizite, hohe Defizite der öffentlichen Haushalte und entspre-chend hoher Schuldenstand – verweisen auf tiefgreifendestrukturelle Probleme. Indessen verfügt Frankreich auch übereine Reihe von Stärken und Potenzialen. Auch sollte inDeutschland zur Kenntnis genommen werden, dass Präsi-dent Hollande längst eine beachtliche Reform-Agenda in An-griff genommen hat, auch wenn diese auf leisen Sohlen da-herkommt.

    Die strukturellen Probleme:Krise des französischen Modells?

    Die Probleme Frankreichs sind seit geraumer Zeit bekanntund in zahlreichen Gutachten analysiert worden (vgl. Uter-wedde 2012). Die Schwierigkeit besteht darin, dass es sichum mehrere, miteinander zusammenhängende Problem-bündel handelt, die gleichzeitig den Kern des französischenWirtschafts- und Sozialmodells berühren.

    Die Staatsverschuldung hat sich in den vergangenen30 Jahren von damals 20% mehr als vervierfacht und istallein seit 2008 von 65% auf heute über 90% angestiegen.Natürlich hat die schwerste Rezession der Nachkriegszeitim Zuge der weltweiten Finanzkrise 2008/09 dazu beige-tragen, aber der Kern des Problems ist struktureller Natur.

    Die hohen Staats- und Sozialleistungsquoten, die im euro-päischen Vergleich Spitzenwerte erreichen, sowie eine tra-ditionell expansiv ausgelegte Haushaltspolitik haben trotzebenfalls hoher Steuerbelastungen und Sozialabgaben re-gelmäßig zu Finanzierungslücken geführt. Diese permanen-te Überforderung der öffentlichen Hand gefährdet die Kre-ditwürdigkeit und künftige Handlungsspielräume. Der Kon-solidierungsbedarf ist gewaltig und kann auf mindestens100 Mrd. Euro für die kommenden fünf Jahre beziffert wer-den, davon allein 30 Mrd. Euro für das laufende Jahr. Daswird ohne nachhaltige Ausgabenkürzungen und ein Über-denken der bestehenden Staats- und Verwaltungsstruktu-ren nicht zu meistern sein.

    Auch das französische Wachstumsmodell hat zur Verschul-dungsproblematik beigetragen. Es wird im Wesentlichenvon der Dynamik des Binnenmarktes getragen. Entspre-chend ist die Wirtschaftspolitik traditionell wachstumsori-entiert. Ein nachfrageorientierter, keynesianischer Grund-ansatz hat die französische Wirtschaftspolitik der vergan-genen Jahrzehnte geprägt und ist auch in den gegenwär-tigen Auseinandersetzungen um die europäische Wirt-schafts- und Währungspolitik spürbar. Diese staatlich ali-mentierte und kreditfinanzierte Stimulierung der Binnen-nachfrage ist aber an ihre Grenzen gestoßen, und dies nichtnur aus finanziellen Gründen.

    Denn die französische Wirtschaft hat kein Nachfrage-, son-dern ein Angebotsproblem. Der relative Niedergang der In-dustrie und die damit zusammenhängenden Schwächen derWettbewerbsfähigkeit bilden den Kern der französischen Kri-se und sind erst kürzlich durch den Bericht des früherenEADS-Chefs Louis Gallois nochmals zusammengefasst wor-den (vgl. Gallois 2012). Der Anteil der Industrie an der Wert-schöpfung von 18% (2000) auf 12,5% (2011) gesunken –das ist der drittletzte Platz innerhalb der Eurozone und wi-derspricht dem Selbstbild und Anspruch des Landes, übereine starke und diversifizierte Industrie zu verfügen. Frank-reichs Exportwirtschaft hat Marktanteile verloren; die Han-delsbilanz hat sich seit 2002 ständig verschlechtert und ver-zeichnete zuletzt ein Defizit in Höhe von 71,2 Mrd. Euro(2011); die Leistungsbilanz ist seit 2005 defizitär.

    Auch hier sind die Ursachen struktureller Natur. Die franzö-sische Industrie ist – von Ausnahmen abgesehen – wenigerin den hochwertigen Segmenten der Produktpalette spezia-lisiert und damit oft abhängiger von der Preiskonkurrenz alsdie deutsche Konkurrenz. Umso mehr wurde die Wettbe-werbsfähigkeit von der starken Erhöhung der Arbeitskos-ten in den vergangenen Jahren beeinträchtigt. Die Unter-nehmen haben, um ihre Märkte nicht zu verlieren, ihre Ge-winnmargen reduziert. Zusammen mit der hohen Steuer-und Abgabenlast führt dies dazu, dass die für eine stärke-re qualitative Wettbewerbsfähigkeit notwendigen For-schungs- und Innovationsanstrengungen der Unternehmen

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    Henrik Uterwedde*

    * Prof. Dr. Henrik Uterwedde ist stellvertretender Direktor des Deutsch-Französischen Instituts, Ludwigsburg, und lehrt an den Universitäten Stuttgart und Osnabrück.

  • Zur Diskussion gestellt

    deutlich hinter den fortgeschrittensten Ländern in Europahinterher hinken. Schließlich wird die französische Unterneh-menslandschaft von den weltweit sehr gut aufgestelltenGroßkonzernen geprägt, während große, selbständige underfolgreiche mittelständische Firmen fehlen. Verantwortlichist zum einen eine gewisse Fixierung der Politik auf Groß-unternehmen – der Ruf nach starken »Champions« gehörtzum Standardrepertoire französischer Politiker. Zum ande-ren stellen zahlreiche starre Regulierungen, etwa im Arbeits-recht, Entwicklungshürden gerade für erfolgreiche kleinereUnternehmen dar.

    Frankreichs Stärken und Potenziale

    Allerdings wäre das Tableau unvollständig, ohne die zahl-reichen Stärken und Potenziale zu erwähnen, die FrankreichsPlatz als zweitstärkste Ökonomie Europas begründen.

    Zunächst einmal verfügt Frankreich bei allen Schwächenauch über eine Reihe von starken Positionen auf dem Welt-markt. Das gilt für industriepolitisch geförderte Bereichewie die Luft- und Raumfahrtindustrie, den Energiesektor, denSchienenfahrzeugbau oder den Rüstungssektor, aber auchfür traditionelle Bastionen wie die Landwirtschaft und dieNahrungsmittelindustrie, die Luxusgüter- und die Pharma-industrie, den Hoch- und Tiefbau oder den Tourismus, kom-munale Dienstleistungen (Verkehr, Wasserversorgung, Müll-beseitigung usw.) und Hypermärkte. Darüber hinaus zäh-len Frankreichs Großkonzerne, vor allem die im »CAC-40«-Börsenindex versammelten größten börsennotierten Un-ternehmen, in ihren jeweiligen Geschäftsfeldern zu den welt-weit führenden Firmengruppen.

    Die ausgezeichnete Qualität der Infrastrukturen, ob es sichum Verkehrswege, das Kommunikationsnetz, die Ener-gieversorgung, Einrichtungen der Kleinkinder- und Vorschul-betreuung oder um die öffentlichen Dienstleistungen derDaseinsvorsorge handelt, ist ein weiterer Pluspunkt. Die öf-fentlichen Forschungseinrichtungen genießen internationalein hohes Ansehen. Landschaft, Klima und die hohe Le-bensqualität, aber auch der generell gute Ausbildungsstandund eine im europäischen Vergleich sehr hohe Arbeitspro-duktivität tun ihr Übriges, um Frankreich zu einem der welt-weit attraktiven Standort für ausländische Investoren zumachen.

    Zu den positiven Standortfaktoren zählen ferner der aner-kannt hohe Standard der sozialen Sicherung, die im inter-nationalen Vergleich sehr gute Gesundheitsversorgung undeine konsequent familienfreundliche Steuer-, Bildungs- undGesellschaftspolitik seit 1945. Auch deshalb weist Frank-reich heute die dynamischste Geburtenentwicklung in ganzEuropa auf. Das schlägt sich nieder in der Bevölkerungsent-wicklung. Frankreich, das heute noch 20 Mill. Einwohner we-

    niger zählt, wird Deutschland gegen 2050 überholt haben.Diese Dynamik erhöht längerfristig das Arbeitskräfte- unddamit auch das Wachstumspotenzial der französischen Wirt-schaft. Vor allem aber ist sie das Zeichen einer ungebro-chenen Vitalität der französischen Gesellschaft, die allen Kri-sen und sozialen Verwerfungen zum Trotz von einem Grund-vertrauen in die Zukunft getragen wird.

    Fazit: Frankreich verfügt über Potenziale, die dem Land hel-fen können, seine Probleme zu überwinden. Darüber hinaus,so formuliert das Wirtschaftsforschungsinstitut COE-Rexe-code, können einige Schwächen auch »zu wirklichen Chan-cen werden, vorausgesetzt natürlich, dass die notwendigenReformen weiter verfolgt, verstärkt und umgesetzt werden«(vgl. COE-Rexecode 2012, 2).

