Handbuch Sozialwissenschaftlich Forschen

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    Sozialwissenschaftlich Forschen mit

    Kindern und Jugendlichen

    Handbuch fr begleitende rwachsene

    von Veronika Whrer Teresa Wintersteller Karin Schneider

    Doris Harrasser und Doris Arztmann

    Science Communications Research

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    Impressum:

    Sozialwissenschaftlich Forschen mit Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch fr

    begleitende Erwachsene.

    Autorinnen: Veronika Whrer, Teresa Wintersteller, Karin Schneider, Doris Harrasser,

    Doris Arztmann

    Herausgeberin: Science Communications Research e.V. Frbelgasse 60/12, 1160 Wien;

    http://research.science.co.at/

    Science Communications Research

    Covergestaltung: Doris Arztmann

    Layout: Teresa Wintersteller

    Erstellt im Rahmen des Projektes Grenzgnge. Feldforschung mit Schler_innen,

    gefrdert vom Bundesministerium fr Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft

    (Frderschiene Sparkling Science).

    Wien, Februar 2016.

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    Inhaltsverzeichnis

    0 - A Einleitung S. 11 - A Was ist Sozialforschung? S. 5

    2 - A Warum sozialwissenschaftlich Forschen mit Kindern undJugendlichen?

    S. 12

    3 - A Forschende Haltung S. 19

    4 - A Forschungsethik S. 25

    5 - M-AG Ablauf einer sozialwissenschaftlichen Forschung S. 29

    6 - M-AG Beispielablauf eines Forschungsprojektes S. 35

    7 - M-G Forschungstagebuch S. 37

    8 - M-G Fotomethode S. 43

    9 - M-G Mitzeichnen S. 49

    10 - M-G Sozialwissenschaftliches Krisenexperiment S. 55

    11 - MM-G Begriffebox S. 60

    12 - MM-G Soziometrie S. 65

    13 - MM-G Forschungsrelevante Auflockerungsspiele S. 68

    14 - MM-G Arbeiten mit wissenschaftlicher Fachliteratur S. 72

    15 - MM-FF Fragebox fr Forschungsfragen S. 74

    16 - MM-FF Interviews zur Generierung von Forschungsfragen S. 77

    17 - MM-FF Museum fr Sozialforschung S. 80

    18 - M-DE Teilnehmende Beobachtung S. 82

    19 - M-DE Qualitative Einzelinterviews S. 89

    20 - M-DE Gruppendiskussionen S. 95

    21 - M-DE Schulspaziergang S. 100

    22 - M-DE Fragebogen S. 106

    23 - M-DA Auswertung von Beobachtungsprotokollen S. 112

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    24 - M-DA Interviews auswerten: Stop & Go S. 120

    25 - M-DA Textanalyse: Auswertung von Chatprotokollen S. 127

    26 - M-DA Auswertung von Fragebgen S. 131

    27 - M-P Abschluss und Ergebnisprsentation S. 137

    28 - MM-P Quiz S. 145

    29 - MM-E Selbstinterview und Selbstdarstellung im Internet S. 147

    G Glossar S. 151

    Abkrzungen

    A:allgemeiner TextM: MethodeM-G: bergreifende MethodeM-AG: allgemeiner MethodentextM-M:Mini-MethodeFF: Finden der Forschungsfrage

    DE: DatenerhebungDA: DatenanalyseP: PrsentationMM-E:Mini-Methode ErfahrungsberichtG: Glossar

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    Einleitung 0 A

    0. Einleitungvon Doris Harrasser und Veronika Whrer

    Dieses Handbuch richtet sich an interessierte Pdagog_innen, die in ihrer Arbeit mit

    Kindern und Jugendlichen sozialwissenschaftliche Methoden der Feldforschungerproben mchten. Es ist einsetzbar fr verschiedenste Kontexte, wie zum BeispielSchule, Hort, Jugendzentrum, aber auch fr Kinder- und Jugendgruppen jeglicher Art.Spezielles Vorwissen zu sozialwissenschaftlichem Arbeiten ist nicht notwendig, denndie relevanten Anstze werden in diesem Handbuch anschaulich und praktischvermittelt. Somit soll es mglich sein, mit dieser Lektre als Begleitung, gemeinsammit Kindern und Jugendlichen die eigene Lebenswelt zu erforschen.

    Die hier gesammelten Inhalte und methodischen Anleitungen sind das Ergebnis von

    zwei Forschungsprojekten des Vereins Science Communications Research, die imRahmen der vom Bundesministerium fr Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft(ehemaliges BMWF) initiierten Frderschiene Sparkling Science umgesetzt wurden:2008 - 2010 Tricks of the Trade Feldforschung mit Schler_innenund 2013 - 2015Grenzgnge Feldforschung mit Schler_innen. Unser Forschungsteam bestand ausmehreren Sozial- und Kulturwissenschaftler_innen, die teilweise auch ber Erfahrung inder Kinder- und Jugendarbeit verfgten. Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichengeforscht hatte zuvor aber noch niemand. Wir arbeiteten mit 9 14 jhrigenSchler_innen zusammen, die im ersten Projekt eine Kooperative Mittelschule

    besuchten und im zweiten Projekt eine Schulversuchsschule, die ebenfalls dieSekundarstufe 1 umfasst. Einer der forschenden Schler verfasste selbst einen Beitragzu diesem Handbuch, in dem er forschende jugendliche Kolleg_innen direkt ansprichtund eine Methode zur Ergebnisprsentation vorstellt (Kapitel 29).

    Unser Ziel war es in einem partizipativen Prozess gemeinsam mit den Kindern undJugendlichen Teile ihrer Lebenswelt zu beforschen. Fr uns Wissenschaftler_innenerschloss sich so ein Forschungsfeld, zu dem wir sonst kaum direkten Zugang gefundenhtten, und fr die Schler_innen ergab sich so die Mglichkeit das reflexive Potential

    sozialwissenschaftlicher Forschung kennenzulernen, um ihre Lebenswelt kritisch zuhinterfragen. Fuball, Chatten, Geschwisterbeziehungen, Comics und Graffiti,Kantinenessen, Mehrsprachigkeit oder Berufsperspektiven waren einige derbearbeiteten Themen, die zu interessanten Erkenntnissen fhrten. DieHerangehensweisen und Methoden sozialwissenschaftlicher Forschung fr diegemeinsame Arbeit mit jungen Forscher_innen nutzbar zu machen, warherausfordernd, aufregend und vor allem sehr bereichernd. Anstze der PartizipativenAktionsforschung (siehe Kapitel 1) gaben uns Orientierung in der Umsetzung unsererIdeen, in der Praxis wurden wir aber immer wieder vor nicht planbare Situationen

    gestellt, in denen wir spontan mit methodischen, didaktischen und auchgruppendynamischen Schwierigkeiten kreativ umgehen mussten. Dieses Handbuchstellt eine Sammlung von Erfahrungen dar, die wir im Laufe unserer Projekte gemacht

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    Einleitung0 A

    haben und eine berarbeitung bzw. Erweiterung der Trickkiste frsozialwissenschaftliches Arbeiten, die 2010 im Rahmen des Projekts Tricks of the Tradeentstanden ist (Tricks 2010). Auch wenn es in unseren Projekten manchmal so schien,als sei zuerst primr Chaos produziert worden, bevor etwas Konstruktives entstehen

    konnte, knnen wir die sozialwissenschaftliche Forschung mit Kindern undJugendlichen aus vollem Herzen empfehlen, da dies eine sehr lustvolleZusammenarbeit und eine ungemein reichhaltige und interessanteErkenntnisproduktion ermglicht, von der Wissenschaftler_innen, begleitendeErwachsene sowie Kinder und Jugendliche ungemein profitieren knnen. DiesesHandbuch soll eine Untersttzung dafr sein eine Art Leitfaden, der Wissenvermittelt, Orientierung gibt, aber auch dazu anregt, eigene Ideen einzubringen undmit unvorhersehbaren Situationen kreativ umzugehen.

    In den einfhrenden Texten zu Beginn (Kapitel 1-4) mchten wir sozialwissenschaftlicheHintergrnde vorstellen und verstndlich machen, warum es interessant und sinnvollist, gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen einen forschenden Blick auf ihreLebenswelt zu richten. In Kapitel 1 Was ist Sozialforschung werden Leitideen undGrundbegriffe der sozialwissenschaftlichen Forschung vorgestellt. Im Kapitel Warumsozialwissenschaftlich Forschen mit Kinder und Jugendlichen werden die Vorteile, diediese Form der Zusammenarbeit fr alle Beteiligten hat, beschrieben. Im drittenKapitel Forschende Haltung werden Einstellungen und Blickpunkte vermittelt, die inder Sozialforschung wesentlich sind und die sich mitunter von pdagogischen

    Zugngen unterscheiden. In Kapitel 4 zu Forschungsethik werden wichtige vorab zuklrende ethische Fragen zur Forschung mit Kindern und Jugendlichen erlutert. Indiesen allgemeinen Kapiteln werden die wichtigsten inhaltlichen Punkte am Ende ineinem Kasten zusammengefasst.

    Der grte Teil des Buches (Kapitel 5-29) besteht aus Beschreibungen vonForschungsverfahren und -methoden. Kapitel 5 beschreibt zunchst den blichenAblauf eines Forschungsprojektes und erklrt die unterschiedlichen Phasen, die dabeidurchlaufen werden. In Kapitel 6 wird dies anhand eines Beispielablaufes konkret

    verdeutlicht. Die weiteren Kapitel beschreiben konkrete Forschungsmethoden. Zudiesem Zweck wurden wissenschaftliche Methoden adaptiert und didaktisch soaufbereitet, dass sie den Bedrfnissen und Kompetenzen junger Forscher_innengerecht werden. Durch Anwendungsbeispiele aus der Praxis wird dies veranschaulichtund nachvollziehbar gemacht.

    Die Methodenbeschreibungen sind nach ihrem Ablauf im Forschungsprozessgeordnet. Kapitel 7 bis 14 behandeln Methoden, die whrend des gesamtenProjektverlaufes durchgehend (z.B. Kapitel 7: Forschungstagebuch) oder immer wieder(z.B. Kapitel 11: Begriffebox; Kapitel 12: Soziometrie) angewandt werden knnen. Inden Kapiteln 15 bis 17 folgen Methoden, die helfen eine Forschungsfrage zuentwickeln (z.B. Kapitel 17: das Museum fr Sozialforschung), in Kapitel 18 bis 22 jene

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    Einleitung 0 A

    zur Datenerhebung (z.B. Kapitel 19: Qualitative Einzelinterviews; Kapitel 22:Fragebogen), in Kapitel 23 bis 26 jene zur Datenanalyse (z.B. Kapitel 24: Interviewsauswerten Stop & Go) und in Kapitel 27 bis 29 jene zum Projektabschluss und zurPrsentation der Ergebnisse (z.B. Kapitel 28: Quiz). Ganz am Ende findet sich ein

    Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe noch einmal kurz und bndig erklrt werden.

    Jede Methodenbeschreibung beginnt mit einer kurzen Darstellung des notwendigenMaterials, einer Zeitangabe, die sich fr die Durchfhrung als sinnvoll erwiesen hat, unddem vorrangigen Ziel der Methode. In den Texten wird beschrieben, was die Methodeist, wie sie durchgefhrt wird und was sie jeweils leisten kann. Danach folgt meistensein Anwendungsbeispiel aus unserer Zusammenarbeit mit den Schler_innen. AmEnde sind Tipps & Tricks zu finden, in denen sinnvolle Varianten oder Ergnzungenbeschrieben werden.

    Whrend der Aufbau der Texte immer gleich ist, variiert die Lnge. Vor allem unter denprozessbergreifenden Methoden und den Methoden zum Finden einerForschungsfrage sind einige Verfahren beschrieben, die recht knapp und einfach zumachen sind. Diese entsprechen nicht dem klassischen Methodenkanon in denSozialwissenschaften, sondern sind meist von uns fr die Forschung mit Kindern undJugendlichen adaptierte Ideen, Spiele oder didaktische Methoden. Dementsprechendist auch ihre Beschreibung hier krzer und wir gaben ihnen den Namen Mini-Methoden. Die Einordnung der jeweiligen Methoden in den Forschungsablauf (A=

    allgemeiner Text, G = bergreifende Methode ber den gesamtenForschungsprozess, Datenerhebung = DE, Datenanalyse = DA, Prsentation = P) sowieihre Eigenschaft als klassische Methode (M) oder als Mini-Methode (M-M) werdenin der farblichen Gestaltung des Inhaltsverzeichnisses und den Kurzbezeichnungen inder Kopfleiste sichtbar gemacht.

