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    BEITRAG ZUR PHANOMENOLOGISCHEN THEORIEDERWAHRNEHMUNG*)

    Von Aron G u r w i t s c h, New York (z. Z. K6ln)

    Fiir die phanomenologische Theorie der Wahrnehmung ist der Begriff der Wahrnehmungsabschattung von so zentraler Bedeutung, daBjede Erorterung wahrnehmungsphanomenologischer Fragen von ihmihren Ausgang nehmen muB.Die Lehre von der Wahrnehmungsabschattung griindet sich auf dipoff ensichtliche Tatsache, daB eine jede Wahrnehmung eines Dinges voneinem ganz bestimmten Standpunkt aus und unter gewissen Umstanden und Bedingungen erfolgt. Das wahrgenommene Ding ist von dieser oder jener Seite her gesehen, es erscheint unter dem Aspekt, derdem vom wahrnehmenden Subjekt gerade eingenominenen Standpunktentspricht. Ferner bietet das Ding sich dar in einer gewissen Orientierung relativ zum Beobachter und seinem Standpunkt als nah oderfern, als im Zentrum des Gesichtsfelds oder mehr an dessen Peripheriegelegen, usw. SchlieBlich ist die Erscheinungsweise des wahrgenom

    menen Dinges eine andere, je nach dem es bei hellem Tageslicht oderin der Abendddmmerung, bei Nebel und dgl. gesehen wird. Da's Gesagte beschrankt sich keineswegs auf visuelle Wahrnehmungen allein.

    Auch der lang angehaltene Ton eines Sangers oder der Ton, der ausdem Radio kommt, klingt anders, je nach dem wir uns im gleichenRaum wie die Tonquelle befinden oder aus dem Nebenzimmer durcheine verschlossene Tur zuhoren. Dabei ist die fiir unseren Zweck wesentliche und prinzipiell wenigstens erlaubte Annahme gemacht, idaB

    wahrend der ganzen Zeit keline objektive Veranderung des Tonesstattfindet: es ist derselbe Ton, der die ganze Zeit erklingt, nur hbrter- -derselbe - sich je nach den Umstanden verschieden an.

    Mit dem Vor,stehenden ist auf die Ein;seitigkeit jeder einzelnenWahrnehmung hingewiesen, die darin besteht, daB in ihr das wahrgenommene Ding sich in einer ganz bestimmten Abschattung, Erscheinungs- und Darstellungsweise prasentiert - in einer unter vielen m6glichen. Wenn wir eingangs von dieser Einseitigkeit als einer Tatsachegeisprochen haben, so ist diese aber nicht als ,,bloBe Tatsache" im Sinneder Zufalligkeit zu verstehen, die vielleicht von der Unvollkommenheitder menschlichen geistigen und sinnlichen Organisation herruihrt, soals ob bei besserer oder h6herer Organisation sich die Dinge anders*) In memoriam Alfred Sch?tz

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    420 ARON GURWITSCHverhalten konntent). Vielmehr gehort nach Husserl diese Einseitigkeitwesentlich und notwendig zu je,der einzelnen Wahrnehmung elinesRaumdinges und eines im Raume stattfindenden Ereignisses (z. B. ideserklingenden Tones)2). Die Vorstellung, daB eine Wahrnehmung aufkeinen Standpunkt bezogen wdre, daB in ihr das wahrgenommeneDing sich in keiner perspektivischen Abschattung darstelIte oder inallen moglichen Abschattungen zugleich, sogar auch nur in einer Mehrheit m6glicher Abschattungen mit einem Male - die Vorstellung einersolchen Einzelwahrnehmung ist unvollz.iehbar und stellt sich damit alsabsurd heraus. Wann immer an einer beliebig herausgegriffenen Einzelwahrnehmung diese Einseitigkeit festgestellt wird, muB dieses konstatierte Faktum als Beispiel oder Spezialfall einer allgemeinen Gesetzlichkeit, als Bekundung einer eidetischen Notwendigkeit verstanden

    werden. Ferner ist zu betonen, daB 'die in Rede stehende Einseitigkeit,selbst wenn ihrer eidetischen Notwendigkeit Rechnung getragen ist,nicht von einem Standpunkt aufferhailb oder oberhalb der betr. Einzelwahrnehmung festgestellt wird. Es i;st nicht so, als ob ein Beobachter,der nicht so sehr in der Wahrnehmung lebt, als sie zum Themia seinerStudien macht, an ihr die Einseitigkeit als ei'detisch notwendig entdeckt. Ein solcher Beobachter konnte das wahrnehmende Subjekt selbersein, wofern es sich uber seine eigenen Wahrnehmungen stellt, auf siereflektierend hinsieht, sie miteinander vergleicht usw., mit einem

    Worte sie in einer Einstellung studiert, die vergleichbar der ist, in derwir an unseren eigenen Erinnerungen deren Deformation im Laufe derZeit verfolgen konnen (evtl. unter Zuhilfenahme von Dokumenten, indenen da.s erinnerte Ereignis festgehalten ist, wie es sich wirklich abgespielt hat). Die Einseitigkeit der Einzelwahrnehmung ist also nichtvon auBen her an ihr festgestellt, sondern gehort zu ihrem phdnomenalen Bestande3). Wenn die Wahrnehmung in sich selbst als einseitigerlebt wird, so druickt sich das darin aus, und kann sich nur darin ausdruicken, daB das wahrgenommene Ding unter einem bestimmten Aspekt erscheint, sich dabei aber als ein solches darstellt, das auch unteranderen Aspekten wahrgenommen werden kann. Dies wiederum be*sagt, daB in der in Betracht gezogenen Wahrnehmung und als zu ihremI.E. Husserl, Ideen zu einer reinen Ph?nomenologie und ph?no

    menologischen Philosophie I (Husserliana III) S. 77. Im Folgendenwird dieses Werk abgek?rzt als Ideen zitiert. Die Seitenzahlen beziehen sich auf die Originalausgabe; in der Ausgabe der Husserliana finden sich diese Seitenzahlen am Randeverzeichnet.

    2) O p. c i t. I S. 10 und 315.3) Im Vor?bergehen sei bemerkt, da? eine Erschlie?ung der fraglichen Einseitigkeit von ?au?enher', d. h. durch eine nachtr?glich zurWahrnehmung hinzutretende und auf sie sich richtendeReflexion nur deshalb m?glich ist, weil die Wahrnehmung schon vorg?ngig vor aller Reflexionund unabh?ngig von ihr als einseitig erlebt wird. Zur Leistung und Problematik der Reflexion,worauf hier nicht n?her eingegangen werden kann, siehe Husserl, o p. cit. I?? 77ff.

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    phdnomenalen Be,stand gehorig Verweisungen auf weitere Wahrnehmungen beschlossen sind, in denen das wahrgenommene Ding unterden verschiedenen fur es moglichen Aspekten erscheint4). So entsprichtes in der Tat dem phanomenalen Befunde: was wir wahrnehmen istein Haus, das wir von seiner Vorderseite her sehen, das aber in derfraglichen Einzelwahrnehmung selbst sich als von anderen Seiten her

    wahrnehmbar darbietet; wir nehmen aber nicht die Vorderseiteschlechthin wahr unter Abschneidung aller Beziige auf weitere Wahrnehmungsm6glichkeiten, wie z. B. wenn wir eine Photographie ider

    Vorderseite sehen. Ist die Einseitigkeit jelder Einzelwahrnehmung eineeidetische Notwen'digkeit, so gilt dies auch von dem Phanomen der

    Verweisung, in dem jene Einseitigkeit ihre phanomenale Bekundungfindet5).

