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Prof. Dr. Ulrich MuellerUniversität MarburgInstitut für Methodenwissenschaftenund Gesundheitsforschung,Fachbereich HumanmedizinBunsenstrasse 2D-35033 Marburg

prof. Dr. Bernhard NauckTechnische Universität ChemnitzInstitut für SoziologieReichenhainerstrasse 7D-09126Chemnitz

Prof. Dr. Andreas DiekmannUniversität BernInstitut für SoziologieUnitoblerLerchenweg 36CH-3000 Bern 9

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaftder VG Wort.

ISBN 3-540-66106-9 Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York

Die Deutsche Bibliothek - CIP-EinheitsaufnahmeHandbuch der Demographie I Hrsg.: U1rich Mueller ... - Berlin; Heidelberg; NewYork; Barcelona; Hongkong; London; Mailand; Paris; Singapur; Tokio: Springer

Bd. 1. - (2000)ISBN 3-540-66106-9

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Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg

SPIN 10732918 42/2202-5 4 3 2 1 0 - Gedruckt auf säurefreiem Papier

Vorwort

Dieses Handbuch gibt, für den deutschen Sprachraum zum ersten Mal wieder seitlanger Zeit, einen breiten Überblick über beschreibende Statistik, formale Modelle,Theorien, Methoden, und Anwendungen moderner demographischer Forschung.

Die Gliederung einer Bevölkerung nach Raum, Geschlecht, Alter, Familienstand,Kinderzahl und Gesundheit ist der Kern aller ihrer Strukturen. Keine verhaltens- undsozialwissenschaftliche Untersuchung menschlicher Bevölkerungen kann von dieserKemstruktur absehen. Alle Untersuchungen der Gliederung einer Bevölkerung nachweiteren Merkmalen wie religiöser und ethnischer Gruppe, Stalltsbürgerschaft, Er­ziehung, Beruf und Erwerbstätigkeit, Einkommen, nach der Zusammensetzung derHaushalte, in denen die Menschen der betrachteten Gesellschaft wohnen, und wassonst immer interessieren mag, sind relevant nur, wenn die Gliederung nach Raum,Geschlecht, Alter, Familienstand, Kinderzahl und Gesundheit mitbedacht wird. Fragtman weiter, wie die betrachtete Gesellschaft in diesen Dimensionen zu der gewordenist, als die sie sich dem Auge darbietet, so fragt man in erster Linie nach der zeitli­chen Verteilung und den Ursachen der Fundamentalprozesse Geburt, Wanderung,Partnerschaft, Fortpflanzung, Krankheit, Tod.

Die Demographie ist folglich ein Grundlagenfach, ihre Methoden, Theorien undwesentlichen Befunde ein unerlässliches Handwerkszeug für alle Wissenschaftenvom Zusammenleben der Menschen - nicht nur der Sozial- und Wirtschaftswissen­schaften, sondern auch der Geschichte, der Sozialmedizin, der Epidemiologie, derHumanbiologie.

Demographie ist aber nicht nur eine unerlässliche Wissensbasis für alle Sozialfor­schung. Beschäftigung mit der Demographie schärft auch den Blick für die stillen,aber nachhaltigen Entwicklungen, die Gesellschaften nicht weniger formen als diedramatischen Ereignisse von politischen Revolutionen, technischen Innovationen,Dynamik von Märkten, oder Kriegen. Kaum kann man sich einen größeren histori­schen Kontrast zwischen der politischen Stabilität etwa Schwedens einerseits, derpolitischen Instabilität und der zweimaligen materiellen Katastrophe Deutschlandsandererseits in diesem Jahrhundert vorstellen. So deutlich man aber die Spuren derunterschiedlichen Geschichte der beiden Länder in ihren Bevölkerungspyramidennachweisen kann, so verschwimmen diese Unterschiede etwa im Vergleich mit denBevölkerungspyramiden afrikanischer, asiatischer, lateinamerikanischer Gesell­schaften; verantwortlich für den Unterschied zu diesen ist die unterschiedliche Ent­wicklung der Lebenserwartung und der Familiengrößen

Demographie lehrt einen nüchternen Blick, was den tatsächlich vorhandenen Ge­staltungsraum zielgerichteter politischer Macht auf soziale Fundamentalprozesse be­trifft. Zu allen Zeiten haben Regierungen versucht~ die Verteilung von Geburten,

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sein. Die Fülle entsprechender Beiträge dokumentiert sich unter anderem in zahlrei­chen Übersichtsarbeiten, die hier nur beispielhaft und sehr selektiv aufgeruhrt wer­den können: Jackson (1969), Greenwood (1975, 1985), Shaw(1975), Speare et al.(1975), Ritchey (1976), De Jong und Fawcett (1981), Clark (1982, 1986), Clark undVan Lierop (1986), Molho (1986), Shields und Shields (1989). Für den deutschspra­chigen Raum sind vor allem die Monographien von Langenheder (1968), Hoffinann­Nowotny (1970) und Albrecht (1972) zu nennen, die ein umfassendes Bild über diefrühen Theorieansätze vermitteln. In ihrer Systematik und ihrem Anspruch, Wande­rungsphänomene mit· einer allgemeinen sozialwissenschaftlichen Theoriebildung inVerbindung zu bringen, sind diese Arbeiten bis heute ohne Nachfolger geblieben.Beiträge zu einer gewissen Aktualisierung finden sich aber beispielsweise inSchweitzer (1978), Franz (1984), Wagner (1989, 1990) und Delbrück und Raffelhü­schen (1993).

In qualitativer Hinsicht ergibt sich jedoch ein weniger optimistisches Bild: Trotzder immer schneller anwachsenden Menge an Beiträgen wird die unbefriedigendetheoretische Güte schon seit den Anfängen der Wanderungsforschung in regelmäßi­gen Abständen bemängelt. So kommt Jansen im Jahre 1969 sehr treffend zu demSchluss: "Perhaps the question most asked and least understood about migration is,Why do people move?'" (Jansen 1969: 65) Mehr als 10 Jahre später fugen De Jongund Fawcett (1981: 43) hinzu: "We would add that this lack ofunderstanding is at­tributable in large measure to a failure to ask the question, ,Why do people not mo­ve?"'. Auch in Veröffentlichungen jüngeren Datums wird der theoretische For­schungsstand als unzulänglich angesehen. Der Hauptgrund fur die Unzufriedenheitmit der Migrationstheorie liegt darin, dass eine notwendige Integration bestehenderAnsätze bisher weitgehend ausgeblieben ist (Wagner 1989: 15, 44 ff.). Die aufge­fuhrten Überblicksarbeiten vermitteln vorwiegend einen additiven Charakter.

Im vorliegenden Beitrag wird deshalb nichtnur versucht, wichtige Ansätze vorzu­stellen und dabei fur eine gewisse Aktualisierung zu sorgen, sondern darüber hinaussoll auch zu einer theoretischen Integration beigetragen werden. Am deutlichstenwurde ein solches Vorgehen bisher von De Jong und Fawcett (1981) vorgenommen,die zeigen, dass sich eine Vielzahl von Erklärungsansätzen im Bereich der Migrationrelativ mühelos in ein Modell des individuellen Entscheidungsverhaltens integrierenlässt. Dieses grundsätzliche Argument wird hier konkretisiert und etwas ausfuhrli­cher entwickelt: Zunächst werden wichtige Makrotheorien (9.1) behandelt. Es wirdsich zeigen, dass makrotheoretische Ansätze im Allgemeinen auf das spezifischeProblem hoher Unvollständigkeit stoßen, das nur durch eine handlungstheoretischeRekonstruktion lösbar erscheint. Demzufolge ist es auch nicht verwunderlich, dasssich im Laufe der theoretischen Entwicklung in der Wanderungsforschung ein deut­licher Trend hin zu einer immer expliziteren Berücksichtigung handlungstheoreti­scher Grundlagen findet. In der Darstellung einiger entscheidender Mikrotheoriender Wanderung (9.2) wird ersichtlich, dass die Werterwartungstheorie dabei wichtigeGrundaspekte verschiedenster Ansätze berücksichtigt und sich somit als "gemeinsa­mer Nenner" vieler bekannter Beiträge eignet. Gleichwohl können damit noch nichtalle Probleme der Wanderungsforschung als gelöst betrachtet werden. Einige empiri­sche Phänomene werfen ernsthafte Zweifel auf, ob mit einem solchen Rational­Choice-Modtm wirklich der Kern gefunden ist, der zu einer Beantwortung aller rele-

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Theorien der Migration

Frank Kalter

Theorien der Migration 439

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440 Frank Kalter Theorien der Migration 441

Dabei sind:

I E = k=-I.!-'-A-.:·P::...-".A--=·I~B~·-=-P.;:B:....·_TL

das erwartete Migrationsvolumen zwischen zwei Regionen A und B,eine Konstante rur den Interaktionstyp "Migration",das Aktivitätsniveau pro Kopfin der Population A bzw. B,das Populationsvolumen A bzw. B,die Länge des betrachteten Zeitintervalls unddie Distanz zwischen Population A und B.

Gravitationsmodelle

Die Formel von Zipf wird also durch die Berücksichtigung unterschiedlicher Aktivi­tätsniveaus von Populationen ergänzt.5 Damit kann den betrachteten Gruppen A undB jeweils eine bestimmte "Grundrnobilität" unterstellt werden. Beispielsweise ist

3 Für die Messung der Distanz werden verschiedene Indikatoren benutzt. Zipf (1946: 680) legt die kürzesteEisenbahnentfernung zwischen zwei Städten, Dodd (1950: 288) die Autobahnentfernung zugrunde.

4 . Beispielsweise kann die Distanz (wie beim physikalischen Gravitationsgesetz) auch quadratisch berück­sichtigt werden. In den gravitationstheoretischen Wanderungsmodellen wird der Exponent der Distanz imNenner oft als Variable dargestellt, die wie die "Migrationskonstante" k empirisch zu bestimmen ist(Speare et al. 1975: 165); ein Vergleich der Exponenten I und 2 ist bei Anderson (1955) zu fmden.

5 Die P1·P2/D-Hypothese ergibt sich im Modell von Dodd als Spezialfall mit: T = IA = IB = I. Die Aktivitäts­niveaus bilden in gewisser Weise die Pendants zu den DichtekoeffIzienten im physikalischen Gravitations­gesetz.

9.1.1

Die bekanntesten Vertreter der so genannten Gravitationstheorie der Wanderung sindAnderson (1955), Dodd (1950), Stewart (1942, 1948) und Zipf (1946). Die Grund­struktur dieser Formalisierungen ergibt sich - wie der Name "Gravitationsmodelle"schon andeutet - aus der Anlehnung an das physikalische Gravitationsgesetz rur dieAnziehungskraft zweier Körper. Die einfachste Form eines solchen Modells findetsich in der so genannten ,,PrP2ID-Hypothese" von Zipf (1946), die folgendermaßenzu interpretieren ist: Ist p] das Bevölkerungsvolumen in Region 1, P2 das Bevölke­rungsvolumen in Region 2 und D die Distanz zwischen beiden Regionen,3 so ver­halten sich Wanderungen zwischen diesen Regionen proportional zu P]·P2ID. Gemäßder These gilt also, dass bei gegebenen Populationsgrößen das Wanderungsvolumenzwischen zwei Gebieten umso kleiner wird, je größer ihre Distanz ist.

Mit dieser Formel lassen sich zum Teil erstaunlich gute Annäherungen an empiri­sche Wanderungsströme erreichen, und es ist das Verdienst der Gravitationstheoreti­ker, die Distanz als einen der wesentlichen Faktoren des Wanderungsverhaltensidentifiziert zu haben. Trotzdem stößt dieser präzise formulierte Zusammenhangschnell an empirische Grenzen. Demzufolge wurde immer wieder versucht, mit Mo­difikationen der Formel zu besseren Ergebnissen zu kommen.4 Eine interessante Va­riante stammt von Dodd, der folgende Beziehung aufstellt (Dodd 1950: 245):

vanten Fragen im Bereich der Migration ruhren kann. Die Rationalität der Akteurescheint im Zusammenhang mit Wanderungsentscheidungen oftmals mit nicht unbe­trächtlichen Einschränkungen verbunden zu sein. In einem letzten Teil (9.3) wirddeshalb gezeigt, wie sich solche Phänomene durch geeignete Anschlusstheorien er­fassen lassen, die dem Tatbestand einer "bounded rationality" gerecht werden. Diessind in der Regel Modellierungen, die in anderen Anwl?ndungsfeldem oder als all­gemeine theoretische Beiträge erarbeitet wurden. Die Ubertragung dieser Ansätzeauf den Gegenstand der Wanderungen ist auch als Vorschlag zu verstehen, woraufsich das Augenmerk zukünftiger theoretischer und empirischer Forschungen richten

sollte}

Der vorliegende Beitrag entstand in Teilen zeitgleich mit der Arbeit "Wohnortwechsel in Deutschland"(Kalter 1997), die eine ausführlichere Darstellung der Grundargumentation und einen empirischen Testvieler Modellierungen am Fall der Binnenwanderungen in der Bundesrepublik bietet.

2 Eine Nachfolgearbeit aus dem Jahr 1889 trägt den gleichen Titel und wird gelegentlich als "The Laws of

Migration 11" zitiert.

9.1 Makrotheorien der Wanderung

Die. AnHinge der theoretischen Bemühungen um eine Erklärung von Wanderungs­bewegungen sind von Versuchen dominiert, allgemeine Regelmäßigkeiten auf derstrukturellen Ebene zu finden, d. h. Makrotheorien der Wanderung zu formulieren.Die Arbeit von Ravenstein (1885, 1972) mit dem Titel "The Laws of Migration'?ein Vortrag vor der Royal Statistical Society, wird dabei in fast allen Überblickenüber die Theorieentwicklung als Startpunkt der Wanderungsforschung angesehen.Mit sieben so genannten "Gesetzen der Wanderung" wendet er sich explizit gegendie Behauptung, ,,(...) dass Wanderung sich ohne bestimmte Gesetze abzuspielenscheine (...)" (Ravenstein 1972: 41). Die Bezeichnung "Gesetze" ist jedoch strenggenommen unangebracht, da es sich lediglich um statistische Beobachtungen von be­schränkter Allgemeinheit handelt. Trotzdem sind die Ausruhrungen Ravensteins vonganz besonderem Wert, da durch sie ein entscheidender Anstoß rur die weitere Theo­riebildung gegeben wurde. Dies gilt insbesondere rur die Gravitationsmodelle derWanderung, die in Kapitel 9.1.1 dargestellt werden. Die entscheidende Einflussva­riable in diesen Ansätzen bildet die Distanz zwischen Regionen, die in einem negati­ven Zusammenhang mit dem Wanderungsvolumen zwischen diesen Regionen steht.Auch die migrationstheoretischen Beiträge von Samuel A. Stouffer (9.1.2) beschäfti­gen sich mit der Wirkung der Distanz und weisen schon sehr früh daraufhin, wie dernegative Zusammenhang mit dem Wanderungsaufkommen handlungstheoretisch in­terpretiert werden kann. Die makroökon9mischen Ansätze (9.1.3) rugen regionaleLohnniveaus und Arbeitslosenquoten als weitere wichtige strukturelle Merkmale an.Neben diesen drei wichtigen theoretischen Ausgangspunkten verdienen noch einigeandere Makrotheorien eine Erwähnung (9.1.4), obgleich sie in Bezug auf die hierverfolgte Linie der theoretischen Entwicklung eher eine Nebenrolle spielen. Am En­de dieses Kapitels werden die Makroansätze zusammenfassend beurteilt (9.1.5).

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6 Versuche, eine theoretische Fundierung für den Zusammenhang zwischen Distanz und Wanderungen zufmden, sind die Arbeiten von Anderson (1979), Choukroun (1975), Niedercom und Bechdolt (1969) und

Sheppard (1978).

Samuel A. Stouffer (1962a, 1962b) versucht den Zusammenhang zwischen demWanderungsvolumen und der Distanz zwischen Regionen aus einem allgemeinerenErklärungsansatz abzuleiten. Sein Vorschlag, die theoretische Verbindung herzu­stellen, baut auf der Hypothese auf, dass die Anzahl der· Personen, die eine be­stimmte Distanz wandern, proportional zur Anzahl so genannter "opportunities" ist,die sie in dieser Entfernung vorfinden, und umgekehrt proportional zur Anzahl so

denkbar, dass sich die Niveaus auf bestimmte Teilpopulationen beziehen. Mit dererweiterten Formel von Dodd besteht somit die Möglichkeit, Unterschiede im Migra­tionsverhalten zwischen verschiedenen Gruppen, d. h. selektives Wanderungsver­halten, zu berücksichtigen. Eine Erklärung dieser Selektivität ist jedoch nicht mög­lich; es wird aber sichtbar, dass bei der Erweiterung implizit handlungstheoretischeAnnahmen über das Verhalten einzelner Subgruppen getroffen werden (Esser 1979:20): Die Berücksichtigung verschiedener Interaktionsniveaus unterstellt im Prinzipunterschiedliche mittlere Handlungstendenzen fur bestimmte Teilgruppen.

