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StadtfrustIst das Leben auf dem Land wirklich besser?

AusspioniertWarum Passwörter nicht mehr sicher sind

Körper & SeeleNur gemeinsam stark

Neue Forschungsergebnisse zeigen, wie sehr die Psyche unsere Gesundheit beeinfl usst – und welche

Macht der Körper über unsere Gefühle hat

Wissenschaft bewegt uns

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Der Krieg

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Herzlich willkommen!Als ZEIT Wissen-Redakteurin

Claudia Wüstenhagen erzählte, dass

es die eigene Stimmung hebt, wenn

man sich nach oben reckt, konnte die Redaktion das erst kaum

glauben. Doch es gibt tatsächlich

Studien zur Macht des Körpers über

die Psyche. Umgekehrt zeigt sich

immer deutlicher, wie stark die Psyche

die körperliche gesund-heit beeinflusst (was jedoch viele

Ärzte noch immer nicht beachten).

In der Titelgeschichte beschreiben

Wüstenhagen und ihre Co-Autorin

Jana Hauschild das enge Zusammen-

spiel von Körper und Seele (S. 12).

Und die Redaktion achtet nun

vermehrt auf eine gute haltung: Wer aufrecht sitzt, gibt bei kniffligen

Aufgaben nicht so schnell auf.

Eine anregende

Lektüre wünscht

aus der redaktion

Ariane Heimbach wun-derte sich bei der Recherche über autistische Kinder, wie wenig die Familien vom Gesundheitssystem unterstützt werden (S. 64).

Vanessa Rehermann konnte feststellen, dass einige Stadt-Land-Klischees tat-sächlich zutreffen. Sie selbst hat beide Lebensformen ausprobiert (Seite 72).

EDITORIAL zeit

wissen

03 — 13

Jan Schweitzer, Chefredakteur

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INHALT

12 Körper und Seele – nur gemeinsam stark Welchen erstaunlichen Verbindungen

Wissenschaftler auf der Spur sind und wie Patienten davon profitieren können.

19 Mythos Krebspersönlichkeit Interview mit der Psychologin Doris Lintz.

22 Wenn Sterbende nicht loslassen können Auch in den letzten Momenten des Lebens

kann die Psyche eine große Macht haben.

Noch immer berücksichtigen zu wenige Ärzte, wie stark Körper und Psyche aufeinander einwirken. Neue Studien zei-gen: Nicht nur kann seelisches Leid der Gesundheit schaden, auch der Körper steuert umgekehrt unsere Gefühle und Gedanken. Schon unbewusste Bewegungen und Haltungen beeinflussen unsere Stimmung. Und auch die Ernährung schlägt auf die Laune.

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Luftsprünge heben die Laune, aber auch subtilere Bewegungen können Gefühle beeinflussen. seite

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auf dem Titel angekündigte Themen

Risiko Passwort Im besten Fall wollenDatendiebe nur ein bisschen Krawall. seite

Belastete Ozeane Gigantische Müllteppiche be-drohen das Leben der Meerestiere. seite

Lernen durch Nachahmen Autistische Kinder können es üben, Mimik zu verstehen. seite

Forschung & Technik

Gesundheit & Psychologie

Umwelt & Gesellschaft

06 Extreme09 Die wichtigsten Meldungen10 Expertenrat10 Woran arbeiten Sie gerade?

11 Pro & Contra: Eine Steuer auf Fleisch? 98 Rätsel /Leserforum99 Impressum

101 Kiosk/Medien104 Kaufen/Nicht kaufen106 Das will ich wissen: Sebastian Koch

Rubriken

26 Was wichtig war, was wichtig wird

28 Das Passwort zum Sonntag Warum unsere Passwörter nicht

mehr sicher sind.

34 Die Launen des Himmels Wolken gehören zum Schönsten

und Kompliziertesten, was die Natur bietet. Im neuen Klimareport kommen sie groß raus.

40 Dossier: Krieg der Zukunft41 Wie verändert sich die Kriegsführung

im 21. Jahrhundert?

42 Drohnen – Wettrüsten mit fern-

gesteuerten Bomben.

43 Das Schlachtfeld der Zukunft.

45 Dürfen Roboter selbstständig töten?

46 Die Legende vom Cyberkrieg.

48 Atombomben – neue Risiken einer

alten Technologie.

50 Was wichtig war, was wichtig wird

52 Der Fluch der Vorurteile Teil 2 der Psychologie-Serie: Warum

Vorurteile uns allen schaden – und wie man sie gezielt abbauen kann.

58 Analyse: Sorge um die Vorsorge Für die Krankheitsprävention soll es

bald mehr Geld geben. Wird es dann für das Richtige verwendet?

60 Elyn und die Dämonen Eine schizophrene Professorin

kämpft für die Rechte von psychisch Kranken.

64 Bloß nicht zu nett sein! Eine umstrittene Therapie soll

autistischen Kindern besser helfen.

70 Was wichtig war, was wichtig wird

72 Stadtlust, Landfrust? Wo lebt es sich besser, auf dem

Dorf oder in der City? Die gängigsten Klischees im Test.

76 Galerie: Frisch von der Stange Idylle ade: Unsere Lebensmittel

entstehen nicht auf dem Acker.

86 Einfach mehr verstehen: Wie Plastik das Meer verseucht.

88 Verantwortung übernehmen! Die Gewinner des ZEIT Wissen-

Preises »Mut zur Nachhaltigkeit«.

92 Nachhaltigkeit kompakt: Computer am Steuer Wie Google die Industrie mit

autonomen Autos herausfordert.

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Extreme

11278 Meter hochden höhenflugrekord unter den Vögeln hält ein Sperbergeier. Am 29. November 1973 kolli- dierte das Tier über der westafrikanischen Elfen-beinküste mit einem Verkehrsflugzeug. Der Pilot der Maschine notierte die Höhe zum Zeitpunkt des

Zusammenpralls: 11 278 Meter. Obwohl ein Trieb-werk des Fliegers nach der Kollision ausfiel, landete die Maschine später sicher in Abidjan. Identifiziert wurde der Sperbergeier anhand einiger Federn, die an dem Flugzeug klebten. F

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210 Meter tiefden tieftauchrekord unter den flugfähigen Vögeln halten Dickschnabellummen. Vertreter dieser Art leben an den Steilküsten der Nordhalbkugel und tauchen meist nachts nach kleinen Fischen, Krebs-tieren und Muscheln. Als Wissenschaftler das Jagdver-

halten mit Kapillarmessgeräten genauer untersuchten, lag die maximale Tauchtiefe bei 210 Metern. Meist bewegen sich die Tiere jedoch nicht tiefer als 40 Meter hinab. Als Zugvogel können sie allerdings nicht nur tauchen, sondern auch weite Strecken fliegen.

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FORUM zeit

wissen

s 08 bis s 11

Ein Naturschauspiel mit großem Unterhaltungswert bekamen kürzlich die Anwohner der Sunshine Coast in Australien geboten. Der Tropensturm Oswald hatte das Meerwasser an der Ostküste so aufge-peitscht, dass sich Schaum bildete – den Wind und Wellen an Land trugen. Bis zu drei Meter hoch türmten sich die Berge auf. Solche Schaummassen entstehen, wenn Wasser in Aufruhr gerät, das eine

hohe Konzentration organischer Bestandteile wie Proteine enthält. Diese können durch die Algenblü-te entstehen und wirken wie Spüli. Beim Brechen der Wellen bilden sich dann Blasen. Für die Anwoh-ner war das vergnüglich, allerdings warnten Exper-ten vor möglichen Schadstoffen. Greifbarer war eine andere Gefahr: Mitunter verschwanden fahrende Autos kurzzeitig unter dem fluffigen Teppich.

Der Schaum nach dem SturmF

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Mehr Hurrikane überm AtlantikDie Frage ist brisant für die Klimadebatte in den USA: Gibt es aufgrund der globalen Erwärmung mehr Hurrikane? Aus Satellitendaten lässt sich ein Zusammenhang ableiten, aber der ist umstritten, die Datenreihe ist zu kurz. Eine neue Prognose stützt sich nun auf Pegelstände im Südwesten der USA seit 1923. Sie dokumen-tieren Sturmfluten, die von Hurrikanen ausgelöst wurden. Ergebnis: Ein Temperaturanstieg von einem Grad Celsius würde die Zahl der Hurrikane vom Ausmaß Katrinas um das Zwei- bis Sieben-fache erhöhen. Die Arbeit bringe die Diskussion einen entscheidenden Schritt voran, kommen-tiert Klimaforscher Stefan Rahmstorf, der nicht daran beteiligt war. Nach-teil: Stürme fernab der Küste, die also keine Sturm-flut verursachen, werden nicht erfasst.

An der Wursttheke ist Zurückhaltung geboten. Laut einer Studie von Schweizer Forschern haben Menschen, die häufig Wurst oder andere verarbeitete Fleischpro-dukte essen, ein signifikant erhöhtes Risiko, an Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Krebs zu sterben. Drei Prozent aller frühzeitigen Todesfälle führt die europa-weite Studie auf den häufigen Verzehr von Fleischwaren zurück. Zum einen entstünden durch Salzen, Pökeln und Räuchern womöglich krebserregende Stoffe. Zum anderen enthielten die Produkte viel Cholesterin und gesättigte Fette. Mehr als 40 Gramm Wurst am Tag solle daher niemand essen, raten die Autoren.

Die Nebenwirkung der Wurst

Medizinern in den USA ist es offenbar gelungen, ein Baby von HIV zu heilen. Kurz nach der Ge-burt 2010 hatten die Ärzte eine Therapie aus drei antiviralen Medi-kamenten begonnen, üb-lich sind sonst ein oder zwei. Obwohl die Mutter die Präparate nach 18 Monaten eigenmächtig absetzte, ist das Virus heute nicht mehr nachweis- bar. Die Ärzte vermuten, die frühe, ungewöhnlich aggressive The ra pie habe es vernichtet.

Baby von HIV geheilt

die wichtigsten meldungen

Psychopharmaka machen Fische wagemutigWenn Rückstände von Medikamenten über das Ab-wasser in Flüsse gelangen, wirkt sich das auf die Tiere aus. Erstmalig wiesen schwedische Forscher nach, dass Reste des angstlindernden Medikaments Oxazepam das Verhalten von Barschen verändern. Die Tiere wurden dreister, unsozialer und gefräßiger, wenn man sie Konzentrationen von Oxazepam aussetzte, wie sie in einigen schwedischen Gewässern vorkommen.

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Prof. Dr. Franzis Preckel ist Hochbegabtenforscherin an der Universität Trier. Haben Sie eine Frage an die Wissenschaft? Schicken Sie diese an [email protected].

Christiane Richter, per E-Mail

Geht es Ihrer Tochter in der Schule gut? Hat sie Freude am Lernen und genügend herausfordernde Angebote? Dann besteht kein besonderer Hand-lungsbedarf. Bei Unterfor-derung kann man erst einmal das Gespräch mit den Lehrern suchen. In manchen Fällen gelingt die Förderung Begabter im regulären Klassenverband sehr gut. Für Kinder wiederum, die einen gro-ßen Wissensdurst und viel Freude an kognitiver Herausforderung haben oder die in ihrer bisherigen Schullaufbahn etliche Frustrationen ihrer Lern-freude erleben mussten, sind Klassen für Begabte eine gute Option. Zuvor sollten Sie aber eine objek-tive Diagnostik durch-führen lassen. So kann die Entscheidung fundiert werden. Beratungsstellen helfen mit Intelligenz-tests weiter. Einen Über-blick gibt zum Beispiel die Karg-Stiftung.

In Kooperation mit N-JOY.

»Meine Tochter ist hochbegabt. Soll ich sie auf

einer Schule für besonders Begabte

anmelden?«

»Ich zähle Insekten im Regenwald«

woran arbeiten sie gerade?

Mit über hundert Wissenschaftlern er-forschen wir die Artenvielfalt von Glie-derfüßern im Regenwald von Panama.

Um zu wissen, was sich in der Höhe abspielt, blies ich mit der Nebelkanone eine Mischung aus hoch raffiniertem Weißöl und gepresstem Korbblütlersaft in die Baumkronen. Damit wurden die Gliederfü-ßer betäubt. Sie fielen herunter auf Plastikfolien,

und wir konnten sie sammeln, zählen und bestim-men. Die Arbeit ist extrem kräftezehrend – wir fuhren morgens um sechs Uhr in den Wald, sam-melten bis zum frühen Abend und haben dann bis Mitternacht die Proben sortiert. Als ich nach sechs Wochen zurückkam, hatte ich rund acht Kilo abgenommen. Meine Freundin hat mich am Flughafen nicht wiedererkannt.

Der Entomologe Jürgen Schmidl forscht an der Universität Erlangen und wertet seit über sieben Jahren die Käfer dieser Insektenzählung aus. Es ist die größte Studie zur Artenvielfalt im Regenwald, die je durchgeführt wurde.

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Ein hoher Fleischkonsum schadet der umwelt und der gesundheit. Der Vorschlag

des schwedischen Landwirtschaftsrats für eine EU-weite Fleischsteuer stößt auf Widerspruch.

contra Eine Fleischsteuer würde bewirken, dass arme Haushalte ihren Fleischkonsum ein-schränken, während reiche Haushalte nur gering betroffen wären. Das belegt eine aktuelle Studie für Deutschland, die die Folgen eines zehnprozentigen Preisanstiegs von Rindfleisch untersucht hat. Das Ergebnis: Haushalte mit einem höheren Einkom-men reduzieren ihren Fleischkonsum um etwa vier Prozent, Haushalte mit geringerem Einkommen hingegen um etwa neun Prozent. Eine Fleischsteuer führt somit dazu, dass arme Haushalte weniger Fleisch von geringerer Qualität konsumieren. Es handelt sich um eine ungerechte, regressive Steuer.

Ferner würde eine Fleischsteuer – wie jede ande-re Mehrwertsteuer – künstliche Knappheit fördern, die eigentlich vom Markt selbst reguliert und nicht durch staatliche Eingriffe gesteuert werden sollte.

Die Nachteile für die Umwelt, die bei der Pro-duktion von Rindfleisch entstehen, können durch andere Maßnahmen besser verringert werden. Es gilt, nachhaltige Produktionsmethoden einzusetzen und die Verluste innerhalb der Produktion zu verringern. Und um den Fleischkonsum zu reduzieren, sollte man die Menschen über gesundheitliche und öko-logische Nachteile aufklären. Awudu Abdulai

pro & contra

pro

contra

pro Mit steigendem Wohlstand weltweit nimmt auch der Fleischkonsum zu. Mit negativen Folgen: Die Fleischproduktion verursacht immer mehr Treibhausgase; Ackerfläche wird zuneh-mend für die Herstellung von Tierfutter bewirt-schaftet; und wer viel rotes Fleisch ist, erhöht sein Gesundheitsrisiko.

Die Nachfrage nach Fleisch hängt stark vom Preis ab. Eine Steuer, die sich direkt im Kaufpreis niederschlägt, kann den steigenden Konsum brem-sen. Im Gegensatz zu Maßnahmen auf Herstellersei-te hat sie den Vorteil, dass sowohl Importware als auch heimische Ware erfasst wird. Außerdem schafft sie einen Anreiz, weniger Lebensmittel wegzuwerfen, weil Fleischprodukte wertvoller werden.

Die Treibhausgasemissionen einzelner Tiere, Höfe oder Produkte abzuschätzen ist sehr schwierig. Zudem gibt es große Unterschiede etwa zwischen den Emissionen von Hühner- und Rinderhaltung. Daher sollte die Steuer je nach Tierart pro Kilo-gramm erhoben werden und die ökologischen Fol-gekosten berücksichtigen. Wir müssen nicht alle Vegetarier werden. Aber weiterhin so viel Fleisch zu essen wie wir in der westlichen Welt ist schlicht nicht nachhaltig. Sone Ekman

Brauchen wir eine Steuer auf Fleisch?

Awudu Abdulai ist Professor für Food Economics an der Universität Kiel.

Sone Ekman ist promo-vierter Ökonom im schwe-dischen Landwirtschaftsrat.

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Neue Studien offenbaren verblüffende Verbindungen zwischen Körper und Psyche: Nicht nur kann

seelisches Leid der Gesundheit schaden, auch der Körper steuert umgekehrt unsere Gefühle.

TITELzeit

wissen

s 12 bis s 24

TextJana Hauschild & Claudia Wüstenhagen

FotosPatrick Desbrosses

Körper & Seele –nur gemeinsam stark

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Heilsame Sprünge Bewegungen und Körper-haltungen sind nicht nur Ausdruck von Stim-mungen. Sie können Gefühle auch beeinflussen. Wer etwa hochspringt, hebt seine Laune, ergab eine Studie: Depressive fühlten sich nach einem Gruppentanz besonders gut, wenn dabei viel ge-hüpft wurde.

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Titel

Heute weiß Walter Dell* nicht mal mehr, was ihn so geärgert hatte. Ver-mutlich Nichtigkeiten. Doch nach jenem Tag riss ihn die Panik aus dem Schlaf. Er hatte Schmerzen in der Brust. Wie schon öfter tagsüber,

wenn er Groll hegte. In dieser Nacht schmerzte die Brust besonders stark. Sein erster Gedanke: Das Herz versagt – wieder. Einen Herzinfarkt hatte Dell bereits hinter sich. Nun überkam ihn erneut Todes-angst. Seine Frau rief den Notarzt. Der vermeldete jedoch: falscher Alarm. Der 56-Jährige durchlebte noch zwei weitere solcher Schreckensnächte, noch zweimal brodelt der Ärger in seinem Herzen weiter, verwandelt sich in Schmerz.

Dass Herz und Seele eine Einheit bilden, gehört zum Allgemeinwissen. Wie stark sie tatsächlich auf-einander wirken – dass Gefühle körperliche Schmer-zen und sogar Herzinfarktsymptome auslösen kön-nen – das wissen nur wenige. Selbst Mediziner hielten dies lange Zeit für unmöglich. Seit René Descartes im 17. Jahrhundert die Trennung von Körper und Geist postulierte, haben Ärzte und Wissenschaftler sie lange als zwei getrennte Sphären betrachtet – und behandelt. Doch in den vergangenen Jahren zeigten Studien immer deutlicher, wie eng Körper und Psy-che miteinander verbunden sind.

Ob Herzinfarkt, Rückenschmerz oder Virus-infek tion – die Psyche hat einen immens großen Ein-fluss auf Erkrankungsrisiken und Heilungsverläufe. Ärzte müssen das berücksichtigen, wenn sie ihre Pa-tienten gut behandeln und dem Gesundheitssystem Milliarden ersparen wollen. Noch ist das anders: Ob-wohl die Psychosomatik in immer mehr medizinische Disziplinen Einzug hält, irren noch immer viele Pa-tienten durch das System, weil Ärzte nur nach kör-perlichen Ursachen ihrer Leiden suchen und die See-le nicht einbeziehen.

Umgekehrt, und das ist auch für viele Experten eine Überraschung, hat der Körper erstaunliche Macht über die Psyche. Die Forscher beginnen gera-de erst, das ganze Ausmaß zu begreifen. Biochemische Vorgänge in den Organen können Menschen emo-tional so aus dem Gleichgewicht bringen, dass sie psychisch krank werden. Manch ein psychisches Leiden entsteht womöglich gar in den Tiefen des Darms, vermuten Vertreter einer neuen Forschungs-richtung, der Neurogastroenterologie. Auch die ex-perimentelle Psychologie hat den Körper entdeckt und zeigt mit verblüffenden Studien, wie selbst unbe-wusste Bewegungen unsere Gefühle und Gedanken steuern. Womöglich ist der Körper sogar ein Schlüs-sel zu neuartigen Psychotherapien.

Schon Sigmund Freud ging davon aus, dass psy-chische Konflikte sich in körperliche Beschwerden umwandeln. Bis jedoch auch Mediziner das akzep-

tierten, vergingen Jahrzehnte. Heute weiß man, dass psychische Erkrankungen, ein hoher Druck am Ar-beitsplatz oder Konflikte in der Partnerschaft sich von der Kopfhaut bis in den kleinen Zeh bemerkbar machen können.

Bereits im Mutterleib formt das seelische Wohl der Schwangeren das Immunsystem ihres Kindes. Durchlebt sie eine Trennung oder andere Stresssitua-tionen, schüttet der Körper Cortisol aus, das über die Plazenta auch in den Körper des Fötus gelangt und dort das Immunsystem verändert (siehe linke Rand-spalte). Die betroffenen Kinder leiden dann als Er-wachsene eher unter Allergien oder Asthma.

Später kommt der eigene stressige Alltag hin-zu, der das Immunsystem schwächt und den Körper anfälliger macht für Viren und Bakterien. So sind etwa psychisch stark beanspruchte Pfleger von Alz-heimerpatienten nicht nur deutlich häufiger krank als Menschen in anderen Berufszweigen, wie eine Studie in den USA ergab. In ihrem Körper vermeh-ren sich schützende Immunzellen auch weniger stark als üblich. Die Pfleger in der Studie bildeten nach einer Grippeimpfung zudem oftmals weniger Anti-körper als nötig, um geschützt zu sein. Manchmal lässt sich die Wirkung der Psyche sogar direkt be-obachten, etwa an Wunden: In belastenden Zeiten heilen sie langsamer. Verschwindet der Schorf sonst nach einer Woche, dauert es unter Prüfungsstress fast drei Tage länger. Bei ständig streitenden Ehe-partnern kommen etwa vier Tage hinzu.

Im Extremfall kann der Einfluss der Psyche le-bensgefährlich sein: Bei vier von fünf Herzinfarkt-patienten war sie ausschlaggebend, schätzen Exper-ten. Das Risiko steigt etwa, wenn der Job einem viel abverlangt, aber nicht ausreichend entlohnt wird oder keinen Freiraum für eigene Ideen lässt. Oftmals blockiert das Herz aber erst, wenn sich Konflikte, Stressfaktoren oder Schicksalsschläge anhäufen.

Unter Stress schüttet der Körper die Hormone Cortisol und Adrenalin aus, daraufhin pumpt das Herz schneller und mit mehr Druck. Der Körper ist auf Aktion eingestellt. An sich ist das nicht schädlich. Dauerbe-

lastung kann jedoch zu chronischem Bluthochdruck führen, der wiederum eine Arterienverkalkung ver-ursachen kann, die eng mit Herzinfarkten verknüpft ist. Doch ist die Psyche in der Regel nicht die alleini-ge Ursache. Falsche Ernährung, Übergewicht und Rauchen sind ebenfalls Risikofaktoren.

Dennoch wollen Forscher sogar einen bestimm-ten Persönlichkeitstypus identifiziert haben, der die Koronare Herzkrankheit begünstigt. Demnach sind Menschen mit einer »Typ D«-Persönlichkeit (D wie distressed), die oft schlecht gelaunt, ängstlich und

Wichtige BotenstoffeWenn seelischer Stress das Herz schneller schlagen lässt oder körperliche Anstren-gung euphorisch macht, dann sind Botenstoffe am Werk, Hormone. Sie sind mit-verantwort lich für die enge Wechsel wirkung von Kör-per und Psyche und steuern unser Verhalten.

AdrenalinDas Hormon wird bei Stress von der Nebenniere ausgeschüttet. Es gelangt in die Blutbahn und wirkt auf Herz, Gefäße, Magen und Darm. Blutdruck, Herzfrequenz und Blut-zuckerspie gel steigen an, Körper und Psyche werden in Alarmbereitschaft versetzt. Wird Adrenalin nicht wieder, etwa durch Bewegung, abgebaut, kann ein Überschuss langfristig zu Depressionen führen.

NoradrenalinEbenfalls bei Stress wird Noradrenalin frei gesetzt, das chemisch mit Adrena-lin verwandt ist. Es verengt kleine Arterien, sodass der Blutdruck steigt, und ver-mittelt zudem Informatio-nen im Nervensystem.

CortisolDas Hormon sorgt dafür, dass dem Körper bei Stress Energie etwa in Form von Zucker zur Verfügung steht. Seine Konzentration im Blut schwankt im Tages verlauf stark. In ho-hen Dosen hemmt Cor-tisol das Immunsystem auf vielfache Weise. Das kann nützlich sein, um den Kör-per vor überschießenden Entzündungsreaktionen zu schützen, kann ihn aber auch anfälliger machen, etwa für Infektionen.

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Bedenkliche Falte Ziehen sich die Augen-brauen zu einer tiefen Falte zusammen, lässt das auf miese Stimmung schließen. Aber vielleicht fördert eine solche Mimik auch negative Gefühle: Als Psychiater die Zornesfalte von Depressiven mit Botox lähmten, nah-men bei einigen die depres-siven Symptome ab.

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Titel

Wohliges ReckenWenn Menschen sich in die Höhe recken und ihre Arme heben, können sie sich leichter an schöne Er-lebnisse erinnern. Das zeigte ein Experiment nie-derländischer Psycholin-guisten. Bewegungen nach unten förderten hingegen eher negative Erinnerungen.

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niedergeschlagen sind, besonders gefährdet. Ebenso im Verdacht: der Persönlichkeitstyp A. Solche Men-schen sind übertrieben ehrgeizig, geradezu verbissen und daher nicht selten feindselig. »Perfektionismus ist für mich sogar der wichtigste Risikofaktor«, sagt Jo-chen Jordan, Leiter der Abteilung für Psychokardio-logie an der Kerckhoff-Klinik in Bad Nauheim.

Noch gefährlicher als Stress oder be-stimmte Persönlichkeitstypen sind psychische Erkrankungen. »Depres-sionen belasten das Herz ähnlich stark wie das Rauchen«, sagt Chris-toph Herrmann-Lingen vom Zen-

trum für Psychosoziale Medizin der Universität Göt-tingen. Sie verdoppeln das Risiko einer Herzkrankheit. Schon eine unterschwellige Depression ist vergleich-bar mit dem Schaden, den Passivrauchen verursacht. Zwar könne die psychische Erkrankung nicht allein zum Infarkt führen, sagt Herrmann-Lingen. »Sie kann aber sein Auftreten beschleunigen.« Bei depres-siven Menschen gerinnt das Blut schneller, die Fre-quenz des Herzschlags ist nicht mehr so variabel, und Entzündungen treten häufiger auf, etwa in den Blut-gefäßen – Umstände, die den Herzinfarkt begünsti-gen. Zudem neigen Depressive zu ungesundem Ver-halten wie Kettenrauchen oder Frustessen.

Herzleiden und Schwermut sind ein gefährli-ches Paar. Die Überlebenschancen für Menschen mit Depressionen nach einem Herzinfarkt sind deutlich geringer als für jene, deren Seele nicht leidet. Das ist problematisch, denn Menschen, die einen Infarkt überleben, bekommen später häufig psychische Pro-bleme. Viele leiden unter Ängsten, manche sogar unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Umso wichtiger ist es, dass Mediziner bei Herzkranken oder Risikopatienten das seelische Wohlbefinden mit im Blick haben. Dieses Bewusstsein wächst in Fachkrei-sen. Immer mehr Kliniken haben psychokardiologi-sche Stationen, die sich besonders dem Wechselspiel zwischen Herz und Seele zuwenden.

Auch Walter Dell hat sechs Wochen auf einer solchen Station im Universitätsklinikum Göttingen verbracht. Zunächst war er skeptisch: »Ich fand es schwer zu glauben, dass mir mein Kopf einen wei-teren Herzinfarkt vorgaukelt, dass Ärger mein Herz belastet.« Inzwischen ist er dankbar: »Ich bin herge-kommen als ein Häufchen Elend. Heute kann ich wieder Leute zum Lachen bringen.« Psychotherapie allein und in der Gruppe, Entspannungsübungen sowie Kunsttherapie haben ihn aufgepäppelt. In der Kunsttherapie hat er sein jetziges Ich aufgemalt: ein Ei. Dort, wo sonst Dotter schwimmt, befindet sich sein Herz. Es ist dort sicher, denn an der Schale pral-len all der Stress und der Ärger ab, die ihm zuvor noch in die Brust schossen.

Es scheint also so, als hätten die Mediziner das enge Zusammenspiel zwischen Körper und Seele erkannt und endlich die nötigen Konsequenzen gezogen. Die Mehrzahl der psychiatrischen Kliniken etwa trägt heute das Label Psychosomatik im Namen. Auch hat sich die Zahl der Klinikbetten für psycho-somatische Patienten verdoppelt. Tatsächlich aber greifen weiterhin viele Ärzte nur auf Medikamente zurück. Die Psyche wird noch immer als eher un-wichtig angesehen.

Unter Hausärzten dominiert oft noch das Bild der rein körperlichen Erkrankung. »Wir werden falsch ausgebildet«, sagt der Rostocker Hausarzt Thomas Maibaum, der im Hausärzteverband Meck-lenburg-Vorpommern für Fort- und Weiterbildung zuständig ist. Im Studium lernten Nachwuchsmedi-ziner zu wenig über die Psyche, und in der Praxis würden sie darauf getrimmt, zunächst nur nach kör-perlichen Gründen für eine Erkrankung zu suchen. Dabei hat jeder fünfte Patient einer Hausarztpraxis körperliche Beschwerden, für die es keine organische Ursache gibt. Im Schnitt dauert es bis zu sechs Jahre, bis diese Patienten in psychosomatische Behandlung gelangen. Viele haben dann eine wahre Odyssee hinter sich.

Für die Betroffenen bedeutet das zusätzlichen Stress, oft bekommen sie falsche Medikamente und sollen zu unnötigen Untersuchungen. Und das Ge-sundheitssystem wird mit erheblichen Mehrkosten belastet – Milliardenbeträge könnten eingespart wer-den, wenn Ärzte das seelische Befinden und die so-zialen Umstände ihrer Patienten mehr berücksichti-gen würden, schätzen Experten.

Deutlich wird das am Beispiel Rückenschmer-zen. Sie sind hierzulande eine der teuersten Erkran-kungen. Vier von fünf Deutschen haben im Laufe ihres Lebens mindestens einmal Beschwerden im Rü-cken. Bei mehr als 80 Prozent davon findet sich keine körperliche Ursache. Aber selbst wenn der Arzt einen Bandscheibenvorfall feststellt, muss dieser nicht den Schmerz verursachen. Oft spielt die Psyche eine wichtige Rolle. Sie entscheidet, wie stark Men-schen ein Stechen oder Ziehen empfinden. Depres-sive etwa verspüren oft schon leichtes Piken als un-angenehmen Schmerz. Auch Stress und Konflikte können Schmerzen verstärken.

Bei jedem dritten Rückenschmerzpatienten ist der Kopf der Grund dafür, dass aus kurzzeitigen Be-schwerden jahrelange Leiden werden. Denn Rücken-schmerzen werden vor allem dann zum Problem, wenn man sie überbewertet, bei jedem Zwicken ei-nen Arzt aufsucht oder gar das Bett hütet. Wer sich aus Angst vor Schmerzen schon beim ersten Stechen aus gewohnten Alltagshandlungen zurückzieht und sich zu sehr schont, erreicht damit keine Linderung, sondern das Gegenteil: Die Rückenmuskulatur ver-

EndorphineBei Schmerzen, Verletzun-gen und körperlicher Anstrengung werden diese körpereigenen Drogen ausgeschüttet. Sie docken an denselben Rezep toren an wie Heroin oder Morphium. Endorphine wirken euphorisierend, min dern Schmerzen und Angst und sind vermut lich am Placeboeffekt beteiligt.

SerotoninDas sogenannte Glücks-hormon sorgt für Ruhe und Zufriedenheit, dämpft Aggressionen, Ängste und Hunger. Wie sich die Ausschüttung fördern lässt, ist nicht eindeutig klar. Ein Zusammenhang mit Sport, Fasten und Licht wird angenommen. Kaffee verstärkt die Wir-kung von Serotonin.

Prolaktin Das Hormon sorgt für die Produktion von Mutter-milch und animiert die Eltern, sich um ihren Nach-wuchs zu kümmern. Auch bei Vätern steigt kurz vor der Geburt die Kon-zentration im Blut an. Fördern lässt sich die Aus-schüttung durch Sex, Bier und wohl auch Musik mit tiefen Tönen wie den »Bolero« von Ravel.

PhenylethylaminEs wird für das Gefühl erster Verliebtheit verant-wortlich gemacht. Aber auch Fallschirmspringen und Achterbahnfahren führen zu einer erhöhten Konzentration. Depressive Menschen haben oft zu wenig Phenylethylamin.

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kümmert und schmerzt schließlich bei Bewegungen noch mehr. Ein Teufelskreis setzt ein. Manchmal ir-ren Patienten jahrzehntelang vom Hausarzt zum Or-thopäden zum Chirurgen zur Physiotherapie zur Osteopathie – ohne Erfolg. Laut einem Report der Krankenkasse DAK kostet dies das Gesundheitssys-tem jedes Jahr 25 Milliarden Euro. Ein Viertel davon könnte eingespart werden, wenn die Ärzte vermehrt moderne Therapiemethoden einsetzen würden wie etwa psychologische Schulungen.

Am Rückenzentrum Berlin wird das schon seit Jahren berücksichtigt. Ne-ben Sport- und Physiotherapie sowie ärztlicher Behandlung nehmen die Patienten hier auch teil an einer Psy-chotherapie. Dabei lernen sie etwa,

sich immer wieder bewusst zu entspannen, gerade wenn der Alltag stressig ist. Denn wer bei der Arbeit viel zu tun hat oder psychisch Belastendes erledigt, verspannt sich oft automatisch. Die Rückenmuskeln sind dann dauerhaft aktiviert und fangen an zu schmerzen. Entspannungsübungen können in vielen

Fällen verhindern, dass Schmerzen überhaupt ent-stehen. Sind die Beschwerden bereits chronisch, hilft etwa ein Aufmerksamkeitstraining.

Selbst bei einer körperlichen Ursache der Be-schwerden kann die Psychotherapie helfen. Für Ka-trin Wagners* Rücken war sie ein Segen. Die 46-Jäh-rige hatte mehrere Bandscheibenvorfälle erlitten. Warnsignale ihres Rückens ignorierte sie lange Zeit, arbeitete mitunter 80 Stunden pro Woche, obwohl sie nur eine Teilzeitstelle hatte. Bis es eines Tages in ihrem Rücken knallte. Sie schaffte es noch in den Zug nach Hause. Heraus konnte sie nur noch krabbeln und blieb bewegungsunfähig auf dem Bahnsteig liegen. Zwei Tage vor dem Jahresurlaub. Und weil ihr die Familie noch wichtiger war als die Arbeit, fuhr sie unter Schmerzen mit – im Wohnmobil Richtung Toskana. Zurück in Berlin war ihre rechte Körper-hälfte gelähmt. Nur einige Tage länger, und es wäre für immer so geblieben.

Sie kam aber wieder auf die Beine – und mach-te weiter wie zuvor. Immer wieder wehrte sich ihr Rü-cken, ließ sie erstarren. Etwa beim Flanieren auf dem Kurfürstendamm, als ein Polizist die Autos um die unbewegliche Frau auf der Straße herum manövrieren musste. Als es eines Tages wieder in ihrer Wirbelsäule knallte, schickte die Krankenkasse sie ins Rückenzen-trum Berlin. In der Psychotherapie lernt Wagner nun, ihre Muskeln zu entspannen und ihre Denkweise zu ändern – sie lernt, dass sie nicht immer alles leisten muss. Wenn es jetzt in ihrer Lende zieht, weiß sie: »Das ist ein Hilfeschrei meines Rückens.«

Patienten profitieren davon, dass Körper und Seele in Forschung und Praxis zusammenwachsen. Dabei nur den Einfluss der Psyche zu berücksichtigen wäre wiederum zu kurz gedacht. Denn umgekehrt hat auch der Körper Macht. Körperliche Erkrankungen können ihrerseits psychische Leiden hervorrufen. Dass Menschen verzweifeln, wenn sie immerzu Schmerzen ertragen oder ihr Leben nach einer Dia-betes-Diagnose umstellen müssen, wenn sie einen erneuten Herzinfarkt oder die Rückkehr eines Tumors befürchten, ist verständlich. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass oft auch körperliche Prozesse im Ver-borgenen wirken, die auf die Seele schlagen.