    Diese Aufzhlung der Forschungsmethoden, die mit Kindern und Jugendlichen gutangewandt werden knnen, ist natrlich nicht vollstndig und kann von allen erweitertwerden, die selbst mit Kindern und Jugendlichen forschen. Wir haben in diesem Buch

    selbst eine Auswahl getroffen, die unseren Ressourcen (d.h. vor allem der Qualittunserer eigenen Aufzeichnungen und des gesammelten Datenmaterials) geschuldet ist.

    Was wir in diesem Handbuch nicht anbieten knnen ist ein Rezept, nach dem einpartizipatives Forschungsprojekt abluft ist jedes dieser Projekte doch abhngig vonden konkreten zeitlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen, den Interessender Forschungsgruppe und von der Forschungsfrage, die beantwortet werden soll. Esist also immer notwendig aus dem Potpourri der Methodensammlung Ntzliches undPassendes auszuwhlen und auszuprobieren. Wir mchten auch festhalten, dass einscheinbares Scheitern an einer Methode (beispielweise konnten die gewnschtenDaten nicht gesammelt werden oder die Analyse ergab scheinbar ohnehin Bekanntes)

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    Einleitung0 A

    oft ein wichtiger Zwischenschritt ist, um ber sich und die soziale Umwelt, in der dieForschung stattfindet, zu lernen.

    Wir hoffen mit diesem Handbuch Lust auf gemeinsame Forschungsttigkeiten mit

    Kindern und Jugendlichen zu machen und eine praktische Anleitung zu geben, wiedies mglich ist. Neugierde und Abenteuerlust sind allerdings Voraussetzungen fr allediejenigen, die sich auf die Erkundung bekannter und unbekannter Lebenswelteneinlassen wollen. Wer sich intensiver mit dem Thema sozialwissenschaftlicherForschung mit Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen mchte, dem empfehlenwir unsere Publikation Partizipative Aktionsforschung mit Kindern und Jugendlichen(Whrer et. al. im Erscheinen), die im Rahmen unserer Forschungsarbeit entstanden ist.

    PS: Geschlechtsneutrale Schreibweise

    Wir haben uns in diesem Handbuch fr eine geschlechtsneutrale Schreibweiseentschieden. Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Untersuchungen, die zeigenkonnten, dass mnnliche Begriffe vor allem mit mnnlichen Personen assoziiert werdenund nicht benannte Personen auch in den Assoziationen nicht auftauchen, (Braun et al.2007) knnen und wollen wir nicht davon ausgehen, dass automatisch jene Personenmitgemeint sind, die explizit nicht erwhnt werden. Das betrifft einerseits Frauen undMdchen, die in mnnlichen Formen nicht reprsentiert sind, andererseits auchPersonen, die sich nicht nur einem der beiden Geschlechter Mann oder Frau bzw.Bub oder Mdchen zuordnen wollen. Um dies sichtbar zu machen, haben wir

    geschlechtsneutrale Formulierungen mit dem sogenannten Unterstrich gewhlt, wievon S_he (2003) vorgeschlagen. Wir schreiben also beispielsweise Pdagog_innen,in denen mnnliche und weibliche Personen genannt werden sowie ein ZwischenraumPlatz fr jene symbolisieren soll, die sich keiner dieser beiden Varianten zuordnenwollen.

    LiteraturBraun, Friederike / Gottburgsen, Anja / Sczesny, Sabine / Stahlberg, Dagmar (1988): KnnenGeophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. In: Zeitschrift frGermanistische Linguistik(ZGL) 26: 265283.

    S_he (2003): Performing the Gap. Queere Gestalten und geschlechtliche Aneignung. In:Arranca28. http://arranca.org/ausgabe/28/performing-the-gap (Zugriff 17.1.2016).

    Tricks (2010): Eine Trickkiste. http://tricksofthetradeproject.info/science/eine-trickkiste/ (Zugriff17.2.2015).

    Whrer, Veronika / Wintersteller, Teresa / Arztmann, Doris / Harrasser, Doris / Schneider, Karin(im Erscheinen): Partizipative Aktionsforschung mit Kindern und Jugendlichen. VonSchulsprachen, Liebesorten und anderen Forschungsgruppen. Wiesbaden: Springer VS.

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    Was ist Sozialforschung? 1 A

    1. Was ist Sozialforschung?von Veronika Whrer

    Um mit Kindern und Jugendlichen sozialwissenschaftlich zu forschen, ist es sinnvoll

    zuerst ein paar Grundbegriffe und Leitideen aus den Sozialwissenschaften vorzustellen.Die Sozialwissenschaften sind jene Wissenschaften, die sich mit Menschen in ihrengesellschaftlichen Zusammenhngen beschftigen. Oder anders gesagt: Es werdenFragen danach gestellt, wer was wie und warum tut und in Bezug auf die sozialeUmgebung und die gesellschaftlichen Strukturen beantwortet. Zu denSozialwissenschaften gehren die Soziologie, die Politikwissenschaft, die Ethnologie,aber auch Geschichte, Geographie, Medienwissenschaften oder Psychologie knnensozialwissenschaftlich betrieben werden, wenn die Fragehaltung und dieVerfahrensweisen dem entsprechen.

    ForschungsparadigmenIn den Wissenschaften gibt es verschiedene so genannte Paradigmen (also in etwawissenschaftliche Schulen oder Herangehensweisen), die sich in ihrem Verstndnisdavon, was gute Forschung ausmacht, nicht unbedingt einig sind. Ein bis heute in derWissenschaft dominantes Paradigma ist das der positivistischen Wissenschaft, esbesagt dass Wissenschaft universell gltig sei, wertfrei und objektiv sein solle. Letzteresbedeutet, dass ein Ergebnis so zustande gekommen sein soll, dass jede andere Personunter gleichen Umstnden zu dem gleichen Ergebnis kommen knnte.

    Das positivistische ParadigmaIn der Sozialforschung wird dieses Paradigma oft in der so genannten quantitativenSozialforschung vertreten. Diese arbeitet, wie der Name sagt, mit gut quantifizierbarenDaten, d.h. zumeist mit standardisierten Fragebgen oder Interviewleitfden undstatistischen Verfahren. Denn dabei kann der Einfluss eines_r einzelnen Forscher_in aufdas Ergebnis mglichst gering gehalten werden. Auch eine grtmgliche Distanz zuden Forschungspersonen soll diesen geringen persnlichen Einfluss auf dieForschungsergebnisse gewhrleisten.

    In dieser Form der Forschung wird meist deduktiv vorgegangen, d.h. vomAllgemeinen zum Besonderen schlieend. Dabei geht der_die Forscher_in zunchstvon einer so genannten Hypothese aus, das ist eine Vermutung ber einenZusammenhang (z.B. Frauen verdienen schlechter als Mnner, auch wenn sie gleichausgebildet sind) und formuliert eine Forschungsfrage, mit der er_sie diesenZusammenhang berprfen kann (z.B. Verdienen Frauen weniger als ihre mnnlichenKollegen, wenn diese in der gleichen Branche ttig sind und die gleiche Ausbildunghaben?). Dann wird versucht diese Frage zu operationalisieren, d.h. bearbeitbar zu

    machen. Der_die Forscher_in berlegt sich also, was er_sie konkret wie untersuchenmuss, um diese Frage beantworten zu knnen (z.B. einige Betriebe einer bestimmtenWirtschaftsbrache auswhlen und eine Stichprobe von weiblichen und mnnlichen

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    Was ist Sozialforschung?1 A

    Angestellten des mittleren Managements zusammenstellen, die nach ihremEinkommen befragt werden. Diese Antworten werden dann mit den Lebenslufen undden Arbeitserfahrungen verglichen). In der quantitativen Sozialforschung sindReprsentativitt, Reliabilitt und Validitt die zentralen Gtekriterien fr

    wissenschaftliche Forschung.

    Reprsentativitt bedeutet, dass die Ergebnisse, die in einer kleineren Gruppe vonPersonen herausgefunden werden, auch wirklich auf die ganze Grundgesamtheit derBevlkerung, fr die die Fragestellung formuliert war, bertragbar ist. Ein klassischesBeispiel dafr sind die Wahlhochrechnungen: Hier muss anhand von Interviews mitwenigen Whler_innen auf die Gesamtheit der wahlberechtigten Bevlkerungsterreichs geschlossen und hochgerechnet werden.

    Reliabilitt (oder Zuverlssigkeit) bedeutet, dass eine Untersuchung unter gleichenBedingungen auch von einer_m anderen Forscher_in zu den gleichen Ergebnissenfhren muss. Angestrebt wird also die Wiederholbarkeit der Ergebnisse unter gleichenBedingungen. Dies ist naheliegender Weise bei standardisierten Fragebgen oderstatistischen Berechnungen leichter gegeben als bei sogenannten interpretativenVerfahren, die weiter unten beschrieben werden.

    Unter Validitt (oder Gltigkeit) wird verstanden, dass Methode undUntersuchungsanordnung daraufhin berprft werden mssen, ob sie auch das

    messen, was gemessen werden soll. Hier geht es also darum, ob eineForschungsmethode oder ein Forschungsdesign also die Abfolge aller gewhlterMethoden zur Forschungsfrage passt. So kann ich im oben genannten Beispiel einerUntersuchung ber gleiche oder ungleiche Lhne von Mnnern und Frauen diese zwarin Interviews nach ihrem monatlichen Einkommen fragen, wenn ich dies aber alseinzige Datenquelle heranziehe ohne andere Daten wie beispielsweise Aussagen derPersonalabteilung, Lohnzettel, etc. ebenfalls zu erheben, werde ich nur ungenaueInformationen erhalten, auf deren Basis kaum sichere Ergebnisse errechnet werdenknnen.

    Hinter diesen Kriterien liegt also die Vorstellung, dass die Erfassung und Wiedergabeeiner sozialen Realitt neutral erfolgen kann, die dafr von subjektiven Einflssen die als Strfaktoren gelten befreit werden sollte.

    Das interpretative ParadigmaIn der qualitativen Sozialforschung oder auch dem interpretativen Paradigma, wirdhingegen ein etwas anderer Ansatz vertreten: Es wird davon ausgegangen, dassForschung immer subjektiv ist und nie vllig wertneutral sein kann: Von der Auswahlder Forschungsthemas und der Forschungsfrage, ber die Form der Datenerhebungund der Auswahl der befragten Personen bis zur Analyse und der Prsentation steheneine Menge kleiner Entscheidungen, die der_die jeweilige Forscher_in persnlich

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    Was ist Sozialforschung? 1 A

    treffen. Aus all diesen die persnlichen Standpunkte, Vorlieben, Einstellungen, etc.des_der Forscher_in herausrechnen zu wollen, scheint bestenfalls nherungsweisemglich. Daher wird im interpretativen Paradigma nicht die Neutralisierung subjektiverEinflsse angestrebt, sondern ein bewusster und selbstreflexiver Umgang damit.

    Qualitative Sozialforschung funktioniert zumeist explorativ, d.h. es werden keinebestehenden Hypothesen geprft, sondern es soll etwas herausgefunden werden, vondem noch nichts Genaues bekannt ist. Hier werden also an konkreten Beispielen einesAusschnitts der sozialen Welt (z.B. einer Schulklasse) bestimmte Zusammenhnge erstherausgearbeitet. Daher werden in qualitativen Forschungen Forschungsfragen oftrecht breit gestellt. Denn es gilt mglichst offen an das Forschungsfeld heranzugehen.Konkretere Fragestellungen werden erst im Laufe der Forschungsttigkeit formuliert.