Solche Modifikationen des einfachen Grundmodells von Zipf werden dadurchnotwendig, dass empirische "Störungen" der zunächst behaupteten Regelmäßigkeitfeststellbar sind, die Theorie also unvollständig ist (vgl. 9.1.5). Insbesondere zeigtsich, dass das Modell umso unangemessener ist, je feiner die zugrunde liegende Un­tergliederung der Gebiete ist (Wolpert 1965: 159). Durch die Einbeziehung von Ak­tivitätsniveaus, d. h. einer entsprechenden Gewichtung der Populationsgrößen, wirddie Prämisse des unterstellten Gesetzes erweitert. Ein anderer Versuch, die Gültigkeitder Theorie zu sichern, stammt von Rose (1958), der mit dem sozioökonomischenStatus eine intervenierende Drittvariable einfuhrt. Der "Preis" besteht jedoch in einerVerringerung des Informationsgehalts der zugrunde liegenden Gesetzmäßigkeit.

Während mit solchen Erweiterungen noch einTeil der empirischen Schwierigkei­ten behoben werden kann, liegt ein logisches Problem der Gravitationsmodelle darin,dass eine Symmetrie zwischen zwei betrachteten Gebieten unterstellt wird. Die Tat­sache, dass ein Wanderungsstrom (etwa von A nach B) und der entsprechende Ge­genstrom (von B nach A) durchaus unterschiedliche Volumen aufweisen können, istprinzipiell nicht innerhalb des Paradigmas erklärbar. Diese Ungleichheit in denWanderungsströmen ist empirisch aber eher die Regel als die Ausnahme.

Ein weiterer Kritikpunkt liegt darin, dass in den Gravitationsmodellen - wie schonbei Ravenstein -nur ein statistischer Zusammenhang, nicht aber der dem Zusam­menhang zugrunde liegende Mechanismus beschrieben wird. Diesen Mangel habendie gravitationstheoreÜschen Wanderungsmodelle mit ihrem physikalischen Vorbildgemeinsam: "The gravity model is, aptly named. Like the law of gravity it describesan empirical observation involving interaction at a distance but fails to provide anunderstanding ofwhy there should be such interaction" (Speare et al. 1975: 165).6

7 Bezüglich der allgemeineren Formel von Dodd wäre noch hinzuzufügen: bei jeweils gleichen Aktivitäts­niveaus.

8 Unter der Prämisse einer Gleichverteilung der Opportunitäten über das Gesamtgebiet und einer Homogeni­tät der Opportunitäten für alle Personen ist das Modell mit dem Zipfschen Gravitationsmodellidentisch.Das Modell ist jedoch auch in diesem Fall theoretisch überlegen, da es die Andeutung eines echten Erklär­ungskerns enthält (der aber von Stouffer zu wenig explizit gemacht wird): "By casting the problem interms of opportunities he (gemeint ist Stouffer, F.K.) comes closer to a model that explains individual mo­bility behavior - people move because of opportunities" (Speare et al. 1975: 166).

9 Wir legen hier die mathematische Vorstellung und Begrifflichkeit zugrunde, dass ein Strom (Vektor) durchLänge, Richtung und Orientierung eindeutig bestimmt ist.

10 Die hier als "Stouffer (1962a)" bzw. "Stouffer (1962b)" zitierten Arbeiten sind Wiederabdrucke vonAufsätzen aus den Jahren 1940 bzw. 1960.

genannter "intervening opportunities". "Intervening opportunities" sind dabei den"opportunities" entsprechende Möglichkeiten, sie liegen jedoch näher am Herkunfts­ort.

Was ist unter den "opportunities" zu verstehen? Stouffer (1962a: 80) stützt sichdabei auf den Begriff so genannter "vacancies", also unbesetzte Möglichkeiten, zumBeispiel freistehende Wohnungen oder offene Stellen auf dem Arbeitsmarkt. Wichtigist, dass jeweils nur "similar vacancies" (Stouffer 1962a: 80) zueinander in Konkur­renz treten können, womit klar wird, dass selektive Merkmale (Einkommen, Berufs­gruppe) einen intervenierenden Einfluss auf das Wanderungsverhalten ausüben kön­nen. Opportune Wohnungen müssen dem Einkommen, Beschäftigungsstellen der Be­rufsausbildung angemessen sein. Ferner betont Stouffer (1962a: 72), dass nicht tat­sächlich vorhandene (actual), sondern nur durch die jeweiligen Akteure wahrge­nommene (apparent) Opportunitäten relevant sind.

Mit diesem Ansatz können wesentliche Mängel der Gravitationsmodellebehobenwerden. Es kann erklärt werden, warum bei gleichen Distanzen (etwa von A nach Bund C nach D) und jeweils gleichen Bevölkerungsvolumen7 unterschiedliche Wan­derungsvolumen auftreten können - weil sich die Wege über Gebiete unterschiedli­cher "Opportunitätsdichte" erstrecken.8 Weiterhin kann selektives Wanderungsver­halten sehr viel besser als durch eine entsprechende Interpretation der Interaktionsni­veaus bei Dodd erklärt werden: Opportunitäten können fur verschiedene Ak­teurstypen sehr unterschiedlich verteilt sein. Dementsprechend überbrücken einigeGruppen durchschnittlich größere Distanzen als andere. Dennoch bleiben auch indiesem Ansatz Erklärungslücken bestehen. Insbesondere kann keine Differenzierungin der Richtung9 der Emigration vorgenommen werden, d. h., wenn A den gleichenAbstand zu Bund C hat, so sind die vorhergesagten Ströme von A nach B und von Anach C ebenfalls gleich.

Dieser Schwäche versucht Stouffer durch eine Modifikation seines (früheren)IOModells Abhilfe zu schaffen, was zunächst durch eine Redefinition des Begriffes"intervening opportunities" geschieht. Nunmehr sind fur Wanderungen zwischen Aund B solche Opportunitäten als intervenierend zu betrachten, die innerhalb desKreises liegen, der die Strecke von A nach B als Durchmesser und sowohl A als auchB als Randpunkte besitzt (Stouffer 1962b: 93). Anhand eines empirischen Beispielszeigt Stouffer (1962b: 93 ff.), dass dieses Modell dem älteren Konzept der "interve­ning opportunities" und den reinen Distanzmodellen überlegen sein kann. Auch dieRichtung der Emigration lässt sich mit dieser Fassung differenzieren; es entsteht aber"Intervening opportunities" und "competing migrants"9.1.2

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Die weitere Auseinandersetzung mit handlungstheoretischen Annahmen, die Stoufferschon sehr früh vorschlug, war zunächst nicht der Weg, der sich im Zuge der theore­tischen Entwicklung durchsetzte, um die Schwierigkeiten, die mit den Gravitations­modellen verbunden sind, zu beseitigen. Als Ergänzung bzw. Erweiterung der Gra­vitationsmodelle bot sich zunächst ein Ansatzpunkt ganz anderer Art an: die klassi­sche Ökonomie, in der nicht mehr die Distanz zwischen Regionen, sondern die Dif­ferenz in regionalen Lohnniveaus zum entscheidenden Faktor bei der Erklärung vonWanderungsbewegungen wird: ,,(...) differences in net economic advantages, chiefly

ein anderes Problem: In der Orientierung der Wanderungsströme ist keine Differen­zierung möglich. Deshalb führt Stouffer zusätzlich noch das Konzept der "competingmigrants" ein. Diese sind definiert als die Anzahl von Zuwanderern" aus Orten, diemindestens genauso nah am Zielort liegen wie der betrachtete Herkunftsort; "com­peting migrants" konkurrieren also um die Opportunitäten am Zielort.

Wenn also Xn die Zahl der "intervening opportunities" in der neuen Fassung, Xcdie Zahl der "competing migrants", Keine Proportionalitätskonstante und XM dasProdukt aus allen Emigranten des Herkunftsortes und allen Immigranten des Zielor­tes (d. h. den "opportunities") ist, so wird die Zahl Y der vom Herkunftsort zum Zie­lort wandernden Personen in allgemeiner Form beschrieben durch (Stouffer 1962b:103; Langenheder 1968: 60 f.):

wobei A, Bund C empirisch zu bestimmende Exponenten sind.Die Konzepte der "intervening opportunities" bzw. "competing migrants" bietendemnach direkte Ansatzpunkte für eine handlungstheoretische Interpretation vonWanderungen. Personen wandern, um Opportunitäten wahrzunehmen, und konkur­rieren dabei mit anderen Personen. Der Ansatz erlaubt es, andere strukturelle Fakto­ren (etwa ökonomische Bedingungen) - in einem gewissen Sinne "Störfaktoren" ­zu integrieren, indem ihr Einfluss auf die Opportunitätsstruktur analysiert und somitdie Unvollständigkeit der Erklärung vermindert wird. Leider weist das Konzept derOpportunitäten aber Schwächen, wie etwa die zirkuläre Operationalisierung der "va­cancies", auf, was wegen der grundsätzlichen Fruchtbarkeit des Ansatzes eine tieferetheoretische Auseinandersetzung mit den "opportunities" erforderlich gemacht hätte.Die notwendige Weiterentwicklung ist jedoch ausgeblieben: "Stouffer, hirnself, ad­mits that the concepts used are imperfect reflections of some other more effectiveconcepts yet to be discovered. In doing so, he implies the need to relate his formula­tion to a model of behavior of individual migrants. Currently, however, Stouffer'smodel has not been elaborated and developed theoretically" (Shaw 1975: 51).

11 Schon Ravenstein (1972: 52) hat dies im vierten seiner "Gesetze der Wanderung" festgestellt.

differences in wages, are the main causes of migration" (Hicks 1963: 76). Die allge­meine Grundidee kann folgendermaßen skizziert werden: Arbeitskräfteangebot undArbeitskräftenachfrage bestimmen im Gleichgewicht den Preis des Produktionsfak­tors Arbeit, das Lohnniveau. Dieses Gleichgewicht ist aber zunächst nur regionalerArt. Als Reaktion auf unterschiedliche Lohnniveaus in verschiedenen Regionen tre­ten Wanderungen auf. Erwerbstätige migrieren von Gebieten mit niedrigen Lohnni­veaus in Gebiete mit höheren Durchschnittslöhnen und bewirken somit - da Zuwan- .derungen zu einer Senkung des Niveaus und Abwanderungen zu einer Anhebung desNiveaus führen - das Zustandekommen eines globalen Gleichgewichtsprozesses.Dieses idealisierte Grundmodell setzt jedoch einige notwendige Bedingungen wieVollbeschäftigung, fehlende Transportkosten und vollkommene Konkurrenz voraus(Ritchey 1976: 364).

Wie man erkennt, sind in dieser Betrachtungsweise Wanderungen nicht nur alsabhängige Variable, d. h. spezieller als Resultat von Lohnungleichgewichten, son­dern auch und vor allem als unabhängige Variable interessant: Als Folge von Wan­derungen lässt sich die Angleichung der Lohnniveaus zwischen verschiedenen Re­gionen ableiten (Cebula 1979: 6 f.). Gerade diese Folgerung führt zu einer grundle­genden Kritik am klassischen makroökonomischen Modell der Wanderungen, dasich eine Angleichung der Lohnniveaus in der Regel empirisch nicht bestätigen lässt(Clark 1982: 19; Greenwood 1975: 413; Hicks 1963: 76; Shields, Shields 1989: 278;Sjaastad 1962: 80). Hicks (1963: 74) versucht dies zunächst darauf zurückzuführendass zur empirischen Überprüfung nicht das nominale, sondern das reale, d. h. das z~den regional spezifischen Lebenshaltungskosten in Beziehung gesetzte Lohnniveauzu berücksichtigen ist. Aber auch eine Eliminierung realer Differenzen in regionalenLohnniveaus ist empirisch äußerst selten anzutreffen. Erst wenn entscheidende Vor­aussetzungen der klassischen Ökonomie in Frage gestellt werden - wenn etwa dieAnnahmen fehlender sozialer Barrieren, homogener Akteure und fehlender Kostender Mobilität eingeschränkt werden - lässt sich das Weiterbestehen regionaler Lohn­disparitäten erklären (Cebula 1979: 7 ff.).

Neben der fehlenden Angleichung regionaler Lohnniveaus bildet die in der Regelzu beobachtende stark positive Korrelation zwischen regionalen Emigrations- undImmigrationsziffern (Greenwood 1975: 413) ein empirisches Problem für das klassi­sche makroökonomische Modell. 11 Aus der Erklärungsskizze ist eine positive Kor­relation zwischen regionalem Lohnniveau und Zuwanderung, aber eine negativeKorrelation zwischen Lohnniveau und Abwanderung, insgesamt also eine stark posi­tive Korrelation zwischen Lohnniveau und Nettomigrationsrate zu folgern, was sichempirisch keineswegs überzeugend belegen lässt (Ritchey 1976: 365). Dieser offen­sichtliche Widerspruch zur klassischen makroökonomischen Hypothese führte zu ei­ner verstärkten Beschäftigung mit dem positiven Zusammenhang zwischen Immi­gration und Emigration. Lansing und Mueller (1967) sehen darin im Prinzip nur einArtefakt, das auf schnelle Konjunkturschwankungen zurückzuführen ist. Ein Anstiegder Arbeitskräftenachfrage führt zu einem relativ kurzfristigen Immigrationsschub,der durch eine Emigrationswelle abgelöst wird, wenn die Nachfrage wieder sinkt.Demzufolge wäre eine Abschwächung der Verbindung von Ein- lind Auswanderung

Makroökonomische Ansätze9.1.3

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zu folgern, wenn die Abstände zwischen einzelnen Messzeitpunkten kleiner gewähltwerden,12 Miller (1973a, 1973b) sieht einen ganz anderen Mechanismus, wenn auchmethodische Mängel (Ritchey 1976: 371) den Beleg rur seine Argumentation hinfäl­lig machen: Unterteilt man die Population in "movers" und "stayers", so sind natür­lich gerade in Gebieten mit hoher Immigration erhöhte Anteile von "movers" zu fin­den, was wiederum erhöhte Emigrationsziffern zur Folge hat. Diese "mover-stayer"­Dichotomie bedeutet letztlich aber die Aufgabe des ökonomischen Kerns der Erklä­rung, da die Unterscheidung zwischen "movers" und "stayers" nicht notwendig öko­nomischen Ursprungs ist.

Insgesamt wird sehr oft bestätigt, dass zwar ein relativ klarer positiver Zusam­menhang zwischen hohen Lohnniveaus (bzw. allgemein positiven ökonomischenRahmenbedingungen) und hohen Immigrationsraten besteht, dies aber nicht glei­chermaßen rur den negativen Zusammenhang mit den Emigrationsraten gilt (Green­wood 1975: 400; Lansing, Mueller 1967: 337). Während rur die Immigration die tra­ditionelle ökonomische Argumentation oftmals noch haltbar ist, sehen Courchenne(1970) und Vanderkamp (1971) die zu erwartende Emigrationsneigung bei niedrigenLohnniveaus dadurch behindert, dass gerade in ökonomisch schwachen Gebietenpotenzielle Migranten die Kosten einer Migration schlechter tragen können unddemzufolge auf die Wanderup.g verzichten. Dies kommt einer Unterscheidung zwi­schen "stock"- und "flow"-Wirkungen der Lohndifferenzen bei O'Rourke (1972)sehr nahe. Demnach stehen ökonomische Bedingungen im Herkunftsgebiet nur inZusammenhang mit der Entstehung eines Potentials (stock) von Migranten, das abernicht gleich dem tatsächlichen Wanderungsstrom (flow) ist, da Trägheiten, Barrierenoder Informationsdefizite dem individuellen Wanderungsvollzug im Wege stehenkönnen.

Bisher wurde neben dem regionalen Lohnniveau nur sehr allgemein von sonstigenökonomischen Bedingungen im Herkunfts- bzw. Zielgebiet gesprochen. Der wichtig­ste weitere Faktor, der in der keynesianischen Makroökonomie zentrale Bedeutungerlangt, ist die Arbeitslosenquote, womit die im klassischen Modell notwendige An­nahme der Vollbeschäftigung aufgegeben wird. Die theoretische Verbindung kannhergestellt werden, wenn man unterstellt, dass die Akteure nicht das momentan er­reichbare, sondern das zu erwartende Einkommen maximieren, wobei die Arbeitslo­senquote ein zentraler Schätzer rur die Wahrscheinlichkeit der Beschäftigung unddamit der Einkommenserwartungen ist (Todaro 1969: 232; Harris, Todaro 1970:126 f.). Demzufolge sind Wanderungsbewegungen von Regionen mit hoher Ar­beitslosenquote (und daher niedrigen Einkommenserwartungen) und wenigen offe­nen Stellen zu Gebieten mit niedriger Arbeitslosenquote und relativ vielen offenenStellen zu erwarten.

