(Hallesche Beitrage Zur Europaischen Aufklarung) Stengel, Friedemann-Kant und Swedenborg_ Zugänge...

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Kant und Swedenborg Herausgegeben von Friedemann Stengel Max Niemeyer Verlag

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(Hallesche Beitrage Zur Europaischen Aufklarung) Stengel, Friedemann-Kant und Swedenborg_ Zugänge zu einem umstrittenen Verhältnis -Max Niemeyer Verlag (2009)

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  • Kant und Swedenborg

    Herausgegeben vonFriedemann Stengel

    Max Niemeyer Verlag

  • Hallesche Beitrge

    zur Europischen Aufklrung 38

    Schriftenreihe des Interdisziplinren Zentrumsfr die Erforschung der Europischen AufklrungMartin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg

  • Kant und Swedenborg

    Zugnge zu einem umstrittenen Verhltnis

    Herausgegeben von Friedemann Stengel

    nMax Niemeyer Verlag Tbingen

  • Herausgeber:Daniel Fulda, Ulrich Barth, Wolfgang Hirschmann, Gabriela Lehmann-Carli,MonikaNeugebauer-Wlk, Jrgen Stolzenberg,Heinz Thoma, SabineVolk-Birke

    Wissenschaftlicher Beirat:Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Das-ton, Wilhelm Khlmann, Wolfgang Levermann, JeanMondot, Jrgen Osterham-mel, Alberto Postigliola, Paul Raabe, Peter Hanns Reill, Heiner Schnelling

    Redaktion: Ulrich DiehlSatz: Kornelia Grn

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet berhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

    ISBN 978-3-484-81038-9 ISSN 0948-6070

    Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KGhttp://www.niemeyer.deDas Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwer-tung auerhalb der engenGrenzen desUrheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung desVerlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, ber-setzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni-schen Systemen.Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier.Printed in Germany.Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

  • Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkrzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX INGE JONSSON: Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick . . . . . . . . . . . . . . . 1 REINHARD BRANDT: berlegungen zur Umbruchsituation 17651766 in Kants philosophischer Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 FRIEDEMANN STENGEL: Kant Zwillingsbruder Swedenborgs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 GREGORY R. JOHNSON: Trume eines Geistersehers Polemik gegen die Metaphysik oder Parodie der Popularphilosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 MONIQUE DAVID-MNARD: Swedenborg in der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 PAUL BISHOP: Schwrmerei und Geistersehrerei, Aufklrung und analytische Psychologie: Kant und Swedenborg aus der Sicht von C. G. Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 WOUTER HANEGRAAFF: Swedenborg aus der Sicht von Kant und der akademischen Kantforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

  • Vorwort In Immanuel Kant als dem fhrenden Vertreter der philosophischen Aufklrung und dem Naturforscher und Geisterseher Emanuel Swedenborg, der als Geburts-helfer der modernen Esoterik gilt, stehen sich zwei offenbar vllig gegenstzliche Reprsentanten des 18. Jahrhunderts gegenber. Bei Kants und Swedenborgs lite-rarischer Begegnung scheinen die beiden paradigmatischen Weltbilder der Aufkl-rung und der Esoterik aufeinanderzuprallen und danach getrennte Wege zu gehen. So urteilte der Marburger Kirchenhistoriker Ernst Benz bereits 1941, Kant habe Swedenborgs Lehre mit seinen 1766 anonym erschienenen Trumen eines Geister-sehers, erlutert durch Trume der Metaphysik nicht nur dem Fluch der Lcher-lichkeit ausgesetzt, er habe sie sogar hingerichtet.1 Ganz anders hatte der Hallesche Kantforscher Hans Vaihinger ein halbes Jahrhundert vorher das Verhltnis Kants zu Swedenborg gesehen: Man drfe den Zusammenhang zwischen beiden weder ber-treiben noch in den entgegengesetzten Fehler verfallen, ein positives Verhltnis zwi-schen ihnen nmlich ganz hinwegzuleugnen.2 Nicht erst in den hufig scharf von-einander getrennten Bereichen der Kant- und der Swedenborgforschung des 19. und 20. Jahrhunderts ist die Diskussion mit vielen Schattierungen, aber dennoch zwi-schen diesen kontrren Positionen verlaufen, bereits die Zeitgenossen Kants und Swedenborgs haben ganz unterschiedliche Versuche unternommen, Kants Umgang mit Swedenborg zu verstehen. Der vorliegende Band basiert auf Vortrgen, die Ende August 2006 anlsslich eines Internationalen Kant-Swedenborg-Workshops am Interdisziplinren Zentrum fr die Erforschung der Europischen Aufklrung (IZEA) in Halle gehalten wurden. Diese Veranstaltung hatte es nicht zum Ziel, ein endgltiges und harmonisiertes Ur-teil ber das weithin umstrittene Verhltnis zwischen Kant und Swedenborg herbei-zufhren. Vielmehr war beabsichtigt, unter dem Stichwort different approaches die disparaten Sichtweisen der letzten Jahre miteinander zu konfrontieren und deren Vertreter aus Philosophie, Literaturwissenschaft, Religionswissenschaft und Theo-logie miteinander ins Gesprch zu bringen. So ergeben die nun hier prsentierten Aufstze auch nicht ein harmonisiertes und einhelliges Urteil, sie stehen vielmehr fr die verschiedenen Zugangs- und Interpretationsmglichkeiten aus einer inter-disziplinren Perspektive. 1 Benz, Ernst, Immanuel Swedenborg als geistiger Wegbahner des deutschen Idealismus und der

    deutschen Romantik, in: Deutsche Vierteljahresschrift fr Literaturwissenschaft und Geistes-geschichte 19 (1941), S. 2, 12f.

    2 Vaihinger, Hans, Commentar zu Kants Kritik der Reinen Vernunft. Stuttgart / Berlin / Leipzig 1892, Bd. 2, S. 431.

  • VIII

    Den Anfang des Bandes bilden zwei Beitrge fhrender Vertreter der Kant- und der Swedenborgforschung. Der Stockholmer Literaturwissenschaftler Inge Jonsson, seit Jahrzehnten Nestor und weltweit bester Kenner der akademischen Swedenborg-forschung, liefert einen allgemeinen und grundlegenden berblick ber die Probleme und Schwerpunkte der wissenschaftlichen Beschftigung mit Swedenborg vom 19. Jahrhundert bis auf unsere Tage. Aus der Perspektive der Kantforschung steuert der Marburger Philosoph Reinhard Brandt eigene berlegungen zur kritischen, eng mit den Trumen eines Geistersehers verbundenen Wende in Kants philosophischer Biographie bei, wobei anhand von Kants mit Swedenborg konnotierter Kritik nicht an den Inhalten, sondern an der Methode der Metaphysik in den Trumen die Neu-aufteilung von theoretischer und praktischer Philosophie in den Blick genommen wird. Sowohl vom Text als auch von den zeitgenssischen Reaktionen auf die Trume ausgehend, untersucht der Hallesche Kirchenhistoriker Friedemann Stengel berschneidungen und partielle Aneignungen von Lehrelementen Swedenborgs durch Kant, die sich von dem Namen Swedenborgs selbst getrennt haben und in Kants Religions- und Moralphilosophie integriert worden sind. Der Philosoph Gregory R. Johnson (Atlanta) bietet eine streng auf den Text konzentrierte Inter-pretation der Trume und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Problemkreis Swedenborg und die Metaphysik in den einzelnen Kapiteln der Schrift gleichsam von mehreren fiktiven Personen kontrovers diskutiert wird, unter denen sich auch Kants eigene Stimme befindet. Die Pariser Psychoanalytikerin und Philosophin Monique David-Mnard stellt ihre These vor, dass sich die Abwehr der Behauptung Swedenborgs, in Kontakt mit einer intelligiblen Welt von Geistern zu stehen, als Negativfolie bis in die Kritik der reinen Vernunft hinein verfolgen lsst. Dass die spezifische Lesart eines ausgesprochen engen Verhltnisses zwischen Kant und Swe-denborg zur faktischen Rezeption innerhalb der Wissenschaftsgeschichte gehrt, zeigt der Germanist Paul Bishop (Glasgow) am Beispiel des Protagonisten der Tiefen-psychologie Carl Gustav Jung, der sich bei der Entwicklung seiner Lehre selbst als Kantianer verstand. Abschlieend macht der Amsterdamer Religionswissenschaftler Wouter J. Hanegraaff auf die tiefe Diskrepanz aufmerksam, die zwischen der inten-siven Beschftigung Kants mit Swedenborg und dem geringen Interesse der akade-mischen Kantforschung an Swedenborg seit dem Ende des 19. Jahrhunderts besteht. Fr ihre Mithilfe bei der Herstellung des Bandes wird Kornelia Grn, Ulrike Messe, Grit Neugebauer und Dr. Ulrich Diehl herzlich gedankt. Die bersetzung des Beitrags von Gregory R. Johnson ist vom Herausgeber besorgt worden. Fr die Aufnahme des Bandes in die Halleschen Beitrge zur Europischen Aufklrung gebhrt dem Herausgeberkreis, dem IZEA, insbesondere aber Monika Neugebauer-Wlk und der von ihr geleiteten DFG-Forschergruppe Die Aufklrung im Bezugs-feld neuzeitlicher Esoterik, welcher der Herausgeber angehrt und in deren Rahmen der Workshop veranstaltet worden ist, ebenfalls herzlicher Dank. Halle, im Juni 2008 Friedemann Stengel

  • Abkrzungen Die Schriften Kants werden nach der Akademie-Ausgabe zitiert, nur im Falle der Kritik der reinen Vernunft wird auf die Seitenzhlung der 1. (A) oder 2. (B) Auflage Bezug genommen. Swedenborgs Schriften finden sich im lateinischen Original und in ber-setzungen unter http://www.baysidechurch.org/writings.cfm und http://www.wlb-stuttgart.de/referate/theologie/swedvotx.html. Die nach den Abkrzungen von Swe-denborgs Schriften genannten Ziffern beziehen sich, wenn nicht anders ausge-wiesen, nicht auf Seitenangaben, sondern auf die Nummerierung. AA Akademie-Ausgabe AC Swedenborg, Emanuel, Arcana coelestia, quae in scriptura sa-

    cra, seu verbo domini sunt, detecta. Londini 17491756; deutsch: Himmlische Geheimnisse, die in der Heiligen Schrift, dem Worte des Herrn, enthalten und nun enthllt sind. 9 Bde. Zrich 1975.

    GMS Kant, Immanuel, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1785. KpV Kant, Immanuel, Kritik der praktischen Vernunft. 1788. KrV Kant, Immanuel, Kritik der reinen Vernunft. 1. Aufl. (A) 1781;

    2. Aufl. (B) 1787. KU Kant, Immanuel, Kritik der Urteilskraft. 1790. R Kant, Immanuel, Reflexionen aus dem Nachla. RGblV Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloen Vernunft. 2. Aufl. 1794. VCR Swedenborg, Emanuel, Vera christiana religio, continens

    universam theologiam novae ecclesiae a Domino apud Danielem VII. 7, 1314 et in Apocalypsi XXI, 1.2 praedictae. Amstelo-dami 1771; deutsch: Die wahre christliche Religion. 4 Bde. Z-rich 1960.