    Qualitative Sozialforschung hat auch andere Richtlinien. Der Soziologe Siegfried

    Lamnek (2005) nennt beispielsweise: Offenheit, Forschung als Kommunikation,Prozesscharakter von Forschung und Gegenstand, Reflexivitt von Gegenstand undAnalyse, Explikation, und Flexibilitt. Wichtig ist dabei vor allem, dass die Personen imForschungsfeld mit ihrem Wissen und ihren Interpretationen ihrer sozialen Realitternst genommen werden. Sie werden nicht primr als Datenlieferant_innen, sondernals Expert_innen ihrer Lebenswelt verstanden. Dementsprechend wird die Interaktionund Kommunikation zwischen Forscher_innen und Beforschten als wichtiger Teil derForschung gesehen (Forschung als Kommunikation). Qualitativ arbeitendeForscher_innen sollen mglichst offen fr Unvorhergesehenes sein und ihre Methoden

    den Anforderungen des Feldes anpassen (Offenheit, Prozesscharakter von Forschung,Flexibilitt). Es wird anerkannt, dass Interaktionen und Analysen in einemForschungsprozess notwendigerweise subjektiv sind. D.h. Forschungssituationen sindnicht in diesem Sinne von anderen Personen wiederholbar. Es soll aber genaudokumentiert werden, wie der_die Forscher_in zu ihren Ergebnissen gekommen ist,sodass sie von anderen nachvollzogen (oder angezweifelt) werden knnen(Explikation).Es wird davon ausgegangen, dass sich Einzelflle reflexiv auf die Gesamtgesellschaftbeziehen, d.h. konkret, dass sich in jeder Situation und Interaktion Muster und

    Strukturen zeigen, die auf gesamtgesellschaftliche Regeln verweisen (Reflexivitt vonGegenstand). So knnen also anhand einzelner Flle und kleiner Gruppen Musteraufgezeigt werden, die Wesentliches ber das zugrunde liegende soziale Systemaussagen. Zudem wird beachtet, dass die erhobenen und analysierten Daten einenmomentanen Zustand eines Feldes beschreiben, das aber seinerseits nicht statisch istund sich also selbst weiterentwickelt und verndert (Prozesscharakter vomGegenstand). Nicht zuletzt sind ja die Forscher_innen selbst ein Einfluss, der auf dasForschungsfeld wirkt und dieses verndert. Demnach ist ein weiteres wichtigesAnliegen der qualitativen Sozialforschung, den eigenen Einfluss auf das Forschungsfeldund auch auf die Forschungsergebnisse mitzuerheben und zu analysieren (Reflexivittvon Analyse).

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    Was ist Sozialforschung?1 A

    Partizipative AktionsforschungPartizipative Aktionsforschung (PAR) ist eine Herangehensweise, die einigeGemeinsamkeiten mit qualitativer Sozialforschung aufweist, sich aber in einigenwichtigen Punkten unterscheidet. PAR ist zunchst aktionsorientiert, das heit sie

    beginnt bei einer Frage oder einem Problem, das sich in der Praxis stellt. Wie YolandWadsworth (1998) festhlt, beginnt Partizipative Aktionsforschung meist mit einemInnehalten, also mit einer Problemdefinition. Dafr mssen Lsungen gesucht werden.Eine Mglichkeit zu Lsungen zu kommen, ist eine sozialwissenschaftlicheUntersuchung der Missstnde. Dies fhrt uns zum vielleicht wichtigsten Unterschiedzwischen PAR und anderen sozialwissenschaftlichen Herangehensweisen: DieUnterscheidung zwischen Forschenden und Beforschten wird aufgeweicht oder sogarganz aufgelst. Das heit, dass die Personen, die sonst beforscht werden, nicht nurin der Befragung als Expert_innen ihrer Lebenswelt ernstgenommen werden, sondern

    als Ko-Forscher_innen an der ganzen Forschung mitbeteiligt sind (vgl. Bergold /Thomas 2010). Oft kommt schon die Fragestellung bzw. der Wunsch nach einersozialwissenschaftlichen Forschung von ihnen. Die ausgebildetenSozialwissenschaftler_innen werden im Laufe des Forschungsprozesses zu Coaches undBegleitenden von Forschungsprozessen, die mehrheitlich in den Hnden der Personenliegen, die die Forschung in Auftrag gegeben haben. Die Ideen dahinter sind, erstens,dass diese Personen ihre Lebenswelt selbst besonders gut kennen, dass sie auch dieerzielten Ergebnisse und die mglichen Umsetzungen dieser Ergebnisse daher selbstam besten einschtzen knnen, zweitens, dass das Durchfhren von Sozialforschungen

    erlernbar ist und drittens, dass es eine wichtige Kompetenz ist, die eine ermchtigendeKomponente fr die Personen im Feld hat (vgl. von Unger 2014).

    Was ist den Anstzen gemeinsam?Obwohl quantitative und qualitative Anstze hier gegenbergestellt wurden und dieseDifferenzierung in vielen Lehrbchern zu finden ist, wird sie auch immer wiederkritisiert. In der Praxis gibt es zahlreiche Mischformen und Kombinationsvarianten.Methodentriangulierung ist der Fachbegriff dafr, wenn unterschiedliche Verfahrenzur Datengewinnung und Datenanalyse kombiniert werden, um einen guten und

    tiefgehenden Einblick in ein Forschungsfeld zu bekommen. Die unterschiedlichenAnstze werden hier nicht zuletzt deshalb in dieser Form gegenbergestellt, um zuzeigen, dass die Bedeutung und die Bewertung dessen, was Forschung ist undleisten soll, auch innerhalb der sozialwissenschaftlichen Community keineswegseinheitlich sind.

    Bei aller Verschiedenheit der Paradigmen und Vorgehensweisen zeichnet sichwissenschaftliche Forschung aber doch stets dadurch aus, dass (Forschungs-)Fragen inden meisten Fllen nicht zu klaren Antworten, sondern zu weiteren Fragen fhren diese Fragen sind dann aber auf hherem Niveau angesiedelt: D.h. ich wei nunmehr ber meinen Forschungsgegenstand und kann przisere und interessantereFragen stellen als bei der ersten Forschung(-setappe).

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    Was ist Sozialforschung? 1 A

    Auerdem erfordert jede wissenschaftliche Forschung Neugierde und Offenheit, damitmglichst unvoreingenommen an neue Themen und Forschungsfelder herangegangenwerden kann1. Bewertungen von Ideen oder von Wissen sind in der wissenschaftlichenForschung hinderlich, weil sie tendenziell den Blick verstellen. Wir haben unsere

    Versuche den forschenden Kindern und Jugendlichen und ihren Kontexten mglichstunvoreingenommen gegenberzustehen und uns berraschen zu lassen im Teamauch pragmatische Naivitt genannt. Denn nur, wenn ich versuche, einemForschungsfeld positiv und mglichst vorurteilslos gegenberzustehen, bin ich offenfr neue Entdeckungen, fr berraschungen und Unvorhergesehenes und genau dassind ja besonders interessante Forschungsergebnisse.

    Was machen wir? Und wo steht dieses Handbuch?Unsere eigene Herangehensweise, und die in diesem Handbuch am hufigsten

    geschilderte, entspricht dem interpretativen Paradigma bzw. der partizipativenAktionsforschung. Obwohl in der Forschung mit Kindern und Jugendlichen die IdeeSozialforschung zu betreiben zumeist zuerst von den Erwachsenen eingebracht wird, istdas Ziel, ihnen zunchst die wichtigsten Begriffe und Methoden zu vermitteln, damit siedann selbst forschen knnen. D.h. sie selbst knnen und sollen Forschungsthemen undfragen finden, die sie interessieren, werden dann dabei untersttzt die passendenMethoden zu whlen, die Daten selbst zu erheben, zu dokumentieren undauszuwerten. In all diesen Phasen stehen Betreuungspersonen untersttzend zur Seite,geben Hinweise und Tipps, fassen zusammen und strukturieren, wenn notwendig.

    Doch die Entscheidungen treffen zu einem groen Teil die Kinder und Jugendlichenselbst. Auch die Prsentation der Ergebnisse findet mit den Jugendlichen gemeinsamstatt und in einem Medium, das ihnen naheliegt bzw. das sie gewhlt haben.

    Die im weiteren Verlauf des Handbuches genannten Methoden und Vorgehensweisenentstammen unterschiedlichen Schulen und Herangehensweisen. In manchen Fllenentsprechen sie klassischen Sozialforschungsmethoden (z.B. qualitatives Interview,Fragebogen, teilnehmende Beobachtung), manchmal sind sie Abwandlungen (z.B.Interview auswerten mit Stop & Go) oder Erweiterungen (z.B. Inhaltsanalyse von

    Chatprotokollen; Schulspaziergang) aus dem breiteren Kreis der in der (partizipativen)Sozialforschung angewandten Methoden. Andere Methoden haben ihre Wurzeln inanderen Bereichen, wie der Vermittlungsarbeit oder der Gruppendynamik und wurdenvon uns in der Zusammenarbeit mit den Kindern und Jugendlichen zuForschungsmethoden weiterentwickelt (z.B. Soziometrie, ForschungsrelevanteAuflockerungsspiele, Begriffebox). Wir erachten diese Methoden als gleichwertig undgeben prinzipiell keiner den Vorzug vor anderen. Je nach konkretem Kontext,

    1 Unvoreingenommenheit ist natrlich nur ein angestrebter Nherungswert: Niemand ist vllig

    vorurteilsfrei. Wir haben alle bestimmte Ideen und Meinungen und knnen nicht immer umhin spontanzu werten. In der Wissenschaft wird jedoch mit verschiedenen Methoden versucht, diese entwedergering zu halten (positivistisches Paradigma) oder zu reflektieren und damit sowohl offen zu legen alsauch bearbeitbar zu machen (interpretatives Paradigma).

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    Was ist Sozialforschung?1 A

    Interesse, Forschungsfrage und Zusammensetzung an Kindern und Jugendlichen sindunterschiedliche Methoden besonders geeignet.

    Was ist Sozialforschung die wichtigsten Punkte

    Es gibt unterschiedliche Paradigmenmit unterschiedlichen Ideen davon, was wesentlichePrinzipien und Gtekriterien sozialwissenschaftlicher Forschung sind. Die wichtigsten sinddie folgenden:

    Positivistisches Paradigma Interpretatives Paradigma

    Im positivistischen Paradigma wird eine Idee von wertneutraler Wissensproduktionverfolgt. D.h. die Erfassung und Wiedergabe einer sozialen Realitt soll mglichstobjektiv erfolgen, indem sie von subjektiven Einflssen mglichst befreit wird. Die

    Ergebnisse sollen prinzipiell reproduzierbar sein. Oft werden Hypothesen, das heitvorab formulierte Ideen von einem sozialen Zusammenhang, geprft.Im interpretativen Paradigma wird von der notwendigen Subjektivitt jedesStandpunktesund jeder Forschung ausgegangen. Um Objektivitt zu gewhrleisten wirdhier die Reflexion und Explikation der eigenen Standpunkte und der eigenen

    Vorgehensweisen gefordert. In diesen Forschungen werden Hypothesen oft erstgeneriert.

    Trotz aller Unterschiedlichkeit gibt es einige verbindende Grundhaltungen: Neugierde,eine unvoreingenommene, nicht-wertende Haltung gegenber dem Forschungsfeld

    und eine gewisse Offenheit fr berraschendes ist fr jede Form der Sozialforschungnotwendig.

    Eine eigene sozialwissenschaftliche Herangehensweise, die im wissenschaftstheoretischenRahmen des interpretativen Paradigmas arbeitet, ist die Partizipative Aktionsforschung(PAR). Sie geht von Fragestellungen aus der Praxis aus und arbeitet dementsprechendaktionsorientiert. Die Personen im Forschungsfeld werden dabei als Ko-Forschendemiteinbezogen. Ihre mglichst gleichberechtigte Beteiligung an der Forschung nimmt ihreExpertise im Forschungsfeld ernst, bringt der Wissenschaft neue Blickwinkel, ermglichtden Ko-Forscher_innen die eigene Umgebung forschend zu verstehen und zu hinterfragen

    und hilft bei der Implementierung der Ergebnisse.

    LiteraturBergold, Jarg / Thomas, Stefan (2010): Partizipative Forschung. In: Mey, Gnter / Mruck, Katja,Hg.: Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie. Wiesbaden: Springer VS: 333-344.

    Diekmann, Andreas (2008): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden. Reinbek beiHamburg: Rowohlt (19. Aufl, vollst. berarb. und erw.).

    Lamnek, Siegfried (2005): Qualitative Sozialforschung, Weinheim: Beltz (4.Aufl, vollst. berarb.).