Aber auch dieser Zusammenhang wurde empirisch immer wieder in Frage gestellt(Greenwood 1975: 403). Versuche, nicht die tatsächliche Arbeitslosigkeit (actual un­employment), sondern die zu erwartende (prospective unemployment) zu berück­sichtigen (Blanco 1964; Lowry 1966), können diesen Missstand ebenfalls nichtgrundsätzlich beheben. Es zeigt sich wieder, dass zwar oft eine deutliche positiveKorrelation zwischen der Beschäftigungsquote und der Immigration beobachtet wer-

12 Morgan (1974) kann diese These allerdings nicht bestätigen.

'den kann, dass aber entsprechend signifikante negative Tendenzen bezüglich derEmigration fehlen (Lansing, Mueller 1967: 91 ff., 96 ff.). Viele der Argumentatio­nen, die zur Erklärung des fehlenden Zusammenhangs zwischen Lohnniveau undMigrationsraten herangezogen wurden, können auch auf den Faktor Arbeitslosen­quote übertragen werden. Hinzu kommt, dass eine Reihe von Wanderungen in Zu­sammenhang mit einer Beschäftigung stehen (Gleave, Cordey-Hayes 1977: 18;Bartel 1979), wie etwa die Versetzung innerhalb einer Firma an einen anderen Ort,und demzufolge in Gebieten mit hoher Arbeitslosenquote seltener sind, was dem zu­nächst vermuteten Zusammenhang widerspricht.

Die aus den theoretischen Grundn10dellen abgeleiteten Hypothesen über den Ein­fluss von ökonomischen Faktoren auf das Wanderungsverhalten können mit statisti­schen Regressionsmodellen auf der Aggregatdatenebene überprüft werden. Die be­kannteste Version stammt von Lowry (1966); sie verbindet das gravitationstheoreti­sche Grundmodell mit ökonomischen Faktoren (Lowry 1966: 12):

U' Wj Lj·LjM' >·=k-I·_·--+e ..

1_ } U' W' D.. lJ} 1 lJ

Dabei sind:

Mj-'>j die Anzahl der Migranten von i nachj,k eine Konstante,Uj ,0 die Arbeitslosenquote in i bzw. j,W;,W; das Lohnniveau in i bzw.j,L;,Lj 'die Anzahl von Personen im nichtlandwirtschaftlichen Sektor,Dij die Distanz zwischen i und j undeij ein Fehlerterm.

Die Wirkung der einzelnen Faktoren ist aus der Formel direkt ablesbar: Je höher dieArbeitslosenquote in i, je niedriger die Arbeitslosenquote in j, je höher das Lohnni­veau in j, je niedriger das Lohnniveau in i, je größer die Anzahl der Beschäftigten in iund j, je kleiner die Distanz zwischen i und j, desto größer wird die Anzahl der Mi­granten von i nach j sein. Wegen dieser unterstellten Wirkungsrichtung können dieEinflussgrößen auch als Push- bzw. Pull-Faktoren bezeichnet werden. So stellt einehohe Arbeitslosenquote in i einen Push-Faktor, ein hohes Lohnniveau inj einen Pull­Faktor rur einen potenziellen Wanderer von i nach j dar.

Das so genannte "Push-Pull-Modell" bildet keinen eigenständigen theoretischenAnsatz, sondern ist im Prinzip nur eine suggestive Sprechweise. Mit den Termen"push" und "pull" ist die Vorstellung verbunden, dass Wanderungen zum einendurch "abstoßende" Bedingungen am Herkunftsort (Push-Faktoren), zum anderendurch "anziehende" Bedingungen am potenziellen Zielort (Pull-Faktoren) hervorge­rufen werden. Welche Merkmale dies aber im Einzelnen sind und warum sie eine an­ziehende oder abstoßende Wirkung haben, bleibt offen und muss durch Hpyotheseneines wirklichen Theorieansatzes - zum Beispiel durch das makroökonomische

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13 VgI. dazu auch die ökologische Theorie (s. unten 9.1.4).

Gleichgewichtsmodell - ergänzt werden. Das Push-Pull-Paradigma wird zuweilenmit Lowry (1966) oder Lee (1972) in Verbindung gebracht, was nur insofern ge­rechtfertigt ist, als sich hier die Sprechweise in besonderer Weise anbietet. Die Push­Pull-Idee ist jedoch wesentlich älter: Sie ist beispielsweise schon in den Arbeiten vonFairchild (1925), Meyer (1936) oder Petersen (1958) zu finden (Albrecht 1972:42 f.).

Die Interpretation der Zusammenhänge als "push und pull" hat gegenüber der ma­kroökonomischen Gleichgewichtsidee den Vorteil, dass sich eine Ergänzung um an­dere, nichtökonomische Einflussfaktoren direkt anbietet. So zeigte sich etwa am Bei­spiel der sogenannten "Sun-Belt"-Migration in den Vereinigten Staaten, dass dieausschließliche Betrachtung ökonomischer Faktoren unzureichend war und sich dasKlima als entscheidende erklärende Variable erwies (Clark 1982: 20). Faktoren wiedas Klima können dann auf ähnliche Weise in Regressionsmodelle einfließen. Sofanden u. a. die Bevölkerungsdichte13 (Langenheder 1968: 38), Bildungs- und Aus­bildungschancen (Shaw 1975: 75) und der Urbanisierungsgrad ("bright lights of thecity"; Shaw 1975) Berücksichtigung.

Neben den oben aufgeführten Erklärungsversuchen sind noch weitere Ansätze aufzu­führen, deren Orientierung als grundsätzlich makrotheoretisch einzustufen ist. Siesind zwar als Einzelarbeiten erwähnenswert, haben aber den Verlauf der theoreti­schen Entwicklung nicht so entscheidend beeinflusst, wie die bisher genannten.

Die ökologischen Theorien basieren auf grundlegenden Arbeiten zur "humanecology" (Duncan 1959; Hawley 1968; Schnore 1958). Den so genannten ;,frame ofreference" bilden vier Hauptelemente, die insgesamt auch als "ecological complex"bezeichnet werden: Bevölkerung, Umwelt, Technologie und Organisation. SozialePhänomene können nun zunächst einmal sehr grob im - wie auch immer gearteten ­Zusammenwirken dieser Komponenten analysiert werden. Während bei den meistenökologischen Studien dabei die Organisation als abhängige Variable im Vordergrunddes Interesses steht, nimmt bei Sly (1972) die Bevölkerung bzw. deren Migrations­verhalten diese Position ein. Die Grundidee ist, dass die Migration einen Prozess dar­stellt, durch den ein Gleichgewicht zwischen der Bevölkerung (Größe, Zusammen­setzung) und deren Organisationsstruktur hergestellt wird: "Ecologically, migration

. may be viewed as a component of areal population change (...); it is a responsethrough which a population can maintain an equilibrium between its size and su­stenance organization" (Sly 1972: 616). Die Frage ist nun, wie überhaupt erst Un­gleichgewichte entstehen. Nach Sly (1972: 618) sind sie vor allem auf Veränderun­gen in der Umwelt und der Technologie zurückzuführen, die nicht nur Veränderun­gen in der Organisationsstruktur nach sich ziehen, sondern auch die Balance zwi­schen der Organisationsstruktur und der Bevölkerung zerstören. So kann. ein tech­nologischer Durchbruch, etwa eine Rationalisierung in der Landwirtschaft, zu einerregional verminderten Nachfrage nach Arbeitskräften führen (Organisationsstruktur).

449Theorien der Migration

Die Population kann auf eine solche Störung demographisch reagieren, d. h. mitVeränderungen in der Geburten- und Sterberate. Kurzfristiger und effektiver wirkenjedoch Migrationsprozesse. "Inthe short run, migration appears to be the most effi­cient response. It can increase or decrease population more rapidly than can changingfertility and is more efficient in that it can beselective" (Sly 1972: 618). Das Vorge­hen gleicht dem der ökonomischen Theorien. Aus allgemeinen Gleichgewichtsüber­legungen werden Hypothesen über den Zusammenhang von Migrationsverhalten undanderen Komponenten des "ökologischen Komplexes" abgeleitet und empirischüberprüft (Sly 1972: 621; Frisbie, Poston 1975: 777; Sly, Tayman 1977: 786). Eingrundsätzliches Problem bildet dabei jedoch die Kausalitätsrichtung der Zusammen­hänge (Sly, Tayman 1977: 783; Frisbie und Poston 1975). An der Zuversicht von Slyund Tayman (1977: 793) ,,(...) that the ecological approach is potentially more than asimple heuristic device for ordering and presenting variables (...)" sind somit berech­tigte Zweifel angebracht (Wagner 1989: 29). Die Gleichgewichtsidee wird im ökolo­gischen Kontext eben nur als vages Prinzip, nicht aber auch nur annähernd so präzisegefasst wie in den ökonomischen Modellen, wodurch sie ihren Nutzen als klare Ab­leitungsregel für die Wirkung von Einflussfaktoren weitgehend verliert.

Von Eisenstadt (1954) stammt der Versuch, den funktionalistischen Ansatz vonParsons auf den Bereich der Migration zu übertragen, wobei auch die Determinantender Wanderungen im Vordergrund stehen. Den Ausgangspunkt von Wanderungenbilden danach individuelle Unsicherheiten oder Unzufriedenheiten, die daraus resul­tieren, dass das soziale System seine grundlegenden spezifischen Funktionen nichterfüllt. Die Motive, die Personen zu Migrationen veranlassen, können somit mit demParsonsehen AGIL-Schema interpretiert werden und auf eine mangelnde Anpas­sungs-, Zielerreichungs-, Integrations- oder Latenzfunktion zurückgeführt werden(Albrecht 1972: 144). Mehr als ein solches Interpretationsschema stellt der Ansatzvon Eisenstadt aber kaum dar, insbesondere werden keine konkreten Hypothesenüber den Wanderungsprozess abgeleitet. "Die Vagheit des Eisenstadtsehen Versuchsist einmal die direkte Konsequenz der mangelnden Eindeutigkeit der ParsonsehenBegriffe, zum anderen aber die Folge der Tatsache, dass der funktionalistische An­satz Parsons' zwar eine Interpretation sozialer Sachverhalte zulässt (...), aber keinewissenschaftlich exakte Erklärung oder Prognose" (Hoffinann-Nowotny 1970: 92 f.).

In der Migrationsanalyse von Hoffmann-Nowotny (1970), die hauptsächlich aufdie von Heintz (1968) entwickelte "Theoriestruktureller und anomischer Spannun­gen" zurückgreift, ist die Ableitung konkreter Hypothesen hingegen möglich. Wan­derungen werden als eine Möglichkeit aufgefasst, so genannte anomische Spannun­gen auszugleichen. Als anomische Spannung wird ein internes Ungleichgewicht ei­nes Akteurs zwischen Anspruch und tatsächlichem Zugang zu bestimmten sozialenWerten, das sind materielle oder immaterielle erstrebenswerte Güter, definiert. Ano­mische Spannungen resultieren aus so genannten strukturellen Spannungen, das sindUngleichverteilungen von Macht, als Grad der Durchsetzbarkeit eines Anspruchs,und Prestige, als Grad der Legitimität des Anspruchs. Eine Möglichkeit, den Span­nungsabbau vorzunehmen, ist die,,(...) Veränderung der Position auf den gegebenenMacht- und/oder Prestigelinien (...)" (Hoffmann-Nowotny 1970: 37). Eine spezielleForm einer solchen Veränderung ist die Migration. Dementsprechend werden Hy-

Frank Kalter

Weitere makrotheoretische Ansätze9.1.4

448

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450 Frank Kalter Theorien der Migration 451

In einer Einschätzung· der makroperspektivischen Wanderungsmodelle muss zu­nächst das Verdienst festgehalten werden, dass es vor allem der Gravitationstheorieund der Makroökonomie gelungen ist, mit der Distanz und den durch Lohnniveauund Arbeitslosenquote beschriebenen ökonomischen Faktoren wesentliche Determi­nanten der Wanderungsprozesse in ihrer grundsätzlichen Wirkung ausfindig gemachtzu haben. In der Regel lässt sich mit diesen einfachen, aber auch sehr exakten

pothesen über den Zusammenhang von Migrationsbewegungen und dem Gradestruktureller Spannungen eines sozietalen Systems abgeleitet.

Einen vollkommen anderen Ausgangspunkt bietet die "These des Mobilitätsüber­gangs" von Zelinsky (1971), der in gewisser Weise versucht, ein Pendant zur be­kannten These vom demographischen Übergang zu schaffen, indem er diese mit denWanderungsgesetzen von Ravenstein (1972) und Lee (1972) verbindet. Die zunächstnoch relativ unspezifische These lautet: "There are definite, patterned regularities inthe growth of personal mobility through space-time during recent history, and theseregularities comprise an essential component of the modernization process" (Zelins­ky 1971: 221 f.). Die Veränderung der Mobilitätsmusterwird im Wesentlichen alsparalleler Prozess zum demographischen Übergang aufgefasst, der sich in fünfidealtypischen Phasen abspielt. Dabei ist vor allem interessant, dass verschiedeneArten der Mobilität gleichsam als konkurrierende Alternativen aufgefasst werden,deren spezifische Konstellationen das veränderliche Mobilitätsmuster ausmachen. Inder ersten Phase, der vormodernen traditionalen Gesellschaft, gibt es kaum wirklicheWanderungen (höchstens infolge von Heiraten o. Ä..) und eine nur auf einige Be­rufsgruppen (z. B. Kaufleute) beschränkte "Zirkulation", d. h. Ortsveränderungenohne langfristigen bzw. permanenten Charakter. In der frühen Übergangsgesellschaft(Phase 2) treten hingegen starke Land-Stadt-Wanderungen, starke Wanderungen hinzu den Kolonisationsgrenzen, starke Emigrationen und erste Anzeichen von Immi­grationen sowie neuen Zirkulationsformen auf. In Phase 3, der späten Übergangsge­sellschaft, nehmen Landflucht und Grenzwanderungen ab, während internationaleWanderungen und Zirkulationen weiter zunehmen. In der fortgeschrittenen moder­nen Gesellschaft (Phase 4) spielen Land-Stadt-Wanderungen und Grenzwanderungenkaum mehr eine Rolle und werden durch zunehmende Wanderungen zwischen bzw.innerhalb von Städten abgelöst. In internationaler Hinsicht dominieren vor allemImmigrationen aus weniger entwickelten Ländern. Die Zirkulationsmöglichkeitensteigen weiter an und können Migrationen zunehmend ersetzen. In Phase 5, der hochentwickelten postmodernen Gesellschaft, verstärken sich die Tendenzen der Phase 4,wobei eine entscheidende Änderung neuartige Kommunikationsformen sind, die so­wohl Migrationen als auch Zirkulationen in immer größerem Maße überflüssig ma­chen können. Obwohl mit solchen Phasenmodellen erhebliche Bedenken verbundenwerden müssen, steckt in der These von Zelinsky sicherlich brauchbares heuristi­sches Material, das aber sorgfaltig durch eine Angabe der Mechanismen, die die Mo­bilitätsmuster verändern, rekonstruiert werden müsste. Solche Mechanismen sind beiZelinsky bestenfalls in Form von Orientierungshypothesen angedeutet.

9.1.5 Zusammenfassende Beurteilung der Makrotheorien

Grundmodellen eine relativ gute Anpassung an das empirische Wanderungsverhaltenauf Aggregatdatenebene erreichen. 14 Dabei ist jedoch zu beachten, dass die starkenZusammenhänge zwischen wirklichen und durch die Modelle vorhergesagten Wan­derungsziffern im Wesentlichen ein Ergebnis der aggregierten Analyse sind.

Ferner ist als äußerst positiv zu erachten, dass vielfach explizit der Versuch unter­nommen wird, potenzielle Gesetze zu formulieren und diese zur Grundlage einer Er­klärung des Wanderungsverhaltens zu machen. Wie sich im Einzelnen aber zeigt,stoßen diese Regelmäßigkeiten sehr schnell an empirische Grenzen. Außerdem kannselektives Wanderungsverhalten zwar zuweilen berücksichtigt, nicht aber auf Grunddes unterstellten Mechanismus erklärt werden. Das Problem der makrosoziologi­schen "Gesetze" und der damit verbundenen makrosoziologischen Erklärungen kanngenerell mit dem Problem der "Unvollständigkeit" (Gadenne 1979; Lindenberg1983: 25; Esser 1991: 40) umschrieben werden. Wegen der hohen Komplexität, In­stabilität und Variabilität sozialer Phänomene bleiben Zusammenhänge zwischen ag­gregierten Wanderungsziffern und anderen Makrofaktoren, was ihre Allgemeinheitbetrifft, unzureichend. Sie werden durch so genannte Störfaktoren beeinträchtigt. Ei­ne allgemeine Strategie besteht nun darin, solche Störfaktoren in die Prämisse desunterstellten Gesetzes aufzunehmen, also eine Exhaustion der Theorie vorzunehmen.

Versuche dieser Art konnten in der Darstellung der Makrotheorien häufig beob­achtet werden. Insbesondere bei den Gravitationsmodellen und den makroökonomi­schen Wanderungstheorien wird dabei deutlich, in welcher Weise Modifikationenvorgenommen werden, wenn empirische Widersprüche auftauchen. Obwohl es sichum Makroansätze handelt, werden implizit Verhaltensannahmen über die involvier­ten Individuen vorausgesetzt, beispielsweise deren Homogenität oder deren nutzen­maximierendes Verhalten unter vollständiger Information. Eine Änderung der Mo­delle erfolgt dann dadurch, dass diese Verhaltensannahmen korrigiert werden (Esser1979: 20).