    Von der soeben skizzierten Einseitigkeit einer jeden Einzelwahrnehmung her bestimmt sich der Sinn ihrer Inaddquatheit. Die Inadaquatheit betrifft die Wahrnehmung in ihrer prasentativen Funktion,d. h. als Erfassung ihres Gegenstandes6). Damit jedoch ist der Inadaquatheit noch nicht voll Genuige getan. Wenn jede Wahrnehmung Ver

    weisungen auf weitere Wahrnehmungen enthalt, in denen das wahrgenommene Ding ;sichunter immer anderen Aspekten darstellt, so istdas nicht im Sinne einer vollen Bestimmtheit dieser Aspekte zu verstehen. Selbst wenn es sich um ein vollig vertrautes Ding handelt, wirdes kaum je gelingen, in allen Hinsichten voll bestimmte Bilder anderer

    Aspekte wachzurufen, unter,denen das Ding erscheinen kann7). DaM imFalle nur relativ bekannter und vertrauter Dinge die erwahnten Verweisungen mit Unbestimmtheiten behaftet sind, versteht sich vonselbst, und erst recht versteht es sich bei einem vbllig neuen und unbekannten Gegenstande, wenn die in Rede stehende Wahrnehmung dieerste Kenntnisnahme von diesem Gegenstande darstellt. Es konnte den

    Anschein haben, daB in dem zuletzt genannten Falle ulberhaupt keineVerweisungen ulber die gegenwartige Wahrnehmung hinaus vorlIgen, und daB sich gerade in der Abwesenheit solcher Verweisungen4) O p. c i t. I S. 77f ?. . . . r?umliches Sein .... kann nur .erscheinen' in einer gewissen .Orien

    tierung', mit welcher notwendig vorgezeichnet sind systematische M?glichkeiten f?r immerneue Orientierungen, deren jeder wiederum entspricht eine gewisse .Erscheinungsweise', diewir etwa ausdr?cken als Gegebenheit von der und der ,Seite' usw." Vgl. auch Cartesianische Meditationen (abg. Cart. Med., Husserliana I) S. 82 undDie Krisis der Europ?ischen Wissenschaften und die transzendentale Ph?nomenologie (abg. Krisis, Husserliana VI) ? 45.5) Siehe hierzu auch unsere Th?orie du champ de la conscience Partie IV,

    chap. I 2.6) Zu der Inad?quatheit in diesem Sinne vgl. I d e e n I S. 10, 78, 297f, 310.7)Wie sp?ter (S. 00 noch bemerkt werden wird, ist das Auftreten von Bildern f?r das hier inRede stehende Verweisungsph?nomen als solches unwesentlich, spielt jedoch eine Rolle bei derverdeutlichenden Entfaltung und Explizitation der Wahrnehmung, vor allem des Wahrneh

    mungsnoema.

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    422 ARON GURWITSCHdie Neuheit und Unbekanntheit des Gegenstandes phanomenal bekunide. Das ware damit gleichbedeutend, daB der neue und unbekannteGegenstand sich fuir das wahrnehmende Bewuf3tsein in einer seinerErscheinungs- und Darstellungsweisen erschopfte, daB er in einer seiner Abschattungen vollig aufginge, und daB die Frage gar nicht zustellen ware, wie der Gegenstand aussieht, wenn er von einem andernStandpunkt aus gesehen wird. Mit einem Worte: es Iage ein visuellesPhantom vor, nicht aber eine wahrnehmungsmdBige Erscheinung einesRaumd.inges, das im Laufe eines Wahrnehmungsprozesses von verschiedenen Seiten her zur Darstellung kommt.

    Gerade das angefiihrte Beispiel eines vollig unbekannten Gegenstandes - das uibrigens vorzuiglich geeignet ist, die eidetische Notwendigkeit des Verwei.sungsphanomens hervortreten zu lassen - zeigt,daB die Unbestimmtheit, wie weit sie auch reichen mag, niemals einetotale ist. Es ist nicht so, als ob keinerlei Antizipationen hinsichtlich dessen moglich waren, was weitere Wahrnehmung bringen kann, so daB

    man sich in dieser Beziehung auf alles und jedes gefaBt machen miiBte.Auf der Seite, von der es gerade erscheint, weist da.s Ding e.ine gewisseFormbeschaffenheit, Farbung, Glatte o,der Rauhigkeit und dgl. auf. Esist unbestimmt, welche Form, welche chromatischen und taktilen Qualitaten das Ding auf den Seiten darbietet, von denen es nicht - noch

    nicht - wahrgenommen ist. Durchaus bestimmt ist es aber, daB dasDing auf den abgewandten Seiten irgendeine Form, irgendeine Farbung, irgendeine taktile Beschaffenheit seiner Oberflache hat8). Damitist ein ganz bestimmter Spielraum abgesteckt, dessen Ausfillung imeinzelnen allerdings unbestimmt bleibt. Fur diese Ausfiillung bestehenverschiedene Moglichkeiten, und zwar der Art, daB auf Grund dergegenwartigen Wahrnehmung nicht nur keine Entscheidung zwischendiesen Moglichkeiten getroffen werden kann, sondern auch daB keineunter ihnen gegenuiber einer anderen als in irgendeinem Sinne bevorzugt erscheint9).

    Wenn die Unbestimmtheit bloB die Art und Weise betrifft, in derein Spielraum ausgefiillt wird, der seinerseits zwar bestimmt ist, inseiner Bestimmtheit aber je nach der relativen Bekanntheit oder Unbekanntheit des wahrgenommenen Dinge.s immer noch enger oderweiter sein kann, so hangt das daran, daB jeder Gegenstand im Lichteeiner gewissen Typik wahrgenommen und dadurch wesentlich zu demqualifiziert wird, als der er erscheintt0). Keine Wahrnehmung ersch6pft8) Cart. Med. S. 83.9) M?glichkeiten dieser Art nennt Husserl, Erfahrung und Urteil ? 21c ?offene

    M?glichkeiten".10) ?ber das wahrnehmungsm??ige Erscheinen des Gegenstandes im Lichte einer Typik siehe

    Erfahrung und Urteil ? 8.

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    ZUR THEORIE DER WAHRNEHMUNG 423sich mit dem, was im strengen und eigentlichen Sinne gesehen., gehort, getastet wird usw. Da;s, was in eigentlicher Sinneserfahrung gegeben ist, liegt, wie Husserl es ausdriickt, in einem ,,Innenhorizont"11),der fur die betr. Wahrnehmung als sinnbestimmend oder -mitbestim

    mend fungiert. Jede Wahrnehmung enthdlt mehr al.s bloB das, was indirekte und eigentliche Sinneserfahrung fallt oder, in Husserls12) For

    mulierung: das in der Wahrnehmung ,,Vermeinte' ist ,,in jedem Moment mehr... (mit einem Mehr Vermeintes), als was im jeweiligenMoment als explizit Gemeintes vorliegt", - ein ,,Uber-sich-hinausmeinen", das wesentlich zurWahrnehmung gehort. Das Erscheinen desGegenstandes im Lichte einer gewissen Typik, das Hereinspielen des

    ,,Mehr" in die Wahrnehmung druickt sich darin aus, daB der Gegenstand als Raumding schlechthin wahrgenommen wird, dessen Eigenschaften noch in weitem MaBe unbestimmt bleiben, oder spezieller als

    Maschine, deren Zweck und Funktion aber vollig unbekannt sind, alsWohnhaus, dessen architektonische Form sich nur ganz im Grobenheraushebt, dessen innere Organisation fast v6llig im Dunkel verbleibt, wobei immerhin so viel bestimmt ist, daB es in irgendeiner

    Weise aufgeteilt ist, und daB diese innere Organisation mit seinerarchitektoni;schen Gesiamtform zusammenstimmen muB und dgl. mehr.Entsprechend der relativen Vertrautheit de.s wahrgenommenen Gegenstandes ist die in Rede stehende Typik mehr oder weniger spezifiziert.

    Die Unbekanntheit des Gegenstandes driickt sich also nicht im Fehlender Verweisungen aus, sondern vielmehr in deren Vagheit und Leere,imMangel an Spezifikation. Es ist klar, daB dielse Typik von der Vergangenheit des wahrnehmenden Siubjekts abhangt - womit aber lediglich ein Problem bezeichnet ist"3). Erwahnung finden muB schlieBlich noch die Motiviertheit14) der Spezifikation der Typik durch das,

    was in der gegenwartigen Wahrnehmung in eigentlicher Sinneserfahrung gegeben ist. Nehmen wir an, wir sehen ein Haus zum erstenmal,und zwar von seiner Vorderseite. Da das, was wir wahrnehmen, einGebaude ist, enthalt die gegenwartige Wahrnehmung Verweisungenauf di,e architektonische Gesamtform des Hauses, auf die Aspekte,unter denen es sich darstellt, wenn es von andern Seiten gesehen wirdusw. Wie weitgehen'd unbestimmt alle diese Verweisungen auch sein11) Der Terminus ?Innenhorizont" erscheint uns als nicht ?beraus gl?cklich gew?hlt, weil er,wie sp?ter noch zu erw?hnen ist, eigentlich nur die noetische, nicht aber die noematischeSeite des Ph?nomens trifft.12) Car t. M e d. S. 84.13) Das Problem betrifft selbstverst?ndlich nicht die unleugbare Tatsache, da? die vergangeneErfahrung die gegenw?rtige Wahrnehmung beeinflu?t, sondern vielmehr die Art und Weise,wie dieser Einflu? zu verstehen ist. Hier k?nnen wir auf dieses Problem nicht weiter ein

    gehen, das jedoch als solches kenntlich gemacht werden mu?.14) ?ber den spezifisch ph?nomenologischen Sinn des Begriffes ?Motivation" siehe Ideen IS. 84f, 89f und 292.

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    m6gen, sie sind auch in dem Sinne spezifiziert, daB die architektonischeGesamtform eine soilche sein muB, daB sie die jetzt gesehene Vorderseite als einen Teil ihrer selbst in sich begreifen kann, daB die Aspekte,unter denen das Haus sich darbietet, wenn es von andern Standpunkten -ausgesehen wird, sowohl untereinander wie auch mit dem Aspektsich harmonisch zusammenfiigen mtissen, unter dem das Haus jetzt erscheint. Ganz allgemein kann die Unbestimmtheit der Verweisungendahin beschrieben werden, daB sie die Art und Weise der detaillierten

    Konkretisierung eines Typs betrifit, der seinerseits in engeren oderweiteren Grenzen bestimmt, und niemals v6llig unbestimmt ist, unddaB die Konkretisierung einer weiteren restringierenden BedingungGenuige tun muB, namlich der Ides Einklangs und der Harmonie sowohlmit der gegenwartigen Wahrnehmung wie auch mit dem, was aus friuherer Erfahrung iiber den wahrgenommenen Gegenstand bekannt ist'5).Solches aus friiherer Erfahrung stammende Wissen fiber den betr. Gegenstand kann in der gegenwartigen Wahrnehmung figurieren und tutes auch in der Form von in ihr beschlossenen Verweisungen auf relativbestimmte Aspekte, wenn der Gegenstand als in mancher Hinsicht bekannt, in anderer jedoch al.s noch unbekannt dasteht.

    Die Inadaquatheit jeder einzelnen Dingwahrnehmung liegt alsonicht nur an ihrer Einseitigkeit, sondern auch daran, daB in jeder ,, ,Erscheinungsweise'... ein Kern von ,wirklich Dargestelltem' auffassungsmaBig umgeben (ist) von einem Horizont uneigentlicher ,Mitgegebenheit' und mehr oder minder vager Unbestimmtheit", wobei dieseUnbestimmtheit als ,,Bestimmbarkeit eines fest vorgeschriebenen Stils"zu verstehen i,stl6). In der Tat, wenn jede Wahrnehmung auf weitere

    Wahrnehmungen verweist, so nicht nur auf solche, in denen der Gegenstand sich von bereits bekannten Seiten her wieder zeigt, sondern iauchund gerade iauf solche, durch die sich der Gegenstand fiber das hinausbestimmt, was die gegenwartige Wahrnehmung bietet. Damit findet*sich die Phanomenologie der Wahrnehmung von einzelnen Akten auf

    Wahrnehmungszusammenhange verwiesenl7). Einem jeden Wahrnehmungsding sowie einer jeden seiner Eigenschaften un.d Bestimmungen,z. B. seiner Farbe, Form, taktilen Beschaffenheit usw. entspricht eine

    Mannigfaltigkeit, richtiger gesagt ,,ein vielfaltiges System von kon15)Wir d?rfen auf die ausf?hrlichere Darlegung dieses Sachverhalts in unserer Th?orie du

    champ de la conscience Partie IV, chap. II 3 verweisen.16) Ideen I S. 80.17) O p. c i t. I S. 205 ?. . . .Wahrnehmung (ist) nicht ein leeres Gegenw?rtighaben des Gegenstandes ... es (geh?rt) .... zum eigenen Wesen der Wahrnehmung ..... .ihren' Gegenstand ... als Einheit eines gewissen noematischen Bestandes zu haben, der f?r andere

    Wahrnehmungen vom .selben' Gegenstande immer wieder ein anderer, aber immer einwesensm??ig vorgezeichneter ist .... es (geh?rt) zumWesen des jeweiligen, objektiv so undso bestimmten Gegenstandes . . . ., gerade inWahrnehmungen solcher deskriptiven Artungnoematischer zu sein und nur in ihnen es sein zu k?nnen".

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    ZUR THEORIE DER WAHRNEHMUNG 425tinuierlichen Erscheinungs- und Abschattungsmannigfaltigkeiten, indenen alle ... gegenstandlichen Momente sich in bestimmten Kontinuitaten darstel.len, bzw. abschatten"'18). DaB idieseMannigfaltigkeiten ein

    System bilden, besagt, daB ihre Glieder weder zufallig-beliebig zusammengerafft, noch rein auBerlich aneinander geraten sind. Vielmehrsind diese Mannigfaltigkeiten in bestimmter Weise organisiert, so daBdie *einzelnen in sie eintretenden Wahrnehmungen zu Phasen eineseinheitlichen Prozesses werden, der seinerseits als ein ,,kontinuierlicheinhe'itlich sich in sich selbst be;statigendes Erfahrungsbe,wuBtsein vomselben Ding"19) fungiert. Zwischen den Wahrnehmungsphasen stelltsich eine ,,Synthesis der Identifikation" her, d. h. ,,Verbundenheit zuEinem BewuBtsein, in dem sich Einheit einer intentionalen Gegenstandlichkeit als derselben mannigfaltiger Erscheinungsweisen konstituiert"20). Ganz allgemein gilt vom Standpunkt der Husiserlschen konstitutiven Phanomenologie jeder Gegenstand iuberhaupt, jedes Seiende,nicht bloB das Wahrnehmungsding, als ,,Leitfaden" oder ,,Index" fureine systematisch organisierte Mannigfaltigkeit von Erscheinungs- und

    Gegebenheitsweisen21). Dies,e Mannigfaltigkeit, um es von einer anderen Seite her auszudriicken, stellt das ,,BewuBtseinsaquiva,lent derbetreffenden Art ,Wirklichkeit' 1122) ar, das dem betreffenden Gegenstand entsprechende ,,aquivaIente Korrelatt"23). ,... nach absolut festen

    Wesensgesetzen (ist) seiender Gegenstand Korrelat... fulr BewuBtseinszu.sammenhange ganz bestimmten Wesensgehaltes, sowie umgekehrt das Sein so gearteter Zusammenhange gleichwertig ist mit seiendem Gegenstand24). ' Daraus ergibt sich die genannte Korrelation alseins der zentralen Probleme und Themen der konst.itutiven Phanomenologie25). Es erwachst die Aufgabe, es verstandlich zu machen, wie diein Rede stehenden Mannigfaltigkeiten auf Grund ihrer inneren Organisation als BewuBtsein von einem Gegenstande fungieren, der sich vonverschiedenen Seiten her zeigt, sich aber lindiesen verschiedenen Erscheinungsweisen und durch die hindurch als identischer darstellt26).

    Nur im VorPibergehen sei der Vollstandigkeit halber auf einen18) I d e e n I ? 41; C a r t.M e d. ? 17; Krisis ? 45.19) Ideen I. S. 74f.

    20) C a r t. M e d. ? 18. In K r i s i s S. 161 zieht Husserl es vor, von ?Synthesis der Einigung"statt ?Identifizierung" zu sprechen. Vgl. auch I d e e n I S. 78 ?ImWesensbau dieser Mannigfaltigkeiten liegt es . . . ., da? sie Einheit eines einstimmig gebenden Bewu?tseins herstellen, und zwar von dem einen, immer vollkommener, von immer neuenSeiten, nach immer reicheren Bestimmungen erscheinenden Wahrnehmungsdinge".

    21) C a r t. M e d. ? 21; K r i s i s ?? 38, 41, 48, 50.22) Ideen I S. 319.23) O p. c i t. I ? 142, siehe auch ? 135.24) Op. cit. IS. 177.25) Vgl. G. Funke, Zur transzendentalen Ph?nomenologie S. 42ff.26) I d e e n I ?? 86 und 150.

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    dritten Sinn der Inadaquatheit der Wahrnehmung hingewiesen. Dieserergibt sich aus dem prasumptiven Charakter der Wahrnehmungsevidenz nicht nur in Bezug auf einzelne Wahrnehmungen, sondern auchauf jeden endlichen WahrnehmungsprozeB327).

    Auf Grund der vorangehenden Darstellung von Husserls Abschattungstheorie der Wahrnehmung konnen wir nun seinen Begriff des

    Wahrnehmungsnoema einfiuhren. Selbstverstandlich bildet das Wahrnehmungsnoema einen Spezialfall des allgemeinen Begriffs vomNoerna iuberhaupt. Mit der Lehre vorn Noema befinden wir uns im Zentrum von Husserls Theorie von der Intentionalitdt.

    DaB ein BewuBtseinsakt Intentionalitat hat, sich auf einen Gegenstand bezieht, als BewuBtsein ,von' einem Gegenstand erlebt wird,das besagt nicht nur, daB durch den Akt ein Gegenstand vorstellig wird,sondern auch daB der Gegenstand es in einer bestimmten Art und

    Weise wird. In dem Akt ist der Gegenstand nicht nur gemeint, sondernaudh als dieser oder jener vermeint. Akte, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, konnen hinsichtlich der Art, wie er in ihnen ver

    meint ist, doch noch voneinander differieren. Denken wir einmal daran, daB 3< 4 ist, das andere Mal daran, daB 4> 3 ist, so denken wirbeide Male denselben Relationsverhalt (Gegenstand), der aber das eine

    Mal vom Standpunkt des einen, das andere Mal von dem des andernseiner Glieder aufgefaBt ist. Ebenso beziehen sich die Vorstellungen,,Sieger von Austerlitz" und ,,Besiegter von Waterloo" auf dieselbe

    Person, nur daB sie in verschiedenen Rollen, unter verschiedenen Aspekten, in verschiedenen Beleuchtungen vorgestellt wird28). Unter demNoema versteht Husserl nicht den Gegenstand schlechthin, wie er tatsachlich an sich selber ist, sondern den Gegenstand im Wie seines Ver

    meintseins, den Gegenstand so- genau so, aber auch nur so- wie erin dem in Rede stehenden Akt des BewuBtseins sich darstellt, wie er indiesem Akt aufgefaBt und intendiert ist, den Gegenstand in genau der

    Perspektive, Orientierung, Beleuchtung und Rolle, in der er sich darbietet29). Nur andere und kurzere Bezeichnungen dafuir sind die Ausdriicke: das Vermeinte als solches, das BewuBte als solches oder, in derspateren Sprechweise Husserls, das ,,Cogitatum qua cogitatum"30). Der

    Begriff des Noema hat ganz allgemeine Bedeutung, insofern er beiAkten aller Art am Platze ist, bei Akten der Wahrnehmung, Erinne

    27) O p. c i t. I ?? 46, 138, 143, 149; C a r t. M e d. ? 28.28) In der Sph?re des sprachlichen Ausdrucks entspricht dem Unterschied, den wir hier im Auge

    haben, der zwischen dem Gegenstand, den der Ausdruck nennt, und der Bedeutung des Ausdrucks; vgl. Husserl, Logische Untersuchungen (2te Aufl.) Bd. II, I ? 12.29) Zu Husserls Begriff des Noema im allgemeinen und des Wahrnehmungsnoema im speziellensiehe Ideen I ?? 87ff.30) C a r t. M e d. ?? 14ff.

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    rung, Vorstellung, des Wollens, Urteilens, usw.31). In den LogischenUntersuchungen, in denen der Terminus Noema noch nicht vorkommt,spricht Husserl von der ,,Materie des Aktes" als dem ,,Sinn der gegenstandlichen Auffassung" oder dem ,,Auffassungssinn" 32).Die ,,Materie"bestimnmt nicht nur, ,daB der Akt die jeweilige Gegenstandlichkeit auffaBt, sondern auch als was er sie auffaBt, welche Merkmale, Beziehungen, kategorialen Formen er in sich selbst ihr zumiBt"'. Aus diesem Begriff der ,,Materie" ist in den Ideen, in denen Husserl die vorwiegendnoetische, d. h. auf die Akte bezogene Orientierung der Logischen Untersuchungen iiberwunden hat, der des Noema erwachsen, genauer der

    des ,,noematischen Sinnes"33), womit ein Kernbestand im vollkonkretenNoema bezeichnet ist. Diesem Kernbestand gebuthrt im gegenwartigenZusammenhang ein besonderes Interesse. Um es wiederum in derSprache der Logischen Untersuchungen auszudriicken, die Unterscheidung zwischen Noema und Gegenstand laBt sich als die zwischen ,,Gegenstand, so wie er intendiert ist' und ,,schlechthin der Gegenstand,welcher intendiert ist" fassen34). Diese Terminologie bietet iden Vorteil, es deutlich werden zu lassen, daB ein Gegenstand, um schlechthingemeint und intendiert zu sein, in einer bestimmten Weise intendiert,als dieser oder jener vermeint und aufgefaBt werden muB. Mit anderenWorten, die Beziehung des Aktes auf den Gegenstand hangt v6llig andem Noema, das dem betr. Akte korrespondiert35). E.s ware aber ein31) Es ist von historischem, aber nicht nur historischem Interesse, festzustellen, da? der Begriffdes Urteilsnoema von W. James in gewisser Weise vorweggenommen ist. In den Prin

    ciples of Psychology I S. 275 f?hrt James den Begriff des ?object of thought"ein und bestimmt ihn dahin, da? ?The object of every thought ... is neither more nor lessthan all that the thought thinks, exactly as the thought thinks it, however complicatedthe matter, and however symbolic the manner of the thinking may be." Am Beispiel desSatzes ?Columbus discovered America in 1492" setzt er auseinander, da? als ?object" derganze Satz in Anspruch zu nehmen ist, w?hrend Columbus, Amerika, die Entdeckung Amerikas als ?topic" oder ?subject of . . . discourse" zu gelten haben. Damit vergleiche manHusserls Beschreibung des Urteilsnoema mit seiner Unterscheidung zwischen dem G e -urteilten und dem B e urteilten (Ideen I S. 194) : ?... das gesamte geurteilteWas und zudem genau so genommen, mit der Charakterisierung, in der G e -gebenheitsweise, in der es im Erlebnis ?Bewu?tes' ist, bildet das volle noematische Korrelat, den . . . ,Sinn' des Urteilserlebnisses. Pr?gnanter gesprochen,ist es der ,Sinn imWie seiner Gegebenheitsweise', soweit diese an ihm als Charakter vorfindlich ist." Was bei J a m e s ?topic" hei?t, entspricht genau dem, was Husserl das Beurteilte oder die ?Gegenst?nde wor?ber" nennt.

    32) Logische Untersuchungen (2te Aufl.) Bd. II S. 415f.33) I d e e n I ?? 129f.34) Logische Untersuchungen Bd. II S. 400f.35) In I d e e n I ?? 87ff hat Husserl nachdr?cklichst betont, da? das Noema keinen reellen

    Bestandteil des Aktes, der Noese, bildet. Folglich ist das ?Enthalten-sein" des Noema in derNoese nicht im Sinne des Verh?ltnisses von Teil zum Ganzen, sondern in dem einer Korrelation zu verstehen, worauf auch der h?ufig gebrauchte Ausdruck ?intentionales Korrelat"hindeutet. Diese Korrelation, bei der prinzipiell ein einziges identisches Noema einer unbestimmten Mannigfaltigkeit voneinander unterscheidbarer Akte entspricht, haben wir in unserem Artikel ?On the intentionality of consciousness" (Philosophical Essays in

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    MiBverstdndnis, das Noema als ei ,,immanentes" oder ,,mentales Objekt", als eine Art Zwischengebilde aufzufassen, das zwischen dem

    Akt und dem Gegenstand vermittelt36). Orientiert man sich an derUnterscheidung des Gegenstandes, wie er intendiert ist, vom Gegenstande schlechthin, so wird man darauf gefuihrt, einen bestimmten ,,Auffassungssinn", in dem der Gegenstand vermeint ist, der Gesamtheitoder dem System der ,,Auffa.ssungssinne', in denen der Gegenstandvermeint sein kann, gegenuiberzustellen. Damit prazisiert sich das Verhaltnis von Noema und Gegenstand als das zwi.schen einem Gliedeines Systems und diesem System als ganzem37). Wird das Noema im

    Gegensatz zum Gegenstand, wie er an sich selbst ist, bestimmt als derGegenstand, wie er sich darbietet, so ist damit fur die Beschreibungund Analyse des Noema eine streng deskriptive Orientierung vorgeschrieben. Der Gegenstand, wie er sich darbietet, muB genau so, aberauch nur so genommen werden, wie er in dem betr. BewuBtseinsakt erscheint, in ihm vermeint und intendiert ist. Jedes Moment, das in einemin Betracht gezogenen Noema figuriert, mul3 zu seinem Rechte kom

    men, und zwar in der Rolle, die es fur das betr. konkrete Noema spielt,und an dem Platz, den e-s in seinem Gesamtaufbau einnimmt. Auf deranderen Seite idarf nichts einem Noema zugeschrieben werden, was sichnicht in seinem Bestande vorfindet.

    Aus dem allgemeinen Begriff des Noema uiberhaupt ergibt sich derdes Wahrnehmungsnoema durch geeignete Spezialisierung. Ist dasNoema im allgemeinen als das Vermeinte oder BewuBte als solches definiert, so folgt sinngemB13, daB das Wahrnehmungsnoema als das,,Wahrgenommene als solche" zu bestimmen ist38). Es stellt sich her

    aus als das wahrgenommene Ding, so wie dieses sich in einem Aktekonkreter Wahrnehmung prdsentiert, ndmlich als von einer bestimmten Seite her, in einer gewissen Perspektive, Orientierung usw. erscheinend. In diesem Sinne sind alle Erscheinungs- und Darstellungs

    weisen des Dinges, von denen oben anlaBlich der Abschattungstheorieder Wahrnehmung die Rede war, als Wahrnehmungsnoemen anzusprechen. Bei den Mannigfaltigkeiten, auf die sich die Phanomenologieder Wahrnehmung hinsichtlich eines jeden Einzeldinges verwiesen findet, handelt es sich um Mannigfaltigkeiten von Noemen und selbstverstandlich auch von Noesen: Das Ding selbst erscheint als Einheit gegenilber den auf es bezogenen noetischen und noematischen Mannigfaltig

    memory of Edmund Husserl, hrsg. von M. F a r b e r) als das Zentralph?nomender Intentionalit?t des Bewu?tseins zu erweisen versucht.

    36) Siehe hierzu Logische Untersuchungen Bd. II, V ? 11 und Ideen I ? 90.37) F?r den speziellen Fall des Verh?ltnisses von Wahrnehmungsnoema und wahrgenommenem

    Ding siehe hierzu unsere Th?oriedu champ de la conscience S. 178 und 181f.38) Der Ausdruck stammt von Husserl, Ideen I. S. 182ff.

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    ZUR THEORIE DER WAHRNEHMUNG 429keiten39). Dabei ergibt sich, umrdas nur beilaufig zu bemerken, die noetische Mannigfaltigkeit als eine der noematischen gegenuiber mehrdimensionale, insofern als jedem Noema, d. h. jedem einzelnen Gliededer noematischen Mannigfaltigkeit selbst wiederum eine indefinite

    Mannigfaltigkeit von Noesen zugeordnet ist.Eingangs erwahnten wir die wesentliche Einseitigkeit jeder Einzel

    wahrnehmung eines Dinges und betonten, :daB die letztere eben vermoge der in ihr enthaltenen Verweisungen auf andere Wahrnehmungen desselben Dinges als einseitig erlebt wird. Da, wie bemerkt, dienoematische Betrachtung eine streng deskriptive Orientierung einschlagen muB, obliegt es ihr, das Phanomen der Verweisungen in derBeschreibung und Analyse des Wahrnehmungsnoeema zu berulcksichtigen und zu seinem Recht kommen zu lassen. Die Verweisungen gehenauf Aspekte, unter denen das Ding erscheinen kann, gegenwartig abernicht erscheint. Mit anderen Worten, sie gehen auf Noemen, die anderen als der gegenwdrtigen Wahrnehmung entsprechen. Das besagt:in dem konkreten gerade in Betracht gezogenen Wahrnehmungsnoemasind in gewisser Weise andere Noemen enthalten oder anwesend, wobei der Sinn von Enthaltensein und Anwesenheit sich daraus ergibt,daB es sich eben um Verweisungen auf diese anderen Noemen handelt.So erhebt sich die Frage: wie ist ein isobestimrntes Enthaltensein vonanderen Noemen in der Gesamtstruktur eines herausgegriffenen zuverstehen?

    Husserl hat das Phanomen, um da.s es sich handelt, vornehmlich,wenn nicht sogar ausschlieBlich, unter noetischem Gesichtspunkt behandelt40). So z. B., wenn er die ,,mitgemeinten" Seiten des Wahrnehmungsdinges, auf die die ,,eigentlich wahrgenommenen" verweisen,als ,,noch nicht wahrgenommen, sondern nur erwartungsmaBig und zundchst in unanschaulicher Leere antizipiert... - als die nunmehrwahrnehmungsmrBig kommenden" charakterisiert. Ganz allgemeinspricht Husserl von ,,Potentialitaten" des BewuBtseins, die in jedemaktuellen Erlebnis ,,impliziert" sind. Mit diesen Potentialitaten meinter mogliche Wahrnehmungen, ndmlich solche, die ich erleben kannoder zu erleben erwarte, wenn ich meine Augen oder meinen Kopfanders bewege, wenn ich mich demr D.ing gegenuiber anders orientiereals ich es jetzt tue, wenn ich es von einem anderen Standpunkt als

    meinem jetzigen betrachte, usw. Ebenso spielt in die Erinnerung anein Ding, das wir fruiher von einer bestimmten Seite her wahrgenom

    men haben, ein Wissen um Aspekte hinein, unter denen wir es hattenwahrnehmren k6nnen, wenn wir - damals - dem Ding gegenuber uns

    39) Vgl. op. cit. I S. 207f.40) Siehe zum Folgenden C a r t.M e d. ? 19.

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    in unserer Wahrnehmungstatigkeit entsprechend verhalten hatten.Sinnbestimmend fur alle diese Potentialit.ten ist nach Husserl das BewuBtsein des ,,Ich tue", ,,Ich kann', ,,Ich kann anders als ich tue", mitanderen Worten das BewuBtsein, daB ihre Aktualisierung wenigstensim Prinzip von dem erfahrenden und wahrnehmenden Subjekt abhangt.

    In Bezug auf die noetische Seite des Phanomens erscheint d.ie Redevon einem Horizont, dem ,,Innenhorizont" durchaus passend und angebracht. Sie bringt zum Ausdruck, da. die gegenwartige Wahrnehmungnicht allein steht, sondern umgeben und begleitet ist von Retentionenund Protentionen, kurz von Potentialitaten des BewuBtseins. Begleitungdarf natulrlich nicht im auBerlichen Sinne der bloBen Simultaneitat desAuftretens verstanden werden. Vielmehr verflechten und verwebensich die Potentialitaten mit dem BewuBtsein imModus der Aktualitatin so inniger Weise, daB sie fur das aktuelle BewuBtsein mit sinnbestimmend werden. Das aktuelle BewuBtsein ist in die Potentialitatenhineingestellt und eingebettet, so daB es erst im Horizonte dieser vollzu dem wird, als was es erlebt wird41). Es liegt, scheint es, durchaus imSinne der Intentionen Husserls, zu sagen, daB der Akt der Wahrnehmung in voller Konkretheit genommen sowohl die Wahrnehmung imeigentlichen Sinne wie die Potentialitaten umfaBt, und daB die Unterscheidung zwischen aktuellem und potentiellem BewuBtsein erst innerhalb dieses konkreten Ganzen getroffen werden kann..

    Unsere vorhin gestellte Frage betrifft nun die noematische Parallelezu dem, was noetisch als ,,jnnenhorizont" beschrieben ist. Angesichtsder Konsequenz, mit der Husserl seit den Ideen auf dem noeto-noematischen Parallelismus besteht, erscheint diese Frage auf dem Bodenseiner Konzeption nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu unab

    weislich. Husserls noetische Analyse legt es nahe, das noematischeKorrelat der in Rede stehenden BewuBtseinspotentialitaten. inVorstellungen und Vorstellungsbildern zu suchen, die das in Rede stehendeNoema begleiten - selbstverstandlich wiederum nicht in dem auBerlichen Sinne eines bloBen Sich-dazu-gesellens, sondern vielmehr indem einer sachlichen Bezogenheit. So konnte man von einem noematischen Innenhorizont sprechen, insofern als das in aktueller undeigentlicher Wahrnehmung Gegebene, das Wahrnehmungsnoema im41) Krisis S. 152 ?. . . das jeweils aktive Bewu?te und korrelativ das aktive Bewu?thaben,

    Darauf-gerichtet-, Damit-besch?ftigt-sein (ist) immerfort umspielt von einer Atmosph?re stummer, verborgener, aber mitfungierender Geltungen, von einem lebendigen Horizont ..." Bemerkenswert ist, da? diese Beschreibung das Horizontbewu?tsein als solchescharakterisiert und daher sowohl auf den ?Innenhorizont" wie den ?Au?enhorizont" bezogenwerden kann. Husserl hat den Unterschied zwischen den beiden Arten von Horizont zwarbegrifflich und terminologisch fixiert (vgl. o p. cit. S. 165 und Erfahrung und Urteil S. 26ff), ist ihm aber nicht hinreichend nachgegangen. In unserer Th?orie duchamp de la conscience Partie V 9 haben wir versucht, diesen Unterschied genauer herauszustellen.

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    pragnanten Sinne, in den Bestdnden des noematischen Innenhorizontesseine Erganzung und Fortsetzung fdn'de und in dieser Weise von denHorizontbestanden her mitbestimmt wiirde. Die Rede von Verweisungen hatte hier allerdings einen vorwiegend noetischen Sinn; sie betrafed.ie mogliche, der Freiheit des wahrnehmenden Subjekts anheimgestellte Aktualisierung der fraglichen BewuBtseinspotentialitaten.

    Diese Auffassung des noematischen Innenhorizonts mag dem Wahrnehmungsnoema Genuige tun, wenn und wofern an ihm die Explizitation vollzogen wird. Von dieser, 'der ,,phinomenolog.i.schen Auslegungdes Wahrgenommenen al.s solchen" sagt Husserl, ,,sie macht das imSinne des cogitatum Beschlossene und bloB un-anschaulich Mitgemeinte(wie die Ruckseite) kMar durch Vergegenwartigung der potentiellen

    Wahrnehmungen, die das Unsichtliche sicitlich machen wiirden '42). ImZuge dieser Auslegung mogen sich mehr oder minder anschaulicheVorstellungsbilder von dem einstellen, was inweiteren Wahrnehmungen des betr. Dinges von diesem zu originarer Erfahrung kommen wird.Jedoch ist das Phanomen, um das es sich handelt, keinesweg:s ein Produkt der Explizitation. Nehmen wir ein Haus wahr, so ist es zwar nurvon einer bestimmten Seite her gesehen, steht aber in dieser Wahrneh

    mung als ein solches da, das noch andere, imAugenblick nicht geseheneSeiten hat. Die Wahrnehmbarkeit des Hauses unter weiteren Aspektengehort zum noematischen Sinn der, wir erinnern, wesentlich einseitigenund als einseitig erlebten Einzelwahrnehmung. In streng deskriptiverOrientierung ist hier das Wahrgenommene als solches zu beschreibenals das von einer bestimmten - iunteir anderen moglichen - Seite her

    wahrnehmungsmaBig sich darbietende Haus. Das aber gilt vorgangigvor aller Explizitation und unabhangig davon, ob uberhaupt in eineExplizitation der betr. Wahrnehmung und ihres Noema eingetretenwird. Andererseits ist das Auftreten von Vorstellungsbildern der gerade nicht gesehenen Seiten des Hauses fur die Wahrnehmung und ihr

    Noema sicherlich n.icht we,sentlich. Auch das vollige Fehlen so1cher Bilder beeintrachtigt die Wahrnehmung und das ihr entsprechende Wahrnehmungsnoema in keiner Weise, wie sich an beliebigen Beispielender Wahrnehmungserfahrung sehen l1Bt43).Unser Problem bezieht sichauf das Strukturmoment des Wahrnehmungsnoema, vermoge dessen42) Cart. Med. S. 85. Der ganze ? 20, der die ?Eigenart der intentionalen Analyse" als

    Freilegung der ?Horizontstruktur aller Intentionalit?t" fa?t, ist ebenfalls prim?r noetischorientiert. Die Freilegung ist dargestellt als Erschlie?ung der ?noetischen Mannigfaltigkeitendes Bewu?tseins und deren synthetischer Einheit", als ?Eindringen in das anonyme cogitierende Leben", als Enth?llung der ?bestimmten synthetischen Verl?ufe der mannigfaltigenBewu?tseinsweisen und . . .Modi des ichlichen Verhaltens ..." und dgl.

    43)Wohl einer der ersten, die auf die Unerheblichkeit solcher Vorstellungsbilder hingewiesenhaben, war G. F. S t o u t ,A n a 1y t i c P s y c h o 1o g y Bd. II S. 5 und 21ff und A M a -nualofPsychologyS. 205ff.

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    andere Noemen in dem in Betracht gezogenen vertreten sind, und esbezieht sich auch auf den Sinn dieser Vertretung.Zur F6rderung dieses Problems erscheint es uns angezeigt, auf Ge

    dankengange und Begriffe zu rekurrieren, die der Gestalttheorie entlehnt sind oder wenigstens im AnschluB an diese sich entwickeln lassen44). GemaB der Gestaltheorie kann ein Wahrnehmungsgebilde nichtals aus Stiicken oder Elementen bestehend und zusammengesetzt, nochals in solche Elemente zerlegbar angesehen werden. Elemente sindhierbei durch ihre Isoliertheit und Unabhangigkeit voneinander charakterisiert. Das bedeutet: ein jedes Element hat seine Eigenschaftenund Bestimmtheiten, die ihm an und fur sich zukommen, ganz unabhangig davon, mit welchen anderen Elementen es gerade verbundenist, was nicht mehr heiBen kann, als ,daBes mit diesen anderen Elementen zusammen auftritt. Durch ein solches Zusammensein werden dieeinem jeden ider fraglichen Elemente eigenen und fur es charakteristischen Beschaffenheiten in keiner Weise beruihrt. Jedels Element be

    wahrt seine phanomenale Identitat, wenn es aus einem Elementenverband in einen anderen eintritt, und es wiirde seine phanomenale Identitat auch im Falle volliger Isolierung behalten, wenn eine solche sichuberhaupt herstellen lieBe. Im Gegensatz zur traditioneillen Auffassung, die auf der Autarkie der Elemente besteht oder, richtiger gesagt,die,se Autarkie als selbstverstandlich ansetzt, sieht die Gestalttheoriein den Teilen eines Wahrnehmungsgebildes Ganzteile oder, um mit

    Wertheimer45) zu sprechen, ,,,Teile' in Ganzvorgangen". Ein solcherTeil ist insofern wesentlich auf das Ganze, dem er angehort, bezogen,als er in ihm und fulr es eine ganz bestimmte, ihm spezifische Rollespielt, eine Rolle, die ihm von der Struktur des Wahrnehmungsgebildesals Ganzen her zuerteilt ist, und die nur innerhalb dieses Ganzen einenSinn hat. Indem der Teil an einer bestimmten Stelle innerhalb des Ganzen in der ihm spezifisch charakteristischen Rolle figuriert, tragt er seinerseits na.ch MaBgabe der Gewichtigkeit seiner Rolle zu dem Wahrnehmung'sgebilde als Ganzem lbei. Zur Illustrierung dieser Sachlage

    mag irgendein noch so elementarer musikalischer Zusammenhang dienen, ein melodischer sowohl wie ein rythmischer. Jeder Teil, der innerhalb eines solchen Zusammenhangs auftritt, erfiillt eine ganz bestimmte spezifische Funktion. z. B. die des Ausgangspunktes einer ansteigenden tonalen Bewegung. Der Ton existiert mit und in einer fur44) Aus Gr?nden der Raumersparnis verweisen wir hier f?r das Folgende auf die Darstellung,

    die wir in unserer Th?orie du champ de la conscience Partie II, besonders6, 8, 10 und 11 von der Gestalttheorie im Hinblick auf ihre Verwendung f?r ph?nomenologische Fragestellungen gegeben haben.

    45) M. Wertheimer, ?Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt" I (Psychologisch e F o r s c h u n g Bd. I) S. 52.

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    ZUR THEORIE DER WAHRNEHMUNG 433ihn charakteristischen funktionalen Bedeutsamkeit (signification fonctionnelle), die sich von dem betr. Zusammenhang her bestimmt. Aufder anderen Seite leistet der Ton durch sein Auftreten an einer gewissen Stelle des Zusammenhangs und vermbge d,er ihn charakterisierenden fun'ktionalen Be,deutsamkeit seinen spezifischen Beitragzum Aufbau des Zusammenhangs als Ganzen - jenen Beitrag, der ander bestimmten Stelle moglich und erforderlich ist. Ganz allgemein:jeder Teil realisiert an seiner Stelle und in der seiner funktionalen Bedeutsamkeit entsprechenden Weise das Ganze, dessen Teil er ist. Dieses aber, um es noch einmal zu betonen, muB in doppeltem Sinn verstanden werden: Vermoge seiner Eigenstruktur legt da.s Ganze seinen

    Teilen Bedingungen auf und erfordert an 'den betr. Stellen Teile vondieser bestimmten und keiner andern funktionalen Bedeutsamkeit; esschreibt den Teilen die Rollen vor, in dienen sie zu figurieren haben.

    Damit aber ein Teil in der ihm eigenen Rolle und funktionalen Bedeutsamkeit gegeben sein kann, erfordert er von sich aus ein in bestimmter Weise strukturiertes Ganzes, schreibt er seinerseits dem

    Ganzen Bedingungen vor, unter denen er als durch seine funktionaleBedeutsamkeit charakterisiert sich ihm einordnen kann. Beide Formulierungen bringen denselben Sachverhalt, nur von verschiedenen Seiten her gesehen, zum Ausdruck.

    Die vorstehende bfieraus skizzenhafte Darstellung der gestalttheoretischen Konzeption bedarf noch zweier wichtiger Erganzungen.

    1. Zunachst muB 3dem MiBverstdndnis vorgebeugt werden, als handele es sich bei den Charakteristiken, die dem Teil vom Ganzen herzukommen - wir befassen sie hier unter dem Terminus funktionaleBedeutsamkeit fur das Ganze - um Eigenschaften so zu sagen hohererOrdnung, d. h. um solche, die zu gewissen fundamentalen Qualitatenhinzutreten, diese letzteren also voraussetzen und sich auf sie aufschichten. Als fundamentale Qualitaten ist man versucht, diejenigenanzusetzen, die dem Tell an und fulr sich, unabhangig von jedem Zusammenhang zukommen, diejenigen also, die er aufweist, wenn manihn so weit wie m6glich isoliert. Die Errungenschaft der Gestalttheorie

    besteht nicht darin, Eigenschaften, die den Teilen vom Ganzen her zuerteilt werden, entdeckt zu haben und sie als Eigenschaften unter andern zu behandeln. Vielmehr geht die gestalttheoretische These dahin,daB die Teile ihre funktionale Bedeutsamkeit nicht nur haben, sonderndurch sie qualifiziert werden, nur in und mit ihr existieren. Ein jederTeil hat seine phdnomenale Beschaffenheit nur als Trdger seiner Rolleund Funktion; er wird durch seine funktionale Bedeutsamkeit und nurdurch sie zu dem bestimmt, der er in einem Ganzverband in concretoist. Sein phanomenales Sein ist durch seine funktionale Bedeutsamkeit28 Ztft. f. philosoph. Forschung XIII/3

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    definiert und fallt geradezu mit dieser zusammen. Es kann also keineRede davon sein, daB ein Teil seine phanomenale Identitat bewahrt,wenn er aus seinem Zusammenhang herausgelost und isoliert wird,noch auch, wenn er aus einem Zusammenhang in einen anderen versetzt wird, - unbeschadet dessen, daB in allen diesen Fdllen die gleichen objektiven Reize vorliegen konnen. Der - objektiv gesprochengleiche Ton, der in zwei verschiedenen musikalischen Zusammenhangen auftritt, ist oft genug phanomenal bis zur Unkenntlichkeit verandert.

    2. Nach der Gestalttheorie ist das Ganze nicht von den Teilen abgesondert; es ist nicht ,oberhalb' ihrer und tritt nicht von ,auBen her' zuihnen hinzu. Es stellt nichts anderes dar als die Gesamtheit der Teileselbst, diese allerdings im Sinne ihrer volligen Bestimmtheit und Qualifikation durch ihre funktionale Bedeutsamkeit genommen -.so weit,daB jeder Teil das und nur das ist, wozu seine funktionale Bedeutsamkeit ihn macht. Um es pragnanter auszudrticken: das Ganze ist das System der aufeinander angewiesenen und abgestimmten funktionalen

    Bedeutsamkeiten. Ein solches System bedarf keines speziellen einigenden Faktors, denn es hat vermoge der ihm eigenen Organisationsformseine E.inheit von innen her und in sich selbst. In einem so organisierten System ,,tragen sich alle Teile gegenseitig"; indem sie es tun, besitzt jeder von ihnen ,,seinen Platz und seine Eigenschaft als Teil des

    Ganzen"46). Wenn wir vorhin davon sprachen, daB jeder Teil seinefunktionale Bedeutsamkeit fur das Ganze hat, und daB s,ie von diesemher bestimmt wird, so ist das jetzt genauer dahin zu prazisieren, daIdie funktionale Bedeutsamkeit eines jeden Teils wesentlich bezogeni.st auf die der andern Teile und durch solche Bezogenheit bestimmt

    wird. Auf Grund der zwischen ihnen bestehenden Organisation stellen die andern Teile Bedingungen fur jede Stelle des Systems, das siebilden, und zwar stellen sie diese Bedingungen um der Geschlossenheit ihres Systems willen. Umgekehrt griinden in der funktionalen Bedeutsamkeit eines jeden Teils Forderungen, die das System als ganzes,d. h. die anderen Teile in ihrer funktionalen Bedeutsamkeit betreffen.In durchgehender Gegenseitigkeit bestimmen und bedingen alle Teileeinander.

    Wenden wir diese Konzeptionen der Gestalttheorie auf die Analyse des Wahrnehmungsnoema an47). Dieses war als das Wahrgenom46) K. K o f f k a , ?Psychologie", Lehrbuch der Philosophie (hrsg. von Max Des

    soir) Bd. II S. 551.47) Die Berechtigung, deskriptive Befunde der Gestalttheorie f?r die ph?nomenologische Problematik zu verwenden, und die noematische Relevanz dieser Befunde haben wir in unserem

    Artikel ?Ph?nomenologie der Thematik und des reinen Ich" (Psychologische Forschung Bd. XII) Kap. IAnhang darzulegen uns bem?ht.

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    ZUR THEORIE DER WAHRNEHMUNG 435mene als solche Idefiniert, als das von einer bestimmten Seite her erscheinende Ding, so und genau so genommen, wie es sich in der betr.

    Wahrnehmung darbietet. Noematisch gesprochen bedeutet die Einseitigkeit jeder Wahrnehmung, die sich phanomenal in den Verweisungenauf weiteire Wahrnehmungen bekundet, daB das entsprechende Noema,mehr' enthdlt als bloB das in eigentlicher Sinneserfahrung Gegebene,z. B. das direkt Gesehene. Es gilt nun dieses ,,Mehr", von dem bei Husserl die Rede ist48), gestalttheoretisch zu interpretieren bzw. so umzudeuten, daB es seinen quantitativen Sinn verliert. Nehmen wir einHaus von einem bestimmten Standpunkt aus wahr, so ist un.s in eigentlicher Sinneserfahrung ein Teil einer architektonischen Gesamtform gegeben, und das so Gegebene erscheint als Teil. GemaB der gestalttheoretischen Auffassung des Verhdltnisses von Teil und Ganzem besagtdies: der gesehene Teil hat seine funktionale Bedeutsamkeit in Bezugauf die architektonische Gesamtform, damit in Bezug auch auf imgegenwartigen Augenblick nicht gesehene Teile dieser Form, und dieseseine funktionale Bedeutsamkeit bestimmt und qualifiziert den gesehenen Teil, macht ihn zu dem, der er phanomenal ist. Wenn Aspekte,unter denen das wahrgenommene Ding erscheinen kann, imAugenblickaber nicht erscheint, in dem gegenwartigen Aspekt enthalten., anwesend, vertreten sind und dgl., so ist das weder im Sinne des Hinzutretens begleitender Vorstellungsbilder zu verstehen, noch dahin, daBandere Noemen in dem in Rede stehenden irgendwie eingeschachtelt

    wdren. Vielmehr besagt das Enthaltensein nichts anderes, als daB dasgegenwdrtige Wahrnehmungsnoema durch seine Bezogenheit auf jeneandere Noemen phdnomenal konstituiert oder wenigstens mitkonstituiert ist, daB es diese Bezogenheit als eine der ihm eigenen Bestimmungen und Beschaffenheiten aufweist, sie als eins der Momente seinerphanomenalen Qualifikation an sich trdgt. Das noetische Korrelat hiervon ist der Husserlsche Innenhorizont oder was er Potentialitaten desBewuBtseins nennt, namlich Verweisungen auf weitere Wahrnehmungen, durch die die betr. Noemen aktualisiert werden k6nnen. Ob manauch von einem noematischen Innenhorizont spredhen soll, erscheintals eine bloB terminologische Frage. Tut man es, so darf aber diese

    Redeweise nicht dahin gedeutet werden, als ware das in eigentlicherSinneserfahrung Gegebene nur in einen Horizont eingebettet und erschiene in der Perspektive dieses Horizontes, behielte aberndoch ihmgegenuiber eine gewisse Selbstandigkeit und Ablosbarkeit. Gerade davon kann aber hier nicht die Rede sein. Der noematische Innenhorizont

    - wenn man von einem solchen sprechen will - umgibt nicht das ineigentlicher Sinneserfahrung Erscheinende, sondern durchdringt es.48) Siehe oben S. 423.

    28*

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    Da,s in eigentlicher Sinneserfahrung Gegebene bietet sich als Gliedeines Systems dar, das durch seine Bezogenheit auf das System, 'durchdie Rolle, die es in diesem spielt, durch seine Bedeutsamkeit fuir es phanomenal zu dem wird, als das es dasteht. Verweisung hat in noematischer Sicht n.icht denSinneinerhinzutretendenCharakteri'stik,sondernden einer wesentlichen Komponente, den Sinn eines zur phanomenalen

    Qualifikation geh6rigen und ihr immanenten und inharenten Moments.Die gestalttheoretische Interpretation erlaubt es auch, unter noema

    tischem Gesichtspunkt;der oben49) dargelegten Unbestimmtheit, mit derjede Wahrnehmung behaftet ist, Genuge zu tun, - eine Unbestimmtheit, von der wir gesehen haben, daB sie eine solche innerhalb mehroder weniger fest umrissener Grenzen eines gewissen Spielraums ist.Hier kommt vor allem inBetracht die wie,derholt betonte strikte Gegenseitigkeit (inder Bestimmung der Teile oder Systemglieder idurcheinander. Wenn ein wahrgenommener Gegenstand immer im Lichte einergewisisen Typik erscheint, so gehort auch diese typische Bestimmtheit(bei aller noch so weit gehender Unbestimmtheit hinsichtlich von Einzelheiten) zum phanomenalen und deskriptiven Bestand des in Redestehenden Wahrnehmungsnoema. Damit sind bestimmte Bedingungenfur das noematische Gesamtsystem gesetzt, damit das fragliche Wahrnehmungsnoema sich ihm einordnen und in ihm seinen Platz findenkann. Die oben erwahnte Harmonie mit der gegenwartig gegebenen

    Wahrnehmung stellt, wenn sie in formaler Allgemeinheit verstandenwird, idie oberste derartige Bedingung dar. Die in den verschiedenenkonkreten Fallen ins Spiel tretenden und von Fall zu Fall wechselndenEinzelbedingungen mit ihren materialen Besonderungen sind als jeweilige Spezifikationen der obersten formalen Bedingung aufzufassen.Noematisch gewendet, lIBt sich diese oberste formale Bedingung mitRuicksicht auf die gestalttheoretische Interpretation der Struktur des

    Wahrnehmungsnoema so formulieren: das noematische GesamtsystemmuB von einer solchen Art sein, daB es das vorliegende Wahrnehmungsnoema als einen Teil oder Glied seiner selbst in sich aufzunehmen vermag. Wir schlagen vor, diese oberste formale noematische Bedingung als das Prinzip der Sinneskonformitdt zu bezeichnen. Wertheimers Gesetz der ,kurvengerechten Fortsetzung"50) scheint uns, einSpezialfall dieses Prinzips zu sein.

    Werfen wir von dem erreichten Ergebnis her noch einen Blick aufden ProzeB ,derWahrnehmung, in dessen Verlauf das betr. Ding sichvon verschiedenen Seiten und unter wechselnden Perspektiven darstellt. In Anbetracht dessen, daB, noematisch gesprochen, das Gesamt49) S. 421.50) M. W e r t h e im e r , ?Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt" II (Psychologisch e F o r s c h u n g Bd. IV) S. 322ff.

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    system der Noemen als das ,,BewuBtseinsdquivalent" oder ,daquivalente Korrelat"51 ) des Wahrnehmungsdinges zu gelten hat, kann ;derWahrnehmungsprozeB dahin charakterisiert werden, da.B in seinemVerlauf ein Systemglied nach dem andern aktualisiert wird, wobeiallerdings Glieder, die in frfiheren Phasen aktuell waren, in spaterenPhasen ihre Aktualitat verlieren52). Vielleicht ware es noch korrekter,zu sagen, daB imVerlauf des Wahrnehmungsprozesses immer das noe

    matische Gesamtsystem selber und. als ganzes aktualisiert wird, jedoch in den verschiedenen Phasen des Prozesses vom Standpunkt standig anderer Glieder de.s Systems. Da, wie ausgeffihrt, die Bezogenheitund Orientierung auf das Ge,samtsystem, die funktionale Bedeutsamkeit fur e,s ein wesentliche-s Moment der phanomenalen Qualifikationjedes dem System angehorigen einzelnen Wahrnehmungsnoema blildet,stelit der Wahrnehmungsprozel3 sich als eine fortschreitende aktualisierende Entfaltung dieses einzelnen Wahrnehmungsnoema heraus.Selbstverstdndlich gilt das fur jedes beliebige dem System zugehorige

    Wahrnehmungsnoema. Umgekehrt kann man vom Standpunkt desletzteren, auch in noematischem Sinne, mit Herrn Merleau-Ponty voneiner ,,contraction en un seul acte perceptif de tout un processus possible " sprechen53). Nehmen wir der Einfachheit halber an, daB ein aufein bestimmtes Ding bezogener WahrnehmungsprozeB glatt und ungebrochen vonstatten geht, ohne daB Revisionen eintreten oder Neuund Andersbestimmungen notig werden, so setzen alle Phasen desProzesses einander fort und bestatigen sich gegenseitig. Der dynamische Ablauf de;s Prozesses spiegelt dann die Struktur des Wahrnehmungsnoema wiider, wie es s,ich in statischer Be,trachtung ergibt.Reziprok kann man in der statischen Struktur des Wahrnehmungsnoema die Keimzelle erblicken, aus der der ProzeB in seiner Dynamikerwachst.51) Vgl. oben S. 425.52) Siehe Husserl, IdeenIS. 80.53)M. Merleau-Ponty, Ph?nom?nologie de la perception S. 306. Dievon Herrn Merleau-Ponty vertretene Theorie der Wahrnehmung deckt sich auf weite Strekken mit dem hier Vorgetragenen; allerdings besteht diese ?bereinstimmung mehr in der des

    kriptiven Formulierung der ph?nomenalen Befunde als in deren theoretischer Interpretation.Eine Auseinandersetzung mit der Theorie von Herrn Merleau-Ponty kann hier nicht versuchtwerden, weil sie sehr weit ausholen m??te. Sie m??te auf den Grund der Divergenz gehen,der in der ganz anders orientierten Fragestellung von Herrn Merleau-Ponty liegt. Er hatkeine Untersuchung der Wahrnehmung hinsichtlich ihrer noeto-noematischen Struktur unternommen, sondern bezieht die Wahrnehmung auf den Leib (?corps ph?nom?nal"), der ihm geradezu als ?sujet de la perception" gilt (op. cit. S. 235ff). Dementsprechend f?hrt er dieStruktur der Wahrnehmung auf die leibliche Organisation zur?ck (vgl.

    u. a. o p. c i t. S. 174ff,266ff, 366ff; siehe auch die ?beraus pr?gnante Formulierung S. 216 ?L'identit? de la chose ?travers l'exp?rience perceptive n'est qu'un autre aspect de l'identit? du corps propreau cours des mouvements d'exploration, elle est donc de m?me sorte qu'elle . . .) Einigeshierher Geh?rige haben wir in unserer Th?orie du champ de la consciencePartie IV, chap. Ill 5 ausgef?hrt.