Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918....

14
250 Haben wir eine Gesetzesinflation ? Ein Versuch zur statistischen Prüfung von Gesetzessammlungen Von Dr. Anton Moser Adjunkt am Statistischen Bureau des Kantons Bern Der freiheitliche Geist in unserem Volke erstirbt glücklicherweise nicht. Nach den Prüfungen der Kriegszeit erwachte er von neuem und forderte gebieterisch den Abbau der staatlichen Überwachung, Bevormundung und Bewirtschaftung auf Grund des blossen Vollmachtenrechts. Man verwies auf die Paragraphenflut der Kriegszeit und auf die grosse Produktion von Gesetzen. In politischen Flugschriften findet sich oft ein solcher Hinweis, und letzthin wurde auf Äusserungen zweier Staatsrechtslehrer verwiesen. Prof. Z. Giacometti spreche, heisst es in einer solchen Kampfschrift, von der «Gesetzesinflation am laufenden Band» und er präge das Wort: «Wo das Recht schwach wird, türmt sich das Gesetz.» Von Prof. W. Kägi in Zürich wird zitiert: «Wir wissen, dass diese Gesetzesinflation nicht der Ausdruck eines kräftig pulsierenden Rechtslebens, sondern ein Krankheitszeichen, ja eine Gefahr für Recht und Freiheit darstellt.» Ahnliches lesen wir häufig in der Tagespresse, z. B. im Berner «Bund», Nr. 208 vom 3. Mai 1952, unter dem Titel «Wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen». Diese Äusserungen beziehen sich mehr auf die Gesetzgebung des Bundes. Wenn aber dort eine Gesetzesinflation bestände, so müsste sie sich notwendig auch auf kantonalem Boden zeigen. Die Kantone sind es ja, welche die Bundesvorschriften zum guten Teil reglementierend durchzuführen haben. Die Bedeutung der Bundesgesetz- gebung wuchs seit Jahrzehnten; ob aber auf Bundesboden deswegen von einer «Ge- setzesinflation» gesprochen werden kann, ist eine besondere Frage, die wir hier nicht untersuchen. Wir beschränken uns auf die Verhältnisse eines einzigen Kantons und möchten damit den Nachweis liefern, dass die «Gesetzesproduktion» ihrem Umfange nach zahlenmässig untersucht werden kann. Die Statistik vermag hier zu einem nüchternen Urteil zu führen, und hoffentlich werden bald ähnliche Forschungen in andern Kantonen und beim Bunde folgen. Innerhalb des Kantons Bern ist eine Prüfung leicht zu bewerkstelligen und wir versuchen sie durch dreierlei Nachzählungen. Erstens gibt die Statistik der Volks- abstimmungen Auskunft, ob eine «Gesetzesinflation» besteht. Zweitens können wir die Erlasse aller Art zählen, die in den jährlichen Gesetzesbänden erscheinen. Es muss erlaubt sein, ihren Umfang dadurch einigermassen zu charakterisieren und zu messen, dass wir die Paragraphen- oder Ziffernzahl jedes Erlasses feststellen. Zum Schlüsse werden wir drittens Nachzählungen in der Gesamtausgabe der 1900 und 1940 gültigen Erlasse, also in den eigentlichen Gesetzessammlungen, vornehmen. I. Die Zahl der Volksabstimmungen Der Kanton Bern eignet sich für unsere Untersuchung, weil er während den beiden Kriegszeiten keinerlei Vollmachtenrecht von sich aus geschaffen hat. Die Gesetz-

Transcript of Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918....

Page 1: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

250

Haben wir eine Gesetzesinflation ? Ein Versuch zur statistischen Prüfung von Gesetzessammlungen

Von Dr. Anton Moser Adjunkt am Statistischen Bureau des Kantons Bern

Der freiheitliche Geist in unserem Volke erstirbt glücklicherweise nicht. Nach den Prüfungen der Kriegszeit erwachte er von neuem und forderte gebieterisch den Abbau der staatlichen Überwachung, Bevormundung und Bewirtschaftung auf Grund des blossen Vollmachtenrechts. Man verwies auf die Paragraphenflut der Kriegszeit und auf die grosse Produktion von Gesetzen. In politischen Flugschriften findet sich oft ein solcher Hinweis, und letzthin wurde auf Äusserungen zweier Staatsrechtslehrer verwiesen.

Prof. Z. Giacometti spreche, heisst es in einer solchen Kampfschrift, von der «Gesetzesinflation am laufenden Band» und er präge das Wort: «Wo das Recht schwach wird, türmt sich das Gesetz.» Von Prof. W. Kägi in Zürich wird zitiert: «Wir wissen, dass diese Gesetzesinflation nicht der Ausdruck eines kräftig pulsierenden Rechtslebens, sondern ein Krankheitszeichen, ja eine Gefahr für Recht und Freiheit darstellt.» Ahnliches lesen wir häufig in der Tagespresse, z. B. im Berner «Bund», Nr. 208 vom 3. Mai 1952, unter dem Titel «Wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen».

Diese Äusserungen beziehen sich mehr auf die Gesetzgebung des Bundes. Wenn aber dort eine Gesetzesinflation bestände, so müsste sie sich notwendig auch auf kantonalem Boden zeigen. Die Kantone sind es ja, welche die Bundesvorschriften zum guten Teil reglementierend durchzuführen haben. Die Bedeutung der Bundesgesetz­gebung wuchs seit Jahrzehnten; ob aber auf Bundesboden deswegen von einer «Ge­setzesinflation» gesprochen werden kann, ist eine besondere Frage, die wir hier nicht untersuchen. Wir beschränken uns auf die Verhältnisse eines einzigen Kantons und möchten damit den Nachweis liefern, dass die «Gesetzesproduktion» ihrem Umfange nach zahlenmässig untersucht werden kann. Die Statistik vermag hier zu einem nüchternen Urteil zu führen, und hoffentlich werden bald ähnliche Forschungen in andern Kantonen und beim Bunde folgen.

