HAMBURGER LSUNGEN ZUR EINGLIEDERUNGSHILFE...

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1 1 FACHKONGRESS Teilhabe – geht doch! HAMBURGER LÖSUNGEN ZUR EINGLIEDERUNGSHILFE: TRÄGERBUDGET, QUARTIERSPROJEKTE, PARTIZIPATION DOKUMENTATION DES FACHKONGRESS Dokumentation des Fachkongress 22./23. Februar 2018

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Teilhabe – geht doch!

HAMBURGER LÖSUNGEN ZUR EINGLIEDERUNGSHILFE: TRÄGERBUDGET, QUARTIERSPROJEKTE, PARTIZIPATION

D O K U M E N T A T I O N D E S F A C H K O N G R E S S Dokumentation des Fachkongress 22./23. Februar 2018

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Unterstützt durch

V. l. n. r.: Dr. Stephan Peiffer und Kerrin Stumpf (Leben mit Behinderung Hamburg), Dr. Arne Nilsson (f & w fördern und wohnen),

Staatsrat Jan Pörksen, Senatorin Dr. Melanie Leonhardt, Kay Nernheim (BHH Sozialkontor), Hanne Stiefvater (Evangelische Stiftung Alsterdorf)

F & W FÖRDERN UND WOHNEN/HEIKE GÜNTHER

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4 Grußwort: Inklusion und Teilhabe in Hamburg – eine Zwischenbilanz Senatorin Dr. Melanie Leonhard, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

7 Ein Geheimnis ist es nicht: Der Umbau der Eingliederungshilfe aus der Perspektive zweier Sozialunternehmen | Dr. Stephan Peiffer, Geschäfts- führer Leben mit Behinderung Hamburg Sozialeinrichtungen gGmbH / Hanne Stiefvater, Vorständin Evangelische Stiftung Alsterdorf

13 Die Entwicklung von Teilhabechancen – die Perspektive der Leistungs- berechtigten | Kerrin Stumpf, Vorsitzende Hamburger Landesarbeitsgemeinschaften für behinderte Menschen e.V.

16 FORUM 1: Gute Planung ist die halbe Miete! Gesamt- und Hilfeplanung im Leistungsdreieck

28 FORUM 2: Inklusive Wohnkonzepte: zwei Praxisbeispiele, unterschiedliche Perspektiven

20 FORUM 3: Quartier hilft!? Sozialräumliche Ansätze im Spannungsfeld Heilsbringer oder Sparmodell

21 FORUM 4: Wie kommt Pflege vor …? Eingliederungshilfe und Pflege in der Hamburger Praxis

23 FORUM 5: Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf: Verlierer des Trägerbudgets?

24 FORUM 6: Neue Beschäftigungsformen in der Tagesförderung: inklusiv, qualifizierend, vielfältig

26 FORUM 7: Ist es Liebe – oder geht es nur ums Geld? Wie funktioniert das Trägerbudget?

27 FORUM 8: Herausforderung Partizipation: Chancen, Grenzen, Perspektiven. Formen der Nutzerbeteiligung in Hamburg

28 FORUM 9: Den Wandel gestalten – Unternehmen in Bewegung. Auf dem Weg zur personenzentrierten, sozialräumlich ausgerichteten Dienstleisterin

29 FORUM 10: Unsere „Werkstatt“ ist die ganze Stadt – Arbeitsmarktfokussierte Angebote

31 Autonomie und Teilhabe im Sozialraum – zum Zusammenhang von Fach- lichkeit und Finanzierungsform | Prof. Dr. a.D. Wolfgang Hinte, Universität Duisburg-Essen

34 Streitgespräch: Trägerbudgets – Was wird aus den Leistungsansprüchen der Berechtigten? | Prof. Dr. jur. em. Wolfgang Schütte, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg / Dr. Peter Gitschmann, Leiter der Abteilung Rehabilitation und Teilhabe, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

37 Wie geht es landes- und bundespolitisch weiter? | Staatsrat Jan Pörksen, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

41 Impressionen des Fachkongresses

43 Impressum

INHALT

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GRUSSWORT: INKLUSION UND TEILHABE IN HAMBURG – EINE ZWISCHENBILANZ Senatorin Dr. Melanie Leonhard, Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

Sehr geehrter Herr Plemper,

sehr geehrte Damen und Herren,

vielen Dank für die Einladung zum Fachkongress „Teilhabe – geht doch!“.

Um die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben umfassend zu

realisieren, müssen Behörden und Leistungsanbieter der Eingliederungshilfe gemeinsam an innova-

tiven Lösungen arbeiten. Dafür haben die Sozialbehörde und vier Träger der Eingliederungshilfe (BHH

Sozialkontor, Evangelische Stiftung Alsterdorf, fördern und wohnen, Leben mit Behinderung Ham-

burg) Rahmenvereinbarungen geschlossen.

Für alle vier Träger gelten darin gemeinsame Rahmenbedingungen:

• Die Leistungsberechtigten werden an der Weiterentwicklung der Leistungen beteiligt.

• Die individuellen Rechtsansprüche der Leistungsberechtigten bleiben in vollem

Umfang gewahrt.

• Die Träger organisieren individuell bedarfsdeckende, qualitätsgesicherte Leistungen.

• Das Trägerbudget bezeichnet einen konkreten Geldbetrag, der für den Zeitraum von

fünf Jahren zur Verfügung steht.

Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe erfordert von allen Beteiligten ein hohes Maß an

Vertrauen, Innovationsbereitschaft und Verantwortung. Die Sozialbehörde und die Träger der Einglie-

derungshilfe bringen als Partner diesen Prozess gemeinschaftlich voran.

Eine Lenkungsgruppe aus Vertretern von Behörden und Trägern begleitet die Entwicklungen. In einer

gemeinsamen Praxisgruppe werden trägerübergreifend individuelle Lösungen für besondere Bedarfe

entwickelt. Zudem gründete die Landesarbeitsgemeinschaft mit dem Betreuungsverein für behinder-

te Menschen im Juli 2016 die „Ombudsstelle Eingliederungshilfe Hamburg“. Sie berät Nutzer*innen

trägerunabhängig und vertraulich und ermöglicht den Anbietern, Erkenntnisse für die Qualitätsent-

wicklung zu gewinnen.

Um auch Menschen mit komplexen Behinderungen und hohem Unterstützungsbedarf ein weitgehend

selbstbestimmtes Leben im eigenen Wohnraum zu ermöglichen, wird zusammen mit den Trägern

an zeitgemäßen Wohn- und Assistenzformen gearbeitet. Durch die Trägerbudgets können neben

gemischten Wohnformen in sogenannten Hausgemeinschaften neue Wohnformen und Assistenz-

projekte erprobt werden. Besondere Beispiele hierfür sind „Qplus“ von der Evangelischen Stiftung

Alsterdorf oder die „Integrierte Assistenz“ von Leben mit Behinderung.

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Bei Qplus unterstützen Quartier-Lots*inn*en Menschen mit Assistenzbedarf dabei, ihren Alltag nach

eigenen Vorstellungen zu organisieren. Das Ziel: das Wohnen im vertrauten Umfeld zu erhalten so-

wie Eigeninitiative und gegenseitige Hilfe zu stärken.

Die Träger haben sich auch aktiv in die Quartiersentwicklungen in den Hamburger Bezirken einge-

bracht. So wurden weitere Wohnprojekte für Menschen mit hohen Unterstützungsbedarfen reali-

siert, zum Beispiel Wohngruppen für Menschen mit schweren Körperbehinderungen in Groß Borstel

von BHH Sozialkontor und die Hausgemeinschaft Neue Mitte von fördern und wohnen. Unter der

Leitlinie des Wunsch- und Wahlrechts ermöglichen diese Projekte:

• das Leben in einem Wohnhaus mit stationären Angeboten,

• Angebote mit barrierefreien Wohnungen und individuellen Serviceleistungen als

Hausgemeinschaft sowie

• Wohnungen für Familien mit behinderten Angehörigen.

Ob Unterstützung tatsächlich wirkt, ermittelt Nueva – Nutzerinnen und Nutzer evaluieren. Bei Nueva

werden Menschen mit Behinderungen, die Dienstleistungen der Eingliederungshilfe in Anspruch

nehmen, selbst zu Evaluatoren ausgebildet. Die Ergebnisse ihrer Nutzerbefragungen helfen, die

Lebenssituation der Menschen zu verbessern und die Leistungsangebote weiterzuentwickeln.

So tragen Betroffene selbst zur Gestaltung der Eingliederungshilfe in Hamburg bei.

Wie kann es gelingen, in der wachsenden Stadt Hamburg ausreichend Wohnraum auch für Men-

schen mit Unterstützungsbedarf anzubieten? Wie kann die säulenübergreifende Sozialraumorien-

tierung zu einem wirklich übergreifenden Planungsinstrument werden, so dass lebendige Nachbar-

schaften entstehen?

Die beteiligten Hamburger Behörden haben in den vergangenen Jahren gute Erfahrungen mit behör-

denübergreifender Zusammenarbeit gemacht. Auch die rechtskreisübergreifende Finanzierung hat

sich bewährt. Es lohnt sich, dieses Grundverständnis der Zusammenarbeit weiter auszubauen.

Vor allem aber muss der Leitsatz gelten: „Nichts über uns ohne uns.“ Die Beteiligung, die Selbst-

gestaltung durch Betroffene, wirklich partizipative Hilfeverfahren, die Stärkung von Peer-to-Peer-

Ansätzen und das Zusammenwachsen zu einem echten „Wir“ ohne Frage nach „Handicaps“ werden

der Maßstab dafür sein, dass Hamburg zu einem wirklichen Ort der Teilhabe werden kann.

Das Wagnis für alle Beteiligten, in Hamburg eine neue Budgetstruktur einzuführen, ist geglückt:

Wir haben entscheidende Weichen zur Weiterentwicklung des Leistungssystems gestellt. Die Auf-

merksamkeit für die Belange der Menschen mit hohem Hilfebedarf wurde durch die gute trägerüber-

greifende Zusammenarbeit gesteigert. Durch flexiblen Mitteleinsatz und stabile Rahmenbedingun-

gen wurden Planungssicherheit und Freiräume geschaffen – und zugleich klare Vorgaben gesetzt.

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In der nächsten Phase wird es darum gehen, die Grundideen und Praktiken weiter zu vertiefen und

neue Projekte umzusetzen. Ich freue mich auf die kommenden Innovationen.

Meine Damen und Herren, ich wünsche Ihnen zwei spannende Kongresstage mit interessanten Foren

und vielen anregenden Diskussionen hier in der HafenCity-Universität. Nutzen Sie die Chance, um

miteinander ins Gespräch zu kommen und wertvolle Impulse zu erhalten.

Vielen Dank!

Senatorin Dr. Melanie Leonhard

Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

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EIN GEHEIMNIS IST ES NICHT: DER UMBAU DER EIN-GLIEDERUNGSHILFE AUS DER PERSPEKTIVE ZWEIER SOZIALUNTERNEHMEN Hanne Stiefvater, Vorständin der Evangelische Stiftung Alsterdorf (ESA)Dr. Stephan Peiffer, Geschäftsführer Leben mit Behinderung Hamburg gGmbH (LmBHH)

Die Ausgangslage: Veränderungsdruck

Hanne Stiefvater: „Ende der 1990er lebten über 1.000 Menschen auf dem Stiftungsgelände der

ESA, viele in 8er-Wohngruppen ohne echte Privatsphäre. Es herrschte fachlicher und gebäudetech-

nischer Instandhaltungsstau, die ESA lag wirtschaftlich am Boden. Die Rettung: eine umfassende

Sanierungsvereinbarung mit der Stadt Hamburg, den Banken und der Kirche – und ein Tarifvertrag,

in dem die Mitarbeitenden fünf Jahre auf Gehaltserhöhungen verzichteten.