    Flick, Uwe / Kardoff, Ernst von / Steinke Ines, Hg. (2009): Qualitative Forschung. Ein Handbuch.Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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    Was ist Sozialforschung? 1 A

    Noffke, Susan / Somekh, Bridget (2008): Action Research. In: Somekh, Bridget / Lewin, Cathy,Hg.: Research Methods in the Social Sciences. Los Angeles et al: Sage: 89-96.

    Von Unger, Hella (2014): Partizipative Forschung. Einfhrung in die Forschungspraxis.Wiesbaden: Springer VS.

    Wadsworth, Yoland (1998): What is Participatory Action Research? Action ResearchInternational. Paper 2. http://www.aral.com.au/ari/p-ywadsworth98.html(Zugriff 08.02.2015).

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    Warum sozialwissenschaftlich Forschen mit K & J?2 A

    2. Warum sozialwissenschaftlich Forschen mit Kindern undJugendlichen?von Doris Arztmann

    Forschung mit und von Kindern und Jugendlichen Was bringt das und warum solltendas begleitende Erwachsene in der Umsetzung untersttzen? Das sind Fragen, dienoch vor der forschenden Auseinandersetzung stehen, fr die dieses HandbuchAnleitungen bietet. Der vorliegende Text gibt eine kurze Einfhrung zu diesenwichtigen Fragen und nennt Beweggrnde, die deutlich fr das Forschen mit Kindernund Jugendlichen sprechen. Darber hinaus erzhlt der Text, welche Arten von Wissendurch das Forschen von Kindern und Jugendlichen entstehen knnen. Zuletzt verweister auf mgliche Konfusionen zwischen den sozialwissenschaftlichen und dendidaktischen Bezeichnungen, vor allem im Kontext Schule.

    To have a Voice: Eine Stimme haben. Die Anerkennung von Kindern undJugendlichen als Akteur_innen mit eigenen RechtenDas Forschen mit und von Kindern und Jugendlichen fngt deren Perspektiven auf diesie umgebende Umwelt ein, es nimmt sie als Handelnde und, mehr noch, als Wissendeernst. berdies frdert Forschen eine neue Perspektive auf (bekannte) sozialeKontexte, da es das Reflektieren von eigenem Handeln und das Hinterfragen vongesellschaftlichen Strukturen einbt. Nicht zuletzt bietet der forschende Blick vonKindern und Jugendlichen ein Reservoir an vielen interessanten Fragen zu der sie

    umgebenden Lebenswelt, dies bringt neue Perspektiven, denen Erwachsene auf Grundihres Alters bereits entrckt sind. All dies sind Argumente fr die Hinwendung zurPerspektive von Kindern und Jugendlichen. Dennoch sind Kinder und Jugendliche alsaktiv Forschende in der Sozialwissenschaft ein noch im doppelten Wortsinn jungesPhnomen. Forschung von und mit diesen als Akteur_innen gibt es erst seit einigenDekaden. Ein wesentlicher Moment fr eine Hinwendung zu Kindern und Jugendlichenals Forscher_innen bot die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von 1989,die sich zum Ziel setzte, Kindern und Jugendlichen eine Stimme zu geben. EineStimme zu haben bedeutet, wie es in Artikel 12 und 13 des Dokuments nachzulesen

    ist, dass Kinder in alle Entscheidungen, die ihre Leben betreffen, involviert und zudiesen befragt werden (vgl. UN-Kinderrechtskonvention 1989).

    Der Perspektivenwechsel weg von einer Sichtweise, die Kindern und Jugendliche als(Entscheidungs-)Abhngige von Familien- oder Schulsystemen sieht, hin zurAnerkennung von diesen als sozial Agierende mit eigenen Rechten und einer eigenenStimme, hat die sozialwissenschaftliche Kindheits- und Jugendforschung inspiriert. Dieneue rahmende Perspektive auf Kinder und Jugendliche bereitet den Weg fr eineForschung, die Noch-nicht-Erwachsene als Handelnde strker bercksichtigt und

    folgerichtig in Forschungsentscheidungen einbindet. Kinder und Jugendliche werdenso von Forschungsobjekten zu Beteiligten. Also von Personen, ber dieWissen durchForschung zusammen getragen wird, zu Handelnden, die Forschungsprozesse wie

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    Warum sozialwissenschaftlich Forschen mit K & J? 2 A

    Ergebnisse mitgestalten. Akteur_in sein bedeutet hier den Prozess der Forschungwesentlich durch Entscheidungsbefugnis und mit einer eigenen (gehrten) Stimmemitzugestalten. Je nach dem Grad der Entscheidungsmglichkeiten imForschungsprozess sind Kinder und Jugendliche nun wesentlich beteiligt an der

    Formulierung von Forschungsfragen, sie whlen die Erhebungsmethoden aus und/oderarbeiten mit an der Formulierung der Forschungsergebnisse. Der Grad derInvolvierung im Forschungsprozess kann jedoch variieren. Der Blick auf beteiligendesozialwissenschaftliche Forschungsprojekte mit Kindern und Jugendlichen bildet einSpektrum ab (vgl. Feichter 2015: 68). So kann die Partizipation von Kindern undJugendlichen eine Involvierung in von Erwachsenen durchgefhrte Befragungenmeinen oder aber eine von Kindern initiierte Forschung bezeichnen. Wie dieBildungswissenschaftlerin Helene Feichter bemerkt, finden sich in der fachspezifischenLiteratur Beispiele, wo die Beteiligung von Kinder und Jugendlichen nicht ernst genug

    genommen wird und als zeitgeistige Zierde zu bezeichnen ist. Die Autorin warnt vorhalbherzig durchgefhrten Beteiligungsprojekten, denn diese verkmen zuAlibihandlungen, die den Anforderungen an partizipative Forschung nicht gerechtwerden (siehe dazu auch Hart 1997). Auf der anderen Seite des Beteiligungsspektrumsfinden sich hingegen Forschungsanstze wie die der Kinder- und Jugendforscher_inMary Kellett, die child-led research propagieren, also eine Forschung, die vonKindern und Jugendlichen sogar initiiert und eigenverantwortlich durchgefhrt wird(vgl. Kellett 2005).

    Welche Position Personen in einem Umfeld einnehmen hat Auswirkung darauf, wie siegehrt werden, welche Mglichkeiten sie haben und wie gro dieEntscheidungsbefugnis ber das eigene Leben ist. Das Anliegen der oben zitiertenKonvention der Vereinten Nationen war es, die Rechte von Kindern und Jugendlichenzu strken. Dadurch sollte deren Mglichkeiten zu sprechen und gehrt zu werden,vergrert und die ungleichen Machtverhltnisse zwischen Erwachsenen und Kindernverflacht werden. Gerade sozialwissenschaftliches Forschen kann zu einerAuseinandersetzung werden, in der auch Stimmen und Personengruppen aktiveinbezogen werden, die gesellschaftliche Randpositionen einnehmen, wie eben Kinder

    und Jugendliche (vgl. Gtsch et al. 2012).

    Der soziale Status Schler_in,Jugendarbeiter_in oder Lehrer_in bringt andere Gestaltungsrume mit sich. In derForschung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist Alter wohl die sichtbarsteDifferenzlinie. Es gibt jedoch noch weitere, die den Forschungsprozess beeinflussen.Unter dem Stichwort Intersektionalitt wird in der sozialwissenschaftlichen Forschungdas Zusammenwirken verschiedener Positionen sozialer Ungleichheit veranschaulichtund analysiert. Darunter fallen Formen von Unterdrckung und Privilegierung aufGrund von Geschlecht, Ethnizitt, Klasse, Nationalitt, Sexualitt oder eben Alter (vgl.Alcoff 2008; Winkler / Degele 2009). Beteiligendes Forschen kann jedoch zu einemReflexionsraum werden, der uns die hierarchischen Beziehungen unter uns genauerergrnden lsst und den Raum ffnet, diese zu berdenken und neue Handlungenauszuprobieren. Ein Anfang ist sicher die kritische Reflexion der eigenen Position im

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    Prozess: In welchen Beziehungen stehe ich zu den forschenden Kindern undJugendlichen? Und in welchen Beziehungen stehe ich zu den involvierten forschendenErwachsenen? Was kann in unserer Forschung gesagt werden, was wird gehrt undwas bleibt unsichtbar? Welchen Interessen arbeitet unser Forschen zu, was wird aus

    den Ergebnissen und wie/von wem wurden diese formuliert?

    Argumente fr das Forschen von Kindern und JugendlichenArgumente, die fr das Forschen von Kindern und Jugendlichen sprechen, teilt dieBildungswissenschaftlerin Helene Feichter (2015) in drei Kategorien ein. Nach derAutorin sind es (a) wissenschaftliche Argumente, (b) politische Argumente und (c)pdagogische Argumente, die auf die Vorteile der Forschung mit Kindern undJugendliche hinweisen. Neben den Erfahrungen im Unterricht erproben Schler_innendurch die Beteiligung am Forschen ihre akademischen Fhigkeiten und Fertigkeiten,

    sie strken persnliche Kompetenzen sowie ihr Verantwortungsbewusstsein ber deneigenen Lernprozess. Die oben schon angefhrte Kinderrechtskonvention der UN willRechte strken und Schulen demokratisieren. Ebenso wird die Bildung vonBrger_innen durch ihre Beteiligung an Forschung als persnlichkeitsstrkendesAnliegen angefhrt. Weitere Argumente fr die Partizipation von Kindern undJugendlichen an sozialwissenschaftlicher Forschung sind die Verbesserung vonInstitutionen (z.B. Schule, Berufsausbildung, Jugendorganisationen) durch dieBeteiligung von Nutzer_innen dieser an einer Evaluation oder die strkere Involvierungvon Kindern und Jugendlichen als Konsument_innen eines Marktes (vgl. Feichter 2015:

    41).

    Forscher_innen wie die schon genannte Mary Kellett sprechen sich fr die Involvierungvon Minderjhrigen in die Forschung aus, da Kinder und Jugendliche die Welt mitanderen Augen betrachten, da sie andere Fragen stellen und weitereFrageperspektiven einbringen darunter auch welche, an die Erwachsene auf Grundihres spezifischen lebensweltlichen Zugriffs nicht denken wrden. Darber hinaushaben Kinder und Jugendliche eigene Anliegen und unmittelbar Zugang zu Kulturenvon Gleichaltrigen (Peers), sind also Insider an Orten und in sozialen

    Zusammenhngen, in denen erwachsene Forscher_innen Auenseiter_innen wren.Die Forschungsanliegen, denen Kinder und Jugendliche Vorzug geben, die Rahmungder Forschungsfragen und die Art, in der Daten gesammelt werden, unterscheiden sichgrundstzlich von der Forschung Erwachsener und all dies kann wertvolle Einsichtenund originelle Beitrge zur Produktion von Wissen liefern (vgl. Kellett 2005). Dieunterschiedlichen Kontexte, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten,profitieren von diesem partizipativen Vorgehen, denn diese bringen bislangunterschtzte Sichtweisen in die jeweiligen Gruppen und Institutionen ein, nachdem siein einem sozialwissenschaftlichem Training auf die Forschungsttigkeit vorbereitetwerden (vgl. Feichter 2015).

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    Welche Fhigkeiten werden erprobt?Sich forschend mit Fragen zu beschftigen ffnet ein Spektrum von Vorstellungen berWissen. Gerade fr Kontexte, die mit Kindern und Jugendlichen befasst sind, bedeutetdas, den Zugang zum Wissenserwerb neu zu berdenken. Im Vordergrund einer

    forschenden Haltung steht Neugierde an einem Themenfeld, das Entwickeln von Ideenund Assoziationen, das Verknpfen von mehreren Perspektiven und ein wachsamesAusloten des Forschungsfeldes, bei dem Vorannahmen und moralische Bewertungen so gut wie mglich in den Hintergrund treten und immer wieder mitreflektiertwerden. Mit dem Fortschreiten des Forschungsprozesses werden mgliche Antwortenauf steigendem Komplexittsniveau gesammelt. Einige Antworten erscheinen immerplausibler, andere stellen sich als wenig plausibel bis unplausibel dar. DieSchler_innen der Forschungsgruppe Machen Unterschiede ein wir kaputt desProjekts Grenzgnge konnte beispielsweise die forschende Haltung dazu nutzen, um

    etwas Distanz zu der als individuell schwierig erlebten unterschiedlichen Behandlungvon Schler_innen im Klassenraum zu gewinnen. Entscheidend dafr war es, amAnfang der gemeinsamen Forschung Klassenkonstellationen und Handlungsmuster,welche die beteiligten Schler_innen wtend machen, anzusprechen. Im Verlauf desProjektes wurden unterschiedliche, am Konflikt beteiligte Personen interviewt und esgelang immer wieder, die Forschungsfrage aus einer anderen Perspektive heraus undmit mehr Kontextinformation der unterschiedlichen Akteur_innen zu diskutieren und zureflektieren.