Innerhalb des Kantons Bern ist eine Prüfung leicht zu bewerkstelligen und wir versuchen sie durch dreierlei Nachzählungen. Erstens gibt die Statistik der Volks­abstimmungen Auskunft, ob eine «Gesetzesinflation» besteht. Zweitens können wir die Erlasse aller Art zählen, die in den jährlichen Gesetzesbänden erscheinen. Es muss erlaubt sein, ihren Umfang dadurch einigermassen zu charakterisieren und zu messen, dass wir die Paragraphen- oder Ziffernzahl jedes Erlasses feststellen. Zum Schlüsse werden wir drittens Nachzählungen in der Gesamtausgabe der 1900 und 1940 gültigen Erlasse, also in den eigentlichen Gesetzessammlungen, vornehmen.

I. Die Zahl der Volksabstimmungen

Der Kanton Bern eignet sich für unsere Untersuchung, weil er während den beiden Kriegszeiten keinerlei Vollmachtenrecht von sich aus geschaffen hat. Die Gesetz-

Page 2: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Haben wir eine Gesetzesinflation? 251

gebung ging immer absolut verfassungsmässig vor sich. Da der Kanton Bern jedes Gesetz dem Volke unterbreitet, kann uns die Zahl der Sachvorlagen (inklusive die Volksinitiativen) einen ersten Anhaltspunkt über das Bestehen einer Gesetzesinflation geben. Wir wählen als Ausgangspunkt 1894, das erste ganze Kalenderjahr unter der neuen Kantonsverfassung. Wir finden folgende Zahl der Abstimmungen je Jahrfünft:

Die kantonalen Sachvorlagen

Jahre

1894^1898 1899-1903 1904^1908 1909-1913 1914^1918 1919-1923 1924-1928 1929-1933 1934-1938 1939-1943 1944-1948 1949-1951

Total

23 16 19 17 17 23 17 16 23 18 26 15

230

Davon

abgelehnt angenommen

11 4 2 3 4 4 5 2 1 1 5 4

46

12 12 17 14 13 19 12 14 22 17 21 11

184

Angenommen pro Jahr

2,4 2,4 3,4 2,8 2,6 3,8 2,4 2,8 4,4 3,4 4,2 2,2

3,2

Dem Bernervolk wurden innert 58 Jahren insgesamt 230 kantonale Vorlagen unterbreitet. Ihre Zahl pro Jahr (durchschnittlich 3,97) war auffallend gleichmässig. Es gab 3 bis 4, selten 5 Gesetze oder Initiativbegehren. Das letzte Nachkriegsjahrfünft 1944-1948 zeigt die höchste Zahl von 26 Vorlagen oder 5,2 pro Jahr, und 1949-1951 trifft es noch 5 Vorlagen pro Jahr.

Betrachten wir aber nicht Durchschnitte, sondern einzelne Jahre. Die Jahre 1947 und 1948 halten einen Rekord von je 8 kantonalen Volksabstimmungen. Das war aber schon 1921 der Fall sowie 1909. .Anno 1896 wurde der Bürger sogar neunmal zur Urne gerufen. Sechs- oder siebenmal kam dies nur 1949, dann 1937 und 1938, 1922, 1918 und 1914 vor. Es ist also nicht so, dass wir neuerdings besonders zahlreiche Gänge zur Urne haben. Früher gab es zeitweise deren bedeutend mehr.

Vor allem aber: die verworfenen Vorlagen zählen nicht und verursachen keine Gesetzesinflation. Angenommene Volksbeschlüsse gab es nach obenstehender Tabelle 2,2 bis 4,4 durchschnittlich pro Jahr. Nach Abzahlung der 46 Verwerfungen (20%) blieben 184 Annahmen oder 3,17 pro Jahr. Am meisten angenommene Gesetze und Be­schlüsse (letztere oft kurze Kreditbewilligungen) gab es 1904-1908, dann 1919-1923 und 1934-1938 sowie 1944-1948. In den Kriegsjahren und ab 1949 war die Zahl der produzierten Gesetze nicht besonders hoch. Für 1949-1951 fiel die Produktion auf 2,2 Gesetze und Beschlüsse pro Jahr, also unter den Durchschnitt.

Zweieinhalb bis vier neue Gesetze und Volksbeschlüsse im Durchschnitt pro Jahr sind für einen Kanton von der Grösse Berns nicht übertrieben. In den letzten Jahren hat nochmals ein Abbau stattgefunden. Von einer Gesetzesinflation findet sich im Kanton Bern keine Spur.

Page 3: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

252 Anton Moser

I I . Umfang der jährl ichen Gesetzesproduktion durch das Volk

In den jährlich erscheinenden Gesetzesbänden lässt sich die Zahl der Beschlüsse mit Gesetzeskraft, aber auch der Umfang dieser Produktion, ihre Paragraphenzahl, feststellen. Wie gross ist denn die «Paragraphenflut» im Kanton Bern? Es bestätigt sich das Bi ld 1 , welches uns der Abstimmungskalender vermittelt. Wir fassen die Konjunkturperiode 1894-1904, dann die Vorkriegsjahre, Kriegsjahre, Nachkriegskrise, Aufschwung und die Krisenzeit der Dreissiger jähre usw. zusammen:

Gesetze und Volksbeschlüsse in den Gesetzesbänden

Periode Total Jahre Erlasse

Para­graphen

Pro Jahr

Erlasse Para-

graphen

Para­graphen

pro Erlaas

1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951.

11 10 4 6 6 8 7 6

58

21 32 8

20 13 24 24 27

169

536 1050 651 387 631 417 548 559

1,9 3,2 2,0 3,3 2,2 3,0 3,4 4,5

4779 2,9

49 105 163 65

105 52 78 93

82

26 33 81 19 49 17 23 21

28

Wir sehen hier Ebbe und Flut deutlicher. Sie entsprechen den Erwartungen für die einzelnen Konjunkturperioden. Die Jahre 1894-1904 verzeichnen eine geringe, die Jahre 1905-1914 eine grössere Gesetzesproduktion. Die Kriegsjahre sehen wenige, die Nachkriegsjahre bis 1924 dagegen zahlreiche Gesetze in Kraft treten. Es ist dies eine Folge der Nachkriegskrise und des Nachholbedarfes. Denn 1925-1930, als die Konjunktur sich festigte, gab es weniger neue Gesetze. Die Dreissigerjahre produzierten entsprechend der Krisenlage etwas mehr, aber erst in den letzten Kriegs- und Nach­kriegsjahren ging die Produktion wieder höher.