Die gesparten Mittel wurden in moderne Wohnprojekte investiert, das Stiftungsgelände Anfang

2000 als Sondergelände aufgelöst. 700 Menschen zogen in andere Hamburger Stadtteile. Wider-

ständen und Bedenken bei Betroffenen und Angehörigen, bei Mitarbeitenden und in den Stadtteilen

begegnete die ESA mit Gesprächen und Beteiligungsangeboten.

Hanne Stiefvater (l.) und Dr. Stephan Peiffer trugen im Tandem vor

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Stephan Pfeiffer: Dagegen war Leben mit Behinderung stark gewachsen, seine stadtteilintegrierten

Wohngruppen waren sehr gefragt. Doch viele der Bewohner*innen der 8er-Wohngruppen wünschten

sich ihre eigenen vier Wände. Sie konnten aber nicht ausziehen, weil sie den „pädagogischen TÜV“

für einen Auszug nicht bestanden oder weil nicht mehr als elf ambulante Fachleistungsstunden pro

Woche bewilligt wurden.

Das Ringen mit der Hamburger Sozialbehörde (BASFI) um den Ausbau ambulanter Hilfen verlief

ergebnislos. Misstrauen prägte die Zusammenarbeit zwischen den Trägern, der Arbeitsgemeinschaft

der Freien Wohlfahrtspflege (AGFW) und der BASFI.

2004 aber kam plötzlich Bewegung in die Landschaft: Die Politik mahnte Handlungsbedarf wegen

rapide steigender Ausgaben in der Eingliederungshilfe an, 30 Prozent aller stationären Plätze sollten

bis 2007 in ambulante Strukturen überführt werden. 2005 vereinbarten BASFI, Träger und Betrof-

fenen-Vertreter*innen das sogenannte Konsenspapier, das den Klient*innen strikte Freiwilligkeit

zusagte; jeder und jedem wurde das Recht auf Rückkehr zu stationärer Hilfe zugebilligt und es wurde

eine Beratungsstelle der Betroffenen-Vertreter*innen eingerichtet.

Zielvereinbarungen 2005-2010 zur Ambulantisierung

HS: 2005 schloss die BASFI mit den großen Trägern und Wohlfahrtsverbänden schließlich mehrjäh-

rige Zielvereinbarungen über die Umwandlung von 30 Prozent der stationären Pläze, die Einführung

einer neuen ambulanten Leistung, die auch für hohe Bedarfe zugänglich ist, und die Schaffung von

Treffpunkten in den Stadtteilen.

SP: LmBHH sagte seinem Elternvorstand die Umgestaltung des kompletten Systems samt der

stationären Hilfen zu und führte die Hausgemeinschaft mit Wahlmöglichkeiten zwischen Einzelwoh-

nungen und Wohngemeinschaften bzw. zwischen ambulanten und stationären Leistungen ein. Auch

Personen mit hoher Assistenzabhängigkeit konnten so Zugang zu den neuen Wohnformen erhalten.

In vielen Angehörigenforen erläuterte der Träger den Angehörigen und rechtlichen Betreuern die

neuen Konzepte Wohngemeinschaft und Hausgemeinschaft. Letztlich entschieden sich viele

Klient*innen nach sorgfältiger Abwägung für die neue Selbstständigkeit und relativierten so Zweifel

bei ihren Assistent*innen und den Familien.

Anschlussvereinbarungen 2010-2013 mit Sozialraumorientierung

HS: Bis 2010 entstanden hamburgweit 25 teils trägerübergreifende Treffpunkte, genutzt von 1.000

Menschen. Vorbild für die neue Sozialraumorientierung war das Konzept von Prof. Wolfgang Hinte,

das den Willen des Menschen ins Zentrum rückt. Dieses Konzept übertrug die ESA auf ihre Sozial-

raum- und Quartiersarbeit und in die Ressourcenorientierte Assistenzplanung.

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2010 finanzierte erstmals ein pauschaler Zuschlag für sozialräumliche Projekte, der auf alle Leistun-

gen erhoben wurde, die fallübergreifende Arbeit. Damit entwickelte die ESA den Ansatz Q8 – mit

„Quartierintermediären” als Vermittler*innen zwischen Verwaltung und Politik, Unternehmen, Initi-

ativen und Gesellschaft. Wie im Neubauprojekt Mitte Altona: In einem mehrjährigen Beteiligungs-

prozess wurden Standards zur inklusiven Stadtentwicklung erarbeitet, die in Hamburg als Vorbild für

alle Neubauprojekte gelten. Aus dem Q8-Ansatz entwickelte die ESA mit den Hamburger Behörden

für Soziales und Gesundheit das Projekt Qplus: Die Leistungsberechtigten gestalten zusammen mit

„Quartier-Lots*innen“ den Alltag nach ihren Vorstellungen – anhand einer kurzen Fragen-Abfolge:

1. Was kann ich selbst tun, gegebenenfalls mit technischer Hilfe?

2. Wie können mich Familie, Freund*innen und Nachbar*innen unterstützen?

3. Welche Unterstützung bietet das Quartier (z. B. Vereine, Initiativen, Geschäfte)?

4. Welche ergänzenden Hilfen durch Profis benötige ich?

5. Was kann ich selbst für andere tun?

Die Idee war: Der Leistungsanspruch aller Berechtigten fließt in einen gemeinsamen „Stadtteil-

fonds“, der dann für individuell und sozialräumlich passgenaue Leistungen diese neu kreierten Un-

terstützungs-Settings eingesetzt werden kann – eine Art trägerbezogenes Quar-tiersbudget und ein

Vorläufer des Trägerbudgets.

SP: LmBHH bezog verstärkt bürgerschaftliches Engagement in seine Projekte ein, wie beim Hambur-

ger Kulturschlüssel, der Menschen mit Behinderungen durch die Begleitung Freiwilliger Kulturge-

nuss ermöglicht. Zudem führte der Träger das Instrument der Persönlichen Zukunftsplanung ein und

gab mit dem Projekt „Auf Achse“ der Tagesförderung eine sozialräumliche Ausrichtung. Heute haben

darüber 125 Beschäftigte eine regelmäßige Arbeit außerhalb ihrer Tagesförderstätte.

Um seine Leistungen weiterhin verlässlich und wirtschaftlich anbieten zu können, machte LmBHH

zur Bedingung, dass für die Betroffenen weiterhin individuelle Bewilligungen ausgestellt und die

Leistungs- und Vergütungsvereinbarungen fortgeführt werden.

Rahmenvereinbarungen 2014 bis 2018 und Trägerbudget

HS: Für 2014 bis 2018 schlossen die ESA, LmBHH, BHH Sozialkontor sowie f & w fördern und woh-

nen Vereinbarungen über ein Trägerbudget: mit gemeinsamen Oberzielen und konkreten Projekten

zur inhaltlichen Weiterentwicklung. Anstelle jedes einzelnen Falles wird ein Betrag über alle Leis-

tungen der Eingliederungshilfe abgerechnet. Für alle anderen Leistungsträger gilt die herkömmliche

Systematik.

Für jedes Jahr wurde ein festes Budget vereinbart, das sämtliche Fallzahl- und Kostenver-ände-

rungen abdeckt. Die Festlegung schafft Budgetsicherheit für beide Seiten über mehrere Jahre. Die

Behörde zahlt einen monatlichen Abschlag; die Träger sichern im Gegenzug die aus den Zielen des

Gesamtplans abgeleiteten Leistungen und die Umsetzung der verabredeten Projekte.

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Die Budgetsteuerung erfolgt auf der Grundlage eines einheitlichen Berichtswesens sowie über ver-

schiedene Steuerungsgremien auch unter Beteiligung der Selbsthilfeverbände. Besondere Beach-

tung findet hierbei die Entwicklung der Teilhabechancen für Menschen mit hohen Bedarfen. Die

Vereinbarungen wurden im Internet veröffentlicht. Die Träger berichten in Fachveranstaltungen über

die Ergebnisse externer Evaluationen und haben einen gemeinsamen Zwischenbericht erstellt. Eine

von den Budgetträgern finanzierte Ombudsstelle der Selbsthilfeverbände geht Einzelfällen nach und

formuliert auf dieser Grundlage Anforderungen an die Qualitätsentwicklung der Leistungen.

SP: Ein verlässlicher wirtschaftlicher Rahmen war gegeben, nun hieß es die Energien auf die Ver-

besserung der Qualität und der Wirksamkeit unserer Leistungen zu konzentrieren, Partizipation und

Sozialraumorientierung ins Zentrum zu rücken.

Zwischenbilanz

Bis 2018 wurde der Budgetrahmen eingehalten, die vorgesehenen Projekte wurden umge-setzt, es

wurden alle Budgetziele erreicht. Die Budgetträger versorgen eine konstante Zahl von Menschen mit

hohem Bedarf. Es sind keine wesentlichen Angebotslücken entstanden.

HS: Ein Meilenstein für die Bezieher*innen von Eingliederungshilfe: die umgestaltete Wohn-struktur.

Bei der ESA leben heute 1.600 Menschen hamburgweit in ca. 75 Hausgemeinschaften, ganz über-

wiegend in Mietwohnungen, nur noch 20 Prozent der Wohnungen sind im Eigentum der ESA. Mit

einem Anteil von 40 Prozent sind 1-Personen-Wohnungen besonders stark nachgefragt, auch von

Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Hinzu kommen ca. 66 Gemeinschaftsräume, die teilwei-

se von der Nachbarschaft mit genutzt werden.

Das Verhältnis von stationären zu ambulanten Angeboten lag vor der Budget-Einführung bei 60

Prozent (stationär) zu 40 Prozent (ambulant) und hat sich nun umgekehrt. Externe Evaluierung und

Zufriedenheitsbefragungen unter den Klient*innen zeichnen ein insgesamt positi-ves Bild.

SP: Die Wohnangebote von LmBHH sind überwiegend von der Wohnungswirtschaft ange-mietete

Flächen. Besonders gemeinschaftliche Wohnformen werden stark nachgefragt. Seit 2000 gilt für alle

neuen Vorhaben von LmBHH eine maximale WG-Größe von fünf Personen, seit 2014 werden neue

Projekte nur noch mit eigenem Badezimmer für jede*n Mieter*in geplant. Inzwischen leben in den

gemeinschaftlichen Wohnformen im Durchschnitt 3,3 Personen in einer Wohnung. Zu Beginn des

Prozesses waren es im Durchschnitt noch 6 Personen. Die Kompetenz zur eigenen Alltagsgestaltung

in den kleineren WGs ist gewachsen. Klienten und Klientinnen haben die Wahl zwischen verschie-

denen Wohn- und Assistenzformen.

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HS: In der Tagesförderung bietet die ESA mit 100 Kooperationen für über 700 Menschen sinnstiften-

de Beschäftigungen, z. B. im Handwerk, im Gartenbau oder einem inklusiv geführten Restaurant. Im

Werkstattbereich gibt es mit über 120 Partnerfirmen viele ausgelagerte Arbeitsplätze. Das Hambur-

ger Budget für Arbeit ermöglicht die Arbeit mit Mindestlohn nach Tarif – davon profitierten hamburg-

weit über 170 Beschäftigte.

