Hans-Günter Heimbrock (Religiöse) Erfahrung und … W. Dilthey, Fragments for a Poetics...

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1 Vortrag SI Hans-Günter Heimbrock (Religiöse) Erfahrung und Theologie 1 (Vortrag auf der Jahrestagung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD Berlin 23. 25. 9. 2013) 1. Präludium: Religion als Lebenspraxis Ich starte mit einer kleinen Meditation, einer methodologischen Meditation, wenn Sie so wollen. Wir reden unablässig, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowieso. Theologen und Theologinnen sind auf Theo-Logie gerichtet. Die Logoshaftigkeit oder sprachliche Verfasstheit von christlicher Theologie scheint zentral, zumal für eine Kirche des Wortes unaufgebbar. Kirche wird oft als Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet. Ist mit religiöser Kommunikation schon alles über Religion gesagt? Zielt der, der Religion thematisiert, immer schon und immer nur auf Kommunikation über sie? Redet Religion nur, oder schweigt sie auch? Für manche gilt Schweigen als Abbruch des Dialogs, als Ende der Kommunikation. Bleiben wir doch einen Moment beim Schweigen. Alle Hochreligionen kennen kultisches Schweigen. Das Phänomen charakterisierte der niederländische Religionswissenschaftler G. van der Leeuw in seinem klassischen Lehrbuch schon vor drei Generation treffend so: „Dieses kultische Schweigen ist nicht ein Fehlen des Lautwerdens, es hat nicht negativen, sondern positiven Wert. Genau wie in der Musik die Pausen manchmal den stärksten Eindruck und den reichsten Ausdruck vermitteln…, wirkt das Schweigen im Kult nicht nur als Ausdruck der größten Ergriffenheit, sondern auch als Vermittlung der tiefsten Offenbarung. „Das Schweigen im Kult bedeutet nicht die leeren Momente der Frömmigkeit, sondern die erfüllten". 2 Deshalb kann Schweigen im Kult als symbolischer Verweis der Un-Sagbarkeit Gottes gelesen werden, wie diese vor allem in mystischen Traditionen verschiedenster Religion anzutreffen ist. Wir reden unablässig, reden über Sachen. Was aber erfahre ich im Schweigen? Schweigen ist ein Element im Repertoire des menschlichen Verhaltens, neben anderen und nach anderen. Mancher schweigt, der mit erhöhter Aufmerksamkeit die Dinge der Umgebung verfolgt, alle Außenweltreize abhängt. Wer zuhört, schweigt, aber nicht jeder der schweigt, hört auf Anderes, Externes. Wir erfahren das Phänomen als höchst ambivalent: als gespenstische oder beklemmende Stille, die sich plötzlich im Raum ausbreitet, mitunter aber auch als wohltuende Stille, in der ich mich geborgen fühle, zuweilen gerade in schweigender Gegenwart anderer Menschen, z.B. in schweigendem Einklang mit unserem Liebespartner. Wir reden unablässig. Aber dabei muss nicht alles gesagt werden. Es gibt auch stillschweigende Geltung des nicht Gesagten, und das nicht nur vor Gericht. In Schweigen hüllen wir nicht nur Heiliges oder Tabuisiertes. Im Schweigen bleibt vor allem auch das Ungesagte im Sinne des unausgesprochen Geltenden, die elementaren Voraussetzungen dessen, was schon jede alltägliche Situation prägt. Schweigen markiert also eine Grenze und Vorgabe der Sprache und des Sagbaren, mit dem Anthropologen Chr. Wulf gesagt: „Das Schweigen ist Grund und Abgrund der Sprache.“ 3 So viel zum Schweigen. 1 © Hans-Günter Heimbrock 2 G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 1933 , 492. Der letzte Satz ist ein Zitat aus H.P. Amiel, Fragmente d’un journal intime, 1883, II, 159. 3 Chr. Wulf, Schweigen, in: ders., (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim 1997, 1123.

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Vortrag SI

Hans-Günter Heimbrock

(Religiöse) Erfahrung und Theologie1

(Vortrag auf der Jahrestagung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD

Berlin 23. – 25. 9. 2013)

1. Präludium: Religion als Lebenspraxis Ich starte mit einer kleinen Meditation, einer methodologischen Meditation, wenn Sie so

wollen. Wir reden unablässig, Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowieso. Theologen

und Theologinnen sind auf Theo-Logie gerichtet. Die Logoshaftigkeit oder sprachliche

Verfasstheit von christlicher Theologie scheint zentral, zumal für eine Kirche des Wortes

unaufgebbar. Kirche wird oft als Kommunikationsgemeinschaft bezeichnet. Ist mit religiöser

Kommunikation schon alles über Religion gesagt? Zielt der, der Religion thematisiert, immer

schon und immer nur auf Kommunikation über sie? Redet Religion nur, oder schweigt sie

auch? Für manche gilt Schweigen als Abbruch des Dialogs, als Ende der Kommunikation.

Bleiben wir doch einen Moment beim Schweigen. Alle Hochreligionen kennen kultisches

Schweigen. Das Phänomen charakterisierte der niederländische Religionswissenschaftler G.

van der Leeuw in seinem klassischen Lehrbuch schon vor drei Generation treffend so: „Dieses

kultische Schweigen ist nicht ein Fehlen des Lautwerdens, es hat nicht negativen, sondern

positiven Wert. Genau wie in der Musik die Pausen manchmal den stärksten Eindruck und

den reichsten Ausdruck vermitteln…, wirkt das Schweigen im Kult nicht nur als Ausdruck

der größten Ergriffenheit, sondern auch als Vermittlung der tiefsten Offenbarung. „Das

Schweigen im Kult bedeutet nicht die leeren Momente der Frömmigkeit, sondern die

erfüllten".2 Deshalb kann Schweigen im Kult als symbolischer Verweis der Un-Sagbarkeit

Gottes gelesen werden, wie diese vor allem in mystischen Traditionen verschiedenster

Religion anzutreffen ist.

Wir reden unablässig, reden über Sachen. Was aber erfahre ich im Schweigen? Schweigen ist

ein Element im Repertoire des menschlichen Verhaltens, neben anderen und nach anderen.

Mancher schweigt, der mit erhöhter Aufmerksamkeit die Dinge der Umgebung verfolgt, alle

Außenweltreize abhängt. Wer zuhört, schweigt, aber nicht jeder der schweigt, hört auf

Anderes, Externes. Wir erfahren das Phänomen als höchst ambivalent: als gespenstische oder

beklemmende Stille, die sich plötzlich im Raum ausbreitet, mitunter aber auch als wohltuende

Stille, in der ich mich geborgen fühle, zuweilen gerade in schweigender Gegenwart anderer

Menschen, z.B. in schweigendem Einklang mit unserem Liebespartner.

Wir reden unablässig. Aber dabei muss nicht alles gesagt werden. Es gibt auch

stillschweigende Geltung des nicht Gesagten, und das nicht nur vor Gericht. In Schweigen

hüllen wir nicht nur Heiliges oder Tabuisiertes. Im Schweigen bleibt vor allem auch das

Ungesagte im Sinne des unausgesprochen Geltenden, die elementaren Voraussetzungen

dessen, was schon jede alltägliche Situation prägt. Schweigen markiert also eine Grenze und

Vorgabe der Sprache und des Sagbaren, mit dem Anthropologen Chr. Wulf gesagt: „Das

Schweigen ist Grund und Abgrund der Sprache.“3 So viel zum Schweigen.

1 © Hans-Günter Heimbrock 2 G. van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 1933 , 492. Der letzte Satz ist ein Zitat aus H.P.

Amiel, Fragmente d’un journal intime, 1883, II, 159. 3 Chr. Wulf, Schweigen, in: ders., (Hg.), Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim

1997, 1123.