    Was nehmen die Kinder und Jugendlichen aus Forschungsprojekten mit?Was die Schler_innen in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten lernen knnen,ist nicht nur ein hheres, themenspezifisches Faktenwissen, sondern auch Fhigkeitenwie das Befragen von Sachverhalten, das Diskutieren von Dimensionen einesProblemfeldes, das Generalisieren von Aussagen, die Reflexion ber Themenbereichesowie die Selbstreflexion des eigenen Verhaltens oder der eigenen Einstellungen.Darber hinaus werden weitere Fhigkeiten vertieft wie das Recherchieren zu neuenoder schon bekannten Themengebieten oder das Beobachten von Interaktionen inGruppen (z.B. zwischen Lehrer_innen oder Schler_innen) oder in einem Raum (z. B.

    Fuballplatz, Pausenhof, Jugendclub etc.). Das Zeichnen, das Protokollieren vonZwischenergebnissen, das Schreiben oder das Gestalten von Ergebnissen in Formeines Plakates oder Vortrags sind wiederum Fhigkeiten, die etwa im schulischen wieim forschenden Kontext gebt und vertieft werden. Im Laufe des Forschungsprozesseslernen sie ber soziale Systeme und Institutionen nachzudenken und Strukturen hintereinzelnen Handlungen und Interaktionen zu erkennen. Zu guter Letzt kann es eineselbstermchtigende Erfahrung sein, wenn der individuelle Blick auf die eigene WeltRaum bekommt und sich um die selbst gewhlte Forschungsfrage neue (Wissens-)Dimensionen auftun.

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    Baustellen und KonfusionenFr das sozialwissenschaftliche Forschen mit Kindern und Jugendlichen bietet dieLiteratur einige Bezeichnungen an, beispielsweise Forschung mit Kindern- undJugendlichen, Stimme von Kindern und Jugendlichen, Perspektive von Kindern

    und Jugendlichen, Partizipative Aktionsforschung mit Kindern und Jugendlichen,Kinder und Jugendliche als Ko-Forschende, Peer Evaluation oder Empowermentvon Kindern und Jugendlichen. Diese und weitere Benennungen geben, wie HeleneFeichter (2015) anmerkt, nicht immer Auskunft darber, wie hoch der Beteiligungsgradder Kinder und Jugendlichen im Forschungsprozess selbst ist. Nun gilt es zu fragen:Wie hoch ist der Grad der Entscheidungsmglichkeiten im Forschungsprozess? SindKinder und Jugendliche wesentlich beteiligt an der Formulierung vonForschungsfragen oder formulieren diese die Erwachsenen? Wer whlt dieErhebungsmethoden aus und/oder wer arbeitet mit an der Formulierung der

    Forschungsergebnisse? Handelt es sich um beteiligende Forschungsprojekte, so sindeinige dieser Fragen mit einem ja zu Gunsten der Entscheidungsbefugnis von Kindernund Jugendlichen zu beantworten.

    Weitere Konfusionen in dem verwendeten Vokabular entstehen gerade in schulischenKontexten, wo Konzepte wie Schler_innenforschung zwar Schler_innen in denMittelpunkt der Forschung rcken, allerdings meist als beforschte Objekte behandeln(vgl. Feichter 2015). Ebenso wenig gleichzusetzen sind die partizipativen Ansprcheeiner sozialwissenschaftlichen Forschung, die stets neue und bislang unbekannte

    Forschungsperspektiven anstrebt, mit dem Konzept des forschenden Unterrichts.Letzteres ist eine Unterrichtsmethode, mit der vorwiegend bekannte Experimente(etwa im Physikunterricht) unter Beteiligung von Schler_innen wiederholt werden.Auch der Begriff Schler_innenpartizipation meint in der sozialwissenschaftlichenForschung nicht nur die aktive (aktivierende) Teilnahme am Unterricht. DerPartizipationsbegriff im Forschungskontext geht ber eine kognitive Aktivierung hinausund meint auch die Beteiligung an Fragestellungen, Forschungsmethoden undEntscheidungen im Forschungsprozess (vgl. Feichter 2015). Auch wenn sich noch keineeindeutigen Bezeichnungen fr beteiligende Forschung mit Kindern und Jugendlichen

    durchgesetzt haben, zeugt die Begriffsvielfalt in der Literatur zum Thema von einembelebten Forschungsfeld.

    Darum forschen mit Kindern und JugendlichenForschen kann gerade fr Kinder und Jugendlichen eine lustvolle Art sein, sich Wissenanzueignen, ihre Umgebung und ihre eigenen Handlungs- und Verhaltensweisenreflektieren zu lernen und sich Kompetenzen und Fhigkeiten (z.b. recherchieren,prsentieren, zusammenfassen, Strukturen finden, etc.) anzueignen und zu erfahren,wie die eigene Stimme gehrt werden kann. Fr die beteiligten Erwachsenen ffnetForschen gemeinsame Reflexionsrume, neue Perspektiven auf Gruppen undInstitutionen sowie neue, berraschende Begegnungsarten mit oftmals schonbekannten Kindern und Jugendlichen.

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    Warum sozialwissenschaftlich Forschen mit Kindern und Jugendlichen die wichtigstenPunkte:

    Das Forschen mit und von Kindern und Jugendlichen: fngt deren Perspektiven auf die sie umgebende Umwelt ein, nimmt sie als Handelnde und, mehr noch, als Wissende ernst, frdert eine neue Perspektive auf (bekannte) soziale Kontexte bt das Reflektieren von eigenem Handeln und das Hinterfragen von gesellschaftlichen

    Strukturen, bietet ein Reservoir an vielen interessanten Fragen, bringt neue Perspektiven, denen Erwachsene auf Grund ihres Alters bereits entrckt

    sind.

    Der Partizipationsbegriff im Forschungskontextgeht ber eine kognitive Aktivierung hinausund meint die Beteiligung an Fragestellungen, Forschungsmethoden und Entscheidungen imForschungsprozess. Kinder und Jugendliche werden durch partizipatives Forschen vonForschungsobjekten zu Beteiligten, also von Personen, ber die Wissen durch Forschungzusammengetragen wird, zu Handelnden, die Forschungsprozesse wie Ergebnissemitgestalten.Das muss in Haltungen und beteiligende Praxenbersetzt werden:Im Vordergrund einer forschenden Haltung stehen Neugierde, das Entwickeln von Ideen undAssoziationen, das Verknpfen von mehreren Perspektiven und ein wachsames Ausloten desForschungsfeldes. Vorannahmen und moralische Bewertungen werden immer wieder imProzess mitreflektiert. Fr beteiligende Forschungspraxen ist es notwendig zu fragen, wie hoch

    der Grad der Entscheidungsmglichkeiten im Forschungsprozess ist: sind Kinder undJugendliche wesentlich mitbeteiligt an der Formulierung von Forschungsfragen? Wie whlenwir die Erhebungsmethoden aus und/oder wie arbeiten wir an der Formulierung derForschungsergebnisse?

    Was die Schler_innen in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten lernen knnen,sind neben Faktenwissen ber das gewhlte Themenfeld und eventuell dem Kennenlernenneuer Orte oder Institutionen, vor allem Fhigkeitenwie das Befragen von Sachverhalten, dasDiskutieren von Dimensionen eines Problemfeldes, das Generalisieren von Aussagen, dieReflexion ber Themenbereiche sowie die Selbstreflexion des eigenen Verhaltens oder der

    eigenen Einstellungen.

    LiteraturAlcoff, Linda (2008): The Problem of Speaking for Others. In: Jaggar, Alison M., Hg.: JustMethods. An Interdisciplinary Feminist Reader. Boulder: Paradigm Publishers: 484-495.

    Feichter, Helene (2015): Schlerinnen und Schler erforschen Schule. Mglichkeiten undGrenzen. Wiesbaden: Springer VS.

    Flick, Uwe / Kardow, Ernst von / Steineke, Ines, Hg. (2009): Qualitative Forschung. Ein

    Handbuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.

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    Warum sozialwissenschaftlich Forschen mit K & J?2 A

    Gtsch, Monika / Klinger, Sabine / Thiesen, Andreas (2012): "Stars in der Manege?"Demokratietheoretische berlegungen zur Dynamik partizipativer Forschung. In: ForumQualitative Sozialforschung. 13 (1), Art. 4. http://www.qualitative-research.net/ (Zugriff13.12.2014).

    Hart, Roger (1997): Childrens Participation. The Theory and Practice of Involving YoungCitizens in Community Development and Environmental Care.London: Earthscan.

    Kellett, Mary (2005): Children as active researchers. A new research paradigm for the 21stcentury? NCRM Methods Review Papers NCRM/003.www.ncrm.ac.uk/publications/methods.php (Zugriff 13.12.2014).

    Knoblauch, Hubert (2008): Wissen. In: Baur, Nina / Korte, Hermann / Lw, Martina / Schroer,Markus, Hg.: Handbuch Soziologie. Wiesbaden: VS Verlag fr Sozialwissenschaften: 465-481.

    Winker, Gabriele / Degele, Nina (2009): Intersektionalitt. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten.Bielefeld: transcript.

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    3. Forschende Haltungvon Veronika Whrer

    Aus der in den vorangegangenen Kapiteln gemachten Beschreibung von

    Sozialforschung folgen einige wesentliche Punkte fr eine forschende Haltung:Neugierde, Offenheit, die Fhigkeit sich auf einen Prozess einzulassen, dessen genauerVerlauf und Ausgang zunchst unbekannt sind, und der Versuch sich mit den Kindernund Jugendlichen auf eine annhernd gleichberechtigte Diskussion einzulassen.Daraus resultieren nun einige Parallelen und einige Unterschiede zu einerpdagogischen Haltung.

    Forschende Haltung und Pdagogische Haltung Prioritten, Zeitressourcen undMethoden

    Viele Vertreter_innen des sogenannten teacher research, d.h. also vonsozialwissenschaftlich in der Schule forschenden Lehrer_innen, sowie der Kinder- undJugendforschung betonen, dass sich pdagogische und forscherische Perspektivennicht unhnlich sind: Beide basieren auf Neugierde und einem Wunsch zu lernen,beide ermuntern zu eigenstndigem Denken (Wilson 1995; Baumann 1996; Noffke /Somekh 2008). Wie jedoch der Lehrer David E. Wong (1995) betont, ist es nicht immereinfach oder widerspruchsfrei diese Perspektiven in der konkreten Arbeit eines_einerforschenden Pdagog_in zu verbinden. Er schildert seinen Zwiespalt entweder einereinzelnen Schlerin sehr viel Raum dafr zu geben, ihre Antwort zu formulieren und zu

    reformulieren, um ihren Erkenntnisprozess gut dokumentieren zu knnen, oder allen inder Klasse gleichberechtigt Raum zu geben, ihre Antwortideen zu artikulieren. James F.Baumann (1996) beschreibt zeitliche und organisatorische Widersprche: Er hattebeispielsweise manchmal keine Zeit zu Forschungstreffen zu gehen, weil er fr dieNachmittagsbetreuung der Schler_innen eingeteilt war. Solche Widersprcheentschied er immer zugunsten seiner Rolle als Lehrer.