    François Hollandes mutige Reformagenda

    Lange Zeit mangelte es am politischen Willen und am Mut,die notwendigen Reformen anzugehen. Einzelne, wichtigeReformen der vergangenen Jahre wie die Rentenreform, dieFörderung dezentraler Unternehmensnetzwerke (Cluster)oder Ansätze der Forschungs- und Innovationsförderung,blieben damit halbherziges Stückwerk und ließen eine über-greifende Handschrift vermissen.

    Ausgerechnet der Sozialist François Hollande, der mit einemeher klassischen sozialdemokratischen Programm NicolasSarkozy im Mai 2012 aus dem Amt vertrieb, steht nun vorder schwierigen Aufgabe, eine durchgreifende Kurswendeder französischen Wirtschaftspolitik einzuleiten und jahre-lang verschleppte Reformen voranzutreiben. Trugen seineersten Aktionen im Sommer noch die Handschrift einer klas-sisch linken Politik (Steuererhöhungen von Wohlhabendeund Großunternehmen, Stopp des Stellenabbaus im öffent-lichen Dienst, Arbeitsbeschaffungsprogramme), wurde dieKluft zwischen den geweckten Erwartungen und der krisen-haften Lage schnell offenkundig. Die sich zuspitzenden Pro-bleme erzwangen geradezu eine Reaktion. In dieser Situa-tion hat Präsident Hollande in einer Pressekonferenz am13. November die Flucht nach vorne angetreten und erst-mals eine umfassende Reform-Agenda angekündigt.

    Wie schon im Wahlkampf angekündigt, wurde die Rück-führung der Schulden zu einer Priorität erklärt. Erklärtes Zielist, die öffentliche Neuverschuldung von 4,5% im letzten Jahrauf 3% zu senken – das wird allerdings nicht ganz zu schaf-fen sein – und darüber hinaus bis 2017 eine Nullverschul-dung zu erreichen. Die europäischen Stabilitätsvorgaben,aber auch die Glaubwürdigkeit Frankreichs und der Erhaltkünftiger Handlungsspielräume waren starke Motive für die-sen Kurs. Allein für 2013 musste eine Finanzierungslückevon 30 Mrd. Euro überbrückt werden. Dazu wurden Steu-ererhöhungen in Höhe von 20 Mrd. beschlossen, die über-

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    wiegend wohlhabende Haushalte sowie Großunternehmentreffen. Hollande hat aber keinen Zweifel daran gelassen,dass die weitere Konsolidierung über Ausgabenkürzungenerreicht werden muss. Dabei geht es zusätzlich um mindes-tens 60 Mrd. in den kommenden Jahren. Dies wird ohneEinschnitte in den ausgedehnten öffentlichen Sektor, in demüber 20% der französischen Beschäftigten arbeiten, nichtmöglich sein. Damit sind eine Staats- und Verwaltungsre-form, eine Entrümpelung der Bürokratie und wohl der Sub-ventionen, aber auch weitere Reformen der sozialen Siche-rung (wieder einmal) auf die Tagesordnung gerückt – hefti-ge Widerstände und Konflikte sind vorprogrammiert.

    Die Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit ist aufder Prioritätenliste ganz nach oben gerückt. Im Novemberbeschloss die Regierung ein umfassendes Reformpaket.Darin werden die Konturen einer neuen Angebotspolitik sicht-bar. Sie umfasst unter anderem neue Finanzierungsinstru-mente für mittelständische Unternehmen, z.B. durch dieGründung einer Mittelstandsbank (Banque publique d’in-vestissement) mit einem Interventionsvolumen von 42 Mrd.Euro, Maßnahmen zur Innovationsförderung, die Stabilitätwesentlicher steuerlicher und regulativer Rahmenbedingun-gen für die Unternehmen (was mit der bislang üblichen Re-gelungsflut kontrastieren würde), Bürokratieabbau und dieStärkung des Wettbewerbs auf den Güter- und Dienstleis-tungsmärkten. Vor allem aber wird eine Entlastung der Un-ternehmen in Höhe von 20 Mrd. Euro ein Gang gesetzt, dieschon ab 2013 greifen soll. Damit erkennt der Präsident erst-mals öffentlich an, dass die in Frankreich sehr hohen Lohn-nebenkosten ein Problem sind. 10 Mrd. davon sollen durchzusätzliche Etateinsparungen finanziert werden, der Restdurch eine Umstellung der Mehrwertsteuer sowie eine nochzu definierende Umweltsteuer.

    Die dringend notwendige Reform des Arbeitsmarktes warbislang ein Tabuthema der französischen Politik, an das sichselbst konservative Regierungen nicht heranwagten. Hol-lande versucht nun, eine Reform über den Weg der sozia-len Konzertierung durchzusetzen. Zunächst verhandelten,auf der Basis eines Orientierungspapiers des Arbeitsminis-teriums, Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbände und ei-nigten sich im Januar auf eine Reform. Diese versucht, denUnternehmen mehr Flexibilität etwa bei unbefristeten Ar-beitsverträgen einzuräumen und im Gegenzug Missbrauchbei befristeten Verträgen abzubauen, Massenentlassungenvorzubeugen und den Beschäftigten mehr Sicherheit undPerspektiven für ihre Arbeitsplätze zu bieten. Auch wenn dasAbkommen von zwei der drei größten Gewerkschaften nichtunterzeichnet wurde, kann das – vom Unternehmerverbandals echter Fortschritt gewürdigte – Abkommen als Erfolgfür die Regierung gewertet werden. Diese will die Einigungunverändert als Gesetz einbringen und kann hoffen, den zuerwartenden heftigen Widerstand linker Abgeordneter undGewerkschafter zu neutralisieren.

    Offene Erfolgsaussichten

    Wie ist der neue Kurs zu bewerten, und wie sind seine Er-folgsaussichten? Zunächst einmal stellt er eindeutig einewirtschaftspolitische Wende dar. Erstmals wird eine an-gebotspolitische Antwort auf die Probleme der Wettbe-werbsfähigkeit skizziert, werden bislang tabuisierte Refor-men angegangen. Bei allen Unterschieden sind Parallelenzum Kurswechsel Gerhard Schröders im März 2003 durch-aus angebracht. Dabei vermeidet Hollande angesichts hef-tiger politischer und sozialer Widerstände zu Recht eineSchocktherapie. Vielmehr versucht er, die Verbände undSozialpartner so weit wie möglich einzubinden, ohne da-bei allerdings die politische Steuerung aus der Hand zu ge-ben. Die anstehende Arbeitsmarktreform wird ein wichti-ger, geradezu symbolischer Test für die Erfolgsaussichtendieses Weges sein.

    Gewiss, die beschlossenen Maßnahmen sind nur ersteSchritte auf einem langen Weg, der vor unseren Nachbarnliegt. Aber bei allen Halbherzigkeiten und Widersprüchen:Es ist Bewegung in bisher verfestigte Strukturen gekom-men. Im Übrigen lehrt die Erfahrung, dass die französischePolitik immer dann, wenn es um existenzielle Fragen ging,zu mutigen Schritten bereit war. Das war 1958 so, als deGaulle den Eintritt der noch schwächelnden französischenWirtschaft in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft miteiner durchgreifenden Sanierungs- und Modernisierungs-politik begleitete; das war 1983 so, als Mitterrand mit einerspektakulären Kehrtwende dem inflationären Wachstum ei-ne Absage erteilte und später auch den Staatsdirigismuszurückdrängte. Dies könnte auch heute so sein, seit Hol-lande dem drohenden Niedergang der Wirtschaft seinen»nationalen Pakt für Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit undBeschäftigung« entgegengestellt hat. Natürlich kann erscheitern, aber das Signal zum Umsteuern ist gegeben.Schon deshalb verdient der Präsident Respekt und Unter-stützung für seinen Weg.

    Literatur

    COE-Rexecode (2012), Faiblesses et atouts de la France dans la zone euro.Le défi de la reconvergence, Paris.

    Gallois, L. (2012), »Pacte pour la compétitivité de l’industrie française«,Rapport au Premier ministre, 5. November.

    Uterwedde, H. (2012), »Zeit für Reformen: Frankreichs Wirtschaft im Wahl-jahr«, DGAP Analyse Nr. 5, April.

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    Frankreichs Industrie im europäischenund globalen Wettbewerb – auf derSuche nach den eigenen Stärken

    Seit Jahren schon werden in Frankreich die Wettbewerbsfä-higkeit der Industrie und die Zukunft des Wirtschafts- undSozialmodells debattiert. Eurostat zu Folge machte der An-teil der Industrieproduktion 2011 nur noch 12,5% der Wert-schöpfung aus – und der Wettbewerb innerhalb und außer-halb der Europäischen Union nimmt tendenziell zu. Der frü-here EADS-Chef Louis Gallois hat im Auftrag des französi-schen Premierministers Ende 2012 einen warnenden Berichtüber die Lage der französischen Industrie vorgelegt. Zwarverfügt diese über traditionell bekannte und auch einige we-niger beachtete Stärken. Doch ist es eine große Aufgabe fürdie 2012 ins Amt gewählte sozialistische Regierung, die fort-schreitende Deindustrialisierung aufzuhalten. Erste wegwei-sende Entscheidungen sind bereits getroffen.