Nach vier Jahren Qplus belegt eine Begleitforschung: Es gibt mehr Teilhabemöglichkeiten auch für

Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf – bei gleichzeitiger Reduktion der Profileistungen und

meist zugunsten persönlicher und sozialräumlicher Unterstützungen. Diese Erfahrungen sollen in der

nächsten Budgetphase in die Strukturen des Hilfesystems überführt werden.

SP: Bei LmBHH ergab die Auswertung von NUEVA, einer Evaluierung durch Nutzer*innen, dass 38

Prozent der Befragten nach eigener Aussage nicht an Hilfeplan-Gesprächen beteiligt gewesen sei-

en – obwohl die Gespräche mit wenigen Ausnahmen mit den Betroffenen durchgeführt wurden.

Hier besteht Nachbesserungsbedarf bei der Unterstützungsplanung. Die Einführung der Persönlichen

Zukunftsplanung gab hierzu wichtige Hinweise. Über 150 Klient*innen haben positive Erfahrungen

gemacht, mehr Selbstvertrauen und neue Unterstützer*innen gewonnen. Sehr viele fanden heraus,

was ihnen besonders wichtig ist. Das Instrument sei auch für solche Menschen gut geeignet, die

sich nicht gut verständigen können. So führt LmBHH derzeit eine neue Unterstützungsplanung für

alle Klient*innen ein.

Besondere wichtig für LmBHH als Betriebsgesellschaft eines Elternvereins ist die Zusammenarbeit

mit den Angehörigen. Die Gesellschaft muss stärker als früher ihre Arbeit erläutern und konkrete

Vorteile der Veränderungen aufzeigen. Während früher eher gemeinsame Forderungen an die Be-

hörde gestellt wurden, wächst nun die Notwendigkeit, im Einzelfall Inhalt und Umfang der Hilfen

zwischen Betroffenem und Anbieter auszuhandeln. Nicht immer kann LmBHH die Erwartungen z. B.

an Begleitung in der Freizeit erfüllen.

Die Ombudsstelle der Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für behinderte Menschen (LAG) leistet

hier wertvolle Hilfe und gibt Anstöße zur Qualitätsverbesserung.

HS: Die Mitarbeitenden der Budgetträger haben durch die Einführung des Trägerbudgets und die

umfassende Organisations- und Personalentwicklung deutlich ihre Kompetenzen erweitert. Trotz

der Wettbewerbssituation der Unternehmen entstanden zwischen den Partnern gegenseitige Wert-

schätzung und Vertrauen – ebenso in der Zusammenarbeit mit der Sozialbehörde und dem fallsteu-

ernden Fachamt Eingliederungshilfe.

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Ausblick

Auch wenn sich die Rahmenbedingungen für die Teilhabe von Menschen mit hohem Bedarf deutlich

verbessert haben, ist noch viel zu tun: etwa bei der Nutzung neuer Wohnformen oder beim Abbau

von Barrieren in der Mobilität. Hamburg muss individuelle und bezahlbare Beförderungslösungen

finden und die Digitalisierung nutzen.

Der Erfolg von Eingliederungshilfe ist nicht leicht messbar und kann nicht in Preis- oder Anreiz-

modelle überführt werden. Erfolgreich haben Träger, LAG und Sozialbehörde 2017 Leit-planken zur

Wirkungsorientierung erarbeitet.

SP: Das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) bringt mit der Aufteilung von Fachleistungen und exis-

tenzsichernden Leistungen eine große Veränderung. Bei den Pflegeleistungen muss die Systembar-

riere des §43a SGB XI fallen, es muss Bürokratie abgebaut werden. Eine große Herausforderung für

die Partner des Trägerbudgets wird sein, die Aufteilung von Fachleistungen und existenzsichernden

Leistungen ab dem 1.1.2020 von vornherein in eine Folgevereinbarung einzubinden.

Gemeinsam haben die Partner die positiven Ausgangsbedingungen in Hamburg für die Einführung

des Trägerbudgets gut genutzt – und viel gelernt: Ganzheitliches Denken, der Wille zum Umbau,

die Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen, Transparenz und die Fä-higkeit zur Kooperation

haben diesen Veränderungsprozess ermöglicht. Bekannte Elemente aus dem Change Management

– ein Geheimnis ist es nicht.

Allen Mitarbeitenden der Träger gilt großer Dank dafür, sich dem Budget-Umbau gestellt zu haben

und kompetent den Klient*innen zur Seite zu stehen.“

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DIE ENTWICKLUNG VON TEILHABECHANCEN – DIE PERSPEKTIVE DER LEISTUNGSBERECHTIGTENKerrin Stumpf | Vorsitzende Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft für be-hinderte Menschen e.V.

„‘Nicht ohne uns über uns‘ setzt voraus, dass einer hingeht und den Mund aufmacht. Die Freie und

Hansestadt Hamburg als Träger der Eingliederungshilfe steuert mit Geld und mit dem Case-Manage-

ment im Fachamt Eingliederungshilfe. Die Leistungserbringer beschreiben hier auf dem Kongress,

wie sie Unterstützung anbieten, inzwischen mit mehr Quartiersarbeit in der Stadt für neue Chancen

auf Teilhabe an Arbeit und dem Leben in der Gemeinschaft.

Wir als LAG betonen an dieser Stelle die Rechtsansprüche der Menschen, die sich mit dem neuen

Recht in erfolgreichen Planungsprozessen und Assistenzen verwirklichen müssen. Dem Gesamtplan

kommt mit dem Bundesteilhabegesetz eine Schlüsselbedeutung zu. Im Gesamtplanverfahren wird

festgestellt, worauf ein Anspruch besteht. Entscheidend wird sein, wie gut es gelingt, dass die Men-

schen in diesen Verfahren ihre Bedürfnisse und ihr Wunsch- und Wahlrecht zum Ausdruck bringen

können.

Kerrin Stumpf: engagiert für die Leistungsberechtigten

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Ein Umbau zur inklusiven Gesellschaft setzt weit mehr voraus als das bisher Erlebte. Die Rolli-Plätze

in der Elbphilharmonie sind meist leer, Menschen mit komplexen Behinderungen fehlen auf Ver-

sammlungen, selbst bei der Demo zur Gleichstellung behinderter Menschen am 5. Mai1), weil Assis-

tenten keine Zeit haben oder meinen, die Betroffenen möchten vielleicht gar nicht.

Wo bleibt denn das Positive? Viele erleben Positives. Sie profitieren von der Entwicklung, weil sie

ihre Teilhabeziele barrierefrei benennen und zumindest teilweise selbst bewirken können. Der Evalu-

ationsbericht zur Ambulantisierung aus dem Jahr 2015 beschreibt die Chancen der sozialräumlichen

Entwicklung („mein eigenes Bett, mein eigener Kühlschrank, mein Freund, meine Geheimnisse“) für

Leistungsberechtigte bis zur Hilfebedarfsgruppe 3.

Schwierigkeiten sehen wir als LAG, so auch der Evaluationsbericht, für Menschen mit komplexeren

Unterstützungsbedarfen. Das ‚Creaming‘, also die Entwicklung zulasten von Menschen mit hohem

Assistenzbedarf, sollte ausgeschlossen werden, so die Selbstverpflichtungen der Anbieter. Doch mit

den zwischen ihnen und der Stadt Hamburg vereinbarten Bedingungen ist es so gut wie ausgeschlos-

sen, dass Menschen mit intensivem und auch nächtlichem Assistenzbedarf außerhalb von Wohnein-

richtungen wohnen können.

Früher war das anders. Da gingen wir, fröhlich ‚Ein Freund, ein guter Freund‘ pfeifend gemeinsam zum

Leistungsträger, der Dienst und der Mensch mit Behinderung, und organisierten uns die erforderliche

Ressource für die gewünschte Unterstützung. ‚Ach ja‘, seufzen manche Eltern, so war das. Mit den

Trägerbudgets und bundesweit mit dem neuen SGB IX hat sich das verändert. Die Verantwortung

eines jeden Leistungsberechtigten ist gestiegen, für seine Leistung selbst aufstampfen zu müssen,

sowohl gegenüber dem Träger der Eingliederungshilfe als auch gegenüber seinem Assistenzdienst.

Wohneinrichtung ist ein Rechtsbegriff. In Hamburg kann es sich dabei um sehr hübsche, kleine WGs

handeln und das Wohnen dort muss kein Nachteil sein. Entscheidend ist, was dort geboten wird.

Hier wird es – in Hamburg wie überall im Bund – mit dem Bundesteilhabegesetz wichtig sein, dass

Anbieter ihre Fachleistung, qualifiziert, einfach und in Abgrenzung zu existenzsichernden Leistungen,

umfassend beschreiben, um in den Vereinbarungen mit dem Leistungsträger den Leistungsrahmen

richtig festlegen zu können.

Dabei ist die Fachleistung für Menschen mit hohem Assistenzbedarf notgedrungen auch eine kom-

plexe Angelegenheit. Es geht um ein Konzert von Nachteilsausgleichen, denn der Mensch möchte

alles Mögliche: mobil sein, sich bilden, neue Ziele entdecken, arbeiten, wohnen und seine Woh-

nung nicht verlieren, guten Kontakt haben mit Freunden und Familie, seine Helfer im Blick behalten,

ermutigt werden beim Selbermachen, mal zu einer Versammlung gehen, mal in die Kirche, mal ins

Konzert, mal zum Sport, mal einen Brief schreiben oder skypen, seine Nachbarn kennen, sein eigener

Herr sein und möglichst gesund bleiben. Daraus ergeben sich lauter Fachleistungen und Assisten-

zen. Nicht alles muss der Dienst selbst machen. Aber er muss wissen, wer was machen kann und

den Weg dahin weisen.

1) Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung

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Wir von der LAG vermissen eine Bekräftigung dieser wichtigen Fachlichkeit. Der Bericht der

Trägerbudget–Beteiligten vermittelt das Bild, dass fachliche Eingliederungshilfe vieles sein kann. Wir

legen auf diesem Kongress den Bericht unserer Ombudsstelle Eingliederungshilfe Hamburg2) vor und

erwarten Antworten auf die Probleme, die er beschreibt.

Die unabhängige Teilhabeberatung startete in Hamburg mit viel LAG Kraft zum Jahresbeginn als

„Netzwerk euTB Hamburg“. Doch uns sorgen die Hinweise, was dieses, sich jetzt erst einmal orien-

tierende allgemeine Angebot im sozialrechtlichen Leistungsdreieck alles leisten und auffangen soll.

Dagegen haben bestehende Berater der Leistungsberechtigten und ihrer Angehörigen und rechtli-

chen Betreuer, wie die Betreuungsvereine, wachsende wirtschaftliche Not …

Für die Leistungsberechtigten bestehen aus Sicht der LAG in der Entwicklung

deutliche Risiken.

• Wie werden sie und ihre Angehörigen unterstützt, die Verantwortung und

Verwaltungsdichte zu bewältigen? Wer stärkt die Durchsetzung komplexer Unterstützungsbedarfe?

• Wie entwickeln Stadt und die Dienste fachliche Standards, um die Qualität der

Eingliederungshilfe zu sichern? Wie gewährleistet die Stadt, dass die mit Budgets

einhergehende Deregulierung nicht mit Leistungs- und Standardverlust verbunden ist?