Beim Diabetes sind Forscher solchen Zusam-menhängen auf der Spur. Diabetes ist nicht nur eine mögliche Folge von Depressionen, sondern verdop-pelt umgekehrt auch das Risiko, depressiv zu werden. Forscher vermuten, dass Diabetiker nicht nur unter den Belastungen der Krankheit leiden, sondern dass in ihrem Körper auch Prozesse ablaufen, die sie für Depressionen anfälliger machen. Zum einen fühlen sich Diabetiker bei einer schlechten Blutzuckerein-stellung häufig erschöpft, sind unkonzentriert und antriebslos. »Das kann auf die Stimmung schlagen und depressive Symptome begünstigen«, sagt der

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Mächtige PoseWer die Arme hinter den Kopf legt oder seine Hände in die Hüften stemmt, wirkt nicht nur auf andere selbstbewusst, sondern auch auf sich selbst. Sozial-psychologen der Harvard University fanden heraus, dass schon zwei Minuten in einer solchen Pose Menschen risikofreudiger und weni-ger stressanfällig machen.

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Psychologieprofessor Frank Petrak vom LWL-Uni-versitätsklinikum Bochum, der sich seit Jahren mit der Psyche von Diabetikern beschäftigt. Zum ande-ren kann die Krankheit möglicherweise auch zu Ver-änderungen im Gehirn führen.

Ein Indiz dafür ist, dass manche Diabetiker eine verminderte Plasmakonzentration des Wachstums-faktors BDNF (brain-derived neutrophic factor) haben. Dieses Protein spielt eine wichtige Rolle beim Wachs-tum von Nervenzellen. Tierversuche ergaben zudem, dass Diabetes bei Mäusen die Bildung von Nerven-zellen im Hippocampus beeinträchtigt. Und bildge-bende Untersuchungen an Menschen deuten auf ein reduziertes Hirnvolumen mancher Diabetiker in be-stimmten Arealen wie der Amygdala und dem Hip-pocampus hin. Zwar sind dies bislang nur Einzelbe-funde, aber sie legen eines nahe: »Angenommen, das Nervenwachstum im Hippocampus ist bei manchen Diabetikern gestört, dann behindert das möglicher-weise die Lernfähigkeit«, sagt Petrak. »Vielleicht kön-nen sie dann weniger gut lernen, schwierige Situatio-nen zu bewältigen.« Das könnte eine Depression begünstigen. Bislang ist das Spekulation. Doch dass körperliche Prozesse psychische Symptome erzeugen können, ist unstrittig. In manchen Fällen weisen Letz-tere sogar erst auf ein körperliches Problem hin.

So wie bei Tina Scholl*. Sie war viele Jahre lang in Behandlung von Psychiatern. Mal vermutete man eine Depression, mal eine Borderline-Störung oder Schizophrenie. Tatsächlich hatte Scholl heftige Symp-tome, mitunter fühlte sie sich verfolgt und beobach-tet. Doch egal, was die Therapeuten ihr verabreichten, es wurde nur noch schlimmer. Denn verantwortlich war kein psychisches Leiden, sondern eine erblich be-dingte Stoffwechselstörung namens Porphyrie. Sie stört den Aufbau des roten Blutfarbstoffs Hämoglo-bin, sodass sich Vorstufen in den Organen anreichern. Der Körper reagiert mit extremen körperlichen und geistigen Symptomen. Nachdem Ärzte die wahre Ur-sache von Scholls Problemen gefunden und behandelt hatten, ging es ihr schlagartig besser.

Erich Kasten schildert diese Geschichte als ex-tremes Beispiel einer Fehlinterpretation. Er hat solche Fälle schon öfter erlebt. Der Psychologe ist Professor an der Universität Göttingen, behandelt aber auch Patienten in seiner Praxis in Travemünde. Es kommt vor, dass Menschen seine Hilfe suchen, bei denen er keine psychische Störung feststellen kann. »Sie hatten eine glückliche Kindheit, führen ein intakte Ehe, haben gesunde Kinder und einen prima Job, dennoch können sie sich zu nichts mehr aufraffen«, sagt Kas-ten. Er schickt sie für ein Blutbild zurück zum Haus-arzt – oft finde der dann auch etwas.

Schon eine Unterfunktion der Schilddrüse kann ähnliche Symptome auslösen wie eine Depression. Eine Überfunktion hingegen ruft mitunter Stim-

Frau Lintz, kann man von Stress oder Kum-

mer Krebs bekommen?Nach heutigem Kenntnis-stand ist das wissenschaft-lich nicht belegt. Krebs ist ein sehr vielschichtiges Geschehen, nur selten lässt sich überhaupt eine ein-zelne Ursache feststellen. In Langzeitstudien hat man eine große Zahl von Menschen über viele Jahre begleitet, um zu un-tersuchen, wer von ihnen an Krebs erkrankt und wer nicht. Diese Studien gaben insgesamt keine Hinweise darauf, dass Krebs eine Folge psychischer Belastung ist. Etwas anders ist es, wenn jemand wegen psychischer Belastung viel raucht oder Alkohol trinkt. Dann steigt das Risiko, etwa für Lungen- oder Brustkrebs.Aber warum vermuten viele Patienten eine psychische Ursache für ihre Krankheit?Es ist ein menschliches Bedürfnis, bei einschneiden-den Ereignissen nach Er-klärungen zu suchen. Und wer gezielt Belastendes in der Vergangenheit sucht, wird wahrscheinlich etwas finden, einfach weil fast jeder solche Erlebnisse hat. Manche Erklärungen ha-ben einen stabilisierenden Effekt. Wenn es dem Pa-tienten hilft, sollte man das respektieren.Wann wird es problema-tisch?Schwierig ist, wenn Außen-stehende den Patienten ungefragt mit Deutungen konfrontieren oder ihm gar die Schuld an seiner Krankheit geben. Das

kann Patienten zusätzlich belasten.Welche Rolle spielt die Persönlichkeit?Die Idee einer sogenann-ten Krebspersönlichkeit gilt als überholt. Ein direkter Einfluss der Per-sönlichkeit ist wissen-schaftlich nicht erwiesen.Warum hält sich der Mythos von der Krebs-persönlichkeit dann so hartnäckig?Wahrscheinlich ist die ei-gene Wahrnehmung, nach der es doch einen Zusam-menhang gibt, stärker als das Wissen um Befunde aus der Forschung. Ich den-ke, der Mythos trägt auch dazu bei, die empfundene Bedrohlichkeit von Krebs abzumildern. Wenn ich eine Erklärung dafür habe, warum es gerade meinen Nachbarn getroffen hat, fühle ich mich womöglich selbst sicherer, denn ich bin ja anders. Und warum glauben Betroffene selbst daran?Der Patient selbst erhofft sich unter Umständen, Einfluss auf die Erkrankung nehmen zu können, in-dem er »an sich arbeitet«. Aber dazu ist die Daten-lage widersprüchlich. Dass eine bestimmte Art des Umgangs zu besseren Hei-lungschancen führt, ist nicht erwiesen. Für die Lebenszufriedenheit kann es aber durchaus eine Rol-le spielen. Der Patient muss also nicht kämpfen?Er sollte alles tun, was ihm hilft, mit der Krank-heit umzugehen. Was das ist, kann nur er selbst he-rausfinden. Für manche kann der Kampfgeist eine wichtige Strategie sein, für andere ist es vielleicht

eher ein Akzeptieren und Arrangieren. Typisch ist, dass ein Patient unter-schiedliche Phasen durch-läuft. Zeitweise ist er hoffnungsvoll und kämpfe-risch, dann gibt es Phasen, in denen Zukunftsängste überwiegen oder er ein-fach sehr erschöpft ist. Er braucht keine Angst zu haben, dass er deshalb nicht gesund wird?Negative Gefühle schmä-lern nicht per se die Heilungschancen. Man sollte niemanden unter Druck setzen, immer kämpferisch zu sein. Es kommt gelegentlich vor, dass der Krebs plötz-lich verschwindet. Kann man das fördern?Es gibt Untersuchungen, in denen man versucht hat, herauszufinden, was solche Spontanremissio-nen oder Spontanheilun-gen begünstigt. Aller-dings fehlen kontrollierte Studien. Die Zahl der untersuchten Patienten ist sehr klein, weil es sich um ein sehr seltenes Phä-nomen handelt. Auch wenn die Patienten selbst eine Spontanheilung rück blickend auf die eige-ne Grundeinstellung oder mög li cher wei se auf eine alternative Heilme-thode zurückführen – bis-her gibt es keine Belege dafür, dass bestimmte Faktoren eine Spontan-heilung fördern, auch kei-ne psychologischen. Interview: Heike Dierbach

Doris Lintz ist Psycho login und Psychoonkologin beim Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungs-zentrums und Expertin für die psychosozialen As-pekte der Krankheit.

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»Die Idee einer Krebspersönlichkeit gilt als überholt«

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mungsschwankungen hervor, die das Leben der Be-troffenen gehörig durcheinanderbringen. Sogar eine Zahnwurzelentzündung könne zu psychischen Symptomen führen, sagt Kasten. Wenn eine Ent-zündung unentdeckt bleibt oder länger anhält, kann das Menschen emotional so aus der Bahn werfen, dass Ärzte sie als psychisch krank einstufen. Botenstoffe des Immunsystems lösen im Gehirn das typische Krankheitsgefühl aus, das Infizierte zum sozialen Rückzug drängt, sie introvertierter und antriebslos werden lässt. Eigentlich ist das sinnvoll, Kranke ge-hören schließlich ins Bett. Doch auf Dauer kann es das psychische Gleichgewicht gefährden.

Es gibt zahlreiche solcher körperlichen Ursa-chen von psychischen Störungen, auch Vitamin-mangel oder -überversorgung gehören dazu. »Letzt-lich beruhen ja alle geistigen Prozesse auf einer körperlichen Basis. Da ist es nicht verwunderlich, dass viele organische Störungen sich auch mental bemerkbar machen«, sagt Kasten. Nur wisse das eben nicht jeder.

So wie Ärzte häufig versäumten, psychische Ur-sachen für körperliche Probleme in Betracht zu zie-

hen, so vermuteten Psychotherapeuten meist nicht, dass körperliche Ursachen hinter psychischen Symp-tomen stehen könnten, sagt Kasten. Es fehle ihnen an medizinischer Ausbildung. »Was sie lernen, ist nicht ausreichend, um die Vorgänge im Körper wirklich fundiert zu verstehen.« Es genüge daher nicht, Ärzte in Psychosomatik zu schulen. Andersherum müssten Psychologen den Körper besser verstehen.

Möglicherweise liegt die Ursache ei-ner psychischen Störung manch-mal in einer Körperregion, in der sie kaum jemand vermuten wür-de: im Darm. »Lange Zeit ging man nur davon aus, dass psycho-

somatische Störungen zu Magen- und Darmerkran-kungen führen können. Doch seit einigen Jahren mehren sich Hinweise, dass es auch umgekehrt sein könnte«, sagt Peter Holzer, Professor für Experimen-telle Neurogastroenterologie an der Medizinischen Universität Graz.

Die Vertreter der noch jungen Disziplin Neuro-gastroenterologie betrachten den Darm wegen seiner millionenfachen Nervenzellen als eine Art zweites Gehirn. Es empfängt nicht nur Signale aus dem ers-ten Gehirn, sondern sendet umgekehrt auch Infor-mationen dorthin. Neben den Nervenzellen nehmen so auch Immunbotenstoffe, Darmhormone und Bakterien Einfluss auf das Gehirn – und steuern wo-möglich Emotionen.

Tierversuche haben etwa gezeigt, dass Labor-mäuse sich ängstlicher verhalten, wenn ihr Darm ent-zündet ist. Andere Mäuse wurden depressiv, als For-scher bestimmte Darmhormone durch genetische Manipulation außer Gefecht setzten. Dass diese Bo-tenstoffe das Verhalten steuern, sei sinnvoll, sagt Peter Holzer. Ghrelin beispielsweise werde bei Hunger aus-geschüttet und senke Angst und Depressivität. »Beides wäre bei der Futtersuche ja eher hinderlich.«

Noch erstaunlicher sind die Befunde zur Darm-flora. »Man nimmt heute an, dass Darmbakterien Stoffe bilden, die über das Blut ins Gehirn gelangen und dort emotionale Prozesse verändern können«, sagt Holzer. Als Wissenschaftler aus Kanada die Darmflora von Mäusen mit Antibiotika lahmlegten, waren die Tiere deutlich erkundungsfreudiger als zu-vor – ein Indiz für verminderte Angst. Holzers Team kam zu ähnlichen Resultaten, allerdings beobachte-ten es zudem, dass die Mäuse auch Gedächtnispro-bleme bekamen. Viel Wirbel machte eine Studie aus Irland, in der Forscher Mäuse mit einem Probioti-kum behandelten. Sie berichteten, die Mäuse seien nach vier Wochen Laktobazillus-Kost weniger ängst-lich und depressiv gewesen und hätten zudem mit Stress besser umgehen können. Sogar entsprechende Veränderungen im Gehirn ließen sich nachweisen.

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Sich hängen lassenVorsicht vor einer krum-men Haltung! Ex perimente ergaben, dass Menschen, die eine Weile mit gekrümm-tem Rücken sitzen, an-schließend bei frustrieren-den Auf gaben schneller aufgeben und sogar bei Lob weniger stolz auf sich sind als solche mit einer aufrechten Haltung.

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Natürlich legen solche Versuche die Vermutung nahe, dass man über die Ernährung gezielt seine Stim-mung beeinflussen kann. »Wir wissen immerhin, dass die Ernährungsqualität großen Einfluss auf die Zu-sammensetzung der Darmflora hat«, sagt der Neuro-gastroenterologe Holzer. Noch ist aber unklar, ob und wie sich psychische Parameter darüber steuern lassen. Inwieweit man von den eher simplen Tierversuchen auf die komplexe Psychopathologie beim Menschen schließen kann, ist fraglich. Erste Studien an Men-schen hält Holzer nur für bedingt aussagefähig. So wollen Forscher festgestellt haben, dass ein probioti-sches Milchgetränk über längere Zeit die Stimmung von manchen gesunden Probanden verbessert. »Al-lerdings war die Teilnehmerzahl sehr gering«, sagt Holzer. Ein Joghurtdrink gegen Depression, das wäre fast zu schön, um wahr zu sein – und ein Riesenge-schäft für die Lebensmittelindustrie.

Dennoch sind Wissenschaftler überzeugt, dass eine gesunde Ernährung die psychische Gesundheit fördert. Darauf deutet eine wachsende Zahl groß an-gelegter Studien hin. Eine prospektive Studie mit etwa 3000 Jugendlichen in Australien zeigte bei-spielsweise, dass sich bei Teilnehmern, die im Laufe der Jahre ihre Ernährung auf gesunde Kost umstell-ten, auch das psychische Wohlbefinden verbesserte. Bei Jugendlichen, deren Ernährungsqualität hinge-gen abnahm, sank auch das psychische Wohlbefin-den. Andere Studien geben Hinweise darauf, dass besonders Mittelmeerkost der Seele guttut.

Der eigene Körper ist also durchaus auch ein Schlüssel zum seelischen Glück. Sogar seine Bewegungen tragen dazu bei. Schon länger weiß man, dass körperliche Ertüchtigung der Psyche guttut. Nicht ohne

Grund wird Depressiven empfohlen, sich möglichst viel zu bewegen. Sport steigert die Ausschüttung von Endorphinen. Psychologen haben aber noch ver-blüffendere Mechanismen entdeckt.

Studien zeigen: Unser Denkapparat funktio-niert keineswegs wie ein Computer, isoliert von der Umwelt in einem starren Gehäuse. Die Gefühle und Gedanken, die im Kopf entstehen, sind abhängig von dem Körper, auf dem er sitzt. Schon unbedachte Bewegungen oder Haltungen lenken unsere Emp-findungen und Urteile. So können sich Menschen in Experimenten leichter an positive Ereignisse erin-nern, wenn sie ihre Arme von unten nach oben heben oder wenn sie lächeln und aufrecht sitzen. Wer da-gegen eine Weile in gekrümmter Haltung dasitzt, gibt bei frustrierenden Aufgaben schneller auf und ist bei Erfolgserlebnissen weniger stolz.

Den Probanden in solchen Studien ist meist nicht einmal bewusst, dass sie eine bestimmte Bewe-

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gung ausführen oder Haltung einnehmen. Sie wer-den mit subtilen Tricks dazu gebracht. In einem be-rühmten Experiment des Sozialpsychologen Fritz Strack etwa fanden Testpersonen einen Cartoon deutlich lustiger, wenn sie einen Stift zwischen den Zähnen hielten, der automatisch ihre Lächelmuskeln aktivierte. Andere Probanden, die den Stift mit ihren Lippen umstülpen sollten und deshalb nicht lächeln konnten, waren weitaus weniger amüsiert.

Es scheint, als wäre die Mimik nicht nur Aus-druck von Gefühlen, sondern verstärke diese auch oder rufe sie erst hervor. Psychologen haben viele Hinweise dafür gefunden, dass das Aktivieren von Muskeln Menschen in bestimmte Stimmungen ver-setzen und ihre Urteile beeinflussen kann. Der So-zial psy cho lo ge Jens Förster etwa konnte zeigen, dass Menschen empfänglicher für positive Wörter wer-den, wenn man sie dazu bringt, mit dem Kopf zu nicken. Lässt man sie dagegen den Kopf schütteln, speichern sie eher negative Informationen ab. In ei-ner anderen Studie wiesen Strack und Förster nach, dass Personen, die ihre Arme beugen, weil sie von unten gegen eine Tischplatte drücken sollen, sich an erfreulichere Dinge erinnern als Personen, die von oben auf die Platte drücken und somit ihre Arme durchstrecken.

Bestimmte Bewegungen, so die These, werden im Laufe des Lebens mit jenen positiven oder negativen Stimuli ver-knüpft, mit denen sie gemeinsam auf-treten. So ist etwa das Beugen des Arms assoziativ verbunden mit Dingen, die

man an sich heranzieht, weil man sie haben möchte, oder mit Menschen, die man umarmt. Durchge-streckt wird der Arm hingegen oft, wenn wir etwas Unerwünschtes von uns drücken.

»Erinnerungen werden auf verschiedenen Ebe-nen gespeichert«, sagt Johannes Michalak, Psycho-logieprofessor von der Universität Hildesheim. »Emotionale Informationen werden verknüpft mit körperlichen Repräsentationen. Somit sind bestimm-te Bewegungen oder Haltungen assoziiert mit Ge-fühlszuständen.« Michalak spricht von einem Ge-dächtnisnetzwerk. »Wird ein Knoten in diesem Netzwerk aktiviert, etwa durch die Körperhaltung, dann werden automatisch auch die anderen Knoten aktiviert, wie die emotionale Information.«

Das verzerrt die Aufmerksamkeit für neue Infor-mationen. Michalak hat gezeigt, dass Menschen sich positive Begriffe besser merken können, wenn sie auf-recht sitzen oder schwungvoll gehen. Sitzen sie dage-gen zusammengesunken oder schlurfen vor sich hin, ist ihre Aufmerksamkeit für negative Wörter erhöht. »Die körperliche Veränderung führt dazu, dass unser Informationsverarbeitungssystem anders konfiguriert

wird«, sagt Michalak. »Wenn ich eine positive Haltung einnehme, wird eher das System für die Verarbeitung von positiven Informationen konfiguriert.«

So kurios die Versuche auch anmuten, sie sind weit mehr als unterhaltsame Grundlagenforschung. Aus den Erkenntnissen der Forscher können sich An-sätze für neue Therapien ergeben. Johannes Michalak will untersuchen, ob ein spezielles Bewegungstrai-ning möglicherweise gegen Depressionen hilft oder Rückfällen vorbeugen könnte. Er hat festgestellt, dass Depressive langsamer und gebeugter gehen als psy-chisch gesunde Menschen. Das Problem: »Wenn man depressiv geht, dann werden auch eher negative Ge-fühlszustände aktiviert«, sagt Michalak. Möglicher-weise können Depressive auch deshalb nur so schwer aus ihrer negativen Welt ausbrechen, weil ihr Bewe-gungsmuster sie darin gefangen hält.

Sogar Menschen, die eine Depression über-wunden haben, zeigen zu einem gewissen Grad noch immer ein depressives Gangmuster, fand Michalak heraus. Er befürchtet, dass Rückfälle dadurch be-

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Die alte Dame will nicht mehr. »Meine Zeit ist ab-gelaufen«, sagt sie zu den Ärzten. Aber noch hält sie ihre Kraft zusammen. Sie wartet auf ihre Tochter, die aus den USA kom-men will. Als die Tochter endlich da ist, wirkt die Patientin so kräftig und glücklich wie lange nicht. In der folgenden Nacht stirbt sie. Ein Zufall? Oder hat sie ihren Tod aufgehalten, um Abschied zu nehmen? »Solche Vor-gänge beobachten wir im-mer wieder«, sagt Barbara Ninnemann, Sprecherin der Sektion Psychologie der Deutschen Gesell-schaft für Palliativmedi-zin. »Die Psyche spielt ganz sicher beim Sterbe-prozess eine Rolle.« Einen starken Effekt scheint es bei todkranken Kindern zu geben. Deren Sorge ist oft, dass ihre Eltern den Verlust nicht verkraften, sagt Ingo Müller, Kinderkrebsspe-

zialist im Hamburger Universitätsklinikum Ep-pendorf: »Die Kinder möchten ihre Eltern nicht traurig machen.« Das kann den Sterbeprozess beeinflussen. »Ich habe oft erlebt, dass ein Kind sehr lange kämpft«, sagt Müller. »Erst wenn die Eltern sagen, du darfst jetzt gehen, kann es los-lassen.« Manchmal stirbt es dann binnen weniger Stunden.Daraus lässt sich aber nicht generell ableiten, dass Menschen ihren Tod willentlich hinauszögern können. Welche Rolle die Psyche beim Sterben spielt, weiß man nicht ge-nau. Und vermutlich wird man es auch nie wis-sen. Denn Studien, die sich mit Sterbenden be-fassen, beruhen stets nur auf Beobachtung und er-fassen nicht deren Gefüh-le und Gedanken. Wer möchte schon in seinen letzten Minuten einen

Fragebogen ausfüllen? »Allgemeine Aussagen las-sen sich daher schwer treffen«, sagt Ninne-mann. Sicher ist aber: »Sterben ist ein sehr per-sönlicher Prozess, der bei jedem anders verläuft.«So wie die Psyche einen Menschen im Leben hal-ten kann, so kann sie den Tod auch beschleunigen oder gar herbeiführen. Je-mand, der einen Autoun-fall nur beobachtet hat, kann in der Folge selbst an einem körperlichen Schock sterben. Immer wieder sterben Menschen in Extremsituationen, ob-wohl ihr medizinischer Zustand gut ist. Katastro-phenforscher haben das bei Schiffsunglücken be-obachtet: Alle Passagiere haben es ins Rettungsboot geschafft, ihre Lage ist dramatisch, aber nicht le-bensbedrohlich. Dennoch stirbt plötzlich einer. Sei-ne Seele kann nicht mehr. Heike Dierbach

die psyche und der tod

Wenn Sterbende nicht loslassen können

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günstigt werden. Die Patienten müssten daher nicht nur ihre Denkweise verändern, sondern auch lernen, sich wieder anders zu bewegen. Schon jetzt belegen Studien, dass achtsamkeitsbasierte Psychotherapien, die auch das Körperbewusstsein schulen, das Rück-fallrisiko Depressiver mindern. »Bisher ist aber un-klar, welche Rolle die gesteigerte Körperwahrneh-mung dabei spielt«, sagt Michalak. Er will diese Lücke schließen und die Wirkung eines Gehtrainings für Depressive erforschen.

Dass gezielte Bewegungen kurzzeitig die Stim-mung Depressiver heben, hat die Psychologin Sabine Koch im Rahmen ihrer Habilitation an der Univer-sität Heidelberg gezeigt. Koch erforscht die Wirkung des Tanzens bei psychischen Störungen und fand heraus, dass ein israelischer Kreistanz mit ausgepräg-ten Hüpfbewegungen depressive Symptome von Patienten vorübergehend lindern konnte. »Weil bei Depressiven die vertikalen Bewegungen so einge-schränkt sind, wollten wir sie gezielt dazu bringen, sich stärker auf und ab zu bewegen«, sagt Koch, die heute Professorin für Tanztherapie an der SRH Hochschule Heidelberg ist.

In ihrer Experimentreihe variierte sie den Bewe-gungsablauf und fand so heraus, dass tatsächlich das Hüpfen die positiven Gefühle auslöste. Auch mit Angstpatienten erprobte Koch verschiedene Tanz-stile. Bei ihnen wirkten vor allem Wiege-Rhythmen angstreduzierend. »Bewegungen von Seite zu Seite, am besten im Dreivierteltakt, linderten die Angst am besten«, sagt Koch. Sie schlägt vor, Tanzübungen gezielt in Psychotherapien einzubinden, etwa zu Be-ginn oder Ende der Sitzungen.

Ob so etwas langfristig hilft, psychische Erkran-kungen zu überwinden, ist ungewiss. Sabine Koch und Johannes Michalak sind Pioniere auf diesem Gebiet, ihre Studien gehören weltweit zu den ersten dieser Art. Aber dass Tanzen grundsätzlich positiv auf die Psyche wirkt, ist erwiesen. An der Universi-tätsklinik Heidelberg werden Tanzgruppen schon länger eingesetzt, etwa für depressive Mütter und ihre Kinder. Und in der Nachsorge von Brustkrebs-patienten und der Behandlung von Schmerz und Traumapatienten ist die Tanztherapie ebenso wirk-sam wie bei psychiatrischen und psychosomatischen Störungen, etwa Schizophrenie, Autismus oder Ess-störungen, haben Koch und ihr Team in einer neuen Metaanalyse gezeigt. Sie steigert Lebensqualität und Befindlichkeit, lindert Stress und Symptome wie Angst und Depression.

Eine drastischere Methode haben Psychiater aus Hannover und Basel erprobt. Mit Botox legten sie die Zornesfalte in der Stirn von depressiven Patienten lahm. Ihre Vermutung: Wenn sich die Augenbrauen nicht mehr zu einem zornigen oder traurigen Aus-druck zusammenziehen können, imprägniert das den

Geist gegenüber negativen Signalen. Zuvor hatten Experimente ergeben, dass Testpersonen mit einer durch Botox gelähmten Stirnfalte negative emotiona-le Botschaften langsamer oder schwächer verarbeiten. Und tatsächlich: Die depressiven Symptome der Pa-tienten in der Botox-Gruppe gingen in den folgenden Monaten im Schnitt um etwa 50 Prozent zurück. »Das ist schon allerhand, gerade wenn man bedenkt, wie schwierig Depressionen oftmals zu behandeln sind«, sagt der Psychiater Tillmann Krüger von der Medizinischen Hochschule Hannover, der die Studie gemeinsam mit Axel Wollmer von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel durchführte.

Dieser erste klinische Versuch wird derzeit von anderen Forscherteams wiederholt, und es zeichnen sich ähnliche Resultate ab. Als erwiesen gilt die Wir-kung damit aber noch nicht. Dennoch nutzt Till-mann Krüger das Verfahren schon bei manchen Pa-tienten mit besonders schweren oder chronischen Depressionen. Vor allem bei jenen mit stark ausge-prägter Zornesfalte oder körperlicher Unruhe und Anspannung helfe die Methode, sagt er. »Es ist eine große Bereicherung, dass ich meinen Patienten nun etwas Neues anbieten kann, wenn wir mit anderen Mitteln nicht weiterkommen.«

Die Erkenntnisse über die enge Beziehung von Körper und Psyche bergen große Chancen für Patien-ten. Vielleicht nutzen sie sogar zur Prävention. Eine Studie von Psychologen der Universität Köln legt nahe, dass Menschen gesündere Entscheidungen treffen, etwa beim Essen, wenn sie zuvor in einem Text etwas über die enge Verbindung von Körper und Geist gelesen haben. Essen Sie also jetzt! ——

lesen

Manfred Stelzig: »Krank ohne Befund« Ecowin Verlag; 256 Seiten, 21,90 Euro

Uwe Tewes: »Die Angst des Herzpatienten« Edition Humanistische Psychologie; 200 Seiten, 25 Euro

Birgit Kröner-Herwig: »Ratgeber Rücken-schmerz« Hogrefe-Verlag; 44 Seiten, 7,95 Euro

Maja Storch, Benita Cantieni, Gerald Hüther, Wolfgang Tschacher: »Embodiment« Verlag Hans Huber; 180 Seiten, 29,95 Euro

Gewissen reinwaschenWen Zweifel oder Gewissens-bisse quälen, der kann am Waschbecken Erlösung finden. Der physische Vorgang des Händewaschens wirkt Studien zufolge wohl auch auf die Psyche – und beseitigt, neben Schmutz, moralische Beden-ken und sogar die Befürch-tung, falsche Entscheidungen getroffen zu haben.

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FORSCHUNG & TECHNIK

Max Rauner, Redakteur von ZEIT

Wissen, erreichen Sie unter [email protected]

und auf Twitter @maxrauner.

Was wichtig war Anderen zuzuhören und die richtigen Fragen

zu stellen ist eine Kunst. polizisten sollten sie beherrschen, wenn

sie Zeugen vernehmen. Nun haben US-Forscher herausgefunden, dass

Menschen präzisere Aussagen machen, wenn roboter sie befragen.

100 Probanden wurden Szenen eines Diebstahls vorgeführt. Anschließend

wurden sie dazu befragt: 50 von ihnen von einem Menschen, die anderen

50 von einem Roboter. Und von diesen beiden Gruppen bekam jeweils

die Hälfte Fragen gestellt, die beiläufig einen etwas anderen Tathergang

als den tatsächlichen unterstellten. Ergebnis: Die von Menschen be fragten

Zeugen ließen sich davon beeinflussen, ihre Aussagen waren daraufhin

um 40 Prozent ungenauer, die der Roboter-Gruppe hin gegen

nicht. Das könnte daran liegen, dass Menschen sich von anderen Men-

schen manipulieren lassen, nicht aber von Maschinen. Wenn’s der

Wahrheitsfindung dient: Robocops vor.

Was wichtig wird 3-D-Drucker haben Barack Obama dermaßen

beeindruckt, dass der US-Präsident den 3-D-Druck in seiner jüngsten

Ansprache zur Lage der Nation als nächste industrielle revolution

anpries. Die Maschinen drucken Gegenstände Schicht für Schicht aus

Plastik oder Metallpulver. Das mit der Re vo lu tion könnte aber nach hinten

losgehen: Das Projekt Defense Distributed, das kürzlich mit einem selbst

gedruckten Gewehr Schlagzeilen machte, will jetzt 3-D-Modelldateien

für den Selbstbau anbieten, von der Pistole bis zur Granate. Für alle.

Open Innovation, die Utopie von einer Wirtschaft des Teilens, wird zur

Dystopie. Kommt jetzt die offene gewalt?

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Ziemlich beste Freundedieser delphin mit Wirbelsäulenverkrümmung wurde von Pottwalen adoptiert.

Berliner Biologen beobachteten die ungewöhnliche Gruppe vor den Azoren. Sie vermuten, dass

sich der Tümmler den Walen anschloss, weil er mit seinesgleichen nicht mithalten konnte.

Die Wale treibe kein Mitleid, sondern sie wollten spielen. Das Video dazu: bit.ly/ZW-Wal.

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Forschung & Technik text Ulf Schönert fotos Lisa Hörterer

»Als ich sechs Jahre alt war, habe ich meine Eltern überredet, dass ich einen Vogel bekommen kann. Das war dann

Papagena, ein Wellensittich.« Camilla S.

»Duran Duran sind meine Lieblingsband. Und die haben mal einen Soundtrack zu James Bond gemacht – das konnte ich

mir ganz gut merken.« Thorsten K.

»Mein zweiter Vorname ist August. Und August ist der Monat des Jahres, den ich schon als Kind immer am liebsten hatte. Deswegen

wurde das dann mein erstes Passwort.« Robert N.

»Mit 14, 15 wurde ich von allen Freunden ›Prinzessin‹ genannt. Und die vier Buchstaben davor zeigen, dass ich früher

ein Fan der ›TKKG‹-Jugendkrimis war.« Klara H.

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Der Angriff dauerte nicht mal eine Stunde, doch war Mark Honans digitale Existenz danach vernichtet. Sein E-Mail-Postfach: geknackt und gesperrt. Sein Twitter-Zugang: gekapert und missbraucht, um ras-

sistische Botschaften zu verschicken. Sein Handy, sein iPad, sein Computer: Überall waren die Daten gelöscht. Die Fotos seiner 18 Monate alten Tochter: unwiederbringlich verloren. Ein digitaler Albtraum.

Zwei Dinge hatten es den Angreifern verblüf-fend einfach gemacht: Erstens sind im Netz inzwi-schen mehr Informationen über jeden von uns zu finden als je zuvor. Und zweitens sind viele dieser Informationen eng miteinander verknüpft. So gelang es den Hackern, Honans Geburtsdatum, seine Adres-se und die letzten vier Ziffern seiner Kreditkarten-nummer herauszubekommen. Dann riefen sie bei der Hotline von Apple an, gaben sich als Honan aus und behaupteten, die Zugangsdaten für dessen Benutzer-konto vergessen zu haben. Der Mitarbeiter am ande-ren Ende der Leitung war arglos – und verriet das Passwort. Das Unheil nahm seinen Lauf.

Als die Geschichte des Journalisten vor ein paar Monaten in der amerikanischen Zeitschrift Wired erschien, entbrannte eine Debatte in der Öffentlich-keit, die Computerfachleute schon lange führen: Sind Passwörter noch zeitgemäß? Denn Honan ist nur eines der zahlreichen Opfer von Internetkrimi-nalität. Auch in Deutschland haben viele Internet-nutzer laut einer Studie der Gesellschaft für Konsum-forschung schon ähnliche Erfahrungen gemacht: 17 Prozent der Befragten wurden von Betrügern reingelegt, 11 Prozent beklagten unbefugte Zugriffe auf persönliche Daten.

Im besten Fall sind die Datendiebe nur auf ein bisschen Krawall aus. So wie die Hacker, die kürzlich in das offizielle Katastrophen-Warnsystem eines ame-rikanischen Fernsehsenders einbrachen und eine bi-

zarre Warnung auf den Bildschirmen der Zuschauer einblendeten: »Tote Körper haben ihre Gräber ver-lassen und greifen die Lebenden an.« In das System waren die Hacker gelangt, weil die Systemadminis-tratoren die Standard-Passwörter nie geändert hatten. Andere Spaßvögel kaperten kürzlich den Twitter-Account von Burger King und verkündeten, Konkur-rent McDonald’s habe die Kette übernommen.

Häufig nutzen Kriminelle geklaute Zugänge al-lerdings auch für handfeste Betrügereien. Der HSV-Torwart René Adler etwa musste seine Facebook-Seite schließen, weil sich Betrüger Zugang zu seinem Profil verschafft und anschließend versucht hatten, in seinem Namen Tickets und Trikots zu verkaufen. Betroffen sind von solchen Attacken nicht nur Pro-minente, treffen kann es jeden. Eine Masche: Be-trüger kaufen über gekaperte Profile Waren bei eBay und bitten die Verkäufer per E-Mail im Namen des ahnungslosen Inhabers, die Ware an eine Packstation der Post zu schicken. Den Zugangscode dazu er-schleichen sie sich natürlich auch. 3-2-1 – meins!

Wie die Kriminellen an die Pass-wörter kommen? Oft reicht ein-faches Raten. Noch immer ver-wenden viele Menschen zu simple Passwörter. »Passwort« und »123456« etwa gehören

noch immer zu den Favoriten. Doch selbst wer kom-plizierte Codes benutzt, ist nicht sicher. Zum Bei-spiel, wenn Angreifer die Rechner ihrer Opfer mit Schnüffelprogrammen – Sniffern – ausspähen. Eine andere allseits bekannte Methode ist das Phishing. Dabei werden Internetnutzer in gefälschten E-Mails oder auf Webseiten, die wie das Original aussehen, um die Herausgabe ihrer Passwörter gebeten.

Noch raffinierter ist das »Social Engineering«, dem auch Mark Honan zum Opfer fiel: Dabei be-sorgen sich die Angreifer zunächst Informationen

E-Mails, Fotos, Kundendaten – Zugangscodes sollen geheimes geheim halten. Doch den raffinierten

Methoden der Hacker halten sie kaum noch stand.

Das Passwort zum Sonntag

Im besten Fall sind die Hacker nur auf Krawall aus. Doch meist geht es um Geld – und manchmal darum, eine digitale Existenz zu vernichten.

Keine Sorge, die Pass-wörter auf den Bildern dieser Straßenumfrage sind nicht mehr aktuell: Wir haben Passanten nach ihren alten Passwörtern gefragt.

