Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus || Das nationale Interesse

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6 Das nationale Interesse ( ... ) remember always that it is not only a political necessity but also a moral duty for a nation to fol- low in its dealings with other nations but one guiding star, one standard for thought, one rule for ac- tion: THE NATIONAL INTEREST "Die USA werden ihre Weltpolitik yom sicheren Grund des national en Interesses heraus formulieren, nicht aus den Interessen einer illusorischen Weltgemeinschaft heraus.'.! Das Konzept des national en Interesses stellt die logische Fortsetzung des Machtbeg- riffes dar. Aus den Relationen der Machtpole zueinander glaubt Morgenthau eine rationale AuBenpolitik ableiten zu k6nnen. Sein Denken steht geistesgeschichtlich in der Tradition der Idee der Staatsrason Friedrich Meineckes. 2 Es ist davon abhangig, das der Staat ein eigenes, von der Gesellschaft unabhangiges und autonomes Interes- se entwickelt. 3 Das Konzept des nationalen Interesses ist statischen Charakters, dass es die fur einen Akteur X zu einem t optimale Strategie des Handelns ennitteln solI - unter den zu dies em Zeitpunkt vorherrschenden systemischen Bedingungen. Es tragt ideal- typischen Charakter; in seiner reinen Fonn ist es physisch nicht erschaubar, den- noch: je besser ein politischer Entscheidungstrager das nationale Interesse erkennt, desto vorteilhafter ist dies fur seine politische Situationsdiagnose und Entschei- dungsfindung. Das Interesse einer Nation, wie es sich zu diesem Zeitpunkt ausweist, ist jedoch aus der Historie des jeweiligen Akteurs ableitbar und damit in seiner Pfadabhiingigkeit erklarbar; diese Tatsache fuInt dazu, dass das Konzept nicht durch individuelle Erwagungen besonderer Staatsmanner gestOrt oder von ideologischen Pragungen einer Epoche verfalscht wird. Es sind oft objektive Faktoren, wie die geographische Lage oder die Ressourcenausstattung einer Nation, die die Machtlage der Nation und damit auch ihre Interessenlage kodetenninieren. Morgenthau zur durch diesen Begriff gegebene theoretische Einsicht in politi- sche Sachverhalte: ,,[Der Begriff] bringt (... ) vemunftgemaBe Einsicht [in das Tun der Handelnden] und schafft somitje- ne erstaunliche Kontinuitat, welche uns die amerikanische, die britische oder die russische AuBenpo- litik als verstandlichen und rationalen Ablauf erscheinen laBt, der im groBen und ganzen in sich stimmig, von den verschiedenen Motiven, Wiinschen, intellektuellen Fahigkeiten und moralischen Qualitaten der aufeinander folgenden Staatsmanner aber unabhangig is!.,,4 Condoleezza Rice: "Promoting the National Interest". In: FA, lanuarlFebruar (2002): 62. Auf eine briefliche Anfrage Kindermanns vom 29.10.1957, ob Morgenthau Meinecke-Schiiler gewe- sen sei, antwortet dieser in einem Briefvom 31.10.57 etwas verschnupft: ,,( ... ) to call me a disciple of Meinecke is untrue from a strictly historic point of view and somewhat far.fetched from any point of view." In: MP Box 33. Stephen D. Krasner (1978): Defending The National Interest. Princeton: 346. Das Konzept des nationalen Interesses als sicherheitspolitisches Interesse macht den systemischen Pfeiler des Mor- genthauschen Ansatzes aus. MuF:51. C. Rohde, Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus © VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004

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6 Das nationale Interesse

( ... ) remember always that it is not only a political necessity but also a moral duty for a nation to fol­low in its dealings with other nations but one guiding star, one standard for thought, one rule for ac­tion: THE NATIONAL INTEREST

"Die USA werden ihre Weltpolitik yom sicheren Grund des national en Interesses heraus formulieren, nicht aus den Interessen einer illusorischen Weltgemeinschaft heraus.'.!

Das Konzept des national en Interesses stellt die logische Fortsetzung des Machtbeg­riffes dar. Aus den Relationen der Machtpole zueinander glaubt Morgenthau eine rationale AuBenpolitik ableiten zu k6nnen. Sein Denken steht geistesgeschichtlich in der Tradition der Idee der Staatsrason Friedrich Meineckes.2 Es ist davon abhangig, das der Staat ein eigenes, von der Gesellschaft unabhangiges und autonomes Interes­se entwickelt.3

Das Konzept des nationalen Interesses ist statischen Charakters, dass es die fur einen Akteur X zu einem t optimale Strategie des Handelns ennitteln solI - unter den zu dies em Zeitpunkt vorherrschenden systemischen Bedingungen. Es tragt ideal­typischen Charakter; in seiner reinen Fonn ist es physisch nicht erschaubar, den­noch: je besser ein politischer Entscheidungstrager das nationale Interesse erkennt, desto vorteilhafter ist dies fur seine politische Situationsdiagnose und Entschei­dungsfindung. Das Interesse einer Nation, wie es sich zu diesem Zeitpunkt ausweist, ist jedoch aus der Historie des jeweiligen Akteurs ableitbar und damit in seiner Pfadabhiingigkeit erklarbar; diese Tatsache fuInt dazu, dass das Konzept nicht durch individuelle Erwagungen besonderer Staatsmanner gestOrt oder von ideologischen Pragungen einer Epoche verfalscht wird. Es sind oft objektive Faktoren, wie die geographische Lage oder die Ressourcenausstattung einer Nation, die die Machtlage der Nation und damit auch ihre Interessenlage kodetenninieren.

Morgenthau zur durch diesen Begriff gegebene theoretische Einsicht in politi­sche Sachverhalte:

,,[Der Begriff] bringt ( ... ) vemunftgemaBe Einsicht [in das Tun der Handelnden] und schafft somitje­ne erstaunliche Kontinuitat, welche uns die amerikanische, die britische oder die russische AuBenpo­litik als verstandlichen und rationalen Ablauf erscheinen laBt, der im groBen und ganzen in sich stimmig, von den verschiedenen Motiven, Wiinschen, intellektuellen Fahigkeiten und moralischen Qualitaten der aufeinander folgenden Staatsmanner aber unabhangig is!.,,4

Condoleezza Rice: "Promoting the National Interest". In: FA, lanuarlFebruar (2002): 62. Auf eine briefliche Anfrage Kindermanns vom 29.10.1957, ob Morgenthau Meinecke-Schiiler gewe­sen sei, antwortet dieser in einem Briefvom 31.10.57 etwas verschnupft: ,,( ... ) to call me a disciple of Meinecke is untrue from a strictly historic point of view and somewhat far.fetched from any point of view." In: MP Box 33. Stephen D. Krasner (1978): Defending The National Interest. Princeton: 346. Das Konzept des nationalen Interesses als sicherheitspolitisches Interesse macht den systemischen Pfeiler des Mor­genthauschen Ansatzes aus. MuF:51.