• Was bleibt bei den Menschen im Portemonnaie? Wir befürchten, dass die Trennung

von Leistungen zur Teilhabe und Leistungen zum Lebensunterhalt ab 2020 für Menschen

mit hohem Unterstützungsbedarf Nachteile bringt.

• Beteiligung benötigt Kommunikation und Kommunikationsunterstützung.

Die Anforderungen an die Verhandlungskunst der Menschen steigen. Noch sind unterstützte

Kommunikation und die Kommunikation mit Freiwilligen, Angehörigen und rechtlichen

Betreuern aber kaum Teil der Fachleistungen.

• Der Verweis auf den Sozialraum wird zu Versorgungslücken führen ohne die individuell klar

vereinbarte Assistenzsituation.

Wir sind in Hamburg als LAG sehr aktive Interessenvertreter und bedanken uns bei allen Vertrete-

rinnen und Vertreter der Behörden, der Verbände und der Dienstleister, die sich immer wieder mit

gutem Mut mit uns an einen Tisch setzen.

Unser Ziel haben wir klar vor Augen: Menschen mit Assistenzbedarf leben selbstverständlich in der

Stadt, so wie sie wollen und ohne Beschränkungen ihrer Teilhabeinteressen und -ziele. Aber da sind

wir noch nicht.

Wir erwarten von der Eingliederungshilfe, dass sie leistungsfähig ist für gesellschaftliche Teilhabe,

das bedeutet wirksam für den Einzelnen. Dazu bleibt uns, auch und gerade vor dem Hintergrund der

Hamburger Entwicklung, noch alle Hände voll zu tun.“

2) Ombudsstelle Eingliederungshilfe Hamburg (2017): Jahresbericht Juli 2016 – Juni 2017, http://www.lagh-hamburg.de/ news/items/erster-bericht-der-ombudsstelle-eingliederungshilfe.html, letzter Zugriff am 30.05.2018

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FORUM 1: Gute Planung ist die halbe Miete! Gesamt- und Hilfeplanung im Leistungsdreieck

Worum ging es im Forum?

Das Forum beschäftigte sich mit den Instrumenten, die von den an der Planung und Erbringung der

Hilfen beteiligten Trägern im Planungsprozess eingesetzt werden. Intention der Vortragenden war

es, mit der Durchführung eines interaktiven Seminarformats eine intensive Diskussion in kleinen

Einheiten zu ermöglichen.

Auf Seiten der Leistungserbringer nahmen insgesamt sechs Nutzer mit ihren Unterstützern/ Assis-

tenten am Forum teil, um die Wahrnehmung der Betroffenen nutzbringend in die Debatte einfließen

zu lassen.

Im Anschluss an ein kurzes Input-Referat wurden an vier Stellwänden/Tischen die verwen-deten Instrumente mit folgender Schwerpunktsetzung vorgestellt:

• Fachamt Eingliederungshilfe: Handeln im Leistungsdreieck

• f & w fördern und wohnen AöR: Regelkreis der Hilfeplanung

• alsterdorf assistenz West: Zusammenspiel Reha-Gesamtplan und Assistenzplanung

• Nutzertisch: ergänzende sozialräumliche Instrumente aus Nutzersicht (Netzwerkkarte,

Ressourcenkarte)

Kernfragen der Diskussion:

• Wie knüpft die individuelle Hilfeplanung an den Gesamtplan des Leistungsträgers an?

• Was ist hilfreich, um erfolgreich eine gemeinsame Ausrichtung der Hilfeplanung bei allen

Verfahrensbeteiligten zu erreichen?

• Wie wird im Leistungsdreieck sichergestellt, dass die Leistungsberechtigten eine

bedarfsgerechte Gesamt- und Hilfeplanung erhalten?

Die bearbeiteten Fragestellungen waren im Wesentlichen praxisorientiert und deckten fol-gende Bereiche ab:

• Herangehensweise und Methoden

• Schnittstellen der Zusammenarbeit

• Sozialraum als Ressource

• Beteiligung der Leistungsberechtigten

• Ressourcen der Leistungsberechtigten

Insgesamt wurden die Diskussionen in kleinen wechselnden Gruppen als sehr lebhaft und fruchtbar

empfunden, Fragen der Implementierung wurden aus anderen Bundesländern mehrfach eingebracht.

Eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Leistungsträger und Leistungserbringer wurde für

eine gelingende Zusammenarbeit und eine nachhaltig kontinuierliche Hilfeerbringung als wesentli-

ches Element vorausgesetzt.

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Aus einigen Flächenländern wurde berichtet, dass zunächst auf Seiten der Leistungsträger eine

Orientierung auf ein gemeinsames Gesamtplanverfahren der jeweils beteiligten kommunalen Kör-

perschaften erfolgen müsse, um zu einer Abstimmung mit den Leistungserbringern zu kommen. Hier

wurden die Vorgaben des BTHG gleichermaßen als Ansporn und Druck beschrieben.

Fragen nach dem Umgang mit den Instrumenten und den konkreten Beteiligungsmöglichkeiten wur-

den am Nutzertisch diskutiert. Die beteiligten Nutzer empfanden die Diskussionen als sehr interes-

siert an ihrer Sichtweise und ihrem subjektiven Erleben.

Auf eine gemeinsame zusammenfassende Diskussion am Ende wurde bewusst verzichtet, um den

Austausch und die Interaktion zwischen den Teilnehmern nicht zu begrenzen.

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FORUM 2: Inklusive Wohnkonzepte: zwei Praxisbeispiele, unterschiedliche Perspektiven

Sonja Schoenberner | Leben mit Behinderung Hamburg Sozialeinrichtungen gGmbHInklusive Hausgemeinschaft Shanghaiallee

Die Inklusive Hausgemeinschaft Shanghaiallee wurde 2015 eröffnet. 19 Menschen mit Behinderung

und 10 Studierende leben in der Hausgemeinschaft. Dafür stehen in dem Gebäude 2,5 Etagen zur

Verfügung. Jeweils vier Mieter – zwei Studierende und zwei Menschen mit Behinderung – werden

sich eine Wohneinheit mit einer Küche und einem Gemeinschaftsbereich teilen. Es gibt zwei stati-

onäre WGs.

Die Studierenden übernehmen zehn Stunden wöchentlich Aufgaben der Alltagsbegleitung und zah-

len dafür keine Miete. Dieses wird angelehnt an einen Vertrag über eine Werkswohnung geregelt.

Die Bewohner kommen in einem Video (https://youtu.be/SJXeqToAvV4)zu Wort.

Marita Wahl | alsterdorf assistenz ost gGmbH (aao) |LeNa Barmbek

In einem Quartier in Barmbek mit 73 barrierefreien Wohnungen hat alsterdorf assistenz ost das Vor-

schlagsrechts für acht Wohnungen in denen Menschen ambulant betreut werden. In den anderen

Wohnungen wohnen Senioren. alsterdorf assistenz ost betreibt ein Quartiersbüro für das gesamte

Quartier und versorgt auch Senioren im Quartier (Erweiterung der Zielgruppen!), die dadurch selbst-

ständig in der eigenen Wohnung bleiben können. Durch 24 Stunden Präsenz ist vieles möglich. Auch

Menschen mit Behinderung engagieren sich im Quartier und gehen zum Beispiel für die Senioren

einkaufen. LeNa grenzt sich zum Service Wohnen ab. Es geht um Versorgungsstrukturen im Quartier.

LeNa ist ein gemeinsames Projekt mit der SAGA nach dem Bielefelder Modell.

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Marko Lohmann | Vorsitzender des Verbands norddeutscher Wohnungsunternehmer Lan-desverband Hamburg e.V. | Vorstand gemeinnützige Baugenossenschaft Bergedorf-Bille eG

Die Bergedorf Bille als Baugenossenschaft ist kein Anbieter für pflegerische Dienstleistungen, des-

halb sucht sie sich Kooperationspartner wie das Rote Kreuz, Leben mit Behinderung Hamburg oder

BHH Sozialkontor. Es handelt sich hier um geförderten Wohnungsbau des ersten Förderweges.

In der Shanghaiallee will man Vielfalt anbieten. Der Komplex wird in Kooperation mit der Otto Wulff

GmbH genutzt. Es gibt unterschiedliche Mieter, außerdem hat die Otto Wulff GmbH Eigentums-

wohnungen verkauft. Neben genossenschaftlichem Wohnen und der Inklusiven Hausgemeinschaft

(Vermieter Otto Wulf GmbH) gibt es dort zum Beispiel zwei Kitas, ein Sportstudio, ein Drei-Sterne-

Restaurant, einen Asia Imbiss und einen Kirchenorgelbauer. Es gibt einen Treffpunkt den alle nut-

zen können. Die Bergedorf Bille will gerne weitere solcher Projekte realisieren und plant dieses mit

Leben mit Behinderung Hamburg und BHH Sozialkontor.

Fragen und Kontroversen:

Wie kommt man an Grundstücke in guter Lage und kann dort sozialen Wohnungsbau machen?

Es gibt in Hamburg das, so genannte, Bündnis für Wohnen, das auch den Bau von bezahlbarem

Wohnraum fördert. Städtische Grundstücke werden nicht nach dem Höchstgebotsverfahren, sondern

über eine Projektausschreibung vergeben. Darüber hinaus gibt es einen Drittelmix (ein Drittel Eigen-

tumswohnungen, ein Drittel Mietwohnungen, ein Drittel geförderter Wohnungsbau). Durch den Ver-

kauf von Eigentumswohnungen nehmen Investoren außerdem Geld ein.

Wie finanzieren sich die Treffpunkte?

Baugenossenschaft Bergedorf Bille: Es gibt 14 Treffpunkte. Alle Treffpunkte werden nicht refinan-

ziert. Die Stiftung der Baugenossenschaft finanziert die Treffpunkte. Marko Lehmann kann sich zu-

künftig auch Kooperationen mit Anbietern von Räumlichkeiten, die am Abend und am Wochenende

leer stehen vorstellen.

LeNa: Die Treffpunkte werden durch das Trägerbudget finanziert. Allerdings sollte die nachbarschaft-

liche Hilfe im Vordergrund stehen; erst Freunde und Familie, dann Nachbarschaft und dann erst pro-

fessionelle Hilfe.

Wie werden die Alltagsbegleiter finanziert? Wie funktioniert dieses Modell?

Die Alltagsbegleiter können durch das Trägerbudget finanziert werden. Zur Eröffnung der Hausge-

meinschaft wurden die Bewohner von dem Leitungsteam ausgewählt. Inzwischen sucht die WG die

neuen Alltagsbegleiterinnen oder Begleiter selber aus, wobei die Leitung natürlich zustimmen muss.

Wichtig ist die Abgrenzung gegenüber Pflegeleistungen und klassische Assistenzleistungen aus der

Hilfeplanung. Diese werden von ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übernommen.

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FORUM 3: Quartier hilft!? Sozialräumliche Ansätze im Spannungsfeld Heilsbringer oder Sparmodell

Worum ging es im Forum?

Im Mittelpunkt des Forums stehen die Fragen: Wie verändern sich Unterstützungsformen in Ham-

burg auf Grundlage des Trägerbudgets? Sind sozialräumliche Ansätze in der Lage, den Interessen

von Menschen mit Unterstützungsbedarf gerecht zu werden, oder handelt es sich dabei nur um ein

Sparmodell, das Kassen und Kommune entlasten soll?