Nicht nur in der Wanderungsforschung leiden Makroansätze unter diesem Pro­blem unvollständiger Erklärungen. Dem Befund, dass es der Soziologie generell bisheute nicht gelungen ist, auch nur ein einziges allgemeines Makrogesetz aufzufindenund damit dem Programm von Durkheim (1976) erfolgreich nachzukommen, kannwohl kaum widersprochen werden (Esser 1989: 59; Lindenberg 1981: 20). Deshalbwurde in den letzten Jahrzehnten vermehrt eine alternative Strategie aufgegriffen,nämlich den gesetzesmäßigen Kern der Erklärung nicht mehr auf der kollektiven,sondern auf der individuellen Ebene, d. h. im Handeln der Akteure, zu suchen. DieAnnahmen über die Regeln, nach denen Akteure ihre Probleme lösen bzw. ihreHandlungen wählen, Annahmen also, die in Makrotheorien zwar implizit getroffen,aber nicht sichtbar gemacht werden, sollten demnach offen gelegt und zum Kern ei­ner soziologischen Erklärung gemacht werden (Esser 1991: 41). Die nachfolgendeDarstellung wichtiger Mikrotheorien geht auf solche Versuche in der Migrationsfor­schung ein.

14 Für die Binnenwanderungen in der Bundesrepublik überprüfen dies beispielsweise Birg et al. (1993:85-103).

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452 Frank Kalter Theorien der Migration 453

9.2 Mikrotheorien der Wanderung

Auf Grund der beschriebenen Schwierigkeiten einer makroperspektivischen Orien­tierung verwundert es nicht, dass sich in der Wanderungsforschung mehr und mehreine grundsätzliche Wendung zur individualistischen Theoriebildung vollzog. Vorallem fünf Arbeiten, die nicht zuletzt deshalb zu "Klassikern" der Wanderungs­theorie geworden sind, kennzeichnen diesen Übergang: die Arbeit von Lee (1966,1972), in der eine individualistische Interpretation des Push-Pull-Paradigmas ausge­führt wird (9.2.1), die von Sjastaad (1962) und Speare (1971), die eine mikroökono­mische Rekonstruktion der grundsätzlichen ökonomischen Mechanismen vornehmen(9.2.2), und die sozialpsychologischen Beiträge von Wolpert (1965; 1966), der mitdem Begriff der "place utility" einen entscheidenden Anstoß für die weitere theoreti­sche Entwicklung liefert und das Wanderungsverhalten sehr ausdrücklich auf allge­meine Theorien des sozialen Handeins bezieht (9.2.3). In Kapitel 9.2.4 wird mit demSEU-Modell der Wanderung der theoretische Ansatz dargestellt, der gewissermaßenden Endpunkt des skizzierten Trends in der theoretischen Entwicklung bildet. DasSEU-Modell ergibt sich aus einer Konvergenz der dargestellten Mikrotheorien und­da diese Mikrotheorien immer auch als Rekonstruktionsversuche verschiedensterMakrotheorien anzusehen sind - damit aus einer Konvergenz vielfältiger Ansätzeinsgesamt. Im letzten Kapitel (9.2.5) werden die mikrotheoretischen Erklärungs­versuche noch einmal zusammenfassend beurteilt. '

Die "Theorie der Wanderung" von Lee (1966, 1972) kann als Versuch angesehenwerden, eine explizit individualistische Interpretation des Push-Pull-Paradigmas zuliefern und somit zu einer Behebung von empirischen Schwierigkeiten zu gelangen.Beispielsweise ist die Tatsache, dass eine Person von einem Gebiet A in das GebietB wandert, eine andere hingegen in umgekehrter Richtung, grundsätzlich nicht zuerklären, wenn man als Push- und Pullfaktoren wie beiLowry (1966) nur strukturelleMerkmale in Betracht zieht. Diese Schwierigkeit überwindet Lee, indem er. alsGrundlage seiner "Theorie der Wanderung" vier Kategorien von Wirkungsfaktorenunterscheidet (Lee 1972: 118): 1. Faktoren in Verbindung mit dem Herkunftsgebiet,2. Faktoren in Verbindung mit dem Zielgebiet, 3. intervenierende Hindernisse und 4.persönliche Faktoren.

Die ersten beiden Gruppen spiegeln dabei den Gedanken von "push" und "pull"wider: "In jedem Gebiet gibt es unzählige Faktoren, die dazu di~nen, Menschen indiesem Gebiet zu halten oder Menschen anzuziehen, und es gibt andere, die sie ab­stoßen. (...) Es gibt andere (...), denen gegenüber Menschen sich im Grunde indiffe­rent verhalten" (Lee 1972: 118). Die Formulierung "unzählige" macht dabei die All­gemeinheit des Ansatzes deutlich: Als Push- und Pullfaktoren sind nicht nur, wie et­wa bei Lowry (1966), die bekannten makroökonomischen Variablen Lohnniveau undArbeitslosenquote vorstellbar, sondern auch eine Vielzahl anderer strukturellerMerkmale, beispielsweise das Klima oder das Schulsystem. Auch in der dritten an­gesprochenen Kategorie, den intervenierenden Hindernissen, geht Lee über die bis

Wie in nahezu allen Anwendungsgebieten der Ökonomie, so hat auch im Bereich derWanderungsforschung eine "mikrotheoretische Revolution" stattgefunden. DerGrund dafür ist nicht zuletzt in den Schwierigkeiten oben (9.1.3) beschriebener ma­kroökonomischer Wanderungstheorien zu finden. Vor allem zwei Arbeiten kenn­zeichnen diesen Übergang: die von Sjaastad (1962) und die von Speare (1971).

Der neue Ansatzpunkt in der Pionierarbeit von Sjastaad (1962) liegt in der Inter­pretation von Wanderungen als individuelle Investitionen in Humankapital: ,,(...) wetreat migration as an investment increasing the productivity of human resources, aninvestment which has costs and which also renders returns" (Sjastaad 1962: 83). So­wohl Kosten als auch Erträge der Wanderung werden in monetäre und nichtmonetäre

Das mikroökonomische Humankapitalmodell9.2.2

dahin fast ausschließlich betrachtete Distanz der Wanderung hinaus und denkt etwaan Faktoren wie die Berliner Mauer oder Einwanderungsgesetze (Lee 1972: 120).

Am wichtigsten ist aber, dass nicht nur die Bandbreite bisher berücksichtigter Va­riablen vergrößert wird, sondern dass mit der vierten Kategorie auch individuelleMerkmale angesprochen werden. Solche Faktoren können, wie das Geschlecht oderdie nationale Herkunft, intraindividuell konstant sein, aber auch wichtige Phasen imLebensverlauf beschreiben. Je nach individueller Konstellation haben die "objekti­ven" Faktoren der ersten drei Kategorien eine unterschiedliche Wirkung. "Einige vondiesen Faktoren beeinflussen die meisten Menschen in nahezu gleicher Weise, wäh­rend andere verschiedene Menschen in unterschiedlicher Weise beeinflussen" (Lee1972: 118). Als Beispiel führt Lee etwa das "gute Schulsystem" auf, das auf Elternmit kleinen Kindern anziehend wirken wird, für potenzielle Hausbesitzer wegen derdamit verbundenen hohen Grundsteuern dagegen abstoßend. Individuelle Merkmalebestimmen aber nicht nur die situationale Wirkungslogik von Faktoren, sondern auchderen Wahmehmung. "In diesem Zusammenhang müssen wir beachten, dass es nichtso sehr die tatsächlichen Faktoren am Herkunftsort und am Bestimmungsort sind,sondern die Perzeption dieser Faktoren, die Wanderung hervorruft" (Lee 1972: 120).Auch hier mag das Schulsystem wieder als Beispiel dienen, da die Beurteilung seinerGüte von politischen Überzeugungen und Informationsquellen abhängig ist. Die Er­fassung der Selektivität von Wanderungen stellt also insgesamt kein grundsätzlichesProblem mehr dar.

Die Entscheidung über Wanderung oder Nichtwanderung wird von Lee grund­sätzlich auf einen Vergleich von Faktoren am Herkunftsort und am Zielort zurückge­führt (1972: 119), was leider nicht in einen präzisen Mechanismus übersetzt wird.Trotzdem gelingt es Lee, aus diesem Grundmodell einige konkrete Hypothesen überden Umfang der Wanderung, das Verhältnis von Strom und Gegenstrom sowie be­stimmte Merkmale von Wanderern abzuleiten; der Arbeit von Lee wird deshalb nichtselten eine ähnliche Bedeutung zugeschrieben wie den Ravensteinschen Gesetzen(Zelinsky 1971: 220).

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Die Theorie der Wanderung von Lee9.2.1

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454 Frank Kalter Theorien der Migration 455

15 Für eine Zusammenstellung der wichtigsten Kosten- und Nutzenterme im mikroökonomischen Modell s.auch Rothenberg (1977).

Im Gegensatz zum Faktor Lohnniveau im makroökonomischen Modell handelt essich hier in Ydj und YOj um individuelle Einkünfte. Ebenso variieren die anderenTherme der Gleichung, also die Kosten der Wanderung, die Anzahl der verbleiben­den Jahre im Erwerbsleben und die Diskontierung, von Person zu Person. Allgemeingilt: Je höher die Einkünfte an einem' anderen Ort über den derzeitigen liegen, jemehr Jahre noch im Erwerbsleben verbracht werden und je kleiner die Kosten derWanderung sind, desto eher wird eine Person wandern. Selektives Wanderungsver­halten ist also erfassbar, da die individuellen Einkünfte am Ziel- und Herkunftsortmit sozialen Merkmalen (etwa: Geschlecht, Berufsgruppe) zusammenhängen kön­nen. Es ergibt sich unter anderem eine' elegante Ableitung für altersspezifischesWanderungsverhalten: Je älter eine Person ist, desto geringer ist N (die Jahre,cin de­nen noch Einkünfte bezogen werden). Mit kleinerem Wert für Nwird aber auch die

Das Konzept der "place utility" von Wolpert9.2.3

gesamte Summe kleiner und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Gewinne dieKosten T übersteigen.

Auf Grund des präzise spezifizierten Entscheidungsmechanismus in Form einerGleichung hat das Modell einen sehr viel höheren Informationsgehalt als etwa derrelativ vage "Vergleichsmechanismus" bei Lee. Obwohl sowohl Sjastaad (1962) alsauch Speare (1971: 119) die Relevanz nichtmonetärer Faktoren betonen, liegt derNachteil darin, dass - was die Erträge der Wanderung angeht - in der Grundformeleine Beschränkung auf das Einkommen erfolgt.

In zwei ebenfalls als "klassisch" zu bezeichnenden Aufsätzen hat Wolpert (1965,1966) versucht, die Schwierigkeiten der makrotheoretischen Erklärungsansätze durcheine sozialpsychologische Perspektive zu beheben. Die grundlegende Idee bildet da­bei die Annahme, dass Wanderungen als Anpassungen von Individuen an veränderteRahmenbedingungen in der unmittelbaren Umwelt zu verstehen sind: ,,(...) migrationis viewed as a form of individual or group adaptation to perceived changes in envi­ronment (...)" (Wolpert 1965: 161). Dadurch ergibt sich zunächst ein Anknüpfungs­punkt an das Push-Pull-Paradigma, jedoch betont Wolpert genau wie Lee (1972),dass es nicht die objektiven Faktoren selbst sind, die zu einem solchen Anpassungs­akt führen, sondern die subjektive Wahrnehmung solcher Faktoren 'durch den indivi­duellen Akteur: "The origin and destination points take on significance only in theframework in which they are perceived by the active agents" (Wolpert 1965: 161).

Wie lässt sich der Anpassungsmechanismus näher beschreiben? Die Notwendig­keit, überhaupt eine Anpassung vorzunehmen, wird durch zwei zentrale Konstruktegesteuert: Jeder Akteur misst seinem derzeitigen Wohnort eine so genannte "placeutility" bei. Dieser Wert ist ein gewichtetes Gemisch der Nettonutzen, die hinsicht­lich verschiedener Aspekte mit dem momentanen Ort verbunden werden. Diese"place utility" wird mit einem Schwellenwert, dem sogenannten Anspruchsniveau(aspira-tion level) verglichen, das - in Bezug auf die gleichen Aspekte - wiederum ein Ge­misch von bestimmten (Nutzen-)Ansprüchen darstellt. Sinkt die "place utility" unterdiesen Wert, dann ergibt sich Unzufriedenheit bzw. die Notwendigkeit einer Anpas­sung. Veränderte Rahmenbedingungen können also auf zweierlei Weise zu einemadaptiven Verhalten führen: entweder durch eine Senkung der momentanen "placeutility", wie dies etwa bei Pushfaktoren der Fall ist, oder durch eine Erhöhung desAspirationslevels, was durch Pullfaktoren bewirkt werden kann.

Auch wenn ein Anpassungsdruck gegeben ist, die momentane "place utility" alsoden Schwellenwert unterschreitet, bedeutet dies noch nicht automatisch, dass eineWanderung erfolgt. "Other forms of adaptation are perhaps more common thanchange ofresidence andjob" (Wolpert 1965: 161). Brown und Moore (1970: 3), dieden Ansatz von Wolpert aufgreifen und weiterentwickeln, unterscheiden drei allge­meine Reaktionsweisen (Gardner 1981: 64): 1. "adjusting its needs", 2. "restructu­ring the environment", 3. "relocating the household". Neben der dritten Möglichkeit,der Wanderung, kann es also auch zu einer Senkung des Anspruchsniveaus oder zu

die Einkünfte am Ziel (destination) bzw. Herkunftsort (origin),die Kosten der Wanderung,die Anzahl der Jahre, in denen noch Auszahlungen zu erwarten sind, undeine Rate zur Diskontierung des zukünftigen Einkommens.

Ydj, Yoj :

T:N:r:

Dabei sind:

unterteilt. 15 Monetäre Kosten sind zum Beispiel die Ausgaben für den Umzug, diedementsprechend stark mit der, Wanderungsdistanz zusammenhängen. Unter dienichtmonetären Kosten fallen vor allem die Opportunitätskosten entgangener Ein­nahmen durch den Umzug selbst, durch die Suche nach einer neuen Arbeit und durcheine etwaige Einarbeitungszeit. Aber auch "psychische Kosten", die durch das Ver­lassen der vertrauten Umgebung, von Bekannten, Freunden und Familienmitgliedernentstehen, sind theoretisch zu berücksichtigen. Nichtmonetäre Erträge der Wande­rung werden in der Realisierung ,bestimmter "geschmacklicher" Ortspräferenzen ge­sehen. Am wichtigsten sind aber die monetären Gewinne der Wanderung, die vorallem aus einer Steigerung des Realeinkommens bestehen. Dabei liegt ein besondererReiz des mikroökonomischen Humankapitalmodells in der Berücksichtigung derTatsache, dass sich solche Erträge gegebenenfalls erst nach einer gewissen Zeit ein­stellen können. Somit wird erklärbar, warum Personen auch dann einen Wohnort­wechsel vornehmen, wenn sie nicht einen sofortigen (Einkommens-)Gewinn erzie­len; solche Wechsel können etwa auf Grund besserer Aufstiegschancen, also höherenEinkommenserwartungen in der Zukunft, erfolgen.

Besonders anschaulich kann die Grundidee durch folgende Formel beschriebenwerden, derzufolge eine Wanderung stattfindet, wenn (Speare 1971: 118):

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456 Frank Kalter Theorien der Migration 457

16 Interessanterweise ist die Arbeit von Lewin auch ein wesentlicher Ansatzpunkt bei Langenheder (1968),der die handlungstheoretische Umorientierung in der deutschsprachigen Migrationssoziologie markiert,ohne aber aufWolpert Bezug zu nehmen.

Eine Möglichkeit, die Vorteile der Wanderungstheorie von Lee (Allgemeinheit derEinflussfaktoren) und der Humankapitaltheorie (Präzisierung des Entscheidungsme­chanismus) zu verbinden und gleichzeitig auch noch relevante (sozial-)psychologische Aspekte zu berücksichtigen, ist durch eine elaborierte Form der Nut­zentheorie, die Werterwartungstheorie, gegeben. Die Grundidee der Modellierung(Esser 1991: 54 f.) besteht darin, dass Personen aus einer gegebenen Menge von

einer aktiven Umgestaltung der - Anpassungsdruck bzw. Unzufriedenheit erzeugen­den - Umwelt kommen. Damit ergibt sich der wertvolle Hinweis, dass bei einer Er­klärung von Wanderungsentscheidungen auch berücksichtigt werden muss, ob ande­re Alternativen, die nicht zu einer Veränderung des Wohnsitzes führen, lukrativereProblemlösungen sind (vgl. 9.3.3.2). Wolperts expliziter Bezug auf allgemeine Ver­haltenstheorien führt also zu wichtigen theoretischen Erweiterungen.