C. Rohde, Hans J. Morgenthau und der weltpolitische Realismus© VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2004

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156 6. Das nationale Interesse

Die Struktur des internationalen Systems bildet den Rahmen, innerhalb dessen der handelnde Staatsmann manovrieren muss. Die Struktur bringt Handlungszwange hervor, die durch zumeist kollidierende Interessen und asymmetrische Machtpoten­ziale internationaler Akteure bedingt sind.

Die Tatsache des Handelns in Termini des Interesses ist fur Morgenthau eine anthropologisch fundierte Tatsache, die sich aus dem Machtwillen ergibt, welcher den Menschen zum Handeln motiviert. Morgenthau bezieht sich auf eine Vorstel­lung George Washingtons:

"Schon eine geringe Kenntnis der mensch lichen Natur wird uns davon ilberzeugen, daB dem bei wei­tem griiBten Teil der Menschen das Interesse als leitendes Motiv gilt; fast jeder Mensch steht mehr oder weniger unter seinem Einfluss. Eine Zeitlang oder unter bestimmten Voraussetzungen mag das Motiv der Bilrgertugend Menschen dazu bewegen, ein von Interessen unabhangiges Verhalten an den Tag zu legen; aber dies reicht nicht aus, dauerhafte Obereinstimmungen mit den verfeinerten Gebo­ten und Pflichten der geselIschaftlichen Ordnung herzustelIen. Wenige Menschen sind fahig, stets dem iiffentlichen Wohl ihr privates Interesse oder ihren privaten Vorteil zu opfem. Vergeblich wird man deswegen die Entartung der menschlichen Nahlr beklagen; dies sind Tatsachen, die Erfahrungen alIer Zeiten und alIer Nationen haben sie erwiesen, und ehe wir dies andem kiinnen, miissen wir aIle Anlagen des Menschen andem. Jede Einrichtung, die nicht auf der Richtigkeit dieses Satzes aufbaut, wird der Erfolg versagt bleiben."s

Innerhalb der Theorie des Klassischen Realismus stellt die Idee des Interesses eine Formalkategorie dar; der Inhalt des jeweiligen Interesses ist kontextspezifisch zu ermitteln. Doch bildet das einem Staat zur Verfugung stehende Machtpotenzial einen wichtigen Anhaltspunkt fur die Ern1ittlung oder Kreierung dessen Interesses. Filr die konkrete Politikfuhrung gibt es einen auf Thukydides zurUckgehenden und von Lord Salisbury bestatigten Anhaltspunkt. Diese beiden Gelehrten gehen davon aus, dass die Existenz gleichartiger beziehungsweise das Fehlen gegensatzlicher Interessen das sicherste Band zur Ermoglichung von Kooperation zwischen Natio­nen darstelIt. 6

6.1 Die heuristische Funktion des Begriffes des nationalen Interesses

Filr Morgenthau kann die komplexe politische Wirklichkeit, sei sie historischer oder gegenwartspraktischer Natur, nur mit Hilfe eines theoretischen Begriffssystems verstanden werden, welches es vermag, eine sinnvolle Ordnung in die heterogenen Strukturen der Weltpolitik zu bringen. Diese Funktion ilbernimmt fur ihn der im Sinne von Macht verstandene Begriff des Interesses. Die Geschichte bezeuge die Tatsache, dass das politische Handeln eben von Macht- und Interesseabwagungen gepragt werde. Mit Hilfe historisch-empirischer Forschung hat Morgenthau dies en Begriff als den die Politik konstituierenden Begriff aus dem .Gestriipp der Weltpoli­tik heraus ermittelt.

Macht und Interesse bedingen sich gegenseitig. Ein rational konzipiertes Interes­se muss mit den zur Verfugung stehenden Mitteln in Einklang stehen. Der Staats­mann muss also fahig sein, das eigene Machtpotenzial sowie das seiner Kontrahen-

John C. Fitzpatrick: The Writings a/George Washington, (Washington D.C. 1931/44) Band X: 363. In: MuF: 54. The Decline: 92.

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6.3. Interesse und Institutionen 157

ten im intemationalen System abschatzen zu k6nnen, urn eine rationale auBenpoliti­sche Strategie zu verfolgen.7 Macht ist flir Morgenthau immer etwas Relatives.8 Die relative Macht im Verhaltnis zwischen Akteuren stellt die wichtigste kausale Drsa­che flir politisches Verhalten von Nationen im Klassischen Realismus dar und be­dingt die Interessendefinition einer Nation. Dabei ist relative Macht nicht nur aus­schlaggebend als kausale Verhaltensursache in antagonistischen Beziehungsverhalt­nissen, sondem auch in grundsatzlich kooperativ strukturierten Beziehungsgefligen.9

6.2 Die Bedingungen des internationalen Systems

Morgenthau geht davon aus, dass die Selbsterhaltung das wichtigste Interesse einer Nation darstellt. In einem anarchischen intemationalen System ist diese Selbsterhal­tung immer durch aktive Politik anzustreben lO • Zwar schlieBt Morgenthau die regio­nale Bildung von Normensystemen nicht aus; es gebe aber keine wirklich verlassli­chen supranationalen Standards, die das nationale Interesse ersetzen k6nnten. 11

Grundsatzlich muss der Staat auf sich selbst aufpassen: "Es gibt nicht nur keine supranationalen moralischen Prinzipien, die konkret genug sind, urn den Handlun­gen der individuellen Nationen eine Fiihrung zu geben, es gibt auch keine Instanz auf der intemationalen Ebene, die die Interessen individueller Nationen schutzt und fordert und die deren Existenz sichert, auBer den individuellen Nationen selber."12 Ein Staat muss sein nationales Interesse innerhalb eines unruhigen, dynamischen intemationalen Systems durchsetzen.

