Haak . Populationsgenetik Der Ersten Bauern Mitteleuropas

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Populationsgenetik der ersten Bauern Mitteleuropas Eine aDNA-Studie an neolithischem Skelettmaterial Inauguraldissertation zur Erlangung des Akademischen Grades eines Dr. phil. vorgelegt dem Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg Universität Mainz von Wolfgang Haak aus Künzelsau 2006

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  • Populationsgenetik der ersten Bauern Mitteleuropas

    Eine aDNA-Studie an neolithischem Skelettmaterial

    Inauguraldissertation

    zur Erlangung des Akademischen Grades

    eines Dr. phil.

    vorgelegt dem Fachbereich 02

    Sozialwissenschaften, Medien und Sport

    der Johannes Gutenberg Universitt

    Mainz

    von

    Wolfgang Haak aus Knzelsau

    2006

  • Tag des Prfungskolloquiums: 18. April 2006

  • Inhaltverzeichnis

    1. Einleitung 1

    2. Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung 3

    2.2 Modelle zur Neolithisierung Europas 3

    2.3 Das frhe Neolithikum in Mitteleuropa 7 2.3.1 Der Star4evo-Krs-Cri8-Komplex 9 2.3.2 Die Linearbandkeramik (LBK) 11

    2.4 Zur Anthropologie des Neolithikums 14

    3. Grundlagen zur Neolithisierung aus Sicht der Humangenetik und zur Analyse alter DNA 18

    3.1 Die Neolithisierung aus Sicht der Humangenetik 18 3.1.1 Forschungsgeschichtlicher Hintergrund 18 3.1.2 Das wave-of-advance-Modell von Ammerman und Cavalli-Sforza 18 3.1.3 Der Einsatz von klassischen genetischen Markern 19 3.1.4 Kritik am wave-of-advance-Modell 22

    3.2 Forschungsstand molekulargenetischer Studien 25 3.2.1 Mitochondriale Variabilitt in Europa 25 3.2.2 Besiedlungsgeschichte Europas anhand von mtDNA und Y Chromosom 26

    3.3 Die Haplogruppenverteilung im modernen maternalen Genpool unter besonderer Bercksichtigung Europas 34

    3.4 Methodische Grenzen populationsgenetischer Studien und Einsatzmglichkeiten von aDNA-Analysen 42

    3.5 bersicht zu bisherigen palogenetischen Studien 44 3.5.1 Stammesgeschichte sowie Vor- und Frhgeschichte des Menschen 45 3.5.2 Identifikation, Material- und Spurenkunde 46 3.5.3 Verwandtschafts- und Geschlechtsbestimmung 47 3.5.4 Epidemiologie, Pathologien und andere genetische Marker 47 3.5.5 Phylogenie und Phylogeographie 48 3.5.6 Rekonstruktion von kologie und Ernhrungsgewohnheiten 49 3.5.7 Domestikation von Tieren und Pflanzen 49

    3.6 Eigenschaften alter DNA 51 3.6.1 Grundlagen zur chemischen und physikalischen Mutagenese in vivo 51

    3.6.1.1 Endogene chemische Mutationsmuster 51 3.6.1.2 Chemische Mutagene 53 3.6.1.3 Physikalische Prozesse 54

    3.6.2 Postmortale Degradierung von DNA 54 3.6.3 Die Authentizittskriterien der aDNA-Forschung 57

    3.7 Verwendete genetische Marker 59 3.7.1 Eigenschaften der mtDNA und ihre Eignung als populationsgenetischer Marker 59

    3.7.1.1 Die Struktur der mitochondrialen DNA 59 3.7.1.2 Die maternale Vererbung und das Fehlen von Rekombination 59 3.7.1.3 Homoplasmie 60 3.7.1.4 Die Mutationsrate 61 3.7.1.5 Die molekulare Uhr 62

    3.7.2 Short tandem repeats (STRs) 63

    4. Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit 65

    5. Material und Methoden 66

    5.1 Fundorte und Proben 66 5.1.1 Fundorte in Deutschland 66

  • Inhaltverzeichnis

    5.1.2 Fundorte in den Niederlanden 72 5.1.3 Fundorte in sterreich 72 5.1.4 Fundorte in Ungarn 73 5.1.5 Fundorte in Litauen 73 5.1.6 Fundorte in Polen 74 5.1.7 Fundorte in Russland 74

    5.2 Methoden 78 5.2.1 Manahmen zur Kontaminationsvermeidung 78 5.2.2 Probennahme und Probenvorbereitung 80 5.2.3 DNA-Extraktion 81

    5.2.3.1 Isolation von DNA aus Knochen und Zhnen 81 5.2.3.2 Isolation von DNA aus Mundschleimhaut 82

    5.2.4 Die Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR) 83 5.2.4.1 Das Prinzip der Polymerase-Ketten-Reaktion 83 5.2.4.2 Primerdesign 83 5.2.4.3 Amplifikation mitochondrialer DNA 84

    5.2.4.3.1 Amplifikation der Hypervariablen Region I (HVR I) 84 5.2.4.3.2 Verwendung von Uracil-N-Glykosylase 86 5.2.4.3.3 Amplifikation von Bereichen der coding region 86

    5.2.4.4 Amplifikation nuklerer DNA 87 5.2.4.4.1 Amplifikation von STRs mittels AmpFlSTR Profiler PlusTM 87 5.2.4.4.2 Amplifikation von STRs mittels Multiplex-PCR zur molekularen

    Geschlechtsbestimmung und Verwandtschaftsanalyse. 89 5.2.5 Aufreinigung der PCR-Produkte 90 5.2.6 Agarose Gelelektrophorese 91 5.2.7 Klonierung 92

    5.2.7.1 Prinzip der Klonierung 92 5.2.7.2 Protokoll der Klonierung 93

    5.2.7.2.1 Vorbereitende Schritte 93 5.2.7.2.2 Ligation und Ligationsfllung 94 5.2.7.2.3 Transformation/Elektroporation und Ausplattieren 95 5.2.7.2.4 Vervielfltigung der Klone 95

    5.2.8 DNA-Sequenzierung 97 5.2.9 Fllung von Sequenzierprodukten 98 5.2.10 Die Kapillar-Elektrophorese 98 5.2.11 Enzymverdau der PCR-Produkte der coding region 99

    5.3 Auswertung 100 5.3.1 Definition und Berechnung der post mortem Substitutionsrate 100 5.3.2 Definition und Berechung der Sttigungsrate 101 5.3.3 Definition und Berechnung deaminierender hot spot- bzw. cold spot-Positionen 102 5.3.4 Netzwerke 103 5.3.5 Populationsgenetische Simulation mit dem Programm Simcoal 2.0 104

    5.4 Authentifizierung 106

    6. Ergebnisse 113

    6.1 Probenerhaltung und Amplifikationserfolg 113 6.1.1 Amplifikationserfolg 113 6.1.2 Kontamination der Kontrollen 116 6.1.3 Untersuchungen zur Diagenese mittels SAXS-Analyse 118

    6.2 Untersuchte genetische Marker 119 6.2.1 Mitochondriale DNA 119

    6.2.1.1 Hypervariable Region I (HVR I) 119 6.2.1.2 Amplifikation und RFLP-Analyse von Abschnitten der coding region 121 6.2.1.3 Amplifikation langer PCR-Produkte 122

    6.2.2 Nuklere DNA 123

  • Inhaltverzeichnis

    6.2.2.1 Short tandem repeat (STR) Genotypisierung mittels AmpFlSTR Profiler Plus 123 6.2.2.2 Short tandem repeat (STR) Genotypisierung mittels Anthrofiler 2004 127 6.2.2.3 Vergleich zwischen morphologischer und genetischer Geschlechtsbestimmung 129

    6.3 Quantifizierung und Charakterisierung der postmortalen Sequenzvernderungen 130 6.3.1 Allgemeine post mortem Substitutionsrate 130 6.3.2 Sttigungsrate 132 6.3.3 Charakterisierung und Verteilung postmortaler Sequenzvernderungen 134

    6.4 Vergleichende Analysen der Haplogruppenverteilung 139

    6.5 Netzwerke 143

    6.6 Populationsgenetische Simulation mit Hilfe des Programmes Simcoal 2.0 148

    7. Diskussion 149

    7.1. Methodendiskussion 149 7.1.1 Amplifikationserfolg 149 7.1.2 SAXS-Analyse 150 7.1.3 Verwendung von UNG 151 7.1.4 Kontaminationen, Kontaminationsraten und Kontaminationsvermeidung 153 7.1.5 Amplifikation langer mtDNA Fragmente und nuklerer DNA (ncDNA) 155 7.1.6 Reproduktionsstrategien zur Validierung und Authentifizierung 157 7.1.7 Zur post mortem Substitutionsrate und Sttigungsrate 158 7.1.8 Charakterisierung und Verteilung postmortaler Sequenzvernderungen 160

    7.2 Die Authentizitt der Proben in der Gesamtanalyse 166

    7.3 Zur Populationsgenetik der ersten Bauern im frhen Neolithikum 181 7.3.1 Die phylogenetische und phylogeographische Auflsung der mtDNA 181 7.3.2 Die Haplogruppen der neolithischen Individuen 181

    7.4 Die Neolithisierung Europas im Spiegel der mtDNA-Haplogruppen 190 7.4.1 Die Bedeutung der Ergebnisse fr die Rezentgenetik 196 7.4.2 Die Bedeutung der Ergebnisse fr die Archologie und Anthropologie 198

    8. Zusammenfassung 200

    9. Literatur 202

    10. Anhang 230

    10.1 Zustzliche Tabellen 230

    10.2 Verwendete Puffer und Lsungen 240

    10.3 Verwendete Gerte, Chemikalien und Kits 240 10.3.1 Gerte 240 10.3.2 Chemikalien 241 10.3.3 Enzyme 242 10.3.4 Kits 242 10.3.5 Gefe, Einwegartikel und Schutzkleidung 243

    10.4 Abkrzungsverzeichnis 244

    10.5 Alignments der Sequenzen der neolithischen Individuen 245

  • Einleitung

    1

    1. Einleitung

    Die Jungsteinzeit stellt eine der bedeutendsten Epochen der Menschheitsgeschichte dar. Besonders in Eurasien ist dieser Zeitraum vom bergang der aneignenden zur produzierenden Lebensweise, der so genannten Neolithischen Transition, geprgt. Der Beginn der buerlichen Lebensweise im eurasischen Raum erfolgte vor ca. 12 000 Jahren in der Region des so genannten Fruchtbaren Halbmonds im Nahen Osten, eines zu damaliger Zeit naturrumlich begnstigten Gebiets. Von dort aus verbreitete sich die neue Lebensweise in den nachfolgenden Jahrtausenden in die umliegenden Regionen und gelangte schlielich auf verschiedenen Wegen in das nacheiszeitliche Europa. Die archologische Forschung ber die Neolithisierung Mitteleuropas beschftigt sich seit langer Zeit mit der Fragestellung, ob der Wandel, welcher in den materiellen Hinterlassenschaften dokumentiert ist, auch einen Bevlkerungswechsel widerspiegelt. Erfolgte die Verbreitung der neolithischen Lebensweise im Sinne einer wie auch immer gearteten Kolonisierung der Nutzflchen durch die ersten Bauern oder wurde die Idee zu Ackerbau- und Viehhaltung von ursprnglich jagenden und sammelnden Gesellschaften nach und nach bernommen? Die Untersuchung der genaueren Umstnde dieser so bemerkenswerten Umstellung der Lebensweise, deren Bedeutung in der Beschreibung Neolithische Revolution (Childe 1957) Ausdruck finden sollte, ist seit jeher ein Forschungsschwerpunkt sowohl in der Vor- und Frhgeschichte, der Anthropologie als auch zunehmend in der Genetik. In den vergangenen Jahrzehnten wurde vermehrt mit Hilfe molekulargenetischer Methoden versucht, den populationsgenetischen Hintergrund der Neolithischen Transition aus der heutigen Datenlage zu rekonstruieren. Hierbei stellt die enorme populationsgenetische Dynamik des eurasischen und vornehmlich europischen Raumes, welche auch geschichtlich belegt ist, ein groes Problem dar, da hierdurch der Blick in die Vergangenheit in nicht unerheblichem Mae verschleiert wird. Die Analyse alter DNA (aDNA) bietet sich als ideale Methode an, sich mit den zentralen Fragestellungen der Neolithisierung Europas zu beschftigen. Sie ermglicht die direkte Analyse neolithischen Probenmaterials und damit eine Art molekulargenetischer Zeitreise, die sich den tatschlichen neolithischen Verhltnissen zuwendet. Mit Hilfe der aDNA-Analysen knnen nicht nur die populationsgenetischen Fragestellungen bezglich der Dynamik menschlicher Besiedlungsprozesse erforscht, sondern auch die Prozesse der Domestikation und Verbreitung von ersten Haustieren und Nutzpflanzen genauer beleuchtet werden. Der Ansatz mittels aDNA-Analysen bestehende Fragestellungen der Neolithikumsforschung zu beantworten, wurde erstmalig mit dem Projekt Die ersten Bauern in Europa und der Ursprung der Rinder- und Milchwirtschaft. Biomolekulare Archometrie des Neolithikums (gefrdert vom Bundesministerium fr Bildung und Forschung, Frderkennzeichen 03BUX1MZ) verfolgt.

