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109 HANDLUNGS- UND STRUKTURTHEORIE NACH MAX WEBER WOLFGANG SCHLUCHTER 1. Vorbemerkung Der Titel meiner Ausführungen verweist auf zwei Thesen. Die erste lautet, Handlungs- und Strukturtheorie, nicht aber Handlungs- und Systemtheorie gehörten zusammen, die zweite, dieser individualistisch-strukturalistische Theorietyp sei zwar zeitlich vor allem nach Max Weber, d. h. auf ihn folgend, entwickelt worden, er lasse sich aber mit Gewinn auch systematisch nach ihm, d. h. ihm folgend, entwickeln. Das „Nach“ hat also einen Doppelsinn. Beide Thesen, insbe- sondere aber die zweite, dürften nicht auf ungeteilte Zustim- mung stoßen. Und in der Tat: Wer die heutige Problemsitua- tion auf diesem Gebiet, insbesondere in Deutschland, be- trachtet, gewinnt den Eindruck, Max Weber diene in erster Linie dazu, sich von ihm abzusetzen, die eigene Theorie im Gegenzug zu ihm zu entwerfen. 1 Manche versteigen sich 1 Dies gilt zum Beispiel für die an Schütz anschließenden Handlungstheo- retiker genauso wie für Jürgen Habermas und erst recht für Niklas Luh- mann. Nur die elaborierte Theorie der Wahlhandlung, gemeinhin RC- Theorie genannt, schließt positiv an Max Weber an. Vgl. dazu etwa Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/New York: Campus 1993, insb. Kapitel 1. Esser versteht sich aber nicht als Vertreter der üblichen RC-Theorie, sondern als Vertreter eines individualistisch-

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HANDLUNGS- UND STRUKTURTHEORIE

NACH MAX WEBER

WOLFGANG SCHLUCHTER

1. Vorbemerkung

Der Titel meiner Ausführungen verweist auf zwei Thesen. Die erste lautet, Handlungs- und Strukturtheorie, nicht aber Handlungs- und Systemtheorie gehörten zusammen, die zweite, dieser individualistisch-strukturalistische Theorietyp sei zwar zeitlich vor allem nach Max Weber, d. h. auf ihn folgend, entwickelt worden, er lasse sich aber mit Gewinn auch systematisch nach ihm, d. h. ihm folgend, entwickeln. Das „Nach“ hat also einen Doppelsinn. Beide Thesen, insbe-sondere aber die zweite, dürften nicht auf ungeteilte Zustim-mung stoßen. Und in der Tat: Wer die heutige Problemsitua-tion auf diesem Gebiet, insbesondere in Deutschland, be-trachtet, gewinnt den Eindruck, Max Weber diene in erster Linie dazu, sich von ihm abzusetzen, die eigene Theorie im Gegenzug zu ihm zu entwerfen.1 Manche versteigen sich

1 Dies gilt zum Beispiel für die an Schütz anschließenden Handlungstheo-

retiker genauso wie für Jürgen Habermas und erst recht für Niklas Luh-mann. Nur die elaborierte Theorie der Wahlhandlung, gemeinhin RC-Theorie genannt, schließt positiv an Max Weber an. Vgl. dazu etwa Hartmut Esser, Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/New York: Campus 1993, insb. Kapitel 1. Esser versteht sich aber nicht als Vertreter der üblichen RC-Theorie, sondern als Vertreter eines individualistisch-

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gar zu der Behauptung, dass er gar kein Handlungstheoreti-ker sei. Diese gegen Weber gerichtete Tendenz ist umso erstaunlicher, als man bei Lektüre der Einwände selten den Eindruck gewinnt, als hätten sich die Kritiker bemüht, das Potential seines Ansatzes auszuschöpfen. Ich halte es des-halb für lohnend, sich zunächst die aktuelle Problemsituation zu vergegenwärtigen, dann die Problemsituation zu skizzie-ren, mit der sich Max Weber konfrontiert sah, um schließlich seine Problemlösung in methodischer und grundbegrifflicher Hinsicht so herauszuarbeiten, dass sie mit der aktuellen Problemsituation verbunden werden kann. Mein Ziel ist es, zu zeigen: Max Webers Ansatz ist keineswegs veraltet. Er bildet vielmehr den methodischen und grundbegrifflichen Ausgangspunkt für eine leistungsfähige individualistisch-strukturalistische Theorie.

Ich skizziere deshalb zunächst in zugespitzter Form die aktuelle Problemsituation und schreite dann im beschriebe-nen Sinne fort.

strukturalistischen Ansatzes, bei dem der Zusammenhang Struktur-Wahl-handlung-Struktur im Mittelpunkt steht. Weshalb sein Ansatz dennoch Weber nicht völlig gerecht wird, sollte in der Folge deutlich werden. Ähn-lich zuvor schon James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cam-bridge, Mass.: Harvard University Press 1990, S. 6 ff. Zu einer phänome-nologischen Grundlegung der Handlungstheorie im Anschluss an Schütz vgl. etwa Thomas Luckmann, Theorie des sozialen Handelns, Berlin: de Gruyter 1992.

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2. Die aktuelle Problemsituation

Die aktuelle Problemsituation in der Soziologie ist durch die Konkurrenz zweier Supertheorien gekennzeichnet. Folgt man Niklas Luhmann, der diesen Begriff prägte, so erhebt eine soziologische Supertheorie den Anspruch, „den ge-samten Gegenstandsbereich der Soziologie zu erfassen und in diesem Sinne universelle soziologische Theorie zu sein.“2 Dieser Universalitätsanspruch der Gegenstandserfassung zwinge sie dazu, selbstreferentiell zu werden, d. h. auch noch sich selbst als Teil ihres Gegenstandsbereichs zu be-handeln.3 Dies aber bedeute, ein Wissen darüber zu gewin-nen: Sie könnte auch anders sein. Also basierten Super-theorien auf Selektionsprinzipien. Luhmann ist zwar der Meinung, dass eine solche soziologische Supertheorie heute nur eine Systemtheorie sein könne, also eine Theorie sozia-ler Systeme, weil angeblich nur sie auf unfruchtbare Kon-trastierungen, auf den Einbau des Gegenteils in die eigene Option und auf die Selbstbewertung dieser Option verzichte – und er fügt hinzu, dass man all dies spätestens seit Hegel und Parsons wissen könne.4 Doch betont er zugleich, Uni-versalitätsanspruch und Ausschließlichkeitsanspruch fielen nicht zusammen. Also muss es nach seiner eigenen Analyse neben der Systemtheorie als soziologischer Supertheorie mit dem ihr eigenen Selektionsprinzip noch andere soziolo-gische Supertheorien geben, die gleichfalls einen Universa-litätsanspruch erheben. Eine solche soziologische Super-theorie ist, so meine Behauptung, die Handlungstheorie, immer unter Einschluss einer Strukturtheorie.5