Betrachten wir s tat t der Durchschnitte die konkreten, einzelnen Jahre, so wird das Bild für die jetzige Zeit ungünstiger; die Nachkriegszeit zeigt nicht ganz den erwarteten Abbau der Gesetzesproduktion. Von 1946-1951 wurden je 4 oder 6 Gesetze in die Gesetzesbände aufgenommen. Erst 1951 wurden ähnlich wie in der Vorkriegszeit nur mehr 3 Gesetze publiziert. Eine Rückbildung ist immerhin eingetreten.

Und nun die Frage der «Paragraphenflut»? Es gab total gegen 4800 Gesetzes­artikel in 58 Jahren. Das sind 82 pro Jahr oder 28 durchschnittlich pro Gesetz. In den letzten 6 Jahren verzeichnen wir 93 Gesetzesparagraphen pro Jahr. Das ist mehr als im Durchschnitt, wurde aber früher vielfach überboten.

Die Zahl der Gesetzesartikel ist durchaus nicht ins Ungemessene gewachsen. Ihre Zahl je Erlass ist eher kleiner geworden. Eine Paragraphenflut besteht in den bernischen Gesetzen nicht.

Die Anhangtabelle I enthält die jährlichen Zahlen seit 1894.

Page 4: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Haben wir eine Gesetzesinflation ? 253

Eine Gesetzesinflation ist im Kanton Bern unmöglich, weil das Volk sich diese Inflation selbst vom Leibe halten kann und es auch tut, wenn ihm zu viel zugemutet wird. Was auch immer eine Nachzählung in der eidgenössischen Gesetzessammlung er­gäbe, der kritische Punkt liegt im Funktionieren (und im früheren Beschneiden) des Referendums.

III . Die jährliche Produktion an Dekreten und Grossratsbeschlüssen

Man hört demgegenüber sagen, das Volk werde vielleicht wirklich nicht mehr von den Gesetzen, sondern von den Dekreten und Verordnungen regiert. Aus blossen, absichtlich kurz gefassten Rahmengesetzen fliesse erst nachher die eigentliche, die gross-rätlich und regierungsrätlich geschaffene Paragraphenflut.

Prüfen wir anhand der jährlichen Gesetzesbände zuerst die «Produktivität» des Grossen Rates unter Einschluss der wenigen Beiträge des Obergerichts. Wir fassen wieder jene oben beschriebenen Zeitperioden zusammen und sehen, dass seit 1894 doch immerbin 766 solcher Erlasse, mehr als das Vierfache der Gesetzeszahl, hervor­gebracht wurden, die zusammen 7466 Paragraphen (plus etwa 500 in der untenstehen­den Tabelle nicht enthaltene Tarife, Aufzählungen, Anhangstafeln usw.) umfassten. Diese Produktion scheint dennoch nicht übertrieben gross, beläuft sie sich doch durch­schnittlich auf rund 13 Dekrete und Beschlüsse zu je 10 Paragraphen pro Jahr.

Dekrete, Grossrats- und Obergerichtsbeschlüsse in den Gesetzesbänden

Periode Total Jahre Erlasse

Para­graphen

Pro Jahr

Erlasse Para­

graphen

Para­graphen

pro Erlass

1894-1904, 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951.

11 10 4 6 6 8 7 6

58

123 122

24 106 46 74

117 154

766

1216 1319

394 1531 406 653

1039 908

11,2 12,2

6,0 17,7

7,7 9,3

16,7 25,7

7466 13,2

111 132 99

255 68 82

148 151

129

10 11 16 14 9 9 9 6

10

Die Aufstellung zeigt, dass die Hervorbringung unregelmässig erfolgt, jedoch deutlich in den Kriegsjahren 1939-1945 anstieg, in den Nachkriegsjahren zuerst noch­mals stieg und dann nur zögernd zurückging. Man kann gleichwohl nicht von einer Paragraphenflut reden. Die Artikelzahl der Beschlüsse unserer gesetzgebenden Behörde war früher grösser, insbesondere in der Nachkriegskrise von 1919-1924. Damals er­blickten über 1500 Artikel (255 pro Jahr) das Licht des Ratsaals. Es waren aber schon 1894-1914 im Jahresdurchschnitt deren 120 gewesen.

Wir kommen zu folgendem Ergebnis: Die Zahl der Beschlüsse und Paragraphen gros8rätlicher Herkunft (eingeschlossen diejenigen des Obergerichts) steht in der

Page 5: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

254 Anton Moser

neuesten Nachkriegszeit noch recht hoch. Im Jahre 1950 gab es nur 17,1951 aber wieder 32 Grossratserlasse. Als günstig kann festgehalten werden, dass der Umfang der einzelnen Beschlüsse eher zurückging. Es trifft nur noch 9, bzw. 6 Artikel je Beschluss. Wie die letzte Kolonne obiger Aufstellung zeigt, waren die Dekrete früher umfang­reicher.

IV. Die jährliche Produktion regierungsrätlicher Erlasse

Während somit die Tätigkeit des bernischen Grossen Rates nicht eben als eine überbordende Dekretsfabrikation bezeichnet werden kann, erfüllt die Zahl der re-gierungsrätlichen Erlasse (Verordnungen, Réglemente, Tarife, Beschlüsse, welche in die Gesetzesbände aufgenommen werden, jedoch ohne Kreisschreiben) den Bürger da und dort mit Bedenken. Es ist gut, auch hier nicht nur vom Hörensagen zu urteilen, sondern die jährlichen Gesetzesbände nachzusehen. Die Erlasse der Regierung erreichen tatsächlich höhere Zahlen (siehe Tabelle I im Anhang). Unsere Beobachtungsperiode umfasst 1588 Erlasse (das Doppelte der grossrätlichen Produktion) mit 16 137 Para­graphen.