Die Verhaltenstheorie, die Wolpert unterstellt, entspricht dem Konzept der "boun­ded rationality" von Simon (1957). Akteure verfahren demnach nicht nach dem Prin­zip des "maximizing", sondern nach dem Prinzip des "siltisficing", d. h. sie wählennicht unbedingt die Beste aller verfügbaren (Orts-)Alternativen, sondern begnügensich unter Umständen auch mit einer weniger guten, solange diese die Bedürfnissebefriedigt, d. h. solange die "place utility" den "aspiration level" übersteigt. Erstwenn diese Bedingung nicht mehr erfüllt ist, wird die "place utility" der zur Verfü­gung stehenden Alternativen maximiert. "The individual will tend to locate hirnselfat a place whose characteristics possess or promise a relatively higher level of utilitythan in other places which are conspicuous to hirn. Thus, the flow of population re­flects a subjective place-utility evaluation by individuals" (Wolpert 1965: 162)~ Aberauch diese Entscheidung ist nicht immer völlig optimal. Die Evaluation möglicherZielorte unterliegt Ungenauigkeiten in der Perzeption und Beschränkungen in der In­formation. Außerdem ist die Menge solcher Zielorte sehr begrenzt. Zur Erklärung,welche alternativen Orte überhaupt in den Handlungsset eines Akteurs gelangen,stützt sich Wolpert auf die Modellierung des Suchverhaltens von Simon (1956) unddie Feldtheorie von Lewin (1951).16

Die Arbeiten von Wolpert sind in vielerlei Hinsicht von besonderer Bedeutung:Zum einen zeigen sie, welche (sozial-)psychologischen Korrekturen am Verhaltens­modell der Mikroökonomie vorzunehmen sind, um zu einem realistischeren Bild desAkteurs zu gelangen. Zum anderen haben sie den Anstoß zu einer ganzen For­schungstradition, dem so genannten (Un-)Zufriedenheitsansatz in der Wanderungs­forschung gegeben, deren bekannteste Nachfolgearbeiten in Brown und Moore(1970) sowie Speare (1974) zu sehen sind. Erwähnenswert ist ferner, dass Wolpertim Prinzip einen mehrstufigen Entscheidungsprozess unterstellt, worauf noch genau­er eingegangen werden wird (s. u. 9.3.2.2).

9.2.4 Das SEU-Modell der WanderungII,I

-I

IrII

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I;I'

Handlungsalternativen diejenige wählen (Selektion), die für sie mit dem größtenNutzen verbunden ist; sie maximieren also den durch die Wahl einer Handlung er­reichbaren Wert. Als Handlungsmöglichkeiten einer Person bieten sich bei der Mo­dellierung des Migrationsverhaltens natürlich verschiedene Ortsalternativen an. Jenach Erklärungsziel und Modellierung können aber auch nur die beiden grundlegen­den Alternativen "move" und "stay" betrachtet werden.

Wie bestimmt sich nun der Wert einer solchen Orts- bzw. Handlungsalternative?Mit Handlungen verfolgen Personen Ziele. Potenzielle Ziele j (z. B.: "gesichertes

1 Einkommen") werden einer subjektiven Bewertung unterzogen (Evaluation), wo­durch sich bestimmte subjektive Nutzeneinschätzungen ~ ergeben. Kostentermekönnen dabei als negative ~ - Terme integriert werden. Diese Bewertung wird nochverbunden mit einer - ebenfalls individuellen - Einschätzung darüber (Kognition),mit welcher Wahrscheinlichkeit Pij durch eine Handlung i die Zielsituation j erreichtwird. Insgesamt wird die für einen Ort bzw. eine Handlung i resultierende "Subjecti­ve Expected Utility" (SEU) angenommen als: 17

SEU(i) = LPij . ~

Die Selektionsregel lautet, dass diejenige Alternative i gewählt wird, für die derSEU(i)-Wert maximal ist.

Gerade im Bereich der räumlichen Mobilität ist die Grundbedingung der Anwen­dung der SEU-Theorie in besonderer Weise gegeben: es stehen mehrere offensichtli­che Alternativen (hier: Wohnorte, damit sind - je nach Wanderungstyp, der unter­sucht wird - auch innerstädtische "Orte" gemeint) zur Verfügung, von denen genaueine zu einem gegebenen Zeitpunkt realisiert werden kann (Fawcett 1986: 9 f.). Einesorgfältige Integration von Beiträgen der Wanderungsforschung durch ein SEU­Modell.ist bei De Jong und Fawcett (1981) zu finden. In einer breiten Durchsichtvorhandener theoretischer Ansätze weisen sie nach, dass die SEU-Theorie in gewis­ser Weise den "gemeinsamen Nenner" bisheriger Wanderungstheorien bildet. Trotz­dem sind Arbeiten, die das SEU-Modell explizit verwenden, bis zu dieser Veröffent­lichung eher selten. Als ,;klassisch" sind nur die Beiträge von Chemers et al. (1978)und Bogue (1977), der eines der bekanntesten Plädoyers für die Ablösung des Push­Pull-Paradigmas durch die Nutzentheorie hält, zu bezeichnen. Bogue (1977: 168 f.)weist auch auf eine wichtige Leistung der Werterwartungstheorie hin, die nicht zu­letzt für deren große Integrationskraft verantwortlich zu sein scheint: In der Werter­wartungstheorie können individuelle Faktoren sehr einfach mit den klassischen so­zioökonomischen Determinanten des Wanderungsverhaltens verbunden werden. Wieeine solche Integration modellierbar ist, zeigt beispielsweise Gardner (1981). Kurzformuliert lautet die Grundidee: Makrofaktoren beeinflussen den Set möglicher Al­ternativen, die Evaluation und die Kognition der Akteure und sind über diese Me­chanismen mit dem Migrationsentscheidl,mgsprozess verbunden. Die Werterwar-

17 Vgl. Esser (1991: 55), fiir das Wanderungsverhalten beispielsweise: Chemers et al. (1978: 43), De Jongund Fawcett (1981: 47), Friedrichs et al. (1993: 4), Kalter (1993: 130); die Notationen weichen teilweisevon den hier gebrauchten ab.

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tungstheorie ist also in der Lage, andere Theorieansätze - und damit eine Vielzahlvon Determinanten des Wanderungsverhaltens - zu integrieren.

Die aufgeführten Mikrotheorien besitzen unterschiedliche Vor- und Nachteile. EinVorzug der Wanderungstheorie von Lee liegt beispielsweise darin, dass sie prinzipi­ell in der Lage ist, eine Vielzahl von Faktoren als potenzielle Randbedingungen vonWanderungsphänomenen zu berücksichtigen, und somit auch eine Integration ande­rer Ansätze ermöglicht. Der grundsätzliche Push-Pull-Mechanismus erlaubt die Auf­stellung relativ unkomplizierter Brückenhypothesen über den Einfluss vielfaltigerstruktureller Bedingungen. Unklar bleibt jedoch, wie sich solche Faktoren genau aufden Prozess der Wanderungsentscheidung auswirken. Dies liegt nicht zuletzt an demhauptsächlichen Nachteil der Theorie von Lee, nämlich der eigentlichen Selektions­regel, die zum einen sehr unpräzise ist und in vagen verbalen Aussagen haften bleibt,zum anderen mit dem Push-Pull-Gedanken sehr auf das Wanderungsverhalten be­schränkt ist, d. h. keine wirklich allgemeine Theorie des HandeIns darstellt.

Mit dem mikroökonomischen Ansatz verhält es sich in vielen Punkten gewisser­maßen umgekehrt: Der Vorteil liegt hier in der sehr präzisen Selektionsregel, die ei­ne explizite funktionale Beziehung zwischen den unabhängigen Variablen und der .Handlung angibt. Der Nachteil besteht darin, dass - durch die Konzentration auf dasEinkommen - die Allgemeinheit der Randbedingungen und die Möglichkeit der Bil­dung von Brückehhypothesen äußerst eingeschränkt sind. Dies gilt zumindest, wennman die Formel von Speare betrachtet. Die verbalen Äußerungen von Sjastaad undSpeare beziehen sich zwar auch auf weitere nichtmonetäre Faktoren, diese werdenaber nicht in die präzise Selektionsregel integriert. Das Humankapitalmodell unter­stellt ferner, dass Akteure dazu fahig sind, ihr Einkommen über große Zeiträume zumaximieren und dabei eine Diskontierung vorzunehmen. Psychologische Befunde,wie zum Beispiel die der "bounded rationality" (Sirnon 1957) von Akteuren, sindunter diesen sehr rigiden Annahmen kaum zu berücksichtigen. Damit wird auch dieAllgemeingültigkeit der unterstellten Handlungstheorie in Frage gestellt.

Die Stärke des Beitrags von Wolpert liegt ohne Zweifel in der expliziten Berück­sichtigung (sozial-)psychologischer Erkenntnisse, insbesondere der Ideen von Lewin(1951) und Simon (1956, 1957). Er versucht, diese Ansätze mit einem utilitaristi­schen Ausgangspunkt zu verbinden und somit eine allgemeine Verhaltenstheorie zuGrunde zu legen. Die Schwierigkeit, dass damit unter Umständen umfangreiche In­formationen über das einzelne Individuum notwendig werden, umgeht er dadurch,dass er für die Erklärung des Migrationsverhaltens eine Typenbildung vorschlägt(Wolpert 1965: 165). Diese Typenbildung und die im Konzept der "place utility" an­gedeutete. nutzentheoretische Interpretation bilden den Ansatzpunkt für vielfaltigeBrückenhypothesen. Der Einzige, wenngleich nicht unerhebliche Mangel, liegt je­doch darin, dass Wolpert an keiner Stelle wirklich präzise funktionale Beziehungenzwischen den "erklärenden" Merkmalen und dem Wanderungsverhalten angibt; ins­besondere bleibt unklar, wie sich die zentralen Konstrukte der "place utility" und desAspirationsschwellenwertes zusammensetzen.

9.2.5 Beurteilung der Mikrotheorien

Die drei klassischen Mikrotheorien der Wanderung zeigen im Hinblick auf dieAnforderungen einer soziologischen Erklärung also unterschiedliche Stärken undSchwächen. Keine stellt letztlich eine in allen Punkten befriedigende Lösung dar.Das SEU-Modell der Wanderung verbindet ihre jeweiligen Vorteile und kann dem­zufolge aus gutem Grund als konvergente Weiterentwicklung dieser Ansätze angese­hen werden: Brückenhypothesen sind allgemein und relativ leicht formulierbar. Esist jeweils anzugeben, welche Wirkung sozialstrukturelle Bedingungen auf den Setvon Handlungsalternativen, auf die Kognition (p-Terme) und auf die Evaluation (U­Terme) haben. Hierbei ist es - wie bei Lee und Wolpert - insbesondere möglich,denEinfluß "typischer" Randbedingungen auf "typische" Akteure zu berücksichtigenund somit den Bedarf an individueller Information über den Akteur zu beschränken.Wie der Ansatz von Wolpert zeigt, hat sich die SEU-Theorie in enger Verbindung zu(sozial)-psychologischen Ansätzen entwickelt und bietet insofern eine Reihe vonAnschlussmöglichkeiten. Ferner gibt sie einen äußerst präzisen funktionalen Zu­sammenhang an und kann in vielfaltigen soziologischen, ökonomischen und psy­chologischen Anwendungsfeldern als relativ gut bestätigt gelten.

Allerdings werden immer wieder scheinbare "Anomalien" beobachtet. Eine be­sondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Konzept der "boundedrationality" von Simon (1957) und zahlreichen sozialpsychologischen Befunden wieder Existenz von Framing-Effekten und anderen Paradoxien zu (Frey 1990: 163 ff.;Kahneman et al. 1982; Thaler 1980). Auch im Bereich der Wanderungsforschunggibt es einige Phänomene, die auf den ersten Blick nur schwer mit den Annahmender SEU-Theorie in Einklang zu bringen sind und die ihren bisher aufgezeigten Wertals allgemeine Grundlage einer Erklärung von Wanderungsprozessen in Frage zustellen scheinen. In diesem Zusammenhang kommt einem wichtigen Gütekriteriumeiner Handlungstheorie eine entscheidende Bedeutung zu, nämlich der Möglichkeit,in der Erklärung den Grad der Vereinfachung schrittweise zu verringern, d. h. an­fangliche grob vereinfachende Annahmen durch komplexere und realistischere An­nahmen zu ersetzen, wenn es die speziellen Erklärungsprobleme erfordern. Ein sol­ches Vorgehen lässt sich allgemein als "Methode der abnehmenden Abstraktion" be­zeichnen (Esser 1991: 61 f.; Esser 1993: 133-137; Lindenberg 1985: 108; Linden­berg 1991; Wippler, Lindenberg 1987: 142). Im nächsten Kapitel werden einige Mo­dellierungen vorgestellt, die sich der Methode der abnehmenden Abstraktion bedie­nen, um auf einer nutzentheoretischen Basis bestimmte offene Probleme der Wande­rungsforschung zu lösen.

9.3 Zur Lösung einiger Spezialprobleme - Perspektiven der weiterentheoretischen Entwicklung

Einige Phänomene im Zusammenhang mit dem Wanderungsverhalten scheinen nurschwer mit einer individualistischen Theorie der rationalen Wahl vereinbar zu sein,manche Befunde scheinen dem Modell sogar ausdrücklich zu widersprechen. In die­sem Kapitel wird nun ausgeführt, wie solche Probleme, in denen Wanderungsent­scheidungen nicht selten den Eindruck einer gewissen Suboptimalität erwecken,theoretisch behandelt werden können. Zu fragen ist dabei insbesondere, ob eine Ein-

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schränkung bezüglich der Allgemeinheit des bisher unterstellten handlungstheoreti­schen Kerns zu treffen ist oder ob die Probleme auch innerhalb des grundsätzlichenParadigmas im Sinne der Methode der abnehmenden Abstraktion (s. o. 9.2.5) lösbarsind. Folgende Phänomene werden in diesem Zusammenhang etwas genauer be­trachtet:

a) Wanderungen werden in der Regel nicht von Einzelpersonen, sondern von ganzenHaushalten vollzogen. Die Verbundenheit mit dem Haushalt kann deshalb dazufUhren, dass Handlungen erfolgen, die dem Kalkül einzelner Haushaltsmitgliederwidersprechen (9.3.1);

b) Viele Akteure stellen überhaupt kein Kalkül hinsichtlich einer etwaigen Wande­rung an, und viele Entschlüsse, eine Wanderung zu vollziehen, scheitern an ex­ternen Einflüssen. Ein Modell der rationalen Wahl scheint deshalb zunächst nurfUr eine begrenzte Phase im gesamten Handlungs- bzw. Entscheidungsprozessanwendbar zu sein (9.3.2);

c) Die Anzahl möglicher Wanderungsziele, die in einer Entscheidung bedacht wer­den, ist in der Regel äußerst gering. Unter Umständen können potenziell bessereAlternativen existieren, aber keine Berücksichtigung im Kalkül finden (9.3.3);

d) Die Ziele, die Akteure in ihren Wanderungsentscheidungen berücksichtigen, sindäußerst vielfältig. Somit sind geeignete Anschlusstheorien darüber notwendig,welche Typen von Akteuren welche typischen Ziele besitzen (9.3.4).

Einige der nachstehenden Modellierungen sind bisher in der Wanderungsforschungnur wenig oder gar nicht berücksichtigt worden. Deshalb stellen die weiteren Aus­fUhrungen an vielen Stellen eher Vorschläge fUr die weitere theoretische Entwick­lung als einen festen Bestand der Migrationstheorie dar.

bzw. die dafUr sorgen, dass sich eine Wanderung auch fUr die - isoliert betrachtet ­benachteiligten Haushaltsmitglieder "lohnt".

Den wichtigsten Ansatzpunkt einer Erklärung bilden hier die mikroökonomischenModellierungen von Da Vanzo (1976: 9 f.), SandeIl (1977) und Mincer (1978). DieGrundidee ist relativ einfach: Während das individuelle mikroäkonomische Modell(vgl. 9.2.2) davon ausgeht, dass eine Wanderung dann erfolgt, wenn der (gemäß derHumankapitaltheorie erwartete) Nutzen dieser Wanderung größer ist als der Nutzendes Verbleibens zuzüglich der Migrationskosten, wird bei Haushalten bzw. Paarenunterstellt, dass sich die jeweiligen individuellen Nutzenterme zu einem Gesamtnut­zen addieren. Eine Wanderung findet modellgemäß dann statt, wenn die addiertenNutzender Wanderung die addierten Nutzen des Verbleibens übertreffen.

Auch wenn das Gesamtkalkül eine Wanderung nahe legt, kann es also durchaussein, dass das individuelle Kalkül einer der Personen zu Gunsten des Verbleibensausschlägt. In diesem Falle spricht man von einem "tied mover". Im umgekehrtenFall, wenn also das Gesamtkalkül fUr das Verbleiben spricht und eines der Haus­haltsmitglieder eine individuelle Präferenz fUr die Wanderung besitzt, spricht manvon einem "tied stayer". Diese Modellierung erklärt die Tatsache, dass Akteure ge­gen ihr eigenes Kalkül handeln, also dadurch, dass es daneben noch ein Haushalts­kalkül gibt, das in die andere Richtung geht. Diese Auffassung fUhrt zu zwei grund­legenden Problemen:

a) Den Akteuren wird implizit eine kooperative und nicht - wie im SEU-Modell ­eine egozentrierte Orientierung unterstellt. 18 Mit anderen Worten: Das individu­elle Kalkül tritt hinter das Gesamtkalkül zurück;

b) Es kann nur noch das gemeinsame Wanderungsverhalten, nicht aber das getrenn­te, das empirisch ebenfalls anzutreffen ist, erklärt werden.

Der überwiegende Teil aller Wanderungen wird nicht von Einzelpersonen, sondernvon Personengruppen - in der Regel von ganzen Haushalten - vollzogen. Ein solcherTatbestand wirft Zweifel auf, ob eine Modellierung, in der Wanderungen als Resul­tate individueller Kosten-Nutzen-Kalküle aufgefasst werden, wirklich einen adäqua­ten Ausgangspunkt bildet. Die Wanderung ganzer Haushalte wäre dann darauf zu­rückzufUhren, dass die Kosten-Nutzen-Kalküle aller Haushaltsmitglieder in die glei­che Richtung gehen. Diese Annahme stößt jedoch auf zwei Probleme. Zum einen isteine solche Kongruenz "überzufällig", zum anderen wandern Personen im Haus­haltsverbund in vielen Fällen nachweislich auch dann, wenn sie dadurch persönlichNachteile haben. Empirisch gut bestätigt ist etwa die Suboptimalität des Wande­rungsverhaltens von Ehepaaren in Bezug auf die perufliche Karriere der Ehefrauen(Bielby, Bielby 1992; Clark 1986: 70; Da Vanzo 1981; Duncan, Perrucci 1976; Min­cer 1978; Shihadeh 1991). Soll der Kern der Erklärung, d. h. die Annahme des indi­viduellen nutzenmaximierenden Verhaltens, beibehalten werden, so ist nach den Me­chanismen zu suchen, die die Kalküle der einzelnen Haushaltsmitglieder angleichen

9.3.1 Das Problem der HaushaltsentscheidungenDurch eine theoretische Analyse von Verhandlungssystemen kann der erste Punktzumindest unter bestimmten Bedingungen entkräftet werden: Es kann gezeigt wer­den, dass dann, wenn ein Zwang zur einvernehmlichen Entscheidung zwischen denVerhandlungspartnern besteht, auch unter einer egozentrierten Orientierung der Be­teiligten Entscheidungen zu Stande kommen, die die Gesamtwohlfahrt maximie­ren)9 Eine weitere Voraussetzung dafUr ist entweder die Möglichkeit, Ausgleichs­zahlungen zu leisten oder so genannte Koppelgeschäfte durchzufUhren (Scharpf1992: 65-75). Ausgleichszahlungen erlauben es dem durch die Entscheidung Be­vorteilten, einen bestimmten Teil der Gewinne dem Benachteiligten zur VerfUgungzu stellen, mindestens jedoch so viel, dass dessen negative Nutzenbilanz ausgegli­chen wird. Wenn - etwa durch die Unteilbarkeit der Gewinne - keine Ausgleichs­zahlungen möglich sind, bieten sich Koppelgeschäfte an. Der benachteiligte Partner

18 Scharpf (1992: 54) defmiert die unterschiedlichen Orientierungen folgendennaßen: "Wenn (x) den Netto­nutzen von ego und (y) den von alter bezeichnet, dann maximiert die egozentrierte Orientierung (x) die ko­operative (x+y) und die kompetitive Orientierung (x-y)."

19 Entscheidungen sind dann Wohlfahrtsgewinne, wenn die addierten Nettonutzen der Beteiligten gegenüberdem Status quo größer sind. Dieses Kriterium wird auch als Kaldor-Kriterium bezeichnet (Scharpf 1992:57) und entspricht genau der Bedingung fiir eine Wanderung im mikroökonomischen Haushaltsent­scheidungsmodell.

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20 Auf den ersten Blick scheinen die Evaluationen, d.h. die Bewertungen von Nutzentermen (U-Terme), nichtvon solchen "Störungen" betroffen zu sein. Mit dem Konzept der sozialen Produktionsfunktionen (s. u.9.3.4) können aber auch diesbezüglich Fehlwahrnehmungen bzw. Unsicherheiten berücksichtigt werden.Akteure sind nicht selten unsicher über "ihre" Produktionfunktion und damit über die Präferenzen für Zwi­schengüter, die mit dieser Funktion verbunden sind.

kann dann durch Gewinne bei anderen, nicht direkt mit dem derzeitigen Verhand­lungsgegenstand verbundenen Entscheidungen "entlohnt" werden. Wanderungsent­scheidungen bieten prinzipiell vielfältige Möglichkeiten, Ausgleichszahlungen oderKoppelgeschäfte durchzuführen. Monetäre Zugewinne durch eine berufliche Verbes­serung eines der Partner spielen hier eine herausragende Rolle. Problematischer isthingegen die Annahme, dass es sich bei der Wanderungsentscheidung wirklich umein reines Zwangsverhandlungssystem handelt. Einzelne Haushaltsmitglieder könn­ten ihre Interessen auch einseitig verwirklichen und dabei eine Trennung vOm Rest­haushalt in Kauf nehmen. In der mikroökonomischen Ausgangsmodellierung wirdimplizit immer unterstellt, dass der Zusammenhalt außer Frage steht (Da Vanzo1981: 113). Gibt man diese Annahme auf und berücksichtigt zusätzlich den Nutzen,den das Zusammensein an sich für den einzelnen Akteur besitzt (Mincer 1978: 756),so wird die Entscheidung zu einem strategischen Problem. Hier scheint die vertie­fende Anwendung spiel- bzw. verhandlungstheoretischer Modellierungen ein viel­versprechender Ansatz zur weiteren Analyse zu sein (Kalter 1998).

Das SEU-Modell der Wanderung betont den subjektiven Charakter der zentralenTherme im Entscheidungskalkül, d. h. der vorhandenen Alternativen, der Evaluatio­nen und der Kognitionen. Damit wird die Möglichkeit eingeschlossen, dass die Ak­teure Fehlwahmehmungen unterliegen, vor allem wenn sie die Realisierbarkeit vonAlternativen bzw. die Realisierbarkeit von Nutzentermen durch die Wahl bestimmterAlternativen einschätzen.20 Die Kalküle sind somit mit Unsicherheiten belastet, dieden Akteuren prinzipiell bewusst sein können. Da Sicherheit, d. h. eine ausreichendeMenge an notwendigen Informationen, aber mit Kosten verbunden ist, nehmen dieAkteure in ihren Entscheidungen häufig nicht unbeträchtliche Grade an Ungewiss~

heit in Kauf.Unsicherheiten im Kalkül bilden die theoretische Begründung dafür, die Entschei­

dung zur Wanderung in einen Prozess zu zerlegen, der mehrere qualitativ verschie­dene Stufen umfasst. Solche Stufenmodelle werden in der Wanderungsforschungimmer wieder vorgeschlagen, häufig als Konsequenz von empirischen Schwierig­keiten, die mit einstufigen Entscheidungsmodellen verbunden sind (Brown, Moore1970: 2; Evers 1989: 181; Garclner 1981: 65; Roseman 1983: 152; Rossi 1980: 149f.; Speare et al. 1975: 175; Wagner 1989: 23). In diesem Abschnitt werden zweizentrale Abgrenzungen behandelt: die Unterscheidung zwischen Wanderungsplänenund tatsächlichen Wanderungen (9.3.2.1) sowie die Unterscheidung zwischen derWanderungserwägung und dem Wanderungsplan (9.3.2.2).

9.3.2.1 Wanderungspläne und tatsächliches Wanderungsverhalten

Ein nahe liegender Einwand gegen die Unterstellung rationaler Wanderungsent­scheidungen könnte etwa folgendermaßen lauten: Die Wanderung mag im Nutzen­kalkül die attraktivere Alternative sein, und deshalb mag zwar eine Entscheidung zurWanderung getroffen werden, ob man sie tatsächlich realisieren kann, ist jedoch eineandere Frage. Fehlende Opportunitäten, etwa Wohn- oder Arbeitsmöglichkeiten ananderen Orten, können dies verhindern. Es bietet sich deshalb an, eine grundsätzlicheUnterscheidung zwischen dem Entschluss bzw. dem Plan zur Wanderung und dertatsächlichen Wanderung zu treffen.

In der Studie von Rossi (1980) wird der Unterschied zwischen Wanderungsplänenund Wanderungsabsichten zum ersten Mal besl;mders ausführlich herausgearbeitet.Zwar erweisen sich Wanderungspläne als ein wichtiger Prädiktor des tatsächlichenWanderungsverhaltens, trotzdem werden solche Pläne nicht immer umgesetzt. Mitt­lerweile existieren eine Reihe von Arbeiten, die sich vor allem mit dieser Kluft zwi­schen Wanderungsplänen und Vollzug befassen (De Jong et al. 1986; Fuller et al.1986; Gardner et al. 1986; McHugh 1984; Sell, De Jong 1982; Simmons 1986; Sly,Wrighley 1986). Aus ihnen kann relativ einheitlich abgelesen werden, dass das Vor­liegen von Wanderungsabsichten zwar der wichtigste, aber eben doch nur ein be­grenzter Indikator für das tatsächliche Wanderungsverhalten ist. Aus der Differenzie­rung zwischen diesen beiden Stufen ergibt sich eine höhere Erklärungskraft vielermit dem Wanderungsphänomen verbundener Faktoren.

Viele der angesprochenen Arbeiten begnügen sich weitgehend damit, in qualitati­ven oder quantitativen Analysen Korrelate und Gründe der (Nicht-)Umsetzung vonAbsichten in Handlungen anzugeben. Wenn trotzdem der Versuch unternommenwird, an allgemeine theoretische Ansätze anzuknüpfen, wird fast ausnahmslos aufdie "theory ofreasoned action" von Icek Ajzen und Martin Fishbein (Ajzen, Fishbein1980; Fishbein, Ajzen 1975) zurückgegriffen. Den Kern dieses Ansatzes bildet dieThese, dass ein Verhalten umso stärker bzw. wahrscheinlicher in Erscheinung tritt, jestärker die entsprechende Verhaltensintention ist. Diese Intention, d. h. die Absicht,das betrachtete Verhalten zu zeigen, wird einerseits durch die Einstellung (attitude)gegenüber der Handlung, andererseits durch die subjektive Norm (subjective norm),d. h. vor allem durch den perzipierten "sozialen Druck" zu Gunsten der Handlungbestimmt. Sowohl die Einstellung als auch die subjektive Norm werden durch dieSumme subjektiver Bewertungen verknüpft mit subjektiven Wahrscheinlichkeiten(beliefs) gebildet.

Ajzen (1985; 1988: 132 ff.; 1991) schlägt mit der "theory of planned behavior"(TOPB) eine Weiterentwicklung der "theory of reasoned action" vor und versuchtdarin auch den Fall von ,,(...) behaviors that are not fully under volitional control(...)" (Ajzen 1988: 127) mit einzubeziehen. Dazu wird eine dritte Faktorengruppe be­rücksichtigt, die mit "perceived behavioral control" (PBC) umschrieben wird. DiesesKonstrukt spiegelt die subjektiv wahrgenommene Kontrolle über das eigene Verhal­ten wider und bedingt einerseits die Intention, hat andererseits unter Umständen aberauch - und das ist die entscheidende Erweiterung - einen direkten Effekt auf dasVerhalten (Ajzen 1988: 133). Faktoren, die das Ausmaß bzw. den Anteil der eigenenKontrolle an der Gesamtkontrolle bestimmen, sind zum einen interner Art (Informa-

Stufenmodelle der Wanderungsentscheidung - Unsicherheitenim Kalkül

9.3.2

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464 Frank Kalter Theorien der Migration 465

tionen, Geschick und Fähigkeiten, aber auch Emotionen und Triebe), zum anderenexterner Art (Opportunitäten und Abhängigkeiten von anderen Akteuren). Insgesamtgilt: Je mehr das Verhalten von externen Kontrollen abhängig ist, desto weniger wirddas entsprechende Verhalten auftreten, desto geringer der Zusammenhang von In­tention und Verhalten. Neben dem schon in der "theory of reasoned action" unter­stellten Effekt der Intention wird also zusätzlich ein additiver Effekt der Kontrollesowie ein Interaktionseffekt von Kontrolle und Intention auf das tatsächliche Ver­halten vermutet. Mit dem Konstrukt der Kontrolle über das eigene Verhalten könnenviele der in den Migrationsstudien aufgeführten Einflussfaktoren konzeptionell er­fasst werden. Der für die empirische Umsetzung wichtige neue Ansatzpunkt der"theory of planned behavior" liegt darin, dass die subjektive Wahmehmung (ex an­tel) solcher Faktoren durch den betrachteten Akteur, d. h. die "perceived behavioralcontrol", einen weiteren Beitrag zur Erklärung des individuellen Verhaltens liefernkann.

Im Rahmen des SEU-Modells lassen sich Abweichungen zwischen Plan und tat­sächlichem Verhalten dann erfassen, wenn man berücksichtigt, dass die Entschei­dung, eine Wanderung zu planen, und die Entscheidung, tatsächlich eine Wanderungzu vollziehen, zu unterschiedlichen Zeitpunkten getroffen werden. Die entsprechen­den Kalküle finden somit unter verschiedenen Randbedingungen, vor allem aber aufder Grundlage verschiedener Informationsniveaus statt. Im Sinne einer abnehmendenAbstraktion muss zur Erklärung etwaiger Diskrepanzen die vereinfachende Annahmeaufgegeben werden, dass die Kalküle, die zu einem Wanderungplan bzw. zu einertatsächlichen Wanderung führen, unter identischen Randbedingungen vorgenommenwerden. Anschlusstheorien bzw. -hypothesen können sich nun genau darauf bezie­hen, unter welchen Umständen mit mehr oder weniger großen Unterschieden in denentscheidenden Handlungsparametern bzw. mit einem grundsätzlichen Umschwungder Handlungstendenz zu rechnen ist. Die empirischen Hinweise aus der bisherigenMigrationsforschung sollten in dieser Richtung interpretiert und systematisch weiter­entwickelt werden.

9.3.2.2 Wanderungserwägungen - Das Phänomen der Trägheit

In Kapitel 9.2 wurde gezeigt, dass sich das rationale (d. h. maximierende) Verhaltenvon Akteuren als "gemeinsamer Nenner" aus fast allen migrationstheoretischencAn­sätzen herauslesen lässt. Schon den klassischen Beiträgen liegt dieser Mechanismusals dominantes Motiv der Wanderungsbewegungen zu Grunde. Ebenso lange be­schäftigt die Migrationsforschung aber auch schon ein anderes Phänomen, das mitder Annahme rationalen Verhaltens in gewisser Weise in Konflikt zu stehen scheint:die ausgeprägte Tendenz zur Sesshaftigkeit, die sich in Bezug auf Wanderungenzeigt. Die Offensichtlichkeit einer "Trägheit" im Wanderungsverhalten veranlassteFairchild (1925) sogar, in der Sesshaftigkeit eine psychologische Konstante dermenschlichen Natur zu sehen. Seit diesem Beitrag bildet dieses Thema einen festenGegenstand der Migrationstheorie und taucht auch in anderen klassischen Beiträgen(Petersen 1958, Lee 1972: 119 f.) auf.

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Viele Phänomene, die mit dem Begriff der Trägheit in Verbindung gebracht wer­den, stehen noch in Einklang mit der Annahme der Nutzenmaximierung, wenn mannichtmonetäre Nutzenterme sowie monetäre und nichtmonetäre Kostenterme berück­sichtigt.

Ein prominentes Beispiel bildet das so genannte "Axiom der kumulativen Träg­heit" (cumulative inertia axiom), das durch McGinnis (1968) bekannt wurde. Es be­sagt, dass die Wahrscheinlichkeit, einen bestimmten Zustand beizubehalten, einemonoton wachsende Funktion der bisherigen Verweildauer in diesem Zustand bildet.Insbesondere wird die These aufgestellt, dass die Wanderungsneigung - ceteris pari­bus - mit steigender Wohndauer abnimmt. Über die Zeit kumuliert sich somit einegewisse Trägheit (Morrison 1967). Eine nutzentheoretische Erklärung dieses Tatbe­standes fällt nicht schwer: Je länger eine Person an einem bestimmten Ort wohnt, de­sto größere ortsspezifische Investitionen hat sie - ceteris paribus - getätigt, destogrößer also die Wahrscheinlichkeit, dass sie bestimmte Nutzen am derzeitigen Ortbesser realisieren kann; besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang demNutzenterm "soziale Beziehungen" zu (Speare et al. 1975: 176; Wagner 1989: 42).

Neben solchen mit einem Rational-Choice-Modell grundsätzlich "erklärbaren"Phänomenen gibt es jedoch auch Trägheitsbefunde, die den Kern eines solchen Mo­dells selbst in Frage stellen. Eines der wichtigsten Ergebnisse in dieser Hinsichtstammt von Speare (1971: 130): "The biggest problem with the application of a cost­benefit model to human migration may not be the crudeness of the actual calculation,but the fact that many people never make any calculation at all. A great many of thenon-migrants 1Ve interviewed appear to have never given any serious consideration tothe thought ofmoving anywhere." Wenn Personen in vielen Fällen noch nicht einmalin Betracht ziehen, dass eine Wanderung sie besser stellen könnte, dann scheint einModell rationaler Entscheidungen in der Tat für eine Erklärung des Wanderungsver­haltens unangemessen zu sein. Speare zieht aus seinem Resultat folgende Konse­quenz: "If this is true, then a model based on the decision-making process cannot beapplied to all people. This suggests that the next stepp in trying to build a compre­hensive understanding of the process of individual migration may be to investigatefactors which may influence whether or not a person considers moving" (Speare1971: 130). Er schlägt also vor, den Entscheidungsprozess in zwei Stufen zu unter­teilen. Zunächst muss eine Wanderung in Betracht gezogen werden, dann wird ent­schieden, ob gewandert wird. Das Erreichen der ersten Stufe (in gewissem Sinne alsodie Überwindung der Trägheit) bildet nach Speare eine notwendige Bedingung fürdie Anwendbarkeit von Kosten-Nutzenmodellen.