    Unserer Erfahrung nach benennen Wong und Baumann wichtige Punkte. Whrend einEForscher_in oft gerne mehr Zeit, Ruhe und Abstand htte, um beobachten oder

    reflektieren zu knnen, muss ein_e Pdagog_in in Interaktion bleiben und handeln.Diese Spannung zwischen Reflexionswunsch und Handlungszwang muss jede_rPdagog_in situativ lsen. In ihrem Buch Lehrer erforschen ihre Schule gebenHerbert Altrichter und Peter Posch (1998) einige Anregungen und Tipps dazu, wiediese Reflexion dennoch geleistet werden kann, beispielsweise mit Hilfe einesForschungstagebuches, in dem der eigene Unterricht anhand der Forschungsfrageregelmig reflektiert wird (siehe Kapitel 7). Ein zweiter wichtiger Faktor ist die vonBaumann angesprochene knappe Zeit. Fr viele Pdagog_innen, vor allem fr jene, diein der Schule ttig sind, ist Zeit eine sehr rare Ressource, die dazu ntigt, im

    Zweifelsfall die Lehr- und Betreuungsttigkeit ber die Forschungsttigkeit zu stellen.In den von uns in diesem Handbuch vorgeschlagenen Forschungsprozessen und -methoden mit Kindern und Jugendlichen sind jedoch die Lehr- und

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    Forschende Haltung3 A

    Betreuungspersonen die Begleiter_innen von forschenden Kindern und Jugendlichen,sodass die genannten Schwierigkeiten leichter zu berwinden sind.Sozialwissenschaftliche Forschung wird in diesem Setting also nicht zu einer(potentiellen) Konkurrenz zu pdagogischer Ttigkeit, sondern es wird ein Mittel dazu.

    In Form von Projektwochen oder Betreuungsschwerpunkten kannsozialwissenschaftliche Forschung ein Themenfeld sein, in dem wesentlicheFhigkeiten und Kompetenzen gelernt werden knnen.

    Die Betreuungsperson jugendlicher Forscher_innen nimmt meist eine anleitende,erklrende und betreuende Funktion ein. D.h. sie untersttzt die Kinder undJugendlichen darin, ihre eigenen Forschungsthemen und Fragen zu finden und diesegut umzusetzen. Sie vermittelt den Kindern und Jugendlichen Grundlagen vonsozialwissenschaftlichen Begriffen und Methoden und bietet ihnen damit eine Palette

    an Werkzeugen an, mit denen sie dann selbst operieren knnen. Die Kinder undJugendlichen treffen die wesentlichen Entscheidungen im Forschungsprozess, dieBetreuungsperson untersttzt dabei. Sie wei also im Vorhinein nicht, wie dasEndergebnis des gemeinsamen Prozesses aussehen wird, kann aber in ihrer Begleitungdie Richtung mitbestimmen, in die die Forschung gehen wird.

    Es gilt auch zu bedenken, dass Methoden in der Didaktik und in denSozialwissenschaften zwar den gleichen Namen und manchmal auch einen hnlichenAufbau haben, aber unterschiedliche Ziele verfolgen. Whrend didaktische Methoden

    helfen sollen, Wissen zu vermitteln, sollen wissenschaftliche Methoden dazu verhelfen,wissenschaftliches Wissen herzustellen. Manchmal handelt es sich dabei sogar um diegleichen Verfahren. So kann ein Rollenspiel beispielsweise genauso zur didaktischenVermittlung von neuen Lerninhalten benutzt werden, wie zur Generierung neuenWissens, ein Interview kann das Thema eines Deutschaufsatzes sein oder ein Verfahrenin den Sozialwissenschaften. Der Unterschied besteht darin, wie genau und zu welchemZweck das Verfahren ausgebt wird und wie mit gewonnen Erkenntnissen und Datenumgegangen wird bzw. ob, was und wie analysiert wird. In Kapitel 7 bis 29 diesesHandbuches wird der sozialwissenschaftliche Einsatz vieler Methoden beschrieben und

    erklrt, wie diese funktionieren.

    Forschende Haltung und Pdagogische Haltung Kommunikation,(Un-)Wissenheit und OffenheitEin weiterer wichtiger Punkt ist, dass Erwachsene und Jugendliche in einer forschendenWissensaneignung relativ gleichberechtigt beteiligt sind. Whrend die Kinder undJugendlichen ein Insider-Wissen ber ihre Lebenswelt und einen Wissensvorsprung inBezug auf Jugendpraktiken mitbringen, haben die Erwachsenen ein Hintergrundwissenzu Techniken der Sozialforschung. Beide aber mssen sich auf einenForschungsprozess einlassen, bei dem niemand vorher die Antworten kennt: WievieleKinder das Mensen-Essen mgen, wie die anderen auf eine pltzlich abgesperrteEingangstre reagieren, wie zehnjhrige Kinder mit ihren Geschwistern streiten, etc.

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    sind Fragen, die weder die Erwachsenen noch die Kinder vorher beantworten knnen.Alle mssen gemeinsam neues Wissen kreieren und sind zunchst hnlich unwissend.In jeder Forschungsgruppe gibt es also ltere und jngere Personen, solche, denendas Thema nher ist und andere, denen es fremder ist, welche, die mehr Insider-

    Wissen haben und solche, die ber mehr Hintergrundwissen verfgen. Dies sindgraduelle Wissensunterschiede zwischen allen Beteiligten, die oft quer zur LinieErwachsene Kinder verlaufen und diese Erfahrungs- und Wissensdifferenz, die inBetreuungssituationen sonst oft zentral gesetzt ist, fr den Forschungsprozess wenigerrelevant werden lassen.

    Viele Kinder und Jugendlichen haben zuvor jedoch in der Schule schon ein anderesSystem der Wissensvermittlung und bewertung kennengelernt: Durch Lehrplne undPrferenzen von Lehrer_innen werden bestimmte Themenfelder klar bevorzugt und

    andere als weniger relevant dargestellt. Es gibt ein vorgegebenes Notensystem, dasdie Leistungen der Schler_innen bewertet und dem angesichts der weiterenBildungswege und der beruflichen Zukunft der Kinder und Jugendlichen eine vonauen herangetragene, groe Bedeutung zukommt. Dieses System baut auf derexpliziten Bewertbarkeit und Bewertung von Wissen und Fhigkeiten auf. Um Wissenbenoten zu knnen, werden unter anderem richtige von falschen Antwortenunterschieden. Durch den Lehrplan (und in weiterer Folge den Arbeitsmarkt) wirddefiniert, welches Wissen gewusst werden soll, welches Wissen also besonders relevantist. Obwohl keineswegs alle Schulen nach diesem Muster funktionieren, baut das

    Bildungssystem insgesamt auf der Bewertbarkeit von Wissensgebieten undWissensleistungen auf. Sptestens beim Schulwechsel oder beim Umstieg insBerufsleben wird das deutlich.

    In der Sozialforschung sind hingegen unterschiedliche Bewertung von Themenfeldern(beispielsweise als sinnvoller oder wichtiger als andere) oder von Antworten auf(Forschungs-)Fragen hinderlich. Hier kommt es ganz im Gegenteil darauf an, den Blickdafr zu ffnen, dass auch in scheinbar unwichtigen gesellschaftlichen Bereichen(z.B. Chatten, Graffiti, Comics, etc.) wichtige gesellschaftliche Prozesse stattfinden.

    Auerdem ist es hinderlich, vorschnelle Antworten zu haben oder Urteile zu fllen. ImFolgenden sollen nun Elemente einer forschenden Haltung mit Beispielen aus unserenForschungen noch einmal konkreter verdeutlicht werden.

    Innerhalb eines pdagogischen Settings (beispielsweise Schule, Hort, Jugendzentrum,etc.) Forschung zu machen, bedeutet also auch, sich fr andere Vorstellungen vonWissen und Wissenserwerb zu ffnen: Neugierde und scheinbar absurde oder schrgeIdeen und Assoziationen sind wichtige Bestandteile von Forschung.Gedankenexperimente und gewagte Verknpfungen sind gefragt. Dumme Fragengibt es ebenso wenig wie richtige oder falsche Antworten. Es gibt lediglich Wegeund Optionen, die interessanter oder viel versprechender erscheinen als andere und ineinem spteren Stadium des Forschungsprozesses kann von plausibleren oder weniger

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    plausiblen Antworten gesprochen werden (Nheres dazu in den Kapiteln 25 und 26 zurAnalyse von Chatprotokollen und Interviews). Ein mglichst offenes und breitesAusloten des Forschungsfeldes und der Forschungsfrage sind notwendig, umberraschende und innovative Erkenntnisse zu erlangen. Daraus folgt, dass

    Bewertungen im Forschungsprozess kontraproduktiv sind, denn sie schrnken dieInterpretationsoptionen vorzeitig ein. Wissenschaftliches Forschen bedeutet also, sichauf Unsicherheit und (den Versuch von) Wertfreiheit einzulassen. DasAufeinandertreffen dieser unterschiedlichen Vorstellungen war, unserer Beobachtungnach, fr Kinder, und Jugendliche, fr Betreuungspersonen und Wissenschaftler_innenbereichernd, aber auch immer wieder irritierend. So meinte etwa eine Schlerin amEnde des ersten Forschungs-Schuljahres: Ich habe gedacht, wir werden diese Fragen,die am Anfang am Plakat gestanden sind [z.B. Wie kann man sich verlieben?, Ist eswirklich Liebe, wenn man am nchsten Tag wieder Schluss macht?], beantworten. Ich

    hab wirklich gedacht, wir werden die einfach beantworten (audiotape_090507). Siehatte also erwartet, dass es in der Forschung wie oft in der Schule oder inLehrbchern klare Antworten auf die gestellten Fragen gibt. Dass am Ende vielleichtmehr Fragen stehen als Antworten, diese nun aber auf einem viel komplexeren Niveau,hatte sie nicht gedacht. Eine Mitschlerin ergnzte Zuerst denkst du, es ist ganzeinfach love ist love. Und dann merkst du, es geht um kompliziertere Sachen.Erstgenannte Schlerin meinte auch Das war ur anstrengend heute. Ich hab noch niesoviel gearbeitet. Ich mein da drinnen in meinem Kopf (alle: BP_KS_090507). DieseAussagen zeigen, dass die Kinder und Jugendlichen mit einer Art Wissen zu generieren

    beschftigt waren, die sie nicht gewohnt sind. Durch die Erfahrung eine teilnehmendeBeobachtung gemacht zu haben sowie die nachfolgenden Diskussionen undReflexionen darber, die Bearbeitung eines Beobachtungsprotokolls und neuerlicheDiskussionen, dachten die Schler_innen viel ber soziale Strukturen, ber Regelnsowie ber ihr eigenes Verhalten und das ihrer Mitschler_innen nach. Am Ende dieserProjekttage standen aber nicht unbedingt klare Antworten darauf, was Liebe ist oderwie man sich verliebt, sondern neue Fragen beispielsweise berGeschlechterdifferenzen oder Freundschaftsnetzwerke.

    Was lernen Kinder und Jugendliche, wenn sie sozialwissenschaftlich forschen?Obwohl sich Kinder und Jugendliche in der sozialwissenschaftlichen Forschung auchFaktenwissen ber das von ihnen gewhlte Thema aneignen (z.B. Wieviel Geld wird frFuballspieler bezahlt; was bedeutet Rassismus; welche Mdchenprojekte gibt es inWien, etc.), lernen sie in erster Linie Fhigkeiten (beispielsweise Diskutieren, Thesenformulieren, Kombinieren und Strukturieren von Inhalten, /Selbst-/Reflexion) undTechniken (beispielsweise Recherchieren, Protokollieren, Umgang mit Datenbanken).Diese Kompetenzen knnen sie dann auch in anderen schulischen und beruflichenBereichen anwenden, die mit Forschung gar nichts zu tun haben. Angesichts dererhhten Relevanz von Kompetenzerwerb in den Regelschulen knntesozialwissenschaftliche Forschung in Zukunft allerdings hhere Wichtigkeit in derSchule und der Kinder- und Jugendbetreuung zugesprochen bekommen.

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    Forschende Haltung 3 A

    Die sehr offene und annherungsweise gleichberechtigte Form Wissen mit Kindernund Jugendlichen gemeinsam zu generieren, fhrt unserer Beobachtung nach auchdazu, dass sich Rollen und Positionen von diesen ndern: Durch dieKleingruppenarbeit, die fr sozialwissenschaftliche Projekte typisch ist, weil sie die

    Datenerhebung und analyse erheblich erleichtert, lernen die Kinder und JugendlichenZusammenarbeit im Team und Arbeitsteilung. Sie lernen Kompetenzen wieRecherchieren, Kombinieren und Strukturieren von Inhalten. Sie mssen sozialeFhigkeiten zeigen, beispielsweise bei der Durchfhrung von Interviews, und ihreKonzentrationsfhigkeit und Ausdauer ist fr eine vergleichsweise lange und intensiveZeit gefragt.