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Über das Schweigen hinaus sind es auch andere Phänomene des menschlichen Verhaltens, die

für eine erweiterte Perspektive auf Religion von Belang sind. Erheblich sind in spätmodernen

Kulturen veränderte Lebensformen, neue Arten der Generierung von Weltbildern in medialen

Welten, veränderte Qualitäten der Lebensgefühle. Erheblich sind also nicht nur Phänomene

und Formen von Kommunikation in der Religion, sondern auch Phänomene der Lebenspraxis,

die auf der angestammten Landkarte der als Kommunikation vermessenen Religion noch

nicht recht verortet sind: ein durch Ritualisierungen und Festkulturen strukturiertes urbanes

Alltagserleben (zwischen Krach und ekstatischem Fest), suchtartige Lektüreerfahrungen von

Harry-Potter-Gemeinden und epidemische Versenkungen in literarische Phantasy-Welten, die

Faszination von Menschen durch bestimmte Klangwelten gerade inmitten säkularisierter

Milieus, die Suche nach intensiviertem Körpererleben bis hin zu Heilserlebnissen in Fitness-

Studios und auf Bergwanderungen, genauso aber katastrophische Kollektiverfahrungen wie

der 11. September und das Blutbad 2011 in Norwegen samt der öffentlichen

Inanspruchnahme religiöser Symbolhandlungen zu deren Bewältigung, das ‚Flow-Erleben‘

beim Stadtmarathon, Träume, Wahnvorstellungen und Eingebungen, die Versunkenheit

Jugendlicher in LAN-Partys und Computernächten, die spezielle Art, in der Menschen an

materialen Objekten des alltäglichen Lebens hängen, die Verstrickung in virtuellen Welten

beim Gebrauch des Computers und der computergesteuerten Spielzeugtechnik u. Alle diese

und weitere alltagsgebundene Phänomene gehören zur gegenwärtigen Lebenspraxis von

Menschen, in all ihrer schillernden und chaotischen Vielschichtigkeit und Undurchsichtigkeit.

Eine empirisch offene Betrachtung religiöser Praxis, die den genannten Phänomenen gerecht

werden will, muss sich auf das Ganze der Lebenspraxis richten. Denn das Leben, auf das sich

Religion bezieht, besteht nicht nur aus seinen mehr oder weniger elaborierten Sinn-

Deutungen, und schon gar nicht nur aus verbal-kommunikativen Akten. Menschen verleihen

dem Lebensgefühl von Beheimatung oder von Entfremdung Ausdruck, mit Worten, aber auch

auf andere Weise, durch leiblich-körperliche Gesten, durch spezifische Gestaltung ihrer

persönlichen Wohnumgebung, im schweigenden Staunen oder in der Faszination vor

Naturphänomenen.

Eine dem entsprechende theoretische Erschließung muss deshalb auch die sie fundierenden

Erlebnisse und vorsprachlichen Artikulationsweisen mit aufzuspüren versuchen. Praxis von

Religion als Lebenspraxis gilt ja nicht allein als Austausch der Informationen über

Metaphysisches.

Wir reden unablässig. Theologie kann nur im Modus des Redens verfahren. Und sie ist selbst

nicht Religion, sondern geht ihr reflexiv nach. Gibt es eine Theologie, die solche Phänomene,

solches Verhalten und die damit verbundenen Erfahrungen von Menschen aufnehmen kann?

Und welche Art der theoretisch-theologischen Annäherung an Erfahrung verhilft dazu, die bei

menschlichen Erfahrungen beteiligten lebensweltlichen Prozesse in den Blick zu bekommen?

Praxis von Religion als Lebenspraxis wird hier nicht im materialen Sinne als religiöse

Sonderwelt im Rahmen des Lebens insgesamt benutzt. Eine materiale Definition von Religion

identifiziert Religion durch die Bestimmung von Gegenständen in der Wirklichkeit, die als

religiös eingeordnet werden, sei es eine Erzähltradition aus der Bibel, ein Sakralraum oder ein

Gegenstand, der in kirchlicher Religionspraxis verwendet wird. Dabei kommt aber das

Moment von Lebenspraxis im Sinne der vorgängigen und vorvertrauten lebensweltlichen

Erfahrung zu kurz. Um diese Qualität der Lebenspraxis, in die jeweils alle Glaubenspraxis

immer schon eingebettet ist, angemessen zu benennen, nehme ich den Begriff der „gelebten

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Religion“ in Anspruch.4 Praktische Theologie wird damit Theorie Gelebter Religion in einem

ganz bestimmten Sinne. In ihr spielt ein spezieller Begriff der Erfahrung eine fundierende Rolle.

2 Gelebte Erfahrung als Grundkategorie einer Theorie gelebter Religion

Der Aufgabe der theoretischen Erschließung des Vollzugs von Erfahrung wende ich mich im

nächsten Schritt zu. Insgesamt geht es mir dabei um eine Strukturbeschreibung von Erfahrung

als Basis empirisch-theologischer Forschung, nicht primär um materiale inhaltliche Analysen,

wenn auch gelten muss, dass die formale Beschreibung von Erfahrung (und religiöser

Erfahrung) nicht entscheidende Elemente der Phänomene auf kategorialem Wege ausblenden

darf.5

Ebenso unerlässlich wie gehaltvoll scheint mir die theoretische Bemühung, einen

Erfahrungsbegriff zu rekonstruieren, der nicht vorschnell den Standards

naturwissenschaftlicher Erfahrungswissenschaft folgt, sondern der nach den Spezifika

menschlicher, sinnbezogener Erfahrungsprozesse fragt. Einen profilierten Vorschlag zur

begrifflichen Klärung der Struktur menschlicher Erfahrung hat im Rückgriff auf

lebensphilosophische und pragmatistische Traditionen M. Jung vorgelegt.6 Ich werde wichtige

Elemente seiner Konzeption umreißen, sie dann aus phänomenologischer Perspektive

weiterzuführen versuchen. Mir scheinen zumindest einige Argumentationslinien dieses primär

an geltungstheoretischer Debatte von Erfahrungsbegriffen orientierten Konzeptes auch zur

Klärung eines empirisch-theologisch brauchbaren Erfahrungsbegriffs erhellend. Und selbst

die Schwachstellen und Einseitigkeiten dieses Ansatzes indizieren in hilfreicher Weise

Probleme in Richtung auf ein lebensweltliches Erfahrungsverständnis. Die Leistungen dieses

Konzeptes liegen darin, dass zum einen genauer auf die spezifische Qualität menschlicher

Erfahrung zurückgefragt wird, zum anderen die Qualifizierung des Religiösen in einer

gehaltvolleren und theologisch anschlussfähigen Art und Weise vorgenommen werden kann.

Mit diesen Ansätzen ist davon auszugehen, den Startpunkt für die Klärung des

alltagstauglichen Erfahrungsbegriffs nicht in einem bereichs- oder inhaltspezifisch gedachten

Wirklichkeitssegment religiöser Erfahrung zu suchen, sondern nach der Eigenart von

Erfahrung generell zurückzufragen. Mit der lebensphilosophischen Rekonstruktion von

Erfahrung bei Dilthey und James lassen sich religiös geprägte Wirklichkeitszugänge als

„exemplarische Fälle dieses lebensweltlichen Typ von Erfahrung“ aufzeigen.7 Das

Spezifikum religiöser Erfahrung bestimmt sich aus der lebensphilosophischen Perspektive -

und in sachlicher Nähe zu Schleiermacher - zunächst nicht durch einen als Traditionsbestand

abgrenzbaren materialen Korpus von religiösen Objektivationen, sondern dadurch, dass

Menschen in bestimmten Erfahrungen der Bezug auf das Ganze der Wirklichkeit aufscheint.