Schon zwischen 1905 und 1912 gab es, ähnlich wie für die Grossratsbeschlüsse, einen Anstieg der publizierten Erlasse. Der erste Weltkrieg sieht wenig entstehen. Hin­gegen füllen sich in den Nachkriegs-Krisenjahren die Seiten der Gesetzesbände in nie dagewesener Weise. Von 1925-1938 fällt die Produktion jedoch schon ab und gleicht einigermassen derjenigen von vor dem ersten Weltkrieg. Soweit wäre alles gut. Die Kriegszeit von 1939-1945 übertrifft jedoch alle bisherigen Jahre. Die durchschnitt­liche Jahresproduktion der Regierung erreicht fast 500 Paragraphen!

Erfreulich wirkt, dass diese Flut ab 1946 erheblich und ab 1950 und 1951 stark zurückgeht. Die Regierung hat ihre Produktion stärker abgebaut als der Grosse Rat; es bleibt aber immer noch eine hohe Zahl von Erlassen und Paragraphen übrig. Die ver­schiedenen Stadien erkennen wir aus der nachfolgenden Tabelle, die wiederum nach den Konjunkturperioden gegliedert wurde.

Regierungserlasse in den Gesetzesbänden

Periode

1894-1904 1905-1914 1915-1918 1919-1924 1925-1930 1931-1938 1939-1945 1946-1951

Total Jahre

11 10 4 6 6 8 7 6

58

Aha

Erlasse

122 214 107 247 147 200 329 222

1588

olut

Para­graphen

1342 2 547 1463 2 165 1503 1817 3 484 1816

16 137

Pro

Erlasse

11,1 21,4 26,8 41,2 24,5 25,0 47,0 37,0

27,4

Jahr

Para­graphen

122 255 366 361 251 227 498 303

278

Para­graphen

pro Erlass

11 12 14 9

10 9

11 8

10

Die Paragraphenzahl umfasst mehr als das Doppelte der grossrätlichen Para­graphenproduktion. Dazu kommen noch 495 Tabellen, Aufzählungen oder anhange-

Page 6: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Haben wir eine Gesetzesinflation? 255

weise Verzeichnisse, die Kreisschreiben nicht gezählt. Die Artikelzahl pro Erlass ist im Durchschnitt der beobachteten 58 Jahre gleich gross wie bei der gesetzgebenden Behörde.

Wenn es eine «Inflation» gibt, so handelt es sich nicht um eine Gesetzes- und nicht eimal richtig um eine Dekretsinflation, sondern um eine Vergrösserung der regierungs-rätlichen Produktion.

Immerhin fällt auch hier auf, dass es sich nicht um eine neue Wendung der Dinge handelt. Eine Jahresproduktion von 24 Titeln im Durchschnitt wurde schon seit 1915 nicht mehr unterboten. Die Paragraphenzahl war 1915-1924 höher als in den uns zunächst liegenden sechs Jahren.

Die Produktion8grösse hat offenbar bestimmte wiederkehrende, äussere, vom Willen des Regierungsrates durchaus unabhängige Ursachen. Diesen kommen wir vielleicht näher, wenn wir die Beteiligung der einzelnen Direktionen nachprüfen.

V. Die Beteiligung der Direktionen des Regiernngsrates

Seit dem Jahre 1921 führen die Gesetzesbände die Erlasse nach Direktionen ge­trennt auf. Dadurch wird im Rückblick auf die letzten 31 Jahre sofort ersichtlich (siehe Anhangtabelle II), welches die grossen Produzenten sind: Volkswirtschaft, Er­ziehung, Finanz. Jede weist seit 1921 einen Ausstoss von über 1000, die Volks­wirtschaft von über 2000 Artikeln auf. Ihnen folgen Forsten und Landwirtschaft, dann erst Polizei, Fürsorge, Sanität und Justiz. Als Zahlenbild ergibt sich für die letzten 31 Jahre:

Regierungsratserlasse nach Direktionen 1921-1951

Abteilung

Präsidial Fürsorge Bauten und Kisenhahn T T . . T T . . . .

Erziehung Finanz Forsten Gemeindewesen Justiz Kirchen Polizei Sanität Volkswirtschaft Landwirtschaft Militär Obergericht

31 Jahre 1921-1951 27 Jahre 1894-1920

Total

i

Erlasse

22 55 82

126 125 65 11 80 23 79 57

219 83 14 4

1045 543

1588

Paragraphen

236 597 434

1245 1085

840 44

533 377 615 565

2 241 777 126 25

9 740 6 397

16 137

Paragraphen pro Jahr

8 19 14 40 35 27 14 17 12 20 18 72 25 4 1

314 237

278

Page 7: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

256 Anton Moser

In der ersten Zeithälfte 1894-1920 trifft es durchschnittlich 237 Paragraphen pro Jahr, seither aber deren 314. Die Zahl der regierungsrätlichen Erlasse stieg. Sie machten vor 1921 rund 20, nachher etwa 34 pro Jahr aus. Der Umstand, dass Volkswirt­schaft, Erziehung und Finanz, dann aber auch Landwirtschaft (Schulen!) und Forst­wirtschaft (Warenverkauf des Staates) am meisten verordnen und reglementieren, ver­rät, dass die hier festgestellte Paragraphenflut vom Objekt her bedingt ist. Man ist bestrebt, die Rechtsgedanken der Gesetze den tatsächlichen, insbesondere den vielfältigen und wechselnden wirtschaftlichen Verhältnissen entsprechend zu gestalten. Nicht alles will man ordnen, sondern nur dort Rechte und Pflichten verteilen, wo es nötig ist. Darum wird die Paragraphenzahl grösser, die Erlasse werden häufiger. Man denke an die echten, die geldmässigen Inflationen der beiden Kriegs- und Nachkriegszeiten. Sie verursachten ganze Serien von Teuerungs- und Anpassungsdekreten und Verordnungen. Niemand wird die Regierung deswegen verdammen. Sie zog die Konsequenz aus einer objektiven Entwicklung.

Nicht die Regierungsräte, noch die Beamten machen hier einen Fehler und sind zu tadeln. Nicht das Recht und der Rechtsgedanke sind schwach geworden. Denn nicht deswegen «türmt sich das Gesetz» (lies: Verordnung, Reglement oder Dekret), sondern weil man kompliziert gewordene Wirtschaftsverhältnisse gerecht ordnen will. Die sich vor­drängende Bedeutung der wandelbaren, vielfältigen Wirtschaftsbetriebe inmitten einer stark gewachsenen Bevölkerungszahl führte zu einer Verlagerung der Befugnisse. Das Gesetz behält seine frühere Rolle. Dekret und Verordnung nehmen dafür an Zahl und Umfang zu. Diese Verlagerung ist nicht neu und im Kanton Bern besonders ab 1905 deutlich feststellbar.

VI . Die Gesamtproduktion an Erlassen

Die gesamte Produktion der drei Recht setzenden Instanzen seit 1894 umfasst nicht weniger als 2523 Erlasse. Es trifft 43,5 Titel pro Jahresband der Gesetze. Wir zählten darin 28 382 Paragraphen oder Ziffern, oder rund 489 pro Jahr. Ein Erlass ent­hält durchschnittlich nur 11 Artikel. Dies trotz des Einschlusses der Zivil- und Straf­prozessordnung. Das Zahlenbild ist das folgende:

Total der Erlasse aller Instanzen in den Gesetzesbänden

Periode

1894^1904 1905-1914 1915-1918 1919-1924 1925-1930 1931-1938 1939-1945 1946-1951

Total Jahre

11 10 4 6 6 8 7 6

58

Abs

Erlasse

266 368 139 373 206 298 470 403

2523

olut

Para, graphen

3 094 4 916 2 508 4 083 2 540 2 887 5 071 3 283

28 382

Pro

Erlasse

24,2 36,8 34,8 62,2 34,3 37,3 67,1 67,2

43,5

Jahr

Para, graphen

281 492 627 681 423 361 724 547

489

Para­graphen

pro Erlass

12 13 18 11 12 10 11 8

11

Page 8: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Haben wir eine Gesetzesinflation? 257

Der Regierungsrat, bis 1904 durchschnittlich gleich produktiv wie der Grosse Rat, überflügelt diesen seit 1905 durchwegs (siehe Anhangtabelle I). Es ist dies gleichsam der Beginn der wirtschaftlichen Neuzeit. In der ganzen Beobachtungszeit gibt es fast zehnmal mehr regierungsrätliche als Volksbeschlüsse, und die Paragraphenzahl der Regierungserlasse beträgt fast das 3%fache der Gesetzesparagraphen.

Die gesamte Zahl der Erlasse pro Jahr belief sich, wie die obenstehende Tabelle zeigt, in gewöhnlichen Zeiten nur auf 24 bis 37. Die Nachkriegszeit 1919-1924 bringt erstmals 62, die neue Kriegs- und Nachkriegszeit gar 67 Titel pro Jahr zustande. Aber gerade daraus beobachten wir, dass die Produktion für die Not, also für vorüber­gehende Zwecke und für Anpassungen an den Konjunkturverlauf erfolgt. Deshalb ist es auch die Regierung, welche die meisten neuen Vorschriften zur Welt bringt.

Damit haben wir das Hauptergebnis über die Produktion vor Augen: Vom Kanton her gesehen gibt es keine Inflation der Gesetze und nur eine massige Vermehrung der Zahl der grossrätlichen Erlasse. Die letzteren, zusammen mit den regierungsrätlichen Beschlüssen, sind vorwiegend der differenzierten Ausführung kantonaler und bundes­rechtlicher Gesetze gewidmet. Es wird also Sorge getragen, dass nicht über alle Köpfe hinweg legiferiert wird, sondern nur für diejenigen Entgelts- und Berufsverhältnisse, die es angeht. Es ist eine laufende Anpassung nötig, und deshalb erfolgte eine Ver­mehrung der grossrätlichen und regierungsrätlichen Erlasse und Paragraphen.

Nicht zu vergessen ist die wachsende Bedeutung des Bundes. Vom losen Staaten­bund zum Bundesstaat entwickelt, war er zu vermehrter Gesetzgebung berufen. Diese überlässt den Kantonen vielfältige ausführende Arbeiten. So erklärt es sich, dass man im Kanton um so häufiger Dekrete und regierungsrätliche Verordnungen benötigt und dass die kantonalen Gesetze nicht zahlreicher wurden.

VII . Die Aufhebung früherer Vorschriften

Die scheinbar vorhandene kantonale Dekrets- und Verordnungsflut ist aber keine An­häufung. Betrachten wir die oben angeführten Zahlen, wie sie aus den jährlichen Gesetzes­händen hervorgehen, so fürchtet man unwillkürlich, dass sich eine unübersehbare Menge von Titeln und Paragraphen anhäufe. Wenn es aber wahr ist, dass der Grosse Rat und die Regierung für die tägliche Not und für wandelbare Verhältnisse legi-ferieren, dann wird auch sehr viel des Produzierten rasch ersetzt.

Das ist nun in der Tat der Fall. Der Beweis wird uns leicht gemacht, weil wir glücklicherweise eine amtliche Sammlung der gültigen Gesetze, bearbeitet auf Ende 1940 von Prof. Rennefahrt, besitzen. Es ist die Bilanz alles dessen, was auf diesen Zeit­punkt an Erlassen aller Art noch in Kraft stand. Wir müssen eine Nachzählung in den 5 Bänden der Rennefahrtschen Gesetzessammlung vornehmen. Da sie chronologisch geordnet ist, kennen wir auch Zahl und Umfang der Erlasse, die von 1894 an produziert wurden und Ende 1940 noch galten. Diese Masse vergleichen wir mit der Jahr für Jahr seit 1894 produzierten Menge und erhalten so ein Bild darüber, wieviel sich gehalten hat :

Es waren 76 % der in der Beobachtungszeit produzierten Gesetze noch in Kraft. Die 47 Jahre Hessen ein Viertel wieder untergehen. Von der produzierten Paragraphen­zahl standen der Summe nach noch fast 82 % in Kraft. Die Gesetze häuften sich nicht inflatorÌ8ch an, sondern sie wurden zu 24 %, die Paragraphenzahl immerhin zu 18 % wieder aufgehoben.