    Unserer Erfahrung nach ist eine wichtige Voraussetzung fr das hohe Engagement derKinder und Jugendlichen, dass sie sich selbst (innerhalb eines sehr weit gesteckten

    inhaltlichen Rahmens) die Forschungsthemen und fragen aussuchen knnen. Dadurchidentifizieren sie sich in sehr hohem Ausma mit der Forschung. In einigenForschungsgruppen, die wir durchfhrten, fhrte das dazu, dass Schler_innen, diebekannt fr ihre hohe Fehlstundenanzahl war, bei den Forschungstagen regelmiganwesend waren oder dass jugendliche Forscher_innen lnger blieben, um auch berdie Schulzeit hinaus mit uns weiterforschen zu knnen bzw. sich an freienNachmittagen mit der begleitenden Wissenschaftlerin trafen, um weiterdiskutieren zuknnen. Diese Identifikation mit dem Thema und den Ergebnissen fhrte dazu, dass sieselbst weitere Interviewpartner_innen oder Institutionen ausfindig machten oder auf

    Eigeninitiative zu Hause Diagramme und Broschren fertigstellten. Zudem initiierten sieKontakte und fanden Orte, um die Ergebnisse prsentieren zu knnen. Es zeigte sich,dass als still oder desinteressiert geltende Kinder und Jugendliche groenEnthusiasmus entwickelten, wenn es um Forschung ging und dass Fhigkeiten vonKindern und Jugendlichen sichtbar wurden, von denen weder wir noch dieLehrer_innen gewusst hatten.

    Forschende Haltung die wichtigsten Punkte

    Wichtige Aspekte einer forschenden Haltung sind: Neugierde Offenheit Unvoreingenommenheit gegenber dem zu erforschenden sozialen Feld Keine (vor-)schnellen Antworten oder Wertungen Einlassen auf einen gemeinsamen Prozess, dessen genauer Verlauf und

    Endergebnis unbekannt ist Versuch mit Kindern und Jugendlichen auf einer annhernd gleichberechtigten

    Ebene zu diskutieren und zu arbeiten

    Forschungsmethoden unterscheiden sich von didaktischen Methodenvor allem durchihre Zielsetzung und daher auch in Anwendungsaspekten: Statt Wissen zu vermitteln, sollWissen gemeinsam produziert werden. D.h. auch wenn die Methode selbst die gleiche ist,

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    Forschende Haltung3 A

    ist die Anwendung derselben unterschiedlich.

    Kinder und Jugendliche lernen in sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten nebenFaktenwissen vor allem Kompetenzen, die sie auch in anderen Lern- und Berufsfelderngut anwenden knnen.

    Literatur und QuellenAltrichter, Herbert / Posch, Peter (1998): Lehrer erforschen ihren Unterricht. Eine Einfhrung indie Methoden der Aktionsforschung. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.

    audiotape_090507: Audioaufnahme der Forschungseinheit Liebesorte am 7.5.2009.

    Baumann, James F. (1996): Conflict or Compatibility in Classroom Inquiry? One Teacher'sStruggle to Balance Teaching and Research. In: Educational Researcher 25 (7): 29-36.

    Noffke, Susan / Somekh, Bridget (2008): Action Research. In: Somekh, Bridget / Lewin, Cathy,Hg.: Research Methods in the Social Sciences. Los Angeles, et al: Sage: 89-96.

    Wilson, Suzanne M. (1995): Not Tension but Intention. A Response to Wong's Analysis of theResearcher/Teacher. In: Educational Researcher 24 (8): 19-22.

    Wong, David E. (1995): Challenges Confronting the Researcher/Teacher. Conflicts of Purposeand Conduct. In: Educational Researcher 24 (3): 22-28.

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    Forschungsethik 4 A

    4. Forschungsethikvon Veronika Whrer

    In jeder sozialwissenschaftlichen Forschung ist es wichtig, ethische Grundprinzipien

    einzuhalten. In der Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen ist dies nochwichtiger, da diese nicht unbedingt alle Risiken, die mit der Forschung verbunden sind,selbst abschtzen knnen. Wenn Kinder und Jugendliche selbst forschen, mssenethische Standards auf zwei Ebenen beachtet werden: Einerseits mssen sie in derZusammenarbeit mit ihnen eingehalten werden, andererseits mssen sie auch explizitan sie vermittelt werden, damit sie diese selbst in ihrer eigenen Forschungbercksichtigen knnen.

    Hier sollen nun folgende Punkte genauer erklrt werden: Einverstndnis der beteiligten

    Personen, Anonymisierung der Personen und Institutionen, Fotos undVerffentlichung.

    EinverstndnisZunchst ist es wichtig, das Einverstndnis aller beteiligten Personen zu haben. D.h. diean der Forschung beteiligten Kinder und Jugendlichen mssen ber das Projektinformiert werden und sie mssen ihre Teilnahme selbst entscheiden drfen. D.h. essollte immer eine Alternative geben, was diejenigen tun knnen, die nicht forschenwollen. Phelan und Kinsella (2013) betonen zum Beispiel, dass vor allem jngere Kinder

    ihre Zustimmung zur Projektteilnahme oft nur fr eine bestimmte Zeit geben und dasssie also immer wieder neu eingeholt werden muss. Zudem artikulieren sie Ablehnungoft nicht direkt, sondern in Form von kleinen Verweigerungen, Ablenkungen, etc. DieAutorinnen fordern also ein, sehr aufmerksam fr die Bedrfnisse und Wnsche derKinder und Jugendlichen zu sein.

    Auch alle beteiligten Institutionen (z.B. Schulleitung, Hortleitung, etc.) msseninformiert werden, alle der teilnehmenden Betreuungspersonen und auch die Elternder Kinder und Jugendlichen mssen ihre Zustimmung geben. Zur Information der

    Eltern empfiehlt es sich, einen Brief zu schreiben, in dem das Projekt, die beteiligtenPersonen, die Zielsetzung und der zu erwartende Aufwand erklrt sind und in dem umihre Zustimmung per Unterschrift gebeten wird.

    In der Durchfhrung der Forschungsprojekte mssen ebenfalls alle beteiligtenPersonen um ihr Einverstndnis gebeten werden, d.h. Interviewpartner_innen werdendarber informiert, warum sie interviewt werden. Wenn sie nicht interviewt werdenwollen, muss das akzeptiert werden. Auch muss erfragt werden, ob sie einer Aufnahmedes Interviews auf ein Aufnahmegert zustimmen. Ebenso ist es ihr gutes Recht,

    einzelne Fragen nicht beantworten zu wollen oder einzufordern, dass diese Antwortennicht aufgenommen werden. Auch wenn diese Personen anonym bleiben, muss ihnendieses Recht gewhrt werden. Oft handelt es sich dabei um sehr persnliche oder

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    Forschungsethik4 A

    heikle Informationen, die diese Personen prinzipiell nicht auf einem Audiofile habenwollen. Bei teilnehmenden Beobachtungen sollte deutlich gemacht werden, dass diePersonen nun beobachtet werden, bei sozialen Experimenten muss danach aufgeklrtwerden, dass dies Teil einer sozialwissenschaftlichen Forschung war, etc. In manchen

    Lndern ist es blich, dass vor allem Personen, die in Interviews oder Fragebgenbefragt werden, schriftliche Einverstndniserklrungen ausfllen mssen. Wenn dieszum Standard gehrt, mssen auch die forschenden Kinder und Jugendlichen solcheErklrungen anfertigen und ausfllen lassen.

    AnonymisierungGenerell gilt, dass die Personen, die ihre Informationen, Ideen, Erfahrungen, etc. denForscher_innen anvertraut haben, das Recht haben anonym zu bleiben. Es ist wichtig,den Personen, die befragt werden, dies zuzusichern bzw. zu fragen, ob sie das

    zugesichert haben wollen. Denn es gibt manchmal Ausnahmen, in denen Personen dasnicht wollen (meist Leute, die gewohnt sind Interviews zu geben, beispielsweise beiExpert_inneninterviews). Bei schriftlichen Fragebgen wird der Name blicherweisenicht miterhoben, falls er doch bekannt ist, sollte er gar nicht erst mit in die Datenaufgenommen werden. Fragebgen und Interviews werden blicherweise nummeriertoder mit Buchstaben versehen und so bezeichnet, nicht mit dem Namen derinterviewten Person. (Mehr dazu in Kapitel 24 oder 26.)

    Die Personen, die in Protokollen von teilnehmenden Beobachtungen oder sozialen

    Experimenten genannt werden, werden sptestens bei der Verffentlichung ebenfallsanonymisiert und mit anderen Namen versehen oder etwa als ein Mdchen derzweiten Klasse bezeichnet. Es kann sehr interessant sein, mit den forschenden Kindernund Jugendlichen diese Anonymisierung von erhobenen Daten gemeinsam langsamvorzunehmen. Unserer Erfahrung nach, waren in den ersten Beobachtungsprotokollensehr viele Namen von Kindern, aber auch Vorwissen ber sie,Hintergrundinformationen zum Kontext, etc. enthalten. Im Prozess derAnonymisierung, den eine Forschungsgruppe gemeinsam durchmachte, fiel denJugendlichen auf, wie durch die Anonymisierung und die Abstraktion von der

    konkreten Situation und dem konkreten Vorwissen, das scheinbar Bekannte verfremdetwurde. Ihnen wurde daran klar, wie durch Methoden der sozialwissenschaftlichenForschung soziale Strukturen leichter erkennbar werden.Wichtig ist die Anonymisierung vor allem nach auen, d.h. innerhalb einerForschungsgruppe werden Kinder, Betreuungspersonen, Institutionen, etc., dieuntersucht werden, unweigerlich hufig beim Namen genannt, um ber siekommunizieren zu knnen. Diese Erzhlungen und Interpretationen mssen aberinnerhalb der Gruppe bleiben, sie sollen nicht nach auen dringen, d.h. sie sollenweder anderen Kolleg_innen und Mitschler_innen erzhlt noch verffentlicht werden.In der Verffentlichung der Ergebnisse drfen keine Namen von Personen vorkommen.Auch die Institutionen mssen befragt werden, ob ihr Name genannt werden darf odernicht. Im Zweifelsfall gilt: Lieber zu viel als zu wenig anonymisieren. D.h. Personen und

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    Forschungsethik 4 A

    Institutionen mssen so beschrieben werden, dass mglichst alle relevantenInformationen gegeben werden, aber unklar bleibt, wer beschrieben ist. Wenn esbeispielsweise an einer Schule nur eine Lehrerin gibt, die die Kombination Englischund Turnen unterrichtet, kann diese Information nicht zu ihrer Identifizierung verwendet

    werden, sondern sie kann als Englisch-Lehrerin oder eine Lehrerin der zweitenKlasse beschrieben werden. Wenn es beispielsweise nur ein Jugendzentrum in einembestimmten Ort gibt, das aber nicht genannt werden mchte, muss der Namen desOrtes weggelassen werden und es wird als Jugendzentrum in einem kleinen Ort inNiedersterreich bezeichnet.

    Fotos und FilmeAuch fr Fotos bzw. Filme gilt, dass sie nur mit Zustimmung der fotografierten Persongemacht werden drfen und dass noch einmal eine Zustimmung dieser Person

    notwendig ist, um das Foto oder das Filmmaterial publizieren zu drfen. DieZustimmung zu den Fotos und Filmen kann und sollte situativ eingeholt werden, d.h.wenn jemand beispielsweise nicht fotografiert werden mchte, muss das bercksichtigtwerden. Die Zustimmung zur Verffentlichung von Fotos und Filmmaterial kann auchgenerell erklrt werden. So kann beispielsweise gemeinsam mit einem Brief am Beginndes Projektes erfragt werden, ob die teilnehmenden Personen zustimmen, dass dieFotos, die im Laufe der Projektlaufzeit von ihnen gemacht werden, auch verffentlichtwerden drfen.

    VerffentlichungWie bereits gesagt, muss in der Verffentlichung der Forschungsergebnisse allezugesicherten Anonymisierungen eingehalten werden. Die forschenden Kinder undJugendlichen selbst, werden vermutlich als Autor_innen oder Ko-Autor_innen desForschungsberichtes aufscheinen. Es ist aber zu bercksichtigen, dass dies eventuellgenauer diskutiert werden muss, wenn sie ber sich selbst geforscht haben. D.h. wenndas Forschungsthema die eigene Lebenswelt, eigene Freundschaftsnetzwerke, daseigene Chatverhalten, etc. sind und die Ergebnisse also etwas ber die eigene Person,die eigenen Ideen oder Verhaltensweisen aussagen, muss noch einmal genauer

    berlegt und mit den Kindern und Jugendlichen diskutiert werden, ob sie nicht einPseudonym whlen wollen, um ihre Erkenntnisse zu prsentieren. Sie sollen auchexplizit darauf aufmerksam gemacht werden, dass ihnen diese Verffentlichung spter,wenn sie lter geworden sind, unangenehm sein knnte. Zudem muss im Falle einerVerffentlichung auch das Einverstndnis der Eltern eingeholt werden.