Wie ist aber das Erreichen der ersten Stufe zu erklären? Speare greift dazu in sei­nen weiteren Arbeiten (Speare 1974; Speare et al. 1975) auf das Zufriedenheitskon­zept zurück, das vor allem durch Wolpert (1965; 1966) und Brown und Moore(1970) in der Migrationsforschung Verbreitung gefunden hat.21 Die Grundidee die­ses Konzepts lässt sich im Prinzip auf Herbert A. Simon (1957), d. h. dessen Vor­stellung des "intendedly rational behavior" bzw. der "bounded rationality", zurück-

21 Auch in jüngster Zeit fmdet das Zufriedenheitskonzept noch breite Verwendung und Weiterentwicklungen(vgl. etwa: Bach und Srnith 1977; Deane 1990; Heaton et al. 1979; Landale und Guest 1985; McHugh et al.1990),

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466 Frank Kalter Theorien der Migration 467

9.3.3.1 Die Auswahl des Zielortes

Die Bedingung (**) zeigt an, dass im Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit pein überli­neares Ansteigen des Wanderungsgewinns (UA-UV ) gefordert ist, woraus sich eineenorme Hürde rur das Entstehen von Wanderungsüberlegungen und daraus eine ge­wisse Trägheit ableiten lässt. Mit diesem Modell ist der oben aufgetretene scheinbareWiderspruch im Hinblick auf die Rationalität im Entscheidungsprozess aufgelöst.Dass Wanderungspläne erst dann in Betracht gezogen werden, wenn die Aussicht aufErfolg einen Ausgleich der zur Suche und Entscheidung notwendigen Investitionenin Zeit und Geld verspricht, ist ohne weiteres als Akt der rationalen Wahl interpre­tierbar (Da Vanzo 1981: 95). Aus der Unsicherheit über den Erfolg dieser Suche lässtsich also der Kern des Trägheitsproblems ableiten.22

Der Prozess der Wanderungsentscheidung wurde in den bisherigen Darstellungen imWesentlichen als Wahl zwischen zwei grundsätzlichen Alternativen, nämlich derWanderung (move) und der Nichtwanderung (stay) dargestellt. Dies ist eine starkvereinfachende Modellierung, denn beide. Handlungsweisen können unter Umstän­den differenziertere Alternativen umfassen. "Move" bezeichnet einen prinzipiell un­begrenzten Set potenzieller Wohnorte; es stellt sich damit die Frage, wie es zur Aus­wahl eines konkreten Ziels der Wanderung kommt (9.3.3.1). Auch die Handlungs­möglichkeit "stay" beinhaltet nicht nur die fraglose Beibehaltung des Status quo.Wenn Wanderungsneigungen auf Grund eines spezifischen Problemdrucks entste­hen, so ist denkbar, dass auch Handlungsmöglichkeiten existieren, die zur Lösungder entsprechenden Probleme beitragen, ohne eine Veränderung der räumlichen Po­sition vorzunehmen. Hier ist zu fragen, unter welchen Umständen solche Möglich­keiten existieren und zu einer verminderten Mobilität ruhren (9.3.3.2).

ruhren. Die wesentliche Annahme liegt darin, dass sich das Handeln von Akteuren inAlltagssituationen durch das Prinzip des "satisficing" charakterisieren lässt. Dem­nach wird nicht unbedingt - wie im Prinzip des "maximiziIig" - die Beste aller ver­rugbaren Alternativen ausgewählt, sondern das routinemäßige Handlungs~uster wir~

solange aufrechterhalten, wie es zur Errullung der momentanen Bedürfmsse ausreI­chend ist; erst wenn dies nicht mehr gewährleistet ist, tritt das Nachdenken über bzw.die Suche nach neuen Möglichkeiten in Erscheinung. Es liegt nahe, diesen Grundge­danken zur Erklärung des oft beschriebenen Phänomens der Trägheit im Wande­rungsverhalten heranzuziehen.

Während Speare das Erreichen der ersten Stufe mit dem Zufriedenheitskonzep~ er­fasst unterstellt er auf der zweiten Stufe weiterhin ein Kosten-Nutzen-Modell. DIeseAuffassung hat allerdings einen erheblichen theoretischen Nachteil: Im Prozess derWanderungsentscheidung werden zwei verschiedene Handlungstheorien unterstellt.Das dem Zufriedenheitsansatz zugrunde liegende Prinzip des "satisficing" steht demGrundprinzip des "maximizing" gegenüber, das den Kern jeder Rational-Choice­Theorie bildet. Riker und Ordeshook (1973: 20 ff.) weisen jedoch eindrucksvollnach dass die Idee des "satisficing" bei Herbert A. Simon durchaus als Spezialfalldes ,:maximizing" interpretiert werden kann. Esser (1991: 66 ff.) greift dies in e~nerRekonstruktion der Theorie des Alltagshandelns von Alfred Schütz als allgememesModell des Routinehandeins, d. h. als Handeln nach sogenannten "habits", auf. Einständiges Abwägen mehrerer Alternativen ist mit hohen Information~-, Such~ undEntscheidungskosten verbunden. Diese Kosten können dadurch ver~meden werde~,

dass ein Akteur bis auf weiteres bei seiner bisherigen Routine bleIbt (vgl. rur dIeWanderungsentscheidung auch Molho 1986: 399). Vor der eigentlichen. Entschei­dung über eine Wanderung wird demnach eine Art von Metae~tscheidun~ darübergetroffen, ob überhaupt nach Alternativen Ausschau gehalten wud, d. h. eme. Wan­derung in Erwägung gezogen wird. Dabei kann angenommen werden, dass em Ak­teur auf dieser Entscheidungsstufe zwei grundsätzliche Handlungsalternativen be­sitzt. Die Handlungsalternative UI bestehe darin, keine Überlegungen über eineWanderung (als Abweichung von der Alltagsroutine) anzustellen. Der Wert dieserHandlung ist rur eine Person gleich dem Wert (Nutzen) des Verweilens Uv am der­zeitigen Wohnort, also:

9.3.3

CUA-Uv >-

P

Der Set der Handlungsaltemativen

(**)

Die Alternative Uz besteht in der Erwägung einer Migration. Auch Uz hat einen Wert;er kann folgendermaßen dargestellt werden:

U(UJJ = p,UA + (l-p)'Uv-C

Dabei ist p die subjektiv erwartete Wahrscheinlichkeit darur, dass ei~ anderer Wohn­ort realisiert werden kann, C sind die Kosten, die aus der InformatIOnsbeschaffungüber eine solche Ortsalternative entstehen, und UA ist der Wert dieser potenziellenAlternative.

Es lässt sich somit ableiten, dass Uz dann gewählt wird, wenn:

Bei der Umsetzung von Wanderungsüberlegungen in Wanderungspläne spielt dieAuswahl des Wanderungsortes eine wichtige Rolle. Die Selektion des Ziels einer(potenziellen) Wanderung wird oftmals als eine eigenständige Stufe im gesamtenEntscheidungsprozess modelliert, d. h. es wird eine Unterscheidung zwischen der

22 Erst nach der Wahl zwischen diesen Alternativenseis (al und (2) fmdet die zweite Entscheidung zwischenden eigentlichen Ortsalternativen statt. Im Falle einer Bevorzugung von ah also wenn der "habit" beibe­halten wird, stellt sich dabei nur eine einzige Handlungsalternative: der Verbleib am bisherigen Wohnort.Nur wenn die Wahl rur a2 ausfallt, treten andere potentielle Orte in Konkurrenz mit dem derzeitigen. DasHabit-Modell hebt die vereinfachende Annahme auf, dass die Suche nach Alternativen (zum Status quo)keine Kosten verursacht. Setzt man im Habit-Modell C = 0, so ergibt sich das Standard-SEU-Modell alsSpezialfall.

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468 Frank Kalter Theorien der Migration 469

"decision to move" und der "decision where to move" getroffen (Evers 1989: 181;Roseman 1983: 152; Wagner 1989: 23). Unklar ist allerdings in welchem genauen(zeitlichen) Verhältnis diese beiden Teilentscheidungen zueinander stehen. "We do.not yet understand the complex interplay between the decision to move and the de­stination selection decision" (Roseman 1983: 156). Idealtypisch können zwei Auf­fassungen unterschieden werden: 1. Zunächst wird eine Entscheidung darüber getrof­fen, ob eine Wanderung stattfinden soll. Danach wird in einem zweiten Schritt derkonkrete Zielort der Wanderung festgelegt. 2. Zuerst wird der potenzielle Zielort be­stimmt und erst im Anschluss daran entschieden, ob eine Wanderung an diesen Orterfolgt oder ob der bisherige Wohnort beibehalten wird. Empirisch lassen sichdurchaus beide Typen beobachten.

Einem klassischen Befund von John Lansing und Eva Mueller zufolge, wird dieWahl von Migrationszielen nur aus sehr begrenzten Sets von Alternativen getroffen.64% aller in ihrer Studie befragten Migranten geben an, nur eine einzige Richtungder Wanderung in Erwägung gezogen zu haben (Lansing, Mueller 1967: 211). Dassdie Alternativensets stark begrenzt sind, wurde auch in anderen Studien im~~r wie­der bestätigt und gibt Anlass rur eine vertiefte theoretische Beschäftigung. Ahnliehwie das Phänomen der Trägheit wirft diese Tatsache Probleme rur eine einfache Ra­tional-Choice-Modellierung des Migrationsverhaltens auf. Auf Grund der offen­sichtlichen Verbundenheit beider Phänomene verwundert es nicht, dass die theoreti­schen Lösungskonzepte zur Erklärung eingeschränkter Alternativenmengen von po­tenziellen Migranten sehr eng mit Erklärungsversuchen des Trägheitsproblems ver­wandt sind. Wiederum lässt sich eine gewisse Konvergenz sozialpsychologischerBeiträge und vertiefender mikroökonomischer ModelIierungen feststellen; bei erste­ren steht dabei das Konzept des "Suchraums", bei letzteren das der "Informationsko-sten" im Vordergrund. .

Schon Wolpert (1965) beschäftigt sich explizit mit der starken Begrenztheit mög­licher Ortsalternativen. Den Schlüssel rur ein Verständnis dieses Tatbestandes siehter in einer eingeschränkten Informationsverarbeitungskapazität der involvierten Ak­teure: "Though the individual theoretically has access to a very broad environmentalrange of local, regional, national, and international information cover~ge, typical~y

only some rather limited portion of the environment is relevant and apphcable for hISdecision behavior" (Wolpert 1965: 163). Die Menge der Alternativen, die ein Indivi­duum wahrnimmt und einer Bewertung unterzieht, wird als Aktionsraum (actionspace) bezeichnet. Der Aktionsraum ist in hohem Maße von individuellen Me~kma­

len abhängig. Eigene Lebenserfahrungen (Speare et al. 1975: 179), InformatlOnendurch neutrale, aber selektive Quellen und das personale Netzwerk (Brown, Moore1970: 7) sind die Hauptdeterminanten darur, dass bestimmte Ortsalternative~ in dieMenge der zur Disposition stehenden Orte gelangen (Roseman 1983: 160). DIe Ver­bindung zum Trägheitsphänomen liegt dann darin, dass dieser Bestand oftmals nuraus einer einzigen Ortsalternative, nämlich dem jetzigen Wo~mort, besteht.

In diesem allgemeinen Konzept wird der Bestand vorhandener Alternativen alsozunächst durch vorausgegangene Ereignisse (frühere Wohnerfahrungen, Wahl vonFreunden und Bekannten) erklärt. Aber auch die aktive Suche nach neuen Alternati­ven die dann Teil des Aktionsraumes werden, lässt sich theoretisch integrieren. Hiergreifen Wolpert (1965) und Brown und Moore (1970) vor allem auf Herbert A. Si-

mon (1956; 1957) zurück. Das Hinzukommen neuer Alternativen wird prinzipiellgenauso modelliert, wie die Überwindung der anfanglichen Trägheit im Zufrieden­heitskonzept (vgl. 9.3.2.2): Die Suche nach weiteren Alternativen wird so lange fort­gesetzt, bis ein Ort gefunden ist, der dem Anspruchsniveau genügt. Bleibt diese Su­che erfolglos und unterliegt sie bestimmten Restriktionen zeitlicher oder monetärerArt, so kann der Akteur sein Anspruchsniveau senken, bis eine Alternative gefundenwird, die diesem Niveau genügt (Brown, Moore 1970: 10). Nicht selten handelt essich dabei dann um den momentanen Wohnort, zumal die zusätzliche Möglichkeiteines "restructuring", d. h. einer aktiven Veränderung momentaner Rahmenbedin­gungen besteht (s. u. 9.3.3.2).

Dabei kann unterstellt werden, dass potenzielle Zielorte sofort nach ihrem Auffin­den bewertet und dementsprechend akzeptiert oder abgelehnt werden, sodass sich zueinem gegebenen Zeitpunkt in der Tat oft nur eine einzige oder gar keine Alternativezum jetzigen Wohnort im Aktionsraum befindet.

Obwohl sie sich weitgehend auf den Lohnaspekt konzentrieren, gehen die in derMikroökonomie entwickelten Suchtheorien von sehr ähnlichen Grundgedanken aus.Sie liefern mit dem zentralen Begriff der Informationskosten einen wesentlichen Er­klärungsmechanismus rur die Neigung zu einem nur beschränkten Handlungsset. Diezentrale Annahme ist, dass die Suche nach weiteren Alternativen solange weitergeht,bis die Grenzkosten der Suche den Grenznutzen erreichen bzw. überschreiten (Stig­ler 1962: 96). Durch diese Bedingung bestimmt sich der "reservation wage", d. h.,der Schwellenwert, der zur Aufuahme von Suchaktivitäten ruhrt, wenn er durch dasbisherige Lohnniveau unterschritten wird. Zur Einschätzung des Grenznutzens derSuche muss in diesem einfachen Modell allerdings die Annahme sicherer Informa­tionen über regionale Lohnverteilungen getroffen werden. Viele Arbeiten befassensich deshalb mit Modifikationen des Modells, die diese Voraussetzung einschränken(Molho 1986: 402 ff.).

Die offensichtliche Verbindung dieser Phänomene mit dem Trägheitsproblem legtes nahe, das "Habit-Modell" (vgl. 9.3.2.2), das sich zur Erklärung der Trägheit imWanderungsverhalten bewährte, auch zur Erklärung der Hinzunahme neuer Ortsal­ternativen in den Handlungsset des Akteurs heranzuziehen. Der Kern der ausgeruhr­ten sozialpsychologischen und mikroökonomischen Erklärungsansätze kann somitaufgegriffen werden. Formal lässt sich folgende Darstellung vorschlagen (Riker, Or­deshook 1973: 20 ff.; Esser 1991: 66 f.):

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470Frank Kalter Theorien der Migration 471

Sei

Ul die Handlungsalternative "wähle aus dem Set An von n Orten {a" ..., an}"

undU2 die Handlungsalternative "wähle aus dem Set An+l von n+l Orten {a" ..., an,

an4-l}'"

Sei ferner

aj die bisher bevorzugte Alternative aus dem Set An, ,C die subjektiv erwarteten Kosten der Suche nach einer Alternative an+l,p die subjektive Wahrscheinlichkeit, dass eine Alternative an+l gefunden

wird,

dann lohnt sich eine solche Suche (d. h. die Alternative Uz ist U\ vorzuziehen), wenn:

Dabei bezeichnet U(a·) den subjektiv erwarteten Gesamtnutzen einer bestimmtenOrtsalternative j. Je h~her also die Kosten der Informationssuche C, dest~ wenigerwahrscheinlich ist es, dass nach weiteren Alternativen Ausschau gehalten wud.23

9.3.3.2 Alternativen zur Wanderung

Insbesondere migrationstheoretische Beiträge, die in der Tradition von Wol~ert(1965 1966) stehen, haben auf eine wichtige Differenzierung der HandlungsoptIonsta/ hingewiesen: Neben der grundsätzlichen Möglichkeit "move" wird zwischen

::restructuring" (bzw. "changing") und "adjusting (its needs)" unterschieden (Brown,Moore 1970: 3; Gardner 1981: 64; Wolpert 1965: 161). Die verschiedenen Hand­lungsweisen nehmen dabei engen Bezug auf das diesen Arbeiten zugrunde liegendeZufriedenheitskonzept; Unzufriedenheit resultiert aus einer Diskrepanz zwischenAnspruchs- und Realisierungsniveau, was auf eine Änderung situational~r Randbe­dingungen zurückgeführt wird. Da diese Diskrepanz Stres~ erzeugt, setzt ~Ie d~n E?t­scheidungsprozess in Gang. Eine "Lösung" des Problems Ist dann ~uf dreierlei Welsemöglich: 1. durch ein Verlassen der Situation (move), 2. durch eme Anpassung d~sAnspruchsniveaus an das Realisierbare (adjustment) und 3. durch den Ver~uch, dieRandbedingungen in der Situation so zu verändern, dass der Stress bzw. die Unzu­friedenheit verschwindet (restructuring bzw. changing).