Ganz anders die Grossrats- und Regierungsbeschlüsse. Diese häuften sich erst recht nicht an, sondern sie reduzierten sich sehr rasch. Die Dekrete etc. hielten sich

17

Page 9: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

258 Anton Moser

Jährliche Produktion und 1940 noch gültiger Bestand an Erlassen

Prodnktionsinstanz :

Jährlich produziert 1894^1940 . . . . .

Davon standen Ende 1940 in Kraft:

a) absolut

b) in Prozent der Pro­duktion

Volk

Para­Erlasse i

graphen

125

95

76,0

3801

3103

81,6

Grosser Rat

Para­Erlasse ,

graphen

522

172

33,0

5783

2368

40,9

Regierung

Erlasse . graphen

1108

415

37,5

11671

4 826

41,4

Alle drei zusammen

Para-Erlasse .

graphen

1755

682

38,9

21255

10 297

48,4

nicht einmal besser als die Regierungserlasse. Von beiden war der Summe nach nur mehr ein Drittel, bzw. 37,5% gültig! Nur rund 4 1 % der produzierten Paragraphen dieser Art waren noch gültig. Sogar eine grosse Produktion führte also nicht zur An­häufung, weil die Produktion sich selber wieder laufend aufhebt. Daran wird oft nicht gedacht, wenn man über die Paragraphenflut klagt. Richtig hingegen ist, mit dem Ausdruck «Paragrapheninflation» die Kurzlebigkeit der hervorgebrachten Artikel zu bezeichnen.

Wir können das Ausscheiden der älteren Titel auch dadurch nachweisen, dass wir sie nach den Produktionsperioden gruppieren und zusehen, wieviele davon 1940 noch gültig waren. Stellen wir aus der bernischen Gesetzessammlung die Erlasse, welche seit 1894 entstanden sind, durch Nachzählung in den einzelnen Bänden der Rennefahrtschen Sammlung fest, und stellen wir diese Zahl den in der gleichen Periode produzierten Erlassen gegenüber:

Die Perioden der 1894-1940 produzierten und 1940 noch gültigen Erlasse

a l s V C »

J § ~ Band

"1 II

III IV V

Periode

1815-1893

1894^1900 1901-1916 1917-1925 1926-1935 1936-1940

1894-1940

1940 gültige Total

Volk

•ö U O U

15 40 28 23 20

126

£ S3 o

50

8 31 21 16 19

95

%1)

53,3 77,5 75,0 69,6 95,0

76,0

145

Grossrat

à «J 'S £ O 4)

Ä S

83 174 121 91 52

521

4>

ö

50

17 34 47 44 30

172

%*)

20,5 19,5 38,8 48,4 57,7

33,0

222

Regierung

o ü

fi-a

.

86 280 341 255 146

1108

tao 'S

S

44

13 84 90

134 94

415

%*)

t

15,1 30,0 26,4 52,5 64,4

37,5

459

Total

if £*8

m

184 494 490 369 218

1755

o

* i

144

38 149 158 194 143

682

.

20,7 30,2 32,2 52,6 65,6

38,9

826

1 D. h. 1940 gültige Erlasse in % der in der entsprechenden Periode produzierten Erlasse.

Page 10: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Haben wir eine Gesetzesinflation? 259

Je in der dritten Kolonne sehen wir, wieviele Prozent der älteren und der neueren Produktionen 1940 noch in Kraft standen. Bei den Gesetzen gelten von der älteren Serie von 1894-1900 noch 53,3 %, von denjenigen von 1901-1916 noch 77,5 % usw. Von den älteren Grossratsbeschlüssen von 1894-1900 «lebten» nur noch 20,5 %, von den gleichzeitigen Regierungserlassen nur 15,1 %.

Diese Zahlen mögen als ein erster Beitrag zur Erkenntnis der «Überlebensordnung» unserer Gesetze dienen. Diese «Absterbeordnung», wie man sie auch nennen könnte, ist noch nicht erforscht. Man weiss nur, dass sie existiert, und zwar für den Bund so gut wie für die Kantone. Für die Gesamtheit der bernischen Erlasse (letzte Kolonne oben­stehender Tabelle) zeichnet sich eine recht typische Kurve ab, die von den älteren mit 20,7 auf 65,6 % bei den jüngsten Erlassen ansteigt.

Wie rasch die Vorschriften dem Zahn der Zeit erliegen, sehen wir auch aus einem kleinen Zufall. Das chronologische Register zur neuen bernischen Gesetzessammlung nämlich kam erst 1949 heraus. Es verzeichnet die von 1940-1948 aufgehobenen Titel nicht mehr und führt nur noch deren 772 an, gegen 826 Titel in den 5 Bänden. Inner­halb von 8 Jahren wurden also 54 Titel (oder 6,75 pro Jahr) ausser Kraft gesetzt. Die Zahl der gültigen Titel von 1948 mag also nochmals mit den produzierten der ent­sprechenden Jahre verglichen werden, wobei wir in der Kolonne rechts aussen die «Überlebensordnung» als Prozentausdruck für unsere früher unterschiedenen Kon­junkturperioden ablesen können.

Die 1948 noch gültigen in Prozent der produzierten Titel

Konjonkturperioden

1815-1893. . . .

1894-1904. . . . 1905-1914. . . . 1915-1918. . . . 1919-1924. . . . 1925-1930. . . . 1931-1938. . . . 1939-1940. . . .

1894-1940. . . .

1941-1945. . . . 1946-1951. . . .

Total

Produzierte Titel

266 368 139 373 206 298 105

1755

365 403

2523

Ende 1948 noch gül

a) absolut

140

57 101 36

119 95

165 59

632

.

. 722

tige Titel

b) in % der produzierten

21,4 27,4 25,9 31,9 46,1 55,4 56,2

36,0

. •

Die Vorschriften aller drei Instanzen aus der älteren Zeit (1894-1904) waren 1948 noch zu 21,4 % gültig. Der Prozentsatz steigt hierauf — aber mit der bezeichnenden Ausnahme, dass die Kriegserlasse von 1915-1918 etwas zurückfallen. Von den Er­lassen der dreissiger Jahre waren noch 55,4 % in Kraft. Im Durchschnitt galten nur noch 632 von 1755 geschaffenen Titeln oder 36%. Hier entsteht die ernste Frage, ob es sich mit dem Wesen der staatlichen Rechtssätze verträgt, dass sie so kurzlebig geworden sind.

Page 11: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

260 Anton Moser

V i l i . Gleichbleibender Umfang der gült igen Erlasse von 1900 und 1940

Die beschriebene Selbstaufhebung der Paragraphenflut ist eine objektive Tat­sache und eine Illustration der Veränderlichkeit und Betriebsamkeit der Volkswirt­schaft. Nicht eine sich anhäufende Masse von Vorschriften haben wir, sondern eine auf- und abschwellende, sich fortwährend erneuernde Edition findet stat t . Das Resultat ist eine sich annähernd gleichbleibende Zahl von Vorschriften. Dies haben wir für die Gesetze und Volksbeschlüsse schon aus den jährlichen Produktionen zeigen können. Es gilt aber auch für die Grossrats- und Regierungsratserlasse. Nicht einmal bei ihnen findet eine Anhäufung stat t , weil sie kurzlebiger sind. Der Vergleich des Umfangs der letzten zwei Gesetzessammlungen des Kantons Bern von 1900 und 1940 soll es beweisen. Die erste Ausgabe umfasst, ohne das damalige bernische Zivil- und Strafgesetzbuch 4140, die letztere 4197 Textseiten.

Es ist eine erstaunliche und zu wenig beachtete Tatsache, dass diese zwei Quer­schnitte durch die gültigen Vorschriften fast das gleiche Bild zeigen. Ja, die Zahl der gültigen Erlasse hat sogar in den 40 Jahren um 87 abgenommen. Die Zahl der gültigen Paragraphen (die Kreisschreiben und ihre Paragraphen, Ziffern oder Seiten mitgerechnet) nahm um ein weniges, nämlich um rund 1500 zu. Von dieser Zunahme entfallen auf die Volks­beschlüsse 40, auf die grossrätlichen Erlasse 162, auf die regierungsrätlichen Vor­schriften dagegen 1276 Paragraphen. Im folgenden Vergleich zählen wir das ehemalige kantonale Zivil- und Strafgesetzbuch im Jahre 1900 nicht mi t :

Umfang der Gesetzessammlung von 1900 und 1940

Jahr

1900 1940

1940 Zunahme . . . . Abnahme (gegenüber 1900)

Ges Volksbe Völkern

Ale

Erlasse

147 145

— 2

etze schlüsst »chtliehe ten

Para­graphen

4146 4186

+ 40

Gros und Ob«

erli

Erlasse

299 222

— 77

srats-rgeriohts-isse

Para-graphen

2644 2806

+ 162

Regie rätliche

Erlasse

467 459

— 8

rungs-Erlasse

Para­graphen

3856 5132

+ 1276

Tc

Erlasse

913 826

— 87

tal

Para­graphen

10 646 12 124

+ 1478

Es gibt also keine inflatorische Vermehrung der Erlasse, sondern im Gegenteil weniger Grossratsbeschlüsse und praktisch gleich viele Gesetze und Regierungserlasse wie 40 Jahre vorher. Die vermehrte Zahl der Paragraphen betrifft fast nur die "regie­rungsrätlichen Vorschriften, also gerade diejenigen, die nicht für längere Dauer be­stimmt sind. Ja , wenn wir 1500 mehr Geseteesparagraphen gehabt hätten, wäre die Rede von der «Gesetzesinflation am laufenden Band» beachtlich und wahr gewesen. Aber 1276 mehr regierungsrätliche Paragraphen (11,2 s tat t 8,3 Artikel pro Erlass) als anno 1900 schaden gar nichts! Wir glauben nicht, dass sie «eine Gefahr für Recht und Freiheit» (Prof. W. Kägi) darstellen.

Für den Kanton Bern gab es keine Gesetzes- und keine Dekrets- noch Verordnungs­inflation. Auf Grund der angestellten Beobachtungen und Nachzählungen kommen

Page 12: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Haben wir eine Gçsetzesinflation ? 261

wir zum Schiuse, dass nicht mutwillig, sondern sorgfaltig und dem rechtlichen Bedarf entsprechend legiferiert wurde. Es ist doch wohl so wie der ehemalige Regierungsrat Dr. M. Feldmann im «Volksblatt für Stadt und Land», Nr. 9/10 von 1951, schrieb:

«Neue Gesetze sind dann notwendig, wenn die alten Gesetze nicht mehr genügen, um eine Sache richtig zu ordnen, wenn sie nicht mehr ausreichen, um den Anforderungen des Lebens gerecht zu werden.» Und weiter: «Wer den Zweck will, muss auch die Mittel wollen; wer die Mittel, z. B. die gesetzlichen Mittel verweigert, gibt auch den Zweck preis. Darum tut man gut daran, vor dem leeren, falschen, unwahren Schlag­wort der , Gesetzesinflation' auf der Hut zu sein. »

Zu dem für den Kanton Bern durchaus erfreulichen Ergebnis unserer Unter­suchung sind nur noch zwei Bemerkungen zu machen. Einmal scheint es angesichts der stärkeren Produktivität von Regierungsrat und Grossem Rat wünschbar, dass die Bilanzierung, die Sammlung der auf einen bestimmten Zeitpunkt gültigen Erlasse häufiger vorgenommen werde. Es ist nicht gesagt, dass nach den Sammlungen von 1861, 1900 und 1940 wieder vierzig Jahre lang zugewartet werden darf.

Zweitens fällt auf, dass das günstige Ergebnis in einem Zeitpunkt erlangt wurde, da die Produktion während Jahren nicht besonders gross war. Die Kriegsjahre nach 1940 zeigen wieder einen grösseren Ausstoss von Vorschriften. Ein Vergleich von 1950 mit 1900 wäre deshalb etwas weniger günstig ausgefallen. Die Jahre 1950 und 1951 zeigen einen Rückgang der edierten Vorschriften (ausser beim Grossen Rat), und es ist zu hoffen, dass der Abbau weitergeführt wird. Nur so gilt der Satz: Im Kanton Bern existiert weder eine sich anhäufende Paragraphenflut noch eine Gesetzesinflation. Aber hier wie anderwärts eignet den Vorschriften ohne Gesetzeskraft eine bedenkliche Kurzlebigkeit.

Page 13: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Anhangtabelle I Die jährliche Produktion von Erlassen und ihre Paragraphenzahl 1894-1951 (Auszug aus den Gesetzesbänden des Kantons Bern)

Jahr

1894 1895 1896 1897 1898 1899 1900 1901 1902 1903 1904 1905 1906 1907 1908 1909 1910 1911 1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 1921 1922 1923

Zahl der Erlasse

Re­gierungs-

Rat

14 9

11 16 10 12 14 10 11 7 8

20 23 32 16 24 16 23 33 11 16 9

21 27 50 52 48 43 42 1 31

Gro

sser

Ra

t u

nd

Obe

r­ge

rich

t

12 13 13 13 15 9 8 7 9 9

15 7

13 11 13 14 14 16 12 9

13 5 7 4 8

37 17 13 23 1 7

Volk

4 1 1 1 3 2 3 1 2 2 1 4 3 5 4 6 0 2 3 1 4 0 2 1 5 3 2 7 4 2

Zahl der

Regierungs-Rat

180 + 6 1 1 8 + 1 58

209 + 6 1 4 5 + 1 150 136 82 + 32

151 + 1 47 66

3 2 8 + 1 1 9 6 + 7 3 2 6 + 2 114 320 + 60 178 289 + 30 466 + 7 1 2 7 + 4 203

55 425 + 3 349 6 3 4 + 3 527 + 11 518 429 + 30 243 2 2 7

Paragraphen (-f- Anhang)

Grosser Rat und

Obergericht

244 67

133 199 189

51 32 96 47 + 60 48

110 + 33 46

124 127 + 8 77

170 216 275 + 30

81 60

143 + 121 1 2 7 + 3

68 35

164 651 262 209 269 + 12 44

Volk

188 3

59 125

57 14 9 2

35 34 10 91 28 86

109 242

0 211 + 13 125

11 147

0 29

106 516 + 8 65 87

102 79 2 9 + 1

Jahr

1924 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951

1894-1951

Zahl der Erlasse

Re­gierungs-

Rat

31 17 31 20 27 23 29 26 25 27 20 27 34 24 17 29 42 37 53 50 68 50 42 43 41 41 29 26

1588

1 G

ross

er R

at

1 u

nd

Obe

r­ge

rich

t

9 3 7

10 7

13 6 9 9 9 8

13 10 8 8

12 14 11 24 30 11 15 22 28 32 23 17 32

766

Volk

2 2 3 2 1 3 2 3 3 1 3 2 0 6 6 4 4 1 5 3 3 4 4 6 6 4 4 3

169

Zahl der Paragraphen ( + Anhang)

Regierungs-Rat

221 9 3 + 3

255 + 14 190 285 329 + 16 351 180 + 30 277 + 16 264 + 18 300 191 3 1 4 + 3 121 170 3 2 9 + 3 505 + 43 417 883 + 112 4 3 3 + 2 578 339 426 369 408 231 229 153 + 30

16 137+495

Grosser Rat und

Obergericht

9 6 + 26 98 38 6 5 + 6 68 + 30

106 31 95 52 84 49 + 25

106 + 4 113 47 + 23

107 91 + 30

173 59 + 30

160 + 30 202 + 32 142 212 213 221 146 100 102 126

7 466 + 503

Volk

25 38 90 27

400 31 45 24 15 6

114 78

0 42

138 42 89

2 58 16

246 95 45 75 93 23

150 173

4 779 + 22

1

Page 14: Haben wir eine Gesetzesinflation · 2018. 12. 30. · Erlaas 1894-1904. 1905-1914. 1915-1918. 1919-1924. 1925-1930. 1931-1938. 1939-1945. 1946-1951. 11 10 4 6 6 8 7 6 58 21 32 8 20

Anhangtabelle II Die jährliche Produktion v o n Erlassen nach Direktionen 1921-1951

Nr. Direktion oder Abteilung

1. Präsidialabteilung 2. Armenwesen (Fürsorge) . . . 3. Bauten und Eisenbahnen . . 4. Erziehung (Unterricht) . . . 5. Finanz 6. Forsten 7. Gemeinde we sen 8. Justiz 9. Kirchenwesen

10. Polizei 11. Sanität 12. Volkswirtschaft (Inneres) . . 13. Landwirtschaft 14. Militär 15. Obergericht

31 Jahre 1921-1951

27 Jahre 1894^1920

Total

Zahl der Erlasse

Regicrungs-Rat

22 55 82

126 125 65 11 80 23 79 57

219 83 14 4

1045

543

1588

Grosser Rat und

Obergericht

24 12 7

65 94

6 19 43 61 37

9 28 14 2

22

443

323

766

Volk

5 6

11 12 24

4 1 8 3 3 6

14 6

103

66

169

Total

51 73

100 203 243

75 31

131 87

119 72

261 103

16 26

1591

932

2523

Zahl der Paragraphen ( + Anhang)

Regierungs-Rat

236 597 434 + 80

1 245 + 14 1 085 + 46

840 + 62 44

533 + 18 377 615 + 16 565 + 18

2 241 + 66 777 126

25

9 740 + 320

6 397 + 175

16 137 + 495

Crosser Rat und

Obergericht

275 + 30 70 + 23 62

615 800 41 97

413 + 6 402 + 85 305 + 42

52 272

86 + 32 8

126 + 30

3624 + 248

3842 + 255

7466 + 503

Volk

49 51 + 1

240 211 529 146

2 558 111

18 44

310 121

2390 + 1

2389 + 21

4779 + 22

Total

560 + 30 718 + 24 736 + 80

2 071 + 14 2 414 + 46 1 027 + 62

143 1 504 + 24

890 + 85 938 + 58 661 + 18

2 823 + 66 984 + 32 134 151 + 30

15 7 5 4 + 569

12 628 + 451

28 382 + 1020