  • INGE JONSSON (Stockholm) Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick Jeder Versuch, die Literatur ber einflussreiche Denker und Dichter kurz zusam-menzufassen, ist notorisch schwierig, und wichtige Beitrge riskieren, nicht be-achtet zu werden. Aber im Falle Emanuel Swedenborgs (16881772) entstehen auch spezielle Schwierigkeiten. Es besteht kein Zweifel, dass die Erforschung seines Lebens und Werks von den stark auseinandergehenden Meinungen ber sei-ne religisen Ansprche und Ansichten bestimmt worden ist, die schon in seiner Lebenszeit entstanden. Gegen eine vergleichsweise kleine Anzahl von Verehrern und Jngern stand ein unheiliger Bund von Vertretern der Aufklrung wie Kant oder Johan Henrik Kellgren (17511795) in Schweden und orthodoxen Geistli-chen, denen die Zensur und andere Machtmittel zu Verfgung standen. Ihre An-griffe auf den Geisterseher, die oft sehr hhnisch waren, erregten nicht nur eine apologetische Haltung bei den Anhngern, sondern auch Gefhle der Unsicherheit und des Zauderns bei den Gebildeten. Diese Stimmungen leben immer noch weiter. Vielfach ist die Frage an mich gestellt worden, warum ich meine Zeit fr einen so wunderlichen Verfasser verwendet habe und ber einen langen Zeitraum war ich auch ziemlich einsam als profaner Swedenborgforscher in seinem Heimatland. Dieser summarische berblick soll mit einem Lob der neukirchlichen Tradition begonnen werden, weil es in vielerlei Hinsicht wohlverdient ist. Etwa zehn Jahre nach Swedenborgs Tod entstanden die ersten von Swedenborgs Schriften inspirier-ten Gesellschaften in England, mit dem primren Zweck, eben diese Schriften all-gemein zugnglich zu machen. Die Lehre Swedenborgs wurde dann auch in den USA bekannt gemacht. Nach und nach entwickelten sich hier nationale Kirchen aus einer Menge von kleinen lokalen Gemeinden. Ohne den hingebungsvollen Ein-satz von Glubigen zuerst in England und in den Vereinigten Staaten, aber auch in Deutschland, wren heute gewiss weder Ausgaben von Swedenborgs zahlreichen unverffentlichten Werken noch bersetzungen seiner lateinischen Bcher zu ha-ben. Die Arbeit fing schon kurz nach Swedenborgs Tod in London an, aber ein groer Teil der umfassendsten Projekte ist mit dem deutschen Namen Tafel ver-bunden. Im Jahre 1841 erhielt der berhmte Chemiker Jns Jakob Berzelius (17791848) als Secrtaire perptuel der kniglichen Akademie der Wissenschaften in Stockholm eine Anfrage der Swedenborg Society in London zum Besitzrecht eines Swedenborg-Manuskripts, das die Gesellschaft in ihrer Obhut hatte. Berzelius konnte sofort besttigen, dass die Erben Swedenborgs alle hinterlassenen Manu-skripte der Akademie, deren Mitglied Swedenborg seit 1740 gewesen war, ge-schenkt hatten. Die englische Gesellschaft antwortete darauf, dass sie das Manu-

  • Inge Jonsson 2

    skript selbstverstndlich zurckgeben wrde, aber sie bat um eine Frist, um es in Deutschland bersetzen zu lassen.1 Der Grund fr die bersendung des Manuskripts nach Tbingen hie Johann Friedrich Immanuel Tafel, Bibliothekar an der Universitt und spter Professor der Philosophie. Er war 1796 geboren und hatte von Jugend auf als bersetzer der theologischen Werke Swedenborgs und als Sammler von Dokumenten ber ihn und die Neue Kirche gearbeitet. Auerdem war er als apologetischer Schriftsteller ttig. Seine Bedeutung fr die Verbreitung der Gedanken Swedenborgs, vor allem als unermdlicher Herausgeber und bersetzer von bis dahin ungedruckten Wer-ken, kann kaum berschtzt werden. Wenn auch mehrere der groen deutschen Dichter und Denker um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Lavater, Jung-Stilling, Goethe, Schelling, Schubert, von Baader, Grres Swedenborg mit gro-em Interesse gelesen hatten, wurde das Werk des Geistersehers dem Publikum ohne Lateinkenntnisse eigentlich nur durch den fleiigen Bibliothekar, Herrn Doktor Tafel zugnglich.2 In England und in den USA war es anders:

    Besonders in Grobritannien gewann sein [Swedenborgs] Einfluss schnell an Kraft, weil einige seiner Werke den Lesern schon zu seinen Lebzeiten auf Englisch verfgbar waren; und inner-halb von 20 Jahren nach seinem Tod 1772 waren alle greren und viele der kleineren theolo-gischen Werke ins Englische bersetzt. [...] Der erste Verlag, der sich dem Druck der Werke Swedenborgs widmete, die Manchester Printing Society, wurde 1782 gegrndet, nur ein Jahr-zehnt nach seinem Tod.3

    Im Hinblick auf die Akten und Daten zum Leben und Werk Swedenborgs haben sich Immanuel Tafel und noch mehr sein in die USA ausgewanderter Neffe Rudolf Leonhard Tafel (18311880) die grten Verdienste erworben, der erstere durch eine vierbndige Sammlung von Texten ber das Leben und den Charakter E. Swedenborgs (18391845), der letztere durch eine noch umfassendere Sammlung. Um seinen Onkel zu ehren, bersetzte Rudolf Tafel sowohl den Titel als auch den Inhalt der deutschen Sammlung, als er seine eigenen drei riesigen Bnde Docu-ments concerning the Life and Character of Emanuel Swedenborg (18751877) in London verffentlichte, aber er hatte auch whrend einer Forschungsreise nach

    1 Tafel, Rudolf L. (Hg.), Documents concerning the Life and Character of Emanuel Sweden-

    borg. London 1877 [Nachdruck 2004], S. 797834; Jonsson, Inge, Swedenborg i Tyskland: re-sor, reflexer, reception, in: Hillerud, Kai-Inge (Hg.), Bland bcker och mnniskor. Festschrift an Wilhelm Odelberg. Uddevalla 1983, S.170171.

    2 Jonsson, Tyskland, (wie Anm. 1), S. 171172; Bergmann, Horst, Johann Friedrich Immanuel Tafel (17961863). Initiator einer Bewegung, in: Zwink, Eberhard (Hg.), Emanuel Swedenborg 16881772. Naturforscher und Kundiger der berwelt. Stuttgart 1988, S. 9396; Mayer, Jean-Franois, Swedenborg and Continental Europe, in: Rose, Jonathan S. / Shotwell, Stuart / Ber-tucci, Mary Lou (Hg.), Emanuel Swedenborg. Essays for the New Century Edition on His Life, Work, and Impact. West Chester 2005, S. 177f.

    3 Kirven, Robert H. / Eller, David B., Selected Examples of Swedenborgs Influence in Great Britain and the United States, in: Rose / Shotwell / Bertucci, (wie Anm. 2), S. 196 [bers. F. S.].

  • Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick 3

    Schweden eine Menge von bisher unbekannten Urkunden aufgesprt. Es ist seine Sammlung, die das Standardwerk in der Swedenborgliteratur geworden ist. Einige Jahre nach Immanuel Tafels Tod 1863 ergriff eine der amerikanischen Swedenborggemeinschaften die Initiative zur Fortsetzung seiner Arbeit als Heraus-geber smtlicher Handschriften Swedenborgs und ein Komitee wurde beauftragt, die praktischen Voraussetzungen zu untersuchen. Nachdem die Gemeinschaft eine groe Schenkung bekommen hatte, wurde Rudolf Tafel mit der Aufgabe betraut, alle Manuskripte sicherheitshalber zu reproduzieren. Das Projekt wurde mit Hilfe der neuerfundenen photolithographischen Technik in Stockholm durchgefhrt. Whrend der Jahre 1869 und 1870 konnte Tafel zehn Bnde verffentlichen, die aus solchen Kopien, vorwiegend aus wissenschaftlichen Manuskripten, bestanden. Die Auflage belief sich auf 110 Exemplare, die den fhrenden Bibliotheken der Welt geschenkt wurden. Aus mindestens zwei Grnden muss dieses Projekt auch bei denen Aufsehen erregt haben, die sich nicht fr den Inhalt interessierten: Erstens war es das erste Mal, dass die photolithographische Technik benutzt wurde, um die Zusammenarbeit zwischen Forschern zu befrdern. Und zweitens war die Freigebigkeit fast einzigartig.4 Jedoch hatte auch sie ihre Grenzen. Man hatte offenbar die Kosten fr die Reproduktion der etwa 20.000 Seiten unterschtzt. Deshalb wurde zunchst nur ein Viertel des Materials herausgegeben, leider in einem wissenschaftlich nicht ganz befriedigenden Zustand. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde indessen eine neue Reihe von phototypischen Kopien unter der Leitung eines jungen amerikanischen Swedenborgpastors namens Alfred Stroh gestartet. Er agierte auch als Herausgeber einer Reihe frher wissenschaftlicher Werke Swedenborgs bei der Akademie der Wissenschaften in Stockholm und verwurzelte sich tief in Schweden. Leider wurde er nur 44 Jahre alt, aber whrend seines kurzes Lebens vermochte er dank seiner eingehenden Kenntnis sowohl des intellektuellen Hintergrundes Swedenborgs als auch seiner Texte eine viel festere Basis fr die Swedenborgforschung zu legen.5 Gemeinsam mit Stroh und den Herren Tafel hat Alfred Acton (18671956) mit mehreren erstklassigen bersetzungen und Ausgaben einen Rang unter den neu-kirchlichen Forschern erworben: die Sammlung von Exzerpten in A Philosophers Note Book (1931) und von Briefen und Dienstakten in Letters and Memorials of Emanuel Swedenborg (194855) sind besonders wertvoll. 4 Eby, S. C., The Story of the Swedenborg Manuscripts. New York 1926, S. 4047; vgl. auch

    Woofenden, William Ross, Swedenborg Researchers Manual. Bryn Athyn 1988, S. 135136; Sigstedt, Cyriel O., The Swedenborg Epic. The Life and Works of Emanuel Swedenborg. New York 1952, S. 442443: ber die Jahre wurde durch den Flei verschiedener Organisationen in Amerika und England und durch die Ttigkeit von Rudolf Leonard Tafel, Alfred Henry Stroh, Alfred Acton und anderen jedes noch vorhandene Wort Swedenborgs mit verschiedenen Methoden in genauer Reproduktion konserviert: durch Photolithographie, Photosatz und Pho-tokopie. [bers. F.S].

    5 Eby, (wie Anm. 4), S. 5055; Jonsson, Inge, A Drama of Creation. Sources and Influences in Swedenborgs Worship and Love of God. West Chester 2004, S. 8f.

  • Inge Jonsson 4

    Amerikanische Zeitschriften wie The New Philosophy (seit 1898) und Studia Swedenborgiana (seit 1974) sind bedeutende Foren fr die Verffentlichung von Forschungsergebnissen, die nicht nur fr Mitglieder der Neuen Kirche offen ste-hen. Im Zusammenhang mit groen Jubilen, vor allem mit der Hundertjahrfeier der britischen Swedenborg Society 1910 und mit dem 300. Geburtstag Sweden-borgs 1988, haben verschiedene neukirchliche Gesellschaften inhaltsvolle Bcher verffentlicht.6 Nicht zuletzt muss die fortdauernde Herausgabe der theologischen Werke Swedenborgs in neuen bersetzungen beachtet werden. Derzeit arbeitet ein Team an einer neuen gesammelten Ausgabe auf Englisch unter der Leitung der Swedenborg Foundation in West Chester, Pennsylvania: The New Century Edition of the Works of Emanuel Swedenborg. Trotz dieser groen editorischen Anstrengungen muss jedoch auch das grundle-gende Problem der neukirchlichen Forschung kommentiert werden. Die Jnger Swedenborgs sind gewiss nicht von Lehrstreitigkeiten und Sektenwesen verschont geblieben. Bis heute sind sie sich wohl nicht ganz einig ber den theologischen Status seiner Schriften. Dass er erwhlt wurde, um eine gttliche Botschaft vom wahren Christentum vera christiana religio zu vermitteln, wird aber nicht in Frage gestellt, sondern ist der neukirchliche Ausgangspunkt fr das Studium seines Lebens und Werks. Dadurch entsteht natrlich eine missionierende und apologeti-sche Haltung innerhalb der Gesellschaften, die nur eine verschwindende Minoritt der Christenheit ausmachen.7 Und es gibt Tendenzen, die wissenschaftlichen Lei-stungen Swedenborgs zu berschtzen. Wenn ihm in der Geschichte der Gelehr-samkeit eine Stellung zugeschrieben wird, die nur mit Kepler, Newton oder Darwin vergleichbar sei, glaubt man offenbar, die hchste Autoritt himmelstrmender Ansprche, die Swedenborg in seinen theologischen Werken beansprucht, aus seinem naturwissenschaftlichen Werk erwerben zu knnen. In einem Artikel in The New Philosophy wurde vor einigen Jahren Leibniz als Johannes der Tufer dargestellt, der selbstverstndlich dessen unbewusst die Ankunft des Messias Swedenborg angekndigt habe.8 Es versteht sich von selbst, dass man die Ergeb-nisse solcher Studien behutsam behandeln muss. 6 Speirs, James (Hg.), Transactions of the International Swedenborg Congress 1910. London

    1911; Brock, Erland J. u.a. (Hg.), Swedenborg and His Influence. Bryn Athyn 1988; Larsen, Robin u.a. (Hg.), Emanuel Swedenborg. A Continuing Vision. New York 1988; Zwink, (wie Anm. 2).

    7 Vgl. Williams-Hogan, Jane / Eller, David B., Organizational Impact, in: Rose / Shotwell / Ber-tucci, (wie Anm. 2), S. 245335.