Dass dieser Religionsbegriff dann auch theologisch im Blick auf wesentliche Momente

dogmatischer Lehrbildung rekonstruiert werden kann, dass also ein doppelter Religionsbegriff

notwendig ist, möchte ich zustimmend vermerken.

4 Dieser Ansatz wurde zuerst entfaltet in: E. Failing/H.-G. Heimbrock, Gelebte Religion wahrnehmen.

Lebenswelt - Alltagskultur - Religionspraxis, Stuttgart 1998. 5 Vgl. dazu auch meine Beiträge: H.-G. Heimbrock, Rekonstruktion gelebter Erfahrung als Aufgabe Empirischer

Theologie, in: M. Petzold/E. Gräb-Schmidt, Theologie im Gespräch mit empirisch arbeitenden Wissenschaften,

Gütersloh 2012, 118 – 143 sowie H.-G. Heimbrock, Leben. Praktische Theologie als Theorie „gelebter Religion“

in: B. Weyel / H.-G. Heimbrock/ W. Gräb (Hg.), Praktische Theologie und empirische Religionsforschung.

Leipzig 2013, 121 – 142. 6 Vgl. M. Jung, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatistischen Religionsphilosophie,

Freiburg 1999. 7 A.a.O., 262.

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Einige Bemerkungen zur Genealogie dieses Erfahrungsbegriffes: Wilhelm Dilthey hat mit

seiner klassisch gewordenen Unterscheidung „Die Natur erklären wir – das Seelenleben

verstehen wir“ diesen Typ von Erfahrung näher präzisiert. „Als Gegenstand der

Geisteswissenschaften entsteht diese durch Einnahme der hermeneutischen

Binnenperspektive, sofern nämlich menschliche Zustände erlebt werden, sofern sie in

Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden

werden.“8Während naturwissenschaftliche Objektivität von der Dritten-Person-Perspektive

lebt, ist es in Geisteswissenschaften nicht möglich, eine von der Relation zur Lebendigkeit

abstrahierte Position einzunehmen. Theoretische Grundlage dabei ist ein kategorial

ausgearbeiteter Begriff von Leben. „Der Inbegriff dessen, was uns im Erleben und Verstehen

aufgeht, ist das Leben als ein das menschliche Geschlecht umfassender Zusammenhang.“9

Es ist dabei übrigens nicht nur begriffsgeschichtlich interessant, dass neben der Verwendung

bei E. Troeltsch10

in dieser lebensphilosophischen Tradition zum ersten Mal der Begriff

„gelebte Erfahrung“ auftaucht, nämlich in der englischen Übersetzung von Diltheys

deutschem Begriff des Erlebnis, in Sonderheit dort, wo er auf die Eigenart und Struktur

humanen Erlebens von Wirklichkeit insgesamt rekurriert. Dilthey setzte dem Empirizismus

seiner Zeit einen im Lebensbezug gedachten Erfahrungsbegriff entgegen und vertrat in seinem

hermeneutischen Spätwerk die These, dass ästhetisch-poetische Kreativität als Grundform

solcher auf das Leben als Ganzem bezogenen Erfahrung anzusehen ist, weil dichterische

Einbildungskraft als Modellfall der Hervorbringung von subjektiv verbindlicher

Bedeutsamkeit gelten muss.11

Dieses Zitat belegt im Übrigen hinreichend, dass Diltheys Rekonstruktion des Erlebnisses

keineswegs ins verlorene Paradies naiver Unmittelbarkeit zurückverweist. Eine detaillierte

Rekonstruktion seiner hermeneutischen Theorie kann und soll hier nicht erfolgen. Ohne dass

man die Tendenz zum Erlebnisfundamentalismus zumindest des jungen Dilthey teilen muss,

kann man aber daran mit Jung einige auch für die Debatte verschiedener empirischer

Orientierungen wesentliche Einsichten gewinnen, die ich jetzt thesenartig komprimiert

zusammenfasse.

1. Erfahrung als spezifisch personale Erfahrung ist nur unter Berücksichtigung eines

menschlichen Erfahrungssubjekts, d. h. unter angemessener theoretischer Repräsentation der

Perspektive der Ersten Person beschreibbar. Man kann deshalb auch religiöse Gehalte von

Erfahrung weder isoliert gedachten vorreflexiven Erlebnissen zuschreiben, noch durch

naturwissenschaftlich reduktionistische Erklärungen fassen (z.B. neuro-physiologische), weil

das deskriptiv nicht mehr angemessen wäre. Denn eine angemessene Erklärung muss die

Bedeutung mit aufnehmen, die das bestimmte Erlebnis für sein Subjekt als Bedeutsamkeit hat.

Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, „dass das erklärungsbedürftige Phänomen

durch seine sinndeutende Artikulation überhaupt erst hervorgebracht wird.“12

8 Das relevante Zitat lautet in der englischen Übersetzung: “A lived experience does not confront me as

something perceived or represented; it is not given to me, but the reality of lived experience is there-for-me

because I have a reflexive awareness of it, because I possess it immediately as belonging to me in some sense.

Only in thought does it become objective.“W. Dilthey, Ges. Werke VII, 86. = W. Dilthey, Der Aufbau der

geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. VII, 8. unveränd. Aufl.,

Göttingen 1992, 86. 9 A.a.O., 131. 10 E. Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 5 (1895), 361–436. 11 W. Dilthey, Fragments for a Poetics (1907–1908), in: R.A. Makkreel/F. Rodi (Hg.), Dilthey. Selected Works

V: Poetry and Experience, 223–231: 223. 12 M. Jung, a.a.O. , 265.

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2. Weder gibt es uninterpretierte „religiöse Daten“, noch ist die Trennung

‚Binnenperspektive vs. äußerliche Erklärung’ vollständig.13

„Solche Korrelationen beziehen

…keine Relate aufeinander, die auch unabhängig von ihrem Bezogensein verstanden werden

könnten, sie markieren Phasen eines zirkulären hermeneutischen Prozesses. Die Rede von

religiöser Erfahrung ist also dadurch legitimiert, dass zwischen subjektivem Erleben und

religiösen Deutungstraditionen interne Beziehungen bestehen. Erfahrungen können nicht in

Primärerleben und sekundäre Interpretationen zerlegt werden, weil die Interpretation – die

Artikulation mit Hilfe kulturell verfügbarer Symbole – allererst die Bestimmung des erlebten

Gehalts möglich macht.“14

Dies ist im Gegensatz zu der die Debatte um religiöse Erfahrung

vielerorts bestimmenden theoretischen Konzeption des Religionspsychologen W. Proudfoot15

festzuhalten.

3. Inneres Erleben kann aber in der wissenschaftlichen Rekonstruktion nicht naiv-

introspektiv in seiner Unmittelbarkeit eingeholt werden, sondern muss in hermeneutischer

Rekonstruktion lebensweltlicher Phänomene gefasst werden in der Verbindung zu Ausdruck

und Verstehen. Damit hatte bereits Dilthey in seiner hermeneutisch ausgearbeiteten Theorie

des Erlebens operiert. Auch religiöse Erfahrung wird dann „gefaßt als Strukturbegriff für den

internen Zusammenhang von subjektiver Perspektive und objektivierender Symbolbildung“16

.