6.3 Interesse und Institutionen

Politik wird flir Morgenthau transepochal durch das Konzept des Interesses be­stimmt. Dabei sei einer bewahrten Definition Kindermanns gefolgt: "Dnter Interesse verstehen wir hier eine zielbezogene Willensgerichtetheit. Sie wird zumeist von dem erzeugt, den der Willentrager einem bewuBt angestrebten Ziel zuweist."\3 Das Kon­zept des Interesses ist folglich nicht an eine spezifische soziale Organisationsform,

Wichtig ist dabei, dass das Konzept des nationalen Interesses zu einer objektivierten Perspektive ruhren kann, so dass der Staatsmann flihig wird, einen moral point of view einzunehmen. Dadurch wird eine ideale Rolleniibernahme moglich, die dazu fuhrt, dass sich der entscheidungspflichtige Staatsmarm in die Lage der Subjekte versetzen kann, die von der Ausfuhrung seiner Norm betroffen waren. Morgenthaus Diplomatieverstandnis fordert diese empathische Qualitat in expliziter Weise. S. auch G. H. Mead (1968): Geist, Identitiit und Gesellschaft. Frankfurt: 429f. "Factors of National Power" Vortrag im Defense Strategy Seminar des. Naval War College in Washington D.C. Yom 14. Juni 1971: 9. In: MP Box 164. Werner Link: "Die Entwicklungstendenzen der Europaischen Integration (EG/EU) und die neorealis­tische Theorie"'. In: ZjP, September 2001: 303.

10 "Thus all nations do what they cannot help to but do: protect their physical, political and cultural identity against encroachments by other nations." The Decline: 91.

II Morgenthau halt jedoch die Obsoleszenz des Nationalstaates als Trager eines singularen Interesses nicht nur fur wiinschenswert, sondern auch fur notwendig. Die Bedingungen des Nukleaneitalters er­forderten eine solche Entwicklung. MuF: 55.

12 "The Primacy of the National Interest". In: The American Scholar, Friihjahr 1949: 211. 13 Kindermann (1986): "Zur Methodik der Intemationalen Konstellationsanalyse": Ill.

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158 6. Das nationale Interesse

beispielsweise den Nationalstaat, gebunden, sondern kann vom Individuum bis zu einer groBen Institution reichen, die als Willenstrager fungieren. Morgenthau liegt nichts daran, das Beharrungsvermogen des Nationalstaates nachzuweisen, urn sei­nem Realismus einen zeitlosen Charakter zumessen zu konnen. 1m Gegenteil, Mor­genthau spricht bereits 1963 von der "Unangemessenheit des Nationalstaates" und dem "Bedurfnis und (dem) Trend hin zu supranationalen Organisationen".14 Der Dbergang vom Nationalstaat zur Interessenvertretung innerhalb einer Institution erfolgt aber nur unter einer Bedingung, so Morgenthau: " ( ... ) keine Nation wird ihre Handlungsfreiheit beschranken, wenn sie keinen Grund hat anzunehmen, dass dieser Autonomieverlust durch proportionale Gewinne kompensiert wird."15

Was Morgenthau in soleh globaler Weise darstellt, hat sich in Bezug auf den eu­ropaischen Integrationsprozess mehr als bewahrheitet. In keinem Politikfeld kommt es "automatischen" Fortschritten; einzelne nationale Akteure stimmen Erweiterun­gen nur dann zu, wenn sie ihren Interessen entsprechen. Die Briten klinken sich stets aus dem Integrationsprozess aus, wenn sie sich durch autonomes Verhalten groBere nationale Vorteile erhoffen. 16

Morgenthau hat in deutlicher Weise den Prozess antizipiert, der zu den globalis­musbedingten Prozessen der Regionalisierung geftihrt hat: ,,( ... ) im Sinne eines of­fensichtlichen Paradoxes kann das, was an der Idee des national en Interesses histo­risch bedingt ist, nur durch das Konzert nationaler Interessen einer Reihe von Natio­nen uberwunden werden."17

Es ist vollkommen verfehlt, von einem institutionellen Automatismus auszuge­hen; institutionelle Entscheidungen sind stets durch akteursorientierte Kompromiss­findungen herzustellen. Werner Link bestatigt die Aussagen Morgenthaus mit fol­genden klaren Worten:

,,[ Aus der Sieht des Realismus 1 sind Internationale Organisationen - abgesehen von maehtpolitiseh peripheren Handlungsfeldern - keine eigenstandigen Akteure, sondern Vehikel oder Instrumente der Staaten. Sie sind Widerspiegelungen der Machtverteilung zlvischen den Staaten. Ob die Staaten In­ternationale Organisationen griinden und dann nutzen oder nieht nutzen, hangt von der jeweiligen In­teresseneinsehatzung und von den Satzungs- bzw. Vertragsbestimmungen ab:"8

Inwieweit innerstaatliche Normbildungen einerseits und der Druck von Interessen­gruppen andererseits die konkrete Interessendefinition bedingen, diese Frage hat Morgenthau leider nur ad hoc beantwortet, da sie die Fahigkeiten politischer Theorie ubersteigen wiirde. Waln·end in Zeiten internationaler Krisen die materiellen Sicher­heitskalkulationen von Akteuren deren Interessendefinition hochgradig bedingten, so gabe es auch Zeiten, in denen ubergeordnete internationale Verhaltensnormen

14 15

MuF: 10. The Decline: 93.

16 Carlo Masala: "Der Weg der EU von Masstricht naeh Amsterdam - Weiterentwicklung oder Stagna­tion" in: ZfPwissenschafi 9. Jg. (J 999) Heft 3: 918.

16 Wolfgang Wagner: "Ideen und Interessen in der europaischen Verfassungspolitik. Rationalistische und konstruktivistische ErkHirungen mitgliedsstaatlicher Praferenzen" In: Politische Vierteljahresschrifi, 40. Jg. (1999), Heft 3.

17 The Decline: 93. 18 Werner Link (1998): Die Neuordnung der Weltpolitik: 106.

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6.4. Notwendige und variable Interessen 159

den reinen Rationalismus der Akteure aufheben konnen.!9 Staaten sind in ihrer Inte­ressendefinition unter gtinstigen intemationalen Konstellationen "sozialisierbar".

Das Verhalten intemationaler Akteure 16st sich jedoch dann, wenn es urn Krieg und Frieden in der intemationalen Politik geht. So bleibt die Integration Europas auch we iter auf die Bereiche beschrankt, die jenseits sich jenseits der existenziellen intemationalen Fragen abspielen. So sprach der deutsche AuBenminister Fischer in einem ZDF-Interview vom 8. Juni 2003 tiber die Bedeutung des EU-Konvents da­von, dass tiber diese Fragen auch in Zukunft die Nationalstaaten entscheiden wiir­den. Die klagliche Spaltung Europas im Falle des Irak-Konflikts stellt ebenfalls ein eindrucksvolles Indiz fur die Tatsache dar, dass sich die Staaten Osteuropas in Si­cherheitsfragen an der Supermacht USA orientieren und nicht an einem Europa, das in sicherheitspolitischen Fragen noch kein Profi nachgewiesen hat.