    8 Vgl. Nemitz, Kurt P., Leibniz and Swedenborg, in: The New Philosophy 94 (1991), S. 445f.: Man kann diskutieren, ob Leibniz nicht nur an der Formgebung der philosophischen Welt, in der Swedenborg lebte, teilhatte, sondern eine noch viel bedeutendere Rolle in dem gttlichen Drama der Erlsung des menschlichen Denkens spielte. Leibniz ansprechende Thesen fordern das menschliche Denken zu zwei grundstzlichen Fragen heraus: Wie regiert Gott die Welt, um das hervorzubringen, was vollkommen und gut ist trotz der Realitt des Bsen? Worin be-steht die gttlich geordnete Beziehung zwischen Geist und Krper, durch die die gleichen Ab-sichten Gottes realisiert werden? Es knnte behauptet werden, dass Leibniz durch das Ver-

  • Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick 5

    Zur Verteidigung der neukirchlichen Forscher kann das fehlende Interesse, das die Wissenschaftshistoriker fr Swedenborg gezeigt haben, angefhrt werden. Da-rum gibt es noch heutzutage keine zusammenfassende Bewertung seiner Position in der Geschichte der Gelehrtheit. Das macht die Rede in neukirchlichen Kreisen von a conspiracy of silence leicht verstndlich.9 Aber der hauptschliche Grund ist ge-wiss im Abschluss der Karriere Swedenborgs zu finden, oder in the fact that he wrote the Arcana Caelestia, um einen neukirchlichen Verfasser zu zitieren.10 Eini-ge haben seinen bergang zur Bibelauslegung als einen Verrat an der Wissenschaft aufgefasst, andere erklrten ihn fr geisteskrank. Keine dieser Alternativen hat au-genscheinlich das Interesse hervorgerufen, mit ihm bekannt zu werden. Aber es hat gewiss auch eine wichtige Rolle gespielt, dass Swedenborg nicht in das kumulative Muster passt, das die Wissenschaftsgeschichte lange geprgt hat. Es gibt nur weni-ge Entdeckungen oder gelste Probleme, die mit ihm verbunden sind, er machte auch keine akademische Karriere, die ihm Schler und Nachfolger htte bescheren knnen. Der Hauptteil seiner wissenschaftlichen Arbeiten sind Werke von einem Privatmann. Seine groen hirnphysiologischen Manuskripte blieben nahezu 150 Jahre unverffentlicht und konnten deshalb keinen Einfluss auf die Entwicklung der Hirnforschung nehmen. Dies kann man angesichts der Hochachtung, mit der gerade diese Werke von den wenigen Fachleuten geschtzt worden sind, die die Kraft hatten, sie zu lesen, fast als tragisch bezeichnen.11 Meiner Meinung nach ist die wahre Gre Swedenborgs in den unerhrten Vi-sionen hinter einem Wissensdrang zu finden, der keinen Anstrengungen auswich und sich innerhalb keiner Fachgrenzen einschlieen lie. Dies kann jedoch auch das zurckhaltende Verhalten der Wissenschaftshistoriker erklren. Wenn auch seine Belesenheit keineswegs so ungeheuer war, wie es die zahllosen Referenzen in seinen wissenschaftlichen Texten dem Leser zu verstehen geben verschiedenes hat er sich in Wirklichkeit aus bersichtswerken und anderen Sekundrquellen verschafft , kann es mhsam genug sein, ihm auf die Sprnge zu kommen, denn

    dienst, diese so einflussreichen Streitfragen aufgeworfen zu haben, angesichts der Wiederkunft des Herrn als ein endzeitlicher Johannes der Tufer gewirkt hat.

    9 Woofenden, William Ross, Swedenborgs Philosophy of Causality, in: The New Philosophy 93 (1990), S. 240.

    10 Johnson, Philip H., Revelation through the Ages. London 1948, S.16, zit. bei Woofenden, (wie Anm. 9), l.c.

    11 Retzius, Gustaf, Emanuel Swedenborg als Anatom und Physiolog auf dem Gebiete der Gehirn-kunde. Abdruck aus den Verhandlungen der Anatomischen Gesellschaft auf der siebzehnten Versammlung in Heidelberg vom 29. Mai bis 1. Juni 1903; Ramstrm, Martin, Swedenborg on the cerebral cortex as the seat of psychical activity, in: Speirs, (wie Anm. 6), S. 5670; Neu-burger, Max, Some important accordances between Swedenborg and modern physiologists, in: ebd., S. 117125; Gordh, T. / Sourander, P., Swedenborg, Linn och hjrnforskningen, in: Nor-disk medicinhistorisk rsbok (1990), S. 97117; Morley, Thomas P., Brain, Soul and Sweden-borg (16881772), in: The New Philosophy 96 (1993), S. 155163; Gross, Charles G., Emanuel Swedenborg: a Neuroscientist before his time, in: The New Philosophy 102 (1999), S. 429445 [Nachdruck aus: The Neuroscientist 1997].

  • Inge Jonsson 6

    weder sein eigenes Latein noch der Sprachgebrauch seiner Vorlufer sind immer leicht verstndlich.12 Fr den Nichtfachmann kommt die Schwierigkeit dazu, nicht nur den Inhalt seiner frhen Arbeiten in Physik und Astronomie, sondern auch die anatomische und physiologische Argumentation zu verstehen, die so viel Platz in den letzten Werken aus der wissenschaftlichen Periode in Anspruch nimmt. Dessen ungeachtet ist aber die Vernachlssigung Swedenborgs zu notieren, und sie ist peinlich. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts erkannten allerdings auch einige magebende Mitglieder der Akademie der Wissenschaften in Stockholm, unter an-deren der knftige Nobelpreistrger Svante Arrhenius (18591927), dass die Akademie sich um ihr weltberhmtes Mitglied mehr bemhen sollte. Es gelang ihnen, ihre Kollegen davon zu berzeugen, dass eine wissenschaftliche Edition einer Anzahl kleiner Schriften des jungen Swedenborg sehr wichtig wre:

    Im Dezember 1902 ernannte die Akademie auf meinen Vorschlag eine Kommission von 5 Mit-gliedern, nmlich dem Physiologen Prof. Christian Lovn, dem Palontologen und Geologen Prof. A. G. Nathorst, dem Mediziner und Gehirnforscher Prof. S. E. Henschen, dem Physiker Prof. Sv. Arrhenius und mir, welche beauftragt wurde, mit der gtigen Untersttzung von Mr. Stroh, die smtlichen Manuskripte Swedenborgs zu durchmustern und der Akademie einen Be-richt darber zu erstatten, ob und in welchem Umfange dieselben zu verffentlichen wren. Im April d.J. hat nun diese Kommission, deren Vorsitzender ich bin, der Akademie vorgeschlagen, den Druck zu beginnen, und zwar mit einer Auswahl sowohl der nicht gedruckten, wie der schon von Swedenborg selbst herausgegebenen, aber nunmehr ganz vergriffenen Schriften physikalischen, chemischen und geologisch-palontologischen Inhalts, um danach eine Aus-wahl seiner anatomischen Schriften zu veranstalten. Die Akademie billigte diesen Vorschlag, worauf mit dem Drucke begonnen worden ist.13

    Das Resultat waren drei kleine Bnde, die unter dem lateinischen Titel Emanuel Swedenborg: Opera quaedam aut inedita aut obsoleta de rebus naturalibus. Nunc edita sub auspiciis Regiae Academiae Scientiarum Suecicae in den Jahren 1907 bis 1911 verffentlicht wurden. Die geplante Auswahl von anatomischen Schriften ist dagegen nicht zustande gekommen. Einige sptere Untersuchungen in der Schrif-tenreihe der Akademie ber Swedenborg als Mathematiker und Astronom sind leider von der ziemlich hufigen Schwche der Studien moderner Naturforscher ber ltere Perioden geprgt, nmlich dass sie die damalige intellektuelle Atmo-sphre nicht genug bercksichtigen, sondern von dem jetzigen Stand der Wissen-schaft ausgehen.14 Whrend der letzten Jahrzehnte sind doch einige erfreuliche Anzeichen dafr vorhanden, dass die Aussichten sich bessern. Die dienstliche Arbeit Swedenborgs bot ihm Gelegenheit, groe mineralogische Werke vorzubereiten. Auch die alltg-

    12 Vgl. zum Beispiel Jonsson, Inge, Visionary Scientist. The Effects of Science and Philosophy on

    Swedenborgs Cosmology. West Chester 1999, S.75. 13 Retzius, (wie Anm. 11), S. 4f. 14 Vgl. zum Beispiel Enestrm, Gustaf, Emanuel Swedenborg ssom matematiker, in: Kungl.

    Svenska vetenskapsakademiens handlingar. Stockholm 1890, Bd. 15; Nordenmark, N. V. E., Swedenborg som astronom, in: ebd., Stockholm 1933, Bd. 23 A.

  • Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick 7

    liche Routine konnte bisweilen von spannenden Auftrgen unterbrochen werden. Der Wissenschaftshistoriker Svante Lindqvist hat in seiner Doktorarbeit Techno-logy on Trial (Uppsala 1984) nachgewiesen, dass Swedenborg vom Bergwerkskol-legium, seinem Reichsamt, im Jahre 1724 mit der Prfung der Brauchbarkeit einer Dampfmaschine fr den Bergbau beauftragt wurde. Das war die erste wissen-schaftliche Evaluierung eines technischen Verfahrens in Schweden. Sie wurde mit einer so groen Sorgfalt betrieben, dass sowohl das Amt als auch sptere Forscher damit zufrieden waren.15 Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts legte eine italienische Kollegin Lindqvists, Francesca Maria Crasta, an der Universitt zu Cagliari ihre Dissertation La filosofia della natura di Emanuel Swedenborg vor. Sie hat die Entwicklung Swedenborgs bis 1734 studiert. Auch wenn sie kaum neue Ergebnisse vorweisen kann, so ist ihr Buch doch von der sympathischen Bestrebung gekenn-zeichnet, die Naturphilosophie Swedenborgs aus den Verhltnissen ihrer Zeit her-aus zu betrachten.16 In noch hherem Mae gilt dasselbe fr die erste wissenschaftshistorische Doktorarbeit in Schweden, die sich nur mit Swedenborg beschftigt: das mehr als 550 Seiten umfassende Buch Vrldsmaskinen. Emanuel Swedenborgs naturfilosofi (Lund 2004) von David Dunr. Es endet zwar im Jahre 1734, als Swedenborg von der anorganischen zur organischen Natur berging, aber Dunr verknpft das Be-mhen, Swedenborg historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, mit einer selbstndigen und tief einsichtsvollen Analyse seines mathematisch geprgten Denkens, das auch fr die Erklrung der Struktur der Geisterwelt bedeutungsvoll ist. Der Stil des Buches entspricht hohen literarischen Anforderungen: Der Verfas-ser hat auch Mathematik studiert und kann mit seiner breiten kulturhistorischen Bildung dem Leser sowohl lehrreiche als auch sthetische Erlebnisse bieten. Wie Dunr hervorgehoben hat, ist die bisherige Rezeptionsforschung im Falle Sweden-borgs viel umfangreicher als die Studien zu seinem Leben und Werk.17 Diese Be-obachtung gilt fr die Literatur innerhalb und auerhalb der Neuen Kirche. Auf diesem Gebiet ist die Wissenschaftsgeschichte und die Religionsforschung besser reprsentiert. Neukirchliche Forscher wie Marguerite Beck Block, Freda Griffith und Jane Williams-Hogan haben die verschiedenen Swedenborggesellschaften in den Vereinigten Staaten und Grossbritannien grndlich untersucht.18 Die deutsche

    15 Lindqvist, Svante, Technology on Trial. The Introduction of Steam Power Technology into

    Sweden 17151736. Uppsala 1984, S. 163170. 16 Crasta, Francesca Maria, La filosofia della natura di Emanuel Swedenborg. Milano 1999; vgl.

    meine Besprechung, in: ISIS 93, Nr. 2 (Juni 2002), S. 312f. 17 Dunr, David, Vrldsmaskinen. Emanuel Swedenborgs naturfilosofi. Lund 2004, S. 1822. 18 Vgl. Beck Block, Marguerite, The New Church in the New World. A Study of Swedenborgia-

    nism in America. New York 1968 [1932]; Griffith, Freda G., The Swedenborg Society 18101960. London 1960; Williams-Hogan, Jane, A New Church in a Disenchanted World. A Study of the Formation and Development of the General Conference of the New Church in Great Bri-tain, Diss. phil.: University of Pennsylvania 1985; vgl. auch den oben genannten Artikel von Williams-Hogan und Elder in Rose / Shotwell / Bertucci (Anm. 7).