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über ihre Zielperson. Die sind extrem nützlich, denn viele Onlinedienste bieten Nutzern an, ihnen ein neues Passwort zuzusenden, wenn sie ein paar vorher festgelegte Sicherheitsfragen beantworten, etwa: »Was war Ihr erstes Auto?« Keine große Hür-de in Zeiten, in denen auf Facebook persönliche Informationen ständig herausposaunt werden. Pro-minentes Opfer dieser Methode ist die US-Politike-rin Sarah Palin, deren E-Mail-Postfach geknackt wurde. Alles, was die Angreifer wissen mussten, war ihr Geburtstag, ihre Postleitzahl und wo sie ihren Mann kennengelernt hat.

Das Beispiel offenbart das Dilemma der Sicherheitssysteme: Entweder sind sie leicht zu benutzen – dann sind sie meist unsicher. Oder aber sie sind sehr sicher – und sehr kom-pliziert. Das gilt auch für die Pass-

wörter selbst: Einerseits müssen sie leicht zu merken sein, andererseits schwer zu knacken.

Dass sich Angreifer so viel Mühe machen, Ein-zelne wie Honan auszuspähen, ist jedoch selten. Meist werden Datensätze millionenfach geklaut und die Opfer zufällig daraus ausgewählt. Allein die Web-site shouldichangemypassword.com hat 50 Millio-nen E-Mail-Adressen gesammelt, die in der Vergan-genheit gestohlen wurden – jeder kann dort nachschauen, ob seine dazugehört.

Spektakuläre Online-Raubzüge trafen in jüngs-ter Zeit unter anderem die Websites last.fm, Linkedin und Twitter. In Deutschland waren 50 000 E-Mail-Nutzer an der Ruhr-Universität Bochum betroffen.

Die meisten Einbrüche zielen jedoch auf kleine, schlecht gesicherte Server. Fast täglich werden Da-ten geklaut und ins Internet hochgeladen. Nur sel-ten erbeuten die Hacker dabei echte Passwörter, meist sind es nur hashes – Zeichenkombinationen, die aus dem Originalpasswort einmal generiert wur-den und die man nicht einfach wieder zurückver-wandeln kann. Für Angreifer sind sie deshalb zu-nächst wertlos.

Ein Meister darin, das Passwort trotzdem he-rauszubekommen, ist der Münchner Programmierer Jens Steube. Er hat die Spezialsoftware Hashcat ge-schrieben, die sich die Leistung mehrerer zusammen-geschalteter Grafikkarten zunutze macht und so Milliarden Berechnungen pro Sekunde durchführen kann. Sie probiert so lange alle möglichen Passwörter aus, bis das richtige gefunden ist. Brute force – »rohe Gewalt« – heißt diese Methode. Nicht nur alle Wör-ter aus dem Duden werden getestet, sondern auch alle möglichen Abwandlungen: Worte vorwärts, rückwärts, Worte mit Rechtschreibfehlern, Buch-stabendrehern, Groß- und Kleinbuchstaben, Ausru-fezeichen, Buchstaben, die durch Zahlen und Son-derzeichen ersetzt werden, Smileys, Namen von Politikern, Filmtitel, Bibelverse. Natürlich auch alle Wörter doppelt, dreifach, vierfach.

Wenn selbst das nicht ausreicht, probiert der Computer weitere Muster aus. Denn eines lehrt die Passwortforschung: Zufällig sind ausgedachte Codes nie. Die könnte nur erzeugen, wer blind auf der Tas-tatur herumtippte. Wer jedoch ein Passwort aus-wählt, hat verloren. Denn der Computer weiß, wie Menschen sich Passwörter ausdenken. »Die Ha shing-

Worte vorwärts, rückwärts, mit Zahlen oder Sonderzeichen – kein Passwort ist sicher, denn Hacker wissen, wie Menschen denken.

»›Libertad 16‹ war die Adresse des Hauses, in dem ich während

meines Auslandsjahres in Madrid gewohnt habe.« Ilka M.

»Ich bin Mercedes-Fan, und ich höre gerne Musik, deshalb ›Benzbeat‹. Die 8 kommt daher, dass

das B aussieht wie eine 8. So kann ich mir das Passwort besser merken.« Daniel K.

Forschung & Technik

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Al go rith men sind so gebaut, dass sie das ursprüngli-che Passwort zu 100 Prozent verlieren«, behauptet Jens Steube. »Erst der Einfluss des Menschen ermög-licht das erfolgreiche Erraten des Passworts.«

Steube ist kein Krimineller: »Mein Ziel ist es nicht, digitale Identitäten zu stehlen«, sagt er. Für ihn ist das Code-Knacken ein Sport. Er nimmt an Ha-ckerwettbewerben wie Crack Me If You Can in den USA teil – und gewinnt. »Die Kombination aus ei-nem theoretisch unlösbaren Problem und dem Faktor Mensch, der es wieder lösbar macht, reizt mich.«

Doch auch am Rande von Hacker-treffen, etwa beim deutschen Chaos Communication Congress, werden immer wieder Passwortlisten zutage gefördert. Weil das in der Szene um-stritten ist, greifen viele Hacker be-

vorzugt Nazi-Seiten an – das wird toleriert. Beim vorletzten Treffen traf es einen Versand für Nazi-Be-kleidung. Nach dem Server-Einbruch veröffentlich-ten die Hacker nicht nur eine Liste mit Kundenpass-wörtern (»bunker88«, »frontsoldat«). Sie erstellten auch Listen von Personen, die sich mit den gleichen

Passwörtern bei E-Mail-Diensten wie GMX oder Web.de registriert hatten. Dass eine solche, mehrfach genutzte Nutzername-Passwort-Kombination dann in vielen Fällen auch bei eBay, Paypal oder Facebook funktioniert, erwähnten die Hacker gern – zusam-men mit der Aufforderung: »Habt Spaß!«

Die Bequemlichkeit, dieselben Zugangsdaten für mehrere Websites zu verwenden, ist der wahre Grund für das eigentliche Sicherheitsproblem. »Wenn ab und zu ein Forum gehackt wird, wäre das eigentlich nicht so schlimm«, sagt der Bochumer Passwortfor-scher Markus Dürmuth. »Zum Problem wird es erst, wenn die Angreifer mit den gleichen Daten dann auch bei Paypal reinkommen.« Eine repräsentative Um-frage im Auftrag des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) ergab erst kürzlich, dass mehr als die Hälfte der Internetnutzer dasselbe Passwort mehrfach vergibt. Macht dieser »menschli-che Faktor« also das Prinzip Passwort obsolet?

Viele Experten glauben das. Die Beratungsfirma Deloitte prophezeit das »Ende des Passworts«: Heute seien fast alle von Menschen generierten Codes zu knacken. Dies führe zu einem Verlust des Vertrauens in die digitale Wirtschaft und verursache Milliarden-

Jeder Zweite verwendet ein und dasselbe Kennwort für mehrere Dienste – macht der Faktor Mensch Passwörter zu unsicher?

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verluste. Kein Wunder, dass Wissenschaft und Indus-trie nach Alternativen suchen: Biometrie zum Bei-spiel, die Authentifizierung durch Fingerabdruck oder Retina. Doch noch immer gibt es keine Scanner, die zuverlässig und preiswert genug wären. Auch die verhaltensbasierte Biometrie, etwa die Kombination aus Passwort und Tastatur-Anschlagsprofil des Nut-zers, gilt nicht als zukunftsweisend: »Versuchen Sie mal, sich nach ein paar Bier zu viel irgendwo einzu-loggen!«, sagt Sicherheitsexperte Felix Lindner.

Andere Verfahren wie die Bilderkennung wer-den hingegen bereits im neuen Betriebssystem Win-dows 8 eingesetzt. Dabei identifiziert sich der Nutzer, indem er auf dem Bildschirm bestimmte nur ihm

bekannte Bereiche berührt oder anklickt. Doch auch das ist nicht überall praktikabel, denn es funktioniert nur auf bestimmten Geräten. Wer im Internet-Café im Urlaub seine E-Mails lesen will, kann diese Me-thode nicht nutzen. »Ich sehe im Moment zwar, dass viele das Passwort totsagen, aber es gibt keine Alter-nativen«, meint Lindner.

Wahrscheinlicher als eine ganz neue Authentifi-zierungsart ist deshalb ein Methodenmix – wie beim Onlinebanking, wo man zum Überweisen ja auch noch eine Chipkarte oder eine mobile Transaktions-nummer braucht. Gute Chancen, das herkömmliche Passwort zu ergänzen, hat auch die »mehrfache Au-thentifizierung« mithilfe spezieller Hardware. In großen Unternehmen gehören solche Systeme, bei denen sich die Mitarbeiter mit sogenannten Token, Chips also, die man am Schlüsselbund trägt, aus-

weisen müssen. Große Internetdienste haben gerade eine Allianz namens FIDO gegründet, um diese Technik auch an Privatnutzer zu vermarkten.

Als größter Fan gilt Google. Gerade erst hat der Internetkonzern ein Papier veröffentlicht, in dem er etwa Schlüsselanhänger als Passwortersatz propagiert. Markus Dürmuth machen allerdings praktische Grün-de skeptisch: »Noch sind viele Fragen ungeklärt. Was macht Google denn, wenn so ein Token verloren geht? Was für Unternehmen gut ist, ist es noch lange nicht für Privatpersonen«, sagt Dürmuth. Andererseits: »Wenn das eine Firma schafft, dann Google.«

Auch andere Anbieter zeigen sich offen für neue Sicherheitshürden. »Die Idee, ein Hardware-gestütztes System einzuführen, ist zwar nicht ganz neu, kann aber durchaus als eine der mög-lichen Zusatzoptionen interessant

sein«, sagt Thomas Plümmecke vom E-Mail-Anbie-ter GMX. Das Risiko Faktor Mensch bleibe jedoch bestehen. »Aus diesem Grund betreiben wir aktive Aufklärungsarbeit, zum Beispiel mit einem Tag der Passwortsicherheit.«

Zudem gingen die Sicherheitsexperten immer mehr dazu über, Internetangriffe zu analysieren. Sie beobachten etwa, von welchem Internetanschluss sich ein Nutzer einwählen will. Ist das sonst immer Vodafone-DSL, dann aber O2, wird das System hell-hörig und sucht nach weiteren Indizien für einen Missbrauch. Es kann dann den Nutzer per SMS warnen oder den Zugang sperren.

Retten solche Methoden vielleicht doch noch das Prinzip Passwort? Markus Dürmuth jedenfalls glaubt noch nicht an dessen Ende. »Der augenblick-liche Zustand ist zwar schlimm, keine Frage. Aber nicht die Passwörter sind das Problem.« Würden die Betreiber die Server besser schützen und die Nutzer ihre Codes nicht überall wiederverwenden, wäre die Situation schon wesentlich entspannter. Abgesehen davon gebe es keine praktikable Alternative. »Wir sind in Passwörtern gefangen«, meint Dürmuth.

»Pass- und Codeworte sind so alt wie die menschliche Kommunikation selbst und funktionie-ren daher genau so, wie sie sollen«, meint auch Felix Lindner. Nicht die Methode an sich, sondern ihr in-flationärer Gebrauch sei das Problem. Er schlägt ei-nen anderen Ausweg vor – die Zahl der Passwörter insgesamt zu reduzieren. »Warum muss ich mich ei-gentlich bei jeder Hinz-und-Kunz-Webseite anmel-den? In vielen Fällen sollte der Betreiber erst einmal darlegen, wozu er überhaupt persönliche Daten braucht. Denn die meisten Dienste würden auch ohne Anmeldung gut funktionieren. Und wo keine privaten Informationen zu sichern seien, brauche man auch kein Passwort. ——

Gibt die Analyse von Tastatur-anschlägen mehr Sicherheit? Versuchen Sie sich mal nach ein paar Bier einzuloggen!

»Am 8. 3. 1997 bin ich mit meinem damaligen Freund Achim zusammen-

gekommen, mit dem ich fast zehn Jahre lang zusammen war.« Selket Ch.

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Gibt es einen schöneren Beruf als Wolkenforscherin? Vor zwei Jahren flog Louise Nuijens von Hamburg nach Barbados: um in den Himmel zu gucken. Über der Karibikinsel treffen auf dem Rücken der Passat-

winde täglich Tausende Schäfchenwolken ein. »Man muss das selbst mal gesehen haben, wie schnell sich der Himmel dort verändert«, sagt Nuijens. Morgens zum Beispiel zwei Stunden Schäfchen mit Sonne, plötzlich Regenschauer, dann wieder Schäfchen.

Aber wenn man ehrlich ist, sitzen auch Wolken-forscher die meiste Zeit am Computer: zum Daten-auswerten. Louise Nuijens und ihre Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg kontrollieren ihre Sta tion auf Barbados über das In-

ternet. Sie können sogar einzelne Wolken anpeilen und sie auf ihren Wasser- und Eisgehalt untersuchen. Dabei erleben sie manche Überraschung.

Denn Wolken gehören zum Kompliziertesten, was die Natur zu bieten hat. Sie können die Erde sowohl abkühlen als auch aufwärmen, dennoch wer-den sie in Klimamodellen bisher nur näherungsweise berücksichtigt. Das macht Wolken zur Wunderwaffe von Klimaskeptikern. Wenn sich die Erde erwärme, verändere sich die Bewölkung und wirke der Erwär-mung entgegen, behauptet etwa der US-Meteorologe Richard Lindzen, 73. Und der Blogger, der vor ein paar Wochen den vertraulichen Entwurf des nächs-ten Weltklimaberichts online stellte, frohlockte: Der Weltklimarat erkenne nun endlich den Einfluss der kosmischen Strahlung auf die Wolkenbildung an.

wolken gehören zum Kompliziertesten,

was die Natur zu bieten hat. Im nächsten

Klimabericht kommen sie ganz groß raus.

Die Launen des Himmels

Manche Wolken kühlen die Erde ab, andere tragen zur Erwärmung bei. Munition für Klimaskeptiker.

Forschung & Technik text Max Rauner

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Schneise der Verwüstung durchs Land ziehen. Im Zentrum strömt war-me und feuchte Luft spiralförmig empor, an-getrieben durch Winde, die aus unterschiedlichen Richtungen kommen. Dadurch kann ein Torna-do mit Windgeschwindig-keiten von bis zu 500 Stundenkilometern ent-stehen. Manche Menschen fühlen sich zu Superzel- len übrigens hingezogen: die Sturmjäger.

Wer beim Sonntagsspazier-gang ein solches Mons- ter sieht, sollte schleunigst Schutz suchen. Die so- genannten Superzellen, hier ein Exemplar im Bundes-staat Montana, sind die Brutstätte von schwerem Hagel und Tornados. Der Deutsche Wetterdienst zählt sie zu den »gefährlichs- ten Gewittergebilden«. Eine Superzelle kann an der Unterseite 20 bis 50 Kilo-meter breit sein und meh-rere Stunden lang eine

superzelle

Die Vernichtungsmaschine

Die Theorien der Skeptiker wurden von Klima-forschern aus ein an der ge nom men, bis wenig davon übrig blieb. Wie sich die globale Erwärmung auf die Bewölkung auswirkt, ist aber noch längst nicht im Detail verstanden. Der Weltklimarat IPCC fasst den Stand der Wolkenforschung in seinem Entwurf so zusammen: Wolken kühlen die Erde in der Summe ab. Steigt aber die globale Temperatur, bilden sich Wolken auch in höheren Atmosphärenschichten, außerdem werden die Wolken an den Polen dichter, beides fördert den Treibhauseffekt. In der Summe verstärken Wolken dann die globale Erwärmung – das hält der IPCC für »wahrscheinlich« (das heißt, die Aussage trifft mit mindestens 66-prozentiger Wahr-scheinlichkeit zu). Die kosmische Strahlung hingegen habe während des vergangenen Jahrhunderts keinen

signifikanten Effekt auf das Klima gehabt. Und: Das Wechselspiel von Wolken und Aerosolen – Staub, Tröpfchen, Ruß – in Klimamodellen zu berücksich-tigen »bleibt eine Herausforderung«.

Auf Barbados haben die Hamburger Meteoro-logen beobachtet: Wenn Sand aus der Sahara mit dem Passatwind über den Atlantik weht, sind die Tröpfchen in den Schäfchenwolken kleiner. Es gibt dann mehr Teilchen, an denen die Feuchtigkeit kon-densieren kann. Wenn die Luft dagegen klar ist, sind die Tröpfchen größer. Ob diese Wolken dann auch schneller abregnen, wie von der Theorie vor her-gesagt, wollen die Forscher als Nächstes herausfin-den. Das ist nicht nur für Klimamodelle interessant. Louise Nuijens wüsste dann auch, warum Barbados sich manchmal anfühlt wie eine warme Dusche.F

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Die Wolkenfreunde cloud appreciationsociety.org

Der Wolkenatlas bit.ly/Yh8gdU

Dr. Max interviewt Wetterforscherzeit.de/serie/dr-max

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terwolke. Wie die Beulen entstehen, ist kaum er-forscht, wahrscheinlich sind Auf- und Abwinde inner-halb der Gewitterwolke die Ursache: Wärmere Luft strömt nach oben, breitet sich horizontal aus, kühlt wieder ab und sinkt abwärts. Wenn sie feucht und

schwerer ist als die an-grenzende Luft, sinkt sie stellenweise tiefer als die Unterkante der Wolke und formt dabei Ausstülpun-gen. Meist lösen sich Mammatus wolken inner-halb von Minuten wieder auf – das erschwert den Forschern die Arbeit.

Meteorologen unterschei-den mehr als 200 Wolken-typen, die sie in Gattun-gen, Arten und Unterarten unterteilen. Außerdem gibt es Sonderformen, da-runter Mammatuswolken (von mamma: Brust). Diese bilden sich meist auf der Rückseite einer Gewit-

Forschung & Technik

mammatus

Der Himmel ist eine Frau

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treffen und Wirbel erzeu-gen. Wer so ein Schauspiel beobachtet, wie hier in der Adria, sollte den Motor starten und abhauen. 377 Tornados registrierten Me-teorologen im Jahr 2012 in Europa über Land und Meer. Das sind mehr als viermal so viele wie vor 15 Jahren. Ob die globale Erwärmung daran einen An- teil hat, ist unsicher. Der Zuwachs liegt wohl eher an der Allgegenwart von Menschen mit Kamera.

Tornados sind nicht nur an Land gefürchtet. Auf dem Meer, wo sie auch Wasserhosen heißen, kön-nen sie tonnenschwere Boote kentern lassen und das Rigg zerfetzen. An Land entstehen Tornados oft unter einer Superzelle (siehe S. 34). Wasserhosen hingegen bilden sich auch unter gewöhnlichen Gewitterwolken, wenn Winde aus unter schied-lichen Richtungen etwa in Küstennähe aufeinander-

tornado

Ein Strohhalm für Götter

»Man muss sich auf Wolken einlassen, wo man gerade ist – und dann innehalten

und den Moment genießen.«Gavin Pretor-Pinney, Cloud Appreciation Society

von lens für Linse) oft mit Föhn einhergeht, reden Meteorologen auch von »Föhn fischen«. Über einem Berg können mehrere Schichten ent stehen, in denen die Luft abwechselnd stärker und weniger stark komprimiert ist, wie hier am Mount Rainier im Bun-desstaat Washington. Das sieht dann aus wie ein Ufo-Parkhaus. Segelflieger finden dort günstige Aufwinde. Aliens hat aber noch niemand gesehen.

Kleinere Exemplare der Wolkenart Lenticularis werden gerne mal für ein Ufo gehalten. Man sieht sie vor allem in der Nähe von Bergen. Wenn die Luft über den Bergrücken strömt und dahinter beim Absinken expandiert, kühlt sie ab. Kalte Luft kann nicht so viel Wasser-dampf aufnehmen wie warme, also kondensiert die Luft zu kleinen Tröpf-chen, der Wolke. Weil Lenticularis (abge leitet

lenticularis

Berg mit Linsen

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Forschung & Technik

Beobachtungen stützen die gängige Theorie zur Ent-stehung der Löcher: Die Wolkendecke besteht demnach aus Wassertröpf-chen, die kälter als null Grad sind. Diese sind aber noch nicht zu Eiskristallen gefroren, weil Kon den - sa tions kei me fehlen. Erst wenn das Flugzeug die Schicht durchquert, bilden sich Kristalle, die im Do-minoeffekt auch benachbar- te Tröpfchen gefrieren las-sen: Der Schleier fällt.

Dieses seltene Wetter- phänomen lässt sich beob-achten, wenn Flugzeuge unter bestimmten Bedin-gungen eine Wolkendecke durchfliegen: In der Mitte bildet sich ein Loch, aus dem ein Schleier fällt (hier in Luzern fotografiert). Vor einigen Jahren hatten britische Meteorologen das Glück, eine solche Hole Punch Cloud (hole punch ist englisch für Locher) mit ihren Geräten genauer un-tersuchen zu können. Ihre

hole punch cloud

Wenn die Wolkendecke gelocht wird

»Rot knallt in das Blau,vergoldet deine Stadt,

und über uns zieh’n lila Wolken in die Nacht!«

Aus dem Lied »Lila Wolken« von Marteria, Yasha & Miss Platnum

Planeten ab, Wolken in den oberen Schichten, da-runter die Kondensstrei-fen, verstärken den Treib-hauseffekt und tragen zur Erwärmung bei. Die Details sind kompliziert zu berechnen und oft noch unsicher. Im Entwurf für den nächsten Weltklima-bericht wird geschätzt, dass die durch Flugzeuge verursachten Zirruswolken knapp zwei Prozent zur anthropogenen Klima erwär- mung beitragen.

Um Kondensstreifen von Flugzeugen ranken sich Verschwörungstheorien, denen zufolge Regierun-gen am Himmel Chemika-lien versprühen. Das ist Unsinn. Interessant ist die Frage, wie stark Kondens-streifen, Abgase und Parti-kel aus dem Flugverkehr zur globalen Erwärmung beitragen. Als Faustregel gilt: Wolken in niedrigen Atmosphärenschichten reflektieren Sonnenlicht stärker und kühlen den

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Wärmende Kondensstreifen

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die front löst sich auf, die großen Armeen von einst

verschwinden. Drohnen und Software, Spezialeinheiten und Guerillakrieger

übernehmen den Kampf. Verändert das den krieg?

42 Drohnen – Das Wettrüsten mit fern-gesteuerten Bombern.

45 Killermaschinen – Dürfen Roboter selbstständig töten?

46 Cyberkrieg – Die Legende vom Krieg im Netz.

48 Atombomben – Neue Risiken einer alten Technologie.

krieg der zukunft

zeit wissen

s 40 bis s 48

DOSSIER

Der unsichtbare Feind

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Vom Faustkeil zur DrohneDie Kriegstechnik ist erfindungsreich. Ziel der Innovationen: Das Töten effizienter machen.

Seit Jahrtausenden quält sich die Mensch-heit mit einer tödlichen Plage: dem Krieg. In mehr als 30 Ländern wird der-zeit gekämpft, teils in Guerilla-, teils in Bürgerkriegen. Weder Friedensforscher noch Militärexperten gehen davon aus,

dass sich dies jemals ändern wird. Aber der Krieg des 21. Jahrhunderts wird anders aussehen als seine Vor-gänger. »Er wird fraktaler«, sagt der Hamburger Friedensforscher Götz Neuneck. Will heißen: Die Front löst sich zunehmend auf, das Schlachtfeld, auf dem große Armeen gegeneinander kämpften, weicht einem unüberschaubaren Mosaik von Kon flikt orten. Der Krieg wird dann überall und nirgends sein, in Los Angeles, Taipeh und der uigurischen Steppe zu-gleich. Ohne klassische Heere. Mehrere Entwick-lungen sprechen dafür.

Zum einen ist Krieg immer weniger eine Frage der Truppenstärke, wie der US-Militärhistoriker Max Boot in seinem Buch War Made New mit nüchternen Zahlen belegt. Im Amerikanischen Bürgerkrieg wur-den knapp 3900 Soldaten pro Quadratkilometer Frontgebiet eingesetzt, im Ersten Weltkrieg waren es noch 404, im Zweiten Weltkrieg 36 und im Golf-krieg von 1991 ganze zwei. Im Industriezeitalter ging die Vernichtungskraft auf Maschinen über, die von Soldaten bedient werden: Maschinengewehre, Pan-zer, Kampfjets, Raketen.

Zweitens sind die Kriege der Gegenwart zuneh-mend »asymmetrisch«: Eine staatliche Streitmacht sieht sich mit einem schlecht ausgerüsteten, aber gewieften Gegner konfrontiert, der keinen Staats-appa rat hinter sich hat und an vielen Orten operiert. Hightech kämpft gegen Lowtech – und kann dabei verwundbar sein. »Al-Kaida, deren gesamte finanziel-le Mittel nicht für den Kauf eines F-22-Jets ausrei-chen würden, kann dem reichsten Land der Welt enormen Schaden zufügen«, schreibt Boot über die Anschläge des 11. September 2001.

Drittens sind die westlichen Industrienationen – nicht erst seit 9/11 – dazu übergegangen, Waffen zu entwickeln, die präziser sein sollen. Je kritischer ihre Bürger es beurteilen, wenn Zivilisten und ei-gene Soldaten getötet werden, desto mehr versuchen sie, nur die militärischen Ziele des Gegners zu tref-fen. Die Prä zi sion erscheint auch in der Logik des Krieges als Notwendigkeit: Wo sich der Gegner über das ganze Land verteilt oder in Städten versteckt, bringen klassische Kampfverbände wenig. Die so-genannte Drohne, ein unbemanntes und ferngesteu-ertes Fluggerät, tritt ihren Siegeszug an. Im Kosovo-krieg noch ein Aufklärungsinstrument, ist sie etwa für die USA zur Waffe der Wahl geworden, um im Bergland an der afghanisch-pakistanischen Grenze Al-Kaida- oder Talibankämpfer zu liquidieren. Dass die Genauigkeit von Drohnenangriffen allerdings

nur ein frommer Wunsch ist, zeigen die zahlreichen zivilen Opfer.

Der nächste Schritt könnte von der »präzisen« zur »intelligenten« Waffe führen, die, mit Roboter-technik ausgerüstet, selbsttätig über ihr Ziel ent-scheidet. Neuere Studien zeigen, dass sogar Droh-nenpiloten unter Traumatisierungen leiden, obwohl sie den Angriff nur aus der Ferne steuern. Also ent-ledigt man sich am Ende gänzlich des Menschen, dieses labilen Anhängsels der Maschine.

Drohnen und mögliche Roboterwaffensysteme sind ohne die moderne Computertechnik nicht denkbar. Vielmehr sind sie – der vierte Trend – Teil einer Informationssphäre, die nicht nur in Form von Satelliten den Erdball umspannt, sondern auch den Alltag und die Infrastruktur der alten und der neuen Industriestaaten durchzieht. Für deren Militärs ist sie Fluch und Segen zugleich. Segen, weil den elektro-nischen Augen von Satelliten und Drohnen nur wenig zu entgehen scheint und weil manche hoffen, staatliche Gegner allein mittels Soft ware schädigen zu können. Der Computerwurm Stuxnet, der Uran-zentrifugen des iranischen Atomprogramms zer-störte, war womöglich der Anfang einer solchen Taktik. Fluch, weil selbst kleine Gegner dasselbe ver-suchen könnten – mit großem Effekt.

Ob sich hieraus ein Cyberwar entwickeln wird, ist umstritten. Der frühere Sicherheitskoordinator der US-Regierungen Clinton und Bush, Richard Clarke, mahnt: »Wir befinden uns bereits im Netz-krieg.« Thomas Rid, Cybersicherheitsforscher am King’s College, widerspricht: Man dürfe Cyberspio-nage und -sabotage nicht mit Krieg verwechseln (siehe Seite 46). Das ist aber vielleicht kein Wider-spruch. Dass Großmächte in den kommenden Jahr-zehnten offenen Krieg gegeneinander führen werden, ist unwahrscheinlich. Weil ihre Ökonomien über globale Zulieferketten und Produktionsnetze ver-woben sind, könnten sie Cyberwaffen als Nadelstiche einsetzen, um in Zeiten politischer Spannung Druck auf andere Staaten auszuüben.

Eine Unbekannte bleibt die atomare Bedrohung. Noch immer gibt es Tausende von nuklearen Spreng-köpfen weltweit, und die martialischen Gesten des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un erinnern daran, dass auch unberechenbare Staaten in ihrem Be-sitz sind. Selbst wenn sich hier doch die Vernunft durchsetzen sollte, bleibt die Tatsache, dass Krieg eine Kon stan te der menschlichen Zi vi li sa tion ist. Zwar haben Rüstungsabkommen und eine bessere Krisen-diplomatie ein großes Gemetzel nach dem Zweiten Weltkrieg verhindert. Waffenhandel und Militärbud-gets sind jedoch nicht geschrumpft. Die düstere Ein-schätzung des spanischen Philosophen George San-tayana dürfte weiterhin gelten: »Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen.« Niels Boeing

infografik Ela Strickert

Ab 2300 v. Chr.Das Schwert entwickelt sich in der Bronzezeit als Langform des Dolches.

Ab 1200 v. Chr.Die Kavallerie ver drängt seit Beginn der Eisenzeit den Streitwagen.

Ab 1800 v. Chr.Der Streitwagen kommtin Zentralasien auf. Auch in Mesopotamien werden die ersten Schlach-ten damit geführt.

Ab 1200 v. Chr.Das Kriegsschiff verlagert den Krieg auf die Meere. In der Antike wird es von Sklaven gerudert (Galeere).

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Explosionen dröhnen, Rauch steigt auf, Maschinengewehre knattern. Kurz vor 14 Uhr beginnt das tägliche Gefecht in Abu Dhabi. Panzer fahren Rampen hi-nauf, gefolgt von Haubitzen, die ihre Geschützrohre aufrichten. Elitesolda-

ten seilen sich von Hubschraubern ab, und Kampf-jets donnern über das Showgelände der International De fence Exhibition & Conference (Idex), der wirt-schaftlich bedeutendsten Rüstungsmesse der Welt. Die Streitkräfte der Vereinigten Arabischen Emirate führen den Besuchern ihr Arsenal vor.

Das Drehbuch zu der Waffenshow scheint Hol-lywood geschrieben zu haben. Und doch wirken die Kriegsszenen wie aus einem Film der neunziger Jahre. Denn es fehlt ein Waffentyp, der das Militärwesen des 21. Jahrhunderts revolutioniert: bewaffnete fernge-steuerte Flugzeuge, besser bekannt als Drohnen.

Am Boden sind auf der Messe in Abu Dhabi zahlreiche solcher Modelle zu sehen. Für die unbe-mannten Systeme wurde in diesem Jahr ein eigener Bereich aufgebaut, der stets gut besucht ist. Etwas ent-fernt vom Showgelände, getrennt durch eine Schnell-straße, stehen einige hellgrau gestrichene Kleinflug-zeuge. UAV nennen die Militärs die Maschinen: un manned aerial vehicles, unbemannte Flugsysteme. Vor allem ein Modell zieht die Blicke auf sich: Preda-tor heißt der Flieger, Raubtier oder Räuber. Der Name ist Programm.

Weltweit streiten Befürworter und Gegner von Drohnen über das gezielte Töten. Doch auf der Idex finden kritische Töne kein Gehör. Hier wird deut-lich, dass nicht mehr nur reiche Industriestaaten auf Drohnen setzen. Heute will jeder aufstrebende Staat seine Kampfdrohnen haben.

Am Stand von General Atomics sind die Bro-schüren zur Predator zeitweilig vergriffen. Das Unter-nehmen wirbt mit mehr als zwei Millionen Flugstun-den, dem automatischen Start-und-Lande-System, der Reichweite von mehr als 1000 Meilen und einer Ein-satzzeit von rund 30 Stunden. An Bord der Predator XP befinden sich hochauflösende Videokameras mit In-frarot und Bild ana ly se soft ware sowie ein Schlechtwet-ter-Radargerät. Die Predator XP könne jederzeit und an jedem Ort Ziele aufspüren, sie identifizieren, ver-folgen und bekämpfen, verspricht der Hersteller.

Der amerikanische Geheimdienst CIA und die U. S. Army haben mit Kampfdrohnen bereits Hunderte Einsätze gegen Terrorverdächtige und andere Geg-ner in Pakistan, Afghanistan, dem Jemen, Libyen und Somalia gefl ogen. Allein in Pakistan und im Jemen sollen US-Drohnen 420 Mal zugeschlagen haben, errechnete der US-Th inktank New America Foundation. Dabei wurden bis zu 3967 Menschen getötet. So kamen bei verschiedenen Luftschlägen gegen Terroranführer auch deren Kinder, Frauen und andere Unbeteiligte ums Leben. »Gezieltes Tö-ten« nennen das amerikanische Sicherheitsexperten. »Finger Gottes« heißt die Steuerungstechnik der Drohnen bei den Soldaten.

Während amerikanische Politiker die Erfolgsquote des Drohnen-programms im »Krieg gegen den Terror« loben, kritisieren Men-schenrechtler die hohe Zahl der durch die Predator getöteten Zi-

vilisten und die »feige« Kriegsführung. »Der Droh-nenkrieg ist kein fairer Kampf«, schrieb Byung-Chul Han, Philosophie-Professor an der Berliner Univer-sität der Künste, in der ZEIT. »Dem Gegner wird nicht einmal die Möglichkeit gewährt, sich zu erge-ben oder sich zu verteidigen, es gilt ja, ihn auf jeden Fall zu töten, zu vernichten, zu liquidieren.«

Tatsächlich sind die Drohnenpiloten gleichzei-tig Agent, Soldat und Scharfrichter. Sie suchen nach Terroristen, identifizieren und liquidieren sie. Ihre Opfer sind Verdächtige, deren Schuld nicht bewiesen ist, die nicht vor einem Richter standen. Dank mo-derner Satellitentechnik können die Drohnen, von den USA aus gesteuert, in Tausenden Kilometern Entfernung zuschlagen. Die Gegner der ferngelenk-ten Flugzeuge sprechen von »Killermaschinen«. Das Töten sei damit so leicht wie bei einem Computer-spiel. Sie fürchten eine Automatisierung des Krieges, eine Verrohung der Militärs und ein Herabsenken der Hemmschwelle beim Töten. Byung-Chul Han findet es »pervers, vor dem Bildschirm sitzend eine ganze Re gion, eine ganze Bevölkerung in Angst und Schre-cken zu versetzen«.

Allerdings ist es ein Klischee, dass Droh nen pilo-ten das Töten leicht von der Hand geht. Eine Studie

drohnenpiloten sind Agent, Soldat und Scharfrichter gleichzeitig.

Das könnte sich bald ändern – wenn die Drohnen autonom handeln.

Der ferngesteuerte Krieg

Dossier

Ab 400 v. Chr.Das Katapult entwickelt sich zur wichtigen Waffe für Stadtbelagerungen.

Ab 1000Die Armbrust bringt die ersten Scharfschützen der Geschichte hervor.

Ab 600 n. Chr.Der Steigbügel ermög-licht einen wendigeren Reit stil, Voraussetzung für Ritter heere im Mittelalter.

Ab 1346Aus der Kanone, in der Schlacht von Crécy vom englischen Heer eingesetzt, ent wickelt sich die Artillerie.

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Packbot (iRobot)Der Packbot spürt Bomben, Spreng-stoff und Che-mikalien auf.

2000 davon sind im Irak und in Afghanis-

tan im Einsatz.

CyberkriegerRund 30 Staaten haben

Kommandostäbe eingerichtet, um sich auf Cyberangriffe vorzubereiten.

Throwbot Der kleine Spion dient vor allem der Auf-

klärung in Häusern und Straßen.

Mikado Die Mikro-drohne eignet sich etwa zur Überwachung eines Stützpunkts.

MAARS Der bewaffnete Roboter soll Menschenmengen in Schach halten.

MQ-9 Reaper Diese Kampfdrohne ist bewaffnet. Die USA setzen sie in Afghanistan und Pakistan ein.

Heron TP Die Auf-klärungsdrohne aus Israel kann 400 Kilometer von der Steuerzentrale entfernt operieren.

Euro Hawk Die Aufklärungsdrohne kann in 20 Kilometer Höhe drei Tage lang in der Luft bleiben.

Exoskelett Mit seiner Hilfe können Soldatenhöher springen, schwerer tragen und weiter laufen.

LS3 Als eine Art Roboter-Esel schleppt das Gerät bis zu 180 Kilogramm Mate rial.

Das Schlachtfeld der Zukunft

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Dossier

im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums ergab, dass sie durch schnittlich genauso oft an psychischen Krankheiten wie der posttraumatischen Belastungs-störung leiden wie ihre Kollegen, die Kampf jets über dem Irak oder Afghanistan steuerten.