Und auch die Mitgliedsstaaten der Europaischen Union nutzen einen ausgepdig­ten Bipolarismus mit auBenstehenden Staaten (z. B. Italien mit Russland und den USA, Spanien mit den USA), urn ihre inteme Machtposition innerhalb der EU zu verbessem. Institutionen sind kein Garant fur die Obsoleszenz strategischer Macht­politik.

6.4 N otwendige und variable Interessen

Der Inhalt des langfristigen nationalen Interesses ist fur Morgenthau kulturspezijisch angelegt und von den politischen Traditionen detenniniert, in denen eine Nation ihre AuBenpolitik formuliert. Uber die allgemeinen letzten Interessen von Nationen au­Bert er sich nicht explizieo Es besteht aus dem notwendigen Element des logischen Erfordernisses und aus dem Element des Variablen, von Umstanden abhangigen. Hiem1it sind wohl am ehesten innerstaatliche Determinanten politis chen Handelns gemeint. Das relativ Permanente, der ha11e Kem des nationalen Interesses, stammt fur Morgenthau aus drei Quellen:

,,( ... ) der Natur der Interessen, die verteidigt werden mtissen, dem politischen Umfeld, innerhalb des­sen die Interessen wirksam werden sowie den rationalen Notwendigkeiten, die die Wahl der Ziele und Mittel aller Akteure auf der Btihne der AuBenpolitik begrenzen. Jede AuBenpolitik, die unter dem MaBstab des nationalen Interesses praktiziert wird, muss offensichtlich einen gewissen Bezug zur physischen, politischen und kulturellen Entitat haben, die wir eine Nation nennen."2!

Morgenthau weist darauf hin, dass Politik nur im Bereich des Sicherheitspolitischen wissenschaftlich verstehbar ist. 22 Das heiBt, die Wissenschaft kann helfen, den Staatsmann auf die systemisch bedingten Minimalerfordemisse des Staates hinzu­wei sen, die sich aus stets neuen konstellativen Perzeptionen ergeben. Was sind die

19 Martha Finnemore zeigt, wie internationale Normen, vermittelt durch internationale Organisationen, Staaten zu einer Redefinition ihrer nationalen Interessen ruhren konnen. Allerdings beschranken sich die Fallstudien auf periphere Politikfelder. National Interests in International Society, Cornell Uni­versity Press 1996.

20 Dies tut er lediglich in Bezug auf einzelne Nationen, wie z. B. die USA in: The Plllpose of American Politics.

2! The Decline: 91. 22 "Another Great Debate: The National Interest of the United States". In: The American Political

Science Review, Dezember 1952: 961 f.: Dilemmas: 65-66.

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160 6. Das nationale Interesse

existenziell notwendigen Ziele, wie sind sie durchsetzbar? Von welchen Akteuren sind diese Ziele in Frage gestellt? Welches sind zusatzliche politische Ziele, die liber das den harten Kern des nationalen Interesses hinausgehen?

Die Kenntnis der Positionalitat des Staates - auf Grund einer Analyse der relati­yen Machtverhaltnisse im internationalen System - ist es, die eine Bestimmung des harten Kerns des nationalen Interesses dieses Staates zu einem bestimmten Zeit­punkt ermoglicht. Diese kann "am ehesten im Vollzug einer riickschauenden ge­schichtlichen Analyse erkannt werden"23- sie ist also durch das Resultat internationa­ler Verhandlungen oder kriegerischer Auseinandersetzungen. Die Wahrung der nationalen Sicherheit steht ganz oben auf der Agenda einer realistischen Interessen­bestimmung.24

In Bezug auf die "variablen Interessen" ist, so Morgenthau, die Moglichkeit der wissenschaftlichen Interessenbestimmung begrenzt. Sie konne nur die Verbindung staatlicher Bilrokratie und gesellschaftlicher Interessengruppen eruieren sowie die Legitimitat nationaler sektoraler Interessen in bezug auf die nationalen Werte und auf die Kompatibilitat mit den Interessen anderer Staaten hin liberprlifen. Dabei sieht Morgenthau einerseits die Gefahr, dass die variablen Interessen eines Staates so expansiv vertreten werden konnen, dass sie die "notwendigen" Interessen aufs Spiel setzen, da diese Art der Politikfilhrung das Gebot der Reziprozitat verletzt und damit Gegenbalancing provoziert25 ; als klassisches Beispiel sieht Morgenthau Hitler an, der mit seiner rassisch begriindeten politischen Zieldefinition die Begrenztheit der ihm zur Verfilgung stehenden Mittel verkannt habe und so in eine fatale militari­sche Niederlage geschlitteli sei. 26

Auf der anderen Seite diagnostiziert Morgenthau die Moglichkeit, dass subnatio­nale Interessen ein konsistent formuliertes nationales Interesse gefahrden. Dies sei gerade in den USA moglich, da es sich hier urn ein Land von Immigranten und da­mit stark vertretenen auBerstaatlichen Lobbies handele. So konnten diese Interessen­gruppen ihre Interessen auf Kosten "wirklicher" nationaler Interessen durchsetzen.27

In dies em Falle ist die von Morgenthau geforderte hochgradige Autonomie des Staa­tes gegenliber gesellschaftlichen Kraften nicht gegeben.

Das nationale Interesse wird somit durch interne und externe Variablen gebildet. Doch fur Morgenthau hat der Staatsmann die Pflicht, der eigenen Bevolkerung die rationalen Bedingungen zur Durchfilhrung einer optimalen AuBenpolitikfilhrung darzulegen und dam it die interne Praferenzbildung gezielt zu steuern.

23 Kindermann in Morgenthau (1965): 28. 24 "Security is like oxygene - you tend not to notice it until you begin to lose it, but once that occurs

there is nothing else that you will think about." Joseph Nye, Jr.: "The Case for Deep Engagement". In: Layne (1997): 97.

25 Die negativen Auswirkungen eines von innerstaatlichen Interessengmppen provozierten Irnperialis­mus zeigt Jack Synder (1991) auf: Myths of Empire.

26 "The Nature and Use of Power an its Influence Upon State Goals and Strategies"; ein Vortrag vor dem Naval War College vom 15. September 1963: 28.

" Dieses Problem sieht auch Samuel Huntington: "The Erosion of American National Interests". In: FA, September/Oktober 1997: 28. Er spricht von der Erosion der amerikanischen Identitat und den damit verbundenen Folgen fUr die amerikanischen nationalen Interessen .