Folgt man weiterhin Niklas Luhmann, so lassen sich Super-theorien dadurch charakterisieren, dass sie als Selektions-

2 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie,

Frankfurt: Suhrkamp 1984, S. 33. 3 Ebd., S. 9. 4 Vgl. ebd., S. 34. 5 Luhmann bestreitet dies natürlich. Für ihn sind alle Handlungstheorien,

auch wenn sie die Strukturdimension einschließen, unterkomplex.

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prinzip eine Leitdifferenz wählen. Eine solche Leitdifferenz ist für Luhmanns Systemtheorie die von Identität und Diffe-renz. Sucht man nach einer Analogie für die Handlungstheo-rie,6 so lässt sie sich in der Differenz von Handelndem und Situation finden. In seiner ersten großen Arbeit beschrieb Talcott Parsons die Handlung als die kleinste Einheit, die durch den handlungstheoretischen Bezugsrahmen als real konstituiert werde:7 Sie impliziere einen Handelnden, ein Ziel, eine Situation, unterteilt in Bedingungen, die dem Han-delnden nicht verfügbar seien und an die er sich nur anpas-sen könne, und Mittel, die ihm zur Disposition stünden. Der Handelnde habe diese Elemente zu verbinden, indem er die Situation für sich definiere, eine Wahl zwischen alternativen Zielen und Mitteln treffe, wofür er Kriterien, normative Stan-dards, benötige, damit diese Wahl nicht Ausfluss bloßer Willkür sei.8 Hält man sich an diesen Vorschlag, so geht es in der Handlungstheorie nicht, wie in der Systemtheorie, um geschlossene Selbstorganisation und offenen Umweltbezug unter den Bedingungen der Aufrechterhaltung einer Grenze zwischen System und Umwelt, sondern um Handlungsorien-tierung und Handlungskoordination sowie um die Konstruk-tion und Rekonstruktion von Sinnwelten, in denen Orientie-rungen und Koordinationen verankert sind.

Nun bildet weder die Systemtheorie noch die Handlungs-theorie in der Soziologie einen monolithischen Block. Niklas Luhmann selbst versteht seine Systemtheorie als konse-quente Weiterentwicklung einer Denkströmung, die einst mit

6 Ich sage bewusst Analogie, weil die Handlungstheorie in meiner Sicht

nicht Teil der Systemtheorie ist, sondern mit ihr auf derselben Ebene kon-kurriert. Der Systemtheoretiker würde sagen, man dürfe aber nicht analo-gisieren, sondern man müsse generalisieren und respezifizieren, und so-bald man dies tue, erkenne man, dass die Handlungstheorie nur ein Spe-zialfall selbstreferentieller Systeme sei.

7 Die von Alfred Schütz betonte Unterscheidung zwischen Handeln und Handlung, Verhalten und Verhaltung, lasse ich hier dahingestellt.

8 Dazu Talcott Parsons, The Structure of Social Action, Glencoe: The Free Press, 2. Aufl., 1961, S. 44 ff. Parsons spricht dabei von Handlungssyste-men, „action systems“, und er bettet den „unit act“ ein in ein „action sys-tem“. In dieser frühen Arbeit ist aber der Systembegriff noch nicht im Sinne der späteren Systemtheorie gebraucht.

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der Leitdifferenz Ganzes-Teil begann, diese primitive Denk-figur aber durch die Leitdifferenz System-Umwelt ersetzte, um schließlich zur Leitdifferenz von Identität und Differenz vorzustoßen, zu einer Theorie selbstreferentieller, autopoie-tischer Systeme also, in der nicht mehr, wie bei der älteren Systemtheorie, der Gegensatz von geschlossenen und offe-nen sozialen Systemen, sondern der von selbstreferentieller Geschlossenheit und Umweltoffenheit eines sozialen Sys-tems im Mittelpunkt steht. Diese Systemtheorie überwinde deshalb, so Luhmann, auch den älteren systemtheoreti-schen Ansatz in der Soziologie, wie ihn etwa noch Talcott Parsons nach seiner systemtheoretischen Wende vertreten habe. Es gebe also nicht nur den Wechsel vom Paradigma Ganzes-Teil zum Paradigma System-Umwelt, sondern auch, noch gleichsam innerhalb des Paradigmas System-Umwelt, den zum Paradigma der Selbstreferenz.9 Erst dieser abs-traktere Ansatz könne die Grundlage der modernen soziolo-gischen Theorie als Systemtheorie bilden. Niklas Luhmann versteht deshalb sein Werk als den Gipfel nicht nur der Ent-wicklung der Systemtheorie, sondern der Soziologie insge-samt.10 Blickt man auf die andere Seite, auf die Handlungs-theorie, so kann man ähnlich allgemein gehaltene Unter-scheidungsversuche feststellen. Jürgen Habermas etwa teilt die Handlungstheorien danach ein, ob sie bewusstseinsphi-losophisch oder sprachphilosophisch fundiert seien, ob an die Stelle einer Theorie des zwecktätigen Subjekts eine der kommunizierenden und interagierenden Subjekte trete, an die Stelle eines monologisch, mentalistisch und intentiona-listisch gefassten Subjekts ein kompetentes sprach- und handlungsfähiges Subjekt, das diese Sprach- und Hand-lungsfähigkeit dialogisch und in überindividuellen strukturell-kulturellen Kontexten erwerbe. Auch er sieht sich an der Spitze einer Entwicklung, hier der Entwicklung der Hand-lungstheorie. Hält man sich an diese allerdings nicht un-problematischen Unterscheidungen, so lässt sich die ge-

9 Vgl. etwa Luhmann, Soziale Systeme, S. 37, Fn. 11 und S. 56. 10 Das tun auch manche seiner Schüler, die ihn zum größten Soziologen

des 20. Jahrhunderts erheben und damit wohl zum größten Soziologen überhaupt!