  • Inge Jonsson 8

    Rezeption ist vorwiegend von dem Kirchenhistoriker Ernst Benz, seinem Schler Friedemann Horn und dem Germanisten Michael Heinrichs eruiert worden. Hin-sichtlich der Rezeption in Frankreich sind ber das Buch von Auguste Viatte Les sources occultes du romantisme (1928) hinaus zwei neuere Werke zu erwhnen: Swedenborg en France von dem schwedischen Wissenschaftshistoriker Karl-Erik Sjdn und The Dream of an Absolute Language. Emanuel Swedenborg and French Literary Culture von der amerikanischen Komparatistin Lynn Wilkinson.19 In der Mitte der 1990er Jahre verffentlichten zwei schwedische Wissenschafts-historiker, Jakob Christensson in Lund und Jan Hll in Uppsala, umfassende und wohlbegrndete Dissertationen ber die frhen Swedenborgianer in Schweden, von denen einige durch ihre alchemistischen und magnetischen Aktivitten einen Schatten auf den Meister warfen.20 Der Kirchenhistoriker in Uppsala, Harry Len-hammar, hat zwei wertvolle Studien ber den frhen Swedenborgianismus in Schweden verfasst und sich dabei auf die Konflikte in der damaligen Staatskirche konzentriert, die in erheblichem Grad von Intoleranz und der Macht der Zensur ge-kennzeichnet waren. Diese beide Bcher, die 1966 und 1974 verffentlicht wur-den, stehen in scharfem Gegensatz zu dem fast betubenden Stillschweigen ber Swedenborg in der schwedischen Theologie.21 Bereits einige der eben erwhnten Werke konzentrieren sich auf den literari-schen Einfluss Swedenborgs. Im Falle der skularen akademischen Swedenborg-forschung sind die Literaturhistoriker am aktivsten gewesen. Fr die schwedische, teilweise auch fr die internationale Forschung verdient das Buch von Martin Lamm Swedenborg. En studie fver hans utveckling till mystiker och andeskdare, als bahnbrechend charakterisiert zu werden.22 Lamm hat ein Gesamtbild von der li-terarischen Ttigkeit Swedenborgs gezeichnet und betrachtet sie als ein Kontinu-um. Schon in den wissenschaftlichen Werken Swedenborgs bis zu seiner biogra-phischen Wende 1745 meinte Lamm die Grundstruktur der Geisterwelt identifizie- 19 Vgl. Benz, Ernst, Swedenborg in Deutschland. F. C. Oetingers und Immanuel Kants Auseinan-

    dersetzung mit der Person und Lehre Emanuel Swedenborgs nach neuen Quellen bearbeitet. Frankfurt/M. 1947; ders., Emanuel Swedenborg. Naturforscher und Seher. Mnchen 1948 (englisch: Swedenborg. Visionary Savant in the Age of Reason. West Chester 2002); Horn, Friedemann, Schelling and Swedenborg. Mysticism and German Idealism. West Chester 1997 (deutsch: 1954); Heinrichs, Michael, Emanuel Swedenborg in Deutschland. Eine kritische Dar-stellung der Rezeption des schwedischen Visionrs im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. 1979; Sjdn, Karl-Erik, Swedenborg en France. Stockholm 1985; Wilkinson, Lynn, The Dream of an Absolute Language. Emanuel Swedenborg and French Literary Culture. New York 1996.

    20 Vgl Christensson, Jakob, Lyckoriket. Studier i svensk upplysning. Lund 1996; Hll, Jan, I Swedenborgs labyrint. Studier i de gustavianska Swedenborgianernas liv och tnkande. Upp-sala 1995.

    21 Lenhammar, Harry, Tolerans och beknnelsetvng. Studier i den svenska swedenborgianismen 17651795. Uppsala 1966; ders., Religion och tryckfrihet i Sverige 18091840. Uppsala 1974.

    22 Stockholm 1915; deutsch: Swedenborg. Eine Studie ber seine Entwicklung zum Mystiker und Geisterseher. Leipzig 1922; englisch: Emanuel Swedenborg. The Development of His Thought. West Chester 2000. Eine franzsische bersetzung wurde 1936 verffentlicht.

  • Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick 9

    ren zu knnen. Wenn auch die neuere Forschung Einzelheiten berichtigt und die Begrenzung auf die rein philosophischen Vorstellungen in den umfangreichen Stu-dien Swedenborgs in Frage gestellt hat, besteht wenig Zweifel, dass seine generelle Auffassung berdauern wird. Im Zusammenhang mit der berfhrung der irdischen berreste Swedenborgs von London nach Uppsala im Jahre 1908 und einer internationalen Konferenz in London 1910 verstrkte sich das einheimische Interesse, das in den spten Werken August Strindbergs und in der Edition der Akademie der Wissenschaften seinen Niederschlag gefunden hatte. Die Swedenborgstudie von Martin Lamm kann man in diesem Sinne als typisch fr diese Zeit auffassen.23 Die primre Anregung der Swedenborgforschung Lamms ist in einem noch viel greren Projekt wiederzu-finden, nmlich in der Vorbereitung auf sein zweibndiges Meisterwerk Upplys-ningstidens romantik (Die Romantik der Zeit der Aufklrung 191820), das leider nur in der schwedischen Fassung zugnglich ist.24 Lamm hatte bald verstanden, dass viele der Autoren, die die Romantik in Schweden reprsentierten, von Swe-denborg inspiriert waren. Aber um die Fragen nach den Rezeptionswegen und nach den Rezeptionsumstnden beantworten zu knnen, so erkannte Lamm, muss Swe-denborg selbst ausfhrlich studiert werden. Aus dieser Absicht folgte eine Fokus-sierung auf den Ort Swedenborgs im literarischen und philosophischen Kontext. Hier war Lamm ein Pionier. Er konnte sich selbstverstndlich auf die neukirchli-chen Sammlungen von Dokumenten und Textausgaben sttzen, aber er hatte ei-gentlich keine Vorlufer in der Literaturgeschichte. Dies macht sein gelehrtes und besonnenes Buch um so bewundernswerter. Fr meine eigenen Swedenborguntersuchungen hat Lamm vor allem methodisch als Vorbild gedient. Obwohl er einen Lehrstuhl an meiner Stockholmer Universitt bekleidete, habe ich ihn nicht persnlich kennengelernt. Aber angesichts der Heili-genverehrung, die meine Lehrer ihm entgegenbrachten, ist es mir nur leichter ge-fallen, sein bahnbrechendes Buch kritisch zu lesen. Weit entfernt von seinem Zweck, die ganze Entwicklung Swedenborgs darzulegen, habe ich mich auf ein einzelnes Werk, wie in meiner Dissertation ber De cultu et amore Dei (1961), oder auf ein spezifisches Problemgebiet, wie in dem Buch Swedenborgs korrespon-denslra (1969), beschrnkt, dafr habe ich aber versucht, ein strker durchgear-beitetes Bild von dem intellektuellen Hintergrund Swedenborgs zu zeichnen.25 Nicht zuletzt dank der Edition Alfred Actons, der ausgesprochen lohnenden Samm-lung von Exzerpten unter dem Titel A Philosophers Note Book, hatte ich viel bes-

    23 Stockenstrm, Gran, Strindberg and Swedenborg, in: Larsen, (wie Anm. 6), S. 137158. 24 Schon im ersten Satz des Vorwortes betont Lamm, dass seine Swedenborgstudie von den For-

    schungen ber die mystisch-sentimentalische Strmung in der schwedischen Literatur des 18. Jahrhunderts veranlasst worden ist. Als er 1918 den ersten Band des Upplysningstidens ro-mantik seines opus magnum im weitesten Sinne publizierte, whlte er auch als Untertitel Die mystisch-sentimentalische Strmung in der schwedischen Literatur.

    25 Die Dissertation ist in einer bearbeiteten Version seit 2004 auf englisch zugnglich (Anm. 5).

  • Inge Jonsson 10

    sere Voraussetzungen als Lamm, den Studien Swedenborgs im Einzelnen zu fol-gen. Darum bin ich weniger bereit gewesen, individuellen bereinstimmungen ausschlaggebende Bedeutung beizumessen. Stattdessen glaube ich die Argumente verstrkt zu haben, dass Swedenborg zu einer rationalistischen Wissenschaftstradi-tion gehrte und gegenber dem, was er durch seine Lektre von Leibniz, Wolff und anderen magebenden Denkern gelernt hatte, keine besonderen Kenntnisse von Kabbala, Alchemie oder anderen esoterischen Strmungen besa. An der Universitt in Stockholm ist es mir kaum gelungen, die Studenten davon zu berzeugen, dass Swedenborg ein faszinierendes Forschungsobjekt ist, aber der-jenige, den ich zuletzt rekrutieren konnte, hat sich umso aktiver erwiesen. Anders Hallengren verteidigte im Jahre 1994 seine Dissertation The Code of Concord: Emersons Search for Universal Laws, in der er den Einfluss Swedenborgs auf den wahrscheinlich bedeutsamsten amerikanischen Denker sorgfltig darlegte.26 Da-nach hat er eine Menge von Artikeln und Bchern, die das Werk Swedenborgs und seine Nachwirkung behandeln, verffentlicht. Ein Titel soll hier erwhnt werden, nmlich Gallery of Mirrors: Reflections of Swedenborgian Thought.27 Hallengren ist auch als freier Schriftsteller ttig. Sein Interesse fr Swedenborg hat er mit zwei lteren Kollegen gemeinsam. Im Jubilumsjahr 1988 publizierte Lars Bergquist, Dichter und ehemaliger Diplomat, eine ausfhrlich kommentierte Ausgabe des sogenannten Traumbuchs Swedenborgs, die brigens von Hallengren ins Englische bersetzt worden ist (2001), und elf Jahre spter eine empathische und einsichtige Biographie.28 Der Dichter und Kritiker Olof Lagercrantz verffent-lichte im Jahre 1996 ein Buch, in dem er ein originelles Bild von Swedenborg zeichnete: Dikten om livet p den andra sidan (Vom Leben auf der anderen Seite). Wie der Titel anzeigt, stehen die theologischen Werke im Blickpunkt. Sie werden mit Einfhlung und Sympathie als ein visionres Gedicht dargestellt, das mit der Divina Commedia zu vergleichen sei; ber das Meisterwerk Dantes hatte Lager-crantz frher ein Buch geschrieben.29 Weder fr Swedenborg selbst noch fr seine Jnger wre diese Erklrung annehmbar, aber wahrscheinlich hat sie einem breite-ren Leserkreis die Augen geffnet.

    26 Die Dissertation wurde als Nr. 34 in den Acta Universitatis Stockholmiensis in der Serie Stock-

    holm Studies in History of Literature gedruckt, wo auch mein eigenes Buch Swedenborgs korrespondenslra (Nr. 10) und Swedenborg en France von Karl-Erik Sjden (Nr. 27) publiziert worden sind.

    27 West Chester 1998. 28 Bergquist, Lars, Swedenborgs Drmbok. Gldjen och det stora kvalet. Stockholm 1988, eng-

    lisch: Swedenborgs Dream Diary. West Chester 2001; ders., Swedenborgs hemlighet. Stock-holm 1999; englisch: Swedenborgs Secret. The Meaning and Significance of the World of God, the Life of the Angels, and Service to God. London 2005.

    29 Lagercrantz, Olof, Frn helvetet till paradiset. En bok om Dante och hans komedi. Stockholm 1964, deutsch: Dante und die Gttliche Komdie. Frankfurt/M. 1997. Sein Buch ber Sweden-borg ist auch als Nr. 11 in der Swedenborg-Studies-Serie (bers. von Anders Hallengren, West Chester 2002) erschienen; die deutsche Ausgabe wurde 1997 von Suhrkamp publiziert.

  • Die Swedenborgforschung: ein persnlicher berblick 11

    Vom Gesichtspunkt der Forschung soll mit Dankbarkeit notiert werden, dass Lagercrantz als sensibler Leser an die groen poetischen Qualitten der scnes de la vie spirituelle erinnert hat. Jedoch wre es selbstverstndlich fr den Geisterse-her unmglich, dem Herzog Theseus von Athen zuzustimmen, der im letzten Akt von A Midsummer Nights Dream von der Feder des Dichters spricht, die dem Nichtexistierenden Name und Ort geben kann: gives to airy nothing / a local habi-tation and a name.30 Das bedeutet jedoch nicht, dass Swedenborg keinen Sinn fr Poesie hatte. Ganz im Gegenteil ist sein erster Druck ein Lobgedicht auf Schwedisch, das er im Alter von zwlf Jahren schrieb, und in seinem ersten Buch verffentlichte er lateinische Gedichte. Die poetischen Werke Swedenborgs sind jetzt in drei wissenschaftlichen Editionen im Original mit englischer bersetzung zugnglich. Es ist Professor Hans Helander in Uppsala, der diesen selbstgewhlten Auftrag in den Jahren 1985, 1988 und 1995 musterhaft erfllt hat.31 ber diesen ausgezeichneten, fast bahnbre-chenden Einsatz in der Swedenborgforschung hinaus setzte er vor einigen Jahren auch ein Projekt an der Universitt in Uppsala in Gang, um das wissenschaftliche Latein Swedenborgs zu untersuchen.32 Die Aktivitten der Forschergruppe Die Aufklrung im Bezugsfeld neuzeitli-che Esoterik am Interdisziplinren Zentrum fr die Erforschung der Europischen Aufklrung in Halle (Saale) lassen mich diesen eiligen und oberflchlichen ber-blick in einer gegenber meinen Ausfhrungen zu Beginn lichteren Tonlage ab-schliessen. Ich mchte gern noch einen Grund dafr nennen, der allerdings eher symbolisch als inhaltlich ins Gewicht fllt. Im Jahre 2005 beschloss die UNESCO, die Handschriften Swedenborgs, die der Akademie der Wissenschaften in Stock-holm wie erwhnt 1772 geschenkt wurden, auf ihr Verzeichnis World Cultural He-ritage einzutragen. Damit ndert sich vielleicht im Augenblick nichts anderes, als dass die Akademie nun das Recht besitzt, zum Nachweis ihres neuen Status eine Plakette am Eingang anzubringen. Aber wenn man in Betracht zieht, dass der zweite Antrag aus Schweden, der von der UNESCO bewilligt wurde, sich auf die Manuskriptsammlung Astrid Lindgrens in der kniglichen Bibliothek in Stockholm bezieht, also auf den literarischen Nachlass der unvergleichlich berhmtesten und hchst geliebten schwedischen Verfasserin, dann ist es leicht, die Auszeichnung der UNESCO als eine wahre, wenn auch spte Ehrenrettung des Geistersehers zu verstehen.

    30 V.1.16f. 31 Swedenborg, Emanuel, Festivus applausus in Caroli XII in Pomeraniam suam adventum; ders.,

    Camena Borea; und ders., Ludus Heliconius and other Latin poems, edited, with introduction, translation and commentary by Hans Helander. Uppsala 1985, 1988, 1995.

    32 Vgl. http://www.lingfil.uu.se/swedenborg/index.php. In den Jahren 2007 bis 2010 ist auerdem eine Forscherin aus dieser Gruppe an der Kniglichen Akademie der Wissenschaften innerhalb eines neuen Projekts damit befasst, Swedenborgs Manuskripte zu katalogisieren.

  • REINHARD BRANDT (Marburg)

    berlegungen zur Umbruchsituation 17651766 in Kants philosophischer Biographie1 Ludwig Ernst Borowski schrieb 1804 in seiner Biographie, Kant erklre in den Trumen eines Geistersehers die (sc. schlechte, dogmatische) Metaphysik fr Kontrebande, sie (sc. die legitime Metaphysik) sei ihm schon hier

    eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft. [] Hier ward schon damals die Erwartung einer knftigen Welt an den moralischen Glauben angeknpft. berhaupt fand jeder aufmerksame Leser schon hier die Keime der Kritik der reinen Vernunft und dessen, was K. uns spterhin gab.2

    Wenn die Annahme von Borowski stimmt, dann markieren die Trume Kants Abwendung von der Schulmetaphysik hin zum Doppelkonzept der kritischen theo-retischen und praktischen Philosophie bzw. Metaphysik. Fr die letztere sei mar-kant, dass die Erwartung einer knftigen Welt an den moralischen Glauben ange-knpft werde; also hat schon 1766 die Moral den Vorrang, auf die dann wie in der spteren Postulatenlehre die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode folgt, nicht umgekehrt. Der praktischen Philosophie geht somit keine (schlechte) Meta-physik von Gott und Unsterblichkeit (Theologie und rationale Psychologie) voraus, sondern sie muss sich selbst begrnden und kann danach aus eigener Logik die Jenseitsvorstellungen folgen lassen. Fr die theoretische Philosophie msste vielleicht der Dreischritt von Dogmatis-mus, Skeptizismus und Kritizismus (A 856) schon in den Trumen auffindbar sein. Diese Vermutung lsst sich besttigen: ber die Prsenz der (a) dogmatischen Metaphysik in den Trumen kann es kei-nen Dissens geben; umstritten ist nur, was und wer genau gemeint ist und der L-cherlichkeit preisgegeben werden soll: Die Lehre des Okkasionalismus, der prsta-bilierten Harmonie, des influxus physicus; Leibniz, Wolff, Kant selbst? Die Destruktion der berkommenen Metaphysik erfolgt auf zwei Wegen; einmal wer-den bestimmte Lehren mit Swedenborg zu einer Konsequenz gebracht, die die Ur-heber nicht gemeint hatten; zum anderen werden sie mit einer (b) skeptischen Posi-tion konfrontiert, der sie nichts entgegensetzen knnen.

    1 Der Erstdruck dieses Aufsatzes ist in den Kant-Studien 99 (2008), Heft 1, S. 46-67 erschienen.

    Hier finden sich einige Korrekturen und Ergnzungen. 2 Gro, Felix, Immanuel Kant. Sein Leben in Darstellungen von Zeitgenossen. Die Biographien

    von L. E. Borowski, R. B. Jachmann und A. Ch. Wasianski. Berlin 1912, S. 33. Kant wird mit Band-, Seiten- und Zeilenangabe nach der Akademie-Ausgabe zitiert; die A- und B-Auflage der Kritik der reinen Vernunft (KrV) jedoch nach der Ausgabe im Meiner-Verlag.

  • Reinhard Brandt 14

    Die (c) kritische Philosophie ist in der Idee der Metaphysik als einer Grenzwis-senschaft gegenwrtig; Borowski konnte Kant selbst zitieren: In so fern ist die Metaphysik eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft [].3 Ungefhr zur Zeit der Trume notiert Kant: Man knnte sagen die Metaphysik sey eine Wissenschaft von den Schranken der Menschlichen Vernunft.4 Die Vorstel-lung der Philosophie als einer Grenzwissenschaft stammt fr Kant von John Locke, der fr ihn der erste kritische Philosoph ist. Hiermit sind die verschiedenen Gravitationszentren des theoretischen Teils der Trume benannt. Kants zentrale Aussage des praktischen Teils ist in den neueren Untersuchungen mit wenigen Ausnahmen5 berlesen worden, obwohl Kant sie mit plakathafter Deutlichkeit herausstellt und sie den Schlssel fr das Werk im Gan-zen bilden, die Intention des negativen theoretischen Teils also nur durch den posi-tiven praktischen verstndlich wird. Was wir in der Retrospektive klar unterscheiden knnen, ist zwar in der Schrift nachweisbar, wird jedoch in einem komplizierten Maskenspiel, in einer Mischung von Ernst und Satire und der berformung der einzelnen Komponenten durchein-ander dargestellt. Die Trume sind daher nicht ohne weiteres verstndlich, wie schon die ratlosen uerungen von Mendelssohn bis hin zu Ernst Cassirer6 zeigen. Inzwischen ist vieles geklrt worden, u.a. durch die grndlichen Studien von Ali-son Laywine (1993)7 und Gregory R. Johnson (2001);8 die folgenden Darlegungen aus locker verknpften Einzeluntersuchungen verstehen sich als punktuelle Ergn-zung der Literatur und als Korrektur der Hauptthesen zur Metaphysik, gegen die sich Kant wendet. Die Disposition der Trume: Theorie und Praxis Whrend die theoretische Grenzziehung die Aufgabe besonders des ersten Teils der Schrift ist, kulminiert der zweite Teil in der praktischen Bestimmungsfrage.

    3 AA II, S. 368,12. 4 AA XX, S. 181,12; vgl. AA X, S. 72,3235. 5 Dazu gehrt Johnson, Gregory A., A Commentary of Kants Dreams of a Spirit-Seer, Diss.

    phil. Washington: The Catholic University of America 2001; Khn, Manfred, Immanuel Kant. Eine Biographie. Mnchen 2003, S. 204209.

    6 Zu beidem vgl. Laywine, Alison, Kants Early Metaphysics and the Origin of the Critical Philosophy. Atascadero 1993, S. 1213, 86.

    7 Laywine und Johnson machen ihre Swedenborg-Lektre fruchtbar; sie lesen die Texte aller-dings in englischer bersetzung. Der lateinische Text ist zugnglich unter: http://www. baysidechurch.org/writings.cfm (fr den Hinweis danke ich Friedemann Stengel, IZEA Halle). Swedenborgs Texte sind fr das Thema der vorliegenden Untersuchung, so weit ich sehe, nicht ergiebig.

    8 Johnson geht akribisch den verschiedenen Masken nach, unter denen sich Kant mit dem schwedischen Visionr einen begrifflichen Schaukampf liefert. Dieser Bereich der Schrift wird im Folgenden ausgeklammert.

  • Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie 15

    Der Titel des Endes des ersten Teils lautet: Theoretischer Schlu aus den ge-sammten Betrachtungen des ersten Theils,9 der Titel des Endes des zweiten Teils ist: Praktischer Schlu aus der ganzen Abhandlung.10 Der entscheidende Satz im Hinblick auf die theoretische Erkenntnis lautet:

    Allein mit dem philosophischen Lehrbegriff von geistigen Wesen ist es ganz anders bewandt. Er kann vollendet sein, aber im negativen Verstande, indem er nmlich die Grenzen unserer Einsicht mit Sicherheit festsetzt und uns berzeugt: da die verschiedene Erscheinungen des Lebens in der Natur und deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergnnt ist, das Prin-cipium dieses Lebens aber, d.i. seine geistige Natur, welche man nicht kennt, sondern ver-muthet, niemals positiv knne gedacht werden, weil keine data hiezu in unseren gesammten Empfindungen anzutreffen seien, und da man sich mit Verneinungen behelfen msse [].11

    Das Pendant in praktischer Hinsicht im Schluss des zweiten Teils:

    Die Eitelkeit der Wissenschaft entschuldigt gerne ihre Beschftigung mit dem Vorwande der Wichtigkeit, und so giebt man auch hier gemeiniglich vor, da die Vernunfteinsicht von der geistigen Natur der Seele zu der berzeugung von dem Dasein nach dem Tode, diese aber zum Bewegungsgrunde eines tugendhaften Lebens sehr ntig sei; [] Allein die wahre Weisheit ist eine Begleiterin der Einfalt, und da bei ihr das Herz dem Verstande die Vorschrift giebt, so macht sie gemeiniglich die groe Zurstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich, und ihre Zwecke bedrfen nicht solcher Mittel, die nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein knnen.12

    Den letzten Nebensatz lese man erneut, um zu spren, welch ein politisches Erdbe-ben sich hier gegen die Privilegien der Herrn Metaphysiker ankndigt: in der Ge-walt aller Menschen! Unmittelbar darauf folgt in rhetorischer Hochform:

    Wie? ist es denn nur darum gut tugendhaft zu sein, weil es eine andere Welt giebt, oder werden die Handlungen nicht vielmehr dereinst belohnt werden, weil sie an sich selbst gut und tugend-haft waren? Enthlt das Herz des Menschen nicht unmittelbar sittliche Vorschriften, und mu man, um ihn allhier seiner Bestimmung gem zu bewegen durchaus die Maschinen13 an eine andere Welt setzen?14

    Wenn der erste Teil nicht aus dieser Emphase des zweiten begriffen wird, bleibt er fr Kant eine gelehrte Quisquilie. Wir haben es also mit einem komplementren Verhltnis von theoretischer und praktischer Philosophie oder, mit einem in Krze folgenden Vokabular, von Meta-physik der Natur und Metaphysik der Sitten zu tun. Diese duale Metaphysik tritt an die Stelle der viergliedrigen Anlage von Ontologie, Psychologie, Kosmologie und Theologie (oder in anderer Reihenfolge); sie war das delendum, der endlich ausge-

    9 AA II, S. 348,3132. 10 AA II, S. 368,32. 11 AA II, S. 351,30352,1. 12 AA II, S. 372,1223. 13 Zur aufflligen, politisch negativ besetzten Maschinenmetapher vgl. Stollberg-Rilinger, Bar-

    bara, Der Staat als Maschine. Zur politischen Metaphorik des absoluten Frstenstaats. Berlin 1986.

    14 AA II, S. 372, 2629.

  • Reinhard Brandt 16

    trumte Wahn. Auf die neue, zugleich schon antike duale Einteilung verweist Kant am Anfang der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.15 Der theoretische Lehrbegriff der Trume ist kritisch und negativ, indem er, wie wir sahen, das in den Sinnen und Empfindungen nicht Darstellbare ausgrenzt, spe-ziell die kausale Interaktion von Seele und Krper, aber auch von Seelen oder Gei-stern untereinander. Insgesamt lsst sich ber die kritisierte Methode der Schul-metaphysik sagen: Es werden in ihr nach Kant aus wirklichen oder vermeintlichen Erfahrungen abstrakte Begriffe gebildet wie z.B. der der Seele; diesen Begriffen wird testiert, dass sie keinen Widerspruch enthalten, dass sie also denkbar und mglich sind; in einem weiteren Schritt werden hinzukommende vermeintliche Erfahrungen unter ihn subsumiert und so die Scheinevidenz der Wirklichkeit des Begriffes erzeugt. Die metaphysischen Begriffe erweisen sich damit als produktiv fr die Erzeugung vermeintlicher Erkenntnisse, denen tatschlich die data fehlen. Ein Muster dieser produktiven Begriffsdichtung sind die Pseudo-Erfahrungen von Swedenborg; sie nehmen jedoch nach Kant nur die schlechte Metaphysik beim Wort und weiten sie ins Visionre aus, dahin wrden ihnen die Metaphysiker un-gern folgen, aber Gegenargumente haben sie nicht.

    Goya: El sueo de la razn produce monstruos16 Kant: [] bis diese Herren ausgetrumt haben17

    Die Arcana coelestia von Swedenborg werden von Kant als Verkehrung des nor-malen, wachen Menschenverstandes dargestellt, als monstrse Produkte einer schlafenden Vernunft, aber anders als bei Goya wird die antike Vorstellung vom schlimmen Schlaf der Vernunft18 zunchst nicht benutzt, um den Schrecken zu charakterisieren, sondern im Gegenteil zum befreiten Lachen zu fhren. Wit and humour ist die Losung. Wer dem Verlachen nicht standhlt, hat die Wahrheit ver-raten.19 Aber im Verlachen steckt auch, wie wir sehen werden, die Wut und die Emprung ber diese Herren. Schon der Titel scheint verkehrt zu sein, denn er muss natrlich, wie es sich fr einen kritischen Philosophen gehrt, umgekehrt lauten: Trume der Metaphysik, erlutert durch Trume eines Geistersehers, weil die dogmatische Metaphysik

    15 AA IV, S. 387,1ff. 16 Vgl. Brandt, Reinhard, Philosophie in Bildern. 2. Aufl. Kln 2001, S. 364376. 17 Das Wort ausgetrumt in den Trumen (AA II, S. 342,16) ist ein hapax legomenon der

    Bnde IXXIII. 18 Dazu Brandt, Philosophie, (wie Anm. 16), S. 366368. Der Autor ist Plutarch. Kants Aristote-

    les ist bekanntlich Heraklit, vgl. Diels, Hermann / Kranz, Walter (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. 8. Aufl. Berlin 1956, Bd. 1, S. 171, Fragment 89: Die Wachenden haben eine einzige gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich ein jeder von dieser ab in seine eigene.

    19 Vgl. AA VI, S. 209,17. Kant bezieht sich auf Shaftesburys test of ridicule, vgl. Shaftesbury, Anthony Earl of, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times etc., hg. v. John M. Robertson. Gloucester 1963, Bd. 1, S. 10 (A Letter Concerning Enthusiasm).

  • Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie 17

    interessiert, und ihr Zustand wird dadurch drastisch vor Augen gefhrt, dass die auf ihrer Grundlage erwachsene oder auch nur nach denselben Prinzipien mgliche Geisterseherei dargestellt wird: Leibniz und Wolff und Kant junior werden, so der Kritiker Kant, konsequent von Swedenborg zu Ende phantasiert; da dieses Ende somnambul ist, muss auch die leichtfertige Begriffsdichtung der Metaphysiker im Vernunftschlaf entstanden sein, eine konkludente reductio ad ridiculum. Die Meta-physik endet notwendig in Geisterseherei, wenn die Vernunft nicht kritisch thema-tisiert und ihre Kompetenz und Grenze nicht festgelegt werden. Dieser Traum also ist 1766 in aller ffentlichkeit ausgetrumt. Wie gut, dass David Hume Kants eige-nen, von wirren Trumen heimgesuchten dogmatischen Schlummer vor 1766 un-terbrach und seinen spekulativen Untersuchungen eine ganz andere Richtung in der gemeinsamen Welt der Wachenden gab!20 Oder wird umgekehrt die Geisterseherei von Swedenborg durch eine neue er-trumte Metaphysik erlutert? Nimmt Kant selbst die Swedenborgschen Tagvisio-nen auf und wendet sie in den Vortraum einer Metaphysik (der Sitten), die er in Krze zu liefern gedenkt? Dann wre die Schrift nicht nur eine Retrospektive qua Metaphysikkritik im Medium ihrer Karikatur, sondern eine Prospektive darber, wie sich aus Unfug Funken schlagen lassen. Aber dies knnte sich nur auf die kur-ze Einlage ber die zwei Welten beziehen, den mundus sensibilis, der nach Newto-nischen Gesetzen geregelt ist, und die Gegenwelt der Moral nach dem Gesetz der volont gnrale.21 Kant folgt einer Laune der Mode: Den Ton gaben zuerst die Englnder an, Shaftesbury mit seinen Essays voller wit and humour gegen die barocken Potestaten, sodann der wegen seines Witzes bei Friedrich II. akkreditierte, bald in seinen Garten verjagte Voltaire, alles im Rckgriff auf die launige Satirenkunst von Horaz. Im Schutz dieses Genres berschttet Kant, der nunmehr elegante Magister,22 das Gelehrtenwesen mit Kbeln voller Hohn und Spott und schreibt sich so die Last von der Seele, das widerspruchsfreie Denken fr den Garanten des Mglichen und gar des Seins zu halten. Aber warum zieht die alte Metaphysik, wie Kant an Mendelssohn schreibt, den Ha auf sich? Warum ist Kant moralisch emprt?23 Wer sich mit der Schrift beschftigt, stt auf diese Frage und muss sie zu beantworten versuchen.

    20 AA IV, S. 260,69. Dazu unten S. 3133. 21 Vgl. AA II, S. 329,1341,34. Vgl. dazu auch die experimentierenden Gedanken in den

    Beobachtungen ber das Gefhl des Schnen und Erhabenen AA XX, S. 144,17145,25. 22 Stavenhagen, Kurt, Kant und Knigsberg. Gttingen 1948, S. 43ff.; Khn, (wie Anm. 5),

    S. 123ff. 23 Siehe unten S. 30.

  • Reinhard Brandt 18

    Die Grenzbestimmung der menschlichen Erkenntnis: Locke und Kant Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hier finden sie ein unbegrnz-tes Land []. (II 317,34) In diesem wohlgeformten Anfang der Schrift ist schon das durchgehende Problem des ersten Teils der Trume benannt: Die Grenzbe-stimmung der Erkenntnis gegen das Unbegrenzte der Phantasie und des ausge-dachten Mglichen. Mit dem Grenzbegriff ist John Locke prsent.24 In der Vorrede der ersten Aufla-ge der KrV wird Kant mit wenigen Strichen das Schicksal der bisherigen Vernunft-erkenntnis skizzieren. Von einfacher Erfahrung anfangend, habe sie sich ber alle Erfahrungsgrenzen hinaus bewegt und sei in ein Feld endloser Streitigkeiten gera-ten; der Kampfplatz heie Metaphysik.

    In neueren Zeiten schien es zwar einmal, als sollten allen diesen Streitigkeiten durch eine ge-wisse Physiologie des menschlichen Verstandes (von dem berhmten Locke) ein Ende gemacht und die Rechtmigkeit jener Ansprche vllig entschieden werden []. (A IX)

    Aber Lockes Unternehmen musste scheitern, da er die Metaphysik aus der Erfah-rung herleiten wollte. Die Reaktion auf dieses Scheitern sei der jetzige Indifferen-tismus. Er sei nicht die Wirkung des Leichtsinns,

    sondern der gereiften Urteilskraft des Zeitalters, welches sich nicht lnger durch Scheinwissen hinhalten lsst, und eine Aufforderung an die Vernunft, das beschwerlichste aller ihrer Ge-schfte, nmlich das der Selbsterkenntnis aufs neue zu bernehmen und einen Gerichtshof ein-zusetzen,25 der sie bei ihren gerechten Ansprchen sichere, alle grundlosen Anmaungen, nicht durch Machtsprche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen knne, und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft. Ich verstehe aber hier-unter nicht eine Kritik der Bcher und Systeme, sondern die des Vernunftvermgens ber-haupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhngig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Mglichkeit oder Unmglichkeit einer Metaphysik ber-haupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfangs und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipien. (A XIXII)

    Lockes Essay setzt sich genau dieses Ziel, er will the Original, Certainty, and Extent of humane Knowledge26 bestimmen. Kant nimmt dieses Programmmotiv auf alles aber [jetzt gegen Locke, R. B.] aus Prinzipien. Wenn es heit, das Ge-schft der Selbsterkenntnis der Vernunft solle aufs neue in der KrV bernommen werden, dann bezieht sich das aufs neue ebenfalls auf den einzigen in der Vor-rede genannten Philosophen (A IX) zurck, John Locke. Er ist fr Kant der Vorgnger in der Vernunftkritik; die ausdrcklichen Verweise, die zu John Locke 24 Vgl. Reich, Klaus, Gesammelte Schriften, hg. v. Manfred Baum u.a. Hamburg 2001, S. 349:

    [] John Locke steht, obwohl nicht genannt, als wahrer Kritiker der Vernunft im Hinter-grund. Zu dem Folgenden vgl. Brandt, Reinhard, Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007.

    25 Zur Einsetzung (institutio) der KrV als eines Gerichtshofes vgl. A 751. 26 Locke, John, An Essay Concerning Human Understanding, hg. v. Peter H. Nidditch. Oxford

    1975, I 1,2, S. 43.

  • Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie 19

    und seiner kritischen Philosophie fhren, lassen sich um und vor 1770 in der Logik Blomberg entdecken.

    Lock hat den allerwesentlichsten Schritt gethan dem Verstand den Weg zu bahnen. Er hat ganz neue Criteria angegeben. Er philosophirt subjektive, da Wolff und alle vor ihm objective philo-sophirten. Er hat die Genesin die Abstammung und den Ursprung der Begriffe untersucht. Seine Logic ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolf frgt: was ist ein Geist? Lock: wo kommt die Idee vom Geist in meiner Seele her? Sie hat niemals einen Geist gesehen; woher kommen diese Gedanken?27

    Htte Wolff kritisch gefragt, wie er zu seinen Begriffen kommt, htte er keine We-sensdefinitionen des Mglichen im Schattenreich des abstrakten Denkens gesucht. Bei Locke heit es, die Philosophie habe die Aufgabe, to discern how far our Knowledge does reach.28 Mit der Lockeschen Frage nach der Grenze der mensch-lichen Erkenntnis, die fr die kritische Philosophie konstitutiv ist, hat Kant die Leibniz-Wolffsche Philosophie schon verlassen. Fr sie gibt es die gttliche Aller-kenntnis alles Mglichen und Wirklichen, daher ist Gott der grte Philosoph Deus summus philosophus , die Menschen stehen ihm in der Reichweite ihrer Erkenntnis nach, aber es gibt keine entscheidende qualitative Zsur zwischen dem Allwissen und der spezifischen cognitio humana, die entsprechend auch nicht in den Titeln der einschlgigen Abhandlungen begegnet. Und wie Gott nicht zwi-schen Philosophie und Wissenschaft unterscheidet, so ist diese Differenz auch in der Metaphysik nicht ursprnglich angelegt: Die grten Wissenschaftler werden den Philosophen zugerechnet, und selbst Newton nennt seine Physik Principia ma-thematica philosophiae naturalis. Leibniz reihte sich ein in die Reihe der chain of being-Denker, er wusste in seiner Monadologie vieles ber den gttlichen Ein-fluss Gottes und das Helle und das Dunkle im Kontinuum der Schpfung zu er-zhlen,29 und er eiferte mit seinem unerschpflichen Wissen Gott, dem Allwisser und summus philosophus, nach. Swedenborgs Geisterseherei ist im Platonischen Seins- und Erkenntniskonti-nuum angesiedelt, in dem auch Dantes Gttliche Komdie uns am poetischen Auf-stieg bis zu den arcana coelestia des Paradieses teilnehmen lsst, im Mittelalter. Swedenborg ist ein moderner Naturwissenschaftler, der die Zeichen der Zeit nicht versteht, sondern mit seiner Seele die Mysterien des Himmels sucht und, ganz allein, Visionen im Lehnstuhl hat. Wie Don Quijote zu viele Ritterromane zur 27 AA XXIV, S. 338,2734. Spter heit es in der Metaphysik Mrongovius: An Critic der reinen

    Vernunft hat bis jetzt noch keiner gedacht. (AA XXIX/1.2, S. 764,19) Die subjektivistische Wende von Locke verblieb in der empirischen Psychologie und damit im Bereich der quaestio facti, whrend die Kritik die Frage stellt, mit welchem Rechte bedienen wir uns derselben [der Begriffe, R.B.]. [] denn das ist die Critic, also quaestio iuris. (ebd., S. 764,78) Die Rechtsfrage richtet sich, wie die nachfolgenden Ausfhrungen zeigen, auf die Vernunftbegriffe der Dialektik, auf die sich unsere unabweislichen Fragen und das hchste Interesse unserer Vernunft bezieht, ebd., S. 765 passim.

    28 Locke, (wie Anm. 26), S. 542 An Essay Concerning Human Understanding IV 3, 6. 29 Laywine, (wie Anm. 6), S. 67f.

  • Reinhard Brandt 20

    Unzeit las, so konnte Swedenborg nicht genug ber die Lebensweisen und Chorge-snge der Engel erfahren, er ist wie Don Quijote ein Phantast, der in der Wind-mhle Riesen sieht, auch Swedenborg sieht die Geister, mit denen er kommuni-ziert, vor sich und plaudert mit ihnen. Erst Locke und Kant begrnden den modernen Philosophiebegriff, der eine ein-deutige Trennung gegenber allen positiven Wissenschaften impliziert. Das ei-gentliche Thema der theoretischen Philosophie ist Kritik, die Unterscheidung zwi-schen dem Diesseits und Jenseits der Grenze der menschenmglichen Erkenntnis. Das Lockesche human understanding kennzeichnet die Opposition gegen das absolute Wissen und die nur graduelle Abstufung im alten Modell.30 Locke entwi-ckelt das menschenmgliche Erkennen aus den Vermgen, die wir in uns vorfin-den. Kant macht sich die grundstzliche Idee zu Eigen und wird versuchen, ihr den zirkulren Charakter dieser psychologischen Erkenntnis zu nehmen.31 Der Anlass und Beginn der Nachfrage nach den spezifisch menschlichen Erkenntnismglichkeiten liegt im Scheitern bei bestimmten Themen, etwa Moral und Religion, wie Locke berichtet. Fr Leibniz und Wolff und den frhen Kant gab es dagegen keine Grunderfahrung des Scheiterns. Dieses Scheitern wird im oben zitierten Paradies der Phantasten und in dem Titel der Trume der Metaphysik angezeigt, jedoch so, dass schon eine Ausgrenzung vorgenommen wurde. Die Schrift zieht bereits eine Grenze zwischen Traum und Wachzustand; es gilt nur, diese Differenz genauer zu begrnden. Kant schreibt in den Trumen: Wenn man den vielerlei Scheineinsichten im Wetteifer der Spekulation ber die geistige Natur, Freiheit und Vorherbestimmung nicht mehr folgen wolle, dann schlage die Nachforschung in Philosophie aus, die ber ihr eigen Verfahren urteilt, und die nicht die Gegenstnde allein, sondern de-ren Verhltnis zu dem Verstande des Menschen kennt, so ziehen sich die Grenzen enger zusammen.32 Genau dies ist die kritische Aufgabe, die Kant mit Locke gegen die Metaphy-sik zu lsen sucht. Die zitierte uerung Kants wird in der Kritik der reinen Ver-nunft bei der Bestimmung ihres methodischen Hauptbegriffs benutzt: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenstnden, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenstnden berhaupt beschftigt. (A 1112) Die Idee einer erneuerten Transzendentalphilosophie rettet die Selbstkritik der Vernunft aus dem empiristischen Zirkel und macht sie allererst zur Philosophie, d.h. zu einer Selbsterkenntnis mit dem Charakter der Notwendigkeit. 30 Vgl. die przise Formulierung Borowskis im oben angefhrten Text, er spricht von der Wis-

    senschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft. 31 Vgl. die drastische Beschreibung von Hegel in: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Smtliche

    Werke, Jubilumsausgabe, hg. v. Hermann Glockner. Stuttgart 1958ff., Geschichte der Philo-sophie III, XIX 555.

    32 AA II, S. 369,2836.

  • Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie 21

    In Kants Ohr: Hume als Erwecker Dass David Humes Versuch ber den menschlichen Verstand in den Trumen zitiert wird, ist u.a. von Kuno Fischer und Lewis White Beck notiert und kommen-tiert worden.33

    [] wie etwas knne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmglich jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhltnisse mssen lediglich aus der Erfahrung entnom-men werden. Denn unsere Vernunftregel geht nur auf die Vergleichung nach der Identitt und dem Widerspruche. [] Da mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verstndlicher, als wenn jemand sagte, da derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurckhalten knnte [].34

    Es lsst sich nicht bestreiten: der Mond bewegt sich nicht aus seiner Bahn, wenn wir es wollen, wohl aber knnen wir unseren Arm nach (post; quia?) unserem Willen bewegen. Hume versperrt den Weg zu einer pompsen Leib-Seele-Theorie, indem er seine Erklrung des vermeintlichen Kausalgesetzes aus bloen konstanten Phnomenfolgen geltend macht: Die innere Verknpfung von Vorgnger- und Fol-geereignis gibt es nicht oder sie entzieht sich unserer Erkenntnis. Also: An die Stelle der in der alten Metaphysik drei einzig mglichen Systeme der Kausalitt von 1. Okkasionalismus, 2. prstabilierter Harmonie und 3. influxus physicus35 tritt die erlsende 4. Position: Wir haben zwar keine weitere Lsung in der Ebene der bisherigen konkurrierenden Theorien, aber doch eine berraschende Nicht-Lsung im Rahmen der Grenzen unserer Erfahrung, nmlich sich wiederholende Sequen-zen von Empfindungen in unserer Erfahrung. Die Skepsis tritt im europischen Re-flexionsmuster 1, 2, 3/4 an der vierten Stelle auf.36 Kant scheint den Anfang der kritischen Philosophie hnlich zu datieren wie Bo-rowski. Das bekannte Diktum in den Prolegomena lautet:

    Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spe-culativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab.37

    33 Vgl. Laywine, (wie Anm. 6), S. 162; auerdem Anm. 9 ebd. Zur Verbreitung der Humeschen

    Versuche in Deutschland vgl. Khn, Manfred, Scottish Common Sense in Germany. 17681800. Montreal 1987.

    34 AA II, S. 370,1128. Vgl. Hume, David, Philosophische Versuche ber die Menschliche Er-kenntni. [] Als dessen vermischter Schriften Zweyter Theil. Hamburg und Leipzig 1755, S. 370 Versuch ber den menschlichen Verstand XII 3: Das Fallen eines Kieselsteines mag, so viel wir davon wissen, die Sonne auslschen, oder der Wunsch eines Menschen die Planeten in ihren Laufbahnen aufhalten.

    35 Zur Behauptung der notwendigen Vollstndigkeit dieser Dreiheit durch Wolff und Bilfinger vgl. Laywine, (wie Anm. 6), S. 62.

    36 So auch bei Hume in der Abfolge der Philosophenschulen die Skeptiker als notwendiger Schluss auf die in sich vollstndigen Schulen der Epikureer, Stoiker und Platoniker folgen, vgl. Brandt, Reinhard, DArtagnan und die Urteilstafel. ber ein Ordnungsprinzip der europi-schen Kulturgeschichte. 2. Aufl. Mnchen 1998, S. 99102.

    37 AA IV, S. 260,69.

  • Reinhard Brandt 22

    Nur im Wachzustand lassen sich die Trume der Metaphysiker und Geisterseher gegen einander ausspielen und ad ridiculum fhren; die Erweckung durch Hume muss also schon erfolgt sein, und es passt gut, dass Hume tatschlich prsent ist. So ist der Schluss unausweichlich, dass Kant selbst seine Abkehr von der Schulmeta-physik vor 1766 datiert.38 Wie prekr das freie Gestndnis trotzdem bleibt, soll weiter unten angesprochen werden. Locke hielt das Kausalgesetz fr analytisch und damit apriori beweisbar, Hume dagegen zeigt, dass wir nur ber gewohnte Ablufe verfgen, dass es jedoch nicht widersprchlich ist, wenn ein Ereignis nicht wie gewohnt eintritt. Kant schliet sich Hume an und setzt vorerst nur auf die Daten der Empfindung oder Erfahrung, was immer das genau ist; im 30 der Dissertation erscheint das Kausalgesetz noch unter den principia convenientiae,39 die ihren Halt nur darin haben, dass wir un-seren Verstand ohne sie nicht gebrauchen knnten.40 Erst spter wird das Pro-gramm einer Kategoriendeduktion entwickelt, in dem das Prinzip der Kausalitt eine hhere epistemische Dignitt erhlt. Grenzberschreitungen Der Titel der Kantischen Schrift setzt in der ersten der beiden oben erwhnten Les-arten voraus, dass hier eine Metaphysik persifliert wird, an die Swedenborg prob-lemlos anschlieen kann, die also die erfahrbare Prsenz von Geistern im Welt-raum ermglicht, sei es konkret inhaltlich, sei es allgemein methodisch. Wir kn-nen an zwei Raum- und Erfahrungsauffassungen erinnern, bei denen Geisterer-scheinungen im Raum prinzipiell unmglich sind, die Descartes und die des kriti-schen Kant. Descartes trennt in seiner Metaphysik die res cogitans von der res extensa und bestimmt die letztere so, dass der Raum von Materie erfllt ist; die geistige Sub-stanz der res cogitans kann daher unmglich im ausgedehnten, von Materie erfll-ten Raum existieren, sondern ist uns nur in der nicht ausgedehnten, nicht teilbaren unmittelbaren Selbstgewissheit des cogito gegeben. Die Berufung auf die carte-sische Metaphysik htte dem schwedischen Geisterspektakel problemlos den Bo-

    38 Zu der umfangreichen Literatur vgl. Kreimendahl, Lothar, Kant Der Durchbruch von 1769.

    Kln 1990, S. 2638. 39 AA II, S. 418,1221. 40 Wie sich im brigen die Dissertation von 1770 mit ihrer Substanzmetaphysik in eine Entwick-

    lung fgt, in der der Bruch mit der Schulmetaphysik um 1765 vollzogen wird, ist ein Problem fr die historische Kantforschung. Die Dissertation ist eine akademische Pflichtschrift (siehe u.a. Schmucker, Josef, Zur entwicklungsgeschichtlichen Bedeutung der Inauguraldissertation von 1770. Bonn 1974 (Kant-Studien Sonderheft 65), S. 261282), und die Abkehr von der dogmatischen Metaphysik vollzieht Kant 1766 in einer nicht sehr deutlichen Form, in der er um die Sachfragen herumlaviert: Zwei Pole, die erst in der KrV zusammen gefhrt werden?

  • Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie 23

    den und irgendwelchen Sinn entzogen.41 Aber es ist zu ergnzen: Im Prinzip, denn Descartes muss nach der rigorosen Substanzentrennung eingestehen, dass er selbst ein Krper-Seelen-Wesen ist und seine Seele am Ort seines Krpers im Raum ist bzw. wirkt.42 Und hiermit ffnen sich die Schleusen fr alle nachfolgenden Fragen: Wie kann die res cogitans im Raum sein? Wie ist die Interaktion der Seele mit dem physischen Krper mglich, wenn beide heterogene Substanzen sind? Und auch, ist berhaupt der kausale Einfluss einer Substanz auf eine andere mglich? Was sind nun Raum und Zeit? fragt Kant in der Kritik der reinen Vernunft (A 23). Der Raum wird als Form der sinnlichen Anschauung bestimmt, wobei das Sinnliche dieser ueren Anschauung gem den nheren Erluterungen (auer-halb der Raum-Zeit-Frage) nur ein materielles Mannigfaltiges sein kann, das in der Erfahrung kategorial bestimmt wird. Damit sind Geister keine mglichen Gegen-stnde einer ueren Erfahrung, sie sind auch keine Bedingungen der Mglichkeit bestimmter Erfahrungen, sondern, wie es in der Anthropologie heit, ein Betrug des inneren Sinnes.43 Die Kritik der reinen Vernunft geht kurz auf drei Hirnge-spinste ein: Substanzen, die beharrlich im Raum gegenwrtig sind, ohne ihn zu erfllen, eine Grundkraft unseres Gemts, Knftiges anzuschauen, oder ein Ver-mgen desselben, mit anderen Menschen, so entfernt sie auch sein mgen, willkr-lich zu kommunizieren. Das alles mag sich nicht widersprechen, enthalte jedoch trotzdem keinen Anspruch auf objektive Realitt (A 222223; vgl. A 395; A 771). Swedenborg wird nicht genannt, man darf ihn jedoch als Illustration mitmeinen.44 Die Kritik der reinen Vernunft betrachtet das Problem der Trume als grundstzlich erledigt. Im Vorfeld dieser Lsung untersucht Kant 1766 die Punkte, an denen die etablierte Metaphysik in bloe Fiktionen gert. Kehren wir zu den Trumen zurck. Suchen wir genauer den Fehler der Meta-physik, den Kant mit seinem Verlachen und Nachdenken blolegen will. Es sind zwei Vorschlge gemacht worden: Kant kritisiert im Medium der Swedenborg-schen Trume entweder Christian Wolff oder seine eigenen Versuche. Wir untersu-chen diese beiden Vorschlge (von Reich und Laywine); keiner von beiden kann sich auf einen direkten Hinweis in den Trumen berufen, obwohl Kant klar htte sagen knnen, dass er sich gegen diesen oder jenen Inhalt von Wolff oder seiner eigenen Metaphysik wendet. Also bleibt nur der Indizienbeweis; wir werden fest-stellen, dass die Indizienbeweise nicht haltbar sind. Kant wendet sich in den Tru-

    41 In der nachcartesischen Philosophie wurde der res-extensa-Begriff Descartes zurckgewiesen

    und der Raumbegriff vorbereitet, der die Swedenborgschen Abenteuer ermglicht, vgl. u.a. Mintz, Samuel I., The Hunting of Leviathan. Seventeenth-Century Reactions to the Materialism and Moral Philosophy of Thomas Hobbes. Cambridge 1969, S. 84ff.

    42 Vgl. Descartes, Ren, Oeuvres compltes, hg. v. Charles Adam und Paul Tannery. Paris 1897ff., Bd. VII, S. 81 Meditationes VI.

    43 AA VII, S. 161,27. 44 Laywine, (wie Anm. 6), S. 1718.

  • Reinhard Brandt 24

    men nicht gegen bestimmte Inhalte der bisherigen Metaphysik, sondern gegen deren Methode, und dies sagt er ausdrcklich. Kant gegen Wolff? Bringt die Schrift eine Widerlegung der Rationalen Psychologie Wolffs und dessen Raumtheorie in der Ontologie? Dies ist die suggestive These von Klaus Reich.45 In seiner Einleitung der Trume46 konzentriert sich Reich auf den von Kant ver-meintlich unterstellten Wolffschen Seelen- und vor allem Raumbegriff; es hnge

    die metaphysische Rationale Psychologie Wolffs (kosmischer Charakter des Verhltnisses von Leib und Seele, Unsterblichkeit der Menschenseele) auch an seinem Raum- (und Zeit-) Begriff. Dass es sich bei dem von Kant in den Trumen eines Geistersehers verwendeten Raumbegriff um Wolffs Theorie handelt, kann ein Blick in dessen Ontologie ( 544641, speziell 588593) besttigen.47

    Wir knnten, heit es weiter, durch das Studium dieser Paragraphen auch ber die Absicht und den Ursprung des Wolffschen Raumbegriffs belehrt werden;48 in einem berblick ber die Genese seiner Raumdefinition verweise Wolff im 591 auf de Cordemoy:

    propius tamen [sc. als Aristoteles und Descartes, R. B.] ad veritatem accessit de Cordemoy in Dissertatione de corporibus et materia, dum spatium concipit meram possibilitatem corporum ponendorum: spatium enim resultat ex possibilitate coexistendi ( 591).

    Die Tatsache, dass Cordemoy Okkasionalist sei, zeige deutlich, dass Wolff bei seinem Raumbegriff eigentlich am Leib-Seele-Problem interessiert sei. Durch seinen Raum- und damit auch Geistbegriff ffne Wolff den Visionen la Sweden-borg Tr und Tor.49 Nun lsst Wolff zwar in seinem Nachsatz zu de Cordemoy das corporum fort, er sagt nicht ausdrcklich ex possibilitate coexistendi corporum, aber es gibt we-der in seiner Ontologia noch in der Cosmologia einen Hinweis darauf, dass beim Raum als der possibilitas coexistendi an etwas anderes als an materielle Krper gedacht ist. Die Kosmologie handelt nur von Themen der Physik, und in der On-tologie wird zwar in abstrakter Weise hufig einfach von res gesprochen, aber

    45 Reich, (wie Anm. 24), S. 351. 46 Ebd., S. 348359. 47 Ebd., S. 351. 48 Ebd., S. 351: [] dass es sich in den Trumen eines Geistersehers bei Kants Widerlegung

    der Rationalen Psychologie Wolffs um eine partiell jedenfalls immanente Widerlegung handelt, immanent nmlich, was den dabei verwendeten Raumbegriff anlangt.

    49 Wolff ist sicher kein Okkasionalist, Swedenborg dagegen neigt diesem System des nach ihm geistigen Einflusses zu, s. Laywine, (wie Anm. 6), S. 62f.

  • Zur Umbruchsituation in Kants philosophischer Biographie 25

    was mit diesen Dingen gemeint ist, wird immer wieder durch die Einfgung der corpora geklrt, von denen de Cordemoy schon ausweislich des Titels des Bu-ches einzig handelt. Wolff wendet sich ausdrcklich gegen die englischen Autoren, die die Existenz des Weltraumes annehmen sublatis corporibus ( 601). Wrde er dagegen in der Raumerrterung der Ontologie auch an Geister denken, msste der Raum die Mglichkeit ihrer Koexistenz darstellen, also ein krperfreier Raum mit der Bestimmung des extra se (vgl. 591ff.) fr reine Geister existieren kn-nen. Davon findet sich verstndlicherweise keine Spur. Zeitlich koexistierende seelische oder geistige endliche oder unendliche Substanzen spannen keinen Raum auf und sind in einem absoluten leeren Raum nicht lokalisierbar. Nach Reich be-stimmt Wolff den Raum abstrakt als Feld der Wechselwirkung von Substanzen berhaupt,50 aber diese These wird nicht belegt; sie steht m.E. im Widerspruch zu Wolffs Theorie, die nur eine erkennbare rumliche Wechselwirkung krperlicher Substanzen kennt. Der Raum wird von Wolff in der Ontologia als die Mglichkeit der Koexistenz von Dingen bestimmt (Spatium adeo resultat ex possibilitate coexistendi, 591), die Dinge werden durchgehend als materielle Krper gefasst, ohne dass das Prob-lem geistiger bzw. seelischer Dinge oder Substanzen berhrt wrde. Die Seele wie-derum wird in der Psychologia rationalis so bestimmt, dass ihre substanzielle Realprsenz im Raum ausgeschlossen ist. Nach entsprechenden Rckverweisen auf die Ontologie heit es: Anima partibus caret, nec extensa est, nulla praedita est figura, nullum replet spatium, caret magnitudine, motuque intestino destituitur.51 Die Seele lsst sich auch nicht als extensionsloser Punkt im Raum verorten ( 48). An dieser These des ontologischen Dualismus, der vlligen Unrumlichkeit nicht nur der Seele (anima), sondern auch des Geistes (spiritus), lsst Wolff keinen Zweifel.52 Die Aristoteliker htten Krper und Seele nicht klar genug unterschie-den, Descartes jedoch zeige, dass sie unterschiedliche Entitten seien ( 51 Anmer-kung). Die Einzelseelen oder -geister sei es der Menschen, sei es Gottes sind vllig unrumlich, und entsprechend ist eine Koexistenz und Kommunikation zwischen ihnen nicht rumlicher und auch nicht erkennbarer Natur. Das Problem des com-mercium zwischen rumlichen, also krperlichen Substanzen und intelligiblen Wesenheiten wird so gelst, dass der Geist oder die Seele mit einem organischen Krper auf eine uns nicht erkennbare Weise fr einige Zeit verbunden ist; dieser Krper ist der Ort ihrer Empfindung und ihrer Wirksamkeit, aber nicht ihr eigener Ort, denn die Seele als Substanz ist raum- und folglich auch ortlos. Soweit ich sehe, wird dies von Kant nie in Frage gestellt.

    50 Reich, (wie Anm. 24), S. 350. 51 Wolff, Christian, Gesammelte Schriften, neu hg. u. bearb. v. J. cole, H. W. Arndt, C. A. Corr

    u.a. Hildesheim / New York 19681986, Bd. II 6, S. 33 Psychologia rationalis 49. 52 Vgl. u.a. Wolff, (wie Anm. 51), II 6, S. 33 Psychologia rationalis 644645.

  • Reinhard Brandt 26

    Die von Reich unterstellte Kritik von Kant an Wolffs Raum- und Seelenbegriff gibt es bei Leonhard Euler, wobei dieser sich jedoch auf nicht nher genannte Wolffianer bezieht und nicht auf Wolff selbst klugerweise, denn Wolff sagt un-gefhr dasselbe wie Leonhard Euler in seinen Briefen an eine deutsche Prinzessin (17691773), auf die sich Kant 1770 in seiner Dissertation De mundi sensibilis at-que intelligibilis forma et principiis53 beruft. Im 92. Brief wird ausgefhrt: Ein Geist sei kein geometrischer Punkt, wie die Scholastik und noch die Wolffianer an-nhmen, weil die Bindung an einen bestimmten Ort unweigerlich die Ausdehnung mit sich fhre; ein Geist aber oder eine Seele sei nicht im Raum und entsprechend an keinem Ort, sie knnten aber an einem bestimmten Ort wirken.54

    Jeder Geist ist ein denkendes, reflektirendes, schlieendes, beratschlagendes, freyhandelndes Wesen; dahingegen der Krper keine andern Eigenschaften hat, als die Ausdehnung, die F-higkeit, bewegt zu werden, die Undurchdringlichkeit [].55

    Wenn vom Sitz der Seele im Gehirn die Rede sei, besage dies, dass das Gehirn der Ort ihrer Wirksamkeit und ihres Einflusses sei; wie dieser Einfluss mglich sei, knnten wir nicht erkennen. Wolff pur, muss man kommentieren. Welcher Wolffianer knnte gemeint sein? In der Sache kme mutatis mutandis Kants Scht-zung der lebendigen Krfte (1747) in Frage; aber auch Alexander Baumgarten weist der Seele einen Ort im Raum zu: Ergo in me existit anima, heit es in der Metaphysica.56 Wenn Raum und Zeit 1770 jeweils als Form einer mit sinnlicher Anschauung ausgestatteten Substanz bestimmt werden, dann lsst sich mit Kant selbst unterstel-len, dass die Sinnlichkeit nur materielle Empfindungen rezipiert und somit eine rumliche Geistererscheinung vom Ansatz her ebenso ausgeschlossen ist wie kla-rerweise 1781. Es ist hierbei nicht einfach zu erkennen, in welchem Verhltnis die Bestimmung der einzelnen immateriellen Substanzen und ihrer Form- und Prin-zipienausrstung zur transzendentalen Subjektbestimmung steht, die eine Plurali-sierung ausschliet. Wenn die Dissertation sich auf der zweiten (wenn auch noch nicht so benannten) Ebene bewegt, dann kann man schwer die Berufung auf Leon-hard Euler einsehen, der in der Raumfrage empirischer Realist ist und entsprechend im empirischen Raum Krper und auch einzelne organisierte Krper auftreten lsst, wobei die letzteren den einzelnen Seelen Orte ihrer Wirksamkeit bieten. Kants subjektivistische Wende schliet die erkennbare Raumhaftigkeit von Gei-stern oder Seelen apriori aus; er bedarf daher keiner Einhilfe von Leonhard Euler

    53 AA II, S. 414,1314, 419,1617. 54 AA II, S. 103; Euler, Leonhard, Briefe an eine deutsche Prinzessin ber verschiedene Gegen-

    stnde aus der Physik und Philosophie/ bers. und eingel. v. Andreas Speiser. Bd