    Traditionell blickt Frankreich nach Deutschland, wenn überWettbewerbsfähigkeit und Standortqualitäten diskutiert wird.Mit ebensoviel Bewunderung wie Argwohn wird seit Jahren»le modèle allemand« analysiert und die Gründe für Deutsch-lands Wettbewerbsfähigkeit und Exporterfolge sind im De-tail bekannt. Die französische Wirtschaft profitiert einerseitsvon Deutschlands Erfolgen, schließlich ist es für Frankreichbei den Ein- und Ausfuhren nach wie vor der wichtigste Han-delspartner. Auch über Direktinvestitionen im jeweiligenNachbarland besteht eine enge Verflechtung, wenngleichdiese bei weitem nicht an die Handelsintensität heran reicht.Andererseits besteht in vielen Bereichen zwischen Unter-nehmen in beiden Ländern harte Konkurrenz.

    Zunehmend unter Druck gerät Frankreich nun auch durchdie Entwicklungen in Südeuropa. Länder wie Spanien undItalien verschärfen durch ein niedrigeres Preisniveau die Kon-

    kurrenz. Hatten vor Einführung des Euro kompetitive Wech-selkursabwertungen der südeuropäischen Nachbarländerdie französische Industrie unter Druck gebracht, sind es jetztreale Abwertungen und Strukturreformen, die Wettbewer-ber in den Nachbarländern stärken. Gleichzeitig sinkt dieNachfrage nach französischen Gütern mit dem Einbruch derWirtschaftskraft in diesen für Frankreich traditionell wichti-gen Exportmärkten.

    Frankreich Performanz in der Krise

    Die französische Wirtschaft war von der realwirtschaftli-chen Krise in Folge der Finanzkrise 2008/2009 zunächst ver-gleichsweise weniger betroffen als etwa Italien und Frank-reich. Der Abschwung ähnelte in seinem Ausmaß eher demdeutschen – auch wenn die Gründe für die Widerstandsfä-higkeit beider Volkswirtschaften unterschiedliche waren. InFrankreich haben der vergleichsweise große Staatssektorund ein stark regulierter Arbeitsmarkt den Abschwung ab-gepuffert. Da Entlassungen schwierig und Kurzarbeitsmo-delle bislang unüblich waren, blieben das Beschäftigungs-niveau und der Konsum relativ stabil. Aufgrund ihres gerin-geren internationalen Offenheitsgrads war die französischeVolkswirtschaft weniger verwundbar für den globalen Nach-frageeinbruch, anders als die weltmarktorientierte, deutscheIndustrie.

    Jetzt aber bremsen gerade die Faktoren, die Frankreich we-gen ihrer stabilisierenden Wirkung für die Binnenkonjunkturvergleichsweise gut durch die globale Wirtschaftskrise ge-bracht haben, die Erholung. Die Anpassungskosten tragenvor allem die Unternehmen, die anders als deutsche Kon-kurrenten, die auf Kurzarbeit zurückgriffen, ihre Lohnaus-gaben in der Krise nicht reduzieren konnten. Diese Belas-tung dämpft ihre Investitionstätigkeit. Die Fähigkeit der Un-ternehmen, durch Innovation zu wachsen, lässt weiter nach(vgl. Gallois 2012).

    Da gleichzeitig eine restriktive Haushaltspolitik den Binnen-konsum belastet, der maßgeblich das französische Wachs-tum trägt, rückt die Frage der internationalen Wettbewerbs-fähigkeit der Industrie umso mehr in den Mittelpunkt des po-litischen Interesses. Die Fähigkeit, »aus der Krise herauszu-wachsen« ist für Frankreich – wie für die meisten anderenEU-Staaten – Voraussetzung dafür, die Nachhaltigkeit deseigenen Wirtschafts- und Sozialmodells zu sichern und denauf rund 91% des BIP stark angewachsenen öffentlichenSchuldenstand wieder abzubauen.

    Indikatoren für die Deindustrialisierung

    Vor diesem Hintergrund wird mit großer Besorgnis auf denanhaltenden Rückgang der Industrieproduktion an der Wert-

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    Daniela Schwarzer*

    * Dr. Daniela Schwarzer leitet die Forschungsgruppe Europäische Integra-tion bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. 2012/2013ist sie Fritz-Thyssen-Fellow am Weatherhead Center for International Affairs der Universität Harvard.

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    schöpfung geblickt. Der Europäischen Statistikbehörde Eu-rostat zu Folge lag Frankreich lag 2011 nur noch auf Platz15 der 17 Eurozonenstaaten mit einem Anteil von 12,5%.Im Jahr 2000 hatte die Industrieproduktion noch 18% zurWertschöpfung beigetragen. Schwer wiegt auch der Abbauvon Arbeitsplätzen. Arbeiteten 1980 noch 5,1 Mill. Beschäf-tigte in der französischen Industrie, waren dies laut Gallois-Bericht 2011 nur noch 3,11 Millionen.

    Zudem sinkt die französische Wettbewerbsfähigkeit insge-samt, was sich auch am sinkenden Exportanteil Frankreichszeigt. An den Exporten in der EU insgesamt hatte Frankreichim Jahr 2000 einen Anteil von 12,7%. 2011 war dieser in derzwischenzeitlich von 20 auf 27 Staaten erweiterten EU auf10,3% geschrumpft. Im gleichen Zeitraum stieg der deutscheAnteil an den Gesamtexporten Eurostat zu Folge von 21,4%auf 22,4%. Der Rückgang der französischen Wettbewerbs-fähigkeit wirkt sich auf die Wachstumsperspektiven, auf dieArbeitsmarktsituation und auf die öffentlichen Finanzen aus– Frankreich steht vor einer komplexen Problemlage.

    Gründe für den Verlust der Wettbewerbsfähigkeit

    Der von Louis Gallois erstellte Bericht Pacte pour la com-pétitivité de l’industrie française identifiziert vier strukturelleUrsachen für die Schwäche der französischen Industrie.An erster Stelle nennt er Defizite in den Bereichen Forschung,Entwicklung und Ausbildung. Die öffentlichen F&E-Ausga-ben sind in Frankreich mit 2,24% des BIP (2010) im OECD-Vergleich zwar hoch. Doch seien diese nicht ausreichendauf die Förderung der unternehmerischen Wettbewerbsfä-higkeit ausgerichtet. Ein Problem stellen auch die im Ver-gleich recht geringen F&E-Ausgaben der Unternehmen dar:Die OECD beziffert diese für 2010 mit 1,4% des BIP(Deutschland: 1,9%). Auch dem Ausbildungssystem attes-tiert der Gallois-Bericht – abgesehen von der Ingenieursaus-bildung – maßgebliche Schwächen.

    Ein zweites Problem ist die Unternehmensfinanzierung. DerKapitalzugang ist schwierig und dürfte durch die neuen Ba-sel-III-Vorgaben noch schwieriger werden. Die Finanzierungs-situation für die Industrie kann sich überdies zuspitzen, wenndie Verschuldungskrise in der Eurozone auch Frankreich – begründet oder unbegründet – unter Druck bringen wür-de. Momentan profitiert der französische Staat von gutenRefinanzierungsbedingungen: Die Spreads im Bereich derzehnjährigen Staatsanleihen liegen bei nur 0,67 Basispunk-ten im Vergleich zur Bundesanleihe. Das ist ein deutlicherUnterschied zu Italien (2,96) und Spanien (3,85) (vgl. Thom-son Reuters, 6. Februar 2013). Sollten die Risikoaufschlä-ge auf Anleihen steigen, dürfte dies aufgrund des engen Zu-sammenhangs in der Entwicklung von Finanzierungsbe-dingungen für Staaten und Unternehmen auch letztere stär-ker belasten.

    Frankreich hat viele international erfolgreiche Großkonzer-ne. Unter den weltweit 500 größten Firmen sind 40 franzö-sische und 39 deutsche. Große Unternehmen tragen, wiedies verschiedene Berichte darlegen, einen überproportio-nal großen Anteil zur Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirt-schaften bei. Der Wettbewerbsvorteil entsteht nicht durchGröße per se, sondern etwa durch höhere Produktivität, In-novationsfähigkeit, bessere Management- und Anreizstruk-turen sowie Finanzierungsbedingungen. In Frankreich ha-ben der Forschungsgruppe EFIGE (2011) zu Folge etwa 8%der Unternehmen mehr als 250 Beschäftigte, in Deutsch-land sind dies 11%. Die Vergleichszahlen für Spanien undItalien liegen bei rund 5%. Ihnen gegenüber hat Frankreichalso einen relativen Vorteil – doch reicht dies allein nicht. Esfehlt nach wie vor ein wettbewerbsfähiger Mittelstand. Da-bei verzeichnet Frankreich – anders als vielleicht gemeinhinangenommen – relativ viele Unternehmensneugründungen.Dass diese oftmals keine kritische Größe und internationa-le Marktpräsenz erreichen, ist ein weiteres Problem, dasder Gallois-Bericht hervorhebt.

    Im Vergleich mit Deutschland oder auch Italien sei überdiesdie unternehmerische Zusammenarbeit wenig ausgeprägt.Beziehungen mit Zulieferbetrieben seien wenig strukturiertund nicht ausreichend kooperativ. Darüber hinaus, so derBericht und die immer wieder von Unternehmensvertreterngeäußerte Kritik, belasten die Inflexibilität des Arbeitsmark-tes und der fehlende Dialog der Sozialpartner die unterneh-merische Wettbewerbsfähigkeit.