Wie lässt sich die grundsätzliche Abgrenzung des "restructuring" vom einfachenadiustment" innerhalb eines Rational-Choice-Ansatzes fassen? Die Arbeit von

" ~

23 Wie man sofort erkennt, bildet das oben (4.2.2) angefiibrte Modell zur Erklärung der Trägheit im Wande­

rungsverhalten den Spezialfall mit n=1.

Hirschman (1974) liefert eine geeignete Anschlusstheorie. Hirschman unterscheidetim Zusammenhang mit möglichen Reaktionen von Verbrauchern auf eine Qualitäts­verschlechterung von Produkten die zentralen Begriffe von Abwanderung (exit) undWiderspruch (voice). Auf den Gegenstand räumlicher Mobilität übertragen lässt sichdie Abwanderung dabei problemlos mit der Handlungsalternative "move" gleichset­zen. Mit einigen Einschränkungen, die die "Öffentlichkeit" der Handlung betreffen(Kecskes 1994: 131) - kann der Handlungstyp "restructuring" dann mit Widerspruchumschrieben werden:24 "Als Widerspruch gilt dabei jeder wie immer geartete Ver­such, einen ungünstigen Zustand zu verändern, anstatt ihm auszuweichen"(Hirschman 1974: 25). Aus den Ausführungen Hirschmans ergibt sich auch unmit­telbar die besondere Bedeutung solcher Widerspruchsmöglichkeiten für die Umset­zung von Wanderungsgedanken in Wanderungspläne: "Wenn die Kunden hinrei­chend überzeugt sind, dass der Widerspruch wirksam sein wird, dann kann es sehrwohl sein, dass sie die Abwanderung hinausschieben" (Hirschman 1974: 31).

Warum solche Widerspruchsmöglichkeiten in den Handlungsset eines Akteurstreten, lässt sich analog zur Berücksichtigung weiterer Ortsalternativen modellieren(vgl. 9.3.3.1). Wenn die Informationskosten C gering, die Realisierungswahrschein­lichkeit p und der grob eingeschätzte Nutzen U hingegen hoch sind, stellen sie aus­sichtsreiche Alternativen dar. Genau dieses deutet das letzte Zitat von Hirschman an,wenn man unter Wirksamkeit sowohl den potenziellen Nutzen als auch die Realisie­rungswahrscheinlichkeit subsumiert. Die Such- und Informationskosten dürften imFalle des Widerspruchs in besonderer Weise gering sein, da sich seine Umsetzungauf den derzeitigen Wohnort bezieht. Es stellt sich nun die Frage, welche konkretenHandlungsweisen als solche Alternativen zur Wanderung in Betracht zu ziehen sind.Zwei Phänomene wurden in diesem Zusammenhang in der Migrationsforschung be­sonders ausführlich untersucht: die Pendelmobilität und die Möglichkeit zum Um­oder Ausbau der derzeitigen Wohnung.

Wird ein Wechsel des Wohnortes aus beruflichen Gründen erwogen, so kann deram potenziellen Zielort erreichbare Nutzen auch dadurch erzielt werden, dass maneinen eventuell deutlich verlängerten Anfahrtsweg, gegebenenfalls sogar die Unter­haltung· eines Zweitwohnsitzes in Kauf nimmt. Der mit dem bisherigen Wohnortverbundene sonstige Nutzen lässt sich somit ebenso aufrechterhalten, gegebenenfallsmit einigen Abstrichen durch den größeren Zeitaufwand des Arbeitsweges. Vor ~l­

lern können die (monetären und nichtmonetären) Migrationskosten vermieden wer­den, die in der Regel weit über den nunmehr anfallenden Pendelkosten liegen. Diesenahe liegende Alternative der Pendelmobilität ist diejenige Form einer Umstrukturie­rung der Situation, die bisher am ausgiebigsten im Zusammenhang mit Wanderungs­prozessen untersucht ist (Evers 1989; Kalter 1994; Vickerman 1984; Zelinsky 1971).Die Entscheidung "Wanderung versus Pendeln" lässt sich auch als Entscheidungzwischen einer "permanenten" und einer "temporären" Mobilität konzipieren.

24 Die unveränderte Beibehaltung des Status quo (adjustment) kann dagegen nicht mit der Kategorie"loyality" von Hirschman gleichgesetzt werden, da letztere auch den Typus "voice" umschließt. Franz(1989: 102 f.) schlägt deshalb den Terminus "non-exitlnon-voice", Kecskes(1994: 131) den Terminus"Passivität" vor.

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472 Frank Kalter Theorien der Migration473

Wenn die Wohnsituation Anlass zur Unzufriedenheit gibt, kann eine nahe liegen­de Form des "restructuring" in Erscheinung treten: ein Um- oder Ausbau der beste­henden Wohnung, um eine Anpassung an die (veränderten) Wohnbedürfnisse zu er­reichen. Diese Möglichkeit ist in besonderer Weise gegeben, wenn es sich bei derWohnung um Eigentum handelt. Eigentümer können, ,,(...) solange es nicht gegendie Bauordnung verstößt, bauliche Maßnahmen an der Wohnung vornehmen (wiebeispielsweise das Entfernen nicht tragender Wände). Diese im Vergleich zu Mieter­haushalten größeren Möglichkeiten des aktiven Eingreifens machen die Wahl desHandlungssets "Widerspruch" wahrscheinlicher (Kecskes 1994: 135). Mit anderenWorten: Auf Grund der höheren Widerspruchsmöglichkeiten sinkt die Mobilitätsnei­gung von Eigentümern unter sonst gleichen Bedingungen beträchtlich (Böltken1991: 294 ff.).

Ein Vorteil der" Werterwartungstheorie gegenüber spezielleren handlungstheoreti­schen Modellierungen wie etwa dem Humankapitalmodell liegt darin, dass keinerleiBeschränkung in der Art der Ziele erfolgt, die Akteure mit ihren Handlungen verfol­gen. Wie sich zeigte, ergibt sich vor allem dadurch die Möglichkeit zu einer breitenIntegration bisheriger Theorieansätze. Diese prinzipielle Offenheit hat jedoch aucheinen Nachteil: Sie wirft einen zusätzlichen Bedarf an Hypothesen darüber auf, wel­che Ziele unter welchen Bedingungen für welche Akteure welchen Wert besitzen.Ohne die Kenntnis solcher Randbedingungen bleibt die Handlungstheorie "leer". Indiesem Kapitel wird gezeigt, wie diese "Lücke" in der Forschungspraxis gefüllt wirdund wie man durch eine geeignete Anschlusstheorie, nämlich das Konzept der so­zialenProduktionsfunktionen, zu einer ansatzweisen Erklärung von Präferenzen derinvolvierten Akteure gelangen kann.

Bei der Beantwortung der Frage, welche. Ziele in" der Entscheidung über eineWanderung von Bedeutung sind, können drei Vorgehensweisen unterschieden wer­den: eine literaturgestützte, eine empirisch explorative und eine theoriegeleitete. Daserste Verfahren deutete sich schon an vielen Stellen des bisherigen Textes an undwird in besonders ausführlicher Weise von De Jong und Fawcett (1981) vollzogen.Durch eine handlungstheoretische Rekonstruktion vorhandener theoretischer Ansätzeund eine entsprechende Interpretation von empirischen Forschungsergebnissen, dieauf der Grundlage solcher Ansätze ermittelt wurden, lassen sich viele Motive bzw.Ziele identifizieren, die Personen in ihren Wanderungsentscheidungen verfolgen. Ei­ne solche Zusammenstellung besitzt zwar einen heuristischen Wert, führt aber zu ei­ner langen Liste von potenziellen Wanderungsmotiven, deren empirische Relevanzoffen bleibt. Außerdem besteht in der Forschungspraxis gerade bei speziellen An­wendungsfeldern die Gefahr, dass trotz einer langen Aufzählung wichtige Zieldi­mensionen unberücksichtigt bleiben.

Durch das zweite angesprochene Verfahren, die explorative Ermittlung von Wan­derungsmotiven in Individualerhebungen, kann die Vernachlässigung wichtiger Mo­tive vermieden und - durch die Häufigkeitsauszählung einzelner Nennungen - eine

9.3.4 Die Art der Ziele - Neue Haushaltsökonomie und sozialeProduktionsfunktionen

Einschätzung der Relevanz bestimmter Motive erfolgen. Solche "reasons for mo­ving"-Methoden sind in der Migrationsforschung sehr verbreitet (De Jong, Fawcett1981: ~4 ff.; Long 1988: 227 ff.). Da die Frage nach den direkten Umzugsgründennur bel umgezogenen (ex post) oder umzugsbereiten Personen sinnvoll ist, weisensolche Erhe?ungen einen gewissen "bias" auf. Es wird stillschweigend vorausge­setzt, dass dIe Gründe für den Nichtumzug die gleichen sind bzw. in ähnlicher Häu­figkeitsverteilung vorliegen.

Die Ermittlung der Art und Relevanz von Umzugsmotiven in Individualerhebun­gen ist'- mit der erwähnten·Einschränkung einer Verzerrung zu Gunsten der Motiveumgezog.ener Personen - zwar ein praktikables Verfahren, um an die notwendigenRa~dbedmgung~n der Ha~dlungskalküle zu gelangen, theoretisch unbefriedigendbleIbt aber ~er ldeosynkr~tlsche Charakter dieses Vorgehens. Um das Wanderungs­verhalten WIeder auf SOZiale Merkmale zurückführen zu können, sind theoretischeErklärungen notwendig, warum im Hinblick auf ihre sozioökonomische Lage "typi­sche" Akteure ebenfalls _"typische" Präferenzstrukturen aufweisen. Die Erklärungvon. Präferenze.n kann im Rahmen von Rational-Choice-Theorien als notwendigeBedmgungen emer, adäquaten Erklärung von sozialen Phänomenen angesehen wer­d~n (Opp .1985: 236). Dieses Problem ist in der Wanderungsforschung bisher so gutWI~ g~r mcht behandelt worden. Zwar sind mit den Lebenszyklusansätzen gewisseOnentlerungshypothesen verbunden, eine wirkliche Erklärung liefern aber auch sienicht.

Eine Ausnahme bilden jedoch einige Versuche, den Ansatz der Neuen Haus­haltsöko~~mie (Becker 1976; Lancaster 1966) auf die Wanderungsentscheidungenvon IndlVlduen zu übertragen. Nach Shields und Shields (1989) wird damit eine~ierte, grundsätzlich neue Sichtweise des Akteurs für ökonomische Migrationstheo­nen fruchtbar gemacht. Während die makroökonomischen Modelle den Akteur in er­ster Linie als Anbieter von Arbeitskraft, das mikroökonomische Modell als Investor(in Humankapital) und die um regionale "amenities" erweiterten Push-Pull-Modelleals Konsumenten auffassen, wird in der Neuen Haushaltsökonomie die Produzenten­rolle der Akteure betont. Die Verbindung zum Konsumentenmodell liegt darin, dassder Nutzen nicht direkt, sondern nur indirekt über so genannte "commodities" erzieltwerden kann. Diese "commodities" müssen zunächst einmal produziert werden.Shields und Shields (1989: 295) gehen beispielsweise .von fünf grundsätzlichen"co~~.?dities'.' aus: erzieherische (E), erholungsbezogene (R), kinderbezogene (C),A~tlvItaten mIt Freunden und Bekannten (F) und sonstige Commodities (G). DerHaushalt maximiert nun U(E,R,C,F,G), d. h. den Nutzen, der sich als Funktion der"commod~ties" ergibt. Diese Funktion wird nicht weiter problematisiert, "de gustibusnon est dlsputandum" (Stigler, Becker 1977); im einfachsten Fall kann man allenAkteuren eine gleiche Funktion, d. h. gleiche Präferenzen auf dieser "obersten" Ebe­ne, unterstellen. Unterschiedlich sind allerdings die Bedingungen, unter denen Ak­teure bzw. Haushalte die einzelnen "commodities" produzieren können und damitdie Präferenzen für "Zwischengüter", die zur Produktion von bestimmt:n "commo­dities" notwendig sind. Wie effizient vorhandene Ressourcen zur Produktion vonsolchen Zwischengütern eingesetzt werden können ist dabei zum einen von individu­ellen Merkmalen der Akteure selbst, zum anderen von bestimmten Standortbedin­gungen abhängig. Hier liegt der Ansatzpunkt für Migrationstheorien: "The decision

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474 Frank Kalter Theorien der Migration 475

to move or to stay is determined by the location where the household can produce thebest" combination ofhousehold commodities" (Shields, Shields 1989: 296).

" Lindenberg (1986, 1989a, 1989b) macht mit dem Konzept der sozialen Produk­tionsfunktionen einen allgemeinen Vorschlag zur Integration dieser Ideen in dasgrundsätzliche Rational-Choice-Paradigma. Er unterstellt, dass jedes Handeln aufGüter ausgerichtet ist, die grundlegende und wie man annehmen kann auch univer­selle Grundbedürfnisse befriedigen. Zwei Grundbedürfnisse, die in diesem Zusam­menhang immer wieder genannt werden, sind physisches Wohlbefinden und sozialeAnerkennung (Lindenberg 1989a, 1989b). Diese Bedürfnisse sind aber in der Regelnicht direkt zu erfüllen, sondern nur indirekt über andere Güter (z. B. Freunde, Geldusw.) erreichbar. Solche Güter werden auch "primäre Zwischengüter" genannt. DieseZwischengüter werden nun ihrerseits wieder durch entsprechende weitere Zwischen­güter bzw. durch den Einsatz von Ressourcen(z. B. Zeit) produziert. Welche Güterund Ressourcen nun für welche Akteure in besonderer Weise geeignet sind, "höhereZwischengüter" bzw. letzten Endes soziale Anerkennung und physisches Wohlbe­finden zu produzieren, ist - und deshalb ist auch die Bezeichnung "soziale" Produk­tionsfunktion berechtigt - in großem Maße abhängig von gesellschaftlichen Randbe­dingungen bzw. von der sozialen Position des Akteurs. Für die Erklärung von Wan­derungsphänomenen wäre hervorzuheben: auch von der räumlichen Position!

Die Unterstellung individuell verschiedener Zielhierarchien wird durch die Ideeder sozialen Produktionsfunktionen in sehr entscheidender Weise "soziologisiert", d.h. unterschiedliche Gewichtungen von einzelnen Zielaspekten sind nicht mehr nurausschließlich ideosynkratischen Charakters, sondern vielmehr ein Instrument zur(rationalen) Erreichung höherer Ziele unter gegebenen lokalen und sozialen (Situa­tions-)Merkmalen (Lindenberg 1989b: 190).

9.4 Zusammenfassung

.. In diesem Beitrag wurde ein Überblick über die theoretische Entwicklung in derWanderungsforschung gegeben. Dabei wurde ein besonderes Schwergewicht daraufgelegt, eine stärker integrative - statt einer nur additiven - Sichtweise zu vermitte~n

und somit zu einer Behebung eines zentralen Missstandes in der Wanderungstheonebeizutragen. Ausgehend von einigen methodologischen Grundsätzen, die sich amanalytisch-nomologischen Wissenschaftsverständnis orientieren, konnte zunächst ge­zeigt werden, dass makrotheoretische Ansätze auf eine typische Schwierigkeit, dasProblem hoher Unvollständigkeit, stoßen. Gleichwohl lassen sich zentrale makroso­ziologische Thesen handlungstheoretisch interpretieren und somit ~r mikr~soziolo­

gische Ausgangspunkte nutzbar machen. Allen nennenswerten Mlkrotheonen (undimplizit auch allen Makrotheorien) ist die Annahme eines rationalen Handeins derinvolvierten Akteure gemeinsam - sie unterscheiden sich aber darin, wie präzise eineentsprechende Selektionsregel benannt ist und wie "offen" sie für den Anschluss vonBruckenhypothesen sowie für theoretische Vertiefungen sind. Die Werterwartungs­theorie weist hier besondere Vorzüge auf und eignet sich somit als allgemeiner Aus­gangspunkt einer Erklärung von Wanderungsphänomenen ~zw .. als "gemeinsamerNenner" bisheriger migrationstheoretischer Bemühungen. DIes 1st auch darauf zu-

ruckzuführen, dass sie eine allgemeine Theorie des menschlichen Handeins darstellt,d. h. nicht nur auf das enge Feld des Wanderungsverhaltens begrenzt ist. Durch eineÜbertragung von vertiefenden Modellierungen aus anderen Anwendungsgebietenscheinen insbesondere einige Spezialprobleme lösbar, die in der Wanderungstheoriebisher nur unzureichend behandelt wurden, zum Beispiel die Entscheidungsprozesseim Haushaltskontext, das Phänomen der Trägheit im Wanderungsverhalten, die Rollevon Widerspruchsmöglichkeiten im Sinne von Hirschman (1974) und die Gewich­tung von Zielen in den Migrationsentscheidungen der Akteure. Hier eröffnen sichnicht nur Anknüpfungspunkte an verwandte sozialwissenschaftliche Phänomene,sondern es ergeben sich auch fruchtbare Hinweise für die weitere theoretische undempirische Wanderungsforschung.