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genwärtige Problemsituation, vor allem bezogen auf Deutschland, als doppelte Konkurrenz beschreiben: als eine Konkurrenz zwischen Systemtheorie und Handlungstheorie einerseits, als eine Konkurrenz zwischen bewusstseinsphi-losophisch und sprachphilosophisch fundierten Handlungs-theorien andererseits. Das folgende Schema macht diese doppelte Konkurenz deutlich.

Problemsituation der soziologischen Theorien in Deutschland

Leitdifferenz

von

Ganzes Teil

zu

System Umwelt

von

Subjekt Objekt

zu

Handelnder Situation

Metatheorie

Allgemeine Systemtheorie

offene oder autopoietische geschlossene Systeme Systeme

Bewusstseinsphilosophie

Sprachphilosophie

Semantik Pragmatik

(Universal- pragmatik)

Theorie

(Methodik und Grundbegriffe)

↓ Theorie

sozialer Systeme

↓ Theorie

des Zweckhandelns

↓ Theorie des kommunikativen Handelns

Gegensatz zwischen Systemtheorie

und Handlungstheorie Gegensatz zwischen einem mentalistischen und einem linguistischen Ansatz in der Handlungstheorie

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Diesem Schema kann man zumindest einen wichtigen Sach-verhalt entnehmen: Zwischen Systemtheorie und Handlungs-theorie besteht in der Soziologie ein grundlegender Gegen-satz. Jede beansprucht, eine Supertheorie zu sein, keine ist Teiltheorie der anderen. Deshalb führt es zu kategorialen Konfusionen, wenn man beide zu kombinieren sucht. Solche Konfusionen treten auf, wenn man etwa von einer akteurs-zentrierten Systemtheorie redet, also systemtheoretische mit handlungstheoretischen Grundbegriffen verbindet. Sie treten aber auch auf, wenn man zwar eine handlungstheoretische Grundlegung will, dann aber, auf der Makroebene, einen zweistufigen Gesellschaftsbegriff entwickelt, der die hand-lungstheoretischen Grundbegriffe um systemtheoretische er-gänzt. Schaut man sich den im Schema enthaltenen zweiten Gegensatz, den zwischen Handlungstheorien, genauer an, so kommen einem allerdings Zweifel, ob die hier getroffene Un-terscheidung ausreicht. Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dies kann man gerade an dem Werk von Jürgen Habermas lernen, auf den die Unterscheidung zwischen bewusstseins-philosophisch und sprachphilosophisch fundierten Hand-lungstheorien zurückgeht. Denn in seiner Theorie des kom-munikativen Handelns entwickelt er ein sehr viel differenzier-teres Bild von den handlungstheoretischen Alternativen, die in der soziologischen Literatur zu finden sind. Hier wählt er vor allem drei Gesichtspunkte, um handlungstheoretische Grund-positionen zu charakterisieren: Ontologische Annahmen oder Weltkonzepte, Funktion der Sprache und Modus der Hand-lungskoordination.11 Folgt man seiner Darstellung in vereinfachter Form, so erhält man folgenden Überblick über handlungstheoretische Grund-positionen:

11 Dazu Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frank-

furt: Suhrkamp 1981, Band 1, Kap. 1, 3.

Ansätze der Handlungstheorie (nach Jürgen Habermas und unter Einschluss seiner Position)

Modell

Ontologische Annahmen

Funktion der Sprache

Handlungskoordination

Instrumentelles und strategi-

sches Handeln (teleologisches Modell)

Eine-Welt-Modell

Objektive Welt

Intentionalistische Semantik

Zusammenspiel individueller

Nutzenkalküle

↑ ↑ Zweck- tätigkeit ↓

Normenreguliertes Handeln

(normatives Modell)

Zwei-Welten-Modell

Objektive und soziale Welt

Kulturalistisches Sprachkonzept

Einverständnis über Normen und Werte, vermittelt durch

kulturelle Tradition

mentalisti- scher Ansatz

Dramaturgisches Handeln (dramaturgisches Modell)

Zwei-Welten-Modell

Äußere und innere Welt

Sprache als stilistische und ästhetische Ausdrucksform

Konsensuale Beziehung

zwischen Schauspieler und Publikum

Kommunikatives Handeln (Kommunikationsmodell)

Drei-Welten-Modell

äußerlich – innerlich

objektive soziale Welt

Sprache als Medium, in dem und durch das der Handelnde seine Beziehungen zur Welt

herstellt und reflektiert

Verständigung mittels eines

kooperativen Interpretationsprozesses

↑ linguistisch- pragmatischer Ansatz ↓

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Und noch eine andere Differenzierung lässt sich denken. Sie geht auf George Herbert Mead zurück. In seiner praktischen Intersubjektivitätstheorie wirft er unter anderem die Frage auf, wie das Individuum als Selbst mit seinen Eigenschaften wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein sowie Geist und der soziale Prozess zueinander stehen, wem von beiden der Primat ge-bührt. Dass der soziale Prozess dem Individuum historisch vorausgeht, ist eine Trivialität und muss nicht weiter erörtert werden. Die entscheidende Frage lautet vielmehr: Geht er dem Individuum auch logisch voraus? Die Antwort auf die Frage, wem der logische Primat zuzusprechen sei, entschei-det nun nach Mead darüber, welche Handlungs- und Gesell-schaftstheorie vorliegt. Mead nennt die eine kontraktualistisch – logischer Primat beim Individuum –, die andere evolutionis-tisch – logischer Primat beim sozialen Prozess. Heute würden wir vermutlich sagen: dass die eine dem liberalen, die andere dem kommunitaristischen Lager zuzurechnen sei. Mead selbst ergreift Partei für die zweite Alternative.12 Eine dritte Möglich-keit, dass beide gleich ursprünglich sein könnten, erwägt er freilich nicht.

Fragt man nun, wohin der Ansatz Max Webers gehört, so scheint Übereinstimmung darüber zu bestehen, dass man ihn der Handlungstheorie und, innerhalb dieser, der Theorie der Zwecktätigkeit, dem teleologischen Handlungsmodell, zuord-nen müsse. Darin jedenfalls stimmen etwa Niklas Luhmann und Jürgen Habermas überein. Luhmann beklagt das geringe Abstraktionsniveau der Weberschen Begriffe, etwa seine Fi-xierung auf den Zweckbegriff und auf das damit verbundene Zweck-Mittel-Schema oder auf den Begriff der Herrschaft, der am Befehlsmodell und damit am Standpunkt der einzelnen

12 Vgl. dazu George Herbert Mead, Mind, Self, and Society, Chicago and

London: The University of Chicago Press 1934, S. 186 ff. und S. 222 ff. Mead formuliert auf S. 186: „What I want particularly to emphasize is the temporal and logical pre-existence of the social process to the self-conci-ous individual that arises in it.“ Man muss bei Mead allerdings berücksich-tigen, dass er bei seinen Analysen immer auch an die dem sozialen Pro-zess präexistente biologische Basis denkt.

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Teilnehmer orientiert bleibe,13 Habermas, dass Webers Handlungstheorie – im Gegensatz zu seiner materialen So-ziologie, insbesondere seiner Religionssoziologie – Engpässe aufweise, weil sie auf den Begriff des zwecktätigen Subjekts und auf dessen Orientierung am Standard der Zweckrationa-lität ausgerichtet bleibe, damit aber sowohl den Subjektbegriff, den Begriff des Handelnden, wie auch den Rationalitätsbegriff vereinseitige.14 Webers Typologien der Handlungsorientierun-gen und der Handlungskoordinationen im Rahmen seines Mehr-Ebenen-Modells werden dabei allerdings kaum beach-tet. Darauf komme ich zurück. Eines freilich ist sicher: Webers Ansatz befriedigt weder die gegenwärtigen Systemtheoretiker noch die gegenwärtigen Handlungstheoretiker. Die System-theorie lässt ihn gänzlich hinter sich, die Theorie des kommu-nikativen Handelns baut ihn, reduziert auf das ökonomische Handlungsmodell, als Teiltheorie ein.

Ist Max Weber so richtig eingeordnet? Ich meine, nein. Um dies begründen zu können, muss ich ein Stück weit auf Max Webers handlungs- und strukturtheoretischen Ansatz einge-hen. Ich tue dies, indem ich die Problemsituation nachzeichne, mit der er konfrontiert war, und indem ich die Lösung skiz-ziere, die er dafür sah.

13 Dazu Niklas Luhmann, „Zweck-Herrschaft-System. Grundbegriffe und

Prämissen Max Webers“, in: Renate Mayntz (Hg.), Bürokratische Organi-sation, Köln & Berlin: Kiepenheuer & Witsch, 2. Aufl., 1971, S. 36 ff. Luh-mann bestreitet nicht, dass Weber wichtige Einsichten in das Funktionie-ren der modernen Bürokratie hatte, meint aber, sie ließen sich nur in ei-nem systemtheoretischen Bezugsrahmen richtig einordnen. So formuliert er auf S. 52: “Diese Einsichten lassen sich von den Prämissen der klassi-schen Organisationslehre ablösen, aus den methodologischen Grenzen der Idealtypenbildung herausnehmen und in eine komplexer angelegte funktionale Theorie umweltoffener Systeme überführen.“ Der Text stammt noch aus der Zeit vor Luhmanns autopoietischer Wende. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Weber fand aber auch danach nicht statt.

14 Dazu Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1, Kap. III, bes. S. 369 - 388.

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3. Max Webers Problemsituation und Problemlösung

Max Weber schrieb am Ende seines Lebens einen Text unter dem Titel „Soziologische Grundbegriffe“, in dem er seine Auf-fassung von Soziologie als einer verstehenden Erfahrungs-wissenschaft darlegte. Diesen Text stellte er seinem Beitrag für den Grundriss der Sozialökonomik, bekannt unter dem problematischen Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“, als me-thodische und grundbegriffliche Einführung voran. Damit löste er die ältere Einführung ab, die er, unter dem Titel „Über ei-nige Kategorien der verstehenden Soziologie“, für die ältere Fassung seines Grundrissbeitrags geschrieben und 1913 se-parat, als Zeitschriftenaufsatz, veröffentlicht hatte. Insofern enthalten die „Soziologischen Grundbegriffe“, als Kapitel 1 der jüngsten Fassung seines Grundrissbeitrags überliefert, die reifste Ausformulierung seines Ansatzes einer soziologischen Handlungs- und Strukturtheorie.15

Weber gliedert seinen Text in „I. Methodische Grundlagen“ und „II. Begriff des sozialen Handelns“. Der Begriff des sozia-len Handelns wiederum wird über die Begriffe soziale Bezie-hung und gesellschaftliche Ordnung bis zum Verbandsbegriff

15 Zu den werkgeschichtlichen Zusammenhängen vgl. Wolfgang Schluchter,

„Max Webers Beitrag zum ‚Grundriss der Sozialökonomik‘. Editionsprob-leme und Editionsstrategien“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und So-zialpsychologie, 50 (1998), S. 327 ff. Die Klärung der werkgeschichtlichen Zusammenhänge ist nicht ohne Bedeutung für die Lösung systematischer Fragen. So stellt etwa Jürgen Habermas die offizielle Version von 1920 der inoffiziellen Version von 1913 gegenüber und verbindet dies mit der Vermutung, Weber habe die in der inoffiziellen Version erkennbare Unter-scheidung zwischen zwei Arten der Handlungskoordination (Interessen-komplementarität versus normativer Konsens) und zwei Graden der Rati-onalität des normativen Einverständnisses (konventionell versus postkon-ventionell) für die offizielle Version nicht nutzen können, weil er diese, verglichen mit der inoffiziellen Version, begrifflich enger angelegt habe. Genau das Gegenteil ist der Fall. Denn die offizielle Version stellt eine Erweiterung der inoffiziellen dar. Die prinzipiellen Einwände von Jürgen Habermas gegen die Handlungstheorie Max Webers bleiben davon aller-dings unberührt. Sie haben mit seinem in den Grundlagen andersgearte-ten handlungstheoretischen Ansatz zu tun.

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geführt. Diesem Aufbau vorangestellt ist die Definition dessen, was Weber unter Soziologie verstanden wissen möchte: „So-ziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Han-deln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äuße-res oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insoweit als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“16

Aus dem Abschnitt über die methodischen Grundlagen wird klar: Weber will den Gegensatz von Natur- und Geisteswis-senschaften und von Erklären und Verstehen überwinden. Der Gegensatz von Natur- und Geisteswissenschaften, das hatte er schon früh in seinen Studien zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften gezeigt, ist nicht prinzipieller Natur und hat keine ontologische, sondern eine logische Bedeutung. Er trennt Disziplingruppen nach zwei Hinsichten auf die Wirklich-keit. Man kann die Wirklichkeit immer sowohl generalisierend wie individualisierend betrachten. Ob man das eine oder das andere tut, hängt vom Erkenntnisinteresse ab. Gewiss, menschliche Äußerungen und Handlungen sind dadurch ge-kennzeichnet, dass in ihnen Sinn inkorporiert ist, dass sie sich wegen ihrer Sinnhaftigkeit qualitativ von anderen „Stoffen“ unterscheiden. Aber dies ändert nichts daran, dass auch sie in generalisierender wie individualisierender Hinsicht untersucht werden können. Sinn allerdings, ob als Textsinn oder als Handlungssinn, ob als metaphysisch wahrer, objektiv richtiger oder subjektiv gemeinter Sinn, will verstehend erschlossen werden. Wo wir als Erfahrungswissenschaftler auf Sinnhaftes stoßen, sollen wir verstehen, weil uns dies zu einem besseren Erklären verhilft. Denn Verstehen steht nicht im Gegensatz

16 Zitiert nach Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5., revidierte Aufl.,

Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 1976, S. 1 (§ 1).

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zum Erklären, sondern in dessen Diensten: Es schafft, so Weber, ein Mehr an Erklärung. Insoweit Menschen regelorien-tiert handeln können, lässt sich ihr Handeln ‚berechnen‘, und Wahlfreiheit ist die Voraussetzung für Regelbefolgung. Freilich unterscheidet sich die Erklärung eines Handlungsereignisses von der eines beliebigen Ereignisses, zwar nicht in der Struk-tur, wohl aber im Explanans, das Verwendung findet. Es ist in der Regel kein allgemeines Gesetz oder ein Wahrscheinlich-keitsgesetz, sondern ein Handlungsprinzip. Die verstehende Soziologie sucht zwar auch nach gesetzmäßigen, vor allem aber nach rationalen und nach teleologischen Erklärungen. Letztere sind von der Art: X hat das Ziel, F zu realisieren; X ist davon überzeugt, dass er F nur realisieren kann, wenn er H ausführt. X führt H aus.17

Bei Weber ist dieser wichtige Zusammenhang in die Definition von Soziologie aufgenommen. Sie ist eine Wissenschaft, „wel-che soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in sei-nem Ablauf und in seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ „In seinem Ablauf“, das verlangt die Definition der Situation, durch den Teilnehmer sowohl wie durch den Beobachter, der an den subjektiv gemeinten Sinn des Handelnden anknüpft; „in seinem Ablauf“, das verlangt aber auch die Einsicht in die Kriterien, gemäß denen der Handelnde Ziele und Mittel wählt. „In seinen Wirkungen“, das verlangt die Analyse der Folgen des Handelns, der beabsichtigten wie der unbeabsichtigten, verlangt vor allem die Analyse der Folgen des Handelns vieler Akteure und ihrer Vernetzung zu Strukturen, die das weitere Handeln restringieren, aber auch ermöglichen. Rationale und teleologische Erklärungen müssen deshalb immer mit struktu-rellen Erklärungen verbunden werden. Jene Handlungstheo-rien der Gegenwart, die den methodologischen Individualis-

17 Dazu ausführlich Chris Lorenz, Konstruktion der Vergangenheit, Köln-

Weimar-Wien: Böhlau 1997, bes. Kap. VII. Eine rationale Erklärung hat folgende formale Struktur (ebd., S. 104): 1. A befand sich in einer Situation des Typs C. 2. In einer Situation vom Typ C ist X die richtige Handlung. 3. A verrichtete X.

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mus vertreten, folgen dieser Einsicht. Hier findet sie sich über-setzt in den Dreischritt, den jede gültige soziologische Erklä-rung tun sollte: Logik der Situation - Logik der Selektion - Lo-gik der Aggregation. Ein individualistisch-strukturalistischer Ansatz muss also kontrolliert zwischen der Makro- und der Mikroebene wechseln, muss in diesem Sinne ein Mehr-Ebe-nen-Ansatz sein. In dieser Hinsicht gibt es zwischen der RC-Theorie und der verstehenden Soziologie Max Webers keine Differenz.18

Aus dem Abschnitt über das soziale Handeln, erweitert um die Ausführungen zur sozialen Beziehung, zur gesellschaftlichen Ordnung und zum Verband, wird klar: Weber will das neoklas-sische Handlungsmodell der Nationalökonomie überwinden, das als Handlungsprinzip letztlich nur das Prinzip des Grenz-nutzens kennt. Gewiss kann der Handelnde, wie Weber for-muliert, „die konkurrierenden und kollidierenden Zwecke ohne wertrationale Orientierung an ‚Geboten‘ und ‚Forderungen‘ einfach als gegebene subjektive Bedürfnisregungen in eine Skala ihrer von ihm bewusst abgewogenen Dringlichkeit brin-gen und darnach sein Handeln orientieren, dass sie in dieser Reihenfolge nach Möglichkeit befriedigt werden.“19 Und diese objektive Handlungsmöglichkeit stellt uns die nationalökono-mische Theorie in einem Idealtypus generellen Charakters auch zu Recht vor. Aber er wäre eine inakzeptable Veren-gung, wollte man die dem Handelnden offenstehenden Hand-lungsmöglichkeiten auf diesen Typus und auf den darin einge-bauten normativen Standard der Zweckrationalität beschrän-ken. Eine Typologie der Handlungsorientierungen muss breiter ansetzen, als dies das Handlungsmodell der neoklassischen Nationalökonomie vermag. Diese Einsicht führt Weber zu ei-ner Differenzierung der Handlungsorientierungen, der gerade nicht mehr, wie noch im Kategorienaufsatz von 1913, die ab-solute Zweckrationalität des Handelns als Konstruktionsprinzip zugrunde liegt, so dass die absolute Wertrationalität des Han-delns den davon abweichenden Fall darstellt. Zweck- und

18 Dies gilt vor allem für die Ansätze von James Coleman und Hartmut

Esser. 19 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 13.

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Wertrationalität, in der Wirklichkeit immer ineinander ver-schränkt, stellen begrifflich gleichrangige normative Standards der Orientierung des Handelns dar. Zweck ist für Weber die Vorstellung eines Erfolgs, die Ursache einer Handlung wird. Doch keineswegs alles Handeln ist in diesem Sinne erfolgs-orientiert. Es gibt auch affektuelles, vor allem aber werthaftes Handeln. Wert lässt sich dabei definieren als die Vorstellung einer Geltung, die Ursache einer Handlung wird. Es gibt also zwei rationalisierungsfähige Handlungsorientierungen, die zweckhafte und die werthafte. Denn Handeln kann sowohl von Zweck-Maximen wie von Norm-Maximen geleitet sein. Es gibt aber darüber hinaus auch nichtrationale Handlungsorientie-rungen, die nicht rationalisierungsfähig, sondern allenfalls sublimierungsfähig sind.

Auch auf der Makroebene will Weber Überkommenes hinter sich lassen. Sein Kampf gegen Kollektivbegriffe, gegen eine substanzielle Auffassung von Makrobegriffen wie Staat oder Kirche ist bekannt. Solche Begriffe bezeichnen Strukturen, die zwar überindividuell sind, aber nicht subjektlos. Sie existieren nur so lange, wie die Chance besteht, dass eine bestimmte Art von sinnhaft orientiertem sozialem Handeln durch sie tatsäch-lich veranlasst wird. Dennoch muss die Soziologie zwischen Handlungsorientierungen und Handlungsstrukturen unter-scheiden. Handlungsstrukturen entstehen, sobald Handlungs-orientierungen koordiniert werden, sobald aus Handeln und sozialem Handeln eine soziale Beziehung wird. Formieren sich soziale Beziehungen zu Ordnungen und Verbänden, so werden sie immer unabhängiger von der einzelnen Handlung. Durch sie werden soziale Beziehungen indirekt. Es gibt also Aggregationsniveaus, die Weber mit „Beziehung“ und "Ord-nung“, und organisatorischen Verfestigungen, die er mit „Ver-band“, unterschieden in „Anstalt“ und „Verein“, beschreibt. Im Kategorienaufsatz lief die Begriffsfolge noch vom „Zweckver-ein“ über „Anstalt“ zum „Verband“, was der Differenzierung des „Gemeinschaftshandelns“ (später „soziales Handeln“) in „Gesellschaftshandeln“ und „Einverständnishandeln“ ent-sprach.

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Der Ansatz von Webers Handlungs- und Strukturtheorie, seine Differenzierung von Handlungsorientierung und Handlungsko-ordination sowie der Aggregationsniveaus und organisatori-schen Verfestigungen von Handlungsstrukturen lässt sich in vereinfachter Form schematisch wie folgt wiedergeben:

Typologie der Handlungsorientierungen und der Handlungskoordinationen

§ 2 .............. § 3 .................... § 5 .................... § 12

Handeln und soziales Handeln Soziale Beziehungen Legitime Ordnung Verband (einseitige Sinnbezogenheit) (direkte wechselseitige (indirekte wechselseitige (indirekte wechselseitige Sinnbezogenheit) Sinnbezogenheit, vermittelt Sinnbezogenheit, Maximen über Maximen) garantiert durch Verwaltungsstab) traditonal affektuell zweckrational wertrational § 4 Regelmäßigkeiten des Ablaufs von Handeln aufgrund gleichartig gemeinten Sinns Brauch und Sitte bedingt durch bedingt durch Geltungsvorstellung Interessenlage Tausch, institutionalisiert Befehl und Gehorsam, institutionalisiert in legitimen in Marktordnungen mit Ordnungen und Verbänden aller Art, einschließlich

Wirtschaftsverbänden wirtschaftenden und wirtschaftsregulierenden Verbänden

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Mit diesem Schema lassen sich zunächst zwei Folgerungen verbinden: 1. Die soziologischen Grundbegriffe stehen in kei-ner historischen Folge. 2. Logisch gesehen gehen weder die sozialen Gebilde als strukturierte Prozesse oder prozessie-rende Strukturen den Handelnden noch diese jenen voraus. Vielmehr müssen beide als gleichursprünglich gelten. Webers Ansatz fügt sich also der Meadschen Unterscheidung gerade nicht.

Und noch eine dritte Folgerung lässt sich mit dem Schema verbinden. Obgleich die „Soziologischen Grundbegriffe“ als Kapitel 1 in einen Beitrag mit dem (allerdings problemati-schen) Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ einführen, findet man darin keine Definition der Titel-Begriffe. Für den Begriff der Wirtschaft wird dieses ‚Versäumnis‘ im Kapitel 2 zwar nachgeholt. Eine Definition von Gesellschaft sucht man aber sowohl in diesem Kapitel wie in den folgenden vergebens. Max Webers Soziologie, seine Handlungs- und Strukturtheo-rie, umgeht absichtlich den Gesellschaftsbegriff.

Für Max Webers Soziologie ist also der Gesellschaftsbegriff nicht wichtig. Er löst ihn auf in Begriffe wie soziale Beziehung, gesellschaftliche Ordnung und Verband. Umso wichtiger aber ist ein anderer Begriff, zu dem sich allerdings gleichfalls keine abschließende Definition findet. Es ist der Begriff der Kultur. Webers verstehende Soziologie, seine Handlungs- und Strukturtheorie, ist ja eine Kulturwissenschaft in einem spezifi-schen Sinne. Zum einen ist sie eine wertbeziehende Wissen-schaft im Sinne Heinrich Rickerts, zum andern ist sie auf Sinnzusammenhänge als ihr zentrales Untersuchungsfeld aus. Sinn begegnet sowohl als subjektiv gemeinter Sinn des Han-delnden wie als ‚objektiver‘ Sinn von Strukturen. Und sinnbe-zogen ist nicht nur der Teilnehmer, sondern auch der Beob-achter. Will er überhaupt etwas Relevantes erkennen, muss er „Kulturwerte“ im Hintergrund haben. Sinn und Wert – beides verweist auf Kultur.

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Wie ließe sich ein Kulturbegriff bestimmen, welcher der So-ziologie Webers adäquat wäre? Ich mache einen Versuch: 1. Kultur ist ein Zusammenhang von Zeichen und Symbolen, der sowohl ein Modell der Wirklichkeit wie ein Modell für die Wirk-lichkeit darstellt. Hier folge ich Clifford Geertz. 2. Dieser Zu-sammenhang von Zeichen und Symbolen hat kognitive, eva-luative und expressive Komponenten. Diese können ausdiffe-renziert sein und werden von je eigenen Codes regiert. 3. Solche Codes wie wahr/falsch, schön/hässlich, gut/böse oder nützlich/schädlich grenzen Wertsphären voneinander ab und können in Lebensordnungen institutionalisiert werden, die ihrerseits wiederum ausdifferenziert sein können. Weber hat mit einem solchen Modell in seiner berühmten „Zwischenbe-trachtung“ operiert.20 4. Kultur wirkt und reproduziert sich über Prozesse der Institutionalisierung, der Internalisierung und der Interpretation. Dabei kann wiederum entweder die kognitive, die evaluative oder die expressive Dimension betont werden. Interpretationen stehen unter der Voraussetzung, dass Kultur zugleich ein Wissen ist. Kulturelles Wissen bezieht sich vor allem auf zwei Arten von Gründen: Gründe im Sinne von Aus-sagen und Gründe im Sinne von Motiven, die Weber auch die Bestimmungsgründe des Handelns nennt. Das kulturelle Wis-sen lässt sich also in erster Linie für theoretische oder für praktische Zwecke gebrauchen. Unser theoretisches Wissen bezieht sich dabei nur indirekt auf Handeln, unser evaluatives Wissen dagegen direkt. Das evaluative Wissen ermöglicht Antworten auf die Fragen: Was ist gut und nützlich für mich, was für uns? Dies entspricht dem Doppelbezug aller Kultur auf zwei Arten von Trägern: Individuum oder Kollektiv. 5. Wichtig ist aber nicht allein, welche Wertdimension im Vordergrund steht, sondern auch, wie man sie veranschaulicht. Die Reprä-sentation, die Kultur immer auch leistet (Modell der Wirklich-keit), muss ihrerseits repräsentiert werden, in Gedanken und in Handlungen, aber auch in materiellen Artefakten. Eine be-sondere Rolle kommt dabei Ritualen und Zeremonien zu. 6.

20 Vgl. dazu die Studie von Thomas Schwinn, „Wertsphären, Lebensordnun-

gen und Lebensführungen“, in: Agathe Bienfait und Gerhard Wagner (Hg.), Verantwortliches Handeln in gesellschaftlichen Ordnungen, Frank-furt: Suhrkamp 1998, S. 270 ff.

Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber

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Zeichen- und Symbolverwendung ist ein welterrichtendes Handeln von Individuen und Kollektiven, das dazu führt, dass Dinge und Abläufe nicht nur sind, sondern auch etwas be-deuten. Dies führt zur Differenz von Zeichen und Bezeichne-tem, von Symbol und Symbolisiertem, die sich zum Gegensatz vertiefen kann.

Kultur ist also kein Bereich, sondern eine Dimension des menschlichen Lebens. Kultur ist damit ein Grundbegriff der Handlungs- und Strukturtheorie. Deshalb gilt Max Webers Feststellung: Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwis-senschaft sei, dass wir Kulturmenschen sind, begabt und be-fähigt, zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen. Deshalb auch ist Soziologie eine verstehende Wis-senschaft, die mit Text- und Handlungsverstehen operiert. Sie ist eine Wissenschaft, die an die Teilnehmerperspektive, an den vom Handelnden bereits konstituierten subjektiv gemein-ten oder an den in Strukturen objektivierten Sinn anknüpft. Aber sie hebt damit weder den Hiatus zwischen Idee oder Ideal und Idealtypus noch den zwischen Selbst- und Fremd-verstehen, Selbst- und Fremdbeschreibung, auf. Dieser Hiatus lässt sich nicht völlig überwinden, obgleich die verstehende Soziologie von der Unterstellung möglicher Überwindung, also von einem regulativen Universalismus, geleitet sein muss.

Blickt man von hier auf die oben besprochenen Einordnungen von Max Webers Ansatz zurück, so fällt auf, dass sie der Komplexität dieses Ansatzes kaum gerecht werden. Denn weder sind die systemtheoretischen Einwände stichhaltig, noch folgt Weber dem teleologischen (Habermas) oder dem kontraktualistischen Modell (Mead). Selbst die RC-Theorie, die an entscheidenden Punkten mit Weber übereinkommt, tendiert dazu, seinen Ansatz reduktionistisch zu unterlaufen. Webers Ansatz ist reicher, als die bisher referierten Einordnungen na-helegen. Dies führt zu der Frage, ob man die oben mitgeteilten Schemata nicht modifizieren muss.

Tatsächlich bin ich dieser Meinung. Wie der umschriebene Kulturbegriff zeigt, liegt ein entscheidendes Moment von We-

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bers Ansatz in der Sinnkonstitution als einem konstruktiven Akt (Stellung nehmen und Sinn verleihen). Dies gilt für Teil-nehmer und Beobachter gleichermaßen. In diesem Sinne spreche ich von einem konstruktivistischen Ansatz, wobei mir jeder Anklang an den radikalen Konstruktivismus postmoder-ner Prägung ferne liegt. Angeleitet durch George Herbert Mead, unterscheide ich zwischen Kontraktualismus, Kollekti-vismus und Konstruktivismus, die alle bewusstseinsphiloso-phisch begründet werden können und denen die Theorie des kommunikativen Handelns bis zu einem gewissen Grade als fundamentale Alternative gegenübersteht.

Problemsituation in der Handlungstheorie (erweitert) Leitdifferenz

Handelnder Situation

Bewusstseinsphilosophie

Sprachphilosophie

Metatheorie

Kontraktualismus

Kollektivismus

Konstruktivismus

Semantik

Pragmatik

Theorie (Methodik und Grundkonzepte)

Theorie der Zwecktätigkeit

Theorie des nor-menregulierten

Handelns

Theorie des sinn-konstituierenden

Handelns

Theorie des kommunikativen Handelns

Ansätze der Handlungstheorie (erweitert)

Modell

Annahme

Philosophischer

Hintergrund

Begriff des Handelns

Begriff der Ordnung

Methodik

Kontraktualistischer

Ansatz

Handelnder vor

Situation

Utilitarismus und

Nachfolger

Zwecktätigkeit

(instrumental und strategisch)

Instrumentelle Ordnung,

die individuelles und kollektives Handeln

steuert

Beobachtendes

Erklären

Kollektivistischer

Ansatz

Situation vor Handelndem

Aristoteles und Hegel

und Nachfolger

Normativ reguliertes

Handeln im Konflikt mit egoistischem Handeln

Normative Ordnung, die

egoistisches Handeln beschränkt

Beobachtendes Erklären

oder hermeneutische Rekonstruktion

Konstruktivistischer Ansatz

Handelnder und Situation gleich ursprünglich und

vermittelt durch Kultur

Kant und Nachfolger:

Transzendental- philosophie

Spontanes und

regelgeleitetes Handeln: affektuell, zweckrational

und wertrational, alle im Konflikt

Konflikt zwischen in-strumenteller und nor-

mativer Ordnung, die Handeln steuern

und beschränken

Beobachtendes Erklären, verstehendes Erklären, hermeneutische Rekon-

struktion kombiniert

Kommunikations-

theoretischer Ansatz

Handelnder und Situation gleich ursprünglich und

vermittelt durch Sprache

Sprachphilosophie:

Transzendental- pragmatik

Verständigungsorien-

tiertes Handeln in Kon-flikt mit erfolgsorien-

tiertem Handeln

Lebenswelt, gefährdet

durch Systeme

Hermeneutische Rekon-struktion (Lebenswelt)

und beobachtendes Erklären (Systeme)

Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber

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4. Ausblick

Wie lassen sich nun diese Überlegungen zu Max Webers historischer Kulturwissenschaft als einer Handlungs- und Strukturtheorie an die aktuelle Problemsituation anschließen? Bleibt nur der Rückblick, oder lohnt auch der Rückgang, weil er zur Lösung aktueller handlungstheoretischer Probleme bei-zutragen vermag? Ich meine, dass letzteres der Fall sei. Ich gebe zwei Hinweise als Illustration.

Max Webers Typologie der Handlungsorientierungen legt es nahe, zwei Auffassungen zu vermeiden: dass zweckrationales Handeln einen Grenzfall des kommunikativen Handelns dar-stelle, aber auch, dass wertrationales Handeln ein Grenzfall des zweckrationalen Handelns sei. Im ersten Fall würde das zweckrationale, im zweiten Fall das wertrationale Handeln als derivater Modus einer umfassenderen Handlungsorientierung behandelt. Die erste Auffassung vertritt Jürgen Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns, der zweiten hängen die Vertreter der Wert-Erwartungstheorie an.

Auch Max Webers Typologie der Handlungskoordinationen legt es nahe, zwei Auffassungen zu vermeiden: dass es eine gänzlich normfreie Koordination geben könne, aber auch, dass alle Koordination letztlich nur auf den Nutzenkalkülen der Beteiligten aufgebaut sei. Es gibt zwar nach Weber den Un-terschied zwischen einer Koordination kraft Interessenkons-tellation und einer Koordination kraft Autorität, doch keine der beiden ist gänzlich normfrei, und die Koordination kraft Autorität, die sich auf einen Legitimitätsglauben bei den Betei-ligten stützt, ist mit Rückgriff auf deren Nutzenkalkül nur unzu-reichend erklärt. Auch hier ergibt sich eine interessante Diffe-renz sowohl zur Theorie des kommunikativen Handelns wie zur Theorie der rationalen Wahl, die das Koordinationsprob-lem spieltheoretisch behandelt. Jürgen Habermas denkt, nicht zuletzt aufgrund seiner Zugeständnisse an die Systemtheorie, an normativ entleerte Koordinationen, etwa auf Märkten oder

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durch Administrationen, die Theorie der rationalen Wahl ver-steht den Legitimitätsglauben letztlich als ein Vertrauen, das vom nutzenkalkulierenden Spieler mittels iterativer Spiele all-mählich aufgebaut wird. Diesen Vorgang, den es natürlich gibt, nennt Max Weber übergreifende Vergemeinschaftung, die aber gerade nicht mit Legitimitätsglauben identisch ist.

Handlungs- und Strukturtheorie nach Max Weber, dies ist also tatsächlich im eingangs erwähnten Doppelsinn zu nehmen. Obgleich sich die theoretische Problemsituation seit Weber zweifellos verschoben hat, verspricht der Rückgang auf sei-nen Ansatz auch für die heute anstehenden Probleme noch Gewinn. Eine an Weber orientierte Handlungs- und Strukturtheorie wird sich von der modernen Systemtheorie distanzieren, sich als eine verstehende und (dadurch) erklärende Wissenschaft begreifen, die – mittels eines Mehr-Ebenen-Modells, das alternative Handlungsorientierungen und Handlungskoordinationen einschließt – die historisch wir-kungsmächtigen Sinnkonstruktionen in vergleichender und entwicklungsgeschichtlicher Perspektive zu untersuchen hat.