    Aufgaben für die Regierung

    Die Regierung unter Premier Jean Marc Ayrault hat auf die-se Herausforderung bereits in den ersten sechs Monaten ih-rer Amtszeit mit einer wirtschaftspolitischen Wende reagiert.Mit dem Ende 2012 geschlossenen »Pakt für Wettbewerbs-fähigkeit« soll Lohnzurückhaltung insbesondere im Dienstleis-tungssektor gefördert werden, denn hier verzeichnet Frank-reich, anderes als im produzierenden Gewerbe, eine deut-lich höhere Lohnstückkostenentwicklung als Deutschland.

    Darüber hinaus wurde Mitte Januar nach mehr als dreimo-natigen Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und drei Ge-werkschaften eine Flexibilisierung des Arbeitsrechts verein-bart. Der Kompromiss, der nun ohne größere Zwischenfäl-le in Gesetz gegossen werden dürfte, ist in der Substanzebenso wichtig wie in der Methode. Unternehmen sollen Ge-hälter und Arbeitszeiten in wirtschaftlich schwieriger Lagedeutlich reduzieren können. Entsprechende Vereinbarungensollen von Fall zu Fall auf Unternehmensebene ausgehan-delt werden. Entlassungen sollen erleichtert werden. Arbeits-verträge mit kürzerer Laufzeit werden stärker besteuert, Sub-ventionen für unbefristete Verträge für junge Arbeitnehmerwerden dafür gestrichen. Die größere Vertragsflexibilität soll

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    mit einem leichteren Zugang zur Arbeitslosigkeitsversiche-rung und Weiterbildungsmaßnahmen im Falle einer Entlas-sung kompensiert werden.

    Kooperation der Sozialpartner

    Richtungsweisend ist, dass die Vereinbarung von den Tarif-partnern ausgehandelt wurde und bislang keine Protesteprovoziert hat. Traditionell ist die Streikbereitschaft sehr hoch.Dieser Erfolg lässt erwarten, dass Präsident Hollande dieSozialpartner weiter stark einbezieht. Unter seinem Vor-gänger Nicolas Sarkozy, der sich Liberalisierungen und ei-ner Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit verschrieben hat-te, waren wichtige Reformen »an der Straße« gescheitert.Hollande gelingt hier möglicherweise ein Durchbruch.

    Zur Verbesserung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit derfranzösischen Industrie wurde Ende 2012 überdies eine Un-ternehmensteuerreform beschlossen. Die Entlastungen be-laufen sich über drei Jahre auf 20 Mrd. Euro. Unternehmenprofitieren demnach von Steuerrückerstattungen je nach-dem, wie viele Beschäftigte im unteren Einkommensseg-ment nicht mehr als das Zweieinhalbfache des gesetzli-chen Mindestlohns verdienen. Zur Gegenfinanzierung wur-de die Mehrwertsteuer erhöht und Staatsausgaben gesenkt.Unternehmensvertreter – und auch Berichterstatter Gallois– hatten allerdings eine direkte Absenkung der Lohnneben-kosten gefordert. Einer der Gründe, warum diese Idee nichtaufgenommen wurde, lag in ihrer unmittelbaren Wirksam-keit im Staatshaushalt. Die Steuerrückerstattung konnte baldnach Amtsantritt der neuen Regierung beschlossen werden,schlägt aber erst 2014 tatsächlich zu Buche. Paris kämpftdarum, seine Neuverschuldung 2013 auf die Maastricht-obergrenze von 3% des BIP zu bringen.

    Zu den weiteren großen Herausforderungen für die franzö-sische Regierung gehören daher die Reduzierung der Staats-ausgaben und die Reform des Rentensystems. Frankreichist das OECD-Land mit der höchsten Ausgabenquote. DaAusgabenkürzungen entsprechend breit in der Bevölkerunggefühlt werden und den Konsum belasten dürften, könntenschon die für das laufende Jahr beschlossenen Budget-kürzungen von 37,5 Mrd. Euro den Konsum und die Stim-mung drücken. Der Internationale Währungsfonds (2012)hat Frankreich darüber hinaus Zurückhaltung bei der Anhe-bung des gesetzlichen Mindestlohns empfohlen.

    Initiativen auf europäischer Ebene

    Wenn in Frankreich über Industrie- und Standortpolitik dis-kutiert wird, sind Initiativen auf EU-Ebene zumeist Teil der De-batte. So hat Präsident Hollande Projektbonds und eine in-tensiverer Rolle für die Europäische Investitionsbank unter-

    stützt. Kürzlich kritisierte er die Stärke des Euro, der aus Sichtvieler Franzosen überbewertet ist und die Wettbewerbsfä-higkeit unnötig belastet. Seit Einführung der Gemeinschafts-währung wird in Frankreich tendenziell offensiver über Wech-selkurspolitik diskutiert als in Deutschland, insbesonderemit Blick auf die Währungen von Konkurrenten wie China,die künstlich schwach gehalten werden und somit den Wett-bewerb verzerren. Auf Unterstützung stößt in Frankreich tra-ditionell auch die Idee, auf EU-Ebene investitionsintensive In-novations- und Industrieprojekte zu fördern. Frankreichs In-dustrie kennt Erfolge von teilweise öffentlich geförderten gro-ßen Technologieprojekten. Staatlicher Industriepolitik wird eingrößeres Potenzial zugesprochen, als in Deutschland.

    Trendumkehr möglich

    Auf nationaler und auf europäischer Ebene wird Frankreichin den kommenden Jahren viel dafür tun müssen, um sei-ne verbleibenden industriellen Stärken nicht zu verlieren. Po-tenzial liegt etwa in traditionell starken Bereichen wie Phar-ma, Luxusgüter, der Luft- und Raumfahrt oder auch derKernenergie. Die aktive, innovationsstarke Gründerszene giltes, bei ihrem Wachstum zu unterstützen und auf internatio-nalen Märkten präsent zu machen.

    Es ist gut möglich, dass Frankreich unter dem derzeitigenDruck maßgebliche und durchaus kontroverse Reformen be-schließt. Gelingt es so, die Rahmenbedingungen für einewettbewerbsfähigere Wirtschaft zu verbessern, besteht ei-ne reelle Chance, dass sich die derzeitigen Trends umkeh-ren. Dabei profitiert Frankreich von seiner guten Kommuni-kations- und Infrastruktur und einer im Vergleich preiswer-ten Energieversorgung. Die von Hollande angestrebten Re-formen des öffentlichen Sektors und Dezentralisierungsschrit-te dürften die unternehmerischen Rahmenbedingungen wei-ter verbessern. Gleichzeitig muss eine bedachte Haushalts-politik umgesetzt werden, die Konsolidierung ermöglicht, oh-ne den Konsum zu stark zu bremsen. Sollten die Immobi-lienpreise weiterhin langsam nachgeben, könnte dies denBinnenkonsum stützen und die Akzeptanz von Reformen er-höhen. Mittelfristig profitiert Frankreich auch von seiner de-mographischen Entwicklung: Die Bevölkerung nimmt zah-lenmäßig zu, während etwa die deutsche schrumpft. Wennsich Prognosen bestätigen und es 2050 ebenso viele Fran-zosen wie Deutsche gibt, wird der Erfolg der notwendigenErneuerung in Frankreich noch wichtiger sein, als es jetzt inunserem engsten Partnerland schon ist.

    Literatur

    Altomonte, A., T. Aquilante und G. Ottaviano (2012), »The Triggers of Competitiveness: The EFIGE Cross-country Report«, Bruegel Blueprint Series, 17. Juli, online verfügbar unter:http://www.bruegel.org/publications/publication-detail/view/738/.

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  • Zur Diskussion gestellt

    Barba Navaretti, G., M. Bugamelli, F. Schivardi, C. Altomonte, D. Horgosund D. Maggioni (2011), The Global Operations of European Firms – The Second EFIGE Policy Report, online verfügbar unter:http://www.bruegel.org/download/parent/581-the-global-operations-of-eu-ropean-firms-the-second-efige-policy-report/file/1441/.

    Gallois, L. (2012), »Pacte pour la compétitivité de l’industrie française«, Rapport au Premier Ministre, 5. November, online verfügbar unter:http://www.gouvernement.fr/sites/default/files/fichiers_joints/rapport_de_louis_gallois_sur_la_competitivite_0.pdf.

    Internationaler Währungsfonds (2012a), France: 2012 Article IV Consulta-tion – Concluding Statement, 29. Oktober, online verfügbar unter:http://www.imf.org/external/np/ms/2012/102912.htm.

    Internationaler Währungsfond (2012b), France: Selected Issues, 6. Dezem-ber, online verfügbar unter:http://www.imf.org/external/pubs/ft/scr/2013/cr1303.pdf.

    Schwarzer, D. und C. Jung (2012), »Der Preis der hohen Zinsen. Die hohenRefinanzierungskosten einiger Euro-Staaten belasten weit mehr als nur dieStaatshaushalte«, SWP-Aktuell 2012/A 67, November, online verfügbar un-ter: http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2012A67_jung_swd.pdf.