  • Einleitung

    2

    In der vorliegenden Dissertation werden neolithische menschliche Skelettproben vornehmlich aus Mitteleuropa mit molekulargenetischen Methoden untersucht. Ein Vergleich mit rezenten populationsgenetischen Daten soll die Bevlkerungsdynamiken in Europa vor, whrend und nach dem bergang zur buerlichen Lebensweise ermitteln und deren Einflsse sowie Auswirkungen auf die heutige Bevlkerungsstruktur beschreiben. Die groe Bedeutung der verbindenden Fragestellung macht im vorliegenden Projekt eine interdisziplinre Herangehensweise an das Thema erforderlich. Der fcherbergreifende Ansatz verknpft insbesondere Disziplinen wie die Vor- und Frhgeschichte, biologische Anthropologie, Molekular- und Populationsgenetik.

  • Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

    3

    2. Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

    2.2 Modelle zur Neolithisierung Europas Der Schritt von einer aneignenden Jger- und Sammlergesellschaft im Epipalolithikum bzw. Mesolithikum zur Sesshaftigkeit und Agrikultur im Neolithikum ist ein sehr entscheidendes Ereignis der Menschheitsgeschichte. Nach dem Ende der letzten Eiszeit vollzog sich in weiten Teilen Europas dieser als Neolithische Revolution bekannte Prozess, welcher letztendlich zur Herausbildung und Prgung unserer heutigen Gesellschaften mit allen sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen gefhrt hat. Zunchst jedoch stand bei der Epochenbeschreibung und Begriffsbildung zum Neolithikum dieser Schritt gar nicht im Vordergrund. Vielmehr wurde versucht, dem Auftauchen von neuen Steinwerkzeugformen im archologischen Fundgut gerecht zu werden. Der jngste Abschnitt der Steinzeit wurde demzufolge nach dem Neuauftreten von geschliffenem Felsgestein benannt (neo, gr. Neu, lithos, gr. Stein). Erst nach und nach wurde der Prozess der Neolithisierung, wie wir ihn heute kennen, mit Ackerbau und Viehzucht unabdingbar verbunden, so dass dieser heute im Vordergrund steht. Vere Gordon Childe (1957) prgte den Begriff Neolithische Revolution und wollte damit den immensen kulturellen Schritt betonen, den er im bergang von der aneignenden zur produzierenden Wirtschaftsweise erkannte und welchen er im Vergleich mit der Industriellen Revolution besttigt sah. Ackerbau und Viehzucht sind die wesentlichen kulturellen Neuerungen der so genannten Neolithischen Revolution, die auch in genetischer Sicht zu einer Reihe von fr den Menschen und seine Umwelt bedeutenden Effekten gefhrt hat. In Folge von Ackerbau und Viehzucht und den damit verbundenen zivilisatorischen Erscheinungen, wie dauerhafte Sesshaftigkeit, Lager- und Viehhaltung und Entwicklung komplexer sozialer Verbnde (bis hin zu den frhen stdtischen Hochkulturen) wuchs die menschliche Bevlkerung im Vergleich zum Ende der Eiszeit bis heute auf ein mittlerweile Tausendfaches an. Durch den kontinuierlichen Eingriff des Menschen in die Selektion von wilden Tieren und Pflanzen entstanden domestizierte Formen, die in vielen Fllen die ursprnglichen Wildformen verdrngten und berlebten. Eines von mehreren Zentren des bergangs von Jgern und Sammlern zu Ackerbauern und Viehzchtern ist der so genannte Fruchtbare Halbmond, ein Gebiet, das sich von der sdlichen Levante, Jordanien und Palstina, dem Verlauf des Taurus und Zagros Gebirges folgend, durch Sdost-Anatolien, Syrien und Irak bis fast zum Persischen Golf erstreckt. Hier sollen nach archologischen Vorstellungen Weizen und Gerste kultiviert und die Domestikation von Ziege, Schaf, Schwein und Rind zum ersten Mal stattgefunden haben. Die Anzeichen von Domestikation und Landwirtschaft in archologischen Fundzusammenhngen finden sich dort im 9. Jahrtausend v. Chr. und sollen danach schrittweise und teilweise stark zeitversetzt in andere Regionen der Erde verbreitet worden sein. In einigen Gebieten wie z.B. dem Nordwesten Russlands, dem stlichen Baltikum und

  • Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

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    nrdlicheren Skandinavien setzt die buerliche Lebensweise erst zur Eisenzeit ein (Zvelebil 1998; 2002, Zvelebil & Lillie 2000, Antanaitis 1999). Somit kann der Prozess der Neolithisierung - in einem kontinentalen Kontext betrachtet als lang andauernd betrachtet werden. Birgt bereits die Transition im Vorderen Orient eine betrchtliche Anzahl an zu klrenden Fragen hinsichtlich des berganges selbst und seiner Faktoren bzw. Grnde, so ist vor allen das vollstndige Erfassen und Verstehen des Wie der Verbreitung der Idee Ackerbau und Viehzucht in und ber Europa ein greres Unterfangen. Selbst bezglich der Neolithisierung des mitteleuropischen Raumes existieren zahlreiche Erklrungsmodelle. Die Divergenz der Hypothesen ist grtenteils bedingt durch die zeitweilig subjektiv gefhrte Interpretation der Datenlage. So spielen bei Fragestellungen wie dieser - mit ca. 100-jhriger Forschungstradition - immer Moden und zeitgeistliche Einflsse eine Rolle, sowie regional dominierende Schulen und fast dogmenhafte Lehrmeinungen, welche kaum mehr hinterfragt werden. Sogar die politische Gesinnung der Verfechter der einzelnen Hypothesen kann im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte sichtbar gemacht werden (ein detaillierter berblick hierzu findet sich in Scharl 2004). Als Tatsache bleibt bestehen, dass es (auch forschungsgeschichtlich bedingt) kaum zusammenfassende oder ganzheitliche Erklrungsanstze zur Neolithisierung Europas gibt. Von Seiten der Archologie bestehen bezglich der Art und Weise der Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht nach und in Europa drei grundlegende Erklrungsmodelle (vgl. Kap. 3.1):

    1. Der traditionellen Meinung nach basiert der Prozess der Neolithisierung Europas auf der Einwanderung von neolithischen Bauern nach Europa (Childe 1957, Piggott 1965, Clark 1965). Demnach besiedelten neolithischen Bauern aus dem Nahen Osten geeignete Gebiete in Europa und fhrten die buerliche Lebensweise ein. Als zugrunde liegender Motor dieses Prozesses wurde ein rasches Bevlkerungswachstum angesehen, welches der frhbuerlichen Gesellschaften zugesprochen wurde und somit die Verdrngung der einheimischen Bevlkerung beinhaltete und erklrte.

    2. Ein zweites Erklrungsmodell benennt die gegenteilige Situation (Dennell 1983, Barker 1985, Whittle 1996, Kind 1998), in welcher der bergang zu Ackerbau und Viehzucht in erster Linie durch Ideentransfer in kulturellen Kontaktzonen erklrt wird. Einer Einwanderung von Trgern der neolithischen Kultur wird keine ausschlaggebende Rolle beigemessen bzw. gnzlich ausgeschlossen.

    3. Der dritte Erklrungsansatz stellt eine Synthese der beiden oben genannten Modelle dar. Dies bedeutet, dass beide Szenarien eine Rolle spielten, jedoch zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Regionen einen variierenden Beitrag zur Neolithischen Transition leisteten (Zvelebil 1989, 2002; Chapman 1994; Thorpe 1996; Zilho 1997).

  • Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

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    Dass die Neolithische Transition in Europa, wie auch berall in der Welt, einen komplexen und vielschichtigen Entwicklungsprozess darstellt, der sich nicht auf wenige Faktoren vereinfachen lsst, ist unumstritten. Da die archologische Erfassung meist kleinrumig erfolgt und dabei bereits im archologischen Material ersichtlichen Verbreitungsgebieten von Fundkomplexen folgt, die als kulturelle Einheiten zusammengefasst werden (Price 2000), ist es nicht verwunderlich, dass fr die unterschiedlichen Regionen verschiedene Hypothesen zur Neolithisierung existieren. Diese sind in mehreren nachfolgenden Modellen zusammengefasst (Zvelebil 2000; Zvelebil & Lillie 2000):

    Folk migration (Anthony 1990; Anthony & Brown 1991):

    Direkter Zug einer Bevlkerung zu einem definierten Gebiet.

    Demic diffusion (Ammerman & Cavalli-Sforza 1984; Renfrew 1987, vgl. Kap. 3.1.2):

    Sukzessive ungerichtete Besiedlung einer Region durch nachfolgende Generationen.

    Elite dominance (Renfrew 1987):

    Unterwanderung eines Gebiets durch eine Minderheit, die jedoch die autochthone Bevlkerung sozial und kulturell dominiert und ggf. kontrolliert.

    Infiltration (Neustupny 1982):

    Graduelle Unterwanderung eines Gebiets durch kleine spezialisierte Gruppen, die spezifische konomische und gesellschaftliche Nischen besetzen.

    Leap frog colonization (Zilho 1993; Andel & Runnels 1995):

    Selektive Kolonisierung durch kleine Bevlkerungsgruppen, die gezielt bestimmte, naturrumlich optimale Gebiete (z.B. Lbden) aufsuchen und somit Enklaven oder Kolonien innerhalb der autochthonen Bevlkerung bilden.

    Individual frontier mobility (Zvelebil 1995; 1996):

    Kleinrumige wirtschaftliche Kontakte und etablierte soziale Beziehungsstrukturen zwischen Bauern und Jger/Sammlern und den Kontaktzonen mit Transfer in beiden Richtungen.

    Contact:

    Wirtschaftliche Kontakte entlang und durch Handelsrouten, die als Kommunikationskanle dienen und innovative Technologien rasch verbreiten ohne sich verlagernd auf die Bevlkerungsstruktur auszuwirken.

    Streng genommen lassen sich aus archologischer Sicht keine Beweise fr eine Einwanderungswelle greren Ausmaes bzw. Wanderungsbewegungen, die einen Groteil des Kontinents betreffen, darlegen (Thomas 1996, Zvelebil 1989). Allerdings finden sich im archologischen Fundgut Beweise und Assoziationen fr die Einfhrung von Ackerbau & Viehzucht an bestimmten Zeitpunkten, die innerhalb Europas einen deutlich erkennbaren chronologischen Gradienten von Sdwest- nach Nordosteuropa aufweisen (Clark 1965, Ammerman & Cavalli-Sforza 1984, Pinhasi et al. 2000). Ein groes Problem stellt die Tatsache

  • Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

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    dar, dass sich Migration als Prozess nicht im archologischen Material ablesen lsst (Renfrew 1987). Daher ist grundstzlich die Deutung von verwandtem Fundgut ber grere Distanzen als Resultat von Handelsbeziehungen oder aber von Migration kritisch zu sehen. Prinzipiell ist in den berwiegenden Teilen Europas eine kulturelle Kontinuitt im Fundkomplex der meso-neolithischen Transition festzustellen, der einen abrupten Wechsel der Lebens- und Wirtschaftweise und einen damit assoziierten Bevlkerungswechsel unwahrscheinlich macht (Bogucki 1988, Zvelebil 1998; 2002, Price 2000). Zvelebil sieht jedoch in Mittel- und Sdosteuropa Beweise fr einen Abbruch der mesolithischen Tradition und ein abruptes Einsetzen einer neuen neolithischen Sachkultur, das er sich nur mit einer der denkbaren Formen der Kolonisierung erklren kann. Das scheinbar bergangslose und schnelle Einsetzen der buerlichen Lebensweise in Sdost- und nachfolgend in Mitteleuropa wirft Fragen auf, fr die in der Archologie nur eine Kolonisierung jedweder Art als Erklrung herangezogen wird.