Die USA setzen ihre Drohnen beim »gezielten Töten« im Hoheitsgebiet anderer Länder ein. Philip Alston, Professor an der New York University School of Law und spezialisiert auf Menschenrechte, stellte 2010 als UN-Sonderbeauftragter fest, dass die Verei-nigten Staaten damit zunehmend internationales Recht verletzten. Artikel 2 der UN-Charta untersagt den Militäreinsatz auf fremdem Territorium. Und Ar-tikel 51 toleriert die Anwendung von Gewalt in Kon-flikten nur, wenn ein UN-Mandat das gestattet oder es um Selbstverteidigung geht. »Werden Drohnen direkt durch Geheimdienste eingesetzt, so führt dies zudem in eine juristische Grauzone, was die De fi ni tion regulärer Kriegsparteien und die Le gi ti ma tion nicht-militärischer Gewalt betrifft«, stellte die Berliner Stif-tung Wissenschaft und Politik (SWP) fest.

Internationale Abkommen über den Einsatz der ferngesteuerten Waffensysteme gibt es nicht, ebenso wenig wie Exportbeschränkungen für Drohnen. Selbst Terroristen und radikale Gruppen wie Hisbol-lah im Libanon sollen darüber verfügen: Mit Spreng-stoff beladen, könnten die Drohnen zu Anschlägen genutzt werden. Wissenschaftler haben nun das »In-ternational Committee for Robot Arms Control« ge-gründet, das gegen die Aufrüstung mit Roboterwaffen kämpft. Die Organisation befürchtet, dass Drohnen eher zu Kriegen verführen als herkömmliche Waffen-systeme und dass sie Konflikte eskalieren lassen.

Trotz aller Kritik will auch die Bundesrepublik nun Kampfdrohnen anschaffen. Bisher verfügen die deutschen Streitkräfte nur über unbemannte Auf-klärer wie die »Luftgestützte unbemannte Nahauf-klärungsausstattung« (Luna) und das Kleinflugzeug Zielortung (KZO). Seit März 2010 kommt zudem die Heron 1 in Afghanistan zum Einsatz. Diese unbe-waffnete Drohne hat Deutschland von Israel geleast. Im Oktober 2014 endet der Leihvertrag, dann soll eine bewaffnete Ver sion folgen. Laut Bundesregie-rung sind die mit Raketen bestückten Drohnen »Aus-druck eines technologischen Vorsprungs, der einen Sicherheitsgewinn vor allem durch glaubhafte Ab-schreckung zu bewirken vermag«.

Verteidigungsminister Thomas de Mai zière sieht auch andere Vorteile der Drohnen: Sie werden nicht müde und kennen keine körperliche Belastung. Ihre Einsatzzeiten sind länger als die von herkömmlichen Kampfjets. Sie können in die gefährlichsten Missionen geschickt werden, ohne eigene Soldaten zu gefährden. Ihre Wartung ist billiger als die der größeren Kampf-flugzeuge, und der Stückpreis fällt niedriger aus: Ein F-35-Kampfjet, das neueste Mehrzweck-Hightech-

Kampfflugzeug der USA, kostet rund 100 Millionen Dollar, eine Predator-Drohne 4,5 Millionen Dollar.

Dafür bekommt der Käufer mehr als die Fähig-keit zum »gezielten Töten«. Drohnen wie die Preda-tor unterstützen bei Gefechten die Truppen am Bo-den mit Informationen in Echtzeit und Waffeneinsatz, klären Routen von Patrouillen auf, begleiten Konvois, leisten Langzeitbeobachtungen von Zielen, suchen nach Hinterhalten sowie Sprengfallen und bewachen Objekte. Aber: Wenn es nicht möglich sei, den An-greifer zu töten, der die Drohne lenkt, schreibt der Philosoph Han, werde der Kriegsbegriff obsolet.

Vielleicht werden Menschen künftig für Kampfeinsätze gar nicht mehr ge-braucht. Schon jetzt können Drohnen den idealen Ort für ihre Beobachtungs-einsätze selbst finden. Beim Abbruch der Funkverbindung kehren sie per

Autopilot zu einem definierten Punkt zurück. Sie landen und starten eigenständig und werden dank neuer Sensoren künftig mehrere Ziele gleichzeitig beobachten können. »Da die Komplexität der Ope-ra tion für den Menschen in Echtzeit dann nicht mehr nachvollziehbar ist, bleibt ihm lediglich die Be-stätigung oder Verweigerung einer von der Maschine vorgeschlagenen Lösung«, heißt es in einer SWP-Studie. »Eine wirkliche Entscheidungsautonomie des Menschen – auch zur Zielauswahl – wäre unter diesen Umständen nicht mehr gegeben.«

Längst arbeiten Ingenieure an der völligen Au-tonomie der Waffensysteme. Drohnen sollen unter anderem lernen, den automatischen Angriff bei ver-dächtigem Verhalten von Zielpersonen eigenständig umzusetzen. Allein die Soft ware an Bord der Maschi-nen identifiziert dann die Gegner. Ein Szenario dafür: Eine Drohne entdeckt nachts Gestalten am Stra-ßenrand, die Männer könnten Sprengfallen vergra-ben. Kommen weitere Verdachtsmomente hinzu, etwa dass sie mit Gewehren bewaffnet sind oder flie-hen, sobald sie die Drohne bemerken, dann greift das Flugzeug autonom an. Zudem sollen Drohnen künf-tig mit Soft ware zur Ge sichts erken nung ausgestattet werden, um festgelegte Zielpersonen selbstständig finden zu können. Computer als Entscheider über Leben und Tod – das bringt enorme rechtliche und ethische Probleme mit sich: Wer übernimmt etwa die juristische und moralische Verantwortung, wenn Maschinen Kriegsverbrechen begehen?

Die Drohnenkrieger lassen sich davon nicht beirren. Die Vereinigten Arabischen Emirate ver-kündeten gerade erst, dass sie Drohnen von Ge-neral Atomics anschaffen werden. Auf der nächsten Rüstungsmesse in Abu Dhabi dürfte die Predator XP dann eine Hauptrolle in der täglichen Kriegs-show spielen. Hauke Friederichs

1588Mit Batterien von Schiffskanonen vernichten die Engländer die spanische Armada und revolutionieren den Seekrieg.

1854Seeminen werden erst mals im Krimkrieg gegen feind-liche Flotten eingesetzt.

18. JahrhundertAus dem Hinterlader entwickelt sich das Gewehr.

Ende 14. JahrhundertDie Arkebuse ist die erste (und nicht besonders ziel sichere) Handfeuerwaffe auf dem Schlachtfeld.

1914Mit dem Flugzeug ent-steht der Luftkrieg. Es wird eine der Hauptwaffen der modernen Kriegsführung.

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Sie haben eine Ethik-software für auto- nome Killer-

roboter geschrieben. Was macht die?Der Algorithmus entschei-det aufgrund von Logik, Anweisungen und Verbo-ten, welche Ziele ange-griffen werden dürfen – und welche nicht, etwa weil das völkerrechtswid-rig wäre. Es geht nicht darum, Killerroboter zu bauen, sondern darum, dass diese Roboter keine Zivilisten oder Verwun-deten töten. In einer Simulation auf Ihrer Website fliegt eine

Drohne über einen Friedhof, auf dem sich feindliche Kämpfer aufhalten. Was empfiehlt das Ethikprogramm?Das Szenario entspringt einer wahren Begeben-heit, bei der eine Drohne angefordert wurde, um Taliban-Kämpfer auf einer Beerdigung zu attackie-ren. Die Einsatzregeln ver-bieten das. Trotzdem ging die Anfrage hoch bis zum Pentagon, wo sie abgelehnt wurde. Für ein automatisches System wäre es kinderleicht, mit-hilfe des GPS Zonen zu definieren, wo nicht geschossen werden darf. Die Maschine entschei-

det also schneller. Sie handelt am Ende auch menschlicher als ein Sol-dat aus Fleisch und Blut, denn sie kennt keine Angst oder Rachegefühle. Sie hat kein Recht auf Selbstverteidigung. Sie ist aber dumm. Human Rights Watch schildert ein Szenario, in dem eine Mutter laut schreiend auf Sol daten zuläuft, weil ihre Kin der nur mit Plastik-gewehren spielen. Ein autono mer Roboter wür-de das nicht erkennen.Dann dürfte er auch nicht schießen. Natürlich werden diese Systeme Fehler machen. Aber wenn

killermaschinen

Dürfen Roboter automatisch töten?

sie weniger Fehler machen als menschliche Kämpfer, dann haben wir am Ende Leben gerettet.Wie schätzt eine Maschi-ne ein, ob ein Angriff im Sinne des Völkerrechts verhältnismäßig ist? Das Militär nutzt heute schon Programme, um die Verhältnismäßigkeit ab-zuschätzen. Bug Splat etwa berechnet die Schäden aus der Explosionskraft der Munition. In Zukunft wird man den Schaden in Echtzeit kalkulieren – bevor das Feuer eröffnet wird. Maschinen werden das eben so gut oder bes-ser können als Soldaten.Autonome Roboter

könnten aber die Hemmschwelle senken, einen Krieg zu führen.Diese Möglichkeit gibt es zweifellos, das gilt für jede neue Technik. Was ist die Alternative? Die Entwicklung neuer Technologien für das Militär verbieten? Die Ächtung der Waffen. Die Waffen sollten nicht eingesetzt werden, bevor sie sicher sind. Muss man sie dafür ächten? Ich denke nicht. Das Völker-recht reicht dafür aus.

Ronald Arkin leitet das Mobile Robot Laboratory am Georgia Institute of Technology in Atlanta.

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Anonymous hackt Sony. Die chinesi-sche Armee hackt die New York Times. US-Agenten hacken das iranische Atomprogramm. Ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Cyberkrieger Züge entgleisen lassen und Flugzeuge zum

Absturz bringen? Wird der nächste Weltkrieg wo-möglich ein Cyberkrieg sein?

Wohl kaum. Die Rede vom Cyberkrieg ist irre-führend und lenkt von den wirklichen Problemen ab. Immerhin wurde noch nie ein Mensch durch einen Computerangriff verletzt oder getötet. Statt diffus von virtueller Kriegstreiberei zu reden, sollten wir das, was wirklich passiert, beim Namen nennen: Spionage, Sabotage und Sub ver sion. Mit dieser Un-terscheidung werden drei Effekte erkennbar.

Der erste Effekt betrifft die Gewalt. Bei näherem Hinsehen haben Computerangriffe unerwartete Fol-gen: Sie machen bisher gewaltsame Handlungen weniger gewaltsam. Geheimdienste können heute riesige Datenmengen auswerten, ohne ein Land mit Spionen zu infiltrieren. Streitkräfte legen gegnerische Luftabwehrsysteme lahm, ohne feindliche Soldaten zu verletzen. Und politische Aktivisten mobilisieren Menschenmassen, ohne zuvor durch politische Ge-walt das herrschende Regime zu unterminieren. Der Konflikt selbst wird dadurch natürlich nicht gewalt-frei. Doch Staaten und Bürger haben neue Instru-mente an die Hand bekommen. Nur in höchst selte-nen Ausnahmefällen werden diese Instrumente zu gewaltsamen Waffen.

Der zweite Effekt betrifft die technischen Hür-den. Sub ver sion und politischer Aktivismus erfor-dern wenig technisches Know-how. Es braucht eine frustrierte Zielgruppe, eine gute Idee zur Mobilisie-rung sowie Face book, Twitter oder andere soziale Medien. Der Flashmob oder die gemeinsame Attacke auf verwundbare Internetseiten sind mit Free ware schnell zu organisieren. Spionage dagegen will ge-konnt sein. Angreifer haben hier üblicherweise ein bestimmtes Ziel im Visier. Zuerst muss das Opfer ausgetrickst werden, zumeist durch unverdächtige E-Mails mit verwanztem Anhang. Die virtuellen Ein-brecher müssen dann die gesuchten Daten finden, heimlich eine Kopie fortschaffen und dabei ihre Spuren verwischen. All das ist leichter gesagt als ge-

tan. Attraktive Ziele zu knacken, etwa das Pentagon oder Google, erfordert ein sehr hohes Maß an Kom-petenz und Kreativität.

Sabotage ist noch schwieriger. Die Angreifer müssen ihr Ziel im Vorfeld genau kennen. Wer kom-plexe Anlagen wie etwa ein Kraftwerk oder eine Raf-finerie lahmlegen will, muss die Prozesssteuerung verändern und darf nicht bloß eine Fehl funk tion herbeiführen, die sofort behoben werden kann. Zu-dem sind besonders empfindliche Ziele womöglich gar nicht mit dem Internet verbunden. Sabotage er-fordert möglicherweise Probeangriffe in einer Test-umgebung sowie Komplizen vor Ort. Der Aufwand an Zeit, Aufklärung, Ressourcen und nötigem Fach-wissen ist beträchtlich. Und echte Cyberwaffen sind am Ende so zielspezifisch programmiert, dass deren breiterer Nutzen sehr fragwürdig erscheint.

Der dritte Effekt schließlich betrifft das Risiko. Sub ver sion und politischer Aktivismus mögen eine Bedrohung für autoritäre Regime darstellen, wie der Arabische Frühling gezeigt hat. Doch die Si tua tion in freien Gesellschaften ist eine andere: Demokratie und Kapitalismus leben von einem gesunden Maß an Sub-ver sion und permanenter Erneuerung. Die große di-gitale Herausforderung des Westens ist es, kon struk-ti ve von gefährlicher Sub ver sion zu unterscheiden und Erstere zu schützen. Computerspionage stellt das größte unmittelbare Risiko dar. Das 21. Jahrhundert ist das goldene Zeit alter der signal intelligence, wie der ehemalige CIA-Direktor Mi chael Hayden einmal sagte. Derzeit profitiert vor allem China von diesem Goldrausch. Unvorstellbare Mengen von intellektuel-lem Eigentum werden heimlich in Form von Einsen und Nullen nach Fernost gepumpt. Die wirtschaftli-chen Kosten dieses Wissenstransfers sind noch nicht abzuschätzen. Sabotage bleibt die Ausnahme. Es gibt weniger als eine Handvoll ernsthafter Fälle.

All das könnte sich ändern. Doch absurde Sci-ence-Fiction-Szenarien, rhetorisch zum Cyberkrieg zugespitzt, dürfen nicht länger den Blick auf die wirklichen Probleme versperren.

Medien und Politiker überbieten sich in cyber-war-fantasien. Das Gerede verschleiert die wahren Probleme, meint Thomas Rid.

Die Legende vom Cyberkrieg

Dossier

Thomas Rid ist Professor im Fachbereich War Studies am King’s College in London. Sein neues Buch »Cyber War Will Not Take Place« erscheint am 18. April.

1939Der Panzer ermöglicht raumgreifende Feldzüge statt Stellungskriegen.

1957Die erste Interkontinen-talrakete hebt im russi-schen Baikonur ab. Ein globaler Atomkrieg wird zum denkbaren Szenario.

1945Die Atombombe ist mit ihrer Vernichtungskraft ein dramatischer Einschnitt in der Militärgeschichte.

1964Die Drohne wird erst-mals im Vietnamkrieg von den USA zur Luft auf-klärung eingesetzt. F

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Es klingt seltsam, dass Wissenschaftler einen Brief an den amerikanischen Prä-sidenten schreiben, nur weil sie eine Uhr stellen, aber in diesem Fall ging es um ein besonderes Exemplar: die Weltuntergangs- Uhr. Seit 1947 disku-

tiert eine Gruppe von Forschern regelmäßig, wie nah die Menschheit am Abgrund steht, und stellt dann symbolisch den Minutenzeiger. Für 2012 ent-schieden sie: Es bleibt fünf Minuten vor zwölf, wie im Vorjahr. »2012 war das Jahr der ungenutzten Möglichkeiten, das nukleare Waff enarsenal zu redu-zieren, die Verbreitung radioaktiven Materials zu kontrollieren und dem Nuklearterrorismus Einhalt zu gebieten«, schrieben sie im Januar an Barack Obama. Eine Bestätigung ihrer düsteren Einschät-zung bekamen sie einen Monat später: Nordkorea machte seinen dritten Atombombentest.

Knapp 17 300 atomare Sprengköpfe befinden sich derzeit im Besitz von neun Staaten (siehe Grafik). Bis zu 300 davon sind in der Hand von Indien, Pakis-tan, Israel und Nordkorea, die nicht Mitglied des Atomwaffensperrvertrags sind und keiner Kontrolle durch die Atomenergiebehörde IAEA unterliegen.

In einem Schreckensszenario hat der Meteorolo-ge Alan Robock berechnet, welche Klimafolgen ein begrenzter Atomkrieg hätte: Würden etwa Indien und Pakistan mit je 50 Atombomben die Städte des Geg-ners angreifen, gäbe es nicht nur dort zahlreiche Opfer, sondern obendrein gelangten Millionen Tonnen Ruß in die oberen Atmosphärenschichten. Die Durch-schnittstemperatur würde weltweit jahrelang um 1,25 bis 2 Grad absinken. »Die Erde würde stärker abküh-len als in der Kleinen Eiszeit«, sagt Robock. Weltweit würden Menschen unter Ernteausfällen leiden.

100 Atombomben? Das sei gar nicht so abwegig, meint der Sicherheitsforscher Zia Mian von der Prince-ton University: »In den fünfziger und sechziger Jahren sah die militärische Planung der USA vor, im Ernstfall alle Atombomben einzusetzen.« Das waren viele Hun-dert. Im Jahr 2000 wurde bekannt, dass die USA inner-halb von zwei Minuten knapp 1800 Atombomben auf Ziele in Russland abfeuern könnten. Warum sollten Indien und Pakistan andere Strategien verfolgen? Ein schwacher Trost: Nordkorea, dessen Außenministeri-um im Fe bru ar mit einem Präventivschlag drohte,

besitzt derzeit weniger als zehn Sprengköpfe. Nach dem jüngsten Atomwaffentest rätseln Experten noch, ob dies eine kompakte Atombombe der zweiten Ge-ne ra tion war, wie man sie für Raketen braucht.

Eine weitere Sorge gilt dem Nuklearschmuggel. Seit 1993 registrierte die IAEA weltweit 615 Fälle von Diebstahl oder Verlust, meist von radioaktiven Stof-fen aus Krankenhäusern oder Industrieunternehmen. »Einige Fälle« deuteten auf organisierten Handel mit radioaktivem Material hin, schreibt die Behörde. 16 Mal wurde hochangereichertes Uran (HEU) oder Plutonium beschlagnahmt, Bombenrohstoff.

Weltweit befinden sich 20 Tonnen HEU in Nichtatomwaffenstaaten. Das Material wird in For-schungsreaktoren verwendet, schon vier Kilo würden für den Bau einer Atombombe genügen. Seit Jahren gibt es deshalb Bemühungen, HEU aus dem zivilen Kreislauf zu verbannen. Auch der Münchner For-schungsreaktor FRM II sollte bis 2010 von HEU auf harmloses Uran umrüsten, darauf einigten sich die Bundesregierung und Bayern 2003. Daraus wurde nichts, nun wird 2018 anvisiert. Deutschland sei ein »unrühmliches Beispiel«, klagt Friedensforscher Matthias Englert von der Technischen Universität Darmstadt. »Wir warten nur darauf, dass der Iran dieses Argument entdeckt und auch einen For-schungsreaktor mit HEU bauen will.« Max Rauner

Der Nuklearschmuggel und das Szenario eines regionalen atomkriegs

beunruhigen Friedensforscher. Auch an Deutschland gibt es Kritik.

Gefährliche Grauzonen

Dossier

Auch der Reaktor der TU München enthält besonders gefährliches Uran. Ein Risiko: Vier Kilo reichen für den Bau einer Atombombe.

Das nukleare Waffenarsenal (Stand: 2012)

Großbritannien225

USA7700

Frankreich300

Israel80

Pakistan90–110

Indien80–100

China240

Nord-korea< 10

Russland8500

= 200 Atombomben

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GESUNDHEIT & PSYCHOLOGIE

Jan Schweitzer, Chefredakteur von ZEIT

Wissen, erreichen Sie unter [email protected].

Was wichtig war Es ist ein erschreckendes Aufholrennen, das da

fast unbemerkt abläuft. Und der Gewinner steht jetzt schon fest:

lungenkrebs wird zu der Krebsform, an der Frauen am häufigsten

sterben. In Großbritannien und Polen ist es schon jetzt so weit, dort

hat der Lungenkrebs gerade den Brustkrebs als spitzenreiter

abgelöst, im Rest von Europa wird das wohl 2015 geschehen. Das zeigen

Berechnungen eines Teams um Carlo La Vecchia vom Mario-Negri-

Institut in Mailand. Ein Grund dafür ist zwar, dass die Zahl der Frauen

sinkt, die an Brustkrebs sterben; die Therapien dagegen sind besser

geworden. Doch hauptsächlich verantwortlich machen die Experten die

emanzipation: Seit den sechziger Jahren tun Frauen vermehrt

das, was bis dahin vor allem Männern taten – sie rauchen.

Was wichtig wird Martin Luther King (»I have a dream«) wusste,

dass es Visionen braucht, damit Menschen für eine bessere Welt einstehen.

Welche Zukunftsbilder politisches Engagement besonders fördern,

haben Psychologen aus Australien untersucht. Sie baten Probanden, sich

die welt im jahr vorzustellen, etwa eine Welt, der es

gelang, den Klimawandel einzudämmen, oder die Marihuana legalisiert

hat. Die Probanden sollten mögliche Folgen beschreiben und angeben,

ob sie eine entsprechende Politik unterstützen würden. Das Ergebnis:

Entscheidend waren nicht etwa mögliche Konsequenzen für Kriminalität,

Bildung oder Fortschritt, sondern die Frage, ob eine bestimmte Politik

dazu beitragen kann, dass Menschen gutmütiger werden und künftig

moralischer handeln. Wissenswert für Wahlkämpfer.

zeit wissen

s 50 bis s 69

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y Von wegen niedlichNein, nicht küssen – das Reptil könnte keime übertragen! Forscher vom Robert Koch-

Institut schätzen, dass bis zu 90 Prozent der Reptilien, die in Haushalten leben, Träger

von Salmonellen sind – und damit vor allem bei kleinen Kindern, Schwangeren und älteren

Menschen gefährliche magen-darm-infektionen verursachen können.

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Psychologie & Gesundheit text Katrin Zeug fotos Janina Wick

»Manchmal halten mich Fremde für unselbstständig und stellen meinen Ver-stand infrage. Bei einer Ein-ladung zum Essen bekam ich einmal von den Gast-gebern eine Mappe mit der Bitte um Rück gabe. Darin lagen fein säuber lich ausgeschnittene Zeitungs-artikel über den Islam und die Aufklärung in Eu-ropa. Damit ich meine

Wissensdefizite ausglei-chen könne. Ein anderes Mal bemerkte ich die Ner-vosität meines Sitznach-barn, als ich mich im Flugzeug auf den Platz neben ihn setzte. Beim Start hielt er es dann offen sicht lich nicht mehr aus, sprang trotz der Anschnallzeichen auf und setzte sich drei Reihen weiter nach vorne.«

Die Denkfehler der anderenKübra Gümüşay, 24, Journalistin und Bloggerin, wird wegen ihres Kopftuchs von fremden Leuten oft falsch eingeschätzt.

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Ausländer gefährden Deutschland, Frauen gehören an den Herd, Musli-me sind intolerant und Schwule wi-der die Natur. Finden Sie nicht? Zum Glück – aber Sie gehören damit einer Minderheit an. 52 Prozent der Bevöl-

kerung meinen, Deutschland sei in einem gefährli-chen Maße überfremdet. Die Mehrheit der Europäer fordert, dass Frauen ihre Rolle als Ehefrau und Mut-ter ernster nehmen sollten, und glaubt, dass der Is-lam eine intolerante Re li gion sei. Und die meistge-wählte Partei Deutschlands ringt seit Wochen darum, ob sie Schwulen und Lesben die gleichen Rechte zugestehen sollte wie allen anderen.

Auch wer nichts gegen Homosexuelle, Auslän-der, berufstätige Frauen oder Muslime hat, hat be-stimmte Bilder im Kopf, erwartet gewisse Eigenschaf-ten von Friseurinnen, Asiaten oder Fußballspielern und hegt vielleicht eine Abneigung gegen reiche Er-ben. Jeder hat Vorurteile. Sie sind eine zutiefst mensch-liche Eigenschaft und fest im Gehirn verankert. Und fast jeder kennt auch die andere Seite: Wer geschieden oder arbeitslos ist, blond oder dunkelhäutig, weiß, wie es ist, in Schubladen gesteckt zu werden.

Dabei haben Vorurteile mit der Realität nichts zu tun. Sie sind ein Wahrnehmungsfehler, ein Auf-merksamkeitsphänomen – mit gesellschaftlicher Di-men sion. Vorurteile schaden dem sozialen Zusam-menleben und kosten die Wirtschaft Geld. Sie ganz loszuwerden ist unmöglich. Aber wer weiß, wie sie funktionieren und unsere Eindrücke verzerren, kann verantwortungsbewusst mit ihnen umgehen – und womöglich bessere Entscheidungen treffen.

Die Schablonen des menschlichen Denkens bilden sich schon früh, sie sind sogar Teil unserer Entwicklung. Wenn Kinder von ihrer Umgebung lernen, die Welt zu verstehen, ordnen sie sie in Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Mädchen sind lieb und kichern. Jungs sind wild und weinen nicht.

Aber auch als Erwachsene speichern wir Wissen in solchen assoziativen Netzen ab. Ausgehend von den Konzepten in unserem Kopf, unterstellen wir ande-ren spezifische Eigenschaften oder Verhaltensweisen, nur weil sie einer bestimmten Gruppe angehören: der FDP beispielsweise, den Bayern oder den Kopf-tuchträgerinnen.

Kübra Gümüşay etwa spürt das tagtäglich. Im-mer wieder erlebt die Hamburgerin, dass Leute von ihrem Aussehen automatisch Schlüsse auf ihren Cha-rakter und ihr Leben ziehen. Sie gehen davon aus, dass die junge Frau unterdrückt werde, schlecht Deutsch spreche, weder eine eigene Meinung noch Humor habe. Manche haben sogar Angst vor ihr. Nur weil sie ein Tuch auf dem Kopf trägt.

»Vorurteile sind Übergeneralisierungen unseres Gehirns«, sagt Martin Korte, Hirnforscher an der TU Braunschweig. Sie sind im Grunde ein Trick des Ge-hirns, um bei der Informationsverarbeitung Energie zu sparen. Je schneller ein Mensch sein Umfeld ein-ordnen kann, desto mehr Kapazitäten bleiben für andere Denkvorgänge. Und desto schneller kann er auf Gefahren reagieren: Sehen wir eine dunkle Gestalt auf nächtlicher Straße, sammelt unser Gedächtnis, was es gelernt hat. Blitzschnell rechnen die Nerven-zellen Wahrscheinlichkeiten durch und aktivieren die zuständigen Areale. Die Mandelkerne etwa si gna li sie-ren Angst. Die Basalganglien, der Ort, an dem einge-spielte Bewegungsabläufe abgelegt sind, lassen uns den Schritt beschleunigen. Quasi automatisch.

Entscheidend ist nicht die tatsächliche Gefahr, sondern es sind die Bilder und Informationen, die im Gedächtnis gespeichert sind. Sie dienen als Inter-pretations- und Verhaltenshilfen, als Heuristik. Klei-dung, Herkunft oder Beruf geben, wenn es schnell gehen muss, Hinweise darauf, ob jemand zur eigenen Gruppe gehört oder nicht. »Der Mensch ist evolutio-när noch nicht klug genug, die Umwelt so wahrzu-nehmen, wie sie ist. Er muss kategorisieren, um die

die serie

Wer ist hier der Boss?Wie uns psychologische Mechanismen steuern.

Teil 1: Die Macht der Gewohnheit Wie man schlechte Gewohn-heiten ablegt – und gute für sich nutzen kann.(ZEIT Wissen 2/13)

Teil 2: Der Fluch der Vorurteile Vorurteile erleichtern dem Gehirn die Arbeit, sie scha-den aber oft dem sozialen Zusammenleben, führen zu Diskriminierung und kosten die Wirtschaft Geld. Wie kann man sie abbauen?

Teil 3: Der Wunsch nach Anerkennung Wir wollen von anderen gemocht und geachtet werden, unter allen Umständen. Wie kann man vermeiden, in häufige Fallen zu tappen?(ZEIT Wissen 4/13, erscheint am 11. Juni)

Vorgefertigte Meinungen haben nur die anderen, denken wir. Stimmt aber nicht, und sie

beeinflussen unser aller verhalten. Zum Glück sind wir ihnen nicht ausgeliefert.

Der Fluch der Vorurteile

Serie, Teil 2

Wer ist hier der Boss?

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Informationsflut zu reduzieren«, sagt Andreas Zick, Professor für Sozialpsychologie an der Universität Bielefeld. Seit Jahren erforscht er Vorurteile. »Vor allem in der Not, wenn wir Angst haben oder gestresst sind, verfallen wir ihrer Klarheit und stabilisierenden Wirkung.« Das sei sehr menschlich – habe aber mit realistischer Wahrnehmung nichts zu tun.

Beim Anlegen der Denkschablonen saugt das Gehirn auf, was das Umfeld hergibt. Häufigkeit und Intensität des Erlebens sind dabei wichtiger als der Wahrheitsgehalt der Informationen. Wenn nach ei-nem Anschlag Medien und Politiker immer wieder von Selbstmordattentätern und dem Islam sprechen, dann wird das Gehirn diese Verbindung abspeichern und in anderen Situationen aktivieren – auch wenn wir eigentlich nichts gegen Muslime haben.

Sind solche Vorurteile erst einmal verinnerlicht, ist es schwer, sie wieder loszuwerden. Denn sie über-nehmen die Kontrolle über die Informationsverarbei-tung – und bestätigen sich so immer wieder selbst. Was mit unseren Vorstellungen zusammenpasst, sehen wir schneller, gewichten wir stärker und glauben wir eher. Informationen, die dem, was wir gelernt haben, wi-dersprechen, behagen uns hingegen nicht. Oft be-

trachten wir sie daher als Ausnahme. Eine harte, grobe Frau ist dann »wie ein Mann« und Kübra Gü-müşay keine »richtige Muslimin«. Zwar trägt sie Kopf-tuch, hat einen türkischen Namen und ist mit 24 schon verheiratet. So weit stimmt das Bild für viele. Doch wenn die Menschen sie kennenlernen, gerät es ins Wanken. Gümüşay hält Vorträge über Feminis-mus, hat Politik studiert, schreibt ein viel beachtetes Blog und eine Kolumne in der taz. Als wäre es ein Kompliment, beugen sich Irritierte zu ihr herüber und raunen: »Sie sind aber eine Ausnahme.«

So wie der Spiegel-Autor Matthias Matussek: Nach einer Begegnung im ICE und einem spontanen Gespräch im Bordbistro, bei dem die beiden unter anderem Dialekte imitierten und über das Internet diskutierten, bezeichnete er ihre Form der Religions-ausübung in einem Text als Punk. Er schuf ein Ex-trakästchen in seiner Schublade »Muslimin« und ver-mied so, ein Vorurteil infrage zu stellen.

»Die Gefahr ist, dass man sich geschmeichelt fühlt, weil man für besonders gehalten wird«, sagt Gümüşay. »Aber in erster Linie ist das eine Beleidi-gung aller anderen Frauen mit Kopftuch und zeigt, welche geringe Erwartung man an mich hat. Bei mir

Psychologie & Gesundheit

Eigene Vorurteile erkennen

»Seit ich darauf verstärkt achte, entdecke ich überall meine unsinnigen Vor-urteile: Jungs sind Rabau-ken, Frauen mit Kopf - tuch unterdrückt, Eltern mit behindertem Kind arm dran. Und als ich er-fuhr, dass mein Coach ein Expolizist ist, dachte ich sofort, der kann ja keine

Ahnung haben. Diese Bil-der habe ich im Kopf. Aber ich versuche inzwi-schen, nach dem ersten Impuls innezuhalten und noch einmal darüber nach-zudenken. Solche Äußer-lichkeiten dürfen für unser Handeln keine Rolle spie-len. Das müssen wir üben. Nicht nur als Lehrer.«

Markus Schega, 51, Schulleiter, hat für alle seine Lehrer ein Training gegen Vorurteile eingeführt.

Der Mensch ist nicht klug genug, um die Welt so zu sehen, wie sie ist. Er braucht simple Kategorien, um die Flut der Informationen zu reduzieren.

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sind manche begeistert, nur weil ich Abi gemacht habe und humorvoll bin.« Kübra Gümüşay weiß, dass sie keine Ausnahme ist. Sie bewegt sich in einer Szene moderner, selbstbestimmter Musliminnen. Im Akti-onsbündnis muslimischer Frauen e. V. etwa ist sie vernetzt mit Hunderten anderer Frauen. Die meisten davon haben Kopftuch und Universitätsabschluss.

Das Denken in Vorurteilen verzerrt nicht nur die Wahrnehmung der Realität, es kann Vorurteile sogar Wirklichkeit werden lassen. Der Harvard-Psychologe Robert Ro-senthal und die Grundschuldirek-

torin Leonore Jacobson machten in den sechziger Jahren ein Experiment, das in der Sozialpsychologie Geschichte schrieb. Es zeigt, wie sehr – in diesem Fall positive – Vorurteile den Umgang mit Schülern prägen. Rosenthal und Jacobson erzählten Lehrern, dass, nach wissenschaftlichen Tests, einige Schüler kurz vor einem intellektuellen Entwicklungsschub stünden. In Wirklichkeit waren diese Kinder je-doch willkürlich ausgewählt. Als die Forscher acht Monate später zurückkamen und die Leistungen verglichen, schnitten die angeblichen Aufblüher in einem IQ-Test tatsächlich weit besser ab als zu Be-ginn der Studie. Die in die Köpfe der Lehrer ge-pflanzten Erwartungen hatten deren Verhalten ge-genüber den Schülern verändert und waren so Realität geworden.

Noch unheimlicher ist die Erkenntnis, dass die Vorurteile, die in unserer Gesellschaft herrschen, sogar das eigene Selbstbild ins Wanken bringen kön-nen. Bei einem Leistungstest der Stanford University schnitten Afroamerikaner tatsächlich schlechter ab, wenn sie zuvor mit ihrem Namen und Alter auch ihre Hautfarbe angeben mussten. Wohl, weil sie das in den USA gängige Bild »Schwarze sind ungebildet« verinnerlicht hatten. Der Effekt wurde in anderen Variationen des Experiments bestätigt: Hören Män-ner, dass bei einem Sprachtest Geschlechterunter-schiede gemessen werden, lösen sie die Aufgaben viel langsamer und vorsichtiger, als wenn sie nicht an ihr Geschlecht und damit verbundene Erwartungen er-innert werden. Frauen geht es ebenso bei Mathema-tiktests und Fahrsimulationen. Und blonde Studen-tinnen, die vor einem Intelligenztest Blondinenwitze lesen, schneiden schlechter ab als diejenigen, die andere Witze lesen.

Die Vorurteile, die die Kultur vermittelt, beein-flussen also unsere Leistungen, im Negativen wie im Positiven. In China gelten alte Menschen etwa als ak-tiv, weise und wichtig. Die Yale-Forscherin Becca Levy zeigte in mehreren Studien, dass sich dort – anders als in den USA – die Gedächtnisleistungen junger und alter Menschen kaum unterscheiden.

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Aber auch viel weniger subtil entfalten Vorurteile ihre Macht und nehmen Einfluss auf unsere Erfolgs-aussichten. Hierzulande genügt ein türkischer Name, um – bei sonst identischen Angaben – eine bis zu 24 Prozent geringere Chance auf ein Vorstel-lungsgespräch zu haben. Arbeitgeber lassen Stellen oft lieber unbesetzt, als Hartz-IV-Empfänger einzu-stellen, und zahlen Frauen bei gleicher Tätigkeit acht Prozent weniger Gehalt als Männern.

Es ist ein Teufelskreis: Denn regelmäßig diskriminierte Menschen, das ergab eine Untersuchung der Universität Duis-burg-Essen, werden häufiger krank, zei-gen schlechtere Leistungen und verlie-ren das Interesse, sich zu integrieren.

Das schadet auch den Firmen und der gesamten Volkswirtschaft. Die Unternehmensberatung Roland Berger schätzt, dass deutsche Firmen jährlich 21 Mil-liarden Euro sparen könnten, wenn ihr Personal bunt gemischt wäre. Weil sie dann mehr über die Welt und über Frauen wüssten, neue Kunden gewinnen und die Erfahrung von Älteren nutzen könnten.

Allerdings gesteht niemand sich gerne ein, Vor-urteile zu haben. Auch nicht Personalchefs. Ein Feh-ler, den Steffen Müller zu spüren bekam. In den Be-werbungsunterlagen ist der Mann niemand, den sich ein Personaler auf der Suche nach einer Bürokraft wünscht: gelernter Metzger, eine lange Lücke im Le-benslauf, Umschulung, Glasauge, fast 50 Jahre alt. Monatelang bekam Steffen Müller seine Unterlagen immer wieder zurück.

Studien belegen, dass vor allem in der ersten Phase der Bewerbung Vorurteile greifen. Mitarbeiter werden nach Vornamen, Nase und Kleidung ausge-wählt. Schon die Frisur macht einen Unterschied, und Dicke haben schlechtere Chancen als Dünne. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes startete daher ein Pilotprojekt: Acht Betriebe und Behörden verzichteten bei der Suche nach neuen Mitarbeitern ein Jahr lang im ersten Durchlauf auf Informationen wie Alter, Geschlecht, Familienstand und Bild. In den angelsächsischen Ländern ist das seit Jahren Standard. Die Stadt Celle machte bei dem Experiment mit, als die Bewerbungsunterlagen von Steffen Müller anka-men. Ohne Bild. Ohne Altersangabe. Aber mit den Noten der Umschulung zum Verwaltungsfachange-stellten, einem Motivationsschreiben und einer de-taillierten Beschreibung seiner Fähigkeiten. Im Ge-spräch überzeugte er durch seinen Elan – und macht seitdem im Grün- und Straßenbetrieb die Buchhal-tung. Momentan sucht die Stadt Celle einen neuen Leiter der Stadtwerke, ebenfalls anonym.

Solche Initiativen können den Fluch der Vor-urteile bannen. Doch kann auch jeder bei sich selbst anfangen. Wir sind Vorurteilen nicht machtlos aus-

geliefert. Die schnellen Berechnungen von Basalgan-glien und Mandelkernen gehen in einen evolutions-biologisch recht jungen Bereich des Gehirns ein, der hinter der Stirn sitzt: den präfrontalen Kortex, zu-ständig für die bewusste Verarbeitung und Steuerung von Emotionen, für Analysen und Überlegungen. »Dank dieses Areals haben wir die Möglichkeit, inne-zuhalten und dann unsere Re ak tion angemessen an-zupassen«, sagt Hirnforscher Martin Korte.

Wichtig ist, sich die vorgefertigten Bilder selbst einzugestehen. Nicht vorurteilsfrei, sondern vorur-teilsbewusst ist daher das Credo des Anti-Bias-Ansat-zes, der in den USA und Südafrika im Kampf gegen Rassismus entstand. Statt in Schuldgefühlen zu ver-harren, soll sich jeder seiner Bilder im Kopf bewusst werden. Bemitleiden wir geistig Behinderte, ohne zu wissen, wie es ihnen wirklich geht? Nehmen wir an, dass Dunkelhäutige anders denken als wir? »Nur wenn wir sie kennen, bemerken wir die Bilder, wäh-rend sie in uns arbeiten. Dann können wir lernen, uns nicht von ihnen leiten zu lassen«, sagt Ulrich Wagner, Konfliktforscher an der Universität Marburg.

Markus Schega, Schulleiter der Nür-tingen-Grundschule in Berlin-Kreuzberg, hat damit angefangen. Täglich muss er über Dinge ent-scheiden, die Kinder, Eltern und Lehrer betreffen. Wenn Klassen

zusammengestellt, Gymnasialempfehlungen ausge-sprochen oder Elternvertreter gewählt werden, geht es auch an seiner Schule – das zeigte eine Studie – nach den Kategorien Herkunft und Geschlecht. »Es ist schwer, sich seine Vorurteile einzugestehen, aber es hilft nichts, anders kommen wir da nicht raus«, sagt Schega. Kürzlich ertappte er sich dabei, dass er eine Praktikumsbewerbung trotz bester Noten und eines guten Motivationsschreibens weglegen wollte, als er das Foto entdeckte, das eine junge Frau mit Kopftuch zeigte. Schega reagierte. Alle Lehrer seiner Schule mussten ein Diversity-Training absolvieren, er selbst nahm mehrfach daran teil.

Dabei lernten sie, wie sich Ausgrenzung anfühlt und wie wenig hilfreich Kategorien tatsächlich sind. Einen ersten Erfolg verbuchte das Kollegium schon: Als eine Klasse bei Schulbeginn zu zwei Dritteln aus Jungen bestand, sorgten sich die Lehrer, es könne un-erträglich wild werden. Sie besprachen den Fall in der Konferenz. »Sobald wir das Bild ›Junge gleich wild‹ aufbrachen und uns die einzelnen Kinder ansahen, löste sich das Problem auf«, sagt Schega. »Wir er-kannten, dass die Schüler sehr gut zusammenpass-ten.« Auch für sich hat er einen kleinen Trick gefun-den, der funktioniert: Wenn er im Elterngespräch einer voll verschleierten Frau gegenübersitzt, stellt er sich einfach vor, er spreche mit einer Ärztin. ——

Vorurteile greifen besonders in der frühen Phase von Bewerbungen: Dicke etwa haben weniger Chancen als Dünne.

Psychologie & Gesundheit

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Gesundheit & Psychologie text Christian Heinrich

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Mit Vorbeugung kann man Krankheiten

verhindern. Dank eines neuen Gesetzes soll es

bald viel geld dafür geben. Schade, dass

es vielleicht für das Falsche ausgegeben wird.

Zwei Zahlen demonstrieren eindrucks-voll das Potenzial der Vorsorge in Deutschland: 1983 hatten 98 Prozent aller Zwölfjährigen Karies, 2006 wa-ren es nur noch 30 Prozent. Heute dürfte die Zahl noch niedriger sein.

Grund für die positive Entwicklung ist neben der Fissurenversiegelungen, die schlecht zugängliche Zahnflächen schützen, und fluoridiertem Speise-salz vor allem eine verbesserte Mundhygiene dank spezieller Zahnpflege-Schulungen im Klein kind-alter – dank Prävention also.

Dabei geht es weniger darum, Erkrankungen früh zu erkennen (siehe Beispiele rechts unten), echte Prävention setzt einen Schritt früher an und versucht, Krankheiten zuvorzukommen. Impfun-gen etwa schützen vor Masern und Tetanus, Kurse zur Stärkung der Muskulatur beugen Rücken-schmerzen vor, vollwertiges Essen in Kantinen

Sorge um die Vorsorge

Auch gesundes Essen ist Prävention. Die richtigen Maßnahmen bringen viel Gesundheit für wenig Geld.

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wirkt Übergewicht entgegen. Mit relativ einfachen Mitteln lässt sich so das Krankheitsrisiko von Millio-nen Menschen senken.

Auf den ersten Blick ist es daher gut, dass die Vorsorge nun einen verlässlichen Rahmen bekommen soll. Die Regierung will die Prävention gesetzlich re-geln, wahrscheinlich noch in diesem Frühjahr. Es wäre die ideale Chance, den Wildwuchs an Maßnahmen einzuhegen. Denn mit kostenlosen Yogakursen, Rückenschulungen und sogar Gesundheitsreisen ver-suchen die Krankenkassen vor allem, sich gegenseitig Mitglieder abzujagen. Dabei weiß niemand, welche Methoden überhaupt nutzen – oder sogar schaden. Studien über die Wirkung von Präventionsmaßnah-men gibt es kaum.

Dank des neuen Gesetzes wird es bald eine Menge Geld für die Prävention geben: Jeder Versi-cherte soll dafür von 2014 an einen Beitrag von jähr-lich sechs Euro leisten. Mit den Einnahmen könnten bisherige und künftige Präventionsangebote auf ihre Wirksamkeit geprüft werden. Doch davon steht kaum etwas im Gesetzentwurf. Im Gegenteil: Min-destens die Hälfte der Einnahmen soll die Bundes-zentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) erhalten – dort aber gibt es kaum Statistiker und Ex-per ten für Wirksamkeitsanalysen.

Die BZgA ist, und das kann im richtigen Zu-sammenhang durchaus als Kompliment verstanden werden, eine Kampagnenschmiede. Bevor sie jetzt jedoch viel Geld für Werbemaßnahmen ausgibt, um im Schrotschussverfahren möglichst viel Wissen zu verbreiten, sollten Experten erst einmal im Detail evaluieren, was wirklich effektiv ist – welche Faktoren einen Rücken- oder Yogakurs wirksam machen oder unter welchen Bedingungen eine Kur vor Krankhei-ten schützt. Nur wer die Antworten kennt, kann An-gebote gezielt verbessern, Erfolgsgeschichten wie die der Kariesprophylaxe wiederholen und unseriöse

Ange bo te verhindern. Natürlich würde das Geld für diese Evaluationen anfangs bei der Prävention fehlen, aber es würde sich später zigfach auszahlen.

Langfristig würde sich eine kritische Analyse der eigenen Angebote sogar für die Krankenkassen ren-tieren: Wenn sie belegen könnten, dass ein bestimm-ter Kurs das Risiko von Rückenschmerzen um 60 Prozent senkt, ließe sich damit noch besser werben.

Der Gesetzentwurf ist aber noch aus einem anderen Grund unausgereift. Immer wieder wird darin die Eigenverantwortung des Einzelnen betont, die sich besonders bei Arztbesuchen fördern lasse. Wer jedoch zum Arzt geht, der achtet meist ohnehin auf seine Gesundheit. Deshalb nutzen viele Präven-tionsmaßnahmen vor allem denen, die schon gesund leben und sich informieren – sie werden einfach noch gesünder. Auch eine großflächige gesundheitliche Aufklärung erreicht nicht alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen. Sozial schlechtergestellte Menschen sind dafür erfahrungsgemäß weniger empfänglich, dementsprechend geringer dürfte hier der Erfolg der Präventionsaktionen sein.

Wenn die Gesundheitspolitik Krankheiten wirk-lich zuvorkommen will, muss sie viel früher ansetzen: Sie muss bessere Lebens- und Umweltbedingungen schaffen, etwa durch autofreie Tage in den Städten, durch gesündere Mahlzeiten in den Schulen und durch gesetzlich festgelegte Obergrenzen der Arbeits-zeit. Das würde allen nutzen.

Noch ist das Gesetz nicht verabschiedet. Im Moment liegt der Entwurf medizinischen Fachgesell-schaften und Verbänden vor, die Anregungen äußern können. Falls sie keine Verbesserungen erwirken, bleibt nur zu hoffen, dass die Ständige Präventions-konferenz, die mit dem Gesetz geschaffen werden soll, den Kurs bei der Vorsorge korrigiert – hin zu wissenschaftlicher Evidenz und Maßnahmen, von denen mehr Menschen profitieren. ——

GlossarPräventionSie soll das Auftreten von Krankheiten verhindern (Primärprävention), etwa durch Impfen und Auf-klärung über gesunde Ver-haltensweisen. Von Sekun-därprävention spricht man bei der Früherkennung von Krankheiten, und mit Tertiärprävention ist die Vermeidung von Rückfäl-len gemeint.

Bundeszentrale für gesundheitliche AufklärungDie Behörde, die dem Bundesgesundheitsminis-terium unterstellt ist, soll die Bürger über gesund-heitsförderliches Verhalten informieren, etwa mit TV-und Plakatkampagnen. Schwerpunkte sind unter anderem Aids-Prävention und Alkoholmissbrauch unter Jugendlichen.

Ständige Präventions konferenzLaut Gesetzentwurf sollen künftig Vertreter der be-teiligten Institutionen regel-mäßig unter dem Dach des Bundesgesundheits-ministeriums zusammen-kommen und alle vier Jahre über die Umsetzung der Präventionsziele berichten.

In Zahnarzt-praxen und Schulen werden hierzulande

schon Kleinkinder in der richtigen Zahnpflege ge-schult. Die Wirkung kann sich sehen lassen: Die Kariesrate unter den Zwölf-jährigen ist seit Beginn der achtziger Jahre von 98 Prozent auf unter 30 Prozent gesunken.

Ab einem Al-ter von 55 Jahren zahlen die Kranken-

kassen eine Darmspiege-lung auch bei Menschen, die kein besonderes Darm-krebsrisiko haben. Mit der Spiegelung lässt sich Darmkrebs recht sicher diagnostizieren. Kritiker weisen jedoch auf Neben-wirkungen hin.

Prävention in Idealform: Impfungen verhindern,

dass Menschen überhaupt erkranken. Eine hohe Impfquote in der Bevölke-rung bietet auch Schutz für jene, die selbst nicht geimpft sind. Dank Impfungen wurden schon die Pocken ausgerottet, die Masern sollen folgen.

Mit Screening sterben von 1000 Frauen innerhalb

von zehn Jahren sechs an Brustkrebs, ohne sind es acht. Dieser Erfolg wird für etwa fünf von 100 Frauen teuer erkauft: Sie müssen sich wegen fal-scher Befunde potenziell schäd lichen weiteren Unter-suchungen unterziehen.

Kariesprophylaxe Darmspiegelung Impfung Brustkrebsscreening

Vorsorge tut gut – aber nicht jedem

Info

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Gesundheit & Psychologie text Astrid Viciano fotos Bryce Duffy

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Kann man eine Karriere als Professorin machen und gleichzeitig an schizophrenie erkrankt sein? Elyn Saks kann. Und nicht nur das: Sie hat einen Bestseller

über ihre Erfahrungen geschrieben und ein Institut für Ethik in der Psychiatrie gegründet.

Elyn und die Dämonen

Wäre ihr Leben so verlaufen, wie es ihre Ärzte pro gnos ti ziert hatten, würde Elyn Saks heute stunden-weise als Kassiererin arbeiten. Sie würde in einem Pflegeheim woh-nen und ihre Freizeit vor allem

vor dem Fernseher verbringen. Doch Saks schwor sich, ihren eigenen Weg zu gehen, 30 Jahre ist das her. Obwohl ihre Realität immer wieder in tausend Stücke zerfiel, obwohl oft nichts blieb, woran sie sich festhalten konnte, und fremde Stimmen die Regie in ihrem Kopf übernahmen. »Meine Erkrankung ist wie ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann«, sagt Saks, 57. Sie muss mit der Schizophrenie leben. Und ist heute trotzdem Professorin an der traditions-reichen Gould School of Law der University of Sout-hern California in Los Angeles.

Anfangs kämpfte sie ganz allein mit ihren Dä-monen. Sie fürchtete, sonst die Zuneigung ihrer Freunde zu verlieren, die Liebe ihres Mannes, den Respekt der Kollegen. Wenn Saks unvermittelt von Männern mit Messern faselte, tat sie ihre Bemerkun-gen später als schlechten Scherz ab. Wenn die Stim-men in ihrem Kopf besonders laut schimpften, zog sie sich in ihre Wohnung zurück. Erst spät fand sie den Mut, das Geheimnis ihres Doppellebens preis-zugeben – eines Lebens als verängstigte Patientin und als herausragende Juristin.

Heute sieht sie es als ihre Lebensaufgabe, für die Rechte psychisch kranker Menschen einzutreten. Vor fünf Jahren veröffentlichte sie ein Buch über ihre Er-fahrungen mit der Schizophrenie. Das Magazin Time zählte diese Biografie zu den zehn besten Sachbü-chern des Jahres. Vor allem aber brachte ihr das Buch den 500 000-Dollar-Förderpreis der MacArthur-Stiftung ein, mit dessen Hilfe sie im Herbst 2010 das Saks Institute for Mental Health Law, Policy, and Ethics gründete. Dort arbeiten Juristen, Psychologen und Psychiater, Gerontologen und Ingenieure daran,

die Lebensqualität und die rechtliche Si tua tion psy-chisch kranker Menschen zu verbessern. Die Schau-spielerin Glenn Close sitzt im Vorstand, als Berater stehen Saks der Nobelpreisträger Eric Kandel und der Bestsellerautor Oliver Sacks zur Seite.

Unermüdlich besucht Elyn Saks Ärzte und Me-dizinstudenten, um ihnen eine andere Sicht auf psy-chisch kranke Patienten zu vermitteln. So zum Bei-spiel Assistenzärzte der Psychiatrischen Klinik an der University of California in Los Angeles. Sie sind ge-kommen, um einen Vortrag von ihr zu hören. Aus ihrem Klinikalltag kennen sie vor allem Schizophrene, die im Leben gescheitert sind. »Es ist wichtig, die Patienten zu ermutigen und ihnen nicht gleich zu sagen, dass sie ihre Erwartungen senken müssen«, er-klärt Saks den Ärzten. Und hofft, damit deren Ein-stellung den Patienten gegenüber zu verändern. Denn die haben es nicht einfach: Fast drei Viertel der Be-troffenen fühlten sich gezwungen, ihr Leiden zu ver-heimlichen, berichteten Forscher im Fachjournal The Lancet. Sie empfänden es als Stigma, wenn sie einen Job suchen, wenn sie Freundschaften schließen wollen oder wenn sie auf Partnersuche sind.

Es ist halb elf morgens, in einer halben Stunde soll Elyn Saks im Auditorium des ehrwürdigen Semel-Instituts der University of California aus ihrem Buch lesen. Sie trägt einen schwarzen Anzug und flache Schuhe, steht verlo-

ren zwischen den Sitzreihen, wirkt wie ein junges Mädchen, das zum ersten Mal ein Gedicht aufsagen muss. Sie setzt sich, steht auf, nimmt wieder Platz, läuft mit steifen Schritten durch den Saal. Und lässt sich schließlich abrupt neben dem Rednerpult nie-der, um den Vortrag, den sie bereits ein Dutzend Mal gehalten hat, nochmals durchzugehen.

Saks schnitt als Jahrgangsbeste in Oxford und Yale ab, lehrt an einer der renommiertesten Univer-

»Meine Erkran-kung ist wie ein Albtraum, aus dem ich nicht aufwachen kann«, sagt Elyn Saks. Sie musste damit leben lernen.

Professorin auf dem Sofa: Elyn Saks lehrt an der traditionsreichen Gould School of Law. Trotz Therapie bricht die Krankheit auch heute noch manchmal durch.

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sitäten der USA, hat unzählige Male auf wissen-schaftlichen Kongressen über ihre Forschung be-richtet. Doch die Schilderung ihrer persönlichen Erfahrungen wühlt sie immer noch auf. Ihr Ehemann Will Vinet, ein hagerer Herr mit weißem Zopf, bleibt hinter ihr, als müsse er ihr Rückendeckung geben. Aber als sie sich schließlich ans Rednerpult stellt, klingt ihre Stimme tief und kraftvoll. »Die Schizo-phrenie zog in mein Leben wie ein Nebel, der immer dichter wurde.«

17 Jahre alt war sie, als die Krankheit bei ihr be-gann. Auf dem Heimweg von der Schule sprachen plötzlich die Häuser zu ihr. »Sie formulierten Gedan-ken, von denen ich wusste, dass sie nicht meine waren. Die Häuser sagten, dass ich außergewöhnlich sei – außergewöhnlich schlecht. Ich war furchtbar erschro-cken«, sagt Saks. Doch sie konzentrierte sich bald da-rauf auf ihr Stu dium an der Vanderbilt University und schloss es als Jahrgangsbeste ab. Sie erhielt ein Stipen-dium für die britische Eliteuniversität Oxford.

Fern der Heimat spürte sie dann erstmals die enorme Macht der Erkrankung. Bereits kurz nach ihrer Ankunft fühlte sie sich von unsichtbaren Wesen bedroht. Sie sei ein Niemand, sie verbreite beim

Reden das Böse, spukte es ihr durch den Kopf. Wie viele andere Schizophrenie-Patienten fühlte sie sich durch die Stimmen darin bestätigt, dass sie wertlos und gefährlich sei. Und beschloss, nur noch das Nö-tigste zu sprechen. »Versuchen Sie mal, Freunde zu finden, wenn Sie den ganzen Tag schweigen«, sagt sie, lacht und ergänzt: »Ich fühlte mich sehr allein.«

Meist bricht die Schizophrenie zwi-schen dem 18. und dem 35. Le-bensjahr aus, mal akut, mal schlei-chend. Dabei wechseln von der Krankheit beeinträchtigte Phasen mit solchen ab, in denen der Pa-

tient völlig gesund zu sein scheint. Während der schizophrenen Schübe verschwimmen die Grenzen des Ichs, Wahn und Realität lassen sich nicht mehr unterscheiden. Mit einer gespaltenen Persönlichkeit habe das nichts zu tun, erklärt Saks: »Die Persönlich-keit zerbricht. Das ist ein großer Unterschied.« Angst sei das vorherrschende Gefühl. Die Angst vor der riesigen Spinne, die sie manchmal an einer Wand sitzen sah. Die Angst, ihr Psychotherapeut sei von Außerirdischen ausgetauscht worden. Die Angst, kleine Männchen hätten eine Atombombe in ihrem Kopf platziert und würden mit ihrer Hilfe Tausende Menschen töten. Halluzinationen und Wahn ideen, denen schizophrene Patienten üblicherweise hilflos ausgeliefert sind. In den USA sind es 2,5 Millionen Menschen, die daran leiden, in Deutschland 700 000.

Noch kennen Mediziner die genaue Ursache der Erkrankung nicht. Behandelt wird sie mit sogenann-ten Antipsychotika. Sie blockieren die Si gnal über tra-gung des Botenstoffs Dopamin an den Nervenzellen und lindern meist die Symptome. Bis Saks einsah, dass sie die Tabletten wirklich brauchte, vergingen jedoch zehn Jahre.

Zum Glück seien ihre Psychosen immer so zial verträglich gewesen, sagt Saks. Stets waren es unsicht-bare Mächte im Himmel, fremde Wesen, die sie schein-bar bedrohten. Nie waren es Bekannte, die sie im Wahn als vermeintliche Feinde ausmachte. »Darüber bin ich sehr froh, denn gerade wegen meiner Erkrankung brauche ich Freunde mehr als alles andere: Sie sagen mir, was real, was sicher ist«, erklärt Saks.

In Oxford wurden ihre schizophrenen Phasen so beherrschend, dass die Studentin meist nur ver-worrene Sätze herausbrachte und unverständliche Texte formulierte. Sie begann, sich selbst zu verletzen, verbrannte ihre Haut mit einem Feuerzeug und ver-brühte sich mit kochendem Wasser. Typisch für Schizophrenie-Patienten: Oft richten sie heftige Ge-walt gegen sich selbst. Manche sind zusätzlich de-pressiv; meist sind sie sich ihrer Erkrankung sehr bewusst; häufig haben sie einen hohen Intelligenz-quotienten. Etwa jeder zwanzigste Schizophrenie-

Elyn Saks wuchs in Miami auf. Schon als Teenager zeigte sie An-zeichen einer Schizophrenie-Erkrankung. Dennoch schloss sie ihr Philosophie-Studium als Jahrgangsbeste ab. Sie erhielt ein Stipen-dium für die University of Oxford, studierte dann Jura an der Yale-Universi-tät. Heute ist die 57-Jährige Professorin für Recht und Psychiatrie an der Gould School of Law der University of Southern California.

Gesundheit & Psychologie

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Patient bringt sich irgendwann um. »Ich merkte, dass ich Hilfe brauchte«, erzählt Elyn Saks.

Schließlich fasste sie Vertrauen zu einer Psycho-therapeutin. Elizabeth Jones, eine knochige Frau in geblümten Kleidern, stellte dann eine strikte Regel auf: Saks sollte in den Therapiestunden offen über all ihre Gedanken, Ängste und Aggressionen sprechen. Da erzählte die Patientin, dass sie bei den Sitzungen stets ein Küchenmesser bei sich trug. Dass sie vor-hatte, Jones zu entführen, zu knebeln und im Kleider-schrank einzusperren. »Ich wollte ihr nichts antun, ich wollte sie nur bei Bedarf aus dem Schrank holen, da-mit sie mich behandelt«, sagt Saks und lacht erneut. Es hilft ihr, sich über die Krankheit zu amüsieren. Niemals ist sie tatsächlich aggressiv geworden, auch in den schlimmsten Zeiten wusste sie, dass es falsch wäre, anderen Menschen Leid anzutun. Entgegen al-len Vorurteilen werden Schizophrenie-Patienten sel-ten gewalttätig – allenfalls dann, wenn sie gleichzeitig drogenabhängig sind, ergaben Stu dien.

Saks hat ihren Vortrag inzwischen beendet und ist in ihr Büro zurückgekehrt. Neben dem Computer zappelt Sigmund Freud als Puppe an einem Gummi-band, ein Bild des britischen Komikers John Cleese hängt gerahmt an der Wand. An der Bürotür haften Zeitungsausschnitte mit Comics, auf dem Boden stapeln sich Papiere. »Ich bekomme fast täglich E-Mails von Schizophrenie-Patienten«, berichtet die Juristin. Oft seien es Nachrichten voll Dankbarkeit, weil sie den Menschen Mut gemacht habe, ihr Leben trotz der Erkrankung zu meistern. Manchmal bitten Angehörige um Hilfe. »Dann wird mir bewusst, wie viel Glück ich im Leben hatte«, sagt Saks.

Zum Mit tag essen im Universitätsclub setzt sich Saks zu zwei langjährigen Ver-trauten. Scott Altman, Vizedekan der Fakultät, erfuhr als Erster von ihrem Geheimnis. Und der Bioethik-Profes-sor Mi chael Shapiro ahnte früh, dass sie

Psychopharmaka nahm. »Sie hat einen sehr steifen Gang, das fiel mir auf«, sagt er. »Ich wusste, dass diese Medikamente das bewirken können.« Dass sie an Schizophrenie leidet, wurde ihm jedoch erst klar, als Saks von grünen Männchen sprach und in der Fakultät zusammenbrach. Nein, sie seien nicht be-sonders beunruhigt gewesen, sagen die Kollegen. Nie hätten sie daran gezweifelt, dass Saks in ihren Job zurückkehren würde. »Sie ist brillant.«

Davon will Saks nichts hören. »Lasst es mal gut sein«, sagt sie und genießt dennoch das Wohlwollen der Kollegen. Sieben Tage pro Woche geht sie in die Fakultät. Das bringe Ruhe und Sicherheit in ihr Le-ben und komme ihrem Ehrgeiz entgegen: »Im Kin-dergarten wurde uns ein Stern auf die Stirn geklebt, wenn wir etwas Tolles gemacht hatten. Ich brauche

diesen Stern immer noch, immer wieder.« Ihrem Ehr-geiz verdanke sie es auch, dass sie sich stets an die Universität zurückgekämpft habe.

Die Erfahrungen als Patientin prägten ihre Kar-riere. Einmal bat sie an der Universität Yale um Auf-schub für ihre Haus arbeit, weil die infiltriert worden sei – und kam in eine psychiatrische Klinik. Man wolle sie umbringen, schrie sie in der Notaufnahme und hielt einen zwölf Zentimeter langen Nagel zur Verteidigung umklammert. Der Psychiater rief sofort einen Pfleger und ließ sie mit Ledergurten festbinden. Immer wieder wurde sie an ihrem Bett fixiert, fünf bis zehn Stunden pro Tag, drei Wochen lang. »Das Fesseln war sehr erniedrigend«, sagt Saks heute. Zu dieser Episode erzählt sie keinen Scherz.

Die Fixierung von Patienten stand als erstes Thema auf der Agenda, als sie ihr For schungs insti tut gründete. Sie erarbeitet Studien dazu und veranstaltet in ter dis zi pli nä re Symposien. Wann können psychisch Kranke selbst über ihre Therapie entscheiden? Wie stellen Ärzte fest, ob die Patienten dazu in der Lage sind? Auf diese Fragen sucht Saks eine Antwort. Vor allem aber entwickelt sie Richtlinien, die als Grund-lage für neue Gesetze dienen können.

Zudem erforscht sie, warum manche Schizo-phrenie-Patienten ein erfolgreiches Leben führen können und andere nicht. Gemeinsam mit Kollegen hat sie 20 Betroffene befragt, die – ähnlich wie sie selbst – allen Pro gno sen zum Trotz selbstbestimmt leben. Die einen suchen einen ruhigen Ort auf, wenn sie erste Anzeichen einer schizophrenen Episode spü-ren. Andere hören laute Musik, um die Stimmen in ihrem Kopf zu übertönen. Vor allem hilft den meisten, sich in diesen Phasen auf die Arbeit zu konzentrieren – und regelmäßig die Pillen zu nehmen.

Dank der Medikamente erlebt Saks heute keine langen Krankheitsphasen mehr. »Die Tabletten dre-hen die Symptome herunter wie ein Dimmer das Licht«, sagt Saks. Allerdings muss sie jeden Tag fünf Tassen Kaffee trinken, um den sedierenden Effekt zu bekämpfen. Und trotz der Pharmazeutika ziehen je-den Tag entsetzliche Gedanken durch ihren Kopf, etwa, dass sie Tausende Kinder getötet habe. Sie hat sie jedoch zu ignorieren gelernt. Nur drei, vier Mal im Jahr bricht die Krankheit für ein paar Tage durch. Saks versucht dann, trotzdem zu arbeiten. Werden die Symptome zu mächtig, zieht sie sich in ihre Wohnung zurück, telefoniert mit Freunden oder hört die Beatles. Und lässt sich von Ehemann Will umsorgen. Der backt und kocht und bringt seine Frau dazu, die Simpsons im Fernsehen zu sehen. »Will hilft mir, zu entspannen, er bringt mich zum Lachen«, sagt Saks.

Sie habe ein wundervolles Leben und einen wundervollen Mann, wirklich. Aber gäbe es eine Pille, die ihre Krankheit auf einen Schlag verschwinden ließe – Elyn Saks würde sie sofort nehmen. ——

In der Psychia-trie wurde sie mit Gurten an ihr Bett fixiert, bis zu zehn Stunden am Tag. Heute kämpft sie gegen solche Methoden.

lesen

Elyn Saks: »The Center Cannot Hold: My Journey Through Madness« Hyperion; 368 Seiten, 12 Euro

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Gesundheit & Psychologie text Ariane Heimbach fotos Gianni Occhipinti

Brauchen autistische kinder besonders einfühlsame Eltern? Nein, meinen manche

Experten: Sie brauchen klare Befehle und hartes Training. Dem kleinen Johan aus Bremen

hat eine Therapie aus den USA geholfen, die viele als seelenlose dressur kritisieren.

Bloß nicht zu nett sein!

Der Junge sieht sie nicht, obwohl sie doch direkt vor ihm steht. »Guck mal, was ich mache«, sagt Ina Win-ter*. Sie klatscht in die Hände. Doch Johan hat nur Augen für sei-nen Regenschirm. Er läuft damit

durch das Wohnzimmer. Immer hin und her. Und Ina Winter läuft neben ihm. Eine unsichtbare Wand trennt sie von ihrem dreijährigen Sohn, ei-nem zarten Jungen mit dunklen Augen. Er spricht nicht mit ihr, er macht nicht, was sie will. Er ist da und doch unerreichbar.

Waldemar und Ina Winter haben die Szene mit der Kamera aufgenommen. Sie dokumentiert das Leben mit ihrem autistischen Kind – vor der Thera-pie. Wie hilflos sie damals doch waren! Ein neuer Film, ein paar Wochen später aufgenommen. Johan sitzt auf dem Kinderstuhl am Tisch. Er wirkt wie ver-wandelt. Seine Lippen formen die ersten Worte, müh-sam zwar, aber immerhin. Er blickt seinen Vater an. Der benimmt sich merkwürdig. Er gibt seinem Sohn Kommandos. Hände auf den Tisch! Schau mich an! Er hält ihm Bildkarten vor das Gesicht. Und jedes Mal, wenn Johan sie richtig benannt hat, reißt der Vater übertrieben die Arme hoch und bricht in Jubel aus. Bei jeder richtigen Antwort bekommt der Junge einen Smartie oder einen Keks. So geht das eine gan-ze Weile. Fragen, Antworten, Jubel und zur Beloh-nung eine Süßigkeit.

Sprechen, jemanden ansehen, allein auf die Toilette gehen, Gefühle auf einem Gesicht erkennen: Was andere Kinder nebenbei lernen, muss Johan mühsam beigebracht werden. Das geschieht nach einer neuartigen Methode, die fast wie ein Hochleis-tungstraining aufgebaut ist: 30 Stunden pro Woche sitzt Johan auf seinem Kinderstuhl still, während die Erwachsenen sein Verhalten steuern, als sei er ein willenloses Wesen. Das entspricht dem Konzept der intensiven Verhaltenstherapie. Die Methode aus den

USA bricht radikal mit hiesigen Grundsätzen: Hier propagieren die Therapeuten oft, dass die Eltern ein-fühlsam auf ihre autistischen Kinder eingehen sollen. Die Verhaltenstherapie hingegen setzt auf Strenge und Dis zi plin. Und sie verlangt den vollen Einsatz der Eltern: als Therapeuten und Trainer ihres Kindes.

Fünf Stunden am Tag haben die Winters im ersten halben Jahr zu Hause mit ihrem Sohn gearbei-tet, drei Co-Trainer unterstützten sie dabei. Bis nach Mitternacht wertete die Mutter die Videoaufzeich-nungen aus und bereitete alles für den nächsten Tag vor. Ein Vollzeitjob, ihre Arbeit in einem Marketing-büro musste sie aufgeben.

Ina Winter sitzt im Wohnraum ihrer Vierzim-merwohnung in Bremen. Auf dem Fensterbrett ste-hen zahlreiche Kästen mit Arbeitsmaterialien, die sie für die Therapie täglich braucht. In einem dicken Aktenordner hat sie alles akribisch notiert, jede Lern-einheit, jeden kleinsten Fortschritt. Diese Qualitäts-kontrolle ist wesentlicher Bestandteil der Therapie. Die 36-Jährige widmet sich mit wissenschaftlichem Ehrgeiz der Entwicklung ihres älteren Sohnes.

Vor zwei Jahren erhielten die Winters die Dia gno se »frühkindlicher Autismus« für Johan. Ihr Kind habe eine tief grei-fende Entwicklungsstörung, die gene-tisch bedingt und unheilbar sei, hieß es. »Wir bekamen eine Riesenangst vor der

Zukunft«, sagt Ina Winter. Immerhin wussten sie und ihr Mann jetzt, warum der Junge so viel schrie, wenn er sich nicht gerade wegträumte. Draußen weigerte er sich, auch nur einen Schritt allein zu gehen, drinnen duldete er keine fremden Leute. Die Welt erschien ihm unüberschaubar, voller schrecklicher Überra-schungen. Kein Wunder, dass er sich einigelte.

Zwischen 0,5 und einem Prozent aller Kinder sind Autisten, davon drei- bis sechsmal mehr Jungen als Mädchen. In den vergangenen zehn Jahren ist die

Bis Mitternacht wertete die Mutter Trainings-videos aus – die Erziehung ihres Sohnes wurde zum Vollzeitjob. Es lohnte sich.

Das Training war hart für Eltern und Sohn. An-fangs saß Johan 30 Stunden pro Woche auf seinem Stuhl und bekam Aufgaben von den Erwachsenen. Antwor-tete er richtig, gab es Kekse. *

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Zahl stark gestiegen. Womöglich deshalb, weil sich das Spektrum der Störungen erweitert hat, die als Aus-prägung von Autismus verstanden werden. Wer früher nur als verschroben galt, zählt heute oft laut De fi ni tion zu den leichteren Fällen von Autismus. Es gibt Autis-ten, die nahezu pausenlos reden. Andere sprechen kein Wort. Es sind Mathegenies unter ihnen und solche, die als geistig behindert gelten. Manche neigen zu fremd- oder autoaggressivem Verhalten. Zwei Dinge aber sind allen Betroffenen gemein: Sie können nicht sozial angemessen kommunizieren, und ihnen fehlt die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen.

Johan, so erfuhren seine Eltern, gehöre zu den schwereren Fällen. Im Sozialpädiatrischen Institut machte man ihnen wenig Hoffnung. »Da hieß es: Autismus ist nicht wegtherapierbar«, erzählt Ina Winter. Das stimmt. Einerseits. Andererseits fand sie bei ihren Recherchen im Internet heraus, dass es Wege zu ihrem Kind gibt. Besonders die intensive Verhaltenstherapie schien erfolgreich zu sein. Mit ihrer Hilfe könne man Kinder aus ihrem autistischen Verhalten holen, jedenfalls wenn sie frühzeitig und möglichst rund um die Uhr gefördert würden, so das Versprechen. Es klang nach amerikanischem Alles-

ist-machbar. Aber es vermittelte etwas, das Familie Winter damals besonders brauchte: Hoffnung.

Anfang März 2011 fuhren die Winters zum Institut für Autismusforschung in Bremen, um mit drei anderen Paa-ren an einem einwöchigen Basiskurs des Bremer Elterntrainings (BET) teilzunehmen. Sie alle waren bereit,

viel Zeit und Geld in die Frühförderung ihrer Kinder zu investieren: rund 20 000 Euro im ersten, 14 000 im zweiten Jahr. Die Rolle als nachsichtige Eltern mussten sie dafür aufgeben. Nach jahrelangem Kampf um die Nähe ihres Sohnes fiel den Winters dieser Schritt nicht so schwer: Als Mutter und Vater waren sie längst an ihre Grenzen gekommen.

Das Institut für Autismusforschung (IFA) liegt auf dem Campus der privaten Jacobs University und ist nicht mehr als ein Raum mit einer Kaffeemaschi-ne. Seit zehn Jahren kämpfen hier der Pädagoge Hermann Cordes und seine Tochter, die Psychologin Ragna Cordes, für eine intensive Frühförderung von Autisten. Ein Kampf in eigener Sache: Auch Her-mann Cordes’ Sohn ist Autist und hat als Kind von

Gesundheit & Psychologie

Die Mimik anderer zu verstehen und auf ihre Gefühle zu reagieren ist auch für den sechsjährigen Jasper eine schwierige Aufgabe. Die Therapeutin Hilke Baruschke demons-triert einen Gesichts- ausdruck, Jasper soll ihn imitieren.

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der intensiven Verhaltenstherapie profitiert. »Er hat dadurch sprechen gelernt«, sagt der Pädagoge, ein schmaler Mann mit grauen Haaren.

Das Programm des BET basiert auf der soge-nannten Applied Behavior Analysis (ABA), die der Psychologe Ole Ivaar Lovaas in den sechziger Jahren bei der Arbeit mit autistischen Kindern entwickelte. Dabei orientierte er sich an den Versuchen des Ver-haltensforschers Burrhus Skinner, der vorwiegend an Tieren gezeigt hatte, dass das Verhalten verändert wer-den kann durch Drill und Belohnung. Anders gesagt: durch klassische Konditionierung. Lovaas bewies, dass auch schwer autistische Kinder durch stures Wieder-holen und positives Verstärken sprechen lernen kön-nen. Bis dahin waren sie ohne Entwicklungschancen in psychiatrischen Anstalten gelandet. Lovaas’ anfäng-lich rigide Methoden sind heute umstritten und sind längst weiterentwickelt worden, doch er war einer der Ersten, die Autismus als ein Lernproblem erkannten.

»Kinder mit Autismus können nicht von sich aus lernen«, erklärt Ragna Cordes, eine schnell sprechende Frau, die ihrem Vater immer einen Satz voraus ist. Ein Grund für die Lernschwäche ist, dass die Nervenzellen im Gehirn auf eine sehr spezielle Art verknüpft sind: Weit von ein an der entfernte Bereiche sind schlecht verdrahtet, die Hauptleitungen fehlen, dafür gibt es eine Vielzahl an fein verästelten Nervenbahnen. Infor-mationen müssen sich einen Weg durch ein Labyrinth aus Nebenstraßen suchen, statt die Schnellstraße zu benutzen, so die Theorie. Die Betroffenen nehmen die Welt deshalb oft wie eine Flut unüberschaubarer Ein-zelheiten wahr, überscharf in Details, doch ein sinn-volles Ganzes erkennen sie nicht.

Kein Wunder, dass sie lieber einen Regenschirm fixieren als die verwirrende Vielfalt eines Gesichts. »Doch ein Kind, das nur die Fasern eines Nylonstoffes betrachtet, sieht nichts von der Welt«, sagt die Psycho-login. Deshalb sollen die Kinder zunächst dazu ge-bracht werden, ihr Gegenüber anzuschauen – durch positive Verstärkung. Und im nächsten Schritt müssen sie Handlungen imitieren, denn Kinder lernen durch Nachahmen und viele Wiederholungen.

Trainiert wird in einer möglichst reizarmen Um-gebung, nichts soll die Kinder ablenken. Zunächst lernen sie, einfache Aufforderungen zu befolgen: Setz dich, schau mich an, gib mir das! Dann beginnen sie Laute und Bewegungen zu imitieren. Und wenn das Kind nicht reagiert? »Dann wird es gelenkt«, erklärt Hermann Cordes und demonstriert an seiner Tochter, was er meint. Er richtet ihren Kopf auf sich. Und jubelt: »Super!« Das alles müsse ganz schnell gehen, sagt er, erst das Kind führen, dann explodieren vor Freude. Nur so könne es sein Verhalten mit einer po-sitiven Empfindung verbinden. »Bei Autisten ist das Erkennen von Ursache und Wirkung gestört. Das be-handeln wir durch Verstärkung.«

Cordes hat seine Lebensaufgabe gefunden. »Deutsch-land ist, was die Frühförderung von autistischen Kindern betrifft, immer noch ein Entwicklungs-land«, sagt er. Als er und seine Tochter 2002 das BET entwickelten, gehörten sie zu den Ersten, die hier Trainings für Eltern autistischer Kinder anbo-ten. Bis heute gibt es bundesweit nur wenige private Anbieter der intensiven Verhaltenstherapie. Denn die therapeutische Versorgung wird in der Regel von den 56 Therapie-Instituten des Bundesverbandes für Autismus übernommen, die eine andere Methode anwenden: Dort begegnet man den Kindern ganz vorsichtig, nämlich in deren eigener Welt. Normali-sierung des Verhaltens ist nicht das vorrangige Ziel, zunächst geht es nur darum, Kontakt zu ihnen zu bekommen. Zwar stehen auch, neben zahlreichen anderen Methoden, verhaltensverändernde Thera-pien auf dem Programm. Doch die Eltern werden in die Therapie nicht einbezogen, gewöhnlich bleiben sie während der Sitzungen draußen.

Dagegen gehört die intensive Verhal-tenstherapie in den USA schon seit vielen Jahren zum Standard der Frühförderung von Kindern mit Autismus. Vielen gelingt danach der Weg in eine Regelschule. »Zahlrei-

che Studien zeigen einen Intelligenzzuwachs und eine Re duk tion störender Verhaltensweisen bei in-tensiv durch Verhaltenstherapien geförderten Kin-dern«, sagt Christine Freitag, Oberärztin an der Frankfurter Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsy-chiatrie und eine der renommiertesten Wissenschaft-lerinnen in der deutschen Autismusforschung. Auch die erste deutsche Studie zu Therapieverfahren bei Autismus-Spektrum-Störungen kommt zu dem Schluss, dass »verhaltensanalytische Interventionen, basierend auf dem Lovaas-Modell, weiterhin als die am besten empirisch abgesicherten Frühinterventio-nen angesehen werden« können. Mit einer Mindest-intensität von 20 Stunden pro Woche, heißt es dort, könnten Vorschulkinder deutliche Verbesserungen in Sprachverständnis und Kom mu ni ka tion erreichen.

Die Studie wurde 2009 am Institut Health Technology Assessment (HTA) erstellt und unter der Schirmherrschaft des Bundesministeriums für Ge-sundheit veröffentlicht. HTA-Berichte bewerten ge-sundheitsrelevante Maßnahmen und sollen als Grundlage für Entscheidungen im Gesundheitssys-tem dienen. Doch von den Krankenkassen ist ABA nach wie vor nicht als Therapie anerkannt. Und auch die für die Frühförderung zuständigen So zial ämter finanzieren sie nicht über ihre Eingliederungshilfe, die in der Regel nur zwei bis vier Stunden Förderung pro Woche vorsieht. Die Frankfurter Professorin Freitag hält das für ein Desaster. »Es gibt in diesem

In den USA ist die umstrittene Therapie längst Standard. Dort besuchen viele Kinder hinterher eine normale Schule. Hier jedoch mauern die Behörden.

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Bereich eine klare therapeutische Unterversorgung«, sagt sie. »Zahlreiche evidenzbasierte Studien belegen den Erfolg der intensiven Frühförderung, doch von den So zialämtern werden sie nicht berücksichtigt.« Völlig unverständlich findet sie, dass man dort noch nicht einmal Therapieziele formuliere. »Da wird nichts kontrolliert, nichts evaluiert.«

In Deutschland stoßen ABA-Interventionen nach wie vor auf viel Kritik. Ein wesentlicher Punkt dabei ist, dass die Kinder auf roboterhaftes Verhalten reduziert würden, wie etwa der Bundesverband für Autismus meint. »Sie werden nicht zu anderem Ver-halten motiviert, sondern schlicht darauf getrimmt. Das ist eine Dressur des Kindes, die gegen seine Wür-de verstößt und bei ihm nur Widerstand hervorruft«, sagt dessen Vorsitzende Maria Kaminski. Auch sie ist Mutter eines – inzwischen erwachsenen – Autisten. Und das dürfe ihr Sohn auch bleiben, sagt sie. »Unser Ansatz ist liebevoll-konsequent. Wir warten darauf, dass sich das autistische Kind von sich aus für die Außenwelt interessiert und der Folgen seiner Hand-lungen bewusst wird.«

Warum quält ihr euren Sohn so? Das warfen Freunde Johans Eltern anfangs vor, als sie sahen, wie

viele Stunden der Junge auf seinem Stuhl ausharrte. Doch man habe ihn nie zu dem Programm zwingen müssen, sagt Ina Winter. »Bevor er sprechen lernte, schob er seinen Stuhl manchmal selbst an den Tisch, um zu zeigen, dass er arbeiten wollte.« Es ist, als habe die Therapie ein Fenster für ihn geöffnet. »Er lernt durch uns das Lernen«, sagt sie. Die Eltern können sehen, wie er sich von Tag zu Tag entwickelt. Er fängt an zu fragen. Er beginnt mit seinen Autos Geschich-ten zu spielen und sie nicht nur aufzureihen. Und im Kindergarten hat er sogar einen Freund gefunden. Wenn die Mutter jetzt zusammen mit Johan Mittag isst, unterhalten sie sich. Ganz normal sei das in-zwischen, sagt sie, nun ja, fast, ihr Sohn ernähre sich nach wie vor nur von Chips, Keksen und Joghurt. Warme Mahlzeiten? Unmöglich. »Er bleibt wohl immer etwas seltsam«, sagt sie. »Aber ich bin zuver-sichtlich, dass er im Leben zurechtkommen wird.«

Hamburg-Blankenese. Eine restau-rierte Villa, draußen stehen Dreirä-der und Kettcars. Hier wohnen die Hansens*. Auch sie waren in Bre-men, um am Elterntraining BET teilzunehmen. Es ist Nachmittag,

Vera Hansen sitzt mit ihren beiden Kindern im Wohnzimmer und trinkt Tee. Beinahe ein ganz nor-males Beisammensein, nur dass Jasper, ein blonder Junge mit Engelsgesicht, wie ein Besessener den Knopf auf seinem elektrischen Polizeiauto drückt. Bis seine Mutter ihn aus dem Zimmer schickt. Etwas später kommt der Sechsjährige wieder herein und fragt: »Kann ich raus, spielen?« Sie: »Womit?« Er: »Mit der Gießkanne.« Dann flitzt er in den Garten. Und macht, was er am liebsten tut: die Gießkanne umwerfen, aufstellen, umwerfen, aufstellen. Vera Hansen schaut ihm besorgt zu.

Mit diesen stereotypen Handlungen beruhigen sich Autisten, weil sie in den voraussehbaren Effekten Sicherheit finden. Es sind für sie Inseln der Ordnung. Ist das denn so schlimm? Nein, sagt die Mutter, aber es zeige mal wieder, dass sie mit ihrem Sohn in einer Hinsicht kein Stück weitergekommen sei: »Er be-schäftigt sich lieber mit Dingen als mit anderen Kin-dern, die für ihn in ihren Reaktionen unvorhersehbar sind.« Ein Jahr lang hat Vera Hansen mit Jasper das BET durchgezogen. Er habe dort vieles gelernt: Ge-fühle besser zu erkennen, jemanden zu trösten, sagt sie. Nur einen Durchbruch gab es nicht. Jasper spielt im Kindergarten immer noch allein.

»Mir fiel der Befehlston anfangs schwer«, er-innert sich die Mutter. Und auch Jasper verweigerte sich oft. Dennoch ist sie froh, dass sie überhaupt etwas machen konnte. Ihr Sohn bekam die Dia gno se As-perger – ebenfalls eine Autismus-Störung – erst relativ spät, mit viereinhalb Jahren. Autismus lässt sich nicht

Gesundheit & Psychologie

Dieselbe Bewegung, dasselbe Geräusch, wieder und wieder. Es zerrt an den Nerven von Jaspers Eltern, ihn aber beruhigt es. Voraussehbare Effekte sind für ihn Inseln der Ordnung, wenn die Reiz-flut zu mächtig wird.

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medizinisch mit Bluttests oder Röntgenaufnahmen feststellen, sondern nur durch psychologische Verhal-tenstests. Die Ärzte sind in Deutschland eher zurück-haltend mit der Dia gno se. Das wächst sich aus, das sind Erziehungsprobleme, heißt es oft. Im Durch-schnitt wird die Dia gno se erst mit sechs Jahren gestellt, oft auch noch später. Etliche Kinder bleiben so jedoch über Jahre ohne Behandlung. »Ich fürchte, wir haben kostbare Zeit verloren«, sagt Hansen. »Vielleicht hät-ten wir sonst mehr bewirken können.« Und dann soll-te Jasper beim Autismus-Institut in Hamburg auch noch bis zu einem Dreivierteljahr auf einen Therapie-platz warten. Es sei gar nichts anderes übrig geblieben als die teure Intensivtherapie, sagt die Mutter.

Hätten sie und ihr Mann tatsächlich mehr er-reicht, wenn sie früher mit dem Training begonnen hätten? Eines ist unbestritten in der Autismusfor-schung: Je eher eine dem Kind angemessene Therapie startet, desto besser, weil das Gehirn im frühen Alter noch besonders wandlungsfähig ist. Das belegt zum Beispiel eine Studie des Early Start Denver Model von 2009, die zwei Jahre lang die Therapieeffekte bei zwei Kleinkind-Gruppen beobachtete. Die einen erhielten eine ABA-Therapie, die anderen nicht. Dabei schnitten die Kinder aus der ABA-Gruppe deutlich besser ab mit dem, was sie hinterher konnten und wussten.

Die deutsche Psychiaterin Christine Freitag zeigte in einem Pilotprojekt mit autistischen Klein-kindern an der Universität Frankfurt, dass bereits zwei Stunden intensive Verhaltenstherapie unter Ein-beziehung der Eltern und des Umfeldes zu Entwick-lungsfortschritten führen. Doch sie hält das klein-schrittige Verhaltenstraining am Tisch nur für sinnvoll, solange die Kinder noch sehr klein sind oder noch sehr eingeschränkte Fähigkeiten haben. »Später muss man aus dem rigiden Rahmen herauskommen. Da werden Kreativität, Spontanität und soziale Inter-aktion wichtig.« Natürliches Lernformat heiße diese Methode. »Die Kinder trainieren, selbst die Initiative zu ergreifen, die Therapie bietet die Situationen da-für«, sagt Freitag.

Johan, heute fünf Jahre alt, hat auch von diesem lerntheoretischen Ansatz profitiert. Denn parallel zum Training zu Hause erhielt er von Anfang an sechs Stunden Therapie pro Woche im Autismus-Zen-trum. »Das war genauso wichtig wie das Lernpro-gramm am Tisch«, sagt seine Mutter. Die dortige Therapeutin motiviert ihn auf spielerische Art, aus sich herauszugehen. Außerdem begleitet sie den Jun-gen in den Kindergarten und bezieht die Erziehe-rinnen in die Therapie ein. Johan hat mit dieser Mischform aus Elterntraining und natürlichem Ler-nen wahrscheinlich die bestmögliche Frühförderung bekommen – die meisten Eltern autistischer Kinder in Deutschland können davon nur träumen.

»Es gibt nicht nur eine einzige Heil bringende The-rapiemethode«, sagt Vera Bernard-Opitz, dafür sei das Spektrum der Autisten viel zu breit. Die klini-sche Psychologin und Verhaltenstherapeutin hat mit mehr als 1000 betroffenen Kinder gearbeitet und das in Deutschland bisher beste Praxishandbuch über die Behandlung von Autismus geschrieben. Sie ist ABA-Supervisorin in den USA und damit eine klare Befürworterin der Verhaltenstherapie, aber sie kennt auch deren Grenzen. Ihr Fazit: Kein Autist ist wie der andere. »Wie ein Schlüssel müssen die verschie-denen Therapiemethoden zu den Merkmalen des Individuums mit Autismus passen.« Dafür sei jedoch eine enge Zusammenarbeit von Eltern und Vertre-tern aller Therapierichtungen nötig.

Dennoch werden in Deutschland weiterhin Grabenkämpfe geführt, statt Gemeinsamkeiten zu formu-lieren. Immerhin gibt es zuneh-mend Unterstützung für die inten-sive Verhaltenstherapie. Die 2011

gegründete Deutsche Gesellschaft für Verhaltens-analyse hat es sich zum Ziel gesetzt, die Ausbildung von ABA-Verhaltenstherapeuten auch hier zu eta-blie ren. An der Fachhochschule Münster gibt es seit Kurzem den Masterstudiengang Clinical Case work mit dem Modul Verhaltenstherapeutische Interven-tionen bei Autismus-Spektrum-Störungen. Und seit 2010 bieten auch Hermann und Ragna Cordes am IFA in Bremen Fortbildungskurse in der autismus-spezifischen Verhaltenstherapie an.

Ein Problem aber bleibt: die hohen Kosten für die Therapie, die viele Eltern von autistischen Kin-dern nicht allein aufbringen können und die ihnen die So zial ämter verweigern. Dabei sind die Folge-kosten für Pflege und Betreuung von unzureichend therapierten Autisten für den Staat noch viel höher. Studien aus den USA schätzen das Einsparpotenzial für die Gesellschaft durch Frühinterventionen wie die ABA-Therapie nach Lovaas auf 200 000 Dollar pro Patient bis zum Alter von 22 Jahren und auf eine Million Dollar bis zum Alter von 55 Jahren.

Familie Hansen ist jetzt vor Gericht gegangen, weil das So zial amt in Hamburg die Erstattung der Kosten für die intensive Frühförderung ihres Sohnes ablehnte. Wie viele Mütter von Autisten konnte auch Vera Hansen in ihrem Beruf nicht weiterarbeiten, da das Lernprogramm des BET sonst nicht zu bewälti-gen gewesen wäre. »Ich bin zur Expertin für die Be-hinderung meines Sohnes geworden«, schreibt sie in der Begründung ihrer Klage. Sie findet, dass sie der Gesellschaft damit einen großen Dienst erweise. Es gab schließlich lange Zeit keinen Therapieplatz für Jasper in Hamburg. Erst jetzt ist etwas frei geworden: ein Platz mit einer Stunde pro Woche. ——

Bekommt ein autistisches Kind die passende Therapie, kann der Staat sehr viel Geld sparen.

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Niels Boeing, ZEIT Wissen-Autor, erreichen Sie unter

[email protected].

Was wichtig war Wenn es um die Umwelt geht, können wir

Deutschen Obsessionen entwickeln. Das war beim mülltrennen

so und hat sich beim Glühbirnenverbot der EU wiederholt. Freunde

des warmen Lichts erregten sich, die kaltweißen Energiesparlampen seien

eine Zumutung. Mit solchen Befindlichkeiten kommt man politisch

nicht weiter, doch glücklicherweise war da das Quecksilber. Das steckt

in den Energiesparlampen, und wenn sie zerbrechen, ist das gefähr lich

für die Gesundheit. Nun allerdings könnte sich der Kulturkampf ums

Licht in Wohlgefallen auflösen: Ingenieure am Karlsruher Institut

für Technologie haben eine Energiesparlampe ohne Quecksilber entwickelt.

Ihr Licht soll dem der Glühlampe »sehr ähnlich« sein, und sie lässt

sich sogar dimmen. So schön kann fortschritt sein.

Was wichtig wird Es ist krisenzeit: Krise der Ressourcen,

des Klimas, der Finanzen, der Demokratie. Und die Medizin, die

da gegen verabreicht wird, schmeckt nach Mühsal und Verzicht. Gibt es

keinen spannenderen Weg in die Zukunft? Doch, vielleicht beginnt er am

5. Januar 2018. Dann will der Multimillionär Dennis Tito mit seiner

Inspiration Mars Foundation das erste bemannte Raumschiff zum mars

schicken. Ohne die Nasa. In 501 Tagen soll die Crew einmal am Roten

Planeten vorbei- und wieder zur Erde zurückfliegen. Zwar gibt es noch

keine Rakete für das Abenteuer. Aber das zählt hier nicht. Die Menschheit

ist immer zu neuen Ufern aufgebrochen, wenn es daheim brenzlig

wurde. In den Niederlanden sucht eine Initiative sogar Freiwillige für

einen Marsflug ohne Rückfahrkarte. 40 000 haben sich beworben.

UMWELT & GESELLSCHAFT

zeit wissen

s 70 bis s 96

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Foto

Ingo

Arn

dt

Auge um Augedas kollektive eierlegen der Meeresschildkröten in Costa Rica ist weltberühmt.

Süß, wie die Babyschildkröten durch den Sand ins Meer krabbeln. Aber dann kommen die

Rabengeier und beißen vielen von ihnen den Kopf ab. Oder sie machen sich über die Kadaver

alter Schildkröten her. Gemein? Weitaus gefährlicher sind die Netze der Krabbenfischer.

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Umwelt & Gesellschaft illustration Jan Kruse / Human Empire

Totenstill ist es natürlich nie. Nachts bellt mal ein Fuchs, gegen sechs Uhr morgens trappeln die ersten Pferde

auf die Weiden, Spatzen tschilpen, Singvögel pfeifen. Im Sommer schlurft zweimal täglich eine Kuhherde vorbei. Und gelegentlich tu-ckert ein Traktor raus ins grüne Voralpenland. An klaren Tagen stehen im Süden die Berge am Horizont. München, etwa gleich weit entfernt in Richtung Norden, ist weder zu sehen noch zu rie-chen. Nur am Wochenende nach elf, wenn die Großstädter den Weg in dieses 270-Seelen-Kuhdorf gefunden haben, ist die Stadt zu hören: Autotüren schlagen, Radios plärren, Hunde kläffen, laute Stim-men rufen: »Schön hier!«, und: »So ruhig!« Dann fetzen auch die Radlerpulks vorbei, gelegentlich der-breselt’s – wie der Bayer sagt – einen auf den Feld-wegen hinterm Haus. Deshalb wissen wir, dass der Krankenwagen in gut zehn Minuten hier sein kann.Unsere Nachbarn kennen wir alle, namentlich. Wenn’s ein Problem gibt, und sei’s ein zentnerschwe-rer Findling im Vorgarten, dann sind sie da: »Basst scho!« Alles Lebenswichtige – Ärzte, Apotheken, Metzger, Bäcker, Supermärkte, S-Bahn-Station – ist in fünf Minuten mit dem Auto erreichbar. Und wenn das Dorf dieses Jahr ans Glasfasernetz ange-schlossen ist, verschwindet das letzte Argument, in die teure, laute Stadt zu ziehen.

Der letzte Mord geschah hier übrigens im Drei-ßigjährigen Krieg. Und Ende der neunziger Jahre wurde ein Wegkreuz am Pilgerpfad nach Andechs entwendet. Wer’s war? Vermut-lich ein Saupreiß aus der Stadt.

Das Landleben ist total entspannt – solange die Städter fernbleiben

Günter Haaf, 66, lebt in Pöcking (Bayern) und war von 1977 bis 1986 Wissenschaftsredakteur der ZEIT.

If I can make it there, I’ll make it any-where.« Frank Sinatras Hymne an New York City war auch eine Hymne an das

Leben in der großen Stadt. Ein Gebilde, das Freiheit und Inspiration verspricht. Freiheit von den gesell-schaftlichen Zwängen festgefügter Gemeinschaften, dafür die aufregende Inspiration, gemeinsam mit anderen Menschen neue Möglichkeiten und Ideen zu entdecken. Gerade dieses Versprechen ist für viele seit je so verlockend. Nun wird im Leben nicht jedes Versprechen eingelöst. Die moderne Stadt kann wahrlich ein Monster sein, aus Lärm und Dreck, aus Hektik und Unverbindlichkeit. Das hat sich aller-dings auch zum Klischee verfestigt. Gerade in den lange vernachlässigten Innenstädten wird es täglich widerlegt: Es gibt dort mehr Hilfsbereitschaft und Herzlichkeit, als sich viele, die nicht dort leben, vor-

stellen. Vorausgesetzt, man lässt sich auf die »ver-dichtete Unterschiedlichkeit« ein, die der franzö-sische Philosoph Henri Lefebvre als Wesen der Stadt sah. Wer seine Ruhe haben will, der ist in der Stadt am falschen Platz.

Die große Stadt ist ein Labor, in dem immer wieder die Zukunft erfunden wird, erfunden werden muss. Denn die Verstädterung der Welt ist unaufhaltsam – bereits die Hälfte der Welt-bevölkerung lebt in Städten. Städte verbrauchen zwar enorme Ressourcen, können aber, pro Kopf betrachtet, erstaunlich effizient sein dank ihrer Infrastrukturen, die sich viele Menschen teilen. Effizienter sogar als das Landleben, das heute in Wahrheit nur noch ein Luxus ist, aber kein Zukunftsmodell.

Das Stadtleben ist inspirierend – und ein effizientes Zukunftsmodell

Niels Boeing, 46, lebt in Hamburg St. Pauli und ist Autor von ZEIT Wissen.

Wo lebt man besser? Wenn Dorfbewohner

darüber mit Stadtmenschen streiten, werden viele

klischees bemüht. Aber wer hat Recht?

Stadtlust, Landfrust?

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Rund ein Drittel der Deutschen lebt in Großstädten mit mehr als 100 000 Ein-wohnern, Tendenz steigend. Größere Karrierechancen, mehr kulturelle An-gebote und eine bessere Infrastruktur, dafür aber teuer, anonym und anstren-

gend – so lauten die gängigen Vorurteile über das Leben in den Metropolen. Auf dem Land hingegen gebe es weniger Kriminelle, dafür sei aber die Ge-sundheitsversorgung schlechter, heißt es oft. Stimmt all das wirklich? ZEIT Wissen beantwortet die wich-tigsten Fragen.

Wo leben die meisten Kriminellen?

Je größer die Stadt, desto mehr Straftaten registriert die Polizei pro 100 000 Einwoh-ner – in Großstädten pro-zentual vor allem mehr Raub-, Betrugs- und Korruptionsdelikte. Es wäre jedoch falsch, zu vermuten, dass Stadtbewohner krimineller sind als Menschen vom Land: Statistiken belegen, dass viele der Tatverdächtigen aus dem Umland kommen und ihre Verbrechen in der nächstgelegenen Stadt ver-üben. Einer Studie des Kriminologen Dietrich Oberwittler zufolge stammten bei Straftaten, die zwischen 2003 und 2007 in Stuttgart begangen wur-den, 42 Prozent aller Verdächtigen von außerhalb.

Experten begründen dieses Phänomen mit dem sogenannten Routine-Activity-Ansatz. Dass ein Ver-brechen begangen wird, hängt demnach nicht nur von dem dazu motivierten Täter ab, sondern auch von einer guten Tatgelegenheit und der mangelhaf-ten Überwachung – Umstände, die es in der Stadt wesentlich häufiger gibt. Die potenziellen Täter aus dem Umland halten sich aufgrund ihrer Alltags-routinen ohnehin oft in der Stadt auf und treffen dann auf eine gute Gelegenheit. Bewohner von Kleinstädten und Dörfern fühlen sich in ihrer Um-gebung meist sicherer als Städter – dennoch könnte ein Täter ebenso gut auch bei ihnen in der Nach-

barschaft wohnen.

Sind Städter tatsächlich neurotischer und immer gestresst?

Im Vergleich zu Landbewohnern sind Städter empfindlicher für sozialen Stress, der durch

den Kontakt zu vielen anderen Menschen und den Vergleich mit ihnen entsteht. Studien haben gezeigt, dass die soge-

nannten Mandelkerne (Amygdalae) im Gehirn umso aktiver sind, je größer der

Wohnort ist. Sie sind für die Stressverarbeitung und den Umgang mit Emotionen zuständig und reagie-ren insbesondere auf sozialen Stress. Dieselben Hirnareale sind außerdem bei vielen psychischen Erkrankungen aktiv. Dies deutet darauf hin, dass Städter ein höheres Risiko haben, psychisch zu er-kranken. Und tatsächlich: Im Vergleich zur ländli-chen Bevölkerung weisen Stadtbewohner 40 Prozent häufiger Depressionen und knapp 20 Prozent mehr Angststörungen auf. Also raus aufs Land für die psy-chische Gesundheit? Studienautor Peter Kirsch rela-tiviert die Ergebnisse: Wer in der Stadt wohne, werde deshalb nicht zwangsläufig krank, und ob das Umfeld städtisch oder ländlich sei, sei nur einer von vielen Einflussfaktoren.

Ist die Innenstadt die beliebteste Wohnlage?

Obwohl die City die meisten urbanen Angebote be-reithält, sind ihre Bewohner im Schnitt unzufriede-ner mit ihrer Wohnung, der direkten Umgebung und der Nachbarschaft als Menschen aus Stadt-randlagen oder ländlichen Gebieten. Dies kann da-mit zusammenhängen, dass Innenstädte vor allem junge Erwachsene und Migranten anziehen, die ver-gleichsweise wenig verdienen und deswegen größere Einschränkungen bei ihrem Wohnkomfort hinneh-men müssen als Besserverdiener. Die meisten Innen-stadtbewohner leben zur Miete, was sich ebenfalls negativ auf die Zufriedenheit niederschlägt. Mehr als 20 Prozent von ihnen sind vor weniger als fünf Jahren dorthin gezogen. Im Vergleich zum Stadt-rand und zur ländlichen Umgebung beabsichtigen außerdem mehr Menschen, aus der Innenstadt wie-der fortzuziehen. Wer dort lebt, tut dies also meist nur für einige Jahre.

Wie wirken sich Stadt und Land auf die Lebenserwartung aus?

Wie lange ein Mensch lebt, wird von ver-schiedensten Faktoren beeinfl usst, unter an-derem auch von der Siedlungsstruktur. Eine Studie aus dem Jahr 2011 zeigt, dass Männer, statistisch gesehen, eineinhalb bis zwei Jahre länger leben, wenn sie nicht auf dem Land, sondern in städtischen Gebieten mit einer hohen Bevölkerungsdichte wohnen. Bei Frauen ist der Un-terschied kleiner, aber auch sie haben in der Stadt eine bis zu einem Jahr höhere Lebenserwartung. Dass die Menschen vor allem in den ländlichen Ge-bieten Ostdeutschlands jünger sterben, führt Studi-enleiter Holger Behrendt unter anderem auf eine höhere Zahl an schweren Verkehrsunfällen zurück. Der Umzug in die nächste große Stadt führt aber nicht automatisch zu einem längeren Leben: Wich-tiger ist der sozioökonomische Status. Sehr gebildete Menschen mit einem hohen Einkommen haben

meist einen gesünderen Lebensstil und sind medizinisch besser ver-sorgt – ganz egal, wo sie wohnen.

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Warum ziehen alle in die Stadt, wenn das Leben auf dem Land so viel gesünder sein soll?

Landbewohner sind entspannter, haben mehr Freunde in der direkten Umgebung und weniger mit Luftverschmutzung zu kämpfen. Dennoch prognosti-ziert das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raum-forschung, dass bis zum Jahr 2030 vor allem ländliche Kreise in Ostdeutschland bis zu 20 Prozent ihrer Be-völkerung verlieren werden, speziell in den jüngeren Altersgruppen. In Städten wie München, Stuttgart oder Hamburg soll die Einwohnerzahl hingegen weit-gehend stabil bleiben: Sie bieten Berufs- und Studien-anfängern mehr Perspektiven. »Außerdem ziehen im Vergleich zu den neunziger Jahren weniger Leute von der Stadt ins Umland«, sagt Studienleiter Claus Schlömer. Ob die Städte ihre jungen Neubürger auf Dauer halten können, bezweifelt er allerdings. Dafür

sei bezahlbarer Wohnraum für Fa-milien dort viel zu knapp. ——

Braucht der Rettungswagen auf dem Land viel länger als in der Stadt?

Maximal acht Minuten in Berlin, 15 Minuten in den ländlichen Regionen Thüringens: Innerhalb dieser Zeitspanne nach dem Alarm soll der Rettungsdienst am Einsatzort sein. Die offiziellen Hilfsfristen sind in Großstädten tatsächlich kürzer als in ländlichen Ge-bieten. Doch sie sind knapp berechnet: 2011 waren die Rettungskräfte in Berlin nur in 45 Prozent der Fälle pünktlich am Einsatzort, in Stadtrandlagen so-gar nur bei 24 Prozent der Notfälle. Auch im thürin-gischen Ilm-Kreis braucht der Rettungswagen manchmal länger als vorgeschrieben. Die Folgen der Verspätungen können gravierend sein: Ein Patient mit Kreislaufstillstand trage nach 10 Minuten ohne Wie-derbelebungsmaßnahmen schwere Schäden davon, falls er überhaupt überlebe, sagt Ulrich Mayer, Not-fallkoordinator der Uni-Klinik Hamburg-Eppendorf. Deshalb müssten unbedingt auch Laien eine Herzdruckmassage durchführen können.

Haben Städter mehr soziale Kontakte?

Auch wenn Stadtbewohner mehr Menschen um sich herum haben, sind Freundschaften mit Nachbarn in Kleinstädten und Landgemeinden viel häufiger, so eine Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Das mag daran liegen, dass die soziodemografi-schen Ähnlichkeiten unter Landbe-wohnern meist größer sind als in der Stadt: Kommt das Gegenüber aus derselben Region oder gehört es

Ist das Landleben ruhiger?

Obwohl es auf dem Land ru-higer zugeht, können Geräu-sche dort störender sein als in der Stadt. »Ein Städter bewertet dieselbe Belastung möglicherweise als weniger schlimm, weil er sie erwar-tet«, sagt Lärmexperte Christian Maschke vom Landesamt Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz Brandenburg. Während Flugzeu-ge und Eisenbahnen vor allem in der Nähe von Flug-häfen und Bahntrassen den Anwohnern den Schlaf rauben, ist der Verkehrslärm ein flächendeckendes Problem: 54 Prozent aller Deutschen fühlen sich durch Autogeräusche gestört, egal ob in der Stadt oder außerhalb. Bei rund acht Prozent lärmt der Verkehr über den ganzen Tag mit durchschnittlich mehr als 55 Dezibel. Das führt zu einer Ausschüt-tung von Stresshormonen und erhöht das Risiko von Herz- und Kreislauferkrankungen.

derselben sozialen Schicht an, so schließt man mit ihm eher Freundschaft. Dies habe sogar größeren Einfluss als Ähnlichkeiten in Charaktereigenschaf-ten, sagt Mitja Back, Psychologieprofessor an der Universität Münster. Außerdem leben Nachbarn auf dem Lande im Durchschnitt länger nebeneinander als in der Stadt. So begegnen sie einander häufiger, was ebenfalls die Chance erhöht, Freunde zu werden.

Wo sind die Menschen zufriedener?

Eine lebendige Kneipenszene für die einen, Ruhe und reine Luft für die anderen: Wie das per-fekte Wohnumfeld aussieht, entscheidet jeder für sich selbst. Nach einer Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung hat der Wohnort keinen großen Einfluss auf die allgemeine Lebens-zufriedenheit, weil die meisten Menschen an den Ort ziehen, der am besten zu ihrer Lebensplanung passt. Wichtiger sind andere Faktoren. So sind Men-schen, die im eigenen Haus wohnen, deutlich zu-friedener als Mieter, und Berufstätige sind es weit mehr als Arbeitslose. Vor allem Letzteres könnte er-klären, warum unter den Westdeutschen 67 Prozent sehr zufrieden mit ihrem Leben sind, während es in den neuen Ländern nur 52 Prozent sind – dort ist die Arbeitslosenquote beinahe doppelt so hoch.

Vanessa Rehermann

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Umwelt & Gesellschaft text Vanessa Rehermann fotos Freya Najade

Ob Obst, Gemüse oder Fleisch: Unsere Lebensmittel

sind zu Industrieprodukten geworden. Sie wachsen in

zuchtfabriken, fernab jeder Bauernhof-Idylle.