    Uterwedde, H. (2013), »Deutsch-französische Wirtschaftsbeziehungen: Part-ner und Konkurrenten«, Januar, Online-Dossier Frankreich, Bundeszentralefur politische Bildung, online verfügbar unter: http://www.bpb.de/internatio-nales/europa/frankreich/152436/wirtschaftsbeziehungen.

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    Wie wichtig ist die Landwirtschaft?

    Im transatlantischen Handel spielt derAgrarhandel eine untergeordnete Rolle.Etwa 5% des gesamten transatlantischenHandels entfallen auf den Agrarsektor (vgl.UN; IWF). Diese Betrachtung verschlei-ert gleichwohl das große Interesse derUSA an dem Sektor. Die USA sind einerder größten Agrarproduzenten und -ex-porteure weltweit. Auf sie entfallen 38%der weltweiten Mais- und knapp 35% derSojabohnenproduktion. Ihr Anteil an derweltweiten Produktion von Rind- undKalbfleisch, Hühner- und Putenfleisch liegtbei 20,5%, 20% beziehungsweise knapp49%. Ähnlich sieht es bei den Exportenaus. Die USA sind beispielsweise fürknapp 58% der weltweiten Maisexporteund rund 34% der Geflügelexporte ver-antwortlich (vgl. Tab. 1). Nur ein geringerAnteil dieser Exporte geht in die EU. BeiMais liegt dieser beispielsweise bei 1,8%,bei Geflügel bei 3,7%. Die USA machenhierfür unter anderem die hohen Markt-zugangsbarrieren in der EU verantwort-lich. Der bei der WTO gebundene, durch-schnittliche Zollsatz der EU auf Agrarpro-dukte liegt bei 13,8% (2012). Zum Ver-gleich: Industriegüter werden mit einemdeutlich niedrigeren Zollsatz von durch-schnittlich 5,2% belastet. Rund 40% desHandels unterliegen nach wie vor Zöllenüber 10% (vgl. WTO 2012). In einzelnenProduktkategorien liegt die Zollbelastungdeutlich über dem gesamten durch-schnittlichen Agrarzoll. Bei Tierprodukten

    liegt der Durchschnittszoll bei rund 24%,bei Milchprodukten sogar bei fast 58%. Inbeiden Produktkategorien finden sichSpitzenzölle von bis zu 140 beziehungs-weise 226%. Noch mehr als die Zölle sindden Amerikanern allerdings die zahlrei-chen nicht-tarifären Handelshemmnissewie die sanitärischen und phytosanitäri-schen Standards (SPS) ein Dorn im Au-ge. Geht es nach den USA, sollten gera-de diese rigoros abgebaut werden. Kernder Streitigkeiten ist oftmals die Anwen-dung des sogenannten Vorsorgeprinzips(Precautionary Principle) in der EU. Im Ge-gensatz zu den USA basieren Regulierun-gen und Standards in der EU nicht nur aufeiner wissenschaftlich fundierten Risiko-analyse, sondern beziehen auch poten-zielle Bedrohungen für Gesundheit undUmwelt mit ein. In der Folge kommt eshäufiger zu Zulassungs- und Importver-boten. Bereits 2009 wäre der Transatlan-tische Wirtschaftsrat (TEC) fast am Geflü-gelstreitfall auseinandergebrochen.

    60 Nahrungsmittel- und Agrarorganisatio-nen hatten US-Präsident Barack Obamaim vergangenen Jahr aufgefordert, die Ver-handlungen nur unter der Bedingung auf-zunehmen, dass der Agrarhandel Teil ei-nes Abkommens wird (vgl. National HogFarmer 2012). Die Landwirtschaft ist eine

    zu einem transatlantischen Handelsabkommen

    Stormy-Annika Mildner* und Claudia Schmucker**

    It’s Agriculture, Stupid! Stolpersteine auf dem Weg

    Ein EU-US-Freihandelsabkommen ist seit Jahren überfällig. Das durchschnittliche Zollniveau im

    transatlantischen Handel ist zwar bereits sehr niedrig, doch würde der Abbau der noch verbliebe-

    nen Zölle und zahlreichen nicht-tarifären Handelshemmnisse Handel und Investitionen ankurbeln

    und den beiden wachstumsschwachen Regionen einen ordentlichen Wachstumsimpuls bringen.

    Anfang Februar 2013 wird die US-EU High Level Group on Growth and Jobs höchstwahrscheinlich

    die Aufnahme von Verhandlungen empfehlen. Bis dann aber tatsächlich verhandelt wird, sind

    noch einige Stolpersteine zu überwinden. Diese finden sich vor allem in der Landwirtschaft. Die

    USA fordern von der EU, dass sie die Ernsthaftigkeit ihres Interesses an einem Abkommen unter

    Beweis stellt, indem sie einige der seit Jahren anhängigen Agrarstreitfälle löst. Dazu gehören die

    Dispute um mit Milchsäure behandeltes Rindfleisch sowie Exportrestriktionen bei lebenden Schwei-

    nen und agrarischen Vorprodukten wie Talg. Will die EU ein transatlantisches Handelsabkommen,

    wird sie nicht umhinkommen, bei einigen dieser Streitigkeiten größere Kompromissbereitschaft

    als in der Vergangenheit zu zeigen.

    * Dr. Stormy-Annika Mildner ist Mitglied der Insti-tutsleitung der Stiftung Wissenschaft und Politik(SWP).

    ** Dr. Claudia Schmucker leitet das Programm fürGlobalisierung und Weltwirtschaft der DeutschenGesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).

  • Kommentar

    der stärksten Interessensgruppen in den USA. 4,3 Mill. Dol-lar gab allein das American Farm Bureau (ein Zusammen-schluss von Landwirten aus den ganzen USA) im Wahljahr2012 für ihr Lobbying aus (vgl. Open Secret.org Center forResponsive Politics 2013a). Laut Open Secrets.org betrugdie Summe der gesamten Lobbyaktivitäten von Agrarunter-nehmen im selben Jahr knapp 96 Mill. Dollar. Damit lieg dasAgri business auf Platz 9 unter den zehn aktivsten Interessen-verbänden in den USA gemessen an den Ausgaben (vgl.Open Secret.org Center for Responsive Politics 2013b). Ih-ren Forderungen wird sich die Obama-Administration nichtverschließen können. Überlegungen, den Agrarsektor ausden Verhandlungen auszunehmen, sind somit wenig ziel-führend. Ganz im Gegenteil sehen die USA die Lösung derteils jahrzehntealten Handelskonflikte als Test dafür, wie ernstes den Europäern tatsächlich mit einem transatlantischenHandelsabkommen ist. Besonders bei Regelungen zum Um-gang mit Milchsäure, Talg und lebenden Schweinen habensie ein Entgegenkommen erwartet. Auch der Streitfall übergentechnisch veränderte Nahrungsmittel (GMOs) wird immerwieder genannt.

    Die EU zeigt Kompromissbereitschaft

    Milchsäurekonflikt: In den letzten Monaten rückte der Kon-flikt um mit Milchsäure behandeltes Rindfleisch immer stär-ker in die Diskussion zwischen der EU und den USA. In denUSA ist es üblich, zur mikrobiologischen Oberflächenreini-gung von Rinderschlachtkörpern Milchsäure einzusetzen. In-nerhalb der EU darf für diesen Prozess hingegen kein ande-rer Stoff als Wasser verwendet werden. Die EU untersagt da-her bislang den Import von mit Milchsäure behandeltem Rind-

    fleisch. Das US-Landwirtschaftsministerium (USDA) bean-tragte Ende 2010 bei der EU eine Zulassung des genanntenVerfahrens. Seit 2009 besteht zwar ein bilaterales »Memo-randum of Understanding« zwischen den USA und der EUüber den Rindfleischhandel. Dieses gewährt US-Produzen-ten einen gewissen zollfreien Marktzugang für hochqualita-tives, nicht mit Hormonen behandeltes Rindfleisch. Im Früh-jahr 2012 erhöhte die EU zudem die Importquote (vgl. USTR2012, 43; Reilhac 2012; Bray 2012). Dies sorgte zwar fürEntspannung in dem seit 20 Jahren währenden Disput überhormonbehandeltes Rindfleisch. Solange die Milchsäurebe-handlung in der EU allerdings nicht zugelassen ist, nutzt diesden USA jedoch wenig. Die Europäische Behörde für Le-bensmittelsicherheit (EFSA) kam 2011 zu dem Schluss, dassdas Verfahren unschädlich sei (vgl. USTR 2012, 43). Auchdie EU-Kommission und der zuständige EU-Gesundheits-kommissar Tonio Borg haben keine Bedenken. Einige Mit-gliedstaaten, darunter vor allem Frankreich, lehnen die Zu-lassung jedoch weiterhin ab und fordern zumindest eine deut-liche Kennzeichnung. Kritiker der Zulassung monieren, dassder Nutzen des Einsatzes von Milchsäure nicht eindeutig er-wiesen sei, während negative Auswirkungen nicht ausge-schlossen werden könnten (vgl. Agrarisches Informations-zentrum 2012). Angesichts der wissenschaftlichen Befundespricht allerdings wenig gegen eine Zulassung. Das Euro-päische Parlament stimmte entsprechend im Dezember 2012für die Zulassung des Verfahrens. Dieses wird in nächster Zeitwahrscheinlich auch von der Kommission genehmigt wer-den (vgl. Beattie 2013; Mileham 2012). Damit kommt dieEU den USA deutlich entgegen.