Zum Einstieg gab Prof. Wolfgang Hinte (Universität Duisburg-Essen) einen Überblick: „Sozialraumo-

rientierte Ansätze in der Eingliederungshilfe – was bewegt sich im Bundesgebiet?“

Ein „Speeddating“ ermöglichte Einblicke in fünf Hamburger Projekte: Jochen Krull von fördern und

wohnen stellte Sozialraumentwicklung im ländlichen Raum in Sachsenwaldau vor. Im Hamburger

Stadtteil Sasel betreibt Frauke Schröder, BHH Sozialkontor, Quartiersentwicklung zusammen mit ei-

ner Wohnungsbaugenossenschaft. Frank Nestler und Martin Rösner präsentierten den Hamburger

Kulturschlüssel von Leben mit Behinderung. Die Rolle der Intermediärin in der Quartiersarbeit im

Projekt Q8 – Quartiere bewegen der Ev. Stiftung Alsterdorf erläuterte Armin Oertel. Mit dem Projekt

Qplus – Neue Unterstützungsformen im Quartier stellte Karen Haubenreisser, Ev. Stiftung Alsterdorf,

die neue Funktion der QuartierlotsInnen vor.

Was wurde diskutiert?

Prof. Hinte nannte vier Gelingensbedingungen für sozialräumliche Ansätze:

1. Die Leistungsfeststellung solle sich am Willen des Menschen orientieren statt an

Hilfebedarfsgruppen.

2. Es sollen „flexible Arrangements“ beim Erbringen der Leistungen für den Klienten

„gewagt werden“.

3. Es brauche eine „fallunabhängige“ Finanzierung.

4. Es solle das Prinzip Kooperation statt Markt für die Leistungserbringer gelten.

Staatsrat Pörksen (BASFI) betonte, dass die Behörden in Sachen Kooperation durch die Flüchtlings-

situation viel gelernt hätten. Eine sozialräumliche fachübergreifende Organisation der zuständigen

Verwaltungsstellen könnte hilfreich sein. Dabei sei es auch wichtig, die Erfahrungen z. B. aus der

Eingliederungs- und Jugendhilfe zusammenzubringen.

In der Diskussion wurde deutlich, dass der Sozialraumansatz ermögliche, Qualität zu verbessern

ohne leistungsgesetzliche Ansprüche streitig zu machen. Offen blieben die Fragen, welche Verände-

rungen sich durch das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) ergeben, wie eine sozialräumliche Organi-

sation der Verwaltung aussehe und wie Kooperationen auch SGB-übergreifend stattfinden könnten.

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FORUM 4: Wie kommt Pflege vor …? Eingliederungshilfe und Pflege in der Hamburger Praxis

Worum ging es beim Forum?

Frau Ullrich-Rahner, Frau Hauser und Frau Buermann stellen die unterschiedlichen Varianten und

Praxisbeispiele vor, wie die Kombination von Eingliederungshilfe (EGH) und Pflege bei BHH Sozial-

kontor, alsterdorf assistenz ost und Leben mit Behinderung Hamburg organisiert werden. Besonderer

Schwerpunkt wurde auf die rechtlichen Grundlagen und Personalstruktur gelegt.

Dr. Gitschmann, Abteilungsleiter Rehabilitation und Teilhabe der Behörde Arbeit, Soziales, Familie

und Integration Hamburg, hielt einen Impulsvortrag zum Thema, wie sich die Kombination EGH und

Pflege im Jahr 2020 gestalten wird. Dr. Hohage gab anschließend einen Input, wie die Kombination

der Leistungen ab 2020 aus rechtlicher Sicht aussehen werden.

Welche Probleme und Lösungsvorschläge wurden angesprochen?

Die Leistungserbringer*innen stellten als Lösungsvorschlag jeweils ihre Modelle der Integrierten

Assistenz vor. Dabei zeigten sich Herausforderungen im Bereich der Personalentwicklung.

Durch das PSG II und III ist die Pflege teilhabeorientiert, diese Neuerung wird aber gesetzlich nicht

konsequent für alle Leistungsformen umgesetzt. Auch nach 2020 wird - trotz Gleichrangigkeit von

EGH- und Pflegeleistungen – weiterhin der §43a SGB XI gelten. Da es das Ziel ist, dass Leistungen

der Pflege und EGH nahtlos ineinander greifen, wäre ein mögliches Vorgehen, dass das Fachamt

Eingliederungshilfe die Unterstützungsbedarfe der EGH und Pflege bündelt, sich die Sachleistun-

gen von den Pflegekassen erstatten lässt und die Nutzer*in ihren Gesamtleistungsanspruch „aus

einer Hand“ erhält. Alternativ kann der Leistungserbringer mit Hilfe von Abtretungserklärungen die

Pflegesachleistungen auch direkt mit der Pflegekasse abrechnen.

Die Betrachtung der rechtlichen Rahmenbedingungen kann sich nicht nur auf SGB IX und XI

beschränken, es müssen ebenfalls das WBVG, in dem der Verbraucherschutz geregelt wird, und die

Nachfolgegesetze der Heimgesetze (in Hamburg das Wohn-Betreuungsqualitätsgesetz) einbezogen

werden. Da Wohnraum für Menschen mit Behinderung extrem knapp ist, fungieren die Leistungs-

erbringerinnen häufig als Zwischenmieterin. Ab 2020 muss eine klare Trennung zwischen Verträgen

der EGH, Pflege und des Wohnraums existieren.

Welche Kontroversen gab es?

Es wurden die Vorteile und Schwierigkeiten angesprochen, wenn Leistungen der EGH und Pfle-

ge nicht klar trennbar sind. Während des Austauschs stellte sich heraus, dass mit der Abrech-

nung der pflegerischen Leistungen die Pflegefachlichkeit in der Leistungserbringung steigt. Die

Assistenznehmer*innen profitieren bei der Integrierten Assistenz gleichzeitig durch die Fachlichkeit

der Eingliederungshilfemitarbeiter*innen.

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Die Frage kam auf, ob sich Assistenznehmer*innen zukünftig zwischen pflegerischen und EGH Leis-

tungen entscheiden müssen und nicht mehr auf beide Leistungen Anrecht haben. Da die Systeme

EGH und Pflege gleichrangig sind, kann weiterhin ein Anrecht auf beide Leistungen bestehen.

Es ist entscheidend, dass die Leistungs- und Mietverträge klar voneinander getrennt sind sowie das

Wunsch- und Wahlrecht eingehalten wird. Dann kann die Leistungserbringerin auch die Vermieterin

sein.

Welche Punkte sind weiterhin zu klären?

• Werden die Pflegekassen Wohngemeinschaften als „Kleinstheime“ angesehen,

so dass sie unter §43a SGB XI fallen?

• Werden die pflegerischen Betreuungsleistungen missbraucht werden,

um Leistungen der EGH zu kürzen?

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FORUM 5: Menschen mit komplexem Unterstützungs- bedarf: Verlierer des Trägerbudgets?

Die vier Hamburger Anbieter haben im Trägerbudget mit dem Leistungsträger vereinbart, ein beson-

deres Augenmerk auf die Angebotsentwicklung und Versorgung von Menschen mit komplexer Behin-

derung zu legen. Das Forum ist der Frage nachgegangen, wie es gelingen kann, individuell passende

Angebote zu entwickeln und Wahlmöglichkeiten im Rahmen der Eingliederungshilfe für Menschen

mit komplexer Behinderung zu schaffen. Alle vier Träger haben sich verpflichtet, den Personenkreis

weiter in ihren Angeboten zu berücksichtigen. Eine trägerübergreifende Praxisgruppe wurde einge-

setzt, um personenzentrierte Lösungen für Menschen zu entwickeln, die besondere Schwierigkeiten

haben, reguläre Angebote zu erhalten. Der Praxisgruppe ist es gelungen, bisher 10 Fälle abzuschlie-

ßen. Für 6 von 10 Fällen wurden Lösungen im Raum Hamburg gefunden. Eine unabhängige Ombuds-

stelle der Landesarbeitsgemeinschaft und dem Betreuungsverein für behinderte Menschen wurde

gefördert, um niedrigschwellige Beratung und Beschwerden zu ermöglichen.

Gleichwohl berichteten Teilnehmer*innen in der anschließenden Diskussion von strukturellen Pro-

blemen, so dass nicht alle Anfragen von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen innerhalb

Hamburgs gelöst werden konnten. Insbesondere die Kinder- und Jugendeinrichtungen bemängeln

fehlende Anschlussplätze für junge Erwachsene mit einem hohen Hilfebedarf speziell mit einem her-

ausfordernden Verhalten. Dieses gilt auch für Menschen, die noch in ihren Herkunftsfamilien bleiben

müssen, weil keine geeigneten Angebote bestehen. Die Mehrzahl der Betroffenen wird im stationä-

ren Setting versorgt, auch wenn ambulante Wohnformen geeignet wären. Es wurde kritisiert, dass

der erfolgreiche Prozess der Ambulantisierung von Wohnplätzen oftmals an diesem Personenkreis

weitgehend vorbei gegangen ist.

Ziel in Hamburg bleibt, Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen weder in Sondereinrichtungen

noch in Pflegeeinrichtungen zu betreuen, sondern im Rahmen von Regelangeboten. Die Selbstver-

pflichtung der Träger hat insgesamt dazu beigetragen, kreative Lösungen für „schwierige Vermitt-

lungsfälle“ zu finden.

Einig war man sich in den Diskussionen, dass ein guter Einstieg gelungen ist, aber weitere struk-

turelle Barrieren überwunden werden müssen, um für diesen Personenkreis eine vollständige

Öffnung der Eingliederungshilfe zu gewährleisten.

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FORUM 6: Neue Beschäftigungsformen in der Tagesförderung: inklusiv, qualifizierend, vielfältig

Worum ging es bei dem Forum?

Beginnend mit einem Impulsvortrag wurde die Entwicklung und der Stand der Tagesförderstätten in

Hamburg beschrieben. Die Tagesförderung heute bietet den Beschäftigten eine sinnstiftende und

bedeutungsvolle Beschäftigung in arbeitsnahen Kontexten sowie vielfältige Bildungs- und Quali-

fizierungsangebote und bildet schon lange kein Nischenthema mehr.

In Hamburg besteht seit vielen Jahren, das trägerübergreifende Netzwerk „NAHT“ (Netzwerk Ham-

burger Tagesförderstätten), welches sich für die Weiterentwicklung und die fachliche Ausrichtung

der Tagesförderung in Richtung Arbeitsweltorientierung stark macht sowie dies auch in der Öffent-

lichkeit durch den jährlich stattfindenden Marktplatz – NAHT vertritt. Darüber hinaus erfolgt eine

enge Zusammenarbeit mit der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration

(BASFI). Bei der trägerübergreifenden Modellerprobung zur neuen Leistungsvereinbarung wurden

verschiedene Projekte umgesetzt und evaluiert.

Positive Auswirkungen des Trägerbudgets wurden in Bezug zur fachlichen Weiterentwicklung durch

innovative Projekte benannt. Diese können dadurch flexibler und mit mehr Planungssicherheit ge-

plant und umgesetzt werden.

Zwei Praxisbeispiele wurden in Form von Kurzfilmen vorgestellt:

„Auf Achse – Teilhabe am Arbeitsleben außerhalb von Tagesstätten“ (Leben mit Behinderung Ham-

burg): Auch an Orten des regulären Arbeitslebens können Menschen mit hohem Unterstützungsbe-

darf tätig werden. In Kooperation mit verschiedenen Firmen, Kirchengemeinden, Vereinen und ande-

ren sozialen Einrichtungen entstehen Arbeitsangebote, Erfahrungs- und Begegnungsräume.