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    2.3 Das frhe Neolithikum in Mitteleuropa Derzeit besteht in der Archologie neben dem allgemein akzeptierten Ursprung im Nahen Osten auch der Konsens ber mindestens zwei Verbreitungswege der Landwirtschaft nach Europa. Zum einen wird der mediterrane Weg in Richtung Westen entlang der Mittelmeerkste postuliert. Diese Route beinhaltet sowohl die Mittelmeerinseln als auch Nordafrika. Parallel hierzu sind der binneneuropische Landweg (Lning 2000) ber den Balkan und dessen Tiefebenen von besonderer Bedeutung. Dieser hypothetische Verbreitungsweg wird dadurch gesttzt, dass die frhneolithische mitteleuropische Kultur, die Linearbandkeramik (LBK), aufgrund vergleichbarer keramischer Besonderheiten in der Tradition der frhen sdosteuropischen bzw. balkanischen archologischen Kulturen Star4evo und Krs (benannt nach den jeweils ersten charakteristischen Fundsttten in Star4evo in Serbien/Montenegro bzw. entlang des Flusses Krs in Ungarn) zu stehen scheint (Abbildung 1 und Abbildung 2). Gem traditioneller - und hier in erster Linie - osteuropischer archologischer Forschungsmeinung wird angenommen, dass Ackerbau und Viehzucht als Paket neolithischer Prgung vom Nahen Osten ber den Balkan nach Mitteleuropa gelangt seien, wobei die Ausbreitung bis ins Karpatenbecken und die ungarische Tiefebene schnell erfolgte, dort aber aufgrund des Erreichens der Nordgrenze der mediterranen Klimazone zunchst stagnierte. In dem darauf folgenden Zeitraum von ca. 500 Jahren erfolgte nach Meinung ungarischer Archologen die Anpassung der Wirtschaftsweise an das mitteleuropische Klima, welche gleichermaen die Initialzndung fr die Verbreitung der bandkeramischen Kultur darstellte (Kalicz & Makkay 1977, Gronenborn 1999, Scharl 2004). In den nachfolgenden Kapiteln wird auf die archologischen Kulturen, die fr die Inlandsroute der Neolithischen Transition eine bedeutende Rolle spielten und mit welchen die Mehrzahl der untersuchten neolithischen Skelettindividuen der vorliegenden Arbeit assoziiert sind, eingehender dargestellt.

  • Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

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    Abbildung 1. Die Verbreitung frhbuerlicher Kulturen und die mglichen Verbreitungswege der Landwirtschaft in Europa und im Nahen Osten (nach Gronenborn 2005). Die postglaziale Entwicklung des Klimas ist anhand des variierenden Sauerstoffisotopenverhltnisses (W18O) des grnlndischen GRIP-Eisbohrkerns dargestellt.

  • Grundlagen zur Archologie der Neolithisierung

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    2.3.1 Der Star0evo-Krs-Cri3-Komplex Auf die Beziehung der frhen mitteleuropischen LBK zu sdosteuropischen Kulturen wurde bereits hingewiesen. Einflsse aus dem transdanubischen Raum wurden 1960 von Quitta anhand von charakteristischen Gefformen bzw. -stilen beschrieben. Das frhe Neolithikum in Sdosteuropa war im Wesentlichen durch den archologischen Fundkomplex Star4evo-Krs-Cri8 charakterisiert. Dieser umfasste die regionale frhneolithische Star4evo-Kultur, die in Sdwestungarn und Serbien verbreitet war, die Krs-Kultur, die in Ostungarn lokalisiert war und deren rumnisches Pendant, die Cri8-Kultur (Gronenborn 1999, Scharl 2004). Die Beziehungen der einzelnen Kulturen untereinander sowie deren chronologische Entstehung ist noch unklar, es lsst sich jedoch konstatieren, dass sie alle als regionale Entwicklung der Protostar4evo-Stufe gelten, welche hauptschlich in der Stufe A durch Keramikfunde (Weie Verzierungen auf rotem Grund bzw. rot-monochromer Keramik) charakterisiert ist. Diese ist vor 6000 v. Chr. noch berregional einheitlich und verkrpert die Nord-Sd-gerichtete, erste Neolithisierungswelle. Nach 6000 v. Chr. setzte eine Differenzierung des Keramik-Stils ein, die in der Ausprgung des Star4evo-Krs-Cri8-Komplex mndete, so dass sich diese drei regionalen Entwicklungen heute typologisch unterscheiden lassen (Abbildung 2).

    Abbildung 2. Entstehung und Verbreitung der frhneolithischen Kulturen im Karpatenbecken und angrenzenden Gebieten (modifiziert nach Gronenborn 1999).

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    Auch fr das Karpatenbecken stellt sich die grundstzliche Frage, ob sich die neue Wirtschaftweise durch Migration oder durch Prozesse der Akkulturation durchsetzen konnte. Fr das Gebiet Sdosteuropa ist, abgesehen von einigen prkeramischen Funden in Griechenland, das prkeramische Neolithikum nicht nachgewiesen. Demnach stellt die neolithische Wirtschaftsweise fr den Raum des Karpatenbeckens eine unbekannte Erneuerung. Leider liegen fr selbiges Gebiet nur sehr wenige mesolithische Befunde vor, so dass ber die Transition nur gemutmat werden kann. Somit kann erst mit dem Auftreten des Star4evo-Krs-Cri8-Komplexes Ackerbau und Viehzucht auch fr den transdanubischen Raum angenommen werden (Preu 1998, Pavk 1994). Es wird allgemein angenommen, dass die Durchsetzung der landwirtschaftlichen Lebensweise im frhen Neolithikum durch die geografische Lage im Karpatenbecken unter kologischen Gesichtpunkten unter klimatisch gnstigen Einflssen stand, da sie zeitlich in ein Klimaoptimum des Atlantikums fiel (Preuss 1998). Als Wirtschaftsgrundlage wurde sowohl die Haltung von Schafen, Ziegen, Rindern und Schweinen als auch die Kultivierung von Emmer, Einkorn, Weizen sowie Linsen und Erbsen nachgewiesen (Kalicz 1990), wobei der Schwerpunkt auf der Viehzucht lag. Es muss dabei betont werden, dass in beiden Gebieten auch die Jagd als Ergnzungsfaktor noch nicht in den Hintergrund getreten war. Neben der Keramik konnten auch in den Subsistenzmustern Unterschiede zwischen der Star4evo- und der Krs-Kultur nachgewiesen werden, die sich auf die unterschiedlichen Naturrume zurckfhren lieen. So berwogen in der ungarischen Tiefebene, die von zahlreichen Seen, Fluss- und Bachlufen geprgt ist, noch der Fischfang die Jagd auf Wild, whrend in der Star4evo-Kultur, die in hgeligem Gebiet lokalisiert ist, Viehzucht und Feldbau vorherrschend waren (Bknyi 1989). Weitere Unterschiede zwischen den beiden Kulturen fanden sich bei den Siedlungen bzw. im Siedlungswesen. In der Krs-Kultur konnten oft nur kurze Belegzeiten der Siedlungen nachgewiesen werden, die auf hufige Siedlungsverlegungen bzw. eine nur temporre Sesshaftigkeit hinwiesen, wohingegen bei (allerdings wenigen) Star4evo-Siedlungspltzen mehrere Schichten zu finden waren, die auf eine Siedlungskontinuitt hindeuteten (Preuss 1998, Gronenborn 1999). Dagegen war im Verbreitungsgebiet der Krs-Kultur eine wesentlich hhere Siedlungsdichte feststellbar. Dieser Umstand lie sich durch die gnstigen kologischen Verhltnisse des Flachlandes erklren. Im Vergleich mit den greren Gebieten Star4evo- und Cri8-Kulturen waren im kleineren Gebiet der Krs-Kultur mit leicht zu bearbeitenden Ackerflchen und einem dichten Wassernetz mehrere Faktoren vereint, die die nachhaltige Etablierung und Weiterentwicklung der neolithischen Lebensweise begnstigten. Zum einen bot die wasserreiche Ebene ein groes Angebot an Wild und Fisch, ermglichte eine effiziente Viehhaltung (vor allem im Hinblick auf die Rinderwirtschaft) und bot optimale Bedingungen fr den Pflanzenbau. Mglicherweise kann aus diesen Grnden besonders der in der Phase der regionalen Differenzierung prosperierenden Krs-Kultur im Rahmen des umfassenden Star4evo-Krs-Cri8-Komplexes eine besondere Rolle zugeordnet werden, die hinsichtlich der weiteren Neolithisierung des geografisch sowie zeitlich angrenzenden westlichen Bereichs der Linearbandkeramik als auslsendes Element bezeichnet werden kann.

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    2.3.2 Die Linearbandkeramik (LBK) Die Einfhrung der Landwirtschaft in Mitteleuropa ist mit der bandkeramischen Kultur zu verbinden. Diese Kulturstufe wurde nach ihrer typischen, mit linearen Bndern verzierten Keramikgefe benannt (Klopffleisch 1884) und wird daher in der Literatur meist als Linearbandkeramik oder auch Linienbandkeramik (engl. Linear Pottery Culture) bezeichnet. Die charakteristische Keramik zeigt als Grundmotive lineare Muster aus Spiralen, Wellenbndern, Mandern und Winkelbndern, welche teilweise durch Schnittstiche ergnzt sein knnen. Als Gefformen sind einfache Kalottenschale, kugeliger Topf und bauchige Flasche mit Trichterhals bekannt. Bedeutend ist hierbei weniger die Keramik selbst, als ihre groflchige Verbreitung. Fundmaterial aus dem gesamten Mitteleuropa unterstreicht die grorumige Reichweite und den bedeutenden Stellenwert dieser Kultur zur Zeit ihrer grten Ausdehnung, welche 5500 v. Chr. in Kerngebieten begann (Transdanubien) und sich bis 5000 v. Chr. vom Pariser Becken bis in die Donauebene erstreckte (Zimmermann 2002a; 2000b, Gronenborn 1999, Lning 2000, Scharl 2004). Die Tatsache, dass in einem so groen Verbreitungsraum hnliche Keramik vorherrscht, fhrte dazu, dass man von einer kulturellen Einheit ausging und somit die Trger der Kultur, also die Hersteller und Nutzer der Keramik, als Bandkeramiker bezeichnete (Klopffleisch 1884, zitiert in Gronenborn 2005). Im zeitlichen Verlauf der Kulturstufe bildeten sich regionale Differenzierungen, sogenannte Lokalstile heraus, die teilweise sehr stark sind, ohne die berregionale Vergleichbarkeit zu verlieren. Hierbei lassen sich zwei Tendenzen feststellen: zum einen das Herausheben der Bandmuster durch unterschiedliche Fllformen und zum anderen die Zunahme der Stich- gegenber der Ritzverzierungen (Sangmeister 1983). Die unverzierte, grbere Keramik zeigt ebenfalls berregionale hnlichkeit. Hervorzuheben sind hier als Vorrats-, oder Kochtpfe gedeutete Gefe, die vermutlich an Schnren aufgehngt wurden. Die Zahl und Anordnung dieser sen (Dreizahl) ist fr die Bandkeramik charakteristisch und findet sich nicht in vergleichbaren frh- bzw. mittelneolithischen Keramikgattungen, wo eine Vierzahl blich ist. Das bereits erwhnte begriffsdefinierende Element des Neolithikums, das geschliffene Felsgestein, besitzt in der Linearbandkeramik einen charakteristischen Vertreter. Der so genannte Schuhleistenkeil, ein asymmetrisches Steinbeil, das aller Voraussicht nach in variierenden Formaten zur spezialisierten Holzbearbeitung diente, konnte bislang bei keiner lteren neolithischen Kultur gefunden werden. Der Fundbestand an Felsgesteingerten wird durch Gegenstnde wie Mahlsteine, Reiber und Schleifplatten erweitert. Zwar besitzen diese keine fr die Linearbandkeramik besondere Form oder Verzierung als Unterscheidungsmerkmale von anderen Kulturen, jedoch sind hier besonders die Mahlsteine als Anzeiger fr eine buerliche Lebensweise der Bandkeramiker herauszustellen. Ein weiterer Indikator fr eine produzierende Wirtschaftsweise findet sich in den Feuersteingerten. Hier fllt auf, dass sich im Vergleich zum gut dokumentierten (weil hier fast als einziges erhaltenen) Silexgerteinventar der frheren bzw. zeitgleichen Jger/Sammler-Kulturen lediglich einfache, wenig bearbeitete Klingen finden, die sich nicht weiter typisieren lassen. Auffllig an diesen Klingen ist eine bestimmte glnzende Oberflche. Die Klingen fanden daher wohl Anwendung in sogenannten Kompositsicheln, also Sicheln aus Holz oder Knochen, die mit Feuersteinklingen versehen wurden. Die

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    Ursache des Oberflchenglanzes konnte in Experimenten besttigt werden, wobei eine Oberflchennderung des Silex beobachtet wurde, die bei Bearbeitung starker siliziumhaltiger Grser entsteht. Zweifellos lassen sich hierbei in Anwesenheit von Mahlsteinen Hinweise auf Getreidebau erkennen. Sollten diese Klingen jedoch nur zum Schnitt von Schilf als Dachdeckmaterial gedient haben, so kann zumindest von einer fortgeschrittenen Sesshaftwerdung im Zuge des Hausbaus gesprochen werden (Sangmeister 1983). Besonders Hausbau und Siedlungswesen sind in der Bandkeramik sehr gut untersucht, wobei auch hier eher integrierende Gesamtmerkmale festgehalten werden knnen, als regional begrenzte Merkmalskomplexe. Bereits 1934 wurden von W. Buttler die Grundrisse von Rechteckhusern gefunden (zitiert nach Sangmeister 1983), heute sind aus allen Bereichen des bandkeramischen Verbreitungsgebietes vergleichbare Hausgrundrisse bekannt. Der Grundtyp des Hauses war ein groer Bau von ca. 8m Breite und 30m Lnge, wobei die Dimensionen variierten, die Proportionen jedoch immer gleich blieben. Das Dach wurde von drei Stnderreihen getragen, die Wnde bestanden aus locker gestellten dnneren Pfosten, die vermutlich nicht tragend waren. Die Ausrichtung erfolgte immer nach Nordwesten, wo auch die Wnde und ein Viertel der Lngsseiten durch Spaltbohlen oder dichter gesetzte Pfosten verstrkt waren. Brandreste des Lehmbewurfs konnten den Unterbau aus Ruten und Flechtwerk besttigen. Neben den Grobauten sind wenige kleinere Bauten belegt, deren Nutzung unklar ist. Zahlreiche Gruben unterschiedlicher Tiefe sind auf Siedlungsflchen neben und zwischen den Husern vorhanden. Teilweise sind diese auf den Wandverputz an Ort und Stelle zurckzufhren, in anderen regelmiger geformten Gruben wiederum scheinen gewisse Ttigkeiten (z.B. eine Silex-Werksttte in Arnsbach, Nordhessen, Sangmeister 1983) durchgefhrt worden zu sein. Im Gegensatz zur Anzahl gefundener Siedlungen ist die Anzahl gefundener Grber bzw. Grberfelder berraschend gering. Zudem findet sich unter diesen ein groer berhang an frhbandkeramischen Grbern, wohingegen Grber mit sptbandkeramischen Beigaben im Lokalstil bislang eher selten sind. Die Bestattung erfolgte in Hockerlage und als Beigaben finden sich die charakteristischen bandkeramischen Gegenstnde, hier vor allem Schuhleistenkeile. Keramik tritt weniger hufig auf als in spteren Epochen, wobei eine bevorzugte Gefform nicht festzustellen ist. Auffllig in Grbern ist die Beigabe von Rtel und Schmuck aus Spondylusmuscheln. Eine geschlechterspezifische Beigabensitte lie sich bislang nur bedingt erkennen. Zusammenfassend lsst sich jedoch auch hier feststellen, dass sich diese Bestattungsweise und Beigabensitte als die gesamte Bandkeramik umfassendes Merkmal darstellt. Beweise fr Ackerbau als Wirtschaftsweise treten gelegentlich auch als Primrindizien in den Siedlungsgruben auf. So finden sich verkohlte Pflanzenreste, vor allem Samenkrner der Weizenarten Einkorn und Emmer, sowie mehrzeiliger Gerste. Neben den Getreidesorten, die vermutlich vermischt angebaut wurden, finden sich als weitere Nutzpflanzen Erbsen, Linsen, Lein und Mohn. Wahrscheinlich wurde das Getreide gedroschen und vor der Einlagerung gerstet (zumindest fr Bhmen knnen gebrannte Lehmplatten als Rstpltze gedeutet werden) (Sangmeister 1983).

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    Im Verhltnis zu den Indizien fr den Ackerbau sind solche fr die Viehzucht in weiten Gebieten der Linearbandkeramik eher gering. Sicher nachgewiesen ist die Haltung von Rind, Schwein, Schaf und Ziege, deren Knochen man in den Abfallgruben fand. Gemessen an der Quantitt der Haustierfunde scheint der Stellenwert der Viehzucht nicht hoch gewesen zu sein. Allerdings spielen fr diese Interpretation die generellen Erhaltungsbedingungen eine groe Rolle. Darber hinaus mssen auch besondere Schlachtgewohnheiten und Verwertungssitten in Betracht gezogen werden, welche archologisch kaum nachgewiesen werden knnen. Gleiches gilt fr den Stellenwert der Jagd. Zwar liegen hier gengend Pfeilspitzenfunde aus Grbern und Siedlungen vor, die sich jedoch in der Funddichte und Form gnzlich von der mesolithischen Tradition unterscheiden, so dass von der Jagd als bedeutendem Wirtschaftsfaktor kaum gesprochen werden kann. Die Grubenfunde von Wildtieren sind ebenfalls sehr gering. Am ehesten kann fr die frhe Linearbandkeramik daher von einer Mischwirtschaft ausgegangen werden, die mit wechselnder Intensitt Ackerbau und Viehzucht betrieb und Jagd bzw. Fischerei als Ergnzung oder in Notzeiten erforderlich wurde. Die Vorstellung, dass in der Linearbandkeramik der Getreideanbau eine grere Bedeutung als die Viehzucht gehabt habe, wurde durch Beobachtungen von B. Sielmann (1972) gesttzt. Dieser konnte nachweisen, dass die Verteilung der Siedlungspltze vornehmlich nach der Beschaffenheit des Bodensubstrats, des Klimas und der Anbindung an das Gewssernetzes erfolgte. Die Auswahl musste nach Merkmalen der Vegetation erfolgt sein und sollte den natrlichen Anforderungen fr den Regenfeldbau entsprechen. Gleichermaen kann man davon ausgehen, dass besagte Siedlungskammern bzw. Landschaften auch fr die Viehzucht sehr geeignet schienen. Die Gesamtsicht der bandkeramischen Befunde lsst ein buerliches Wirtschaftsystem erkennen, welches bereits sowohl im Siedlungswesen als auch in der Regionen bergreifenden Gesellschaftsstruktur komplexe Zge annahm. Daher verwundert es auch nicht, dass dieses funktionierende System eine rasche und groe Verbreitung erlangte. Nun stellt jedoch eben diese bereits vollstndig herausgebildete Neolithisierung der Bandkeramik die Fragen nach ihren zeitlichen und rumlichen Ursprngen auf.

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    2.4 Zur Anthropologie des Neolithikums Da die Anthropologie mit der Archologie einen gemeinsamen Forschungsursprung besitzt, wurde von Beginn versucht, die Fragestellungen, die sich aus der Meso-Neolithischen Transition ergeben, mit anthropologischen Anstzen zu lsen. Die Anthropologie des Neolithikums war zu Beginn der Forschungsarbeiten noch von der Ansicht geprgt, dass sich die archologischen Kulturen auch im Skelettmaterial der jeweiligen Kulturen morphologisch-morphognostisch wieder finden und charakterisieren lassen. Als Beispiel sei hier Schliz (1909) genannt, der konstatiert, ...dass diese bestimmten Kulturkreise wirklich getragen waren von wohlcharakterisierten Volksstmmen von bestimmtem, somatisch-anthropologischem Habitus. Diese Ansicht wurde teilweise auch noch nach den beiden Weltkriegen von einigen Anthropologen vertreten, so sah beispielsweise Gerhardt (1978) auch nach dem grundlegenden Paradigmenwechsel der Anthropologie, die Hauptaufgaben derselben in der Typologie und Typognose bzw. der Typogenese. Aus heutiger Sicht lsst sich feststellen, dass Arbeiten wie die genannten die Ideologien und dem Paradigma des damaligen Zeitgeistes entsprachen, welche sich in einigen Fllen lange gehalten haben. Weiterhin kann festgehalten werden, dass diese Arbeiten heute aufgrund ihrer oft zweifelhaften typologischen Herangehensweise nur noch von forschungsgeschichtlichem Interesse sein knnen. Ein grundstzliches Problem stellte die geringe Funddichte dar, so wurden zwar die wenigen zur Verfgung stehenden Funde methodisch penibel erfasst, die Interpretationen und Schlussfolgerungen wurden aber trotz geringer Materialbasis weit gefasst. Kritik an diesen weit reichenden Interpretationen bzw. der Zuordnung eines Typus zu einer archologischen Kultur wurde jedoch noch in derselben Publikationsreihe von W. Bernhard (1978) angefhrt. Dieser stellt in der einzigen berregionalen Aufarbeitung des damalig bekannten Materials fest, dass die Trger der Bandkeramik anthropologisch keineswegs eine homogene Bevlkerungsgruppe darstellen, sondern regional unterschiedliche morphologische Differenzierungstendenzen aufweisen (Bernhard 1978). Abgesehen von dieser Arbeit liegen fr das fr die vorliegende Arbeit interessanten Verbreitungsgebietes der Bandkeramik keine berregionalen Vergleichsarbeiten vor. Die wenigen neolithischen Funde in bestehenden anthropologischen Studien waren weitgehend auf kleinrumige bzw. regionale Materialaufnahmen beschrnkt (z.B. Bach 1978, Bach & Bach 1989). Erst in den letzten 20 Jahren konnten vermehrt Fundpltze des Neolithikums und insbesondere der Bandkeramik ergraben und dokumentiert werden, welche das bislang whrende anthropologische Bild dieser Epoche erweitern knnen. Es stehen, zumindest fr den deutschen Raum, die anthropologischen Bearbeitungen in den meisten Fllen noch aus (z.B. Schwetzingen, Vaihingen, Herxheim, Derenburg und Halberstadt) so dass zum gegenwrtigen Zeitpunkt keine aktuelleren Bearbeitungen einzelner Regionen vorliegen. Eine Ausnahme bildet eine aktuelle Studie von C. Meyer (2004, Meyer & Alt 2005), welche in einer osteometrischen Vergleichsuntersuchung das Oberrheingebiet erfasste. Als Datengrundlage wurden vier frhneolithische und drei mittelneolithische Grberfelder

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    herangezogen, wobei erstmals wieder ein vergleichender bevlkerungsbiologischer Ansatz verfolgt wurde. Als vorlufiges Ergebnis lie sich eine Bevlkerungskontinuitt vom Frh- bis ins Mittelneolithikum feststellen, wobei im Falle des oberrheinischen Fundplatzes von Jechtingen der Rssener Kultur ein statistisch signifikant unterschiedliches Variationsmuster beobachtet werden konnte: Mit der grtenteils aus Rssener Zeit stammenden Population mag hier ein neues bevlkerungsbiologisches Element erfasst sein, welches zuvor im Arbeitsgebiet nicht vertreten war (Meyer & Alt 2005). Analog zur Archologie existieren auch seitens der Anthropologie nur wenige Studien, die in einem berregionalen Ansatz mit morphologischen Methoden die Fragestellungen zur Neolithisierung Europas thematisieren. Eine aktuelle Studie von Brace und Kollegen (2006) beinhaltete die Distanzanalysen von 24 Kraniofazialmaen an einer Stichprobe von insgesamt 1282 Individuen, die sowohl moderne, bronzezeitliche, neo-, meso-, und palolithische Individuen aus Europa, dem Nahen Osten, West- und Zentralasien sowie Nordafrika umfasste. Die Ergebnisse dieser Studie konnten unter anderem zeigen, dass fr den diese Arbeit betreffenden Bereich Mitteleuropas eine grundstzliche grere hnlichkeit der neolithischen Individuen mit Neolithikern anderer Regionen besteht als mit modernen Bevlkerungsgruppen Mitteleuropas. Selbiges hnlichkeitsmuster galt auch fr alle Individuen der Bronzezeit. Dagegen konnte fr die Neolithiker und Individuen der Bronzezeit aus Sdosteuropa eine hnlichkeit mit den heute dort lebenden Bevlkerungen festgestellt werden. Nach Ansicht der Autoren untersttzten die Ergebnisse dieser osteometrischen Studie daher diejenigen Neolithisierungsmodelle, in welchen zwar eine Neolithisierung Sdosteuropas durch einwandernde Bauern erfolgt ist, die weitere (ideelle) Verbreitung des neolithic package jedoch durch eine Vermischung mit einheimischen Sammler-Jgern bzw. in einem Aufgehen in den jeweiligen autochthonen Bevlkerung der benachbarten Gebiet zu sehen ist. Pinhasi & Pluciennik verfolgten bereits 2004 einen vergleichbaren Ansatz. Als Datengrundlage diente eine Auswahl von 16 Kranial- und Mandibelmaen, sowie von zwei Zahnmaen an neo- und mesolithischen Skelettindividuen. Das Untersuchungsgebiet beschrnkte sich auf die drei Regionen (Anzahl der untersuchten Individuen in Klammern): Anatolien und die Levante (Region 1: 114), Sdosteuropa (Region 5: 79) und die Mittelmeerregion von Spanien bis Griechenland (Region 6: 38). Die Autoren kamen nach den Ergebnissen der Distanz- sowie Hauptkomponentenanalysen zu den Schlussfolgerungen, dass bereits die Stichprobe aus Region 1 eine groe Heterogenitt bezglich der Variabilitt der untersuchten Merkmale aufweist. Eine Verbindung der Stichprobe von Sdosteuropa konnten sie in der ausgeprgten Homogenitt mit Proben aus Anatolien sehen, wobei sie fr die geringere Variabilitt der Merkmale in Sdosteuropa gleichsam ein Grndereffekt und eine sehr geringe Interaktion mit autochthonen Sammler-Jger-Bevlkerungen postulierten. Dagegen fhrten sie fr den verbleibenden Mittelmeerraum eine hhere Heterogenitt an, fr die sie komplexere demographische Prozesse als eine graduelle demische Verbreitung annahmen.

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    Eine weitere berregionale, jedoch nichtmetrische, sondern palodemographische Studie wurde 2002 von Bocquet-Appel verffentlicht. Basierend auf der Annahme, dass in einer ansteigenden Populationsgre der Anteil an Kindern und Jugendlichen hoch ist, in einer schwindenden Bevlkerung dagegen klein, wurde dieser Anteil im Hinblick auf Geburten- und Wachstumsraten von 68 ausgewhlten neolithischen und wenigen mesolithischen Bestattungspltzen untersucht. Die Ergebnisse der einzelnen Fundorte wurden in chronologischer Distanz zur Front der neolithischen Diffusion nach Ammerman & Cavalli-Sforza (1984) aufgetragen (vgl. Kap. 3). Hieran konnte nach einer stationren Bevlkerungsgre im Mesolithikum mit Beginn des frhen Neolithikums eine demographische Transition im Sinne einer stark ansteigenden Bevlkerung beobachtet werden. Bocquet-Appel erklrte den hheren Anteil an Kindern und Jugendlichen mit der hheren Fertilittsrate der Neolithiker, die er letztlich unter ansonsten identischen Voraussetzungen mit der verkrzten Stilldauer der Neolithiker begrndete. Diese sah er einerseits in den Erfordernissen des intensiveren Arbeitsaufwands der buerlichen Lebensweise erzwungen und andererseits durch die Umstellung der Ernhrungsweise im Neolithikum ermglicht. Einen weder klassisch-morphologischen noch genetischen Ansatz verfolgte die Arbeitsgruppe um Douglas Price und Alexander Bentley, die mit Hilfe von Isotopenanalysen an menschlichem Skelettmaterial die regionale Mobilitt der Neolithiker in Mitteleuropa untersuchten (Price et al. 2001, Bentley et al. 2002; 2003). Hier diente vor allem das variierende Verhltnis der beiden Strontiumisotope 87Sr/86Sr als Grundlage, welches die geochemische Signatur eines Ortes widerspiegelt (Bentley et al. 2002). Strontium gelangt ber die Nahrungskette in den menschlichen Organismus, wo es anstelle von Kalzium im Hydroxylapathit des Knochen bzw. der Zhne eingebaut wird. Da sich Strontium in Zhnen (4-12 Jahre) schneller manifestiert als in Knochen (6-20 Jahre), kann bei einem Vergleich von beiden Proben eines Individuums festgestellt werden, ob sich dieses in frheren oder in spteren Jahren in einer Region mit abweichender geochemischer Strontium-Signatur aufgehalten hat. Im Vergleich mit geochemischen Kartierungen kann daher eine mgliche Herkunftsregion, zumindest aber Mobilitt fr das fragliche Individuum postuliert werden. Die Untersuchungen an linearbandkeramischen Skelettindividuen aus Flomborn, Schwetzingen und Dillingen (Bentley et al. 2002) ergab eine hohe Mobilittsrate fr die Fundorte Flomborn (64%) und Dillingen (65%), wohingegen im zeitlich leicht spteren Schwetzingen nur noch eine Mobilittsrate von 25% zu beobachten war. Als weitere Ergebnisse konnte konstatiert werden, dass a) vermehrt Frauen signifikant vom lokalen Strontiumverhltnis abwichen, b) die durch das 87Sr/86Sr-Verhltnis nicht von Geburt an als Ortsansssige definierten Individuen auch in der Orientierung ihrer Bestattung abwichen, c) vermehrt ohne LBK-charakteristischen Schuhleistenkeil bestattet wurden (Mnner) und d) 85% der nicht-lokalen Individuen signifikant ber dem Wert des lokalen Strontium-Verhltnisses lagen, d.h. sich Werten nherten, die unter gegebenen kologischen Gesichtspunkten fr Sammler/Jger errechnet wurden. Die Autoren boten auf der Grundlage dieser Ergebnisse die Hypothese an, dass es sich bei den nicht-lokalen Individuen bevorzugt um Frauen aus Sammler/Jger-Gemeinschaften in benachbarten Regionen gehandelt haben knnte und zogen dafr ethnografische Vergleiche heran (Bentley et al.

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    2002). Gleichzeitig aber zogen sie auch die Alternativhypothese in Betracht, in welchen keine Unterscheidung in mgliche Bauern und Sammler/Jger getroffen wurde, stattdessen aber die generell hohe Mobilittsrate und die deutlichen Hinweise auf eine Patrilokalitt der frhneolithischen Gesellschaft der LBK herausgehoben wurden.

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    3. Grundlagen zur Neolithisierung aus Sicht der Humangenetik und zur Analyse alter DNA

    3.1 Die Neolithisierung aus Sicht der Humangenetik 3.1.1 Forschungsgeschichtlicher Hintergrund Der Ansatz, die Geschichte Europas aus Sicht der Genetik zu erzhlen, geht grtenteils auf die Arbeiten von Luca Cavalli-Sforza und seinen Kollegen zurck. Die Pionierarbeiten, die in den 70er Jahren verffentlicht wurden, verbanden erstmalig genetische Daten mit gngigen archologischen Fragestellungen, womit gleichermaen der Grundstein fr jede weitere Zusammenarbeit von Archologen und Genetikern gelegt wurde. Mageblich fr die Geburtsstunde der Archogenetik war die Zusammenarbeit des Archologen Albert Ammerman mit Cavalli-Sforza, der, aus der Statistik kommend, in der Lage war, die Methoden quantitativer Datenanalysen auf die Fragestellungen der Archologie zu bertragen. Nicht zuletzt war diese naturwissenschaftliche Herangehensweise eine Folge der von Lewis Binford (1968) mit beeinflussten processual archaeology, deren Hypothesenbildung und nachfolgende mathematisch-statistische Prfung einerseits dem damaligen Zeitgeist entsprach, andererseits der Archologie eindeutig neue Impulse von auen gab.

    3.1.2 Das wave-of-advance-Modell von Ammerman und Cavalli-Sforza Die 1984 erschienene Arbeit The Neolithic Transition and the Genetics of Populations in Europe von Ammerman und Cavalli-Sforza ist nach wie vor die Grundlage aller Debatten um die Neolithische Transition aus Sicht der modernen Genetik. Die Autoren profitierten zunchst von der neu entwickelten Methode der Radiokarbon-Datierung (Clark 1965), indem sie auf Karten nun absolut datierter Funde, welche mit Ackerbau und Viehzucht assoziiert waren, erkennbare Ost-West Trends herausarbeiteten und somit die Geschwindigkeit der Ausbreitung der Agrikultur berechneten. Sie waren auch die ersten, die isochrone Karten entwarfen, worauf die Verbreitung der Elemente des neolithischen Kulturkomplexes entlang von Konturlinien gleichen Zeitpunkts oder so genannten Isochronen aufgetragen waren. Das Ergebnis, das sie erhielten, war ein bemerkenswert gleichfrmiger Prozess der Neolithisierung Gesamteuropas, welcher mit ebenfalls kontinuierlicher Geschwindigkeit (1km pro Jahr bzw. 25km pro Generation) in relativ schneller Zeit (innerhalb 2500 Jahren) vonstatten ging. Diese Entdeckung einer konstanten Neolithisierungsrate fhrte zur Schlussfolgerung, dass nur ein singulrer und bergreifender Mechanismus die Ursache sein konnte. Die Autoren fhrten hierfr einen Diffusionsprozess an, der dem herkmmlichen Gedanken einer gerichteten Kolonisierung gegenberstand. Gleichzeitig definierten sie die Begriffe demic diffusion, um die Einwanderung von Bauern von der cultural diffusion, der Verbreitung des neolithischen buerlichen Ideenguts auf die indigene europische Jger/Sammlergesellschaften zu unterscheiden. Der Begriff der demischen Diffusion wurde

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    hufig dem gebruchlichen Bild der Einwanderung und Kolonisierung gleichgesetzt. Cavalli-Sforza und Ammerman hatten jedoch nicht dieses Bild im Sinne, sondern schlugen gleichzeitig das sogenannte wave-of-advance-Modell vor. Dieses Modell hatte Cavalli-Sforza seinem Mentor R.A. Fisher entlehnt, der damit die Ausbreitung eines vorteilhaften Gens durch eine Population umschrieb (Sykes 2000). Es beinhaltete die beiden Annahmen, dass sich erstens der Anteil der bevorteilten Trger des Gens erhht und zweitens in zuflliger Richtung ausbreitet. bertragen auf die neolithische Transition bedeutete dies zum einen ein natrliches Anwachsen der neolithischen Bevlkerung, welches durch erwirtschafteten berschuss ermglicht und begrndet ist. Zum anderen implizierte diese Annahme die Fhigkeit, den berschuss erneut einzusetzen, was wiederum eine damit einhergehende radiale Verbreitungswelle bedingte, innerhalb der sich die neolithische Kultur mit ihren Trgern verbreitete.

    3.1.3 Der Einsatz von klassischen genetischen Markern Das wave-of-advance-Modell schien geeignet zu sein, um die anhand der Radiocarbon-Daten beobachteten Verbreitungsgeschwindigkeit zu erklren. Der entscheidende Schritt zur Archogenetik wurde nun durch den Einsatz von Daten der klassischen genetischen Marker erbracht. Als klassische genetische Marker werden heute die Systeme all jener Gene bezeichnet, deren Nachweis und Vererbungsmuster, sowie deren Allelfrequenzen auch schon in der pr-DNA ra der Genetik untersucht wurden. Dies umfasste hauptschlich Antigen-Antikrper Reaktionen zahlreicher Blutgruppensysteme, welche teilweise bereits seit 70 Jahren bekannt waren (Landsteiner 1900), die Gewebsantigene des HLA-Systems und eine Reihe von Enzymen. Der Einsatz von klassischen Markern setzte zunchst einige Hypothesen voraus, die zur nachfolgenden Modellbildung bezglich der demischen bzw. kulturellen Diffusion unerlsslich waren und welche, so sollte sich herausstellen, gleichermaen der Schwachpunkt des wave-of-advance-Modells waren. Unter der Annahme, dass Europa und der Nahe Osten im ausgehenden Palolithikum und Mesolithikum weitgehend isoliert waren und somit theoretisch Gelegenheit zur genetischen Differenzierung gegeben war, konnten verschiedene Vorhersagen generiert und somit Hypothesen zum Wie der Ausbreitung von Ackerbau und Viehzucht erstellt werden.

    1. Ein reine Verbreitung von Ackerbau und Viehzucht im Sinne eines Ideentransfers (cultural diffusion) wrde die angenommene genetische Unterscheidbarkeit von Europa und dem Nahen Osten nicht beeinflussen und wre somit leicht ersichtlich.

    2. Demgegenber wrde eine demische Diffusion - eine vollstndige Verdrngung der Einheimischen vorausgesetzt (replacement) - als Homogenitt von Europa und dem Nahen Osten im genetischen Substrat feststellbar sein.

    3. Eine demische Diffusion mit genetischem Beitrag der indigenen europischen Bevlkerung wrde zu einer graduellen Ausprgung von Genfrequenzen entlang der Hauptverbreitungsachse fhren.

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    Inspiriert wurde der Einsatz der klassischen genetischen Marker durch eine Beobachtung von Mourant (1954), welcher anhand des ausschlielichen Vorkommens des Blutgruppengens Rhesus negativ (Rh-) in Nordafrika und Europa und dort mit der grten Hufigkeit innerhalb der Basken, folgerte, dass letztere ein Relikt einer proto-europischen Bevlkerung darstellten, die sich spter mit anderen Bevlkerungen vermischt habe. Das Auffinden von hohen Rh- Frequenzen in Nord und Nordwesteuropa, also in den hypothetischen Randgebieten der neolithischen Expansion, bestrkte Cavalli-Sforza und Ammerman in der Annahme, dass es sich bei der von Mourant nicht nher benannten spteren Bevlkerung um neolithischen Bauern handeln knne (Richards 2003). Die nachfolgend untersuchten Gene der klassischen Marker zeigten jedoch hufig andere Verteilungsmuster. Es stellte sich zudem nach und nach heraus, dass die genetische Unterscheidbarkeit a priori von Europa und dem Nahen Osten nicht der Realitt entsprach. Ein eindeutiges Bild resultierend aus allen untersuchten Genorten (zunchst 39, spter 95 (Cavalli-Sforza et al. 1994)), wie in den drei obigen Hypothesen dargestellt wurde, konnte nicht erstellt werden. Die Komplexitt der gewonnenen Daten erforderte zudem den Einsatz multivariater Analysemethoden, um bestimmte Verteilungsmuster von Allelen oder Dispositionen zu erhalten. Dafr wurde die Hauptkomponentenanalyse (principal component: PC, im Folgenden zur Beschreibung auch im Deutschen als PC abgekrzt) gewhlt (Menozzi et al. 1978). Sie ermglichte es, Frequenzen mehrerer Genorte fr bestimmte geografische Bereiche zusammenzufassen und die Flle der Information in wenigen Dimensionen darzulegen. Die Ergebnisse lieen sich nun in zweidimensionalen Plots darstellen oder in den mittlerweile fr die Anhnger der Diffusionisten zum Wappen avancierten Konturkarten fr die einzelnen Komponenten (vgl. Abbildung 3). Die Karte der ersten Hauptkomponente, welche 27% der absoluten Variation der klassischen Marker beinhaltete, zeigte einen Gradienten von Sdost nach Nordwest, wie er zuvor auf der aus Radiokarbon-Daten gewonnenen Karte ersichtlich war. Dies wurde unmittelbar als Beweis fr die Hypothese der demischen Diffusion mit mesolithischem Beitrag gesehen. Die Karten der Hauptkomponenten 2 und 3, die fr 22% bzw. 11% der Variation standen, zeigten einen Sdwest-Nordost-Gradient, sowie einen Ost-West-Gradienten. Da deren Einfluss auf die genetische Variation als geringer erkannt worden war, kam man zu dem Schluss, dass es sich hierbei um Prozesse handelte, die nach dem Neolithikum stattgefunden hatten. Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Arbeiten von Cavalli-Sforza wurden auch von anderer Seite bzw. mit anderen Analysemethoden besttigt (Sokal et al. 1989, 1991). Auch sie konnten zeigen, dass etwa ein Drittel der Frequenzen ihrer Daten in einem Sdost-Nordwest-Gradienten zu verlaufen schien.

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    Abbildung 3. Die clines der ersten Hauptkomponente in Europa (modifiziert aus Renfrew & Boyle 2000 nach Cavalli-Sforza et al. 1994).

    Eine entscheidende Frage war mit dem umfangreichen Datensatz von Cavalli-Sforza nicht zu klren: Wie gro waren die relativen Anteile der indigenen Bevlkerung und der neolithischen Neuankmmlinge? Zwar konnten entsprechende Simulationen des wave-of-advance-Modells die Prozesse der Diffusion mit und ohne Interaktion darstellen, der kritische Faktor der Akkulturation - der Ideentransfer - konnte allerdings nicht befriedigend mit einbezogen werden (Ammerman & Cavalli-Sforza 1984). Ein ebenfalls kritischer Aspekt zeigte sich in der Tatsache, dass in Simulationen mit erhhtem Anteil an hypothetischen Mischehen, stets ein schneller Verlust der Neolithikergene festzustellen war (siehe hierzu auch die aktuellen Simulationen von Currat & Excoffier 2005). Somit musste konstatiert werden, dass zwar das Ausma einer bzw. mehrerer Diffusionsereignisse aufgezeigt, der eigentliche Nachweis des wave-of-advance-Modells jedoch nicht eindeutig erbracht werden konnte. Nichtsdestoweniger setzte sich das wave-of-advance-Modell, das in gewisser Hinsicht als Selbstlufer bezeichnet werden kann, als anerkannte Lehrmeinung durch (Richards 2003). Ammerman & Cavalli-Sforza hatten zwar ihre Hypothesen vorsichtig formuliert, d.h. das jeweils nur hchstens ein Drittel der Variation einen Gradienten aufweist, und auch dem oben erwhnten Faktor der Akkulturation besondere Achtung einzurumen gemahnt. Die Gesamtinterpretation der neolithischen Transition auf der Basis dieser Verffentlichung lag jedoch auf der Hand: Die Neuankmmlinge, d.h. einwandernde neolithische Bauern, bildeten die Basis des heutigen europischen Genpools (Richards 2003). Diese Ansicht hatte sich bereits zur Verffentlichung des 1994 erfolgten opus magnum (zitiert nach Richards 2003) von Cavalli- Sforza, The History and Geography of Human Genes, durchgesetzt und mittlerweile auch die Autoren selbst trotz ihrer frher geuerten Ansichten beeinflusst. Auf Basis ihres nun auf 95 Genorte erweiterten Datensatzes erklrten sie alle Variation, die nicht dem Sdost-Nordwestgradienten entsprach, als Folge postneolithischer Migrationen. Sie gingen

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    sogar soweit, die Hauptkomponenten-Analyse als relative Datierungsmethode zu empfehlen (Cavalli-Sforza 1996).

    3.1.4 Kritik am wave-of-advance-Modell Die magebliche Kritik am wave-of-advance-Modell richtete sich zunchst auf die Wahl der genetischen Marker. So wies Allan Fix (1996, 1999) darauf hin, dass die Mehrzahl der von Ammerman und Cavalli-Sforza untersuchten Allele, welche einen NW-SO-Gradienten aufweisen, zum HLA-System zu rechnen sind (human leucoyte antigen). Da dieses einen bedeutenden Teil des menschlichen Immunsystems bildet, lag es nach Fix nahe, dass die betreffenden Allele einer Selektion im Rahmen der Immunabwehr unterliegen. Gerade im Hinblick auf die Domestikation von Tieren lassen sich eine Flle neuer Krankheitserreger anfhren (Zoonosen), die einen distinkten Selektionsdruck auf das Immunsystem der frhen Viehzchter ausgebt haben konnten. Demzufolge spiegelten nach Fix die beobachtbaren clines der (HLA-)Allelhufigkeiten nicht die demische Diffusion der Populationen wider, sondern den differenzierten Anpassungszustand an die vernderte Situation an mglichen Krankheitserregern. Darber hinaus wren im Rahmen der Immunabwehr auch Anpassungen an vernderte klimatische Bedingungen denkbar. Die Ergebnisse von Cavalli-Sforza und Kollegen beeinflussten wiederum die Hypothesen und Modelle der archologischen Neolithikumsforschung. Der Archologe und Linguist Colin Renfrew (1987) sah sich durch das wave-of-advance-Modell in seinen eigenen Hypothesen besttigt. Fr ihn stellte es das passende prozessuale Modell dar, mit dem er seine, vormals als radikal bezeichnete, Hypothese zur Ausbreitung der indoeuropischen Sprachen im Rahmen der neolithischen Transition untermauern konnte. Die Linguisten zogen noch weitgehend die Hypothese von Marija Gimbutas vor, die eine nach Westen gerichtete Verbreitung von Proto-Indoeuropern den bronzezeitlichen Kurgan-Kulturen der osteuropischen Steppen zuordnete (Gimbutas 1965). Kritik aus den Reihen der Archologen kam vornehmlich bezglich der Interpretation der Gradienten der Hauptkomponentenanalyse. So bemerkte Zvelebil (1989, 1998), dass es keinen eindeutigen Grund gab, anzunehmen, dass der Sdost-Nordwest Gradient (Abbildung 3) der ersten PC mit der Ausbreitung der neolithischen Kulturen in Zusammenhang stnde. Er machte gleichzeitig deutlich, dass durch die geographische Deutung Europas als kleine Halbinsel Eurasiens im Laufe der Menschheitsgeschichte mehrere mgliche Verteilungswellen in das Becken Europa geflossen sind. Dass hierbei Richtungen von Sdost nach Nordwest erkennbar seien, liege unter anderem daran, dass dies schlichtweg einer von mglichen Wegen nach Europa darstellt. Zur Verdeutlichung wurde hierfr von Renfrew (1998) und Zvelebil (1998) der Begriff Palimpsest entlehnt1, der veranschaulichen sollte, dass ein beobachtbarer Gradient die Folge mehrerer Verbreitungswellen sein kann, von welchen jeweils die letzte die vorausgehende berschreibe. Die Ursachen der mglichen berlagernden Verbreitungswellen sah jedoch 1 Palimpsest: Pergament-, oder Papyrushandschriften, die im Altertum oder Mittealter nach Abwaschen oder Abkratzen wiederbeschriftet wurden.

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    auch Zvelebil (2000) eher in postneolithischen Zeiten. Erst Richards (1997), der analog zu Clark (1965, siehe oben) eine Karte mit Radiokarbon-Daten fr das frhe obere Palolithikum erstellte, konnte zeigen, dass bereits die erste Ausbreitungswelle des anatomisch modernen Menschen nach Europa einen mit dem Prozess der Neolithisierung vergleichbaren Weg einnahm. Cavalli-Sforza und Kollegen hatten die Reihenfolge ihrer Hauptkomponenten nach der Hhe der enthaltenen Variation zeitlich geordnet. Sie nahmen weiterhin fr jede PC eine Wanderungsbewegung an. Die erste PC mit 27% der Gesamtvariation sollte der Neolithisierung entsprechen, fr die dritte PC (11% ) mit Ost-West Verlauf der Frequenzen wurde der Einfluss von Gimbutas bronzezeitlichen Kurgan-Kulturen postuliert und fr die vierte PC wurden die griechischen Kolonien im stlichen Mittelmeergebiet herangezogen. Fr die zweite Hauptkomponente (22%) konnte jedoch kein passendes (vor-)geschichtliches Ereignis gefunden werden, das in den nun engen (postfrhneolithisch-bronzezeitlich) gespannten Rahmen passte. Aus heutiger Sicht berraschend spt kam daher das entsprechende Modell von Torroni (1998), der den Sdwest-Nordost-Verlauf der zweiten PC als Folge der spt bzw. postglazialen Reexpansion aus den glazialen Refugien im franko-kantabrischen Raum deutete. Sptestens jetzt war die Idee, dass je eine PC einer Bewegung entsprach, die in hierarchisch-chronologischer Abfolge stattfanden, nicht mehr aufrecht zu halten. Der zweite groe Kritikpunkt der Archologen an der 1984 erschienenen Arbeit von Ammerman & Cavalli Sforza lag eher im methodischen Bereich. So stand hauptschlich die Definition des propagierten neolithic package im Vordergrund der Kritik. Zahlreiche Archologen deuteten darauf hin, dass sich die einzelnen Komponenten dieses Pakets (z.B. Keramik, Getreide, Viehhaltung etc.) nicht in vergleichbarem Ma und in einigen Gebieten keineswegs in Vergesellschaftung verbreiteten und zudem der wesentliche Faktor von Austauschsystemen mit mesolithischen Bevlkerungen nicht mit einbezogen wurde (u. a. Price 2000, Gronenborn 2003). Zvelebil merkte bereits 1986 an, dass vor allem die von Ammerman und Cavalli-Sforza verfolgte Strategie, das Vorkommen von Keramik an einem Fundpunkt als eindeutig neolithisch zu werten, automatisch zu einer deutlichen berbewertung des neolithischen Einflusses in Europa fhre. Ein weiterer Kritikpunkt am wave-of-advance-Modell betraf die Annahme einer groen Populationsdichte bzw. das daraus resultierende Wachstumspotential, die den agrikulturellen Bevlkerungen zugeschrieben, den Mesolithikern dagegen versagt wurde und die gleichermaen die Sttze des Modells darstellte. Jedoch wurde auch diese Annahme als einheitliche Erklrung von archologischer Seite abgelehnt. So ist die groe Populationsdichte keineswegs archologisch nachgewiesen. Die Befunde deuteten grtenteils sogar in die entgegengesetzte Richtung. Die mesolithischen Bevlkerungen, die entlang von Flssen, Seen und Ksten lokalisiert wurden, wiesen ein ungleich greres Ma an Sesshaftigkeit und auch an Bevlkerungsdichte auf, als ursprnglich vermutet (van Andel & Runnel 1995). Ethnographische Vergleiche mit australischen aborigines oder sdafrikanischen Jger/Sammlergesellschaften wurden verworfen und stattdessen

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    Analogien zu nordwestamerikanischen Indianerkulturen erstellt, deren naturrumliche und klimatischen Verhltnisse am ehesten den des europischen Mesolithikums nahe kamen (Zvelebil 1986). Demzufolge war die mesolithische Lebensweise in Europa als vollwertige westliche Alternative zum Neolithikum zu sehen. Andererseits mehrten sich auch auf Seiten der Archologen die Belege fr Gebiete, wie z.B. dem der linearbandkeramischen Kultur oder auch der Cardial-Kultur, in welchen die neolithische Lebensweise schneller als mit der von Ammerman & Cavalli-Sforza veranschlagten Geschwindigkeit Verbreitung fand (Gronenborn 1999; 2004, Bogucki 2000, Price 2000, Barnett 2000, Zilho 2000; 2001) und fr welche nur eine Kolonisierung plausibel erscheint. Es bleibt anzufgen, dass auch die einstigen Vertreter der Neolithischen Invasion mittlerweile ihre Aussagen bezglich Gre und Einfluss derselben angepasst haben (Cavalli-Sforza 2003, Bentley et al. 2003). Es herrscht weitestgehend Konsens ber die stark ausgeprgte Komplexitt des Prozesses der neolithischen Transition an sich und deren regional bzw. rumlich unterschiedlichen Entfaltung (Gronenborn 2004), wenn auch einige eine Verbreitung der neolithischen Kultur durch Einwanderung von auen nicht ausschlieen (Bogucki 2003, Kaczanowska & Kozlowski 2003).

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    3.2 Forschungsstand molekulargenetischer Studien Parallel zum Erscheinen des grundlegenden archogenetischen Werkes von Ammerman und Cavalli-Sforza (1984) zu den klassischen Markern wurden auch im molekulargenetischen Bereich entscheidende Fortschritte gemacht, die nicht viel spter die gleichen Fragestellungen untersuchten bzw. an diese anknpften. Der Grundstein fr alle molekulargenetischen Studien wurde durch die Entdeckung und Entwicklung der Methode der Polymerase-Kettenreaktion (PCR) gelegt. Die PCR ermglichte es nicht nur, DNA unendlich zu vervielfltigen und damit gengend Ausgangsmaterial zur weiteren Analyse zur Verfgung zu stellen, sondern gleichermaen auch den zu untersuchenden Abschnitt exakt einzugrenzen (vgl. Kap. 5.2.4). Es konnten somit nicht nur die Produkte eines Gens, sondern das Gen selbst und seine Variationen (sofern vorhanden) erschlossen werden. Ein weiterer Vorteil der PCR lag darin, dass nun auch nicht-rekombinierende Genorte einfach und unter geringem Zeitaufwand analysiert werden konnten. Aus populationsgenetischer Sicht waren in erster Linie das mitochondriale Genom, das nur maternal vererbt wird, und das Y-Chromosom, welches nur bei Mnnern vorkommt, von Interesse. Diese genetischen loci bargen gegenber den klassischen Markern vor allem zwei Vorteile (vgl. Kapitel 3.7.1): Erstens konnten nun einfache Genealogien erstellt werden und zweitens konnten diese, unter der Annahme, dass Mutationen zufllig und somit ber die Zeit gesehen linear verlaufen, ber die obliegende Mutationsrate datiert werden. Letztlich erlaubte diese Art von Daten auch eine einfache Einordnung von Genealogien in Raum und Zeit, wofr der Begriff Phylogeographie entworfen wurde (Richards et al. 1997, Avise 2000, Bandelt et al. 2002). Die Interpretation dieser phylogeographischen Karten war jedoch ebenfalls nicht selbsterklrend, sondern erforderte - vergleichbar mit den Isochron-Karten der klassischen Marker - untersttzende Hypothesen von Seiten aller beteiligten Disziplinen (Richards 2003).

    3.2.1 Mitochondriale Variabilitt in Europa Bereits seit Beginn der 90er Jahre untersuchten mehrere Arbeitsgruppen die Variationsbreite des mitochondrialen Genoms. Hierbei wurden zunchst methodisch unterschiedliche Anstze verfolgt. So bediente sich die Gruppe um Antonio Torroni der klassischen Methode des Enzymverdaus, der RFLP-Methode (Restriktionsfragment-Lngenpolymorphismus, vgl. Kap. 3.3). Die zu untersuchenden mitochondrialen Genome verschiedener Herkunft wurden nach hierarchischem System mit unterschiedlichen Restriktionsenzymen verdaut. Somit konnten diejenigen polymorphen Positionen im Genom, die fr das Entstehen oder den Wegfall einer Restriktionsschnittstelle urschlich sind, beschrieben werden und die dabei beobachteten Verdaumuster verschiedenen Gruppen (Haplogruppen) zugeordnet werden (Torroni et al. 1996). Parallel hierzu erfolgte von anderen Arbeitsgruppen (u. a. von Brian Sykes) die Sequenzierung vornehmlich der schnell evolvierenden Regionen des nichtkodierenden Bereiches, der so genannten hypervariablen Segmente HVS I und HVS II.

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    Die ersten Ergebnisse schienen im Hinblick auf vorgeschichtliche Ereignisse zunchst wenig informativ zu sein, denn die Verteilung der europischen Haplogruppen zeigte ber weite Gebiete ein uniformes Bild (Richards et al. 1996, 1998). Erst die Verbindung beider Informationsstrnge (coding region und control region) sowie die sukzessive Einigung auf eine gemeinsame Nomenklatur verbesserten die Situation und ermglichten ein sicheres Zuordnen in verschiedene clades bzw. Haplogruppen (Macaulay et al. 1999). Die Verknpfung von HVS I Haplogruppen mit diagnostischen Schnittstellen im kodierenden Bereich des Mitochondriums konnte durch die Sequenzierung des gesamten mitochondrialen Genoms fr einzelne Haplogruppen erfolgen (Finnil et al. 2001, Richards and Macaulay 2001). Mittlerweile wird in populationsgenetischen Studien bevorzugt das gesamte mt-Genom sequenziert, um die maximale phylogenetische Auflsung zu erreichen. Diese maximale Auflsung des mitochondrialen Markers ist zum gegenwrtigen Zeitpunkt noch nicht erreicht und auch ein vorlufiges Ende ist noch nicht in Sicht. Die neuesten Arbeiten auf diesem Gebiet befassten sich nach wie vor mit der Aufschlsselung der phylogenetischen Beziehungen der einzelnen Haplogruppen zueinander sowie der Subhaplogruppen bzw. Haplotypen untereinander (z.B. Palanichamy et al. 2004). So konnte unlngst die bislang wenig transparente, aber hufigste europische Haplogruppe H in etwa 15 Subhaplogruppen unterteilt werden (Loogvli et al. 2004, Achilli et al. 2004, Pereira et al. 2005).

    3.2.2 Besiedlungsgeschichte Europas anhand von mtDNA und Y Chromosom Die vorgeschichtlichen Besiedlungsereignisse Europas betreffend, gab es seitens der mitochondrialen Daten frhzeitig Aussagen ber deren Beschaffenheit (Richards et al. 1996). Die grundlegenden Fragen konnten allerdings bislang nicht beantwortet werden. Sind die an modernen Daten beobachtbaren Gradienten innerhalb Europas grtenteils das Ergebnis der (mglicherweise in mehreren Wellen erfolgten) Erstbesiedlung durch den anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) im Palolithikum, einer postglazialen Wiederbesiedlung aus den Refugien oder einer genetischen Neolithisierung Europas, d.h. das Ergebnis einer Expansion und Diffusion frher Ackerbauern und Viehzchter nach Europa (Barbujani & Goldstein 2004)? Wie in Tabelle 1 deutlich wird, lassen sich vor allem die beiden Modelle der ersten palolithischen sowie der neolithischen Besiedlungswellen aus dem Nahen Osten hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den modernen Genpool nicht unterscheiden. Lediglich der Anteil der jeweilig bedachten Grnderpopulation variiert hier.

    Tabelle 1. Erwartete Verteilungsmuster dreier Modelle zur Besiedlungsgeschichte Europas (umgezeichnet nach Barbujani & Goldstein 2004).

    Etablierung des europischen Genpools grtenteils im Palolithikum nacheiszeitlichen Palolithikum Neolithikum

    Sdost-Nordwestgradient erwartet unerwartet erwartet Nord-Sdgradient unerwartet erwartet unerwartet Anteil an palolithischen Linien gro gro klein

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    Leichter unterscheidbar scheint auf den ersten Blick das Modell der postglazialen Wiederbesiedlung aus den Refugien Sdeuropas. Hier wre ein Sdost-Nordwestgradient eher unerwartet. Der neolithische Einfluss wird ebenso als gering eingeschtzt. Es sei jedoch angemerkt, dass das Modell der nacheiszeitlichen Expansion nicht einfach zu interpretieren ist, da es letztlich unmittelbar von der vorausgehenden Dynamik der (palolithischen) Erstbesiedlung abhngig ist und deren Verteilungsmuster in den genetischen bottlenecks bzw. melting pots der Refugien verstrkt bzw. abgeschwcht werden konnten. Wie eingangs erwhnt, lieen die ersten europischen mtDNA-Studien eher eine Uniformitt der Haplogruppenverteilung erkennen (Richards et al. 1996). Die grundlegende Arbeit zur Besiedlungsgeschichte Europas aus mitochondrialer Sicht wurde von Martin Richards im Jahre 2000 verffentlicht. Auf einer stark erweiterten Basis von 4100 Individuen aus ganz Europa bzw. dem Nahen Osten und Nordafrika ermittelte er mit Hilfe der founder analysis Koaleszenzzeiten fr die einzelnen Haplogruppen (siehe Box 1, Abbildung 4). Er konnte damit zeigen, dass der berwiegende Anteil an europischen Haplogruppen ein Alter aufweist, das in den Zeitrahmen des spten Palolithikums fllt. Gleichzeitig wurde dies als Beweis gedeutet, dass die meisten europischen mitochondrialen Sequenzen auf autochthone palolithische Vorfahren zurckzufhren seien und demnach nur ein geringerer Anteil, etwa 20-25%, einem neolithischen Einfluss zuzurechnen sei.

    Abbildung 4. Ergebnisse der founder analysis nach Richards et al. 2000. Aufgefhrt sind die hufigsten Haplogruppen Europas und gleichzeitig deren prozentuales Vorkommen. Die Querbalken entsprechen dem 95% (schwarz) bzw. 50% (wei) Konfidenzintervall der Koaleszenzzeitberechnungen der founder analysis. LUP, MUP, EUP: Late, Middle und Upper Paleolitihic.

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    Box 1. Founder analysis.

    Die Grnderanalyse (founder analysis) nach Richards et al. 2000 beruht auf dem Prinzip des Vergleichs einer Ursprungspopulation mit einer hieraus abgeleiteten Nachfolgepopulation. Dabei wird die jeweilige molekulare Diversitt der beiden Populationen bestimmt und der Zeitpunkt der Migration der Nachfolgepopulation errechnet. Hierfr mssen zunchst Grndertypen in der aus Migration hervorgegangenen Nachfolgepopulation definiert werden. Anschlieend wird die Anzahl der von diesen Grndertypen abgeleiteten Typen innerhalb der Nachfolgepopulation bestimmt. Diese erfolgt durch Subtraktion der Diversitt der Nachfolgepopulation von der Diversitt der Ursprungspopulation. Der Quotient aus der Summe der Mutationen durch die Anzahl abgeleiteter Typen aus der entsprechenden Nachfolgepopulationen wird anschlieend mit der Mutationsrate des jeweiligen locus multipliziert (siehe Grafik).

    Die Analyse setzt jedoch einige Grundannahmen voraus: Zum einen wird die Ursprungspopulation als die ltere angesehen. Daraus resultiert, dass die Nachfolgepopulation eine Ersatzpopulation darstellt. Zudem wird vorausgesetzt, dass die heutige Nachfolgepopulation der Ursprungspopulation in derselben geographischen Region vorhanden ist und eine vergleichbare Diversitt wie die Ursprungspopulation aufweist. Als weitere Voraussetzungen fr die Analyse gelten, dass einerseits rezente Rckwanderungen von Bevlkerungsteilen und andererseits auch Parallelmutationen erkannt und somit ausgeschlossen werden knnen. Beide Faktoren wrden hinsichtlich der ursprnglichen Wanderung zu einer Unterschtzung der Diversitt in Ursprungs- und Nachfolgepopulation fhren (Richards et al. 2000, Jobling et al. 2004).