    Importe von lebenden Schweinen: Die USA forderten dieEU zusätzlich auf, bei Importen von Huftieren wie leben-

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    Tab. 1 Agrarproduktion und Handel der USA

    Produkt Produzierte Menge

    2010/2011*, in Mill. Tonnen

    Anteil an der Weltpro-duktion,

    in %

    Exportierte Menge

    2010/2011 (Okt.–Sept.),

    in Mill. Tonnen

    Anteil an den weltweiten Exporten,

    in %

    Anteil an den Weltexporten

    2010 oder 2011, in %

    Anteil EU 27 an den Ex-porten der

    USA, 2011, in %

    Mais 316,17 38,0 45,244 49,2 57,8 1,8 Sojabohnen 90,61 34,4 40,849 44,8 38,5 4,6 Weizen 60,1 9,2 35,977 26,9 22,3 2,5 Sorghum 8,78 14,1 3,827 57,8 Reis 7,6 1,7 3,247 9,0 11,5 2,4 Produzierte

    Menge 2012, in Tausend

    Tonnen

    Anteil an der Weltpro-duktion,

    in %

    Exportierte Menge 2012, in Tausend

    Tonnen

    Anteil an den weltweiten Exporten,

    in %

    Rind- und Kalbfleisch 11 709 20,5 1 124 13,5 9,9 3,1 Schweinefleisch 10 575 10,1 2 425 33,5 12,5 0,4 Hühnerfleisch 16 476 20,0 3 211 32,6 Putenfleisch 2 675 48,7 336 50,4 Geflügelfleisch 24,3 3,7 * Trade Year, jeweils Oktober bis September.

    Quelle: Spalte 1–4: USDA; U.S. Census; Spalte 5–6: UNComtrade.

  • Kommentar

    den Schweinen größere Kompromissbereitschaft zu zei-gen. Dieses Thema wurde als weitere Voraussetzung fürden Beginn von Verhandlungen seitens der USA gewer-tet. Gemäß EU-Verordnung Nr. 206/2010 dürfen Huftierewie Schweine nur dann in die EU importiert werden, wennsie mindestens sechs Monate vor dem Transport keine Ve-sikulärstomatitis aufweisen. Dies ist eine Viruserkrankung,die vor allem in den USA immer wieder in begrenztemUmfang auftritt und Ähnlichkeiten mit der Maul- und Klau-enseuche aufweist. Diese EU-Bestimmung gilt auf derGrundlage von Ländern oder Regionen. Auf Druck der USAverabschiedete der »Ständige EU-Ausschuss für die Le-bensmittelkette und Tiergesundheit« im Dezember eineneue Verordnung, die vorsieht, dass der Krankheitsstatusder Huftiere in einem neuen Testverfahren bestimmt wird.Die USA hatten sich für diese Methode als Alternative zumRegionalisierungsansatz ausgesprochen. Somit ist die EUden USA bereits in zwei SPS-Fällen entgegengekommen(vgl. Inside US Trade 2012).

    Mehr Kompromissbereitschaft gefordert

    Agrarische Vorprodukte: Bei einem dritten Konflikte erhoffensich die USA ein ähnliches Entgegenkommen wie bei Milch-säure und lebenden Schweinen. Dies betrifft tierische Vor-produkte wie Talg, die unter anderem als Rohstoff für Biokraft-stoffe verwendet werden können (vgl. Beattie 2013; Inside USTrade 2012). Zum Schutz von BSE regulieren verschiedeneEU-Verordnungen seit 2002 tierische Nebenprodukte, die nichtfür den menschlichen Konsum bestimmt sind. Im Zuge die-ser Verordnungen stoppte die EU den Import verschiedeneragrarischer Vorprodukte wie Rindertalg, welche zuvor in gro-ßen Mengen aus den USA importiert worden waren. Die neu-este Verordnung von 2011 (EU 142/2011) (vgl. EuropäischeKommission 2011) erlaubt eine begrenzte Einfuhr von Talgaus den USA; die amerikanische Industrie empfindet die dortenthaltenen Vorschriften jedoch als übermäßige Belastung.Vor allem gelten weiterhin Importrestriktionen für zahlreicheProdukte, die Talg enthalten, welche die Weltorganisation fürTiergesundheit als nicht BSE-gefährdet eingestuft hat. Dazugehört auch Talg für die Biokraftstoffproduktion. Die EU ist ge-rade dabei, die Verordnung zu überarbeiten. Aber der Entwurfenthält weiterhin einige Passagen, die für die USA nicht ak-zeptabel sind und die dazu dienen, Talg aus Angst vor BSEaus der Nahrungsmittelversorgung fernzuhalten (vgl. USTR2012, 46; Beattie 2013). Da diesem Konflikt eine unterschied-liche Risikoeinschätzung bezüglich der tierischen Vorproduk-te zugrunde liegt, ist er nur schwer zu lösen. Daher ist eineschnelle Annäherung hier nicht möglich.

    Unrealistische Forderungen

    Dauerbrenner GMOs: Das wohl umstrittenste Thema inder Agrarpolitik zwischen den USA und der EU ist der eu-

    ropäische Zulassungsprozess für GMOs. Dieser Konfliktwird in den USA oft als Sinnbild für die protektionisti-sche Agrarpolitik der EU gesehen. GMOs unterliegen inder EU einem langwierigen Zulassungsprozess, da sieaufgrund möglicher Risiken für Umwelt und Gesundheitstark umstritten sind: Zunächst fertigt die EFSA ein Gut-achten an; im zweiten Schritt verhandeln Kommission undMitgliedstaaten über die Zulassung. Die USA kritisieren,dass das Verfahren zu viel Zeit in Anspruch nimmt unddass die Verbote nicht auf wissenschaftlichen Grundla-gen beruhen. Durch die Importrestriktionen der EU ent-gehen den USA nicht nur ein großer Markt, sondern siebefürchten auch, dass andere Länder dem Beispiel derEU folgen und ihrerseits strenge Regeln und Verbote fürGMOs erlassen könnten (vgl. USTR 2012, 41). Im Mai2003 beantragten die USA daher zusammen mit Kana-da und Argentinien – die drei größten Produzenten vonGMOs – ein Streitschlichtungsverfahren bei der WTO (vgl.WTO 2010; Europäische Kommission 2010). Die WTOentschied im Herbst 2006 zugunsten der USA. Trotz-dem läuft die Zulassung bis heute noch immer extremschleppend. 2010 wurde nach 13-jähriger Prüfung dieBASF-Kartoffel Amflora zugelassen. Doch selbst zuge-lassene Pflanzen können unter Berufung auf eine Schutz-klausel weiterhin in einzelnen Mitgliedstaaten verbotenwerden. So sind Verbote für verschiedene Arten von Gen-mais in Österreich, Frankreich, Deutschland, Griechen-land und Luxemburg in Kraft (vgl. USTR 2012, 47 ff.;Frankfurter Allgemeine Zeitung 2010; 2011a; 2011b). Derseit Jahren schwelende Konflikt um GMOs wird aufgrundschwerwiegender Bedenken in der EU auch im Rahmendes Freihandelsabkommens nicht zu lösen sein. Die USAsollten daher realistisch sein und diesen Bereich aus denVerhandlungen ausklammern.

    Agrardispute sollte Verhandlungen nicht scheitern lassen

    Im Oktober 2012 sprach sich das Europäische Parlamentfür die Aufnahme von Verhandlungen über ein transatlanti-sches Freihandelsabkommen im ersten Halbjahr 2013 aus.Obwohl das Parlament die Initiative unterstützt, hat es be-reits einige rote Linien gezogen, die dabei nicht überschrit-ten werden sollten. Dazu gehören Standards zum Schutzder Umwelt sowie zum Schutz von Gesundheit und Tieren,Nahrungsmittelsicherheit, kulturelle Vielfalt, Arbeitsrechte,Konsumentenschutz, Finanzdienstleistungen und öffentli-che Dienstleistungen. Das Parlament betonte, dass beson-dere Interessen und Sensibilitäten beider Partner in einerausgeglichenen Weise geschützt werden müssten. Wenndem Parlament tatsächlich an einem transatlantischen Frei-handelsabkommen gelegen ist, dann wird die EU allerdingseinige dieser roten Linien überschreiten müssen. Dazu ge-hört die Landwirtschaft.

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  • Kommentar

    Grundsätzlich lassen sich Agrarstreitigkeiten über gesund-heitliche, pflanzen- und tierschutzrechtliche Importbe-schränkungen nur schwer lösen. Denn bei ihnen treffenoftmals unterschiedliche Risikopräferenzen und Regulie-rungsphilosophien der transatlantischen Partner aufeinan-der. Gerade im Hinblick auf Standards verstärkt das man-gelnde Vertrauen in die Absichten der Handelspartner dasKonfliktpotenzial: Während die EU etwa beim Verbot derEinfuhr chlorbehandelten Geflügelfleischs auf den Kon-sumentenschutz verweist, vermuten die USA darin die ver-steckte Absicht, den heimischen Agrarsektor zu schützen.Doch nicht alle Agrarstreitigkeiten sind unlösbar, wie manbei den Konflikten um Milchsäurebehandlung von Rind-fleisch und lebenden Schweinen sehen kann. Auch die Lö-sung des Konflikts um agrarische Vorprodukte ist in greif-barer Nähe. Hier sollte sich die EU einen Ruck geben undauch im diesem Fall noch mehr Kompromissbereitschaftzeigen.

    Ein transatlantisches Freihandelsabkommen verspricht er-hebliche positive Wachstumseffekte für die EU und die USA,die gerade angesichts der schwachen Wachstumsaussich-ten für die kommenden Jahre nicht ungenutzt bleiben soll-ten. Die EU sollte diese Chance nicht durch eine unnötigstarre Haltung bei Agrarthemen riskieren. Im Gegenzug müs-sen die USA realistisch sein und dürfen keine Lösung beiKonflikten wie GMOs erwarten, auch wenn das Importver-bot wissenschaftlich nicht begründbar ist.

    Literatur

    Agrarisches Informationszentrum (2012), »EU-Agrarminister debattieren Ein-zelheiten der GAP-Reform«, 27. November, online verfügbar unter:http://www.aiz.info/?id=2500%2C%2C%2C2028%2C%2C%2C%2CY2lkPTEwOTkxNzI%3D.

    Beattie, A. (2013), »Transatlantic Trade Talks Near Lift-off«, Financial Times,7. Januar, online verfügbar unter: http://www.ft.com/intl/cms/s/0/089ee39656bd-11e2-aad0-00144feab49a.html#axzz2IEIGDssn, aufgerufen am 17. Ja-nuar 2013.

    Bray, E. (2012), »Transatlantic Hormone Beef Trade War Ends«, Europolitics,26. April, online verfügbar unter: http://www.europolitics.info/transatlantic-hormone-beef-trade-war-ends-art332735-10.html, aufgerufen am 15. Januar 2013.

    Europäische Kommission (2010), WT/DS291 – Measures Affecting the Ap-proval and Marketing of Biotech Products, (GMOs), online verfügbar unter:http://trade.ec.europa.eu/wtodispute/show.cfm?id=188&code=2, aufgeru-fen am 31. März 2010.

    Europäische Kommission (2011), Commission Regulation (EU) No. 142/2011,25. Februar, online verfügbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2011:054:0001:0254:EN:PDF, aufgerufen am 14. Ja-nuar 2013.

    Frankfurter Allgemeine Zeitung (2010), »EU erlaubt Anbau der BASF-Kartof-fel«, 3. März, 10.

    Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011a), »EU-Parlament für gentechnikfreieRegionen«, 6. Juli, 9.

    Frankfurter Allgemeine Zeitung (2011b), »EU will gentechnikfreie Regionenerlauben«, 14. Februar, 11.

    Inside US Trade (2012), »EU Approves Live Hog Regulation, Meeting USDemand Linked to HLWG«, 14. Dezember, online verfügbar unter: http://wtonewsstand.com/index.php?option=com_sphinxsearch&view=basic&q=pig&x=0&y=0&Itemid=445, aufgerufen am 18. Januar 2013.

    IWF, Direction of Trade Statistics, online verfügbar unter: http://www.imf.org/external/data.htm, aufgerufen am 18. Januar 2013.

    Mileham, A. (2012), »EU Decision on Lactic Acid Use Welcomed«, GlobalMeat News, 6. Dezember, online verfügbar unter: http://www.globalmeatnews.com/Industry-Markets/EU-decision-on-lactic-acid-use-welcomed, auf-gerufen am 17. Januar 2013.

    National Hog Farmer (2012), »US Trade Deal with EU Must Include Agricul-ture«, 26. November, online verfügbar unter: http://nationalhogfarmer.com/business/us-trade-deal-eu-must-inlcude-agriculture, aufgerufen am14. Januar 2013.

    Open Secret.org Center for Responsive Politics (2013a), »American Farm Bu-reau«, online verfügbar unter: http://www.opensecrets.org/lobby/clientsum.php?id=D000021832, aufgerufen am 16. Januar 2013.

    Open Secret.org Center for Responsive Politics (2013b), »Ranked Sectors«,online verfügbar unter: http://www.opensecrets.org/lobby/top.php?showYear=2012&indexType=c, aufgerufen am 16. Januar 2013.

    Reilhac, G. (2012), »Vote Ends EU-US Hormone-treated Beef Row«, Reu-ters, 14. März.

    UN Comtrade (United Nations Commodity Trade) Statistics Database, on-line verfügbar unter: http://comtrade.un.org, aufgerufen am 18. Januar 2013.

    U.S. Census, The 2012 Statistical Abstract, Agriculture, online verfügbarunter: http://www.census.gov/compendia/statab/cats/agriculture.html, auf-gerufen am 9. Januar 2012.

    USDA, Foreign Agricultural Service: Production, Supply and DistributionOnline, online verfügbar unter: http://www.fas.usda.gov/psdonline/psdHome.aspx, aufgerufen am 9. Januar 2012.

    USTR (2012), 2012 Report on Sanitary and Phytosanitary Measures (SPSReport), März, online verfügbar unter: http://www.ustr.gov/webfm_send/3324,aufgerufen am 9. Januar 2013.WTO (2010), »European Communities — Measures Affecting the Approvaland Marketing of Biotech Products«, online verfügbar unter: http://www.wto.org/english/tratop_e/dispu_e/cases_e/ds291_e.htm, aufgerufen am 31. März2010.

    WTO (2012), »Tariffs and Imports: Summary and Duty Ranges«, online verfüg-bar unter: http://stat.wto.org/TariffProfile/WSDBTariffPFView.aspx?Language=E&Country=E27, aufgerufen am 15. Januar 2013.

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  • i fo Schne l ld ienst 3/2013 – 66. Jahrgang – 14. Februar 2013

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    Die moderne Wachstumsforschung er-achtet die Produktion von Wissen alszent ralen Treiber langfristigen Wirtschafts-wachstums. Neues Wissen ermöglichtkontinuierlich technologische und organi-satorische Verbesserungen, die eineVolkswirtschaft dauerhaft auf einen höhe-ren Wachstumspfad heben. Die Wissens-produktion ist typischerweise humanka-pitalintensiv, d.h. es sind vornehmlichHochqualifizierte, die neues Wissen ge-nerieren und dabei auf dem bestehendenWissensstand aufbauen. Dieser letzteSachverhalt wird auch häufig mit der Re-dewendung Standing on shoulders of gi-ants beschrieben. Das unterstreicht dieherausragende Bedeutung sogenannterWissens-Spillovers, d.h. vom bestehen-den Wissen profitieren nicht nur derengeistige Eigentümer, sondern es könnenauch andere bei der Generierung neuenWissens auf das bestehende Wissen auf-bauen.

    Der Wissensstand ist teilweise kodifiziert(z.B. in Patentschriften oder wissenschaft-lichen Aufsätzen), und mit modernenKommunikationstechnologien kann qua-si ohne Zeitverzögerung von überall aufder Welt darauf zugegriffen werden. Teiledes Wissensstands sind aber nicht kodi-fiziert bzw. kodifizierbar und nur in denKöpfen von (hochqualifizierten) Menschenvorhanden. Dieses Wissen wird typischer-weise in persönlichen Interaktionen wei-tergegeben. Je wichtiger nicht kodifizier-

    tes Wissen ist, desto bedeutsamer wirddaher die regionale Dimension, dennräum liche Nähe erleichtert die Interak ti-on zwischen Menschen.

    Vorteile von Agglomerationen in der wis-sensbasierten Gesellschaft bestehen da-mit nicht nur aus Transportkostenerspar-nissen aufgrund kurzer Transportwegeentlang der Zulieferkette sondern insbe-sondere aus produktiven, räumlich be-grenzten Wissensflüssen. Räumliche be-grenzte Wissens-Spillovers werden ty-pischerweise auch zur normativen Recht-fertigung von moderner Clusterpolitik he-rangezogen. Clusterpolitik hat das Ziel,Unternehmen mit Zulieferern, Abneh-mern, Konkurrenten oder Forschungs-einrichtungen regional zu vernetzen, umdadurch u.a. die Innovationsfähigkeit vonUnternehmen und regionales Wachstumzu fördern. Clusterpolitik erfreut sich gro-ßer Beliebtheit bei Politikern, die hoffen,durch kostengünstige Maßnahmen zurNetzwerkbildung sowie die Förderungweicher Standortfaktoren Silicon Valleyan einem beliebigen Standort imitieren zukönnen. Die Wirksamkeit solcher Clus-terpolitik wird unter Ökonomen allerdingskritisch diskutiert und sogar als realitäts-fernes California Dreamin’ bezeichnet(vgl. Duranton 2011).

    Wie lassen sich Agglomerations-vorteile messen?

    Gehen wir zunächst von einem einfachenproduktionstechnischen Zusammenhangaus: Güter und Dienstleistungen in einerRegion werden mit dem in der Regionverfügbaren Kapital sowie Arbeit produ-

    Empirische Evidenz für deutsche Gemeinden

    Oliver Falck, Stephan Heblich und Anne Otto*

    Agglomerationsvorteile in der Wissensgesellschaft:

    In der Wissensgesellschaft haben sich Ideen für neue Produkte und Dienstleistungen zum ent-

    scheidenden Produktionsfaktor entwickelt. Wissen entspringt den Köpfen kreativer Arbeitskräfte,

    und es vermehrt sich rasch im Austausch mit anderen klugen Köpfen. Sind Ansammlungen von

    hochqualifizierten Arbeitskräften in einer Region somit ein Garant für Wachstum? Eine Politik zur

    Förderung regionaler Entwicklung unterstellt oftmals diesen Zusammenhang und fördert die An-

    siedlung und Vernetzung wissensintensiver Branchen und Unternehmen. Die hier gezeigte empi-

    rische Evidenz legt allerdings nahe, dass solche Agglomerationsvorteile nicht überall wirken. Der

    Erfolg einer solchen Cluster- und Netzwerkpolitik hängt maßgeblich von der Wirkungskraft der re-

    gionalen Agglomerationskräfte ab und ist somit nicht garantiert.

    * Oliver Falck ist ifo-Professor für Empirische Inno-vationsökonomik an der Ludwig-Maximilians-Uni-versität München; Stephan Heblich ist Reader ander University of Stirling, Schottland; Anne Otto istwissenschaftliche Mitarbeiterin in der Regionalein-heit Rheinland-Pfalz-Saarland des Regionalen For-schungsnetzes des IAB.

  • Forschungsergebnisse

    ziert. Arbeit unterteilt sich dabei in unterschiedliche Quali-fikationen. Arbeitskräfte und Unternehmen sind regionalmobil. Es herrscht vollständiger Wettbewerb, so dass dieInputfaktoren nach ihrer jeweiligen Produktivität entlohntwerden. Der Lohn steigt demnach mit der Produktivitätder Arbeitskraft. Jede zusätzlich eingesetzte Einheit einesInputfaktors ist darüber hinaus typischerweise weniger pro-duktiv als die bisher eingesetzten Einheiten. Im Kontextder hochqualifizierten Beschäftigten würde das beispiels-weise bedeuteten, dass mit steigender Anzahl hochquali-fizierter Beschäftigter in einer Region das lokale Lohnniveaufür Hochqualifizierte fällt.

    Unterstellen wir dagegen produktive lokale Wissens-Spillo-vers zwischen den hochqualifizierten Beschäftigten, wirddieser negative Zusammenhang zwischen der Anzahl anhochqualifizierten Beschäftigten in einer Region und dem lo-kalen Lohnniveau für Hochqualifizierte umgedreht. Mit ei-ner zunehmenden Anzahl hochqualifizierter Beschäftigterin einer Region steigt deren Produktivität und damit auchihr Lohn. Eine positive Korrelation zwischen dem Anteil hoch-qualifizierter Beschäftigter in einer Region und dem regiona-len Lohnniveau der Hochqualifizierten ist demnach als Indizfür produktive Wissens-Spillovers und damit Agglomerati-onsvorteile zu werten.

    Die positive Korrelation zwischen dem Anteil hochqualifi-zierter Beschäftigter in einer Region und dem regionalenLohnniveau der Hochqualifizierten kann aber auch dasErgebnis unbeobachtbarer und somit unberücksichtigterSelektionseffekte sein (für einen Überblick vgl. Combes,Duranton und Gobillion 2011). Selektieren sich beispiels-weise Hochqualifizierte mit besonderen, für den Forscherunbeobachtbaren Fähigkeiten (z.B. eine besondere Fach-sprache (vgl. Lissoni 2001)) in Regionen, in denen dieseFähigkeiten besonders entlohnt werden, so führt diese Se-lektion zu einem höheren Anteil an hochqualifizierten Be-schäftigten in diesen Regionen. Gleichzeitig beeinflusst dieEntlohnung unbeobachtbarer Fähigkeiten das lokale Lohn-niveau für Hochqualifizierte, ohne dass dafür zwangsläu-fig Wissens-Spillovers zwischen den Hochqualifizierten vor-liegen müssen.

    Eine negative Korrelation zwischen dem Anteil hochqualifi-zierter Beschäftigter und dem Lohnniveau der Hochqualifi-zierten in einem Querschnitt von Regionen, ist darüber hin -aus nicht zwangsläufig ein Indiz für fehlende Agglomera -tionsvorteile. Beispielsweise können Faktoren wie die Nähezu Naherholungsgebieten oder eine abwechslungsreichekulturelle Szene, die die Lebensqualität in einer Region er-höhen, Hochqualifizierte anziehen (vgl. Falck, Fritsch undHeblich 2011). Diese sind bereit, in Gebieten mit vielen kon-sumtiven Annehmlichkeiten auf Lohn zu verzichten. Agglo-merationsvorteile in Form von lokalen Wissens-Spilloverswürden in diesem Fall die negative Korrelation zwischen dem

    Anteil der hochqualifizierten Beschäftigten in einer Regionund dem regionalen Lohnniveau für Hochqualifizierte mög-licherweise nur abschwächen, aber nicht zu einem positi-ven Zusammenhang führen.

    Schließlich ist noch die Frage zu beantworten, ob Nominal-löhne die geeignete Betrachtungsgröße sind. Sollte mannicht vielmehr auf Reallöhne, die um die lokalen Lebenshal-tungskosten korrigiert sind, abstellen? Möglicherweise sindin Regionen mit einem hohen Anteil an Hochqualifiziertenauch die Lebenshaltungskosten (insbesondere die Mieten)hoch. Dennoch sind Nominallöhne eine geeignete Betrach-tungsgröße, weil höhere Nominallöhne eine höhere Pro-duktivität der Mitarbeiter widerspiegeln. Wären Arbeitskräf-te nicht produktiver, würden mobile Unternehmen, die han-delbare Güter produzieren, in Regionen mit niedrigeren Löh-nen abwandern (vgl. Moretti 2004).

    Deskriptive Befunde für deutsche Gemeinden

    Über die Bedeutsamkeit von Agglomerationskräften wird inder Literatur viel diskutiert (für einen Überblick vgl. Moretti2012). In diesem Abschnitt begeben wir uns daher auf diesystematische Suche nach Agglomerationskräften in deut-schen Gemeinden. Dazu bestimmen wir für verschiedeneGemeindetypen die Korrelation zwischen dem Anteil hoch-qualifizierter Beschäftigter und dem lokalen Lohnniveau derHochqualifizierten. Wie oben ausgeführt, ist eine positiveKorrelation zwischen dem Beschäftigtenanteil der Hochqua-lifizierten und dem lokalen Lohnniveau der hochqualifizier-ten Beschäftigten ein Indiz für Agglomerationsvorteile in Formvon lokalen Wissens-Spillovers.

    Wir nutzen Daten aus der Beschäftigtenhistorik (BeH) desInstituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die In-formationen über Lohn, Qualifikation, Arbeitsort sowie wei-tere beschäftigungsrelevante Hintergrundinformationen al-ler sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Deutsch-land enthält.

    Wir verwenden die Jahresscheiben 1992 bis 2008 (jeweilsStichtag: 30. Juni) und schätzen zunächst individuelle Lohn-gleichungen der hochqualifizierten Beschäftigten für die ein-zelnen Jahre. In die Schätzungen fließen Informationen vonrund 2 Mill. sozialversicherungspflichtig beschäftigten Hoch-qualifizierten pro Jahr ein. Wir definieren Hochqualifizierte alsBeschäftigte mit Universitäts- oder Fachhochschulabschluss.Diese Lohngleichungen enthalten neben den beschäfti-gungsrelevanten Hintergrundinformationen Arbeitsort-Dum-mies für die mehr als 12 000 deutschen Gemeinden. Diesespiegeln Lohnunterschiede zwischen den deutschen Ge-meinden wider, die nicht auf die beobachtbaren Unterschie-de in der Zusammensetzung der lokalen Arbeitnehmerschaft

    i fo Schne l ld ienst 3/2013 – 66. Jahrgang – 14. Februar 2013

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  • Forschungsergebnisse

    zurückzuführen sind. Für ein gegebenes Jahr sehen dieseSchätzungen wie folgt aus:

    In der Gleichung bezeichnet l den Tageslohn eines hochqua-lifizierten (Vollzeit-)Beschäftigten i in Gemeinde g. αg sind Ar-beitsort-Dummies für alle deutschen Gemeinden. Die Ma-trix Xig enthält fast alle verfügbaren beschäftigungsrelevan-ten individuellen Hintergrundinformationen (u.a. Geschlecht,Nationalität, Arbeitserfahrung, Alter, Wirtschaftszweig desBetriebes). εig ist ein normalverteilter Störterm.

    Wir unterscheiden in unseren Analysen 17 verschiedenesiedlungsstrukturelle Gemeindetypen (vgl. BBSR 2011). AchtGemeindetypen liegen dabei in Agglomerationsräumen, wei-tere fünf Gemeindetypen liegen in verstädterten Räumenund vier Gemeindetypen liegen in ländlichen Räumen.

    Abbildung 1 zeigt exemplarisch für die 34 Kernstädte inverstädterten Räumen1 die Korrelation zwischen den Ar-beitsort-Dummies αg, d.h. einem Maß für das lokale Lohn-niveau für Hochqualifizierte, und