Das inklusive Restaurant Alsterdorfer kesselhaus (alsterdorf assistenz ost): Das Restaurant Alster-

dorfer kesselhaus zeigt täglich, dass Menschen mit verschiedenen Persönlichkeiten und Fähigkeiten

gemeinsam erfolgreich sein können. Als Team kesselhaus und Tagesförderung Krämerstübchen ar-

beiten Menschen mit Assistenzbedarf Hand in Hand mit den Servicekräften und Köchen vor Ort zu-

sammen. 2017 gewann dieses Projekt den Inklusionspreis des Sozialverbandes Deutschland – „Aus-

gezeichnet inklusiv! So muss Hamburg sein“.

Welche Probleme und Lösungsvorschläge wurden angesprochen?

Soziale Teilhabe in der Tagesförderung ist nur möglich mit engmaschiger Begleitung:

Es wurde über die Problematik von Personalengpässen bei der Begleitung von Angeboten im Sozi-

alraum diskutiert.

Lösungsvorschlag: Freiwillige gewinnen durch attraktive Angebote

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Welche Kontroversen gab es?

Folgende Diskussionsthemen wurden kontrovers diskutiert:

• Tagesförderklientel in arbeitsorientierten Projekten – kein klassisches Tagesförderklientel?!

• Fokus auf Bildung für Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen und keine

Arbeitsorientierung ?!

• Thema Beförderung: Wahlfreiheit vs. Zumutbarkeit

Welche Punkte sind weiterhin zu klären?

• Gestaltung von Übergängen (von Schule und Tafö sowie Steuerung von WfbM- Übergängen in

der Tagesförderung durch geeignetes Fallmanagement)

• Nutzerbefragung in der Tagesförderung z.B. durch Nueva

• Auswirkung des BTHG auf die Leistung der Tagesförderung

Im Fokus des Forum 6: Beschäftigungsformen in der Tagesförderung

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FORUM 7: Ist es Liebe – oder geht es nur ums Geld?

Worum ging es im Forum?

Die wesentlichen Fragestellungen lauteten: Kann mit Hilfe des Trägerbudgets die Effizienz sozialer

Dienstleistungen für alle Beteiligten erhöht werden? Oder gerät das sorgsam austarierte System des

sozialrechtlichen Dreiecks aus den Fugen?

Das Forum näherte sich diesen Fragen, indem Leistungsträger und Leistungserbringer Voraussetzun-

gen, Zusammensetzung und Umsetzung des Trägerbudgets darlegten. Besonderes Augenmerk lag

darauf, welche Gestaltungsmöglichkeiten das Trägerbudget eröffnet, wie mit planbaren und nicht

planbaren Veränderungen umgegangen wird und welche Vorkehrungen zur Sicherung der Qualität

der Leistungen getroffen wurden.

Der Schwerpunkt in der Umsetzung des Trägerbudgets liegt somit nicht auf dem Finanziellen, son-

dern auf der fachlichen Ebene der Gestaltungsmöglichkeiten.

Welche Probleme und Lösungsvorschläge wurden angesprochen?

• Notwendigkeit von Veränderung und Umdenken innerhalb des Leistungserbringers –

Schulung des Personals, Begleitung des Personals im Umdenkprozess

• Trägerbudget zwingt zu Kooperationen und Zusammenarbeit im Dreiecksverhältnis,

aber auch zwischen den Leistungserbringern, um gute individuelle Lösungen zu

Problemlagen zu finden

• Welches Risiko besteht? Verteilt auf Leistungserbringer und Leistungsträger,

größere Steuerungsmöglichkeit beim Leistungserbringer, weniger Einwirkung durch

Leistungsträger

• Besteht ein Kostenrisiko durch Begrenzung des Budgets? Kalkulation des Budgets ziemlich gut

im Jahresdurchschnitt ermittelt und gezahlt, gleicht Schwankungen bei den Klientenzahlen aus

• Kann das Trägerbudget auch auf Flächenländer übertragen werden? Ein Stadtstaat bietet von

der Struktur und den Kommunikationswegen her Vorteile, aber grundsätzlich lässt es sich

übertragen.

Welche Kontroversen gab es?

Wer kann als Leistungserbringer Trägerbudget umsetzen? Ab welcher Größenordnung machbar?

Sorge von kleinen Leistungserbringern, verdrängt zu werden.

Welche Punkte müssen vertieft werden?

• Angebote für Menschen mit sehr komplexen Behinderungen (aber nicht nur

im Bereich Trägerbudget)

• Gestaltung der Rahmenvereinbarungen unter Berücksichtigung Umsetzung und

Durchführung BTHG

• sozialräumliche Gestaltungsprozesse unter fachlicher Verantwortung

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FORUM 8: Herausforderung Partizipation: Chancen, Grenzen, Perspektiven

Worum ging es im Forum?

Zunächst wurde aus wissenschaftlicher Sicht die zunehmende Bedeutung von Partizipation in der

Eingliederungshilfe (durch Impulse aus der Politik der Selbsthilfeverbände, der UN-BRK und des

BTHG) dargestellt sowie verschiedene Stufen der Partizipation als Orientierungsrahmen für Betei-

ligungsformen in der Praxis – von Nicht-Beteiligung über Schein-Beteiligung bis zu Beteiligung. Im

Anschluss wurde das Thema Partizipation aus Sicht zweier Leistungserbringer und der GUT GE-

FRAGT gGmbH u.a. anhand des Instruments der Nutzerbefragung vorgestellt.

Die anschließende 60-minütige moderierte Plenumsdiskussion fragte nach Chancen, Grenzen und

Perspektiven der Partizipation. Die Diskussionsbeiträge wurden in Stichworten auf Kommunikations-

karten festgehalten und anhand der Leitfrage auf Metaplanwänden strukturiert.

Welche Probleme und Lösungsvorschläge wurden angesprochen?

Als Partizipation begrenzende Faktoren wurden genannt:

• Barrieren bei der Meldung von Beschwerden

• nicht ausreichende Informationen der Leistungsberechtigten

• Abhängigkeit der Leistungsberechtigten

• Spannungsfelder im Leistungsdreieck, z.B. hinsichtlich der Umsetzbarkeit von Partizipation vor

Ort, der Angemessenheit, des Steuerungsinteresses, der Partizipationsansprüche

Als Partizipation befördernde Faktoren (= Chancen) wurden genannt:

• Emanzipationsprozesse stärken

• Peer-Beratung stärken (z.B. Ergänzende Unabhängige Teilhabeberatung, Inklusionsbeirat)

• Interessenvertretung stärken (z.B. Beiräte)

• Trägerbudget schafft Spielräume für Formen der Partizipation

Welche Kontroversen gab es?

Kontrovers diskutiert wurden u.a. Standards für Mitbestimmung, die Haltung von Leitungsebenen

– auch der Unternehmensführung – hinsichtlich der Schaffung partizipationsfördernder Strukturen

sowie die Frage, wie Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf partizipieren können.

Welche Punkte müssen vertieft werden bzw. sind weiterhin zu klären? (Perspektiven für Partizipation)

• Standards der Werkstatträte ins Wohnen überführen

• Quartiers- und Sozialraumorientierung

• Höhere (auch rechtliche) Verbindlichkeit von Partizipation

• Partizipation als Normalität (entsprechende Haltung/Bewusstsein)

• Stärkung der politischen Interessenvertretung und der Beiräte

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FORUM 9: Den Wandel gestalten - Unternehmen in Bewegung

Worum ging es im Forum?

Frau Stonis, schilderte in ihrem Beitrag den konkreten Changeprozess der letzten vier Jahre. Die Aus-

richtung des unternehmerischen Handelns konzentriert sich hierbei auf vier strategische Handlungs-

felder: Assistenz, Sozialraumorientierung, Steuerungslogik, Organisationsentwicklung. Daraus wur-

den Schlüsselprozesse abgeleitet, an denen sich das gesamte unternehmerische Handeln ausrichtet

und Auswirkungen auf sämtliche Methoden, Instrumente sowie das Handeln der Führungskräfte und

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat.

Frau Liess stellte in ihrem Beitrag den Prozess der Organisationsentwicklung am Beispiel eines Am-

bulantisierungsprojekts im Bereich der Sozialpsychiatrie von fördern und wohnen vor. Die Umsetzung

der Leitgedanken der UN-BRK hinsichtlich Teilhabe und Selbstbestimmung fordert von den Sozialun-

ternehmen, ihre Dienstleistung personenzentriert zu entwickeln. Wesentliche Handlungsfelder sind

neue Formen der individuellen Hilfeplanung, der Team- und Aufgabenorganisation, der Vernetzung

und der Klientenbeteiligung. Frau Liess hob die Bedeutung des Projektmanagements in der Gestal-

tung von Veränderungsprozessen hervor.

Welche Probleme und Lösungsvorschläge wurden angesprochen?

An die Führungskräfte werden hohe Anforderungen in der Gestaltung des Veränderungsprozesses ge-

stellt. Das Management hat bei sich angefangen und nimmt somit auch seine Vorbildfunktion wahr.

• Zentrales Leuchtturmprojekt in der alsterdorf assistenz west war die Einführung und Umsetzung

der ressourcenorientieren Assistenzplanung.

• Das Konzept der Persönlichen Assistenz wurde als neues Berufsbild unternehmensweit

etabliert. Die Einführung von Poolstunden ermöglicht es Assistentinnen und Assistenten,

ihre Einsätze auf der Basis von Vereinbarungen mit Klientinnen und Klienten flexibler

zu durchzuführen.

• Die breite Beteiligung an der Gestaltung der Veränderungsprozesse wurde durch Projektarbeit

gesichert.

Im Prozess der Veränderung nehmen sich Klientinnen und Klienten zunehmend in ihrer Rolle als Auf-

traggeber wahr. Klientinnen und Klienten brauchen Zeit für Veränderung, vor allem diejenigen, die

bereits lange im Hilfesystem sind: Die Akzeptanz von öffentlichem Publikum in den Begegnungsstät-

ten wächst zaghaft.

• Insbesondere die sozialräumliche Angebotsausrichtung erfordert neue Schlüsselqualifikationen

der Mitarbeitenden in Richtung Netzwerkmanagement.

• Das klassische Berufsbild des Bezugsbetreuers wird durch neue Aufgabenorganisation

hinterfragt.

• Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen Gelegenheit, ihre Situation im Veränderungsprozess

zu reflektieren

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FORUM 10: Unsere „Werkstatt“ ist die ganze Stadt – Arbeitsmarkt-fokussierte Angebote

Worum ging es im Forum?

Im Forum 10 wurde anhand von drei Beiträgen Gestaltungschancen im Rahmen des Trägerbudgets

für arbeitsmarktfokussierte Angebote aufgezeigt und anschließend diskutiert.

Darüber hinaus wurden die Auswirkungen und neuen Anforderungen des Trägerbudgets für die

Personal- und Organisationsentwicklung eines sozialwirtschaftlichen Unternehmens skizziert.