Frisch von der Stange

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Mit Erde sind die meisten Tomaten, die wir essen, nie in Berührung gekommen.

Das Gemüse wird fast ausschließlich in Gewächs-häusern angebaut, wie hier in Großbritannien,

und ent wickelt sich in anorganischen Substraten (links). Um der Kletterpflanze Halt

zu geben, werden ihre Triebe mit Ringen und dünnen Kordeln befestigt (oben).

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Sonnenschein und frische Luft lernen die allermeisten Hühner nie kennen. Rund fünf

Wochen dauert es in der industriellen Geflügelmast, bis aus einem geschlüpften Küken ein

schlachtreifes Masthuhn geworden ist. Sein kurzes Leben verbringt es ausschließlich im Massenstall.

Umwelt & Gesellschaft

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Umwelt & Gesellschaft

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Industrieller Salatanbau nutzt jeden verfügbaren Raum – auch in der Höhe. Hier

wachsen, übereinandergestapelt, 112 Köpfe pro Quadratmeter (links). Bei Pilzen setzen viele

Erzeuger ebenfalls auf mehrstöckige Regalbeete, um den Ertrag zu erhöhen (oben).

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Umwelt & Gesellschaft

Ganz ohne menschliches Zutun arbeitet diese Melkmaschine. Einmal eingestellt, pumpt sie vollautomatisch dreimal am Tag die Milch von 60 Kühen ab

(oben). In der Anlage rechts werden regelmäßig bis zu 300 Kühe gemolken.

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Umwelt & Gesellschaft

Im Supermarkt ist immer Saison. Frisches Obst und Gemüse liegen das ganze Jahr über nur einen Griff weit entfernt, denn Ge-wächshäuser setzen die natürlichen Ernte-zeiten weitgehend außer Kraft. So wie die Fleischproduktion und damit die Tierhal-

tung längst den Gesetzen industrieller Produktion unterworfen sind, werden auch Obst und Gemüse in künstlichen Welten besonders rentabel angebaut. Die meisten unserer Salatköpfe und Gurken sind – ebenso wie die heutigen Hühner – in großen, weit-gehend automatisch gesteuerten Hallen gezüchtet worden. Allenfalls Biolebensmittel wachsen noch in natürlicher Erde.

Abgesehen vom Anbau im eigenen Garten, gibt es wohl kaum eine deutsche Tomate, die nicht unter Glasdächern oder in Folientunneln gewachsen ist: Mit 61,2 Tonnen Ertrag im Jahr 2012 ist sie das meist angebaute Gewächshausgemüse des Landes. Die Zahlen für den Freilandanbau sind indes so ver-schwindend gering, dass das Statistische Bundesamt sie seit einigen Jahren nicht mehr erhebt. Unter den Glasdächern gedeihen die empfindlichen Pflanzen schließlich unabhängig von Witterung und Klima.

In der Massenproduktion wachsen die Pflanzen getrennt vom natürlichen Untergrund in Substraten mit klangvollen Namen wie Perlit, Kokosfaser oder Steinwolle. Sie bringen mehr Ertrag auf kleinerer Fläche. Und weil die meisten Betriebe die Substrat-matten jedes Jahr austauschen, ist die Gefahr von Krankheiten geringer als beim Anbau in Erde. Voll-

automatische Prozesse machen den Anbau zudem zu 100 Prozent steuerbar: Ein Computer regelt die Was-serversorgung auf den Milliliter genau und passt auch die Zufuhr der Nährstofflösung an, aus der die Pflan-zen ihre Kraft zum Wachsen ziehen.

Der technisch optimierte Anbau erinnert in nichts an den klassischen Bauernhof, und das Gemü-sebeet hinter dem Haus scheint im Vergleich zu den fußballfeldgroßen Glashäusern von einer anderen Welt – kaum vorstellbar, dass dort dieselben Früchte wachsen. Dennoch: Was die Nährstoffe angeht, soll die Gewächshaustomate genauso gesund sein wie ihre Schwester aus dem eigenen Garten. Außerdem ist bislang nicht belegt, dass Tomaten aus dem Ge-wächshaus schlechter schmecken.

Mit der richtigen Wärme- und Lichtzufuhr können die ersten deutschen Tomaten statt im Juli schon im März auf den Tisch kommen. Sie tragen sogar das Label »aus der Region«, doch macht sie das nicht unbedingt umweltfreundlicher als Importe aus anderen Ländern. Zwar haben sie einen wesentlich kürzeren Weg zum Verbraucher und belasten die Umwelt somit weniger durch ihren Transport als jene, die in spanischen oder italienischen Anlagen gewachsen sind. Doch ihr Anbau ist wesentlich ener-gieintensiver: Was im Süden die Sonne leistet, müs-sen hierzulande Heizung und Lampen richten.

Das wirkt sich auf die Klimabilanz aus: Einer österreichischen Studie zufolge machen die Heiz-kosten eines Gewächshauses bis zu 80 Prozent der CO

2-Emissionen beim Anbau aus. Oft wird die

Energie dabei aus fossilen Brennstoffen wie Erdöl oder Erdgas gewonnen. Vergleicht man regionale Gewächshaustomaten aus Österreich mit dem Ertrag von spanischen oder italienischen Tomatenfeldern unter Folie, weisen die regionalen Erzeugnisse ins-besondere bei einer Beheizung auf Erdölbasis eine schlechtere Umweltbilanz auf, trotz der kurzen Trans-portwege. Für die Produzenten rechnet sich der hö-here Energieaufwand dennoch, weil die Nachfrage nach regional erzeugtem Gemüse so groß ist wie nie zuvor – egal, zu welcher Jahreszeit.

Also doch besser Tomaten aus dem Süden? Statt-dessen rät die Energieagentur NRW, die Gewächs-häuser besser abzudichten und beispielsweise mit Spezialverglasung besser zu isolieren. Einige deutsche Betriebe senken ihren Schadstoffausstoß außerdem, indem sie die Abwärme von Kraftwerken zur Behei-zung ihrer Gewächshäuser nutzen. Noch hat die deutsche Landwirtschaft viel Potenzial, mit anderen Energiequellen als Öl und Gas umweltfreundlicher zu produzieren. Nachhaltiger Anbau liegt aber auch in den Händen der Verbraucher: Wer mit gutem Gewis-sen reife Früchte essen möchte, muss sich nach der Saison richten. Nicht nach der im Supermarkt – son-dern nach der da draußen. ——

Lebensmittel aus Gewächshäusern tragen sogar das Label »aus der Region«. Ihre Umweltbilanz ist nicht unbedingt besser als die von Importware.

Die Erdbeersaison beginnt mithilfe von Gewächshäusern bereits in den ersten Frühlingstagen. In den Hofläden regionaler Bauern hingegen

bekommt man die typischen Sommerfrüchte nur von Ende Mai bis August.

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Umwelt & Gesellschaft text Dirk Liesemer infografik Helen Gruber

einfach mehr verstehen

Etwa zehn Prozent der jährlichen Produktion von

Plastik landen in den Weltmeeren. Dort zerfällt es in

kleinste Teile, die wiederum giftstoffe

aufnehmen und Tier und Mensch gefährden können.

Wie gelangt das Plastik ins Meer?

Ein Zehntel des Mülls in den Ozeanen, 640 000 Tonnen, ist Fischereiaus-rüstung. In den verlorenen Netzen fand man Kadaver von 136 Arten, darunter Schildkröten und Säuger.

Beim Waschen einer Fleece jacke gelangen 2000 Mikrofasern ins Abwasser. Auch Kunststoffkügelchen aus Kosmetika und Zahn-pasta geraten so ins Meer.

Aus Häfen gelangen mas-senhaft Plastikpellets ins Meer. Sie stammen aus Transportpolstern oder auch aus Reinigungsstrah-lern der Werften.

Touristen produzieren Müll. An den Atlantik stränden Europas liegen im Schnitt 712 Müllteile pro 100 Meter: Windeln, Flaschen, Bälle oder Tüten.

Inseln aus MüllAngelschnur

600 Jahre*

Plastikbecher

50 Jahre*

Apfelgehäuse

2 Monate*

Milchkarton

3 Monate*

Rund 80 Prozent des Mülls werden vom Land ins Meer gespült, schätzen Experten, der Rest stammt von Schiffen oder Bohrinseln. Der überwiegende Teil sinkt ab und sammelt sich am Meeresboden. An der Wasseroberfläche sind sechs große Müll-inseln bekannt, zusammengetrieben von der Strömung: je eine im Nordatlantik,im Südatlantik, im Indischen Ozean, im Südpazifik sowie zwei im Nordpazifik.

Fressen die Meeresbewohner Plastikteile, können sie sterben, etwa weil ihre Mägen verstopft sind. An der Küste Spaniens wurde kürzlich sogar ein toter Pott-wal angeschwemmt, der am Plastik in seinem Darm verendet war.

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* Durchschnittliche Zeit bis zur Zersetzung

Was sind die Folgen?

An den Mikropartikeln lagern sich Giftstoffe an. Zusammen mit den toxischen Substanzen im Plastik – etwa Weich-machern in Outdoor-jacken – entstehen hoch-giftige Substanzen.

In jedem dritten Fisch aus dem nordpazifischen Müllteppich wurde Plastik gefunden. In den Mägen von Laternenfischen, der Hauptnahrung der Thun-fische, zählten Forscher bis zu 83 Plastikteilchen.

Selbst in Seegurken findet sich Plastik. Je kleiner die Partikel sind, desto aggressiver wirken sie: Sie können problemlos in Zellen eindringen und transportieren dabei Gifte.

Auch im Gewebe von Miesmuscheln und Watt-würmern sind Partikel nachzuweisen. Seit den acht-ziger Jahren ist klar, dass Plastikteilchen 267 mari-nen Arten schaden.

Eissturmvögel verwech-seln Plastikstücke mit den Schalen von Tinten-fischen. In verendeten Exemplaren fanden Forscher im Durchschnitt 32 Plastikteilchen.

Zeitung

6 Wochen*

Plastiktüte

bis zu 20 Jahre*

Aludose

200 Jahre*

Windel

450 Jahre*

Etwa 70 Prozent des Mülls sinken ab und sammeln sich am Meeresboden und in den Sedimenten. Eine Gefahr für viele Tiere, die hier leben.

Wollsocke

1 bis 5 Jahre*

Als größter Verschmutzer der Meere durch Plastik-müll gilt die Schifffahrt, speziell die Fischereiflotte.

Wellenschlag und Sonnenlicht zerkleinern das Plastik zu winzigen Partikeln. Die Zerfallszeit hängt unter anderem von der chemischen Zusammensetzung ab.

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Umwelt & Gesellschaft fotos Juliane Werner

Klaus Töpfer erzählt gern von Kühl-schränken, wenn er die Denkfallen beim Streben nach mehr Nachhaltig-keit illustrieren möchte: Nach vielen Jahren hat sich eine Familie endlich ein neues Gerät kaufen können. Jetzt

steht es in der Küche, ein Monument der Nachhal-tigkeit. Denn es spart, wie der Familienvater jedem Gast erklärt, gegenüber seinem Vorgänger jede Men-ge Energie. Und wo ist das alte Gerät geblieben? »Das steht im Keller und kühlt den Wein.« Das Ge-lächter der mehr als 300 Gäste der Konferenz »Mut zur Nachhaltigkeit« am 21. Fe bru ar in Hamburg schlägt in stille Nachdenklichkeit um. Der Umwelt-politiker und Wissenschaftsmanager Klaus Töpfer warnt vor solchen Rebound-Effekten, in denen Effi-zienzgewinne schlicht verpufften. Europas Aufgabe sei es, der Welt zu zeigen, wie nachhaltige Entwick-lung funktionieren könne.

In Sachen Nachhaltigkeit verfolgen Europa, China und die USA unterschiedliche Strategien, das machen die internationalen Gäste der Konferenz deutlich. Während Chinas oberster Klimaschutzbe-rater Jiahua Pan auf »eine neue Ideologie, einen öko-logischen Sozialismus«, setzt, beschreibt Harvard-Professorin Sheila Jasanoff die Strategie der USA als pragmatische In no va tion: »Europäer betrachten die Erde offenbar als eine Art überlaufende Wanne. Sie wollen den Hahn zudrehen. Die amerikanische Lö-sung sieht anders aus: Wir bauen die Wanne um.«

»Die globalen Probleme können wir nur ge-meinsam lösen«, betont Jiahua Pan. Und wie sind die Differenzen zu überbrücken? »Wir brauchen gute Vorbilder«, sagt Ex-Metro-Vorstand Klaus Wiegandt, Mitinitiator des Nachhaltigkeitspreises. ZEIT Wissen und Wiegandts Bildungsinitiative »Mut zur Nach-haltigkeit« halten schon wieder Ausschau – nach Pionieren der Nachhaltigkeit, den Preisträgern für das kommende Jahr (siehe S. 90). Andreas Sentker

Herr Professor Spoun, für Ihre Studenten fängt es ja gleich gut an ...... ja, alle Studierenden beginnen mit dem Leuphana-Semester, einer Art Studium generale, in dem sie sich ein Semester lang fächerübergreifend mit grundsätz-lichen Fragen, zum Beispiel mit dem Thema Nach-haltigkeit, beschäftigen und Forschungsmethoden lernen. Zum Abschluss präsentieren sie ihre Ergeb-nisse dann vor größerem Publikum.Was ist das Ziel dieses Rundumschlags?Die Studierenden sollen mit ihrem Vorwissen und all dem, was sie an Charakter und Ideen mitbringen, lernen, vertieft zu denken und zu reflektieren. Das geschieht, intensiv angeleitet, in kleinen Gruppen. Sie lernen so, ihrer Neugier und ihren Interessen nachzugehen und zielführende Fragen zu stellen. Dazu machen wir spezielle Angebote.Welche sind das?Das Methodenmodul etwa. In dem beschäftigten sich die Studierenden damit, wie Wissenschaften Daten und Erkenntnisse erlangen können. Das bil-det Grundlagen für ihr gesamtes weiteres Studium und ihre spätere Arbeit. Und auch die Nachhaltigkeit spielt eine wichtige Rolle im ersten Semester.Ja, vor allem im Modul Verantwortung. Hier haben die Studierenden die Möglichkeit, sich einerseits mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissen-schaft auseinanderzusetzen und andererseits konkret Projekte zu gestalten, die nachhaltige Entwicklung in verschiedenen Lebensbereichen umsetzen.Wie nehmen die Studenten das Angebot denn an?Diejenigen, die diese besondere Lernerfahrung ge-

In Sachen Nachhaltigkeit verfolgen Europa, China und die USA unterschiedliche Strategien – das wird auf der Konferenz deutlich.

Eine Universität und ein Schuhfabrikant haben

den ZEIT Wissen-Preis Mut zur Nachhaltigkeit 2012

gewonnen. was bewegt die preisträger?

Verantwortung übernehmen!

»Wir setzen auf etwas Langfristiges« (Sascha Spoun, Präsident der Leuphana Universität Lüneburg, die Gewinnerin der Kategorie Handeln ist)

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Die Leuphana Universität hat das Thema Nachhal-tigkeit in den akademischen Alltag integriert. »Wissen und Handeln werden dabei vorbildlich miteinander verknüpft«, begründete die Jury die Entscheidung.

Preisträger

ZEIT Wissen-Preis

Kategorie

Wissen

macht haben, profi tieren deutlich davon für ihr wei-teres Studium. Sie können Neues besser mit dem verbinden, was sie an Wissen und Erfahrung mitge-bracht haben. Sie erkennen schneller Fragen, Wider-sprüche und Lücken auch in Gebieten und Berei-chen, die mit Nachhaltigkeit nur indirekt etwas zu tun haben. Wir setzen mit diesem Konzept auf etwas sehr Langfristiges. Es wäre zu kurz gedacht, unmit-telbar messbare Ergebnisse zu erwarten.Wenn die Ergebnisse für Studenten nicht sichtbar sind: Ist es dann nicht besonders schwer, sich zu motivieren?Viele Studierende fragen nach dem Sinn, und sie se-hen in der Nachhaltigkeit eine Perspektive auf die Sinnfrage, mit der sie sich auseinandersetzen wollen.

Das ist eine intrinsische Motivation, die Studierende treibt und die nicht auf Belohnung setzt. Wie äußert sich das bei den Studenten?Das zeigt sich etwa im Projekt Global Classroom. Unsere Studierenden arbeiten da zusammen mit Studierenden der Arizona State University an Pro-jekten zum Th ema Nachhaltigkeit. Wegen der Zeit-verschiebung kommen sie in der Woche oft ganz früh zusammen, sie lesen dafür intensiv Texte und werten Laborergebnisse aus. Das alles ist sehr zeitin-tensiv. Und trotzdem beschäftigen sich Studierende aus ganz verschiedenen Disziplinen mit einem ge-meinsamen Th ema. Da merkt man, wie viel Motiva-tion schon da ist – wir müssen nur Raum schaff en, dass diese sich entfalten kann. Interview: Jan Schweitzer

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Umwelt & Gesellschaft

Herr Staudinger, Ihre Unternehmensphilosophie lautet »Scheiß di ned au«. Was bedeutet das? Auf Englisch heißt es let it be. Jesus sagte: Fürchte dich nicht. Hochdeutsch: Mach dir nicht ins Hemd. Es geht darum, dass uns die eigenen Ängste oft da-ran hindern, das zu sein, was wir sein möchten. Die Menschen haben Angst um ihre materiellen Schätze. Wenn wir stattdessen mehr Sorge für die vitalen Kräfte des Lebens tragen, dann glücken auch so manche wirtschaftliche Sachen hervorragend.Können Sie ein Beispiel geben? In unserer Schuhfabrik bekommen unsere Arbeiter jede Woche Eier, Butter, Käse und Gemüse ge-schenkt. Das kaufen wir bei den Bauern in der Um-gebung, und alle dürfen nehmen, was sie brauchen. Wenn ich zu den Tischen mit den Lebensmitteln gehe, habe ich jeden Tag das Gefühl der Fülle. Und ich bin froh und glücklich, dass ich oft monatelang in keinen Supermarkt komme, wo ich an 10 000 Produkten vorbeigehen muss, die ich nicht brauche. Die Werbung und die Produkte spülen mir Signale des Mangels ins Hirn, obwohl ich genug habe.Sie stellen Möbel, Schuhe, Taschen her und gelten als Vorzeigebetrieb für ökologische und soziale Produktion. Was machen Sie anders? Ich habe es eine Zeit lang verfl ucht, dass ich in der kaputten Schuhbranche gelandet bin. Unsere größ-

ten Mitbewerber sind die Chinesen. Immer wenn wir die Löhne ein bisschen anheben, wird der Ab-stand zu ihnen noch größer. Darum haben wir die Löhne eingefroren mit 1 zu 2 bei den Nettolöhnen.Was heißt das?Dass unsere schlechtesten Löhne 1000 Euro netto sind und die besten 2000 Euro. Mit 1000 kann man nicht weit springen. Darum sind mir die Überlegun-gen, was man zum guten Leben braucht, so wichtig. Daher die kostenlosen Lebensmittel, aber auch Mas-sage und Psychotherapie. Außerdem feiern wir jeden Monat die Geburtstagskinder. Und dafür organisie-ren wir Schenk-dir-was-Tage, wo alle Leute Zeug von zu Hause mitbringen. So werden wir alle rei-cher, ohne dass wir Geld brauchen.Die Schuhe aus Ihrer Produktion kosten zum Teil mehr als 200 Euro. Ist nachhaltiger Lebensstil eine Frage des Geldes? Ich glaube, dass unsere Schuhe preiswert sind. Ein Schuh, der mit Service sieben Jahre halten kann, darf ruhig 150 Euro kosten. Das ist nicht billig, aber unser Preisempfi nden ist geprägt von Schuhen, die mit Monatslöhnen von 30 bis 50 Euro herge-stellt werden. Wie würde eine Wirtschaft aussehen, die nach Ih-ren Idealen funktioniert? Unsere Wirtschaft ist in der Geiselhaft der Finanz-wirtschaft, die für ihr Geld Renditen haben will. Wir alle spüren, dass die Wirtschaft wächst und wächst und dass wir nicht glücklicher sind als vor 20 oder 40 Jahren. Marie von Ebner-Eschenbach hat gesagt: »Die glücklichen Sklaven sind die erbittertsten Fein-de der Freiheit.« Unsere Gesellschaft versteht es, die Leute mit Konsumgütern bei Laune zu halten. Und wenn die Lust am einen Ding ermattet, kommt die nächste Karotte vor die Nase. Wir müssen Tempo herausnehmen aus der Wirtschaft. Das klingt für Ihren Stammsitz Schrems plausibel, aber wie soll das etwa in Bochum funktionieren?Wir haben ja nicht die Wahl, wir können nicht so weitermachen wie jetzt. Nehmen Sie die Wohnungs-kosten meiner Mitarbeiter. Früher betrugen diese 20 Prozent vom Monatslohn, heute sind es oft 50, manchmal sogar 60 Prozent. Wir nähren mit den hohen Mieten eine Clique von Immobilienhaien, die keinen gesellschaftlichen Nutzen stiftet. Was heißt Ihre Diagnose für jeden von uns? Kon-sumverzicht?Natürlich. Wir sehen doch, dass uns das viele Kon-sumieren nicht glücklich macht. Von einem indi-schen Dichter gibt es den Satz: »Traurig grüßt der, der ich bin, den, der ich sein wollte.« Wer aus einem Apple Store mit einem iPad raus-geht, würde sich wohl als glücklich bezeichnen.Die Technik unserer Konsumgesellschaft mit ihren immer neuen Features ist schlau und raffi niert. In

Wissen & Handelnlauten die beiden Katego-rien, in denen der ZEIT Wissen-Preis Mut zur Nachhaltigkeit verliehen wird. ZEIT Wissen und die Bildungsinitiative »Mut zur Nachhaltigkeit« möchten zeigen, welche Pioniere einer nachhaltigen Entwicklung es heute schon inmitten unserer Ge-sellschaft gibt: Menschen, die sich durch eine beson-ders engagierte Wissens-vermittlung oder in der praktischen Umsetzung dieses Wissens auf dem

Gebiet der Nachhaltigkeit auszeichnen. Preisträger in der Katego-rie »Wissen« können vom Kindergarten bis zur Universität alle Bildungs- und Forschungsinitiativen sein, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit be-schäftigen. Preisträger in der Kategorie »Handeln« können sowohl Start-ups als auch Großkonzerne sein, vom produzierenden Gewerbe über ökologisch agierende Dienstleister bis hin zum nachhaltigen Handel oder zu Unterneh-

men, die unseren Alltag nachhaltiger gestalten.

Eigenbewerbungen sind nicht möglich, Vorschläge aber willkommen. Nennen Sie uns bis zum 1. Juli 2013 Ihren Favoriten entweder über www.mut-zur-nach-haltigkeit.zeit.de oder mit einer kurzen Begründung per E-Mail an [email protected] oder per Post an ZEIT Wissen, Stichwort »Mut zur Nachhaltigkeit«, Bucerius-straße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg.

Der Preis

»Wir müssen Tempo herausnehmen« (Heini Staudinger, Geschäftsführer der Waldviertler Werkstätten, Gewinner der Kategorie Handeln)

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Wirklichkeit ist das eine skrupellose Vergeudung von Ressourcen. Wir vergeuden Zeug, das den nach-folgenden Generationen nur mehr in Müllgruben zur Verfügung steht.Sie haben sich zuletzt mit der Finanzmarktaufsicht angelegt, weil Sie Geld von Privatpersonen einge-sammelt haben – ohne Banklizenz. Als wir 2003 schuldenfrei waren, habe ich Freunde und Verwandte eingeladen, einen Teil ihrer Erspar-nisse in der Firma einzulegen. Das haben sie gemacht, und im Laufe der Zeit sind drei Millionen Euro zu-sammengekommen. Damit haben wir die Firma von 30 auf 130 Mitarbeiter vergrößern können. An sich ist es doch richtig, dass solche Geldgeschäf-te kontrolliert werden.

Ja, aber wir brauchen Augenmaß. Jetzt gehen sie auf mich winzige Laus mit der Hammerkeule los. Dabei können wir fast täglich verfolgen, wie Finanzakroba-ten unsere Milliarden verlieren. Wenn die Aufsicht hart bleibt, wollen Sie ins Ge-fängnis gehen? Sollte ich ins Gefängnis gehen, glaube ich, dass ich dort nicht lange sein werde. Und mein Leben ist oft so unruhig, dass ich mich vor dieser Periode der Ruhe kein bisschen fürchte.Macht es Ihnen Spaß, die Institutionen zu provo-zieren?Ohne jeden Zweifel. Humor ist eine Möglichkeit, mit dem Unvollkommenen umzugehen. Interview: Max Rauner

Heini Staudinger schenkt den Arbeitern in seiner Schuhmanufaktur Lebensmittel. Die Jury lob-te die »hohen ökologischen und sozialen Ansprüche« des Unternehmers.

Preisträger

ZEIT Wissen-Preis

Kategorie

Handeln

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Umwelt & Gesellschaft text Th omas Byczkowski infografik Aurel Märki

Passiert ist es in Aschaff enburg. Innen-stadt, Berufsverkehr, freie Kreuzung: Gas geben. Ein roter Pfeil blitzt auf, ein Radler saust quer vorbei – Vollbrem-sung, rums! Eine Tür öff net sich, und Frederik Naujoks betritt den Raum, in

dem der durchgesägte BMW-Kombi mit durchge-sessenem Sitz steht. Auf der Panorama-Leinwand läuft die Computersimulation der Aschaffenburger Innenstadt ab. »Keine Sorge, das war kein Unfall«, sagt der Wissenschaftler beruhigend, »manchmal ru-ckelt der Simulator in so einer Situation.«

Naujoks forscht am Würzburger Institut für Verkehrswissenschaften, dem WIVW, zur Zukunft des Verkehrs. Er testet Auto-Assistenzprogramme wie dieses Frühwarnsystem, das Informationen über die Umgebung auf der Windschutzscheibe darstellt.

Auch die Industrie arbeitet an solchen Syste-men, die menschliche Autofahrer eines Tages über-flüssig machen könnten. Audi schickt ein Roboter-auto über Rennstrecken, Volvos rollen in einem automatisierten Konvoi durch Europa, und in Kali-fornien testet Google eine Flotte autonomer Pkw. Google-Gründer Larry Page ist überzeugt: Eine Au-

tomatisierung des Autoverkehrs könnte in 20 Jahren nicht nur jährlich 600 000 Verkehrstote verhindern, sondern auch Benzinverbrauch und Stauaufkommen drastisch reduzieren.

Stau, das bedeutet allein in Deutschland jedes Jahr 600 000 Kilometer Stillstand – und verschwen-dete Arbeitszeit und Ressourcen. Fast 300 000 Stun-den vertrödeln die Deutschen so pro Jahr und jagen dabei 16 Milliarden Liter verbrannten Kraftstoff durch die Auspuffrohre. Über 24 Milliarden Euro verpuffen in 40 Millionen Tonnen ausgestoßenem CO₂. Roboterautos könnten ein Ausweg sein.

Von denen träumen deutsche Forscher schon lange. Vor 25 Jahren wurden eineinhalb Milliarden Mark in das Forschungsprojekt Prometheus ge-pumpt, um die Automatisierung voranzubringen. Bereits 1997 fuhren deshalb mehrere Limousinen auf den Autobahnen, bei denen die Fahrer im Schnitt nur noch alle neun Kilometer ans Lenkrad fassen muss-ten. »Allerdings hat man sich viel zu spät gefragt, wie genau ein passendes Produkt dazu aussehen könnte«, erklärt Markus Maurer, der als junger Wissenschaft-ler bei Prometheus war und heute an der TU Braun-schweig forscht.

Weniger verbrauch, weniger unfälle: Automatisch fahrende

Autos haben Vorteile. Jetzt fordert Google die Fahrzeugindustrie heraus.

Computer am Steuer

Nachhaltigkeit

Kompakt

Google-Gründer Larry Page ist überzeugt: Der Einsatz von Roboterautos könnte 600 000 Verkehrstote im Jahr verhindern.

63 %

5 %

20 %

9 %

»Finde ich sinnvoll«

»Dafür würde ich zahlen«

2010 2011

Akzeptanz von Ökoassistenten ... und deren Verbreitung

Assistenzsysteme, die Sprit sparen helfen, finden viele gut – solange sie nichts extra kosten.

In Deutschland zugelassene Neuwagen haben zuneh-mend Start-Stop-Assistenten und Schaltempfehlung.

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Aus der Industrie hört man gerade viel über das autonome Auto. Wann kommt es denn? Es wird noch lange dauern, bis uns das Auto tatsäch-lich richtig viel abnehmen kann. Denn wahrschein-lich wird hier etwas falsch verstanden: Laut Gesetz muss der Fahrer das Auto jederzeit selbst steuern, er darf nicht mit dem Handy telefonieren oder Zei-tung lesen. In nächster Zeit kommen also vor allem Systeme, die uns lästige Aufgaben abnehmen. Etwa der Stauassistent.Gesetze kann man doch ändern. Fahren Roboter noch nicht so gut wie der Mensch? Schauen Sie sich die Kommunikation zwischen Fah-rer und Fußgänger an: Da wird Blickkontakt herge-stellt, da werden für uns ganz einfache Zeichen aus-getauscht. Aber die muss ein Computer erst einmal erfassen. Und jetzt stellen Sie sich vor, was morgens um kurz vor acht vor einer Schule passiert – das ist das Worst-Case-Szenario. Was müsste das automatische Auto denn in so ei-ner Situation können?Es muss den Fahrer viel früher darauf aufmerksam machen, dass etwas passieren könnte, als es die ak-tuellen Systeme können.Angenommen, autonome Autos beherrschen das alles einmal besser als der Mensch. Wird es dann unmoralisch sein, selbst zu fahren?Ich finde es unseriös, damit zu werben, dass der Mensch der unsichere Faktor ist, den es auszumer-zen gilt. Das sind Argumente aus den sechziger Jah-ren, die einer nicht mehr zeitgemäßen Technikgläu-bigkeit entstammen. Es geht heute darum, wie die Technik den Fahrer sinnvoll entlasten kann.Autofahrer könnten sich schwer damit tun, von ihrem Auto bevormundet zu werden. Das Auto wird nach wie vor Freiheiten bieten: Ich kann so fahren, dass es mir Spaß macht, ich kann mir bei Ikea das Auto vollladen oder auf der Land-straße kurven. Aber wenn ich im Stau stehe, dann

drücke ich einen Knopf, und das Auto nimmt mir das Stop-and-go-Fahren ab.Welche Unterstützung würde denn der Autofahrer begrüßen?Da gibt es ganz unterschiedliche Profile: Mütter oder Ältere haben andere Bedürfnisse als Lkw-Fah-rer. Der Vielfahrer will vielleicht viele Assistenzsyste-me. Aber auch bei einem hochautonomen Auto muss der Nutzer im Mittelpunkt stehen.Dann müsste sich das Auto auch an den Fahrer an-passen können? Unsere Untersuchung hat ergeben, dass viele das nicht wollen. »Wenn schon automatisch fahren, dann bitte immer gleich«, sagten die Probanden. Dass das Fahrzeug aber eine andere Fahrweise hat als der Mensch, ist sicher. Es wird alle Verkehrszeichen beachten, frühzeitig bremsen, Sprit sparen. Wenn so ein Auto vor Ihnen in einen Ort hineinfährt, denken Sie vielleicht: »Was ist das denn für einer?!«

interview

Autonome Autos geben uns Freiheit

– wenn die Technik an unsere

Bedürfnisse angepasst wird.

»Im Stau drücke ich dann einen Knopf«

Alexandra Neukum leitet das Würzburger Institut für Verkehrswissen-schaften und entwickelt Simulationen für den Ver-kehr der Zukunft.

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Umwelt & Gesellschaft

Bis 2025, so die Prognosen, wird sich die Zahl der Autos weltweit auf zwei Milliarden verdoppeln. Staus, Unfalltote, Abgasschwaden und Parkplatznot drohen dann überall. Wenn man das verhindern möchte, muss man das Auto ganz neu in eine Mobi-litätsinfrastruktur einbetten. Deshalb hat die Vision vom autonomen Auto inzwischen die Labore tech-nikverliebter Tüftler verlassen.

Es beginnt schon beim Einparken. Audi hat auf einer Messe in den USA bereits demonstriert, dass der Fahrer dabei in Zukunft gar nicht mehr lenken und das Gaspedal treten muss. »Richtig sinnvoll wird das autonome Parken aber erst mit Elektroantrieb«, sagt Marius Zöllner vom Forschungszentrum für Informatik (FZI) in Karlsruhe. »Denn die Elektro-autos könnten im Parkhaus nacheinander selbst-ständig an die Ladestation fahren und wären bei Abruf wieder einsatzbereit.« Etwa, wenn der Besitzer per Handy signalisiert, dass er aus dem Büro kommt. Weil in modernen Wagen bereits Motoren, Bremsen und Lenkung ihre Anweisungen elektronisch be-kommen, scheint sogar der Weg zum selbstständigen Fahren nicht mehr weit zu sein. Alles, was das Auto noch braucht, sind Augen und Ohren, also Sensoren, die die Umgebung erfassen – und genügend Grips, um diese Informationen zu verarbeiten.

Die neu vorgestellte E-Klasse von Mercedes etwa hat ihre Umgebung schon im Blick: »Intelligent Drive« nennen die Schwaben ein Konglomerat aus 360-Grad- und Stereokamera, Radar, Totwinkelwar-ner sowie Fußgängererkennung, Spurhalteassistent, Abstandskontrolle und Notbremssystem. Damit kann der Wagen im Stau selbst lenken, bremsen, an-fahren. Er erkennt Verkehrszeichen, warnt beim Überfahren des Mittelstreifens, bei zu dichtem Auf-fahren – und bremst zur Not bis zum Stillstand. Schneller, als der Fahrer das je könnte. Viele Assis-tenzsysteme sind serienmäßig eingebaut, für etwa 5000 Euro hat man sämtliche Module zusammen.

Ein wirklich autonomes Auto kann mittels sol-cher Sensoren selbst erkennen, wo es gerade lang-fährt, wo Fußgänger über die Straße gehen oder an-dere Wagen abbiegen. In Karlsruhe fährt seit 2011 ein solches Auto durch die Straßen. Im Kofferraum arbeitet ein Rechnersystem mit 48 Prozessorkernen und einem Energieverbrauch von vier Desktop-Computern, um aus den eingehenden Daten die Verkehrssituation zu berechnen. »Effizient ist das im Moment noch nicht«, gibt Zöllner zu, der beim FZI für den Wagen verantwortlich ist. Das Auto muss

genauso denken können wie ein Autofahrer. Zöllner zeigt auf einem Video, wie das funktioniert. Drei Bilder erscheinen auf der Leinwand. Eines zeigt eine Straße aus der Sicht des Fahrers. Vierecke tasten die Objekte im Sichtfeld ab: Ampeln und Schilder, Auto-hecks, Blinker, Rückspiegel, Radkästen. Die Recht-ecke flackern auf, verfärben sich, verschwinden. Da-runter derselbe Ausschnitt in Farben, die man von Infrarotaufnahmen kennt. Ein drittes Bild zeigt ein diffuses Farbspektakel. »Das ist die Reflektanz-Info«, erklärt Zöllners Kollege Thomas Schamm. »Der Rücklauf von unterschiedlich moduliertem Licht. Je wärmer es aussieht, desto näher ist das Objekt.«

Die Szenen wechseln: Das Auto fährt an, bremst, wechselt die Spur, biegt ab – vollautomatisch, wie Schamm betont – und kommt dabei einem Lkw auf der Nebenspur gefährlich nahe. »In solchen Situatio-nen wird es knifflig«, sagt Zöllner. »Der Wagen darf ja nicht einfach eine Vollbremsung machen, nur weil ein Lkw neben ihm fährt.«

Genau das ist die Angst, die Ingenieure schon beim Projekt Prometheus hatten: dass das Auto ein harmloses Objekt mit einem Hindernis verwechselt und abrupt bremst. Um im Verkehr zu bestehen, muss das autonome Auto nicht nur die Umgebung wahr-nehmen, sondern auch entscheiden, wie es weiterfährt. Es muss Konsequenzen ziehen können. »Das ist ange-wandte Kognitionsforschung«, sagt Zöllner.

Während Zöllner und seine Kollegen ihr Auto zum Denken bringen wollen, betreibt man in Kali-fornien Learning by Doing: Googles autonome Au-tos sind bereits im Land unterwegs. Zunächst wird jede einzelne Straße von einem Fahrer abgefahren. Der Bordcomputer sammelt dabei Daten, um eine detaillierte 3-D-Karte der Umgebung zu erstellen. Dann übernimmt der Computer selbst: Im Auto-matikmodus navigiert der Wagen jetzt mit Radarsen-soren und Laserscanner. Bei jeder Fahrt sammelt er mehr Daten und verfeinert die 3-D-Karte.

Doch ob in Kalifornien oder Karlsruhe, alle be-schäftigen sich mit denselben Fragen: Wie interpre-tiert man ein Objekt auf der Straße, welcher Sensor erkennt was – und wie kommt man heil durch den Berufsverkehr? Bei den Google-Autos hat das schon auf einer Strecke von einer halben Million Kilome-tern geklappt.

Bereits mit heutigen Assistenzsystemen verbrauchen Autos nach einer Studie der TU Dresden zehn Prozent weniger Kraftstoff. »An Ampeln kann man im autonomen Betrieb sogar bis zu 60 Prozent sparen«, sagt Zöllner. »Aber

dann funkt ein anderes Auto dazwischen, bremst zu stark oder schneidet den Weg ab – und macht alles wieder zunichte.« Bei Elektroautos allerdings sei das

Nachhaltigkeit

Kompakt

Wie ein Auto sich ohne Fahrer orientiert

Rundum-, Infrarot- und Ultraschall-Kame-ras (1 + 3), ein Radar (2) und das mit Laser arbeitende Lidar (4) liefern Millionen Daten pro Sekunde, damit das Auto seine Umwelt erkennen kann.

Satellitengestützte Or-tung über GPS-Emp-fänger (7) dient zur Po-sitionsbestimmung. Das normale Global Positio-ning System über Satel-liten (5) ist aber unge-nau. Deshalb verfeinern GPS-Bezugspunkte (6) die Navigation.

Ebenfalls zur genauen Positionsbestimmung wird die Geschwindig-keit gemessen: über die Umdrehung der Räder mittels Radsensoren (8) und über Beschleuni-gungssensoren (9).

Automatische Autos treten miteinander über WLAN-ähnliche Car-to-Car-Netzwerke auf einer extra frei gehaltenen Frequenz in Kontakt, um zu übermitteln, wenn gebremst oder abgebo-gen wird.

Weitere Daten aus der Umwelt liefern Car- to-Infrastructure-Netz-werke: DSRC-Netze übermitteln Ampelda-ten. Die Mobilfunknetze UMTS oder LTE kön-nen zur Fernwartung dienen – oder zum Download von Filmen bei Langeweile.

Bewegungen von Passan-ten vorauszusehen ist schwierig. Ortungen über Handys oder Warn hinweise per SMS könnten Fußgänger schützen.

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GPS-Satellit

GPS-Empfänger

DSRC

Handy

Beschleunigungssensor KamerasRadsensor

Ultraschall

Radar

Lidar

Car to Car

Mobilfunkantenne

Car-to-Infrastructure-Kommunikation

One-Way-Kommunikation

Sensoren

Car-to-Car-Kommunikation

Das fahrerlose Auto

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Umwelt & Gesellschaft

anders. »Hier kommt Energierückgewinnung ins Spiel: Wenn das Auto schneller oder stärker bremst, gewinnt es Energie zurück.« Dadurch vergrößert sich die Reichweite des Wagens.

Wie autonome E-Autos sich nahtlos ins tägliche Leben und in die Umwelt einbinden ließen, zeigt das House of Living Labs, ein Thinktank des FZI für In-dustriekooperationen. Dort sind die Autobatterien in ein Energiemanagementsystem für das komplette Haus integriert, mitsamt Photovoltaikanlage und ferngesteuerter Heizung. Das System berechnet, wann es günstig ist, die Akkus zu laden, erstellt Reichwei-tenprognosen in Echtzeit aufgrund von Straßenart, Verkehrsdichte, Ampeln und Fahrstatistik.

Im Hinterhof des FZI steht bereits das nächste autonome Testfahrzeug: ein Peugeot 3008, den der französische PSA-Konzern extra für die Forscher elektrifiziert hat. Momentan kann der Wagen aber nur auf dem Hof rangieren, ihm fehlt die Straßen-zulassung. Der Grund: Der Fahrer muss immer Herr über sein Fahrzeug sein. Erlaubt ist nur der teilautonome Betrieb, in dem das Auto dem Men-schen assistiert. Also sitzen bei Versuchsfahrten Testfahrer hinter dem Steuer, die jederzeit eingreifen könnten. Auf diese Weise haben Hersteller schon das Kolonne-Fahren auf der Autobahn erprobt und bewiesen, dass automatische Autos rund 15 Prozent Sprit sparen, weil sie im Windschatten des Vorder-manns bleiben. Wie ein Schwarm geben sie mit ein-an der Gas oder bremsen, im Unterschied zum ego-istischen Menschen.

Dieses Fahren im Windschatten funktioniert nur, wenn die Autos ständig miteinander kommuni-zieren. Über eine solche Vernetzung hatten bereits die Gründer des Prometheus-Projekts nachgedacht. Damals, als es noch keine drahtlosen Netze gab, hätte das aber noch bedeutet, Kabel in den Leitplan-ken zu verlegen.

Heute erweitern Funkverbindungen zwischen Auto und Umgebung die Datengrundlage – und da-mit auch die Entscheidungsmöglichkeiten – des auto-nomen Autos enorm. Das ist gerade für komplexe Situationen wie den Berufsverkehr wichtig.

»Wie beim WLAN Access Point senden die Fahrzeuge im Nahbereich mehrmals pro Sekunde so-genannte Cooperative Awareness Messages«, erklärt Josef Jiru von der Fraunhofer-Einrichtung für Syste-me der Kommunikationstechnik in München. Die Nachrichten enthalten Informationen über Fahr-zeugposition, Geschwindigkeit und Beschleunigung.

»Aber das ist kein Standard-WLAN wie für Laptop oder Handy, mit Einloggen und Autorisieren. Sie starten den Motor, dann sind Sie dabei.« Informatio-nen, die nicht die unmittelbare Umgebung betreffen – wie Staunachrichten oder Unfallwarnungen –, werden über die UMTS- und LTE-Netze des Mobil-funks geschickt.

Kein Zweifel, die technische Entwick-lung läuft auf Hochtouren. Offen ist aber, wer das Rennen um das voll au-tonome Auto machen wird: die Auto-indus trie oder der Datenkonzern Google mit seinem pragmatischen

Ansatz. Den Autoherstellern stehen nicht nur Geset-ze im Weg, sie dürfen auch ihre Käufer nicht mit zu hochgezüchteter Technik überfahren. »Es ist be-kannt, dass die meisten Menschen auf der Ausstat-tungsliste ihres Neuwagens eben nicht das Kreuz-chen beim Abstandsassistenten setzen«, sagt Alexandra Neukum, Geschäftsführerin des WIVW.

Auch wenn die Hersteller solche Zahlen geheim halten: Statistiken etwa der Fahrzeugsystemdaten GmbH in Dresden belegen, dass weniger als zwei-einhalb Prozent der neuen Autos mit Notbremssyste-men ausgeliefert werden. Helfer zum ökonomischen Fahren wie die Start-Stopp-Automatik werden immer-hin in über einem Fünftel der Autos geordert.

Andererseits erscheinen die halbe Million Test-kilometer der Google-Flotte von einem Dutzend Roboterautos nahezu lächerlich, verglichen mit dem Aufwand der Autofirmen. Bei Daimler seien ständig 40 Testwagen im Einsatz, erklärt Jochen Haab, Teamleiter für Assistenzsysteme. Jede neue Funktion werde auf mindestens einer Million Kilometer getes-tet, um die Sicherheit statistisch zu untermauern. Millionen weitere Kilometer kämen hinzu, weil die Arbeit der Assistenzsysteme auch bei anderen Tests aufgezeichnet werde.

Während Google an der Vision des völlig fah-rerlosen Wagens arbeitet, bauen die Autofirmen Schritt für Schritt Wagen, die schneller bremsen und besser reagieren – und den Fahrer nicht überfordern. Das Ziel ist indes dasselbe: Unfälle vermeiden, Geld sparen, Ressourcen schonen.

Und wann fährt das erste Roboterauto legal auf deutschen Straßen? »Schon bald«, sagt Markus Mau-rer von der TU Braunschweig. »Und zwar in fünf oder sechs Jahren.« Sein Team ringt gerade mit der Zulassungsstelle. Allerdings geht es nicht um eine schnelle Reiselimousine. Das Auto, das die Zukunft des autonomen Fahrens repräsentieren wird, soll ein blinkendes Sperrfahrzeug sein, das auf der Autobahn in Schrittgeschwindigkeit hinter mobilen Baustellen rollt. Maurer lacht: »In Deutschland backen wir halt ganz kleine Brötchen.« ——

Nachhaltigkeit

Kompakt

Offen bleibt, wer das Rennen um das autonome Auto macht: Die Autoindustrie oder doch der Datenkonzern Google?

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debatten

leserforum

energiewende

ZW 2/13: Das autarke Dorf

Kein Wolkenkuckucksheim

Dass endlich objektiver über solche Projekte berichtet wird, ohne dabei im Subtext die Idee als hirnverbranntes Wolkenku-ckucksheim darzustellen, ist ein wichtiger Schritt, die Augen der weniger visionären Men-schen zu öffnen. Rheinlandsmann, Onlinekommentar

Was soll die Überschrift?

Das Dorf ist nicht autark! Es hängt am großen Netz! Es fehlt die Angabe, wie viel Subventio-nen per EEG und andere Zwangsabgaben dieses Dorf die Allgemeinheit kostet. wd, Onlinekommentar

Dezentralisierung

Ich träume von einem System vernetzter »Dörfer«, die alle ihre unabhängige Versorgung in Ge-

meindehand betreiben und mit anderen autarken Gemeinden verbinden. Dass Großstädte und Industriezentren eigene Kraft-werke brauchen, darüber brau-chen wir nicht zu diskutieren. Wichtig ist aber, die zentralisti-sche Struktur aufzubrechen, die mehr einem mafiösen System als einem Markt gleicht. Grobkorn, Onlinekommentar

Strom zu sparen ist billiger

Das höchste Potenzial, sowohl in ökologischer als auch in öko-nomischer Hinsicht, liegt nicht in alternativer Energieproduk-tion, sondern im Einsparen von Energie. robertmk, Onlinekommentar

Vielfalt statt Einfalt

Ich finde es hervorragend, was in diesem Ort passiert. Die Su-che nach Alternativen hat die Menschheit immer weiter ge-bracht. Wenn wir heute nur auf günstig setzen, kommt uns das morgen teuer zu stehen. DSL, Onlinekommentar

Wie DDR-Propaganda

Wie viel Steuergelder sind in dieses Modellprojekt geflossen? Und wie schaffen es 40 Haus-halte, 35 Stellen in ihren EEG-Anlagen zu finanzieren? Wir sprechen von fast 1 000 000 Euro Personalkosten im Jahr. Diese Jubelartikel zur Energie-wende erinnern mittlerweile

stark an die Darstellungen in den DDR-Medien zur damali-gen Wirtschaftslage dort. zettpunkt, Onlinekommentar

Ist ja klasse!Ich würde gern mal sehen, wie hell die Gemeinde leuchtet, wenn sie sich abgekoppelt hat. Jeder Frequenzumrichter be-nötigt die Netzfrequenz zur Steuerung. Bornie, Onlinekommentar

Kapitalismus der VernunftLieber zahle ich Subventionen für vierzig Feldheimer Familien als für die Endlagerung des Atommülls. Wo sind denn die Zahlen, die belegen, dass die fossilen Brennstoffe und die Nutzung der Kernenergie lang-fristig billiger sind? Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass die Demokratien einen dezentrale-ren Kapitalismus der nachhalti-gen Vernunft formen – noch in diesem Jahrzehnt. wolf_niese, Onlinekommentar

Lasst sie machen!Ich verstehe nicht, warum sol-che Berichte stets so hasser-füllten Widerspruch erzeugen. Lasst sie doch machen, so ha-ben wir wenigstens mehrere Optionen für die Zukunft. Ich finde solche Aktivitäten zur Unabhängigkeit von Energie-konzernen sehr gut. Sicher kos-tet das viel Geld. Aber wenn

uns dafür Fukushima/Tscher-nobyl erspart bleibt, gerne. schweriner, Onlinekommentar

gewaltforschung

ZW 2/13: Der Mörder in uns

Eigene Erfahrung

Auch wenn es für die Thesen von Thomas Elbert noch kei-nen Nachweis gibt, hat er doch ausgedrückt, was ich seit vielen Jahren empfinde und auch sel-ber erlebt habe: Die Lust an Gewalt und auch am Töten wohnt dem Menschen inne. Mitte der 70er Jahre nahm ich als Gruppenleiter eines Ju-gendlagers an einem (Show-)Tribunal teil. Ohne Absicht der Betreuer kippte plötzlich die Stimmung im »Gerichts-saal«, und nur mit äußerster Mühe konnten die Verant-wortlichen verhindern, dass aus einem harmlosen Spiel plötzlich bitterer Ernst für die »Angeklagten« wurde, mit der Androhung von Prügeln und einer wilden Verfolgung durch das gesamte Lager. Leon Uppena, per E-Mail

erdmagnetfeld

ZW 2/13: Löcher im Schutzschirm

Wir wissen nichts

Wir haben zwar überall Exper-ten, aber eigentlich stehen wir immer noch bei Sokrates: Wir wissen, dass wir nichts wissen. Oder zumindest nicht sehr viel. Es war sehr interessant, den Ar-tikel zu lesen. Samuel Vimes, Onlinekommentar

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Wissenschaft bewegt uns

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februarmärz

Was hat mein Kind? Wie Modekrankheiten Eltern verunsichern

Mehr Licht!Machen uns bessere Lampen glücklicher?

Die AuferstehungEin neuer Anzug lässt Gelähmte wieder laufen

Mach es anders!Wie Gewohnheiten unseren Alltag beherrschen –

und wie wir uns ändern können

Gesünder leben, kreativer werden, zufriedener sein

dossier

Rätsel ZeitAuf der Spur der vierten Dimension

Neue

Psychologie-

Serie

Die Energiewende erhitzt die Gemüter, auch in den Onlinekom-mentaren zu unserer jüngsten Ausgabe. Das Beispiel der Gemeinde Feldheim in Brandenburg, die sich ein eigenes Stromnetz aufgebaut hat, fanden die einen ermutigend, die anderen naiv. Dann drehte die Debatte ins Grundsätzliche, und es ging um den Atomausstieg. Auf Facebook bekamen wir übrigens diesmal den meisten Zu-spruch für eine Nichtmeldung: Keine Psychologieforschung zum Valentinstag – versprochen! Die Redaktion

Sie erreichen uns über:

Redaktion ZEIT Wissen, 20079 Hamburg, [email protected] oder über die Facebook- Seite von ZEIT Wissen

www.facebook.com/ZeitWissenwww.zeit.de/wissen/zeit-wissen

ausgabe

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rätsel

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impressum

Gesamtanzeigenleitung:Axel Kuhlmann Anzeigenleitung: Karsten VölkerAnzeigenpreise: ZEIT Wissen-Preisliste Nr. 9, 1. Januar 2013

abonnement Jahresabonnement (6 Hefte) 31,80 Euro, Lieferung frei Haus, Auslandsabonnementpreise auf Anfrage; Abonnentenservice Telefon: 040/42 23 70 70, Fax: 040/42 23 70 90, E-Mail: [email protected]

druck Firmengruppe APPL, appl Druck, Wemding

repro4mat media, Hamburg

anschriftZEIT Wissen, Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG,Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg, Telefon: 040/32 80-0, Fax: 040/32 80-553

mitarbeiter dieser ausgabe Niels Boeing, Th omas Byczkowski, Heike Dierbach, Alexandra Engelhard (Beratung Titelgestal-tung), Hauke Friederichs, Gerlinde Geff ers, Günter Haaf, Jana Hauschild, Ariane Heimbach, Dr. Christian Heinrich, Dirk Liesemer, Ulrike Meyer-Timpe, Dr. Lennart Pyritz, Vanessa Rehermann, Dr. Th omas Rid, Ulf Schönert, Dr. Ragnhild Schweitzer, Dr. Astrid Viciano, Katrin Zeug

korrektorat Mechthild Warmbier (verantw.), Barbara Hajek, Christoph Kirchner, Ursula Nestler, Antje Poeschmann, Maren Preiß, Karen Schmidt, Matthias Sommer, Oliver Voß, Th omas Worthmann

verlagsleitungmagazineSandra Kreft

objektleitung Christiane Dähn

geschäftsführung Dr. Rainer Esser

verlagsleitung Stefanie Hauer

vertrieb Jürgen Jacobs

marketing René Beck

unternehmenskommunikation und veranstaltungen Silvie Rundel

herstellung |schlussgrafik Torsten Bastian (verantw.), Nicole Hausmann, Oliver Nagel

gesamtanzeigenleitung Matthias Weidling

anzeigenleitung magazine Maren Henke (verantw.)

empfehlungsanzeigeniq media marketing GmbH

herausgeberAndreas Sentker

chefredakteur Jan Schweitzer

artdirektionAnna Primavera

redaktion Dr. Max Rauner,

Jens Uehlecke

(San Francisco),

Claudia Wüstenhagen

bildredaktion Maria Leutner

autorinSusanne Schäfer

layout Kaja Paradiek

onlineredaktion Jochen Wegner

(verantw.)

redaktionsassistenzAndrea Capita

Unser Rätsel: Die Gesichtsrötungen erinnern an ein Insekt. Gefährlich wird es, wenn die Immunerkrankung nicht nur die Haut befällt, sondern den ganzen Körper. Dann ist etwa das Herzinfarktrisiko erhöht. Welches Leiden suchen wir? Schicken Sie uns die Antwort per Mail an [email protected] oder per Postkarte an ZEIT Wissen, Stichwort: Rätsel, Buceriusstraße, Eingang Speersort 1, 20095 Hamburg.

Die meisten Menschen freuen sich, wenn die Sonne

scheint. Doch manche müssen sie fürchten.

Teil nah me be rech tigt sind alle Leserinnen und Leser ab 18 Jahren, aus genom men Mitarbeiter des Zeitverlags und der beteiligten Unternehmen sowie deren Angehörige. Alle richtigen Einsendungen nehmen an der Verlosung teil. Der Gewinner wird schriftlich benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, ebenso die Barauszahlung des Gewinns.

Angriff der Verteidigung

Einsendeschluss ist der 10. Juni 2013.

auflösung dervergangenen ausgabe: Claudicatio intermittens (Schaufensterkrankheit)

Der Preis: Wir verlosen ein »Sportscar AS4« der Firma Böhm Stirling-Technik, das man selber zusammenbauen kann. Der Bausatz besteht aus 100 Teilen. Das 16 cm lange und 9 cm breite Auto wird von einem Stirlingmo-tor angetrieben, als Treib-stoff dient Brennspiritus.Wert: 398 Euro.

facebook-abstimmung

Beilagenhinweis: Die heutige Ausgabe enthält in Teilaufl agen Prospekte folgender Unternehmen: ARTE G.E.I.E., F-67080 Strasbourg Cedex; Fattoria La Vialla, I-52029 Castiglion Fibocchi

Brauchen wir mehr Wissenschaftler im Parlament? Wir haben unser Pro & Contra von Ausgabe 2/2013 zur Abstimmung gestellt. Der Favorit war eindeutig. Hier eine Auswahl der Facebook-Kommentare.

kleine zusatzhilfe

Er hat mit dem Leiden nichts zu tun,

nur mit dessen Namen.

24 %

»Im ›politischen Alltag geht nichts gerad-linig, logisch und konsistent‹? Damit möchte ich mich nicht abfinden. Politik braucht jede Profession.«

contra

»Die Wissenschaft mehr einzubeziehen geht in Richtung Meritokratie, den Ansatz finde ich sehr spannend. Aber auch Wis-senschaftler können irren. Ich würde mir wünschen, dass bei großen Entschei-dungen, Erfindungen und Überlegungen auch die Nachteile mehr Beachtung fän-den. Wir brauchen Analytiker, die sich im Vorhinein mit den Auswirkungen von Entscheidungen beschäftigen.«

»Parteien sollten nicht mehr einfach nur ihre Listenplätze mit verdienten Mitgliedern auffüllen, sondern offensiv damit werben, welche Fachleute für welches Fachgebiet ins Parlament gehen. Klar ansagen, wer die Partei in Wissenschaftsfragen vertritt, wer in Wirtschaftsfragen und so weiter; mit diesen Kompetenzteams werben und nicht mit Sprüchen wie ›Für eine bessere Zu-kunft‹. Von den über 600 Menschen im Bundestag kennt man vielleicht ein Zehn-tel. Das sollte sich ändern.«

pro

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KIOSK

sophie ist und genießt das Leben. Eine Krebsdiagnose wirft all

ihre Zukunftspläne über den Haufen, doch trotz Chemotherapie und

Krankenhausalltag will sie nicht zurückstecken. Mithilfe von neun perücken versteckt sie ihre Krankheit – und entdeckt mit jeder Frisur

eine andere Facette an sich. Schwarzhaarig verführt sie einen Dozenten,

als blonde Daisy macht sie mit ihren Freunden die Nacht zum Tag, und als

die unerschrockene rothaarige Sue begegnet sie den Untersuchungen im

Krankenhaus. Der Film basiert auf dem gleichnamigen autobiografischen

Roman der niederländischen Autorin Sophie van der Stap, die mit dem

Schreiben ihre Krankheit verarbeitete. unaufdringlich und authentisch zeigt er ihre Geschichte und auch, dass schwere Zeiten

wie diese lebensfrohe Momente haben können.

zeit wissen

s 101 bis s 105

»Heute bin ich blond«117 Minuten, seit dem

28. März im Kino

Eben Alexander: »Blick in die Ewigkeit«,

Ansata, 256 Seiten, 20 Euro

müssen

lassen nichts gegen den Nahtod. Es ist schön und bewegend, wenn

Menschen das Licht am Ende des Tunnels gesehen haben, aber ins Leben

zurückkehren. Man kann auch nichts dagegen sagen, wenn ein Patient

sich an blubbernden Schlamm und wurmartige Wesen erinnert, abgelöst

von »Fäden aus Licht« und »einer schönen jungen Frau mit hohen

Wangenknochen«. Aber zu behaupten, man habe hölle und himmel

gesehen, geht zu weit. Proof of Heaven heißt das Buch im Original. Ein

Neurochirurg (Harvard!) beschreibt darin, wie er durch seine Nah tod-

erfah rung vom Atheisten zum Gläubigen wurde. Halluzinationen schließt

er aus, weil Bakterien angeblich den gesamten Neokortex ausgeschaltet

hatten. Nur: Genau das ist umstritten. Das Buch hat in Deutschland den

richtigen Verlag gefunden – dieser ist auf Esoterik spezialisiert.

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Kiosk

Vier Jahre lang bereiste John Downer mit seinem Team 40 Länder, um die Vögel dieser Welt bei den waghalsigen Luftmanövern und ihren Langstrecken-flügen zu filmen. Um den Tieren möglichst nahe zu kommen, setzte die Crew Drohnen ein, baute flie-gende Vogelattrappen und stattete manche Tiere mit Rückenkameras aus. Einige Vögel zogen die Filmer

sogar selbst auf, um ihr Vertrauen zu gewinnen. So kamen sie an atemberaubende Bilder: von Streifen-gänsen, die in acht Kilometern Höhe den Himalaya überfliegen; von virtuosen Wellensittich-Schwärmen im australischen Outback; von Sturmvögeln, die sich auf Robbenjagd mit Schwertwalen verbünden. Aufregender ist es nur, selbst zu fliegen. F

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Mit Leichtflugzeugen und ferngesteuerten Attrappen haben Naturfilmer der BBC Vögel

auf allen kontinenten in der Luft begleitet – und einzigartige Bilder mitgebracht.

Wenn ich ein Vogel wär ...

Die fantastische Reise der Vögel ist als DVD oder Blu-ray erhältlich. BBC Earth/Polyband, 270 Minuten, 19 Euro.

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Worum geht’s? Wer Unsicher-heiten nicht einschätzen kann, trifft die falschen Entscheidun-gen. Nicht nur Mediziner und Finanzberater, wir alle sollten ri-sikokompetenter werden. Dieses Buch liefert die Grundlagen.Was bringt’s? Bildungsforscher Gerd Gigerenzer erklärt anhand vieler Beispiele die wichtigsten Faustregeln für die Bewertung von Risiken. Die Lektüre beru-higt – und wappnet gegen die mediale Dauer-Apokalypse.Wen interessiert’s? Wer täglich mit Risiken zu tun hat, lernt hier das Einmaleins. Auch ge-eignet für all diejenigen, die die richtigen Fragen stellen wollen.

Oliver Sacks: »Drachen, Doppelgänger und Dämonen«Der Neurologie-Professor erzählt Fallgeschichten von Menschen mit Halluzinationen. Faszinierend und manchmal unheimlich, wozu unser Gehirn fähig ist. Rowohlt, 350 S., 22,95 Euro

H. Charisius, S. Karberg, R. Friebe: »Biohacking« Selbstversuch zur synthetischen Biologie: Die Autoren bestellen DNA-Schnipsel – und basteln. Hanser, 286 S., 19,90 Euro

Und sonst?

lesen

Baldrian gegen die Apokalypse

Gerd Gigerenzer: »Risiko« C. Bertelsmann, 400 S., 20 Euro

hören

Der (Alb-)Traum vom perfekten Baby

Worum geht’s? John und Nao-mi wünschen sich ein gesun-des Kind, denn ihr kleiner Sohn starb an einer seltenen Erbkrankheit. Ein Genfor-scher überredet sie, das per-fekte Kind zu designen. Kurz darauf ist er verschwunden. Naomi bekommt Zwillinge, die ganz anders sind als er-hofft. Und eine religiöse Sekte verfolgt das Paar.Was bringt’s? Der Autor hat ein aktuelles Thema zum Anlass genommen, einen packenden Thriller zu schreiben. Wen interessiert’s? Psycho thriller- fans mit einer Vorliebe für die dunkle Seite der Wissenschaft.

Michael Tsokos: »Die Klaviatur des Todes« Der berühmte Rechtsmediziner erzählt von neuen rätselhaften Fällen und seinen ausgefeilten Methoden, etwa der postmor-talen Computertomografie. Der Audio Verlag, 20 Euro

»Physik für Laien« Leicht verständlich erklären Phy siker, was sie gerade erforschen: zum Beispiel die Größe des Pro-tons oder die Physik der Stimme. www.weltderphysik.de/podcast

Und sonst?

Peter James: »Nur dein Leben« Argon Hörbuch, 7 Std., 20 Euro

Worum geht’s? Als erster Arzt wandelte George Burou in Ca-sablanca in den 1960er Jahren Männer operativ in Frauen um. Fünf seiner ersten Patientinnen blicken auf ihr Leben vor und nach der OP zurück.Was bringt’s? Ein bewegender Film über außergewöhnliche Menschen, ihre Suche nach Identität, den ersten Sex in ei-nem neuen Körper, aber auch die Anfeindungen von Leuten, die nicht so weit waren wie der medizinische Fortschritt. Wen interessiert’s? Auch wer sich in seinem Körper gut fühlt, wird berührt sein von diesem Kapitel der Medizingeschichte.

»Die Nordsee – unser Meer« Faszinierende Aufnahmen zeigen die große Artenvielfalt der Nord-see, von Nordnorwegen über Ost-friesland bis hin zu den Nieder-landen. Macht Lust auf Urlaub.94 Min., vom 18. April an im Kino

Tom Lowe: »TimeScapes« Sternenhimmel und Landschaften in Zeitlupe und Zeitraffer. Taugt zum Träumen und Entspannen.DVD & Blu-ray, 50 Minuten, ab ca. 15 Euro

Und sonst?

sehen

Ein zweites Leben im Frauenkörper

Michiel van Erps: »I Am A Woman Now« 86 Min., vom 18. April an im Kino

Worum geht’s? Mit interakti-ven Experimenten zeigt diese App in anschaulicher Weise, dass nicht nur Schönheit, son-dern auch die Wahrnehmung von Farben im Auge des Be-trachters liegt.Was bringt’s? Verständnis für den farbenblinden Cousin, der über die rote Ampel fährt, und die Erklärung dafür, dass das neue T-Shirt im Tageslicht ganz anders aussieht als im Laden.Wen interessiert’s? Kleine und große Spielkinder mit einer Schwäche für Physik und Wahrnehmungspsychologie. Und Zweifler, für die ohnehin nichts ist, wie es scheint.

»The Better Life Index« In welchem Land lebt es sich am besten? Die interaktive Grafik lässt den Nutzer selbst abwägen, was wichtig ist, und gibt so eine per-sönlich zugeschnittene Antwort.www.oecdbetterlifeindex.org

»Khan Academy«Fast 4000 Filme mit Lehrmaterial aus den verschiedensten (natur-)wissenschaftlichen Bereichen kann man sich auf dieser nicht kommerziellen Seite anschauen. www.khanacademy.org

Und sonst?

klicken

Traue deinen Augen nicht

»Color Uncovered« App für das iPad, kostenlos im iTunes Store

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Wer wäre nicht gern

astronaut geworden?

Mit diesem Bettzeug geht

das im Schlaf. Und anders

als auf der Internationalen

Raumstation muss man sich

für die Nachtruhe nicht

festgurten, sondern kann

ganz gemütlich von fernen

Galaxien träumen. Begeg-

nungen mit Außerirdischen

nicht augeschlossen.

Bettwäsche Astronaut, 60 Euro, www.snurkbeddengoed.nl

SchwereloseNachtruhe

Kiosk

kaufen

ieses »Wundergerät macht Schild WM-fit«, titelte die österreichische Zeitung heute im Februar. Die Ski-rennläuferin Marlies Schild hatte ihren Innenbandriss im rechten Knie damit behandelt. Das Gerät erzeuge ein »physikalisches Signal, das über ein elek-tromagnetisches Feld an den Körper übermittelt wird«, erklärt der Herstel-ler. Das rege »organische Reparaturprozesse« an. Der Informationsdienst medizin-transparent der Donau-Universität Krems stellt dagegen fest: »Zu dem Gerät sind keine guten Studien zu Verletzungen zu finden.« Studien, in de-nen positive Effekte elek-tromagnetischer Felder (EMFs) bei Knochenbrü-chen festgestellt wurden, seien mangelhaft. Und: EMFs seien seit ihrer Ent-deckung »Gegenstand geschickten Schwindels«.

Bemer Classic-SetAngebliche Wirkung: Regt die Selbstheilung an; Ziel-gruppe: verletzte Freunde elektromagnetischer Felder; Preis: ab 2950 Euro

nicht kaufen

DElektrosmog für kaputte Knochen

Ein Surround-System für den Fernseher ist 1. aufwendig aufzubauen, 2. platzgreifend und 3. nicht unbedingt eine Zierde für das Wohnzimmer. Die Playbar hingegen ist 1. einfach unter dem Fernseher anzu-bringen, 2. schlank und 3. schick. Und, na ja, 4. ist der Sound gut, aber nicht vergleichbar mit einem Surround- System. Dafür kann man 5. über WLAN Musik vom Rechner darauf hören. Playbar, 699 Euro, www.sonos.com

Spielriegel Smarte Uhr

Sie schauen natürlich nur ganz selten auf Ihr Smart-phone, doch Ihr Partner ist trotzdem wenig be-geistert davon? Dann brauchen Sie eine Peb-ble: Sie zeigt per Blue-tooth Nachrichten vom Handy an. Und ein schneller Blick auf die Uhr wird doch wohl noch er-laubt sein!Pebble, 150 Dollar, www.getpebble.com

Page 105: h4h43ZeitWissen0313jgu74z

kaufen

Jeder ist musikalisch, vor allem nach ein paar Gläsern Wein. Diese Gläser bringen sogar eine Anleitung mit: Je nach Pegelstand lassen sich ihnen verschiedene Töne entlocken. Rettet den Abend, wenn der Wein verkorkt ist. Musical Wine Glas, ca. 47 Euro, firebox.com

App zum Anstoß

Natürlich: Ginge es nach Ihnen, stünde schon längst ein Kicker-tisch im Konferenzraum. Jetzt gibt es etwas, wofür Sie nicht erst den Chef überreden müssen: Mit diesem Tischfußballset im Minia-turformat und der dazugehörigen

App wird das iPad zum Kicker. Auf die Unterlage gesteckt, lassen sich die Spieler millimetergenau. steuern. Torschüsse kann man sich sogar noch einmal in 3-D ansehen. Classic Match Foosball, ca. 76 Euro, www.newpotatotech.com

Die Stimmen des Weins

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Das will ich wissen

»Wie sieht die Welt in 60 Jahren aus?«fragt sebastian koch, Schauspieler

Klimawandel mit Folgen»In 60 Jahren wird sich die Menschheit wohl in einem globa-len Umbruch befinden. Wenn wir weiter ungehemmt Kohle und Öl verbrennen, wird sich der Klima-wandel stärker als heute auswir-ken: Je nach Re gion treten Hitze-wellen, Stürme, extreme Nieder- schläge oder Dürre pe rio den häu- figer auf oder erreichen ein neues Ausmaß. Die reichen Nationen werden wohl einiges zur Bewah-rung der Umwelt getan haben, aber die ärmeren Länder Afrikas und Asiens trifft es schwer. Die massive Übernutzung der Res-sourcen, gepaart mit starkem Be-völkerungswachstum, erzeugt zu-nehmend soziale und politische Spannungen. Nur falls es gelingt, den Ausstoß an Treibhausgasen erheblich zu reduzieren und den Raubbau an der Natur zu stop-pen, bleiben die Folgen für Klima und Ökosysteme beherrschbar.«

Weniger Macht für Staaten»Es wird eine Machtdiffusion ge-ben, weil Staaten ihre Entschei-dungskompetenzen zunehmend an internationale Organisationen übertragen. Sie werden sich mit supranationalen Institutionen wie der Europäischen Kommission, in-ternationalen Organisationen wie der Weltbank sowie mit Nichtre-gierungsorganisationen die Macht teilen müssen. Regieren jenseits des Nationalstaats wird die Regel sein, da Sicherheits-, Wohlfahrts-, Umwelt- und Freiheitsprobleme nur noch in Zusammenarbeit der Institutionen gelöst werden. In-stitutionen wie zum Beispiel die Zentralbanken, die Autorität aus-üben, aber weder demokratisch legitimiert noch gegenüber direkt gewählten Entscheidungsträgern rechenschaftspflichtig sind, wer-den etwa durch Volksabstimmun-gen stärker zur Rechenschaft ge-zogen werden.«

Religiöse Vielfalt»In 60 Jahren wird die religiöse Vitalität und Vielfalt, die es jetzt schon in anderen Weltregionen gibt, auch in Europa den öff ent-lichen Raum erobert haben. Reli-giöse Minderheiten werden besser sichtbar sein als heute. Eine fried-liche Koexistenz unterschiedlicher Religionen in Deutschland bei garantierter Freiheit ihrer Aus-übung wird von Gläubigen wie Nichtgläubigen verlangen, stärker die heute in der Gesellschaft übli-che Abgrenzung von traditionell Deutschem und Fremdem zu hin-terfragen und nach neuen Wegen zur Verständigung über das Zu-sammenleben zu suchen. Ein Weg wird sein, dass eta blier te Re li-gions ge mein schaf ten wie etwa die christlichen Kirchen nicht mehr trotz formaler Gleichheit vor dem Gesetz ›gleicher‹ als andere be-handelt werden, etwa Muslime, Hindus und Buddhisten.«

Sebastian Koch wurde bekannt mit Kino- und Fernsehrollen, etwa in »Speer und er« oder »Das Leben der Anderen«. In dem Film »Das Wochen ende«, der am 11. April anläuft, spielt er einen ehemaligen RAF- Terroristen, der aus der Haft entlassen wird und ein Wochenende mit alten Bekannten verbringt, das sich dramatisch entwickelt.

Im nächsten HeftWarnung aus dem NetzForscher wollen sich Twitter und Blogs zu-nutze machen, um rechtzeitig auf Epide-mien zu reagieren.

Urban MiningIn den Städten steckt ein Schatz: Wichtige Roh-stoffe, vor allem Metalle, lagern hier tonnen - weise. Sie müssen nur ge-borgen werden.

Thomas Kartschall, Physiker am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung

Das nächste ZEIT Wissen erscheint am 11. Juni.

Eugénia da Conceição-Heldt, Professorin für Internationale Politik an der TU Dresden

Maik Arnold, Religionswissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum F

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