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    Parallel hierzu lieferte die Gruppe um Torroni (1998; 2001), gesttzt auf bestimmte mitochondriale Haplogruppen, Hinweise auf mgliche postglaziale Expansion aus der Iberischen Halbinsel in nordstliche Richtung. Mit dem gleichen Datensatz wurde auch der bis dahin als postneolithisch nicht erfassbare Sdwest-Nordostgradient der zweiten Hauptkomponente von Cavalli-Sforza (vgl. Kap. 3.1.3) erklrt und gleichermaen zeitlich in das ausgehende Palolithikum datiert. Bezglich der Auswirkungen der neolithischen Periode auf den europischen Genpool, existierten auch von Seiten der Populationsgenetik unterschiedliche und zum Teil gegenstzliche Hypothesen. Diese bewegten sich polar zwischen einer Akkulturation der autochthonen mesolithischen Bevlkerung einerseits und einem Bevlkerungswandel durch einwandernde Bauern andererseits. Hier spielten nicht zuletzt wissenschaftsgeschichtliche Aspekte eine Rolle. Demnach wird auf der einen Seite versucht, auf molekularer Ebene das Modell der "demischen Diffusion" von Ammermann und Cavalli-Sforza (1984; Cavalli-Sforza et al. 1994) widerzuspiegeln, das im extremsten Sinne von einer demographischen "wave of advance" von Farmergenen und einer kontinuierlichen Verdrngung autochthoner europischer Linien ausgeht. Andere wiederum versuchten anhand molekularer Daten das Gegenteil zu beweisen. So spaltete sich im Licht der neuen (molekulargenetischen) Methoden Mitte bis Ende der 90er Jahre erneut die (molekulargenetische) Forschungsgemeinschaft in so genannte Demisten, also Befrworter der Einwanderungs- und Verdrngungshypothese um Guido Barbujani, und Indigenisten, Anhnger einer autochthonen Neolithisierung durch bloe bernahme der neuen Lebensweise wie z.B. Martin Richards. Dieser jahrelange Disput lsst sich gut in der Literatur verfolgen und ist letztlich auf unterschiedlichen Ergebnissen von mitochondrialen und Y-chromosomalen Daten begrndet (z. B. Cavalli-Sforza und Minch 1997, Richards et al. 1998, Chikhi et al. 1998; 2002, Barbujani et al. 1998, Torroni et al. 1998, Semino et al. 2000a, Simoni et al. 2000a; 2000b; 2000c). Mit steigender Anzahl der erhobenen Daten und vor allem nach Annherung der Methoden bzw. Ermglichung einer Vergleichbarkeit, gltteten sich in den vergangenen fnf Jahren auch die Wogen der Debatte. Letztlich war man sich nicht ber die Ergebnisse uneinig, sondern ber die Interpretation derselben. Der Streitpunkt betraf die Hhe des Anteils der neolithischen Bevlkerung am heute beobachtbaren europischen Genpool. Die wichtigsten grundlegenden Arbeiten sowie auch die kritischen Anstze beider Seiten zu dieser andauernden Diskussion sollen hier in kompakter Form wiedergegeben werden. Martin Richards und Kollegen (1996; 1998) kamen im Widerspruch zu den Resultaten der klassischen genetischen Marker von Cavalli-Sforza zunchst zu dem Ergebnis, dass ein Gradient von SO- nach NW-Europa nicht existiert und dass nur ein geringer Anteil von ca. 12% der Linien in Europa nahstlichen Ursprungs sein kann. Diese Arbeit wurde von Cavalli-Sforza und Minch (1997) stark kritisiert. Sie hegten Zweifel an der Eignung der mtDNA als populationsgenetischer Marker selbst und fhrten hier als Grnde mgliches Vorkommen von Heteroplasmien an. Dieses Argument kann jedoch heute nicht mehr aufrecht gehalten werden (vgl. Kap.3.7.1.3). Des Weiteren wiesen sie darauf hin, dass bei

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    einem mtterlich vererbten locus wie der mtDNA ein verwischender Effekt in einer patrilokalen Gesellschaft (wie sie fr Ackerbauern und Viehzchtern postuliert wird) anzunehmen sei. Ein weiterer Kritikpunkt folgte von Barbujani (1998), der anfhrte, dass grundstzlich das Alter eines cluster bzw. einer Haplogruppe nicht mit dem Alter einer Population gleichzusetzen sei. Die Antwort von Richards & Sykes (1998) stimmte Barbujanis Kritik grundstzlich zu, betonte aber gleichzeitig, dass sie sich in ihren ursprnglichen Studien auf einzelne Haplotypen innerhalb von Haplogruppen gesttzt hatten, woraus sich Grnderereignisse sich im Vergleich zwischen Populationen ablesen lieen und aufgrund der Datierbarkeit der betreffenden mtDNA-Linien durchaus mit archologischen Ereignissen assoziiert werden konnten. Die bereits beschriebene Verknpfung von HVS I Sequenzdaten mit diagnostischen RFLPs des kodierenden Bereichs und letztlich eine gezielte Erweiterung des Datensatzes von Richards und Kollegen (1998) besttigte jedoch die Ergebnisse der vorausgegangenen Studie. Auch mit der grundlegenden Arbeit von 2000 inklusive einem erneut vergrerten Datensatz, vor allem der Vergleichsgruppen im Nahen Osten, und einer verfeinerten Grnderanalyse (founder analysis) von Martin Richards nderte sich nichts Grundlegendes am mitochondrialen Bild Europas. Der Anteil an putativen neolithischen Linien, d.h. allochthone Linien die im Neolithikum neu in Europa auftreten, wurde um die 20% beziffert. Zudem konnte Richards zeigen, dass sich lediglich die Basken und die Gruppen im Nahen Osten vom homogenen Verteilungsbild Europas unterscheiden lassen. Basierend auf den Koaleszenzzeiten der Haplogruppen (vgl. Abbildung 4) wurden postglaziale demographische Ereignisse als Hauptfaktor angesehen. Parallel hierzu erfolgten die Verffentlichungen der Ergebnisse aus mtDNA-Studien seitens der Demisten (Simoni et al. 2000a). Die Analyse von ber 2600 Sequenzen besttigte ebenfalls das homogene mtDNA Muster in weiten Teilen Europas, konnte jedoch vor allem im Mittelmeergebiet graduelle Verteilungsmuster herausarbeiten. Allerdings lieen die Autoren bewusst offen, ob eine palolithische oder neolithische Expansion urschlich fr diese Muster sei. Sie wiesen aber gleichzeitig darauf hin, dass Beweise fr einen Nord-Sdgradienten, wie es fr das Modell der postglazialen Wiederbesiedlung vorsieht, nicht signifikant waren. Inwieweit die Wahl der Analyse zu einem kontrren Ergebnis fhren konnte, zeigte sich in der 2002 erschienenen Arbeit von Richards und Kollegen. Basierend auf dem Datensatz der Publikation aus dem Jahr 2000 machten sie sich gezielt auf die Suche nach geographischen Mustern im mtDNA-Pool Europas. Hierfr teilten sie Europa nach palokologischen Kriterien (Gamble 1996; 1999) in verschiedene Regionen auf und untersuchten diese mit Hilfe der Hauptkomponentenanalyse. Die erste Hauptkomponente, der 51% der Variation entsprachen, zeigte nun das bekannte Bild der Sdost-Nordwestgradienten. Eine Parallele zur ersten Hauptkomponente von Cavalli-Sforza und der daraus abgeleiteten Neolithisierungshypothese war vordergrndig offensichtlich, konnte jedoch bei genauerer Betrachtung nicht dauerhaft besttigt werden. Denn es fielen zwar die gewhlten Regionen im Sdosten, d.h. der Balkan, sowie der stliche und zentrale Mittelmeerbereich in ein

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    gemeinsames cluster, eine Verbindung zu Zentraleuropa, welche der neolithischen Inlandsroute entsprche, bestand jedoch nicht. Interessanterweise zeigte auch keiner der Hauptkomponenten dieser Arbeit eine Nord-Sd-Ausrichtung, wie sie in der zuvor vertretenen These der haupturschlichen postglazialen Wiederbesiedlung zu erwarten gewesen wre (siehe auch Jobling et al. 2004). Weiterfhrende Interpretationen lie auch Richards bewusst aus, zog jedoch erstmals postneolithische Prozesse fr das mtDNA (und eventuell auch entsprechend fr das Y-chromosomale) Verteilungsmuster strker in Betracht. Der Analyse der maternalen Linien entsprechend, erfolgten zeitgleich ausgedehnte Untersuchungen zur europischen Variabilitt des Y-Chromosoms. Erste Untersuchungen hierzu waren analog zur mitochondrialen DNA zunchst explorativer und deskriptiver Art (Jobling 1994, Semino et al. 1996, Jobling & Tyler-Smith 2000). Doch konnten auch hier frh unterschiedliche Frequenzen einzelner Haplogruppen geographisch notiert werden, was gleichermaen bereitwillig in der Diskussion um die Besiedlungsgeschichte aufgenommen wurde. Basierend auf Ergebnissen ausgedehnter Analysen von Y-Chromsomen von Rosser und Kollegen (2000) bzw. Semino und Kollegen (2000) konnten nun SO-NW-Gradienten innerhalb Europas beschrieben und bekrftigt werden. Vor allem die detaillierte Studie von Zo Rosser und Kollegen unterstrich die Ergebnisse der klassischen Marker. Sie fanden im Verteilungsmuster der verschiedenen Y-Haplogruppen die entsprechenden Parallelen zu allen vier Hauptkomponenten von Cavalli-Sforza und Kollegen. Bezglich der angemerkten SO-NW-Gradienten zweier Y-Haplogruppen, welche ca. 45% der Variation und kontinentweit dem Modell der demic diffusion entsprachen, boten Rosser und Kollegen keine genaue Interpretation an. Stattdessen warnten sie vor voreiliger Verknpfung mit archologisch bekannten Prozessen ob der Tatsache, dass gerade die Datierungen fr beide betreffenden Haplogruppen zu divergent seien. Die zeitgleiche Arbeit von Semino hingegen, welche ebenfalls diesen Gradienten nachwies, definierte neolithische Y-Haplogruppen und setzte deren Anteil von 22% gleich dem Beitrag an neolithischem Einfluss auf den europischen Genpool. King & Underhill (2002) schufen, basierend hierauf, wieder eine direkte Verknpfung zum archologischen Fundgut und sahen sich in den geographischen Parallelen von gehuftem Vorkommen bestimmter Y-Haplotypen und dem Auftreten von anthropomorphen Figurinen und bemalter Keramik besttigt. Eine kritische berprfung der Daten von Semino (2000) durch Chikhi und Kollegen (2002) kam zu einem hheren Wert von durchschnittlich 50-65% Anteil an neolithischen Linien (70% auf dem Balkan und sich in Gradienten bis auf die Iberische Halbinsel auf 30% verringernd). Der Ansatz, der hierbei verfolgt wurde, war jedoch ganz anderer Art. So wurden innerhalb des Datensatzes putative Urpopulationen ausgewhlt. Auf der einen Seite wurden die Basken als Vertreter der europischen Palolithiker definiert und auf der anderen Seite ein Pool aus Daten aus dem Nahen Osten erstellt, welcher die Nachkommen der ersten Ackerbauern/Viehzchter widerspiegeln sollte. Mit Hilfe von Simulationsanalysen wurde nun der jeweilige Anteil der entsprechenden Ausgangspopulationen in der jeweiligen Vermischungspopulation festgestellt. Diese Arbeit wurde wiederum von Richards (2003) kritisiert, denn zum einen fasste sie mehrere unplausible Annahmen zusammen (vor allem die unkritische Ansetzung der beiden

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    Ursprungspopulationen) und lie keine postneolithische weitere Vermischung zu. Zum anderen wurde der Grad der Rckwanderung auer acht, den Richards (et al. 2000) mit einer Hhe von 20% postuliert hatte. Das wichtigste Argument gegen die Arbeit von Chikhi und Kollegen war jedoch das Fehlen zeitlicher Tiefe und die unkritische Zuordnung der Beobachtungen in die Periode des frhen Neolithikums (Richards et al. 2003). Ein neuere Arbeit - seitens der Demisten - von Isabelle Dupanloup und Kollegen (2004) knpfte methodisch an die Arbeit (und die Daten) von Chikhi (et al. 2002) an und erweitete die Vermischungsanalysen (admixture analysis) auf mehrere loci, indem sie mito