4. Es gilt zwar generell, dass heute keine ernstzunehmende Religionstheorie es sich

erlauben könnte, die prinzipielle Differenz zwischen der Perspektive des lebensweltlichen

Vollzugs und der distanzierten Reflexion von Theorie zu ignorieren. Alle Wissenschaft

reduziert stets unvermeidlicherweise bestimmte Aspekte des Lebensprozesses. Will man aber

wissenschaftlich notwendige Reduktionen des lebenspraktisch vorgängigen

Erfahrungsprozessen von unzulässigen unterscheiden, so gilt entsprechend, dass es zum

spezifischen Charakter menschlicher (religiöser) Erfahrung gehört, den Verstehensaspekt

angemessen zu transformieren, d.h. das Subjekt als Schöpfer seiner Ausdrucksgestalten dieser

Erfahrung (Bedeutsamkeit für das Subjekt) mit einzubringen. „Zur Beschreibung religiöser

Erfahrung ist eine verstehende Einstellung unabdingbar“17

, wobei Verstehen und

Einverständnis durchaus voneinander zu trennen sind.

Andere Typen der Beschreibung und Erklärung religiöser Erfahrungen, die die zu klärenden

Phänomene als Objektivation und als diskrete Objekte einer empirischen Reflexion zuführen,

sind zumindest darin defizitär, dass sie – unabhängig von der Transformation inhaltlicher

Gehalte - die spezifische Eigenart der Ersten-Person-Perspektive als die „Eigenbestimmtheit

einer lebensweltlichen Sinnperspektive“18

vernachlässigen. Diese Abgrenzung zu einem

naturalistischen Ansatz von Empirie folgt Diltheys Differenzierung Geistes- und

Naturwissenschaften.

Es stellt also, wie Th. Nagel gezeigt hat, eine unzulässige Reduktion menschlicher Erfahrung

dar, wenn im Prozess theoretischer Erklärung im Zeichen landläufiger Objektivierungsideale

die Sinnperspektive aus der Wirklichkeitsdeutung herausgefiltert wird. Dann würde die

Perspektive „für mich“ der gelebten Erfahrung zugunsten der Perspektive „an sich“ gelöscht

werden. Aber manche Sachverhalte nicht einfach objektivierbar, spezifisch menschliche

13 Vgl. a. a. O., 358. 14 A.a.O., 264. 15 Vgl. W. Proudfoot, Religious Experience, Berkeley 1985. 16 M. Jung, a. a. O., 267. 17 Ders., a .a. O., 356. 18 Ders., a. a. O., 77.

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Erfahrung ist ein solcher, der deshalb nicht im perspektivlosen „View from Nowhere“19

, in

der Abstraktion vom Lebensprozess angemessen erschlossen werden könnte.

Wenn nun menschliche, auf Bedeutsamkeit hinzielende Erfahrung einerseits nicht vollständig

als präreflexiver Erlebnisprozess verständlich gemacht werden kann, andererseits nicht in

unzulässiger Weise Deutungselemente zu sekundären Größen atomisiert werden dürfen, dann

bedarf es eines Strukturbegriffs von Erfahrung, der die beiden Momente umgreift. Eine dritte

und angemessenere Variante der Theorie greift dazu – in der sachlichen Kontinuität mit

Diltheys Gedanke der „Ausdrucksgestalt“ - auf den Begriff der „Artikulation“ zurück. Die

These ist dabei, „ ‚Erfahrung‘ als den Titel für jenen humanen Grundvollzug zu verstehen, in

welchem Subjekte ihres Welt- und Selbstverständnisses gewahr werden, indem sie es in

öffentlich zugänglichen Ausdrucksgestalten für sich und andere fassbar machen. Nur im

Rahmen eines solchen ‚holistischen‘ Erfahrungsbegriffs ist es sinnvoll, bestimmte regelmäßig

auftretende Korrelationen von subjektiven Erlebnisqualitäten und symbolischen Formen zu

spezifizieren und als ‚religiös‘, ‚sittlich‘, ‚ästhetisch‘ ‚alltagspraktisch‘ zu klassifizieren.“20

Mir scheint, dass dieser hier in aller Abgekürztheit notierte lebensphilosophisch-

hermeneutische Erfahrungsbegriff nicht nur dazu in der Lage ist, menschliche Erfahrung in

profilierter Weise verstehbar zu machen, sondern auch dazu, den die Praktische Theologie seit

geraumer Zeit leitenden Begriff der „gelebten Religion“ näher zu fassen.

3. Lebenswelttheoretische Erweiterungen

3.1. Jungs religionsphilosophisch entfaltetes Konzept von Erfahrung reklamiert explizit,

lebensweltliche Erfahrung theoretisch zu rekonstruieren. Auffällig ist in diesem

Zusammenhang aber bereits der Umstand, dass Jung zur Illustration seines Strukturmodells

auf Erfahrungen in katholischen Festliturgien rekurriert, wobei jeweils ein Erfahrungskern des

offiziellen liturgischen Verhaltensmodells und nicht individuelle Erfahrungen angesprochen

werden. Geht man allerdings von einem gehaltvollen Begriff von „Lebenswelt“ aus, so zeigen

sich auch weitere Schwachstellen und Grenzen des vorgestellten Konzepts. Wer diese

philosophische und primär geltungstheoretisch interessierte Rekonstruktion von Erfahrung

und damit von religiöser Erfahrung aus der Perspektive empirischer Theologie zur Kenntnis

nimmt, wird in mancher Hinsicht den Eindruck nicht los, dass der strukturell bestimmte

Erfahrungsprozess eben in lebensweltlicher Bestimmung empirisch doch noch unzureichend

bestimmt ist. Der Strukturbegriff wird der Wirklichkeit von Erfahrung, zumal unter

gegenwärtigen sozialen Bedingungen der Pluralität und Traditionsumbildung, vor allem den

Phänomenen von Religiosität außerhalb religiöser Institutionen m. E. noch nicht voll gerecht,

selbst wenn er von „expressiv-schöpferischen Akten“ des Subjekts und von „strukturell

irreduzibler Pluralität“ spricht21

.

Der Ansatz arbeitet nicht nur mit einem unzureichenden, nämlich letztlich doch

kognitionslastigen Wahrnehmungsbegriff, sondern er vermag auch die, man möchte sagen:

„empirische“ Eigenart des Ineinanders von Erlebnis und Artikulation in ihrer Konkretheit des

menschlichen Leibsubjekts nicht zu beschreiben. Schließlich arbeitet er mit einem

Subjektbegriff, der im religiösen Erleben viel zu sehr bewusste Entscheidung unterstellt.

Meine kritischen Rückfragen gelten selbstverständlich bei voller Zustimmung zu Jungs Kritik

an denjenigen Theoriekonzepten, welche die Unmittelbarkeit von lebensweltlicher Erfahrung

19 T. Nagel, The View from Nowhere, New York u.a. 1979; vgl. auch: Ders., Die Grenzen der Objektivität.

Philosophische Vorlesungen, Stuttgart 1991. 20 M. Jung, a.a.O. , 264. 21 M. Jung, ebd.

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bruchlos meinen rekonstruieren zu können.22

Auch in dieser Hinsicht halte ich

phänomenologische Einsichten für unverzichtbar. Ich notiere wichtige Elemente wiederum

thetisch abgekürzt, ausführliche Beschreibungen liegen an anderer Stelle vor.

Sich für die Analyse gelebter Religion auf die Lebenswelt zu beziehen heißt sich insbesondere

auf vorprädikative Begegnung mit der Welt beziehen, auf die Art und Weise, wie uns die

Realität gegeben erscheint, wenn wir nicht vermittels bewusster Aktivitäten in ihr

differenzierende Unterscheidungen vornehmen. Diese ist „der lebendige Strom, in dem ich

schwimme“, der „Boden der durch Erfahrung selbstverständlich vorgegeben Welt“23

. Mit

Lebenswelt ist also zugleich eine für Jeden stets hintergründig mitlaufende Welt von Ge-

wissheiten und stillschweigenden Voraussetzungen für zielgerichtetes thematisch fokussiertes

Denken und Handeln gemeint, eine Welt unproblematischer Einheitlichkeit und

selbstverständlicher Orientierungen vorbegrifflicher Bestimmtheit. In ihr steckt die

Vertrauensgrundlage eines „Weltglaubens“, der unbefragt annimmt, dass die Welt immer so

weiter existiert. Denkt man jedoch „Lebenswelt“, so hat man sie immer schon verlassen.

Lebensweltlich erschlossene Erfahrung verweist auf vor-prädikative Gegebenheit der

menschlichen Erfahrung, betont den relationalen Modus von gelebter Erfahrung. Dem Subjekt

ist dabei etwas gegeben, „Daten“ in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „datum“.

Dabei hängen Erfahrung und Wahrnehmung sehr eng zusammen. Sinnliche Wahrnehmung ist

basale Weise der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit und deshalb unabdingbar für

den Prozess gelebter Erfahrung. Wenn das Verständnis eines empirischen Zugangs in der

modernen Wissenschaftstheorie immer mit sinnlicher Wahrnehmung verknüpft ist, so geht es

allerdings im phänomenologischen Ansatz um einen spezifisch profilierten

Wahrnehmungsbegriff. Die elementare Weise, in der Menschen der Welt gewahr werden, ist

gebunden an die Komplexität leibhafter, kinästhetisch vermittelter Anschauung. Spezifisch

menschliche Wahrnehmung vollzieht sich weder abstrakt intellektualistisch noch kausal-

mechanistisch, sondern in situativer Gebundenheit eines endlichen leibhaftigen

Wahrnehmungssubjekts. Der räumlich situierte Leib, das „Körperschema“ ist das

organisierende Prinzip aller sinnlichen Wahrnehmung, und zwar deshalb, weil der Mensch in

seiner leibhaften Bewegung (einschließlich aller sinnlichen Wahrnehmungen) nicht einfach

mechanische Akte eines Automaten vollzieht, sondern auf spezifische Weise Leib-

Intentionalität lebt und damit sein „Zur-Welt-sein“ realisiert. Bereits hier zeigt sich für

phänomenologische Wahrnehmungsanalyse eine Nahtstelle zur Theologie: „Wahrnehmen …

heißt: glauben an eine Welt. Diese Offenheit zur Welt ist es, die die Wahrheit der

Wahrnehmung, die Verwirklichung einer Wahr-Nehmung erst möglich macht …“24

Erleben von Welt ist immer verknüpft mit sinnlicher Wahrnehmung in ihrer

Intentionalitässtruktur. Sie ist stets gerichtet, Wahrnehmung von etwas als etwas. Die Leib-

Haftigkeit menschlicher Existenz bringt dabei eine spezifische leib-fundierte Gerichtetheit mit

sich. Wir verhalten uns intentional zur Welt bereits in unserer körperhaften Verfassung; was

als real erlebt wird, konstituiert sich in situativ-körperlicher Relation, nicht erst dann, wenn

wir es in Akten der Kognition begrifflich fassen.

22 Vgl. zur Diskussion des Unmittelbarkeitsproblems ausführl. meinen Beitrag: H.-G. Heimbrock,

Reconstructing Lived Religion, in: Ders./C.P. Scholtz (Hg.), Religion: Immediate Experience and the Mediacy

of Research. Interdisciplinary Studies in Objectives, Concepts and Methodology of Empirical Research in

Religion, Göttingen 2007, 133–156. 23 H. Blumenberg, Theorie der Lebenswelt. Hg. v. M. Sommer, Frankfurt a.M. 2010, 70. 24 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), München 1966, 345.

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Es ist üblich, transitive Formulierungen zu gebrauchen wie „Ich mache eine Erfahrung“.

Entsprechendes findet sich oft in Bezug auf religiöse Erfahrungen von Menschen.

Phänomenologische Analyse des Erfahrungsprozesses schärft demgegenüber den Blick auch

für die komplementäre oder gar die reverse Konstellation: Menschen können in spezifischen

Situationen auch in Erfahrungen verwickelt sein, sie können in Grenzsituationen sogar

Erfahrungen ausgeliefert sein, von denen sie mitgenommen sind, überwältigt oder gebannt

werden. Auch diese Qualität gilt in spezifischer Weise im Bereich gelebter Religion.

Erfahrungen sind nicht immer Resultat zuvor oder in actu bewusst vollzogener

Entscheidungen, haben vielmehr inter-aktiven Charakter. Menschliche Erfahrungen

überschreiten so vielfältig rein strategisches Handeln. Ihnen kommt zuweilen eine

empfangende Qualität zu, was von Vertretern der psychosomatischen Medizin und der

Gestalttheorie V. von Weizsäcker und Fr. Buytendijk schon vor längerem auf den Begriff des

„pathischen“ Verhaltens gebracht worden ist.25

Diese pathische Qualität des Erlebens in der Begegnung mit situierter Wirklichkeit hat große

Relevanz für theologische Erschließung gelebter Religion. Um es mit P. Tillich zu sagen:

„Wir begegnen der Realität – oder die Realität drängt sich uns auf… Die Voraussetzung der

Theologie ist, dass es eine besondere Art und Weise gibt, in der sich uns die Wirklichkeit

aufdrängt, die normalerweise „religiös’ genannt wird.”26

Das hier gemeinte Geschehen ist

nicht auf irgendein Segment kultureller Praxis zu begrenzen, das von den in Erfahrung

verwickelten Subjekten als „religiöse“ oder gar „christliche“ Praxis bezeichnet wird.

Gleichwohl sehe ich in solchen Erlebnisqualitäten gehaltvolle Ansatzpunkte für eine

theologische Anthropologie, die von der Christologie her konzipiert ist.

4 Theologie eine Erfahrungswissenschaft

Alle Evangelische Theologie hat es im Sinne Schleiermachers um ihres Bezuges auf

vorfindliche Vollzüge christlicher Religion willen mit Erfahrung als einer ihrer

Erkenntnisquellen zu tun. Meine Anstrengung zielt nicht auf empirische Sozialforschung,

sondern auf Empirische Theologie. Das nimmt Schleiermachers programmatische Zuordnung

von „theologischem Interesse“ an der Kirchenleitung und wissenschaftlichen Kenntnissen aus

Einzeldisziplinen auf.27

Meine Behauptung geht dabei allerdings dahin, auch Theologie als Erfahrungswissenschaft zu

betreiben. Dass Theologie sich grundbegrifflich wie methodisch heute generell auf

Erfahrungswissenschaft beziehen muss, ist seit Rezeption sozialwissenschaftlicher Methoden

und Methodologien der 70er Jahre für viele nicht mehr strittig. Wie sich Theologie im

interdisziplinären Diskurs prinzipiell zu anderen Erfahrungswissenschaften verhält, das hatte

schon E. Herms in seiner Programm-Schrift „Theologie – eine Erfahrungswissenschaft“ zu

bestimmen versucht. „Es geht in der wissenschaftstheoretischen Grundlagenforschung weder

25 Vgl. V. Weizsäcker, Der Gestaltkreis (1947), Frankfurt a.M. 1973, sowie F. Buytendijk, Allgemeine Theorie

der menschlichen Haltung und Bewegung. Berlin 1956. 26 P. Tillich, Das Problem der theologischen Methode (1946) in:, ders., Korrelationen. Die Antwort der Religion

auf Fragen der Zeit. Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken IV, Stuttgart 1975,, 17. 27 In Aufnehmen der allgemeinen wissenschaftssystematischen Unterscheidung von Kenntnissen und

Wissenschaft hat Fr. Schleiermacher in seiner „Kurzen Darstellung“ im berühmten Paragraph § 6 ein

theologisches Gesamtinteresse an Kenntnisgewinn formuliert, das er in der Funktion der Kirchenleitung

festmachte und welches er sehr wohl mit der Einbeziehung nicht-theologischer wissenschaftlicher Methoden

zusammendachte: „Dieselben Kenntnisse, wenn sie ohne Beziehung auf das Kirchenregiment erworben und

besessen werden, hören auf, theologische zu sein, und fallen jede der Wissenschaft anheim, der sie ihrem Inhalt

nach angehören“. Die Aussage unterscheidet begrifflich „Kenntnis“ als Inhalte diverser (nicht-theologischer)

Wissenschaften vom Prädikat „theologisch“; vgl. Fr. Schleiermacher, Kurze Darstellung des Theologischen

Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen (1810), Nachdruck Darmstadt 1973, 3.

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darum, die Theologie für sich als Metatheorie der übrigen Erfahrungswissenschaften zu

behaupten, noch darum, die theologische Einzelforschung den Grundbegriffen anderer

Erfahrungswissenschaften zu unterstellen. Vielmehr darum geht es: in dem metatheoretisch zu

begreifenden und festzustellenden ontologischen Zusammenhänge der Leitbegrifflichkeit aller

empirischen Sciences gleichursprünglich mit allen anderen wissenschaftskonstitutiven

Strukturmomenten des erfahrbar Seienden als solchen auch die spezifisch theologischen

Implikationen seiner Verfassung aufzuweisen.“28

Ich schließe mich ausdrücklich der Behauptung an, dass dieser Diskurs von der Theologie auf

der Basis einen allgemeinen Erfahrungsbegriffes geführt werden muss, wiewohl aber kritisch,

das heißt unter Einbezug des Eigenbeitrags christlicher Theologie. Die Reklamation eines

schlechthin eigenständigen Gegenstands von Erfahrung, genannt „religiöse Erfahrungen“ im

Jenseits von Erfahrungswissenschaften führt meines Erachtens in wissenschaftstheoretische

Isolation und ist theologisch weder notwendig noch sinnvoll. Gleichwohl muss man heute

zurückfragen nach dem Begriff von Erfahrung. Hier hat keine Wissenschaft ein Monopol,

nicht einmal dann, wenn sie das Gütezeichen „Erfahrungswissenschaft“ reklamiert.

In der quantitativ orientierten empirischen Religionsforschung hat sich ein ganz bestimmter

Begriff von Erfahrung durchgesetzt. Das kann in einer vergröberten Skizzierung etwa so

umschrieben werden: Das Forschungsinteresse richtet sich auf Gewinnung valider

empirischer Erkenntnis mit möglichst großer Reichweite über den Einzelfall hinaus. Um mit

sozialer Wirklichkeit gemäß wissenschaftlichen Standards umzugehen, gilt für empirische

Forschung der Ansatz induktiver Methode. Dieser induktive Weg der Gewinnung möglichst

objektiver Daten zielt auf der Basis empirischer Befunde und interpretativer

Schlussfolgerungen auf probabilistisches Wissen nach dem Typus nomothetischer

Theoriebildung. Dazu bedarf es klarer Begriffsbildung zur Ermöglichung von

Operationalisierung der Hypothesen und Messung der Variablen mittels der Anwendung

methodisch reflektierter und kontrollierter Verfahren der Datengewinnung entsprechend den

Kriterien von Repräsentativität, Reliabilität und Validität. Die in der Erfahrung gewonnenen

Daten sind objektivierbare Größen, als solche vom Forschersubjekt so weit wie unabhängige

Objekte, in der quantitativen Forschung sogar Transformationen sinnlicher Erfahrung in

Gestalt digitalisierter und berechnungsfähiger Repräsentationen.

Die gegenwärtig in solcher quantitativ empirischen Sozialforschung vorgelegten

methodologischen Beschreibungen zeigen, dass hier mit dem Verfolgen des

Erfahrungsbezugs niemand mehr in positivistischer Manier auf pure „Fakten“ oder

„Lebensnähe“ in einem simplifizierten Gegenüber zu theoretischer Reflexion rekurrieren will.

Schon gar nicht geht es um reduktionistische Verortung „Gottes“ in Ursache-Wirkung-

Zusammenhängen. Und ich betone als Theologe: weder die Wissenschaftlichkeit noch die

Praxisrelevanz der solchermaßen empirisch gewonnenen Einsichten für die Steuerung auch

von Kirche als Institution sowie einzelner Praxiszusammenhänge von kirchlicher

Religionspraxis steht für mich in Zweifel.

Das Problem liegt meines Erachtens an anderer Stelle. Es ist nämlich zu fragen, inwieweit der

skizzierte Begriff objektivierter Erfahrung exklusive Geltung für jede sinnvolle Bestimmung

von Erfahrung beanspruchen kann und wieweit er zur Erschließung der für Religion in

Betracht zu ziehenden Phänomene geeignet ist.

Praktische Theologie hat als empirisch-theologische Forschungsinstanz die Aufgabe, an den

Phänomenen von Religion in offener, lebensweltbezogener Weise erschließend zu arbeiten.

Sie nimmt schon damit eine empirisch-kritische Funktion innerhalb der Theologie wahr. Dazu

28 E. Herms, Theologie – eine Erfahrungswissenschaft, München 1978, 81.

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gehört aber gleichzeitig, dass sie von den Phänomenen aus prinzipielle theologische Fragen

stellt, wie die nach dem Verständnis von Religionspraxis oder von Auslegung von

Wirklichkeit generell. Sie ist keinesfalls die „bessere“ Erfahrungswissenschaft, insistiert aber

auf einem reichen, menschliche Selbsterfahrung einbeziehenden Begriff von Erfahrung.

Die Spannung hatte bereits E. Herms auf die Formel gebracht: Die Kategorie „Erfahrung“ ist

„problematisch und legitim zugleich.“29

Jedenfalls kann m. E. die Frage um eine theologische

Geltung „messbarer Religion“ theoretisch gehaltvoll erst im Kontext lebensweltlicher

Gewissheiten diskutiert werden. „Was als (gegenständliche) Erfahrung gelten soll kann nicht

abgelöst werden von dem - empirischer wie existentieller Erfahrung gemeinsamen -

Grundproblem ihres Zustandekommens, und so hat Erfahrung immer auch einen

unanschaulichen Bereich ihrer Entstehung und Vergewisserung. Bevor angeschaut und

gemessen werden kann, ist etwas zur Erscheinung gekommen; und dass dies so ist bleibt

lebensweltlich gewiss, auch wenn Methoden der Überprüfung noch nicht vorgenommen

werden konnten, aber gerade auch nicht ausgeschlossen werden müssen.“30

Der hier vorgestellte Ansatz von Theologie bei „gelebter Erfahrung“ liefert im spezifischen

Zugang zu gelebter Religion einen Beitrag zur weiteren Klärung des Lebensbezugs

von Religion generell und von christlichem Glauben im Besonderen. Wirklichkeitshaltige

Praktische Theologie im Sinne des Bezugs auf gelebte Erfahrung

beschränkt sich nicht auf die Überprüfung der Wirklichkeit allein am Raster

systematisierter religiöser Wissensbestande und Normen, etwa aus Exegese,

Kirchengeschichte und Dogmatik, anhand des Falles.

Der Leitbegriff „Gelebte Religion“ ist ein programmatischer Begriff, insofern

er die Öffnung von Theologie in Richtung auf Kultur- und Alltagsbezug im Blick

auch auf deren religiöse Produktivität einfordert. Die Wirklichkeit des christlichen

Glaubens ist nämlich, bei aller Hochschatzung des ≫sola scriptura≪, mehr

als Wirklichkeit von Texten oder Wirklichkeit in Texten. Glaubensleben muss

breiter verstanden werden als Anwendung von Lehren, auch weiter als propositionale

Gehalte des Glaubenswissens. Wenn „Gelebte Religion“ als Leitbegriff

Empirischer Theologie fungiert, kann die Rekonstruktion ihrer Phänomene nicht

bruchlos und in toto Geltung für wahrheitsfähige Verständigung über Glauben

beanspruchen, aber Lehre und Leben sind dialektischer zu denken, als ein einliniges

Applikationsmodell von Glaubensnorm und Glaubensvollzug dies unterstellen

mag.

Eine phänomenologisch angeleitete Analyse der Lebenspraxis öffnet, angeleitet

vom Begriff der „Gelebten Erfahrung“ die Sinne für Wahrnehmung mit

entschränkter Perspektive, versucht dann aber sehr wohl auch bestimmte alltägliche

Erscheinungen theoretisch als bedeutsam für den Zusammenhang von Religion zu rekon-

struieren. Wichtig scheint mir die generelle Zielrichtung: Um es mit P. Tillich zu sagen: „Der

Religion als lebendiger Erfahrung geht es nicht um ihre eigene Zukunft, sondern

um ihren Inhalt (und um unser Verhältnis zu ihm); und dieser Inhalt ist das

Ewige.“31

29 E. Herms, Art. „Erfahrung IV. Systematisch-theologisch“, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 10, Berlin

1982, 128–136, Zitat 131. 30 H. Deuser, Religionsphilosophie, Berlin 2009, 424. 31 P. Tillich, Die Frage nach der Zukunft der Religion, in: Die verlorene Dimension, Not und Hoffnung unserer

Zeit,

Hamburg 1962, 92.

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5 Empirisch-theologische Forschung

Wenn ich mich bislang stark auf Reflexion des Erfahrungsbegriffs und entsprechende

methodologische Überlegungen eingelassen habe, wird der Empiriker fragen: Taugt ein

solcher Ansatz auch für empirische Forschung? Da wir in Frankfurt eine ganze Reihe von

konkreten Einzelforschungen empirisch-theologischer Konzeption betrieben haben32

, nehme

ich diese Frage gern auf und erläutere in meinem Schlussabschnitt die forschungspraktische

Seite des Ansatzes.

Zur Verdeutlichung komme ich noch einmal auf die Meditation zum Phänomen „Schweigen“

am Anfang meines Vortrages zurück. Vor zwei Monaten bat mich ein junger weißer

südafrikanischer Theologe um Rat zu seinem laufenden empirischen Forschungsprojekt. Sein

Doktorvater Chris Hermanns von der Universität Nijmegen arbeitet in den Bahnen seines

Lehrer Hans van der Ven auf dem Felde quantitativ-empirischer theologischer Forschung und

hatte ihn angesichts des speziellen Themas zu mir geschickt. Der Doktorand präsentierte mir

sein Projekt unter dem Arbeitstitel „A MODEL FOR THE ACCOMPANIMENT OF

SEEKERS INTO SILENCE IN THEIR QUEST FOR WHOLENESS”. (Ein Konzept zur

Begleitung von Menschen, die sich auf der Suche nach Ganzheit in die Stille begeben).

Der Autor ist langjähriger Pfarrer einer großen protestantischen Gemeinde mit einer

ziemlichen Pluralität unterschiedlicher Frömmigkeitstraditionen. Er hatte zu seiner eigenen

Überraschung feststellen müssen, dass immer weniger Menschen in der Gemeinde an

traditioneller calvinistisch geprägter lehr- und bekenntniszentrierter Religionspraxis

interessiert waren, gleichzeitig die Nachfrage nach spirituellen Angeboten in seiner Region

immens gestiegen war, dabei in Sonderheit Kurse in meditativem Schweigen großen Zulauf

erfuhren. Nachdem er auch eigene Erfahrung mit solchen Kursen gemacht hatte, richtete sich

sein Forschungsinteresse nun darauf, ein eigenes Handlungsmodell für solche Schweige-

Praxis im Umfeld der eigenen Gemeinde zu entwickeln. Und das wollte er mit empirischer

Forschung fundieren und zunächst näher untersuchen, welche Erfahrungen Menschen in

solchen Wochenenden in Schweige-Übungen machen.

In seinem Plan griff er auf Skalen zur Erforschung von Spiritualität zurück, ferner auf Raster,

wie Menschen auf ihre Erfahrung Gottes oder des Ultimaten reagieren (z.B. N. Holm 1980).

Seine Idee war es weiterhin, Cluster zu bilden für die Typen der Erfahrung Gottes und deren

Hintergründe in unterschiedlichen Glaubenseinstellungen. Ferner hatte er sich kundig

gemacht und versucht, aus dem Studium der entsprechenden Forschung Begriffsklärungen

vorzunehmen über zentrale Begriffe (wie Spiritualität; Ganzheit; Stille; Geistliche Begleitung

usw). In Interviews und mittels Video-feedback der Probanden beim Meditieren wollte er

Daten sammeln, in denen die Teilnehmerperspektive zur Geltung kommen sollte. Die

Leitfrage dabei war: „Was macht Ihre persönliche Erfahrung in Schweigeübungen aus?“

Das Ganze machte einen ziemlich elaborierten, in sich konsistenten Eindruck auf mich. Und

doch hatte ich bei der ersten Begegnung das ungute Gefühl, dass man mit diesem

Forschungsdesign gerade das verfehlt, um das es geht oder gehen könnte, den lebendigen

32 Vgl. A. Dinter/ H.-G. Heimbrock/ K. Söderblom (Hg.), Einführung in die Empirische Theologie. Gelebte

Religion erforschen (UTB), Göttingen 2007; vgl. ferner H. – G. Heimbrock / T. Wyller ( Hg.), Den Anderen

Wahrnehmen. Fallstudien und Theorien für respektvolles Handeln. Zusammen mit Peter Meyer, Göttingen 2010

sowie H.-G. Heimbrock/S. Leonhard/P. Meyer/A. Plagentz (Hg.), Religiöse Berufe – kirchlicher Wandel.

Empirisch-theologische Fallstudien, 2013.

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Erfahrungsprozess des Schweigens. Wie erforscht man das Schweigen? Ich lege jetzt

natürlich keinen alternativen DFG-Antrag vor, markiere nur einige Schwachstellen.

Das Forschungsdesign geht davon aus, dass die relevanten Erfahrungen sagbar sind. Die

verbale Ebene der Beschreibung wird zielstrebig angegangen, aus dieser werden Kategorien

und Typen gebildet. Essentiell für eine stärke Annäherung an die relevanten Phänomene

dürfte gerade die Berücksichtigung der Unschärfe, der Unsagbarkeit von Erfahrungen im

Schweigen. Und lebensweltorientierte Forschung kommt zum Ziel nur durch das Brennglas

des Forschers als Subjekt und der Auseinandersetzung mit seiner vorvertrauten leib-haften

und vor-sprachlichen Erfahrung des Schweigens hindurch. Andernfalls erhält man

interessante Sortierungen und Kategorisierungen von sekundär gebildeten Kommentaren, die

relativ weit weg sind von den ursprünglich relevanten Erfahrungen.

Zur Orientierung über empirische Forschung zu gelebter Erfahrung abschließend einige

grundsätzlichere Bemerkungen:

Zunächst muß man einen kritischen Vorbehalt machen: Den lebensweltlichen Prozess des

Erfahrens erforschen zu wollen, stellt eine Illusion dar, gleichwohl eine notwendige und

fruchtbare. Gelebte Erfahrungen in actu sind empirisch nicht direkt zugänglich. Wer

Lebenswelt sagt, der hat sie immer schon verlassen, ist aus dem Modus der Vorvertrautheit

übergewechselt in die theoretische Rekonstruktion. Das Beispiel der Erfahrungen im

Schweigen ist hier buchstäblich sehr sprechend.

Sodann gilt: Empirisch-theologische Forschung arbeitet nicht mit einem eigenen

Methodenarsenal, sondern greift auf Forschungsstrategien zurück, die im Rahmen qualitativ-

empirischer Sozialforschung sowie qualitativ-empirischer Kulturanthropologie entwickelt

worden sind. Allerdings bedarf es der Modifikation, wenn man solche Methoden im Interesse

der Näherung an Gelebte Erfahrung nutzen möchte.

Dazu zählt unabdingbar, die Leibgebundenheit der Wahrnehmung als subjektive

Grundstruktur lebensweltlicher Erkenntnisvorgänge von Anfang an reflektiert

einzusetzen. Das macht eine Austauschbarkeit der forschenden Erkenntnissubjekte

unmöglich, darf gleichwohl nicht verleugnet werden oder als nicht

operationalisierbarer Nebeneffekt ausgeblendet werden.

Der Primat der Wahrnehmung ist forschungslogisch auch dadurch zu realisieren, dass

die forschenden Personen in dem jeweiligen Feld selbst Erfahrungen machen und ihre

sinnlichen Wahrnehmungen dokumentieren und reflektieren. Phänomenologische

Forschungspraxis bedeutet dabei nicht ein bloßes ‚Eintauchen‘ ins Feld, und schon gar

nicht die naive Annahme, das Feld dadurch so wahrzunehmen wie die im Feld

befindlichen Praktikanten selbst. Im Gegenteil, das Wissen um die Perspektivität von

Wahrnehmung und die in der Intentionalität zutage tretende Interessengeleitetheit

jedes Wahrnehmungsaktes kann phänomenologisch orientierte Forschersubjekte

gerade davor bewahren, ihre eigenen sinnlichen Eindrücke im Feld mit der

Wirklichkeit ‚der Praxis‘ einfach gleich zu setzen. Phänomenologie ist also alles

andere als besinnungslose Deskription.

Der phänomenologische Zugang lehrt ferner den behutsamen und reflektierten

Umgang mit Begriffen und theoretisch erhobenen Kategorien, insofern er das

Bewusstsein dafür wachhält, dass die wahrgenommene Wirklichkeit stets sehr viel

mehr enthält als in einen Begriff gefasst werden kann. Daraus ergibt sich der

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Prüfauftrag, inwieweit die in einem bestimmten Projekt verwendeten Grundbegriffe in

sinnlichen Erfahrungen verwurzelt sind, die bei den Praktikanten im Feld unter

Umständen ganz andere Assoziationen auslösen als im Kontext des

Forschungsbetriebs. Ein Begriff wie ‚Religion‘ beispielsweise ist zunächst einmal ein

kulturelles Konstrukt, unter dem sehr verschiedene Erfahrungen gefasst werden

können.

Diese Forschung kann u.a. auf Strategien der case studies zurückgreifen.33

Die

Repräsentation von Erfahrungsperspektiven ‚aus‘ dem Fall selbst heraus erschließt

ihre lebensweltlichen Zusammenhänge. Zur Fallstudie in empirisch-

phänomenologischer Richtung zählt zum Beispiel die narrative Aufbereitung, und

zwar in Gestalt einer phänomenologischen Beschreibung als Repräsentation gelebter

Erfahrung. Es soll nämlich ein Lebensprozess zur Sprache gebracht werden, der für

sich betrachtet hochgradig vorsprachlich und unstrukturiert abgelaufen ist. Zur

Einlösung dieser Zielsetzung können eben durchaus unterschiedliche Methoden der

Ethnografie und der qualitativ orientierten Sozialforschung herangezogen werden

(Teilnehmende Beobachtung, Dichte Beschreibung, Interviews etc.).34

Das

Entscheidende ist die Aktivierung der phänomenologisch offenen Haltung.

Die Stärke phänomenologischen Vorgehens liegt gerade darin, dass nicht zu schnell

und zu früh festgelegt wird, was denn hier im konkreten Fall dran ist. Ein Fall,

verstanden als ein Phänomen, steht in einem komplexeren Feld. Und sein Zentrum

zeigt sich den Forschenden erst im Verlauf mehrfacher Annäherung. Ein Fall „ist“ also

nicht (im Sinne des jungen Wittgenstein), sondern er entsteht, denn das Phänomen

konstituiert sich erst im Verlauf eines Prozesses. Für die Aus- und Abgrenzung eines

Falls lässt sich also als eine Möglichkeit geltend machen, dass die Kenntnis des Felds

der eigenen beruflichen Praxis selbst den Blick dafür schärft, was einen ‚interessant‘

dimensionierten Fall abgibt.

Phänomenologisch-empirische Erforschung gelebter Religion leistet keinen Beitrag

zur Ermittlung generalisierbarer Gesetzmäßigkeiten, da sie nicht mit großen Zahlen

operiert. Sie richten sich allerdings auf Fragestellungen, für die die „großen Zahlen“ in

der Regel wenig aussagekräftig und insofern selbst „unscharf“ sind.35

Fallstudien

stellen immer „Wissen vom Besonderen“36

zur Verfügung. Umgekehrt muss man also

auch in unserem Forschungskontext fragen: Was sind Ziele, Erkenntnisinteressen der

Arbeit am Singulären? Der Einzelfall des hier geschilderten Typs legt

Strukturprinzipien des Handelns, Verstehens und Erfahrens einzelner aus. Dabei

eignen sich solche Prinzipien zwar nicht unmittelbar für großräumliche Prognostik

sozialen Handelns, aber sie lassen Schlüsse auf Prinzipien zu, die für die jeweiligen

Praxisorte und übergreifenden Handlungsstrukturen durchaus allgemeinen Wert

besitzen. Diese Art der ‚Verallgemeinerung‘ begründet sich also auf einem besseren

Verständnis des ‚Sinns‘ eines Handlungszusammenhangs.

33 Den Ansatz einer phänomenologisch orientierten Fallarbeit haben wir gerade im Zuge des

Forschungsprojektes zur Wahrnehmung von Krisen in der Kirche intensiver genutzt.

Vgl. dazu ausführl. H.-G. Heimbrock/S. Leonhard/P. Meyer/A. Plagentz (Hg.), Religiöse Berufe – kirchlicher

Wandel. Empirisch-theologische Fallstudien, 2013 (1.3.3. Arbeit mit Fallstudien, S. ; vgl. ferner Dinter u. a.

(Hg.), Empirische Theologie, a.a.O. 97ff. 34 Dinter u. a. (Hg.), Empirische Theologie, a.a.O. 97ff. 35 Vgl. B. Flyvbjerg, Five Misunderstandings About Case-Study Research, in: Qualitative Inquiry 2006, Vol. 12

No 2, 219–245. 36 J. Süßmann, (Hg.), Fallstudien: Theorie, Geschichte, Methode. Frankfurter kulturwissenschaftliche Beiträge 1.

Berlin 2007 , 21.

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Ich komme zum Schluß: Für mich ist E. Husserls phänomenologischer Urimpuls „Zu den

Sachen selbst!“ immer noch ein für empirische Forschung hilfreicher Grundimpuls, weil er

sich gegen vorschnelle Subsumption der Phänomene unter theoretisches Wissen richtet. Und

in Sonderheit seine Fortführung bei E. Lévinas „Nicht nur zu den Sachen selbst, sondern auch

nie von den Sachen weg“37

Das gilt insbes. für die „Sache“ Erfahrung.

37 E. Lévinas, Die Spur des Anderen, 1983, 55.