Die inhaltlichen Ziele für den 5-Jahres-Zeitraum des Trägerbudget sind:

• Weiterentwicklung der werkstatteigenen betrieblichen Angebote zu inklusionsorientierten

„Best-Practice“ Arbeits- und Qualifizierungsorten und der Aufbau eines entsprechenden

Knowhows

• Ausbau der Arbeitsangebote in regulären, arbeitsweltlichen Kontexten, besonders mit

dem Fokus auf das Budget für Arbeit

• Ausbau von Kooperationen mit verschiedenen Akteuren mit trägerübergreifender

Leistungserbringung

Konkret wurden Beispiele, wie z.B. die Kooperation mit Ikea, das Hamburger Budget für Arbeit, die

Entwicklung eines inklusiven Qualifizierungssytems (iQuaS) und die, auf Veränderungsprozesse ab-

gestimmten, Fortbildungsangebote eines Bildungsträgers (alsterdialog) vorgestellt.

Insbesondere die Bedeutung der Personalentwicklung wurde deutlich. Durch ein Trägerbudget kön-

nen andere Wege ermöglicht und erleichtert werden, wodurch sich neue Anforderungen an die

Organisation und deren Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ergeben. Dabei gibt es nicht nur Men-

schen, die auf die neuen Anforderungen neugierig und motiviert reagieren. Auch die Mitarbeitenden,

die mit Skepsis, Sorge, Ablehnung oder Angst auf ein sich veränderndes Unternehmen antworten,

müssen durch Angebote im Rahmen einer guten Personalentwicklung die Chance zum „mitwachsen“

bekommen.

Kontrovers wurden folgende Punkte diskutiert:a Hat ein Trägerbudget alleine als Finanzierungsinstrument schon einen elementaren Steuerungscharakter?

Dies konnte klar verneint werden. Als Instrument ermöglicht es mehr Freiräume und Gestal-

tungsmöglichkeiten, aber auch ein Trägerbudget muss finanziell auskömmlich ausgestattet sein

und im konstruktiven Trialog zwischen Leistungsberechtigten, Leistungsträger und Leistungser-

bringer reflektiert und evaluiert werden.

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a Wie finden sich Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf in den inhaltlichen

Schwerpunktsetzungen mit dem Fokus auf arbeitsmarktorientierte Angebote

wieder?

Das Trägerbudget kann sich auch nur im Rahmen der sozialrechtlichen Vorgaben wiederfin-

den. Der Rechtsanspruch auf Arbeit für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf ist nicht im

BTHG verankert, durchaus im Widerspruch zu den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonventi-

on. Die bisherigen Gestaltungsspielräume im Trägerbudget konnten maßnahmenübergreifende

Begegnungen in arbeitsweltlichen Kontexten ermöglichen und ausbauen.

a Gibt es einen erhöhten Personalbedarf bei der Begleitung der Beschäftigten auf

ausgelagerten Arbeitsplätzen? Wenn ja: Wie wird der Zusatzbedarf finanziert?

Erhöhten Personalbedarf gibt es nur individuell (z.B. in Krisen) und zeitlich befristet. Zwar kann

grundsätzlich jeder Beschäftigte auf einem ausgelagerten Arbeitsplatz arbeiten, aber oft ist

ein bestimmtes Profil mit bestimmten Kompetenzen erforderlich. Hier ist entscheidend, dass es

vielfältige und nachhaltige Qualifizierungsmöglichkeiten für Beschäftigte gibt und die betriebli-

chen Angebote der Werkstatt bereits arbeitsmarktnah organisiert sind.

Weiter vertieft werden sollte die Frage, wie ein guter und sinnvoller Mix aus niedrigschwelligen

Arbeitsangeboten für Menschen mit höherem Unterstützungsbedarf und Angeboten, die einen Über-

gang in den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern, aussehen sollte.

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AUTONOMIE UND TEILHABE IM SOZIALRAUM – ZUM ZUSAMMENHANG VON FACHLICHKEIT UND FINANZIERUNGSFORM Prof. Dr. i.R. Wolfgang Hinte, Universität Duisburg-Essen

„Fünf fachliche Elemente sind für gute Eingliederungshilfe wichtig.

Erstens: Die Grundlage der Arbeit ist der Wille des Menschen. Die Lebensvorstellungen und -entwür-

fe der Leistungsberechtigten weichen indes oft völlig von den Vorstellungen der Betreuer, Eltern etc.

ab. Häufig sind merkwürdig anmutende Gewohnheiten oder kleine Dinge – mit den Pflanzen reden,

dem Nachbarn zuwinken – für einen gelungenen Alltag entscheidend.

Kern der Arbeit: der Wille des Menschen

Auf dieser Basis wird dann gefragt: ‚Welcher Leistungserbringer kann diesen Menschen passgenau

unterstützen?‘ Das Ziel müssen flexiblere Angebote sein, die dem Willen der Menschen entspre-

chen. Es braucht Einfühlungsvermögen, Zeit, genaue Beobachtungen und (teils unterstützte) Kom-

munikation, um gemeinsam mit dem Menschen seinen Willen herauszufinden. Die Feststellung der

grundsätzlichen Leistungsberechtigung muss entkoppelt werden von der Willenserforschung, aber

auch von der Entwicklung des Leistungsarrangements.

Zweitens: Was ein Mensch selbst tun kann, tut er/sie selbst – denn das macht ihn/sie stolz und gibt

Kraft. auch wenn dabei zuweilen etwas schief gehen kann. Die tägliche Lebenswelt sollte viel näher

am „normalen“ Alltag sein, z. B. eine kaputte Geschirrspülmaschine nicht sofort ersetzt werden. In-

klusion heißt auch, Risiken und gemeinsame Verantwortung auf sich zu nehmen.

Hilfe für Betroffene war bisher fast immer Profi-Hilfe, die Geld kostet. Eine einmal gewährte Hilfe-

bedarfsgruppe wurde lieber erhalten als reduziert. Verselbständigung fachlich zu unterstützen, wird

normalerweise nicht belohnt. Die Ausnahme: Mit einem festen Budget können die Leistungserbrin-

ger den fachlichen Standards besser genügen und zusätzlich sozialräumliche Ressourcen akquirie-

ren, wenn die Leistungsberechtigten ihre eigenen Kräfte gut nutzen.

Drittens: In der Eingliederungshilfe gilt: Je bedürftiger der Mensch erscheint, desto höher ist

der Leistungsanspruch. Dies steht im Widerspruch zu dem Ansatz, auf die Ressourcen zu achten.

Deshalb sollte an die Stelle der üblichen Defizitdiagnose eine konsequente Ressourcendiagnos-

tik rücken. Der Einsatz der eigenen Ressourcen stärkt den Menschen, fördert Autonomie und Teil-

habe – das gilt auch für die Ressourcen des Sozialraums. Zurückhaltung muss die Grundhaltung

des Systems sein. Eine gute Leitung besteht aus einem flexiblen Mix aus Aktivität der betroffenen

Menschen, Unterstützung aus der Lebenswelt, technischen Hilfsmitteln und Profi-Hilfen.

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Den Sozialraum einbeziehen

Viertens: Fallunspezifische Arbeit ist essentiell für fachlich gute Eingliederungshilfe. Gemeint ist

das Sammeln von sozialräumlichen Informationen, von denen noch ungewiss ist, für welchen spezi-

fischen Fall sie gebraucht werden. Sie zielt auf Inklusion und Teilhabe – und braucht Zeit, die nur mit

einem Budget zur Verfügung steht.

Fünftens: Gute Eingliederungshilfe ist immer Zielgruppen-übergreifende Arbeit. Je umfänglicher die

Profis über ihre Zielgruppe hinaus kommunizieren, desto mehr qualifizieren sie ihre Leistungen. Das

gelingt am besten in einer von Kooperation geprägten kommunalen Landschaft. Die Kooperation der

Budgetträger in Hamburg ist hier ein echtes Pfund!

Für die Einführung von Budgets bestehen einige Herausforderungen:

1. Pflichtleistungen greifen in Deutschland erst bei attestiertem Leistungsanspruch. Früheres Han-

deln könnte das Entstehen von Leistungsansprüchen verhindern – aus fachlicher und volkswirt-

schaftlicher Sichtweise ist das zu begrüßen.

2. Die Leistungen nehmen quantitativ zu und werden immer differenzierter. Das kostet mehr und

mehr Geld, während die tatsächliche Verbesserung der Leistungen fraglich ist.

3. Der Leistungskatalog definiert, was als Lösung angeboten wird – die Leistungen sind nicht indivi-

duell passgenau. Das System muss sich stärker flexibel dem Willen des Klienten anpassen.

4. Die Leistungen werden immer spezialisierter und immer mehr von Professionellen erbracht. Hier

wäre ein gesunder Lebenswelt-Profi-Mix sozialstaatlich und fachlich richtig.

5. Leistungserbringer haben derzeit keine – bzw. in Hamburg noch zu wenige – Anreize, Leistungs-

ansprüche präventiv zu verhindern, denn das rechnet sich nicht. Dies ist Ausdruck einer Misstrau-

enskultur zwischen Leistungsträger und -erbringer einerseits und Leistungsträger und -berechtigten

andererseits.

Inklusion und Normalität stärker fördern

Wenn es gelingt, das Geld für Einzelleistungen gebündelt in Budgets zu überführen, hätten Leis-

tungserbringer einen Anreiz, auch vor dem Nachweis eines Leistungsanspruchs tätig zu werden.

Die Versäulung der Leistungen könnte abgebaut, ausufernde Profi-Spezialisierung zugunsten lebens-

weltlicher Ressourcen reduziert werden. Inklusion und Normalität müssen stärker gefördert werden,

ohne lebensweltliche Systeme zu schwächen und ohne die individuellen Lebensentwürfe der leis-

tungsberechtigten Menschen künstlich in Einzelbereiche zu zerteilen.

Für die Schaffung von Budgets sind entscheidend:

1. Nach grundsätzlicher Feststellung der Leistungsberechtigung wird – jenseits von Hilfebedarfs-

gruppen und Tagessätzen – ein Unterstützungsarrangement vereinbart, das den o. g. fachlichen

Standards entspricht.

2. Die Leistungserbringer benötigen eine auskömmliche Finanzierung – unabhängig von tatsächli-

chen Fallmengen – und müssen auf der Grundlage vereinbarter fachlicher Standards arbeiten. Diese

sollten regelmäßig transparent gemacht und öffentlich diskutiert werden. So greift auch ein fachli-

ches Controlling: Die Träger wissen voneinander, ob sie die Standards einhalten.

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Wenn es ein Budget gibt, werden Verlaufs- und Entwicklungsberichte überflüssig. Die einzig maß-

gebliche Frage wäre: Hat der Mensch auf der Grundlage seines Willens das erreicht, was ihm wich-

tig ist?

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass derzeit in der Eingliederungshilfe betriebswirtschaftliche

Standards dominieren: Mit mehr Bedürftigkeit wird mehr Geld verdient. Die Fachlichkeit muss in den

Vordergrund rücken, die Finanzierungsformen müssen die fachlichen Ziele unterstützen.“

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STREITGESPRÄCH: TRÄGERBUDGETS – WAS WIRD AUS DEN LEISTUNGSANSPRÜCHEN DER BERECHTIGTEN? Prof. (emeritus) Dr. jur. Wolfgang Schütte, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, Vorsitzender der Schiedsstelle nach § 80 SGB XII, Dr. Peter Gitschmann, Leiter der Abteilung Rehabilitation und Teilhabe, Behörde für Arbeit, Soziales und Familie Hamburg (BASFI)

Prof. Dr. Schütte bemerkt eingangs, die Wünsche der Leistungsberechtigten als Bedarfe zu objekti-

vieren, verlange von den Leistungsträgern eine hohe Professionalität. In Hamburg habe die BASFI

mit dem Aufbau des Fachamtes wichtige Schritte getan, um die Fachlichkeit bei der Bedarfsermitt-

lung zu sichern und künftig ein hoffentlich flächendeckendes Case Management zu gewährleisten.