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6.5. Das nationale Interesse - Bildung durch exteme Beschrankungen 161

"Die praktische Bedeutung einer Auseinandersetzung mit dem Problem des au13enpolitischen Interes­ses wird einerseits in dem Erfordernis gesehen, der Vielfalt selbstbezogener Teilinteressen im Berei­che der Innenpolitik das Postulat gro13tmoglicher Einheit auf der Ebene nach au13en hin zu veltreten­der Interessen der Gesamtheit gegeniiberzustellen ( ... ) Die ForrnulielUng glUndlegender au13enpoliti­scher Interessen hat angesichts des in demokratischen Staaten labileren Prozesses der Willensbildung und des starkeren Einflusses der offentlichen Meinung andererseits die Funktion, allzu emotionalen, angenblicksbedingten und unkoordinierten Interpretationen auBenpolitischer Interessen entgegenzu­wirken.,,28

In den Zeiten des Kommunikationszeitalters ist die Verfolgung einer konstanten AuBenpolitiklinie noch weit schwieriger geworden.29 Diese Tatsache erfordert einen offeneren Diskurs. ,,(AuBenpolitik) wird von der Exekutive ausgefiihrt, aber sie muss starker als bisher im Parlament und in der Offentlichkeit diskutiert werden. "30

6.5 Das nationale Interesse - Bildung durch externe Beschriinkungen

Das Konzept des nationalen Interesses stellt in mehrfacher Hinsicht ein reaktives Konzept dar. Erstens ist es von Morgenthau als Antwort auf den Historischen Opti­mismus, eine autklarungsoptimistische Denkrichtung in der Theorie internationaler Beziehungen, konstruiert worden und zweitens wird das konkrete auBenpolitische Interesse von Staaten durch die Handlungsbeschrankungen, die dem Staat durch die Macht anderer Akteure auferlegt wird, in hohem MaBe pradeterminiert. AuBenpoli­tik ist in diesem Sinne in hohem MaBe reaktive Politik. Die Erfordernisse des inter­national en Machtegleichgewichts verringern die strategischen Handlungsoptionen eines Staates in hohem MaBe. Kenneth Waltz hatte das Konzept der Staatsrason schlieBlich methodologisch elegant gerechtfertigt. Er hatte auf die Handlungsbe­schdinkungen aufmerksam gemacht, denen Staaten im international en System auf Grund ihrer materiellen Machtlage ausgesetzt sind.

Morgenthaus Theorie des Klassischen Realismus jedoch bleibt nicht bei dieser externen Sichtweise internationaler Politik stehen. Auch wenn der den Ausgangs­punkt der Analyse bei den externen Bedingungen ansetzt, so integriert Morgenthau doch die binnenstaatlichen Voraussetzungen einer auBenpolitischen Entscheidung in seine auBenpolitische Analyse. Folgende Aussage Morgenthaus in einem auBenpoli­tischen Seminar belegt diese Tatsache deutlich:

"Es gibt drei Ebenen, auf denen man die AuBenpolitik eines Landes betrachten kann und muB:

a) die objektiven Bedingungen - diese rational en Betrachtungen, welche unter Ausschluss aller subjektiver Faktoren ersichtlich sind - das nationale Interesse.

28

29

30

Kindermann in MliF (1963): 28. Joseph S. Nye Jr.: "Redefining the National Interest". In: FA, JulilAugust 1999. Christian Hacke: "Die neue Bedeutung des nationalen Interesses fur die AuBenpolitik der BlIndesrepllblik Deutschland. In: APlIZ, BI-2/97 vom 03.01.97: 9. Diese Tatsache betrifft gerade Sachverhalte der deutschen Au13en- lind Sicherheitspolitik, deren Auslandseinsatze nicht auf der GlUndlage einer verniinftigen Staatsrtison stattfinden, sondern nur ad hoc aus den emotionalen Stimmungen des Augenblicks heraus erfolgen. Martin Wagener: "Auslandseinsatze der Bundeswehr. Nonnalisierung statt Militarisierung deutscher Sicherheitspolitik". Tn: Constantin Grund, Sebastian Harnisch, Hanns Maull (Hrsg.), Deutschland im Abseits? Rot-griine Auj3enpolitik 1998 - 2003, Baden-Baden 2003: 33-48.

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162 6. Das nation ale Interesse

b) die Philosophie, die diese Interessen gefonnt hat. Der Geist (The mind) eines Staatsmannes entwickelt eine bestimmte Vorstellung der Welt, welche tei1weise aus objektiv vorhandenen Bedingungen und tei1weise aus phi1osophischen und individu­alpsychologischen Annahmen tiber die Welt besteht.

c) die aktuell verfolgte AuBenpolitik. Was passiert, wenn a) aufb) trifft. Die grundsatzlichste Ebene stellt a) dar. Diesem hinzugefligt folgt b). c) ist das

Endresultat. "31

Diese Aussage Morgenthaus macht deutlich, dass das nationale Interesse kein rein physisches Konzept darstellt, sondem durch die Perzeptionen der Entschei­dungstrager mit kreiert wird. Beispielsweise wird das Interesse einer Nation neb en den objektiven Faktoren zusatzlich von einer tibergeordneten nationalen Bestim­mung gepragt.32 Die Art der Entstehung der Vereinigten Staaten, deren Werte- und Verfassungspatriotismus lassen eine radikal expansionistische Militarpolitik zur Eroberung fremder Territorien undenkbar erscheinen, obwohl das reine amerikani­sche Machtpotenzial solche Eroberung moglich mach en wtirde.

Das nationale Interesse einer Nation in der Gegenwart ist stark gepragt von deren Vergangenheit. 33 So versuchen England und Frankreich als individuelle Nationen noch immer, GroBmachtpolitik zu betreiben, indem sie mit dem Commonwealth oder Afrika Einflussspharen aufrechtzuerhalten versuchen. Des Weiteren versuchen die Englander durch von Europa unabhangige Militaraktionen im Verbund mit den USA, den "welthegemonialen Juniorpartner" im Rahmen der "besonderen Bezie­hung" zu mimen. Die Franzosen hinwieder zeichnen sich durch Versuche aus, die Europaische Union zu ihren Gunsten zu gestalten und das transatlantische Btindnis zu lockem. Deutschland dagegen ist vorsichtig in der Vertretung eigener nationaler Interessen, urn die fur die eigene Sicherheit notwendige Integration durch Selbstbin­dung nicht in Frage zu stellen. Dabei muss das Land zwischen dem franzosischen Wunsch nach mehr Unabhangigkeit von den USA und dem eigenem Wunsch nach gefestigter amerikanischer Prasenz auf dem europaischen Kontinent hin- und her lavieren. 34

Da Morgenthau ausgesprochen historiographisch arbeitet, kann er auf kein ele­gantes, rein logisch-deduktives politologisches Kausalmodell zurUckgreifen. Die Kosten dieser Art von Simplifizierung sind Morgenthau zu hoch. Macht und Interes­se sind zu stark durch nicht-materielle Komponenten wie Prestigetiberlegungen gepragt, als dass ein rein materielles Politikverstandnis gerechtfertigt ware. Ge­schichte ist mehr als reines Nutzendenken in militarischen oder okonomischen Ter­mini. Die nationale Kultur und nationale Werte sind in dieser Hinsicht bei der Defi­nition des national en Interesses einer Nation eminent wichtig. Da Identitaten stets

31 Hans J. Morgenthau in einer Vorlesung (Nr. 374) im Winterquartal 1952 an der Universitat Chicago mit dem Titel: "Contemporary Diplomatic Problems", hier in der Mitschrift eines Studenten: I.

32 "Basic Considerations in the Formulation of National Security Policy": 8. 33 Wilfried von Bredow zitiert in: Heinz Brill: "Strategische Allianzen in der intemationalen Politik -

Unilateralismus versus Multipolaritat". In: O/1;/Z 5/2002: 539. 34 Franz-Josef Meiers: "Der europaische Sicherheitspfeiler - Stein des AnstoBes". In: Internationale

Politik 3/2000: 45-46. Peter Schmidt: "ESVP und Allianz nach dem Vierergipfel". In: SWP-Aktuell 20. Mai 2003.

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6.6. Interesse und Macht - eine Ziel-Mittel-Relation? 163

fluiden Charakters sind, kann das nationale Interesse bei Morgenthau auch nur als voriibergehend statisch angenommen werden35 • Historische Ereignisse verandern stets Machtpotenziale, damit auch Interessendefinitionen, abel' auch die die Interes­sendefinition einer Nation kodetelminierende nationale Identitat.

Russell: ,,[Morgenthau] betonte, dass die Geschichte eine wesentliche Gnmdlage zum Studium der internationalen Politik und AuBenpolitik darstelle; in der Tat sind historische Ereignisse, die wichtig zum Verstandnis del' internationalen Politik sind, im Allgemeinen die Manifestationen sozialer und politischer Krafte, die die zeitlo­sen Prinzipien der menschlichen Natur widerspiegeln."36

6.6 Interesse und Macht - eine Ziel-Mittel-Relation?

Es ist dem Staatsmann vorbehalten, eine klare Einschatzung zur VerfUgung stehen­den Mittel und daraus folgenden Zieldefinitionen einer Nation vorzunehmen.

Morgenthau fordert fUr eine effektive PolitikfUhrung folgendes simple, aber wir­kungsvoUe Konzept: "Eine Balance zwischen Zielen und Mitteln, eine Balance zwischen den Absichten einer Nation und der Macht, die diese zur VerfUgung hat, diese Balance stellt das ultimative Idealziel dar, welches die auBenpolitisch und militarstrategisch Verantwortlichen zu erreichen versuchen soUten. "37

Diese Aussage mag nicht eine neue Offenbarung darstellen, doch so ist sie fur die praktische Politikfuhrung zur Zeit Morgenthaus und auch fUr die Gegenwart von eminenter Bedeutung. Nationen oder Staatenbiindnisse, die hehre politische Ziele postulierten, diese aber nicht mit entsprechendem materiellen Machtmitteleinsatz unterstiitzten, gerieten unter Glaubwiirdigkeitsverlust, welcher andere Nationen zu aggressivem Verhalten geradezu einlud38 • Die Klarheit politi scher MaBnahmen ist fUr den Klass is chen Realismus der Schliissel dazu, das internationale System stabil zu halten und potenzielle Aggressoren zu entmutigen39 •

Der Volkerbund mit seinem System der kollektiven Sicherheit postulierte die Niederschlagung von Aggressoren beim VerstoB gegen die Prinzipien des Volker­rechts. Das Unglaubliche trat ein: (Ehemalige) Mitglieder aus den Reihen des Vol­kerbundes, Japan sowie ltalien briiskierten den Volkerbund, indem sie sich zu Ag­gressionen gegen die Mandschurei bzw. Abessinien hinreiBen lieBen. Die Reaktion des Volkerbundes war mehr als halbherzig. Die postulierten Ziele wurden nicht mit entsprechenden Machtmitteln unterstiitzt; die Aggressoren kamen nahezu ungestraft davon. Die Institution zerfiel; andere Aggressoren wurden ermutigt, die deutsche Aggl'essionspolitik der dreiBiger Jahre wurde geradezu provoziert. Es kann aber auch zum umgekehlten Fall kommen. Eine machtige Nation gibt sich mit unzureichenden Zielsetzungen zufrieden und bekommt als Foige dieser Tatsache eine Reputation del' Schwache. Morgenthau sieht im amerikanischen Verhalten in

35 Die Kritik an den gegebenen exogenen Interessen als Grundlage von Ansatzen rationaler Wahl kann deshalb nur partiell auf Morgenthau angewandt werden. S. hierzu Finnemore (1996); Wendt (1999).

36 Russell (1990): 107. 37 "The Nature and Use of Power and its Influence Upon State Goals and Strategies": 28. '" Den kontraproduktiven Ausschluss strategischer Optionen im Kosovo-Konflikt zeigt Martin Agliera:

"Z6gerliche Supermacht mit unzuverlassigen Partnern?" In: Meier-Walser/Luther (2002): 377. 39 Paul Wolfowitz: "Remembering the Future". In: TN!, FruhjalU' 2000: 40.

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164 6. Das nationale Interesse

den dreiBiger Jahren eine solche Politik der nicht effektiven Nutzung seiner Res­sourcen. Obwohl die USA nach Ende des Ersten Weltkriegs die potenziell starkste Macht der Welt darstellten, so glich ihr Verhalten dem einer drittrangigen Macht'°. Die amerikanische Antwort auf die japanische Aggression in China war die Stim­son-Doktrin, die die Nichtanerkennung territorialer Eroberungen Japans zum Inhalt hatte. Doch eine solche nicht mit militarischer Macht unterstUtzte Politik blieb, so Morgenthau, eine Politik des "Gesichter machens"41

Der Klassische Realismus fordert die konsequente Einsetzung der Machtmittel einer Nation zur Erreichung seiner Ziele. Zunehmende Macht flihrt bei effektiver Politikflihrung auch zu einer Einflusszunahme. Mit Einflusszunahme ist aber kei­neswegs eine radikale Politik riicksichtsloser Machtmaximierung gemeint, wie dies dem Klassischen Realismus gemeinhin unterstellt wird. Der Verzicht auf adaquaten Machtmitteleinsatz schadet den lnteressen von Nationen oder Regionalbundnissen auf Dauer erheblich. Christian Hacke sagt in Bezug auf das europaische Verhalten im Bosnien-Drama: "Den Westeuropaem wird auf Jahrzehnte Feigheit, Selbstsucht und Tatenlosigkeit als Makel anhaften."42 Die mangelhafte Fahigkeit, bei intematio­nalen Verhandlungen von den USA emstgenommen zu werden, ist die Folge man­gelnder Einsatzfahigkeit und -willigkeit in Krisen. 43

6.7 Eine Prioritatenpyramide nationaler Interessen

Eine erfolgreiche AuBenpolitik muss eine Konsonanz zwischen ihren Zielen und den zur Verfligung stehenden Machtmitteln herstellen. 1m demokratischen System kommt die Einschatzung der Bereitstellung der Ressourcen durch das Yolk flir eine aktive AuBenpolitikflihrung dazu. Da eine Nation prinzipiell unendlich viele Ziele, aber nur sehr begrenzte Mittel zur Erreichung selbiger zur Verfligung habe, sei es der erste Schritt einer klugen Politik, eine Hierarchie nationaler Interessen zu alTan­gieren:4 Die Prioritat in der Rangliste der Interessen erhalt zwangslaufig die nationa­Ie Sicherheitspolitik. Welche Interessen sind fUr die Nation uberiebensnotwendig? In welche strategischen Ziele sind diese Interessen zu ubersetzen? Danach ist es flir den Staatsmann notwendig, die angestrebten national en Ziele durch entsprechenden Ressourceneinsatz zu unterstUtzen.45 Dabei muss der Staats-

40 Transskript von Ronald Samuelson zur Vorlesung Morgenthaus "Contemporary Diplomatic Prob­lems" vom Friihjahr 1955 in Chicago: 30. In: MP Box 76. Morgenthau kritisiert, dass die USA sich mit den Ergebnissen der Naval Conference in Washington D.C. im Jahre 1922 zufriedengegeben hatten, den Vorstoi3 Japans auf die Mandschurei nicht ernstgenommen und es verpasst hatten, recht­zeitig aufzuriisten.

41 "The Nature and Use of Power and its Influence Upon State Goals and Strategies": 28. 42 Hacke (1997): Zur Weltmach! verdal11l11t: 525. 43 Nicole Gnesotto: "Ubennilitarisierung amerikanischer Aui3enpolitik - Unilateralismus als Folge

europaischer Schwache?" In: Internationale Politik 4/2002. 44 In Defense of 118. 45 Bei Gilpin und Krasner sowie den Neoklassischen Realisten konnen innerstaatliche Handlungs­

schwachen die Fahigkeit des Staates schwachen, sich den anarchischen Zwangen des internationalen Systems anzupassen. Hobson (2000): 44. Je hoher die Autonomie der Fiihnmg, desto starker ist die Fahigkeit des Staates, das internationale System nach seinem Willen zu fonnen.

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6.7. Eine Prioritatenpyramide nationaler Interessen 165

mann antizipieren, in welcher Weise seine Handlungen die relative Macht der Nati­on im intemationalen System betreffen.

Wie wirkt sieh die Entsendung einer groBen Anzahl von amerikanisehen Tmp­pen nach Korea auf die amerikanische Verteidigungsfahigkeit Westeuropas im Jahre 1950 aus? Die Frage der Prioritatensetzung ist somit eine Frage konsequenzialisti­scher Abwagung. Morgenthau fordert vom Staatsmann nicht die reinrassige Auf­rechterhaltung moralischer Gmndsatze, die in der Sphare der intemationalen Politik nicht moglich sei, sondem die entschiedene Durchsetzung der liberlebenswichtigen Interessen der Nation. Er fordert von diesem ein hohes MaB an kreativem Antizipa­tionsvermogen46, welches dazu fuhrt, dass der Staatsmann eine situationsadaquate politische Strategie zu wahlen in der Lage ist.

Morgenthau sieht in der Verfolgung des nationalen Intercsses dureh den Staats­mann denn gar eine moralische Pflicht.47

Das nationale Interesse ist in Zeiten der Geookonomie jedoch weit liber das rein Sicherheitspolitische hinaus zu definieren. So sind die Erhaltung der Wettbewerbs­fahigkeit einer Nation, die Sichemng der Rohstoffe und qualifizierter Fachkrafte, die Sichemng von Absatzmarkten sowie die Sichemng einer stabiler Wahmngspolitik entseheidende Determinanten des nationalen Interesses von Nationen in der Ara der "Globalisiemng".48 Staaten konnen diese Erfordemisse aber nieht mehr autonom gewahrleisten. Nationale Interessen sind nieht mehr automatiseh gegen andere Nati­onen gerichtete Interessen - im Gegenteil. Viele Interessen von Nationalstaaten lassen sich nur im Kollektiv durchsetzen, dureh multilaterale Prozesse und Ressour­ceneinsatze.<9 Doeh deutet wenig darauf hin, dass der klassische territoriale Natio­nalstaat als Instanz der Herstellung innerer Sieherheit (Schutz der Eigentumsrechte), als Lieferant der Identitat seiner Bevolkemng, als Instanz zur Gewahrleistung auch ultimativer auBerer Sicherheit, gewahrleistet durch das Privileg der Besteuemng, durch gt'oBere supranationale politische Einheiten ersetzt werden konnte - er wird lediglich funktional erganzt - auf den Gebieten des Rechts, der Okonomie sowie in Europa im Bereich der Verteidigul1gspolitik, zumindest in begrenzter Art und Wei­se. Der Nationalstaat verbleibt die optimale BetriebsgroBe50, somit bleibt das Kon­zept des nationalen Interesses von eminenter Bedeutung bei der Analyse weltpoliti­scher Prozesse. Selbst die groBen europaischen Nationen verzichten nicht auf die Formulienmg eigener nationaler Interessen in ihrem Verhaltnis zur Supermacht USA.51

Allerdings wird aus dem horizontal en nationalen Interesse, dass das alte Staats­rasondenken charakterisiert hatte, eine komplexe dreidimensionale Synthese hori-

46 M. J. Smith (1986): Realist Thoughtfrom Weber to Kissinger: 144. 47 S. hierzu das Kap. 9. Der ethische Rationalismus Morgenthaus. 48 Robert Gilpin (2000): The Challenge of Global Capitalism - The World Economy in the 21" Century. 49 Karl Kaiser: "Die neue Weltpolitik: Folgerungen fur Deutschlands Rolle". In: Kaiser/Schwarz

(2000): 602. 50 Robert Gilpin (1981): War & Change in World Politics: 119-123. 51 Jim Hoagland: "Back to Europe". In: WP vom 27.10.02 B07. ltalien versucht durch bilaterale Ver­

hiiltnisse zu den USA und Russland, seine Stellung im europaischen System zu verbessem. Franco Venturini (2003): Archittetura istituzionale europea e problemi del cambiamento in Italia nel sistema globale. Rom.

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166 6. Das nationale Interesse

zontaler und vertikaler Variablen bei der Eruierung eines wie auch immer gearteten Nationalinteresses. Werner Link fiihrt dazu aus:

"Der Staat wird ( ... ) zur "strategisch placierten Vermittlungsinstanz zwischen subnationalen und sup­ranationalen Politikanforderungen" (Maull). Er bleibt zugleich bzw. ist in nach h6herem Mafie als friiher Entscheidungsinstanz; d. h. er entscheidet, mit welchen Staaten und Organisationen er zu­sammenarbeitet und was verbindlich vereinbart wird, wobei diese intemationalen Vereinbarungen selbstverstiindlich - wie von jeher in der internationalen Politik - nur durch die Koordination der In­teressen aller beteiligten Staaten zustande kommen. Ihre Umsetzung hiingt dann wiederum von den jeweiligen Staaten, ihren Regierungen und Parlamenten, ab.,,52

6.8 Fazit

Das nationale Interesse stellt (1) eine direkte konzeptionelle Folge des anthropolo­gisch begriindeten menschlichen Durchsetzungswillen dar; ohne das Korrelat des Durchsetzungsfahigkeit gewahrenden Machtmittels stellt das Interesse eine zielge­richtete Willensdisposition da~3, welche unmittelbar auf die kollektive Ebene geho­ben wird. (2) wird das nationale Interesse im Sinne eines konkreten nationalen Ziels als das eine "Konstellation gestaltende" Element54 verstanden, welches durch das dynamische Mittel der Macht angestrebt wird. Damit bleibt das nationale Interesse aber in der Statik einer fixierten Konstellation hangen. (3) kann das nationale Inte­resse als Parameter bei der Analyse der Entwicklungsgeschichte von Staaten be­trachtet werden. (4) ergibt sich das nationale Interesse realiter aus der innerstaatli­chen Aggregation sektoraler Interessen und aus der konkreten Willensdisposition eines Staatsapparates, der die grundsatzliche Verfiigbarkeit fiber seine Ressourcen beanspruchen darf. In zunehmend liberaler gestalteten Staatswesen ist die Frage der Machtaktualisierung von gravierender Bedeutung. (5) bleibt das nationale Interesse der unerlassliche Referenzpunkt zur Legitimation politischer Entscheidungen ge­genfiber dem Staatsvolk. Diese Aufgabe nimmt in den Zeiten der (ein Demokratie­defizit bewirkenden) Multilateralisierung auBenpolitischer Entscheidungen an Be­deutung sogar noch ZU.55 (6) dient das Konzept des nationalen Interesses dazu, Poli­tik auf der internationalen Ebene moralisch zurechnungsfahig zu machen. Staaten­im Gegensatz zu Institutionen, innerhalb derer Verantwortungen diffus verteilt sind - verbleiben die moralischen Akteure in der internationalen Politik.56

52 Werner Link (1998): Die Neuardnung der WeltpaUtik - Grundprableme der WeltpoUtik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert: 68.

53 ,Jnterest is comprehended as a conscious disposition and orientation of will, motivated by the desire to attain a certain objective." Gottfried-Karl Kindermann (1985): "The Munich School ofNoerealism in International Politics", ein unverOffentlichtes Vortragspapier: 15.

54 Siedschlag (1997): 61. 55 Wolf sieht in der Multilateralisierung der AuJ3enpolitik von Nationalstaaten gar ein bewusstes Kon­

zept von Nationalstaaten, urn im Zeitalter der Globalisierung ihren Herrschaftsanspruch aufrechter­halten zu konnen. Klaus-Dieter Wolf (2000): Die neue Staatsriison - Zwischenstaatliche Kooperati­on als Demokratieproblem in der Weltgesellschafl, Baden-Baden. Dazu ziihlt die Strategie von Staa­ten, innerstaatliche Interessengruppen und konkurrierende Staaten gegeneinander auszuspielen (two­level-game) (Putnam (1988)).

56 William Pfaff: "A Valuable UN Apology, but Nations Were Mainly at Fault".In: 1HT vom 22.11.1999.

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6.8. Fazit 167

Das Konzept des nationalen Interesses vemlag es, die Verflechtung der Ebenen der Innenpolitik, der Struktur des intemationalen Systems (Griecos Konzept des Staats­positionalismus57) sowie die Mesoebene der Institution und Normbildung analytisch zu greifen und in ihrer kausalen Abhangigkeit zueinander zu beschreiben.

Christian Hacke fasst die wichtige analytische und politklegitimierende Funktion des nationalen Interesses zusammen:

"Zur KHirung der Au13enpolitik eines Landes ist der Begriff niitzlich, wei I er auf umfassende Weise eine Wunschperspektive umschreibt und gleichzeitig eine Vergleichsmoglichkeit flir diese Wiinsche mit der tatsachlichen Politik ermoglicht: So wird der Begriff zu einem allgemein gebrauchlichen Kri­tcrium fur die Bewertung der Au13enpolitik, weil er vor all em langfristig die Interessen eines Landes darlegt und damit den Vergleich zu anderen oder die Analyse zwischenstaatlicher Beziehungen Punkt flir Punkt ermoglicht. ,,58

Das Konzept des national en Interesse erfahrt in der Ara der Administration von George W. Bush eine auch offiziell eine Renaissance. Unverhohlen bemiihen US­Regierungsoffizielle das "nationale Interesse"59 in einer Weise, die Morgenthau mit seinem Konzept des aufgeklarten Nationalinteresses niemals gutgeheiBen hatte.

57

" 59

Grieco (1990). Christian Hacke: "Die neue Bedeutung des nationalen Interesses flir die AuJ3enpolitik der Bundesrepublik Deutschland". In: APuZ, BI-2/97 vom 03.01.97: 4. So Rice (2000).