    Forschungsethik die wichtigsten Punkte

    Wichtig ist es allen beteiligten Personen das Forschungsprojekt offenzulegenund von allen den forschenden Kindern und Jugendlichen sowie von allen Personen, die von diesen

    beforscht werden, und Institutionen, die daran beteiligt sind das Einverstndnis dazueinzuholen. Sowohl den forschenden als auch den beforschten Kindern und Jugendlichen muss

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    Forschungsethik4 A

    die Mglichkeit eingerumt werden, die ganze Untersuchung oder Teilaspekte davonabzulehnen.

    Alle Personen, die untersucht werden (interviewt, beobachtet, etc.) haben das Recht aufAnonymisierung. Daher mssen die erhobenen Daten und die erarbeiteten Ergebnisse inanonymisierter Form erzhlt, prsentiert und verffentlicht werden. Dies kann mit dem Erfindenneuer Namen und/oder der Konzentration auf einige wenige Eigenschaften, um eine Personoder Institution zu bezeichnen gemacht werden.

    Wenn Foto- und Filmmaterial angefertigt wird, mssen alle zunchst um ihr Einverstndnisgebeten werden, dass sie berhaupt fotografiert bzw. gefilmt werden drfen. Falls dasBildmaterial verffentlicht werden soll, muss auch dazu das Einverstndnis eingeholt werden.

    Bei der Verffentlichung ist auerdem zu berlegen, ob die forschenden Kinder undJugendlichen mit ihren richtigen Namen als (Ko-)Autor_innen aufscheinen oder nicht. Falls siesich selbst oder ihr eigenes Verhalten zum Forschungsgegenstand gemacht haben, mssen dieKonsequenzen aller Varianten mit ihnen diskutiert werden.

    LiteraturPhelan, Shanon K. / Kinsella, Elizabeth Anne (2013): Picture This . . . Safety, Dignity, and Voice.Ethical Research with Children: Practical Considerations for the Reflexive Researcher. In:Qualitative Inquiry 19 (2): 81-90.

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    Ablauf einer sozialwissenschaftlichen Forschung 5 M-AG

    5. Ablauf einer Sozialwissenschaftlichen Forschung.Der Forschungszyklusvon Veronika Whrer

    ForschungsphasenSozialwissenschaftliche Forschung braucht ihre Zeit. Sie ist ein Prozess, der mehrerePhasen durchluft, die sich auch wiederholen knnen. Die wichtigsten Phasen sind derFeldeinstieg, die Datenerhebung, die Datensicherung, die Datenanalyse, diePrsentation der Ergebnisse und der Feldausstieg.

    Ein Feld in den Sozialwissenschaften ist eine bestimmte Umgebung, Gruppe,Organisation, Subkultur, etc., die untersucht werden soll. Feldeinstieg bedeutet, dassdie Forscher_innen sich mit dem Feld vertraut machen, beispielsweise das erste Mal in

    ein Fuballstadion, eine neue Schule, einen Park, etc. gehen. Bei diesen erstenBegegnungen passieren bereits viele Dinge, die fr die Forscher_innen interessant undwichtig sind und die sie aufzeichnen (beispielsweise in einem Forschungstagebuch,siehe Kapitel 7). Fr die forschenden Kinder und Jugendlichen gibt es mehrereMglichkeiten, wie dieser Feldeinstieg aussehen kann: Wenn sie ein neues Feldbeforschen wollen (beispielsweise die Universitt, das Fuballstadium, etc.), gilt fr siedasselbe wie fr die begleitenden Erwachsenen: Vieles ist ihnen neu, sie mssen sicherst orientieren, mit den Personen bekannt machen und die Regeln kennen lernen.Wenn sie einen Teil ihrer eigenen Lebenswelt beforschen, kennen sie die zu

    beforschenden Personen und Umgebungen bereits. Das Neue ist nun, sich diese zumForschungsgegenstand zu machen, d.h. neue Fragen an scheinbar Altbekanntes zustellen.

    Datenerhebungbedeutet das Sammeln von Informationen ber das Forschungsfeld,von sogenannten Daten. Dies geschieht blicherweise mithilfesozialwissenschaftlicher Methoden, wie beispielsweise dem Durchfhren von Interviews(siehe Kapitel 19), von Recherchen, von Beobachtungen (siehe Kapitel 18) oder demAusgeben von Fragebgen (siehe Kapitel 22). Die Datensicherung ist die

    Dokumentation der Erhebung und das Archivieren der gewonnenen Informationen. Siebesteht beispielsweise darin, Beobachtungsprotokolle in Reinschrift zu bringen,Interviewmitschnitte abzuspeichern und Interviews zu transkribieren, Daten inStatistikprogramme einzugeben, etc. Unter Datenanalyseversteht man schlielich dasBearbeiten und Interpretieren der gesammelten Daten mit einer Analysemethode, umAntworten auf die Forschungsfrage zu finden. Solche Analyseverfahren knnenbeispielsweise Inhaltsanalysen sein (Kapitel 23, 24 und 25), statistische Berechnungen(Kapitel 26) oder auch qualitative Interpretationsverfahren von Interviewtranskripten.Datenselbst sind also Angaben oder Werte, die etwas ber bestimmte Personen

    und gesellschaftliche Zusammenhnge aussagen und die gesammelt, gesichert,untersucht und aus denen Muster oder Systematiken erkannt werden knnen.

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    Ablauf einer sozialwissenschaftlichen Forschung 5 M-AG

    umdefinieren, neu ordnen, widerlegen, etc. Allerdings spielen beim Ende einerForschung auch zeitliche und strukturelle Rahmenbedingungen eine groe Rolle.Immer wieder mssen Forschungen auf Grund des Ablaufens des Zeitrahmens beendetwerden, obwohl es interessant gewesen wre, weiterzumachen. Als Ergebnisse knnen

    dann nur jene Kategorien und Thesen einbezogen werden, ber die bereits Klarheitgewonnen wurde. Ein Ausblick auf Angefangenes und mgliche Weiterfhrung ist inder Prsentation aber sehr wohl mglich und sinnvoll. Im weiter unten genanntenAnwendungsbeispiel wird dies deutlich.

    Ein Nebeneffekt dieses zyklischen Prozesses sozialwissenschaftlicher Forschung ist,dass der_die Forscher_in bisweilen den Eindruck hat, immer wieder zum gleichenAusgangspunkt zurckzukommen (Jetzt analysiere ich das gleiche Protokoll schonzum dritten Mal!). Das ist aber notwendig, weil in jedem Durchgang neue Fragen auf

    Grund von mehr Wissen gestellt werden. D.h. die Herangehensweise an das Protokollbeim ersten Analysedurchgang ist eine andere als beim zweiten und beim drittenDurchgang, wo bereits viel mehr Vorwissen durch weitere Datenerhebungen und analysen gewonnen wurde, daher auch andere und przisere Fragen und Vermutungenaufgestellt werden knnen. Die dritte Interpretationsrunde wird also ganz andereEinsichten erffnen als die erste und die zweite es getan haben, obwohl der_dieForscher_in scheinbar immer das gleiche macht, nmlich immer noch das selbeBeobachtungsprotokoll zu analysieren. Dies ist aber die Basis fr wichtige Erkenntnisseund die Kinder und Jugendlichen in unseren gemeinsamen Forschungsprojekten

    merkten auch an, dass dies zwar einerseits uranstrengend sei (BP_KS_090507; mehrdazu auch in Kapitel 3), aber andererseits auch so aufregend war, dass sie manchmalihre Eltern anriefen und baten, spter nach Hause kommen und mit unsweiteranalysieren zu drfen (BP_DH_091218).

    AnwendungsbeispielDie Zirkularitt des Forschungsprozesses begleitete jede unserer Forschungsgruppen.Ich habe als Beispiel eine Forschungsgruppe zu Frauenfuball ausgewhlt, weil es aufGrund eines Plakates, das diese anfertigte, fr Auenstehende besonders gut sichtbar

    wird. Die Forschungsgruppe zu Frauenfuball bildete sich als Untergruppe einerForschungsgruppe zu Fuball, weil einige Mdchen, sich bald unwohl fhltenangesichts der leidenschaftlichen Fokussierung der Buben auf Mnnerfuball in denersten beiden Tagen der Forschung. Sie sahen sowohl sich selbst als Mdcheninnerhalb ihrer gemischtgeschlechtlichen Gruppe als auch Frauen im Fuballmarginalisiert. Sie waren also mit einem doppelten Ausschluss von Frauen in derForschung wie im Forschungsfeld konfrontiert. (Mehr zu dieser Forschungsgruppefindet sich in Harrasser / Whrer im Erscheinen.) Sie beschlossen daraufhin eine eigeneUntergruppe zu grnden und der Frage nachzugehen, wie Frauen im Fuball vertretensind. Sie lasen ein Interview mit einer Fuballerin, das in der Zeitschriften Echo, die wirvon unserer Partnerorganisation Fairplayerhalten hatten, abgedruckt war (Echo 2008:9). In dieser Zeitschrift fand sich der Begriff Sexismus, der Interesse und

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    Ablauf einer sozialwissenschaftlichen Forschung5 M-AG

    Assoziationen bei den Mdchen hervorrief. Eine dieser Assoziationen Kein Sex beimSport wurde auf einem Plakat notiert.

    Abb. 5.1 Plakat der Forschungsgruppe zu Frauenfuball !SCR

    Die Mdchen wollten mehr von der Fuballerin wissen, die wie sie einen trkischenFamilienhintergrund hatte. Mit Hilfe einer Projektmitarbeiterin fanden sie dieTelefonnummer heraus, riefen sie an und machten fr den bernchsten Tag ein

    Gesprch mit ihr aus. Sie erarbeiteten einen Interviewleitfaden, nahmen dasAufnahmegert mit und befragten die Fuballerin in einem Caf nach ihrer Motivation,ihrem Werdegang, und zu Frauenfuball. Die Vorstellung der Mdchen von Sexismus

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    Ablauf einer sozialwissenschaftlichen Forschung 5 M-AG

    hatte sich nun geschrft. Da sie das Plakat wie ein Forschungstagebuch (siehe Kapitel7) weiterfhrten, lschten sie die alten Aufschriften nicht, sondern schrieben neueweiter unten dazu. Stop fr Sexismus, Warum glauben Mnner, dass Frauen nichtFuball spielen knnen? aber auch Warum sind viele Fuballerinnen Lesben? waren

    Fragen, die sich aus diesem Interview ergaben. In einem Gesprch mit einerWissenschaftlerin und in weiteren Recherchen stellte sich fr die Mdchen heraus, dassSexismus ein Fachbegriff ist, der auf viele gesellschaftliche Bereiche angewandt wird,dass er mit einem Wunsch nach Gleichberechtigung zu tun hat und dass auf dieFrage Wo ist der Unterschied? zwischen Mnner- und Frauenfuball voreilige,stereotype Antworten zu haben, sexistisch ist. Bei diesen, auf dem Plakataufgezeichneten, Erkenntnissen, begann der nchste Zirkel mit den nchsten Fragen,danach, wie Sexismus auch das Arbeiten in der gemeinsamen Gruppe prgte, wie erim Umgang der Buben mit Fuball (als reinem Mnnerfuball) sichtbar wird und

    inwiefern Sexismus in der Klassenkultur zu finden ist. Dieser Zirkel wurde in dergemeinsamen Arbeit erst begonnen und ist daher auf dem Plakat nur mehr in Anstzendokumentiert.

    Die Mdchen gingen bei der Erforschung ihrer Frage nach Frauen im Fuball alsozirkulr vor: Sie hatten Fragen, gingen ins Feld, sammelten Daten, stellten neueFragen, sammelten neue Daten und przisierten auf diesem Wege ihre Erkenntnisse.Sie erfuhren in jeder Forschungsphase mehr und d