Hamburg verfüge mit der engen Kooperation von vier Trägern und der BASFI über ein gutes fachli-

ches Controlling. Das Finanzierungsmodell der Trägerbudgets sei für eine Übergangsphase vielleicht

hilfreich, weil es für die Leistungserbringer Finanzierungssicherheit in Zeiten der Ambulantisierung

und Sozialraumorientierung biete, aber es sei im Grunde mit dem gesetzlichen Modell der Leistungs-

vergütung nicht vereinbar.

Auch Dr. Peter Gitschmann lobt den Hamburger Weg. Gemäß des Anspruchs einer Kommunikati-

on auf Augenhöhe aus dem aktuelle Bundesteilhabegesetz (BTHG) würden in der Teilhabeplanung

Leistungen im gemeinsamen Gespräch ausgehandelt und in Zielvereinbarung festgehalten. Entwick-

lungsberichte, in denen Erreichtes sowie neue Vorhaben für die nächste Periode etc. festgehalten

würden, erachtet Dr. Gitschmann als sinnvoll für wirksame Teilhabe. Zudem schaffe ein Budget sinn-

volle Flexibilität für sozialräumliche und präventive Arbeit.

Wo Willensbekundungen auf fehlende Zuständigkeiten oder rechtliche Vorgaben träfen, biete das

BTHG die Option, andere Reha-Träger einzubinden und so möglicherweise besondere Wünsche zu

realisieren.

In Hamburg sei die Widerspruchsrate gegen Leistungsvereinbarungen sehr gering, berichten beide

Gesprächspartner. Sofern ein Träger berechtigten Wünschen von Klient*innen z. B. aus rechtlichen

oder finanziellen Gründen nicht entsprechen könne, finde man zumeist im Dialog mit der bzw. dem

Betroffenen einen Konsens. Die unabhängige Teilhabeberatung sei dabei sehr hilfreich. Zudem böten

Peer-Organisationen Unterstützung bei diesen Gesprächen an.

Prof. Dr. Schütte ergänzt, allgemein seien Rechtsverfahren in der Eingliederungshilfe in Deutschland

selten, vor allem weil die Betroffenen längere Gerichtsprozesse vermeiden wollten. Er bemängelt,

das deutsche Rechtssystem sei auf sehr dringende Bedarfe der Berechtigten bei komplexen Bedarfs-

ermittlungen nicht gut eingestellt. Im BTHG sei die Vorschrift zum Ermessensspielraum auf Druck der

kommunalen Sozialhilfeträger beibehalten worden. Danach richteten sich Art und Umfang der Leis-

tungserbringung auch künftig nach dem Ermessen der Leistungsträger. Damit werde die rechtliche

Unsicherheit fortgeschrieben, ob die Gerichte eine als dringend einzustufende Unterstützungsleis-

tung wirklich anordnen werden.

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Die Neuauflage des BTHG solle auch helfen, die Kostendynamik in der Eingliederungshilfe zu dämp-

fen, erläutert Dr. Gitschmann. Aus seiner Sicht sei es wichtiger, die Möglichkeiten des BTHG auszu-

schöpfen, als das System von vornherein absolut rechtssicher zu machen. Mit jährlich 17 Milliarden

Euro und den Impulsen des BTHG könne deutlich mehr erreicht werden als bisher.

Prof. Dr. Schütte hält die Entscheidungsfreiheit der Kommunen im Sinne der Kostenbegrenzung für

den falschen Ansatz. Bedauerlicherweise würden auch unter dem neuen BTHG die alten Kostenträ-

ger Verantwortung tragen, eine relevante Bundesbeteiligung sei gescheitert. Es sei durchaus bedeu-

tend für die Einzelnen und für den Sozialstaat, ob Rechtsansprüche der Betroffenen auch durchge-

setzt werden können. Ein Beispiel sei das Wunsch- und Wahlrecht hinsichtlich der Wohnform bei

sehr komplexen Fällen. Entgegen dem Wunsch der Betroffenen werde zuweilen nur die kostengüns-

tigere stationäre Wohnform statt der aufwändigeren ambulanten bewilligt.

Aus sozialpolitischer Perspektive sei der Kontext des Trägerbudgets entscheidend. Für die Konversi-

onsphase bräuchten die Einrichtungen Einnahmesicherheit, um die neuen Strukturen einführen und

ihre tägliche Arbeit leisten zu können. In dieser Phase sei das Trägerbudget möglicherweise sinn-

voll, aber nur unter verstärkter Beteiligung der Betroffenen und ihrer Verbände rechtlich vertretbar.

Aus seiner Sicht sehe auch das BTHG kein Budgetmodell vor, auch wenn es für zeitlich und sachlich

begrenzte besondere Finanzierungsmodelle mehr Spielraum für die Vereinbarungspartner biete.

Dr. Gitschmann hingegen erachtet beide Trägerbudget-Typen – solche, bei denen große Träger ihre

Leistungen hinsichtlich der Abrechnung bündeln, und Budgets nach § 75 SGB XII in der ambulanten

Sozialpsychiatrie – für absolut rechtskonform. Sie regelten lediglich die Abrechnung. Fallmanage-

ment, Bescheide, Controlling usw. erfolgten wie überall sonst in der Eingliederungshilfe. Das BTHG

erlaube zudem ausdrücklich das Ausprobieren neuer Wege für die Leistungs- und Finanzierungs-

strukturen – das könne man nicht präventiv als rechtswidrig einordnen.

Der Vertragstext zum Trägerbudget enthalte zwei bedenkliche Klauseln, entgegnet Prof. Dr. Schütte:

Zum einen decke ein fixes Budget alle Zahlungsansprüche des Leistungserbringers in einer Periode

ab, weshalb sich die kumulierten Ansprüche der betroffenen Leistungsberechtigten über das Budget

definierten. Das könne rechtlich nicht sein. Zum anderen könne im Einzelfall von den Budgetneh-

mern erwogen werden, ob eine Leistung im Budget umsetzbar sei oder nicht. Positiv bewerte er die

Erklärung der Budgetnehmer, man werde bei Menschen mit hohem Hilfebedarf den Assistenzbedarf

besonders eingehend prüfen; der dauernde Austausch zu diesen komplexen Bedarfen und zur Bud-

getkontrolle zwischen den Vertragspartnern des Hamburger Trägerbudgets und der Landesarbeitsge-

meinschaft für behinderte Menschen e.V. (LAG) sei ein Gewinn für alle.

Ob das Modell des Trägerbudgets in Flächenländern funktioniere, sei jedoch unsicher. Die zivilge-

sellschaftliche Aufmerksamkeit, wie sie im Stadtstaat leichter herzustellen sei, sei wichtig. Er sehe

Risiken, wenn Leistungserbringer ohne regelmäßiges fachliches Controlling über ein Budget verfüg-

ten. Diesen alten Paternalismus wolle das Gesetz seit den 1990er Jahren nicht mehr. Eine bedarfs-

deckende Leistung müsse in jedem Fall erbracht werden.

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Ein Tagungsteilnehmer kritisiert, dass die Aushandlung der konkreten Leistungen durch die

Budget-Regelung vom Sozial- ins Privatrecht abgeschoben würde. Seiner Auffassung nach werden nur

Betroffene unterstützt, die viel Kraft und starke Fürsprecher hätten.

Dem widerspricht Dr. Gitschmann: Die BASFI sei in Hamburg nach wie vor die Leistungsträgerin.

Dr. Gitschmann erläutert die Änderungen hinsichtlich der Leistungsbescheide: Bislang hätten sie

entweder eine bestimmte Zahl von Fachleistungsstunden oder die Kostenübernahme für eine stati-

onäre Unterbringung festgehalten. Heute beschreibe ein Bescheid die Ziele, auf die sich Träger und

Leistungsberechtigte*r verständigt hätten, und den Zeitraum, in dem diese Ziele erreicht werden

sollten. Diese neue Bescheid-Qualität schätzt Gitschmann als großen Fortschritt ein und hält die

Kritik daran für unberechtigt.

Prof. Dr. Schütte stimmt dagegen dem Teilnehmer eher zu: Weil der Leistungserbringer mit dem

Budget mehr Spielraum bekomme, bewege sich das Leistungsgeschehen unter Budgetbedingungen

eher im privatrechtlichen Bereich. Pauschale Vergütungsmechanismen wie ein Trägerbudget erfor-

derten eine laufende Wirkungskontrolle. Dies könne als Modellschwäche gewertet werden, auch

wenn die Kontrolle in Hamburg wohl gewährleistet sei.

Die private Schiedsvereinbarung in den Hamburger Budget-Vereinbarungen wertet Prof. Schütte

als unzulässige Flucht aus der öffentlich-rechtlichen Verantwortung. Schiedsverfahren zwischen

Leistungsträgern und Leistungserbringern müssten im öffentlich-rechtlichen Modus erfolgen.

Prof. Dr. Schütte merkt zudem an, dass Trägerbudgets die Wohlfahrtsverbände schwächten, die an

Rahmenverträgen und Schiedsverhandlungen gesetzlich zu beteiligen seien. Diese sicherten vor

allem in Flächenländern die Qualität der Eingliederungshilfe, auch und gerade durch Fortbildungen.

Wenn mit einzelnen großen Anbietern Verträge an den Verbänden vorbei geschlossen würden,

könne das langfristig die Qualität der Leistungen beeinträchtigen.

Abschließend bemerkt Dr. Gitschmann, das Trägerbudget sei auch für Flächenländer eine Chance,

die überall in Deutschland genutzt werden solle. Der Trialog zwischen Trägern, Erbringern und Inter-

essenvertretungen biete dabei eine gute Absicherung.

Prof. Dr. Schütte unterstützt den trialogischen Ansatz des BTHG. Er lobt den Impuls, Leistungsbe-

rechtigte und deren Verbände stärker zu beteiligen. Als positiv empfindet er, dass Abweichungen

vom gesetzlichen Modell der Leistungsvereinbarung an die Mitwirkung der Betroffenenverbände

gebunden seien. Für einen trialogischen Ansatz in der Behindertenpolitik brauche man aber keine

Trägerbudgets.

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IMPRESSUM

Herausgegeben von: BHH Sozialkontor gGmbH Holzdamm 53, 20099 Hamburg

Evangelische Stiftung Alsterdorf Alsterdorfer Markt 4, 22297 Hamburg

f & w fördern und wohnen AöR Geschäftsbereich Eingliederungshilfe Grüner Deich 17, 20097 Hamburg

Leben mit Behinderung Hamburg Sozialeinrichtungen gGmbH Südring 36, 22303 Hamburg

Redaktion: Dr. Anja Weberling, Referentin für Inklusion und Teilhabe, Evangelische Stiftung Alsterdorf SUPERURBAN KOMMUNIKATION

Layout: Büro Lühr

Bildnachweis: Titel: © eyewave/fotolia; Huckfeld; Shutterstock/wavebreakmedia; BHH Sozialkontor; Shutterstock/Denis Kuvaev S. 2,7,13,41,42: © f & w fördern und wohnen/Heike Günther

September 2018

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BHH Sozialkontor gGmbHEvangelische Stiftung Alsterdorff & w fördern und wohnen AöRLeben mit Behinderung Hamburg gGmbH undBehörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration