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Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990 Herausgeber: Heinz-Jürgen Dahme (Bielefeld) Carsten Klingemann (Osnabrück), Michael Neumann (Göttingen, geschäftsführend), Karl-Siegbert Rehberg (Aachen), Ilja Srubar (Konstanz) Redaktion: Dr. Michael Neumann, Soziologisches Seminar der Georg-August-Universität, Platz der Göttinger Sieben 3, 3400 Göttingen Beirat: David Frisby (Glasgow), Hans Joas (Erlangen), Dirk Käsler (Hamburg), Horst Kern (Göttingen), M. Rainer Lepsius (Heidelberg), Carlo Mongardini (Rom), Paul Neurath (Wien), Sven Papcke (Münster), Michael Pollak (Paris), Ottheim Rammstedt (Bielefeld), Günther Roth (New York) , Erhard Stölting (Berlin), Kurt H. Wolff (Newton, Mass.) Manuskripte: Für Interessenten verschickt die Redaktion auf Anfrage ein Merkblatt zur Abfas- sung von Manuskripten. Jahrbuch für Soziologiegeschichte Das Jahrbuch und alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfiiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche- rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Jahrbuch wird nach Umfang kalkuliert und mit entsprechendem Preis ange- boten. Es sind Bestellungen im Abonnement möglich, die eine Abnahmever- pflichtung für drei aufeinanderfolgende Bände einschließen. Der Abonnements- preis liegt jeweils 15 % unter dem Einzelpreis. Druck dieses Bandes: Druckpartner Rübelmann, Hemsbach Verlag: Leske + Budrich, Opladen ISSN: ISBN: 3-8100-0739-0

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Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990

Herausgeber: Heinz-Jürgen Dahme (Bielefeld) Carsten Klingemann (Osnabrück), Michael Neumann (Göttingen, geschäftsführend), Karl-Siegbert Rehberg (Aachen), Ilja Srubar (Konstanz)

Redaktion: Dr. Michael Neumann, Soziologisches Seminar der Georg-August-Universität, Platz der Göttinger Sieben 3, 3400 Göttingen

Beirat: David Frisby (Glasgow), Hans Joas (Erlangen), Dirk Käsler (Hamburg), Horst Kern (Göttingen), M. Rainer Lepsius (Heidelberg), Carlo Mongardini (Rom), Paul Neurath (Wien), Sven Papcke (Münster), Michael Pollak (Paris), Ottheim Rammstedt (Bielefeld), Günther Roth (New York) , Erhard Stölting (Berlin), Kurt H. Wolff (Newton, Mass.)

Manuskripte: Für Interessenten verschickt die Redaktion auf Anfrage ein Merkblatt zur Abfas­sung von Manuskripten.

Jahrbuch für Soziologiegeschichte

Das Jahrbuch und alle darin enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfiiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­rung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Das Jahrbuch wird nach Umfang kalkuliert und mit entsprechendem Preis ange­boten. Es sind Bestellungen im Abonnement möglich, die eine Abnahmever­pflichtung für drei aufeinanderfolgende Bände einschließen. Der Abonnements­preis liegt jeweils 15 % unter dem Einzelpreis.

Druck dieses Bandes: Druckpartner Rübelmann, Hemsbach Verlag: Leske + Budrich, Opladen

ISSN: ISBN: 3-8100-0739-0

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Jahrbuch fiir Soziologiegeschichte 1990

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Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1990

Herausgegeben von

Heinz-Jürgen Dahme (Bielefeld) Carsten Klingemann (Osnabrück) Michael Neumann (Göttingen) Karl-Siegbert Rehberg (Aachen) Ilja Srubar (Konstanz)

Leske + Budrich, Opladen 1990

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ISBN 978-3-8100-0739-1 ISBN 978-3-322-95527-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-322-95527-2

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Vorwort der Herausgeber

Die wissenschaftssoziologische Behandlung der Entwicklungsgeschichte ei­nes vergleichsweise jungen Faches verspricht nicht nur ein besseres Verständ­nis seines gegenwärtigen Zustands, sondern auch neue Erkenntnismöglichkei­ten. Sie kann das aus zumindest zwei Gründen, zum einen weil sie die Genese der gegenwärtigen Positionen nachzuzeichnen vermag, die sich häufig als un­terschiedliche Antworten auf gleiche Probleme entwickeln und - quasi unter­irdisch - miteinander verbunden sind. Zum zweiten kann sie es, weil sie die Verschiebung von Forschungsinteressen im geschichtlichen Kontext verfolgt und die damit verbundenen Veränderungen der wissenschaftlichen Praxis auf institutioneller, theoretischer und empirischer Ebene sichtbar macht. (Von weIcher Aktualität derartige Untersuchungen sein können, zeigt in der Bun­desrepublik die Diskussion zum Wirken der "deutschen" Soziologie und der Emigration nach 1933).

Wenngleich es sich in diesem Jahrbuch auf den ersten Blick "nur" um Wissenschaftsgeschichte handelt, bedeutet dies doch nicht, daß damit der ak­tuelle Bereich der Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand verlas­sen wird. Die Sozialwissenschaften begreifen auch sich selbst als soziales Phänomen. Sie haben somit die Geschichte ihre kognitiv-sozialen Apparates, mit dem sie umgehen, in seinem sich historisch permanent wandelnden Ent­stehungskontext immer wieder neu zu reflektieren. Diese Apparat entwickelte sich in Auseinandersetzungen mit konkreten sozialen Problemen und ist in hi­storisch bestimmten sozialen und wissenschaftlichen Diskursen verankert. Die Geschichte der Soziologie ist Bestandteil gesellschaftlicher Problemlö­sungen. Die Erforschung der soziologischen Praxis in fachwissenschaftlicher Perspektive wie auch die der Funktion des Wissenssystems "Soziologie" im Prozeß der Entwicklung moderner Gesellschaften gehören demnach zu den zentralen Forschungsperspektiven. Diese AufgabensteIlung bestimmt zu­gleich ihren systematischen Ort im Gefüge soziologischer Disziplinen.

Die Geschichtsschreibung einer wissenschaftlichen Disziplin berührt die Selbstdefinition ihrer Mitglieder und sorgt für Irritationen. Gängigen Lesar­ten, eingefahrenen Interpretationen, routinierten Exegesen und kanonisierten Sichtweisen vermag eine Soziologiegeschichte, die hält, was sie verspricht, neue Perspektiven gegenüberzustellen und zu innovativer Lektüre anzuregen

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6 Vorwort

sowie unerwünschten Traditionen und Zusammenhängen nachzugehen, in de­nen verdrängte Entwicklungen und Anpassungsprozesse nachzuzeichnen sind. Obwohl der in diesen Feststellungen enthaltene Anspruch leicht verfehlt werden kann, soll gerade das Jahrbuch für Soziologiegeschichte auch einen Zugang eröffnen, jene Linien aufzuzeigen, die die aktuelle Diskussion der So­ziologie der Gegenwart bestimmen.

Das Unternehmen einer Soziologiegeschichte wirft eine Reihe methodi­scher und theoretischer Probleme auf. Es gibt hier bislang keinen Königsweg. Soll sie materialgesättigt sein - und dies ist einer der hier vertretenen An­sprüche -, setzt das eine gründliche Detailforschung voraus. Sie muß deshalb auf archivarischen Forschungen, philologischen Text- und Manuskriptver­gleichen, nachlaßgestützten Werkrekonstruktionen sowie ideen- und institu­tionsgeschichtlichen Untersuchungen aufbauen. Eine wichtige Quelle sind weiterhin die Erinnerungen und Auskünfte fachhistorischer "Zeitzeugen"

Das Jahrbuch ist aus diesen Gründen nach Abteilungen gegliedert. In der ersten Abteilung erscheinen allgemeine Abhandlungen, wobei auch in Zu­kunft Themenschwerpunkt-Bände, wie es bei diesem Jahrbuch der Fall ist, angestrebt werden. Die zweite Abteilung ist für Diskussionen, Berichte und Gespräche vorgesehen. In der "bibliographischen Abteilung" erscheinen Bi­bliographien, Berichte über Editionsarbeiten und -vorhaben sowie über For­schungsprojekte. Die "Archivabteilung" informiert über Archive und deren Bestände, bringt einzelne Dokumente oder auch Dokumentationen, Brief­wechsel, autobiographische Notizen, Berichte über Nachlässe und andere hi­storiographisch interessante Materialien.

Methodische Offenheit und thematische Vielfalt auf dem Hintergrund ei­nes eher weit gefaßten Begriffs von Soziologie und ihrer Geschichte, der es er­laubt, auch benachbarte Disziplinen zu berücksichtigen, sind die allgemeinen Gesichtspunkte, die die Konzeption des Jahrbuchs prägen. Der Titel des Jahr­buchs deutet bereits an, daß es nicht nur um deutsche Soziologiegeschichte ge­hen soll. Arbeiten aus dem Ausland sollen hier ebenfalls veröffentlicht wer­den. Neben den Anregungen aus dem Kreis der Beiratsmiglieder ist hier auch die Unterstützung durch andere Interessenten sehr willkommen.

Es ist die Absicht der Herausgeber, den bisher eher verstreuten Aktivitä­ten im Bereich der Soziologiegeschichtsschreibung eine Möglichkeit stetiger Präsentation und Diskussion zu bieten. Sie laden daher die Leser zur Mitar­beit ein.

Die Herausgeber sind sich des Risikos ihres Unternehmens bewußt. Sie danken dem Verleger, der sich bereit erklärt hat, das Projekt zu unterstützen.

Die Herausgeber

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber ...................................................... 5

Abteilung I: Hauptartikel Hans-Jürgen Dahms Die Vorgeschichte des Positivismus-Streits: von der Kooperation zur Konfrontation. Die Beziehungen zwischen FrankfUlter Schule und Wie-ner Kreis 1936 - 1942 ............................................................ 9

Carsten Klingemann Das "Institut für Sozial- und Staatswissenschaften" an der Universität Heidelberg zum Ende der Weimarer Republik und während des National-sozialismus ....................................................................... 79

Gerhard Schäfer Wider die Inszenierung des Vergessens ...................................... 121

Irmgard Pinn / Michael Nebelung Kontinuität durch Verdrängung ................................................ 177

Abteilung 11: Diskussion und Berichte Michael Neumann, Gerhard Schäfer "Blick nach vorn": Ein Gespräch mit Rene König ........................ 219

Carsten Klingemann Entnazifizierung und Soziologiegeschichte: Das Ende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und das Jenaer Soziologentreffen (1934) im Spruchkammerverfahren (1949) ............................................... 239

Abteilung /1/: Bibliographie Carsten Klingemann Geschichte der Soziologie. Annotationen zur neueren deutschsprachigen Literatur ........................................................................... 257

Bibliographie Rudolf Heberle ................................................. 269

Abteilung IV: Archiv Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz .................................. 277

Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich ....................... 280

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Die Vorgeschichte des Positivismus-Streits: von der Kooperation zur Konfrontation. Die Beziehungen zwischen Frankfurter Schule und Wiener Kreis 1936-1942

Die im berühmten Positivismusstreit der deutschen Soziologie während der 60er Jahre diskutierten Themen sind heute kaum noch Gegenstand akademi­scher oder gar die weitere Öffentlichkeit beschäftigender Kontroversen. In der akademischen Diskussion ist der Streit - zumindest in der Bundesrepublik -als Thema ganz in den Hintergrund getreten I , nach dem Eindruck kompeten­ter Beobachter allerdings nicht etwa deswegen, weil man zu einer genaueren Definition der Problembereiche oder gar zur einvernehmlichen Lösung ein­zelner Fragen gelangt wäre, sondern mehr, weil die begonnene Diskussion im Alltagsbetrieb der Massenuniversität ins Stocken geraten und dann gänzlich versandet ist2 • Im weiteren öffentlichen Bewußtsein spielt der Streit vielleicht untergründig noch eher eine Rolle, weil nicht nur das Positivismusbild einer ganzen Generation von Akademikern, sondern damit auch ihr Verständnis des Verhältnisses von Wissenschaft und Politik sowie der Rolle, die dabei die In­tellektuellen einnehmen können und sollen, von der Auseinandersetzung jener 60er Jahre geprägt bleibt.

Das Motiv, jene verlassenen Stufen der Reflexion wieder zu betreten, ist zunächst vor allem ein historiographisches. Es ergibt sich daraus, daß seit dem Ende der 70er und dann verstärkt erst in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Publikationen erschienen ise, die zeigen, daß die Bewegung des logischen Positivismus4 und insbesondere der Wiener Kreis ähnliche politi­sche Perspektiven verfolgt hat wie die Frankfurter Schule5 und dies, wie ich im Vorgriff hinzufügen möchte, häufig praktisch weitaus aktiver als letztere. Das macht es erklärungs bedürftig , wieso der "Positivismus" im Streit der

Dieser Text ist der erste Teil einer Arbeit, deren Fortsetzung die weitere Vorgeschichte des Positi­vismusstreits und dessen Verlauf bis zur Publikation 1969 beschreiben und diskutieren soll. Ich danke den Herren Henk Mulder (Amsterdam) und Gunzelin Schmid Noerr (Frankfurt / Main) für die Erlaubnis, aus den im Quellenverzeichnis angegebenen Manuskripten des Wiener-Kreis­Archivs bzw. des Horkheimer-Archivs zitieren zu dürfen, sowie für wichtige Hinweise. Die Ar­chivreisen zu diesen Institutionen wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) be­zuschußt. Den Herren Heinrich Becker (Berlin), Michael Buckmiller (Hannover), Rainer Hegselmann (Bremen), Rudolf Haller (Graz), Michael Neumann (Göttingen), Klaus Sommer (Göttingen), Friedrich Stadler (Wien), RolfWiggershaus (Frankfurt/Main) und ganz besonders Paul Neurath (New York/Wien) und Rudolf Zilsel (Seattle) danke ich für Auskünfte, Anregungen und Kritik.

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60er Jahre in politischer Hinsicht als kaum verhüllte "Apologie des Bestehen­den" - und das meintei:1jener Zeit: des Konservatismus des CDU-Staats­hingestellt werden konnte. Es wäre vielleicht naheliegend, sich die Erklärung so zurechtzulegen, daß ja der Positivismus selbst seit den 30er bis hinein in die 60er Jahre eine Entwicklung genommen hat, die die spätere Kritik sachlich rechtfertigt. So hat etwa Karl Müller argumentiert6 , und für eine derartige Sicht spricht in der Tat mehr, als bisher bekannt ist und in dieser Arbeit ausge­breitet werden kann. Grob gesagt hat sich der in den politischen Kontext des "Roten Wien,,7 gehörende logische Positivismus im - zumeist amerikani­schen - Exil immer weiter vom sozial reformerischen Impetus seiner "wis­senschaftlichen Weltauffassung" entfernt, und erst recht haben die den positi­vistischen Pdrt im Streit der 60er Jahre vertretenden Karl Popper und Hans Al­bert gerade in ihren sozialphilosophischen und politischen Vorstellungen nicht viel mit ihren historischen "Vorläufern" wie Otto Neurath und Edgar Zilsel gemein.

Dieser Erklärungsansatz wird aber durch die Tatsache gestört, daß Max Horkheimer stellvertretend für die Frankfurter Schule schon 1937 in seinem berühmten Aufsatz "Der neueste Angriff auf die Metaphysik" in der Zeit­schrift für Sozialforschung den authentischen logischen Positivismus des Wie­ner Kreises angegriffen hat (und nicht etwa den damals außerhalb spezieller wissenschaftstheoretisch interessierter Kreise noch unbekannten Karl Pop­per). Dies geschah zudem mit polemischen Beimengungen, die in der damali­gen Situation des Faschismus an der Macht die Positivisten als tendentielle Helfershelfer des Nationalsozialismus erscheinen ließ und insofern die Pole­miken der 60er Jahre über die soziale Rolle des Positivismus bei weitem an Schärfe übertraf. Selbst die griffige Formel vom Positivismus als "Akzeptie­ren des Gegebenen" (im Sinne des Einverständnisses mit den jeweils herr­schenden gesellschaftlichen Zuständen) hätte ja schon in den 30er Jahren et­was anderes bedeutet als in den 60ern.

Nach diesen Vorüberlegungen muß die Frage nach der Vorgeschichte des Positivismusstreits genauer so gestellt werden: wie ist es zur Horkheimerschen Polemik von 1937 gekommen und wie haben die so Kritisierten darauf reagiert? Diese Frage stellt sich nun um so mehr, als neuere Untersuchungen über die Frühphase der kritischen Theorie und insbesondere über den frühen Horkhei­mer ergeben haben, daß die sachlichen und auch politischen Berührungspunkte zwischen Wiener Kreis und Frankfurter Schule weit größer waren, als man nach der späteren Entwicklung je für möglich halten würde8 • Nach den neuer­lichen Veröffentlichungen aus dem Nachlaß Horkheimers hat sich dieser Ein­druck nur noch verstärkt. Erst recht muß der Umstand zu denken geben, daß es zwischen Horkheimer und mehreren logischen Positivisten ziemlich aus­führliche Kontakte gegeben hat, die bis zur Planung von Kooperationen gingen.

Der vorliegende Aufsatz versucht sich nun im ersten Abschnitt an einer Bestandsaufnahme der Gemeinsamkeiten und Divergenzen von kritischer

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Die Vorgeschichte des Positivismus-Streits 11

Theorie und logischem Positivismus bis etwa 1936. Dieser Überblick bezieht nicht nur Gesichtspunkte der jeweiligen akademischen Tradition und wissen­schaftlichen "Lehre" dieser Gruppen in die Betrachtung ein, sondern auch solche ihrer gesellschaftlichen und politischen Aktivität und hier vor allem auch der Situation nach 1933 und der jeweiligen Haltung gegenüber dem herr­schenden Faschismus.

Hier wird auch analysiert, in welchem Umfang die beiden Richtungen vor 1936 Kenntnis voneinander hatten. Die Beantwortung dieser Frage reduziert sich angesichts der völligen Unbekanntheit der kritischen Theorie bei den Po­sitivisten auf eine Sichtung der Äußerungen von philosophisch interessierten "Frankfurtern" wie Horkheimer, Herbert Marcuse und Walter Benjamin9

über den Positivismus im allgemeinen und den Wiener Kreis und einzelne sei­ner Mitglieder im besonderen.

Das Jahr 1936 ist für diese Bemerkungen als zeitliche Grenze gewählt, weil sich seit seinem Beginn eine Intensivierung der Kommunikation zwi­schen den beiden Gruppen konstatieren läßt, die besonders in gegenseitigen Besuchen und weiteren brieflichen Kontakten zwischen den beiden Exponen­ten Horkheimer als Direktor des Instituts für Sozialforschung und Neurath als organisatorischem Motor des logischen Positivismus zum Ausdruck kommt. Dieser Austausch hat sich äußerlich noch in dem merkwürdigen Nebeneinan­der von Horkheimers polemischer Attacke mit einem Neurath-Aufsatz (sowie einer ausführlichen Rezension einer Arbeit der logischen Empiristen Hempel und Oppenheim durch den Institutsmitarbeiter Lazarsfeld) im Frühjahrsheft der "Zeitschrift" von 1937 niedergeschlagen. Im dritten Abschnitt geht es dann also um die Dokumentation und Beschreibung dieser Kontakte, der un­terschiedlichen Erwartungen, von denen diese begleitet waren und dann vor allem um die äußerlich als recht unvermittelt erscheinende Wendung von be­ginnender Kooperation zur offenen Konfrontation. Für die Schilderung dieser Entwicklung wird außer dem recht umfangreichen Briefwechsel Horkhei­mer/Neurath die ebenfalls noch unveröffentlichte Korrespondenz der Haupt­beteiligten mit ihren jeweiligen wissenschaftlichen Freunden, also einerseits der Austausch Neuraths mit Rudolf Carnap und Philipp Frank und anderer­seits der - jedenfalls hinsichtlich dieses frühen Positivismusstreits - wesent­lich umfangreichere Briefwechsel Horkheimers mit Theodor Wiesengrund­Adorno und Walter Benjamin herangezogen. Da diese Zeugnisse natürlich nicht für eine spätere Publikation geschrieben wurden und gelegentlich auch später von ihren Autoren bemerkte Irrtümer enthalten, sind sie nur mit der ge­botenen Vorsicht zu interpretieren. Auf der anderen Seite bieten sie aber noch mehr als die aus dem Nachlaß publizierten Arbeiten Horkheimers die Mög­lichkeit zum besseren Verständnis jener Phase in der Entwicklung der kriti­schen Theorie und der deutschen Exilphilosophie im Ganzen.

Im vierten Abschnitt wird dann Horkheimers Artikel "Der neueste An­griff auf die Metaphysik" im Kontext der in den vorhergehenden Abschnitten präsentierten Tatsachen und Materialien interpretiert und einer kritischen

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Würdigung unterzogen. Die methodischen Mittel dieser Kritik sind absicht­lich möglichst voraussetzungsarm gewählt: sie bestehen vor allem in der Überprüfung der Frage, ob Horkheimer die Ansichten der Positivisten richtig wiedergibt und in einer Art Gegenprobe auf seine kritischen Bemerkungen, bei der jeweils gefragt wird, was er denn selbst zu den Problemen mitzuteilen hat, bei denen er den Positivisten eine Verkürzung der Vernunft vorwirft. Nur bei den ideologiekritischen Passagen seines Aufsatzes, die ja selbst von der faktischen Geltung bestimmter Diagnosen, etwa des zeitgenössischen Libera­lismus, Kapitalismus und Faschismus ausgehen, mache ich meinerseits be­scheidenen Gebrauch von gewissen empirischen Feststellungen, die die Trif­tigkeit dieser Diagnosen zweifelhaft erscheinen lassen.

Der folgende fünfte Abschnitt ist den Folgen des Horkheimer-Artikels ge­widmet, die jedenfalls für Neurath zumal nach der Weigerung, in der "Zeit­schrift" eine Erwiderung abgedruckt zu bekommen, sozusagen zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen geführt haben. Erstaunlich bleibt dabei, daß das Institut bis in die Kriegsjahre hinein weiterhin Kontakte zu anderen logi­schen Positivisten gehalten hat wie etwa zu Philipp Frank, Hans Reichenbach und - sogar über einen Zeitraum von zwei Jahren mit einem Projektauftrag - Edgar Zilsel.

Der Duktus der Arbeit ist im großen und ganzen historisierend, wenn­gleich vielleicht in einem etwas anderen Sinne, als es in der Philosophie- und Soziologiegeschichtsschreibung mit der lange vorherrschenden Beschrän­kung auf die Exegese gedruckter Texte die Regel war. Daß die historische Dar­stellung gelegentlich durch kritische Bemerkungen zu den Gegenständen der Kontroverse und zwar in Richtung beider beteiligter Gruppen ergänzt wird, verfolgt unter anderem auch das Ziel, die Lagermentalität aufzubrechen, die sich zwischen den Anhängern der kritischen Theorie und des logischen Positi­vismus seit vielen Jahren aufgebaut hat. Sie steht sowohl dem Verständnis der Position des Gegenübers im akademischen Kontext als auch, soweit ihre Aus­läufer noch das Politikverständnis einer mit dem Positivismusstreit aufge­wachsenen Generation prägen, einer vernünftigen Diskussion darüber im Wege, ob praxisfernes kritisches Komrnentatorentum die einzige politische Alternative zu einem theoriefernen und perspektivenlosen politischen Prag­matismus ist.

1. Logischer Positivismus und Kritische Theorie vor 1936: Gemeinsamkeiten und Divergenzen

Kürzlich ist von Michiel Korthals hervorgehoben worden 10, daß der Abstand zwischen Horkheimer als zweitem Direktor des Instituts für Sozialforschung und dem logischen Positivismus noch zu Anfang der 30er Jahre nicht so groß

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Die Wlrgeschichte des Positivismus-Streits 13

gewesen ist, als er sich dann im letzten Drittel des Jahrzehnts darstellt. Im Ge­genteil zeigen sich sogar einige überraschende Ähnlichkeiten zwischen den späteren Gegnern, die es in der Tat erklärungsbedürftig machen, daß es dann 1937 im amerikanischen Exil zur Konfrontation kommen konnte. Gemeinsam­keiten und Unterschiede zwischen Wiener Kreis und Frankfurter Schule sol­len im Folgenden anhand der Komplexe

a) akademische Tradition, b) wissenschaftliche "Lehre" und c) politische Haltung

thematisiert werden. Karl Müller hat als weitere Gemeinsamkeit noch den Umstand genannt, daß beide Kollektive sich jeweils nicht ganz zufällig nur am Rande des akademischen Betriebs in der deutschen bzw. österreichischen Zwischenkriegszeit haben etablieren können 11. Dieser Gesichtspunkt soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden, da die Einzelheiten dieser Institutio­nalisierung in beiden Fällen sehr unterschiedlich ausgesehen haben. Denn die eher lockere Assoziation in einem "Kreis" ist doch etwas anderes als die feste Kooperation in einem gemeinsamen Institut unter der Leitung zumal eines sich selbst als milden Diktator einstufenden Direktors wie Horkheimer l2 •

1.1 akademische Tradition

Für den logischen Positivismus ist durch die Arbeiten vor allem Friedrich Stadlers 13 gezeigt worden, daß die Berufung auf den Physiker-Philosophen Ernst Mach als den Gründervater der neopositivistischen Bewegnung für den Wiener Kreis sowohl eine wissenschaftliche als auch eine politische Bedeu­tung hatte. Mach verkörperte nämlich die Verbindung des Fortschrittsideals positiver Wissenschaft und der damit einhergehendern Frontstellung gegen Ir­rationalismus und Metaphysik mit einer sozialreformerischen politischen Haltung l4 •

Mach hatte in Deutschland - zumal in der akademischen Philosophie -nur relativ wenige Anhänger wie Joseph Petzoldt und Hans Cornelius, mit de­nen er auch in brieflichem Austausch stand 15. Es war nun just Cornelius, bei dem sowohl Horkheimer als auch Adorno in Frankfurt promoviert wurden. Auch Horkheimers Habilitationsschrift steht ebenso wie der auf Anraten Cor­nelius' zurückgezogene erste Habilitationsversuch Adornos noch stark unter dem Einfluß ihres akademischen Lehrers.

Gewiß fallen diese Arbeiten Horkheimers und Adornos jeweils in eine Frühphase, aber wie sich zeigen wird, spielen einige Motive wie das Pochen auf Überprüfung der Theorie durch Erfahrung und eine damit verbundene Metaphysikkritik zumindest bei Horkheimer auch in späteren Phasen noch eine erhebliche Rolle. Gewiß hat sowohl auf Horkheimer als auch auf Adorno die von Lukacz, Bloch und Korsch ausgegangene Marxrenaissance der 20er

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Jahre die frühere Formung durch Cornelius bald in den Hintergrund gedrängt. Aber noch in Horkheimers ungedruckt gebliebener Rezension von Lenins "Materialismus und Empiriokritizismus" aus dem Jahre 1931 ist eine unge­fähre Äquidistanz des Autors gegenüber Positivismus und Materalismus zu spüren 16. Insbesondere finde ich es bemerkenswert, daß Horkheimer Mach dort gegen die Leninschen Vorwürfe des subjektiven Idealismus, Solipsismus und Fideismus offenbar in genauerer Kenntnis der Machschen Schriften in Schutz nimmt.

Auch bei seiner Übernahme der DirektorensteIle am Institut für Sozial­forschung, die zeitlich etwa mit der allmählichen Hinwendung zum Marxis­mus zusammenfiel, sind Berührungspunkte zu Wiener Verhältnissen zu be­merken.

Denn bekanntlich gehörte der Gründer und erste Direktor des Instituts Carl Grünberg zu den Väterfiguren eines auf eine wissenschaftliche Ebene ge­hobenen Austromarxismus. Einige Mitglieder des späteren Wiener Kreises sind noch vor seinem Weggang nach Frankfurt durch ihn geprägt worden, wie insbesondere Horkheimers späterer Gesprächspartner Dtto Neurath. Neurath war mit Grünberg auch später noch befreundet und hat auch gelegentlich Wie­ner Bekannte an Grünberg empfohlen 17. Selbst scheint er jedoch nicht in Frankfurt gewesen zu sein.

1.2 Wissenschaftliche Lehren

Einen Überblick über die Gemeinsamkeiten in den "Lehren" des logischen Positivismus und der Frankfurter Schule zu bekommen, fällt angesichts des Umfangs der Publikationen und der Vielzahl der jeweiligen Mitglieder ver­gleichsweise schwer. Ich möchte deshalb hier nur einen Kernpunkt herausstel­len, der in beiden Konstellationen überraschende Ähnlichkeiten wie denn auch im Detail weitreichende Differenzen herstellt. Ich meine das jeweils be­triebene Projekt eines interdisziplinären Materialismus. Denn in beiden Gruppen wurde die Notwendigkeit einer Überwindung des altmodischen Ma­terialismus des 19. Jahrhunderts sowie des ideologisch verfestigten dialekti­schen Materialismus sowjetischer Prägung gespürt. Daraus ergab sich jeweils die Notwendigkeit einer Reformulierung eines materialistischen Programms auf interdisziplinärer Grundlagel8 •

Aber die Ausarbeitung eines solchen Programms hatte dann im Detail und vor allem in der Schwerpunktsetzung der dabei zu beteiligenden Diszipli­nen erhebliche Unterschiede. Denn obwohl die Frankfurter Schule die in der traditionellen deutschen Philosophie mindestens seit der Jahrhundertwende populäre Entgegensetzung von Geistes- und Naturwissenschaften ebenfalls als problematisch ansah 19, wurde doch der Kreis der an der Rekonstruktion des Materialismus zu beteiligenden Disziplinen von vornherein auf die Sozial­wissenschaften (im weiteren Sinne) beschränkt. Dafür hat Horkheimer auch

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Die Vorgeschichte des Positivismus-Streits 15

verschiedentlich den Grund genannt. So schreibt er etwa in seinem Aufsatz "Materialismus und Metaphysik": "Der Materialismus des frühen Bürger­tums zielte ... auf die Vermehrung der Naturerkenntnis und die Gewinnung neuer Kräfte zur Beherrschung von Natur und Menschen. Das Elend der Ge­genwart aber ist an die gesellschsaftliche Struktur geknüpft. Darum bildet die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigen Materialismus,,2o.

Folgerichtig erscheinen die Naturwissenschaften in einem solchen Pro­gramm nur ganz indirekt, nämlich insofern und auch nur insoweit, als die Er­gebnisse ihrer Anwendung soziale Auswirkungen zeitigen. Das hatte die Folge, daß die Frankfurter Schule kein großes Interesse für die revolutionären Umwälzungen aufbrachte, die mit der modernen Physik für ein wissenschaft­liches Weltbild und auch für nötige Revisionen am traditionellen Bestand phi­losophischer Doktrinen einhergingen (wie etwa den traditionellen Kategorien von Raum, Zeit und Kausalität).

Auch die schon in die Anfange der Weimarer Zeit zurückreichenden welt­anschaulichen und politischen Begleiterscheinungen des physikalischen Para­digmenwechsels wurden von diesen Zeitzeugen anscheinend ignoriert. Wäh­rend man in Publikationen der Fankfurter Schule vergeblich nach entspre­chenden Kommentaren Ausschau hält, beschreibt wenigstens eine -offensichtlich im Zusammenhang mit der Positivismus-Kontroverse der 30er Jahre entstandene Notiz Horkheimers diese Haltung. Denn auf einen hypothe­tischen Einwurf "Einstein etc. haben so viel für die Menschheit geleistet" ant­wortet er dort: "aber es ist unwichtig davon zu wissen - nicht so bei Galilei, wegen des Verhältnisses von Wissenschaft und herrschender Macht", und stichwortig heißt es dann weiter zur Begründung: "trennen: Wissenschaft -Beherrschung der Natur; hier: Einstein groß. Wissenschaft - gesellschaft. Fortschritt; hier: heutige Physik wenig" 2 I •

Im Unterschied zur Frankfurter Schule war der Wiener Kreis - zumin­dest von einer gewissen Entwicklungsphase an - nicht nur interdisziplinär, sondern enzyklopädisch ausgerichtee2. Dabei stand eindeutig die Physik als Vorbild empirischer Wissenschaften und die Logik als Modell für die analyti­schen Wissenschaften vor Augen, während umgekehrt die Sozialwissenschaf­ten nur mehr am Rande beteiligt waren. Da dieser Enzyklopädismus auf phy­sikalistischer Grundlage einen Dissenspunkt bei den späteren Diskussionen mit dem "Institut" bildete, müssen hier kurz seine Entstehung und Bedeutung beleuchtet werden. Es ist bekannt23 , daß der Übergang zum Physikalismus eine ganz neue Etappe im programmatischen Selbstverständnis des Wiener Kreises einleitete. Denn bis dahin war er, hierin an Mach anknüpfend, phäno­menalistisch orientiert gewesen. Danach sollten nicht erst die Gesetze der Wissenschaften, sondern schon die Gegenstände der Außenwelt in einer kom­plizierten Abfolge von Schritten aus Sinnesdaten konstituiert werden. Dieses Programm war von Russell als logifizierte Form des Machschsen Positivismus formuliert und von Carnap dann im "Logischen Aufbau der Welt" in Ansät­zen auch durchgeführt worden. Aber offenbar hatten führende Wiener Kreis-

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mitglieder in diesem Programm doch soviel solipsistische Metaphysik ent­deckt, daß sie nun - gerade auch im Sinne der Leninschen Positivismuskritik - einen Aufbau der wissenschaftlichen Enzyklopädie auf physikalistischer Basis vorzogen. Zwar blieb in der Folge der Begriff des Physikalismus schil­lernd. Aber klar ist doch, daß er von seiner Begründern als zeitgemäße, d.h.: im Einklang mit der Entwicklung der fortgeschrittensten Naturwissenschaft stehende, Form des Materialismus verstanden wurde, der seinerseits einen wesentlichen Grundstein für eine noch aufzubauende neue Volksphilosophie liefern sollte. So schreibt Neurath 1928: "Spitzfindige Klugheit hebt mit weit größerem Behagen die Unzulänglichkeiten des Materialismus hervor als die Lächerlichkeiten und Unzulänglichkeiten des Idealismus. Sich zum Materia­lismus bekennen heißt heute, der bürgerlichen Geistigkeit entgegentreten und eine neue Denkweise mit heraufführen, eine neue Volksphilosophie, die durchaus antitheologisch geartet sein wird und am ehesten an gewisse exakte Denker unter den modernen Logikern und Philosophen anknüpft" 24.

Die Konsequenzen des physikalistischen Programms waren nun schon für der Physik fernerstehende Naturwissenschaften wie die Biologie erheblich und erst recht für die Geisteswissenschaften (wie etwa Psychologie und Sozio­logie) gewaltig. Denn getreu der physikalistischen Devise, daß nur raum­zeitlich ausweis bare Vorgänge im Aufbau der Wissenschaft ihren Platz haben könnten, wurde von Neurath und Carnap die Psychologie im Sinne des Beha­viorismus und die Soziologie entsprechend als Sozialbehaviorismus konzi­piert (inciusive eines Teilbereichs einer "Gelehrtenbehavioristik", die die ge­rade erst entstehende Wissens- bzw. Wissenschaftssoziologie substituieren sollte)25. Während nun wenigstens für den Bereich der Psychologie mit dem Behaviorismus Watsons und Pawlows eine Realisierung solcher Programma­tik bereits vorlag, ist das Konzept des Sozialbehaviorismus ganz im Program­matischen steckengeblieben.

Beide Ansätze haben von Anfang Anlaß zu der Kritik geboten, sie schüt­teten beim Versuch der Säuberung der Geisteswissenschaften von metaphysi­schen Restbeständen das Kind mit dem Bade aus. Bezeichnend für die plurali­stische Haltung innerhalb des Wiener Kreises ist, daß solche Kritik auch von innen kam. So schreibt Edgar Zilsel etwa in einer Rezension von Neuraths 1931 erschienenem Buch "Empirische Soziologie" im theoretischen Organ des Austromarxismus "Kampf': "An der Art, wie bei den interessantesten soziologischen Streitfragen - Verhältnis von Überbau und Unterbau, Verhält­nis der Generationen zueinander und anderes - einer Entscheidung geradezu ausgewichen wird, gewinnt man sogar den Eindruck, daß das Buch an dem le­bendigen Inhalt der Soziologie gar nicht innerlich interessiert ist - jedenfalls viel weniger als an der Propagierung der logischen Grundgedanken der Wie­ner Philosophenschule"26. Insbesondere sei es für eine physikalistische Auf­fassung der Soziologie inkonsequent, wenn man in der Physik zwar theoreti­sche Terme, also nur sehr indirekt mit der Erfahrung verbundene Begriffe zu­lasse, während man dem physikalistischen Soziologen traditionelles

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psychologisches Vokabular wie den "Willen" oder auch "die Ziele des Prole­tariats" austreiben wolle.

Zilsel hat sich im "Kampf' auch allgemeiner mit den Defiziten der neuen Philosophie im Bereich der Sozialwissenschaften befaßt: "Jenes wirkliche Leben ... das sich heute in der Philosophie zu regen beginnt, wurzelt doch nur in der Mathematik und Naturwissenschaft unserer Zeit, vor allem in der ma­thematischen Physik; es fehlt dieser Philosophie, so jung und kühn sie ist, sehr zu ihrem Schaden das Verständnis und das Interesse für Geschichte und Ge­sellschaft,,27 .

Es ist interessant zu sehen, daß Neurath noch in der Eröffnungsitzung des Internatioanlen Kongresses für Einheit der Wissenschaft in Kopenhagen am 21. Juni 1936 - wenige Wochen vor seiner ersten Diskussion im Horkheimer­Institut - die unveränderte Gültigkeit dieser Thesen bestätigte: "Manche, die durch die Leistungen der Physik entzückt werden, neigen entweder zu einer allgemeinen Überschätzung wissenschaftlichen Denkens, zu dem aber das so­ziologische ebenso gehört wie das astronomische, oder dazu, nur in der Phy­sik Wissenschaft zu sehen, soziologische Untersuchungen aber nicht ganz voll zu nehmen,,28. Angesichts dieses Defizits im Umfeld des Wiener Kreises wie auch der weiteren Bewegung des logischen Positivismus ist es nicht verwun­derlich, wenn Neurath den Kontakt zu Sozialwissenschaftlern suchte, die ein Interesse an empirischen Untersuchungen der Gegenwart hatten und die er -wie sich bald herausstellen sollte, falschlicherweise - als Vertreter einer Va­riante seines Empirismus ansah, wie die Frankfurter Schule.

Allerdings bleibt erklärungsbedürftig, wieso gerade sie Neurath interes­sant erschien. Denn man könnte nach dem Eindruck des Positivismusstreits der 60er Jahre und auch angesichts des Horkheimer-Aufsatzes von 1937 ver­muten, politisch hätten die beiden Gruppen Welten trennen müssen. Daß dem jedoch nicht so ist und sich gerade in dieser Dimension Anknüpfungspunkte ergeben konnten, scheint mir auf der Hand zu liegen.

1.3 Politische Einstellungen

Adorno, der von Januar 1925 bis 1928 in Wien lebte, lernte dort nach den Wor­ten Martin Jays "weniger die Stadt von Otto Bauer und Karl Renner, von Ru­dolf Hilferding und Max Adler" kennen als vielmehr "das apolitische, dafür aber kulturell radikale Wien von Karl Kraus und dem Schönberg-Kreis"29. Es war aber das erstere, in das der Wiener Kreis seit seiner öffentlichen Phase seit 1929 einzuordnen ist. Viele seiner Mitglieder waren aktiv in der austro­marxistischen SDAPÖ30, einige schrieben regelmäßig in ihrem theoretischen Organ, dem " Kampf , (Neurath und Zilsel)3\, einige (Neurath, Zilsel, Feigl und Waismann) waren in der Volkshochschule und Arbeiterbildung aktiv32 , andere in führender Rolle in der Wiener Schulreformbewegung oder in der so­zialistischen Hochschullehrerschaft (Hahn)33. Der politisch aktivste war si-

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cherlieh Otto Neurath. Er war nach einer Verurteilung durch ein Standgericht und die teilweise Verbüßung seiner Haftstrafe wegen Beteiligung als Soziali­sierungsbeauftragter an der Münchener Räterepublik von 1919 aus dem deut­schen Reich ausgewiesen worden34 • Danach war er in Wien am Aufbau der Siedlungsbewegung beteiligt gewesen und hatte 1925 das "Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum" mit der Absicht gegründet, den Wiener Arbeitern die für eine zukünftige sozialistische Wirtschaftsplanung wichtigen statistischen Sachverhalte in einer eigens entwickelten Bildmethode nahezubringen35 •

Popularisierung wissenschaftlicher Arbeit war auch das Ziel der Grün­dung des Vereins "Ernst Mach" gewesen, mit dem der Wiener Kreis seine Lehren breiteren Kreisen der Bevölkerung hatte vermitteln wollen36 • Da in ihm auch bekannte Austromarxisten wie Otto Bauer vorgetragen hatten, ist es kein Zufall, daß er infolge der "Februarereignisse" von 1934 als sozialdemo­kratischer Verein verboten wurde.

Eins ist sicher richtig: in der Zeitschrift des logischen Empirismus, der "Erkenntnis", hat sich nur ein sehr kleiner Anteil dieser Aktivitäten niederge­schlagen. Daraus hat man aber nur den Schluß zu ziehen, in einer zeitge­schichtliche Kontexte einbeziehenden Wissenschafts geschichtsschreibung nicht nur publizierte Programme sprechen zu lassen, sondern diese auch mit tatsächlichen Aktivitäten zu vergleichen.

Die politische Seite der Aktivitäten des Frankfurter Institus war - jeden­falls in der durch Horkheimer geprägten Phase seit 1931 - vorzugsweise eine Sache der Theorie gewesen, die sich also mehr in ihren Publikationen als in Beteiligung an unmittelbar praktischer Politik zeigte. Bis auf Franz Borkenau, Julian Gumperz und August Wittfogel, die Mitglieder der KPD waren, scheint keines der Institutsmitglieder damals einer politischen Partei angehört zu haben37 • Dies wäre angesichts der Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung und des Kampfs ihrer verfeindeten Teile vor 1933 sicherlich auch eine schwie­rigere Parteinahme gewesen als im "Roten Wien". Zusätzlich ist die damalige Berufsverbotspraxis für Staatsbeamte, die der KPD (oder der NSDAP) ange­hörten, in Betracht zu ziehen.

Aber auch nicht parteigebundene Aktivitäten von Institutsangehörigen in­nerhalb und außerhalb des Hochschulbereichs sind kaum zu vermelden, wenn man von gelegentlichen Unterschriften unter Solidaritätsadressen wie im Fall des pazifistischen Heidelberger Statistikers Emil Gumbel im Jahre 1931 ein­mal absiehes. Horkheimer hat für diese Zurückhaltung gelegentlich auch ei­nige Gründe angeführt. In der "Dämmerung" schreibt er unter dem Stichwort "Die Ohnmacht der deutschen Arbeiterklasse": "Die einen (gemeint: die Kommunisten, Verf.) erkennen zwar die bestehende Gesellschaft als schlecht, aber es fehlen ihnen die Kenntnisse, um die Revolution praktisch und theore­tisch vorzubereiten. Die anderen (gemeint: die Sozialdemokraten, Verf.) könnten vielleicht diese Kenntnisse produzieren, aber sie ermangeln der fun­damentalen Erfahrung von der dringenden Notwendigkeit der Änderung .... Die Überwindung dieses Zustands in der Theorie hängt ebensowenig vom blo-

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ßen guten Willen ab wie die Aufhebung der sie bedingenden Spaltung der Ar­beiterklasse in der Praxis. Beide werden in letzter Linie durch den Gang des ökonomischen Prozesses, der einen großen Teil der Bevölkerung seit der Ge­burt von den Arbeitsstätten fernhält und zu aussichtsloser Existenz verdammt, notwendig erzeugt und wiedererzeugt. Es hat keinen Sinn, sich bei der Fest­stellung der geistigen Symptome zu überheben und so zu tun, als ob der, wel­cher den Zustand konstatiert, sich den Folgen entziehen könnte,,39.

Schließlich ist das völlige Fehlen eines Popularisierungskonzepts zu kon­statieren, das es gestattet hätte, die eigentlich angezielten Adressaten der "kri­tischen Theorie", nämlich die arbeitende Bevölkerung, tatsächlich auch zu er­reichen. Im Gegenteil wurde über solche Versuche meist nur die Nase ge­rümpft, wenn sie von anderen unternommen wurden40 •

Im Ganzen ergibt der Vergleich von politischer Haltung und Aktivität der Frankfurter Schule mit dem Wiener Kreis vor 1933 grob gesagt folgende Bi­lanz: hier (in Frankfurt) eine ausgebautere sozialwissenschaftliche Theorie, dort (in Wien) eine intensivere Beteiligung an praktischer sozialistischer Poli­tik bei den meisten Mitgliedern des Wiener Kreises.

Eine - zumal im Vergleich mit anderen deutschsprachigen philosophi­schen Strömungen ins Auge fallende - Gemeinsamkeit zwischen Frankfurter Schule und Wiener Kreis ist schließlich das bei den gemeinsame Schicksal der politisch und "rassisch" motivierten Emigration, in die sie vom Nationalso­zialismus bzw. zum Teil schon vom Austrofaschismus gezwungen wurden und dies im Unterschied zu allen anderen deutschsprachigen philosophischen Schulen (wie dem Neukantianismus, der Phänomenologie und der Lebensphi­losophie) fast ohne eine einzige Ausnahme41 • Dies halte ich für keine zu un­terschätzende Gemeinsamkeit, zumal den Nationalsozialisten bzw. den Austrofaschisten die Lehren der beiden Gruppen jeweils als zersetzend und kulturbolschewistisch galten42 •

Auf Emigrationswege und -umstände einzelner Gruppenmitglieder kann hier nicht eingegangen werden. Ich erwähne im Folgenden nur einige Fakten, die die späteren Hauptgesprächspartner im Disput zwischen Wiener Kreis (und seinen Ablegern) und Frankfurter Schule betreffen.

Obwohl sich Max Horkheimer in der Weimarer Zeit persönlich kaum politisch exponiert hatte, konnte es ihm nicht gelingen, sein Institut aus den politischen Auseinandersetzungen der Zeit herauszuhalten. So wundert es nicht, daß er zu den ersten Hochschullehrern gehörte, die im Zusammen­hang mit der Verkündigung des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufs­beamtenturns" vom 7. April 1933 knapp eine Woche später "beurlaubt" wur­den. Horkheimer hat dann keine Anstalten unternommen, gegen seine Ent­lassung etwas zu unternehmen, sondern Nazi-Deutschland erhobenen Haup­tes den Rücken gekehrt43 • Da das Stiftungsvermögen des Instituts durch geschickte Transaktionen schon vor 1933 ins Ausland gebracht worden war, konnte es seine Aktivitäten zuerst in Genf und dann ab 1934 in New York fort­setzen.

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Während sich fast alle Institutsmitarbeiter Horkheimer anschlossen, hatte sich Adorno, der dem Institut zwar nicht als Mitarbeiter angehörte, aber in Horkheimers Seminaren und Arbeitsgruppen konstant mitgearbeitet und auch bereits einen Aufsatz "Über die gesellschaftliche Lage der neuen Musik" in der "Zeitschrift" veröffentlicht hatte, offenbar zum "Überwintern" in Deutschland entschlossen. Er hatte in diesem Sinne an keinerlei Aktivitäten gegen das Naziregime teilgenommen44 • Im Gegenteil versuchte er sich den neuen Machthabern durch einige Musikkritiken zu empfehlen45 . Im Lichte der späteren Entwicklung zu seinem Glück wurde sein Antrag auf Aufnahme in Goebbels Reichsschrifttumskammer abgelehnt, da er als "Nichtarier" nicht für die "Verwaltung des deutschen Kulturgutes" in Frage komme46 . Ich erwähne diese Umstände hier nur, da mir derartige Anbiederungsversuche ge­genüber dem Nationalsozialismus von keinem einzigen Mitglied des "Wiener Kreises" oder auch der mit diesem kooperierenden Berliner "Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie" bekannt sind47 •

Die Emigration des "Wiener Kreises" geschah nicht auf einen Schlag be­reits 1933, sondern in mehreren Schüben im wesentlichen zwischen 1934 und 1938. Im Gefolge der "Februarereignisse" 1934 wurde nicht nur das Populari­sierungsorgan des Wiener Kreises, der Verein "Ernst Mach", wegen seiner angeblichen sozialdemokratischen Ausrichtung verboten, sondern auch Otto Neuraths Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum geschlossen48 • Neurath, der gerade Arbeiten im Rahmen eines Werkvertrags in der Sowjetunion zu erledi­gen hatte, entzog sich seiner in Wien drohenden Verhaftung durch die Emigra­tion in die Niederlande, wo er sein Institut nun von Neuem aufbauen mußte. Edgar Zilsel verlor seine DozentensteIle an der Wiener Volkshochschule49 •

Möglicherweise steht diese Entlassung im Zusammenhang mit dem Umstand, daß sein Pseudonym Julius Richter aufgedeckt worden war, unter dem er im "Kampf' nach dem Dollfußputsch seine Faschismusanalysen publiziert hatte50 •

Sämtliche Mitglieder der mit dem Wiener Kreis eng verbundenen "Berli­ner Gesellschaft" emigrierten ebenfalls, darunter auch die Gesprächspartner Horkheimers aus den frühen 30er Jahren Karl Korsch und Walter Dubislav so­wie die späteren (im amerikanischen Exil) Hans Reichenbach und Carl­Gustav Hempel. Der berühmte Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler, der auch der Berliner "Gesellschaft" angehörte, ist meines Wissens übrigens der ein­zige deutsche Hochschullehrer, der öffentlich die spektakuläre Lehrstuhlnie­derlegung des Physiknobelpreisträgers James Franck als Protest gegen den "Arierparagraphen" des Berufsbeamtengesetzes unterstützt hat5 ).

Aus Prag, wo sich der aus Berlin emigrierte Walter Dubislav 1936 - un­ter anderem wegen gegen ihn geführter nationalsozialistischer Kampagnen -das Leben genommen hatte52 , emigrierten auch die Mitglieder der dortigen "Filiale" des Wiener Kreises Rudolf Carnap und Philipp Frank. Frank, seit 1913 dort Nachfolger Einsteins auf dem Lehrstuhl für theoretische Physik, hatte sich nach 1933 in der Tschechoslowakei als Vorstandsmitglied der "Liga

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für Menschenrechte" tatkräftig für deutsche Asylanten eingesetzt und auch zur Nominierung von earl von Ossietzky für den Friedensnobelpreis beigetragen" .

1.4 Kenntnisse voneinander vor 1936

"Objektive" Gemeinsamkeiten (oder auch Divergenzen) bestimmen alIer­dings meist nur dann die Handlungsweise der Beteiligten, wenn sie ihnen auch als solche bewußt sind. Dies gilt auch für das Verhältnis von Frankfurter Schule und Wiener Kreis. Deshalb muß nun dargestelIt werden, was den bei­den Gruppen bzw. ihren Mitgliedern von diesen Gemeinsamkeiten bekannt war bzw. in welchem Umfang sie überhaupt schon voneinander Notiz genom­men hatten. Diese Frage hat eine mehr äußere und eine innere Komponente, die im folgenden getrennt voneinander besprochen werden sollen, nämlich einerseits die Frage nach etwa vorhandenen äußeren Kontakten und anderer­seits die Frage nach der Bekanntschaft mit der "Lehre" des jeweiligen Gegen­übers.

1.4.1 Kontakte vor 1936

Über direkte Kontakte zwischen Wiener Kreis und Frankfurter Schule vor 1933 ist mir nichts bekannt. So finden sich zwar die Unterschriften von Groß­mann, Horkheimer und Wiesengrund sowie - als einzigem Unterzeichner außerhalb des deutschen Reichsgebiets - von Hans Hahn (als Mitglied des Wiener Kreises und Obmann der sozialistischen HochschulIehrergruppe an der Universität Wien) unter der bereits erwähnten Solidaritätsadresse für Gumbel. Aber ob dieser Aktion irgend welche Absprachen vorausgegangen sind, weiß ich nicht. Mitglieder des Wiener Kreises scheinen ebensowenig in Frankfurt wie umgekehrt Angehörige des Frankfurter Instituts in Wien vorge­tragen und diskutiert zu haben. Das Bild ändert sich alIerdings, wenn man die mit dem Wiener Kreis kooperierende Berliner "Gesellschaft für wissenschaft­liche Philosophie" in die Betrachtung einbezieht. Von ihren Mitgliedern hat Karl Korsch sowohl vor als auch nach seinem Beitritt zur Berliner "GeselI­schaft" in Frankfurt Vorträge gehalten. Nach Berichten, die ich nicht über­prüfen konnte, soll er 1931 sogar als Alternativkandidat zu Horkheimer für die Direktion des Instituts zur Debatte gestanden haben 54. Das wäre damals an­gesichts der politischen Vergangenheit Korschs als lustizminister einer sozialdemokratisch-kommunistischen Koalition 1923 in Thüringen und seiner bald danach verfügten Amtsenthebung sowohl als Minister wie auch als lura­professor gewiß eine politisch brisantere Besetzung geworden als mit dem noch weitgehend unbekannten Horkheimer55 .

Außer Korsch hat noch Walter Dubislav als Mitglied der Berliner "Ge­sellschaft" in Frankfurt gesprochen. Dubislav war sowohl seinem akademi-

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schen Werdegang als auch seiner politischen Haltung nach stark von dem 1927 gestorbenen Göttinger Philosophen Leonard Nelson beeinflußt, der versucht hatte, einen philosophischen Neufriesianismus zu propagieren und der als po­litische Konsequenz seiner philosophischen Haltung 1925 den "Internationa­len Sozialistischen Kampfbund" gegründet hatte. Kürzlich hat Willy Strzele­wicz seine Erinnerungen an diese Diskussion beschrieben: "Das Referat von Dubislav hat für mich deswegen einen besonderen Stellenwert, weil ich in ihm - abgesehen von flüchtigen Berührungen mit dem sogenannten Wiener Kreis im Sommersemester 1927 in Wien - zum ersten Mal mit einem scharfsinni­gen Vertreter des sogenannten "Positivismus" direkt konfrontiert worden bin. Er spielte als Mathematiker und Naturwissenschaftler seine Überlegenheit gegenüber den Geistes- und Sozial wissenschaftlern voll aus, die ihm auf sei­nem Gebiet kaum kompetent begegnen konnten" 56. Strelewicz macht an­schließend einen Unterschied in der Bewertung des Positivismus durch die Frankfurter Schule "nach außen" und "unter uns", die vielleicht auch in der Folgezeit bestanden haben mag: "In den öfter nach den offiziellen Veranstal­tungen im Cafe Laumer zusammenkommenden geselligen Runden wurde dann sozusagen "entre nous" die Unzulänglichkeit in der Konfrontation mit den viel gelästerten Positivisten zugestanden, wenn das auch die etwas von oben herablassende Ablehnung dieser wissenschafts theoretischen Richtung zunächst bei den meisten von uns nicht beeinträchtigte. Ich habe Dubislav, auch Philipp Frank (flüchtig auch Carnap) erst später in Prag persönlich näher kennen und achten gelernt und die oberflächlich herablassende Ablehnung gründlich zu revidieren begonnen. Das merke ich nur an, weil die spätere Ent­wicklung der sogenannten Frankfurter Schule in der Ausbildung der Kriti­schen Theorie in eine grundlegend andere Richtung gegangen ist und weil das zu meinem Bruch mit ihren Ansichten beigetragen hat. Aber damals befand sich die Entwicklung erst noch in Ansätzen, und von einer voll entwickelten kritischen Theorie konnte in den hier erinnerten Jahren noch keine Rede sein".

1.4.2 Inhaltliche Bekanntschaft

Es ist offensichtlich, daß trotz dieser gelegentlichen Kontakte die Hauptgeg­ner der späteren Kontroverse nur sehr wenig voneinander gewußt haben. Dies gilt auch für ihre Repräsentanten Horkheimer und Neurath. So schreibt Neu­rath noch am 15.11.1936, zwei Tage nach seiner zweiten Diskussion mit Mit­gliedern des "Instituts" in New York an Horkheimer: "Ich wäre Ihnen auf­richtig verbunden, wenn Sie mir mitteilten, was ich von Ihren Sachen lesen soll, um Ihren Standpunkt besser würdigen zu können? Ich möchte mich von Ihnen nicht beschämen lassen". Andere Positivisten hatten zu dieser Zeit mit Sicherheit noch weniger Kenntnis von der Kritischen Theorie als Neurath. Dies ist vielleicht weniger verwunderlich, als es uns heute scheinen mag, weil die Philosophen des Instituts (außer Horkheimer noch Marcuse und Adorno) bislang nicht viel und insbesondere nichts Bahnbrechendes publiziert hatten.

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Die Veröffentlichung der "Studien über Autorität und Familie", die die Insti­tutsarbeit in den USA allererst bekannt machte, betraf dagegen einen empiri­schen sozialen Sachverhalt und ist vielleicht deswegen bei den Positivisten nicht entsprechend gewürdigt worden.

Mit der Kenntnis der Frankfurter Schule und insbesondere Horkheimers vom logischen Positivismus verhält es sich nicht wesentIlich anders. Die ein­zige Erwähnung eines Namens vor 1937, dessen Träger dem Wiener Kreis we­nigstens eine zeitlang nahestand, ohne ihm jemals angehört zu haben, ist die­jenige Wittgensteins in Horkheimers Aufsatz "Materialismus und Metaphy­sik". Dort heißt es im Anschluß an sporadische Äußerungen Wittgensteins über den Sinn des Lebens am Ende des "übrigens hervorragenden Tractatus logico-philosophicus": "Auch der Materialismus glaubt ... keineswegs, daß die Lebensprobleme rein theoretisch lösbar seien, aber es ist nach ihm auch undenkbar, daß auf andere Weise "der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar" werden könnte. Es gibt weder "das Mystische" noch "den Sinn des Le­bens,,57. Dies ist eine Kritik an Wittgensteins, wie sie im übrigen von Neu­rath und vom linken Flügel des Wiener Kreises voll geteilt wurde.

Im Unterschied zum Wiener Kreis hatten sich die Mitglieder der Frank­furter Schule aber sowohl mit den eher entlegenen historischen als auch mit den zeitgenössischen Vorläufern des Positivismus wie auch einigen seiner ak­tuellen Kritiker mehr oder weniger ausführlich beschäftigt. Dies gilt für die Vorgeschichte des Positivismus bei den englischen Empiristen wie Bacon, Locke, Hume und Berkeley sowie für die französischen Enzyklopädisten, dann weiter für die eigentlichen Gründerväter des Positivismus Comte und 1. St. Mill und schließlich für die Neopositivisten Mach und Avenarius. Die bei weitem ausführlichste Würdigung hat dabei Mach erfahren. Denn wie schon erwähnt, hat Horkheimer Lenins Kritik an Mach einer Rezension unterzogen. Wie schon A. Schmidt hervorgehoben hat58 , wird Mach dabei gegen eine ganze Reihe von ungerechtfertigten Angriffen in Schutz genommen wie etwa denen des Idealismus, des Solipsismus und Fideismus, die zum Standardre­pertoire der marxistisch-leninistischen Positivismuskritik gehören.

Es ist auch auffällig, daß Horkheimer in den frühen 30er Jahren die wich­tigsten positivistischen Dogmen teilt. Ich meine insbesondere das Postulat, daß jede Theorie an Erfahrung überprüfbar sein muß und dessen Konsequenz, daß Theorien, die diese Maxime nicht erfüllen, sinnlos seien. In seinen Schriften aus dieser Periode finden sich wiederholt Formulierungen, die man als etwas gröbere Fassungen empiristischer Sinntheorien auffassen könnte. So heißt es ausdrücklich in "Materialismus und Metaphysik": "Der Materialis­mus hat mit der positivistischen Lehre gemein, daß er als wirklich nur aner­kennt, was sich in sinnlicher Erfahrung ausweist" 59. Diese Überzeugung zieht sich als Konstante durch die Horkheimersche Lehre in allen ihren Ent­wicklungsphasen. So formulierte er schon 1931 ausdrücklich in Diskussionen zum Thema "Wissenschaft und Krise": "Wir müssen festhalten an dem positi­vistischen Standpunkt, daß das Wissenschaft treibende und erkennende Indi-

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viduum sich an die Gegebenheit zu halten hat" und nennt als These: "Vom Po­sitivismus ist dies festzuhalten, daß nichts als existierend zu gelten hat als das, was sich an der sinnlichen Gegebenheit ausweist,,60. Auf Vorhaltungen seiner Diskussionspartner, er käme "aus der positivistischen Terminologie nicht heraus" oder er befürworte "ein Stehenbleiben beim beschreibenden Empi­rismus" hat er geantwortet, daß "ja anders eine gute von einer schlechten Theorie gar nicht unterschieden werden kann" und "sonst Rückfall zum Glau­ben an Geister und Gespenster" drohe. Auch nach seiner Abrechnung mit dem Positivismus aus dem Jahre 1937 hat er am empiristischen Sinnkriterium festgehalten. Denn er sagt 1939 in Diskussionen mit Adorno zum Beispiel: "Es ist immer sinnlos, gegen die Behauptung der Positivisten zu polemisie­ren, wenn sie sagen, das, was man sagt, muß einmal kontrollierbar sein" und "auch wir haben mit Sachgehalten zu arbeiten, die sich kontrollieren lassen, sonst haben wir kein Kriterium mehr zwischen Sinn und Unsinn,,61.

Auch die metaphysikkritischen Konsequenzen des empiristischen Sinn­kriteriums hat Horkheimer formuliert und häufig in Auseinandersetzungen mit dem zeitgenössischsen Irrationalismus angewendet. So schreibt er z.B. im Anschluß an eine Kritik an einem solchen Zeitgenossen ganz allgemein: "Die Wahrheit oder Unwahrheit vieler allgemeiner Glaubenssätze entzieht sich prinzipiell der Nachprüfung: insoweit entbehren sie aber auch des Sin­nes ... ,,62. Gelegentlich finden sich auch überraschende Parallelen in der An­wendung des Sinnkriteriums beim Wiener Kreis und Horkheimer, wenn auch letzterer mit seiner Hilfe die verschiedenen zeitgenössischen Ganzheitslehren als unüberprütbar und sinnlos erklärt63 oder einem ihrer Verfechter, Othmar Spann, Folgerungen attestiert, die "in ihrer metaphysischen Primitivität kaum zu überbieten" seien64 •

Man könnte nun vielleicht denken, daß ein Unterschied der Horkheimer­schen und der "Wiener" Sinnkritik darin läge, daß sich die Mitglieder des Wiener Kreises mit dieser begnügten, Horkheimer sie aber durch eine Ideolo­giekritik ergänzte, die die sozialen Wurzeln irrationalistischer Anschauungen nachweist. Das ist aber nicht der Fall. Denn in der Programmschrift des Wie­ner Kreises von 1929 heißt es ausdrücklich: "Von der wissenschaftlichen Weltauffassung wird die metaphysische Philosophie abgelehnt. Wie sind aber die Irrwege der Metaphysik zu erklären? Diese Frage kann von verschiedenen Gesichtspunkten aus gestellt werden: in psychologischer, in soziologischer und in logischer Hinsicht. Die Untersuchungen in psychologischer Richtung befinden sich noch im Anfangsstadium; Ansätze zu tiefergreifender Erklärung liegen vielleicht in Untersuchungen der Freudschen Psychoanalyse vor. Ebenso steht es mit soziologischen Untersuchungen; erwähnt sei die Theorie vom "ideologischen Überbau". Hier ist noch offenes Feld für lohnende wei­tere Forschung" 65 .

Angesichts des großen Fundus an inhaltlichen Gemeinsamkeiten, der als relativ um so größer anzusehen ist, wenn man an die vielen philosophischen Richtungen und einzelnen Philosophen denkt, die durch empiristische Sinn-

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kritik ausgeschlossen werden, ergibt sich umgekehrt die Frage, worin denn überhaupt Positivismus und "Materialismus" sich unterschieden bzw. was Horkheimer als ihre Differenz ansah (was nicht ganz dasselbe ist).

Als erstes hat man sich zu vergegenwärtigen, daß die beiden Richtungen zum Teil an etwas anderes dachten, wenn sie jeweils die Kontrollierbarkeit je­der Theorie durch Erfahrung forderten. Zwar schloß der materialistische Be­griff der Erfahrung jene speziellen Arten empirischer Überprüfung wie das naturwissenschaftliche Experiment oder auch für die Sozialwissenschaften standardisierte Verfahren wie Fragebogentechniken ausdrücklich ein. Dar­über hinaus wurde aber auch an politische Praxis als ein Moment empirischer Erfolgskontrolle soziologischer Theorie gedacht, so daß der Erfahungsbegriff von der kritischen Theorie von vornherein weiter gefaßt wurde. Zudem sah Horkheimer einen Unterschied im Erfahrungsbegriff darin, daß die Materia­listen ihn als historisch veränderlich ansahen und die "Positivisten" als sta­tisch. Man muß bezweifeln, daß er diese These nach der Lektüre von Zilsels Arbeiten zur Genesis des Experiments in der neuzeitlichen Naturwissenschaft noch aufrechterhalten hätte66 •

Auch das Gegenstück zur Erfahrung in der Arbeit des Wissenschaftlers, die Theorie, wurde von Horkheimer als ein historisch wandelbares Gebilde gesehen und auch dies in Gegensatz zum "Positivismus". Dieser habe nämlich "das Dogma von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze" und den "Glauben an die Möglichkeit eines abschließenden Systems" geradezu zu einer "meta­physischen These" erhoben67 • Demgegenüber habe sich aber, wie er im "Ra­tionalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie" betont, "seit Hegels Dia­lektik die Ansicht durchgesetzt ... , daß der Fortschritt der Erkenntnis sich nicht mehr durch Summation von Daten vollzieht,,68. Im Anschluß an diese Bemerkung folgt, ohne daß freilich diese Ideen irgendwo näher ausgeführt werden, eine sehr modern klingende positive Bestimmung des Wissenschafts­fortschritts, die an Kuhns Unterscheidung zwischen normalem und revolutio­närem Wissenschaftswandel erinnert: "Nicht der Zuwachs von Tatsache und Theorie, sondern die sprunghafte Umgestaltung tragender Kategorien kenn­zeichnet die Etappen der Wissenschaft. Ihr geht freilich jeweils die fortschrei­tende Revision des Einzelwissens voraus ... Die Revolutionierung der funda­mentalen Kategorien, die solcherart nur vorbereitet wird, hebt dann die Er­kenntnis überhaupt auf eine höhere Ebene und betrifft ihre ganze Struk­tur,,69.

Auch die heute gängige These von der Theoriegeladenheit der Erfahrung findet sich schon bei Horkheimer70 , so daß man insoweit sagen kann, daß er einige Punkte in Andeutungen vorweggenommen hat, die in der Selbstrefle­xion des Empirismus und insbesondere im Übergang zum "neuen Empiris­mus" bzw. Postempirismus der Toulmin, Hanson, Kuhn und Feyerabend seit den 50er Jahren eine wichtige Rolle gespielt haben.

Horkheimer selbst hat freilich die Hauptunterschiede zum Positivismus

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diskutierenden Aufsatz von 1937 noch eine wesentliche Rolle spielen werden. Da ist zunächst der Unterschied von Wesen und Erscheinung. Darüber heißt es etwa in "Materialismus und Metaphysik": "Die Nachfolger Comtes, be­sonders die Empiriokritizisten und die logistische Schule, haben ihre Termi­nologie so verfeinert, daß der Unterschied zwischen den bloßen Erscheinun­gen, mit denen sich die Wissenschaft zu beschäftigen hat, und dem Wesentli­chen nicht mehr in ihr vorkommt" 7\. Diese Differenz wird verschiedentlich als entscheidender Unterschied "zwischen allen materialistischen und positi­vistischen Richtungen" hervorgehoben72 . Der Verzicht auf diese Unterschei­dung habe die Konsequenz, daß "der Positivismus grundsätzlich seinen Frie­den mit jeder Art von Aberglauben"73 schließe. Er komme in der "Wehrlo­sigkeit (dieser Philosophie) vor allen supranaturalistischen Strömungen, besonders kraß in ihrer Ohnmacht vor Spiritismus und Okkultismus, diesen kruden Formen des Aberglaubens"74 zum Ausdruck. Dies offenbar von Le­nin übernommene Verdikt gegen den Positivismus, gegen das Horkheimer Mach noch verteidigt hatte, ist prima facie nicht besonders plausibel, da sich Supranaturalismus und Okkultismus ja gerade nicht mit der bloßen Oberflä­che der Erscheinungen begnügen. Umso mehr würde man einen detaillierten Nachweis der These begrüßen. Bedauerlicherweise wird der Vorwurf bei Horkheimer aber stets an Autoren exemplifiziert, die wie William James75 oder Hans Driesch76 keine logischen Positivisten waren bzw. historisch auch nur hätten sein können und deren Lehren gerade auch in diesen Punkten von den logischen Positivisten kritisiert worden waren77 •

Später hat Horkheimer noch einen zweiten Hauptunterschied zum Positi­vismus in der Problematik einer Unterscheidung von Tatsachen und Werten gesehen. Diese nach seiner Meinung nicht zu haltende Unterscheidung wird von ihm aufMax Weber zurückgeführt. Aber die angebliche Konsequenz die­ser Unterscheidung, nämlich Wertrelativismus und -neutralismus wird auch den Positivisten der Gegenwart zum Vorwurf gemacht, während "selbst die Schöpfer des Positivismus ... sich im Gegensatz zu manchen späteren Schü­lern gegen die neutralistische Entartung der Wissenschaft gewehrt" hätten 78.

Auf die Berechtigung dieser Kritik und die Frage, ob Horkheimers eigene An­deutung einer politischen Ethik dem Relativismusvorwurf entgehen kann, komme ich noch zurück.

Nun hat ja der "Positivismus" im Übergang zu seiner zeitgenössischen Gestalt eine ganze Reihe von tiefgreifenden Wandlungen durchlaufen, von de­nen die oben genannte vom Phänomenalismus zum Physikalismus wohl die wichtigste ist. Auf diese Entwicklung geht keiner der positivismuskritischen Arbeiten oder Bemerkungen von Angehörigen der Frankfurter Schule bis 1936 ein. Es wird zu untersuchen sein, in welchem Umfang dies in Horkhei­mers Angriff auf den Positivismus von 1937 geschieht.

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2. Diskussionen zwischen Frankfurter Schule und Wiener Kreis 1936/37 und die verschiedenen Konsequenzen für die Beteiligten

Wie es zum Jahreswechsel 1935/36 zu ersten Kontakten sozusagen auf höch­ster Ebene (nämlich zwischen Horkheimer als Direktor des "Instituts" und Neurath als Organisator des logischen Empirismus) gekommen ist, geht aus ihrem - offenbar nur unvollständig erhaltenen - Briefwechsel79 nicht her­vor. Schon bevor Horkheimer nämlich zu diesem Zeitpunkt Neurath in Den Haag besucht hatte, muß es eine Vereinbarung über den Abdruck eines Arti­kels von Neurath über den internationalen Vergleich von Lebensstandards in der "Zeitschrift" gegeben haben. Vielleicht ist auch bereits bei diesem Anlaß über die mögliche Förderung eines längerfristig angelegten Projekts mit die­ser ThemensteIlung in Neuraths Mundaneum Institut durch Mittel gesprochen worden, für deren Einwerbung sich Horkheimer einsetzen wollte - ein Sach­verhalt, der im Briefwechsel zwischen Neurath und Horkheimer noch bis zum Winter 1937 eine Rolle spielt.

Den Ausgangspunkt für die Entwicklung bis hin zum Abbruch der diplo­matischen Beziehungen zwischen den Exponenten der beiden Gruppen hat dann offenbar Neuraths Gegenbesuch bei Horkheimer im Herbst 1936 in New York gebildet. Neurath hatte diese Reise nicht allein wegen dieses Termins un­ternommen, sondern kam hauptsächlich zur Absprache mit Rudolf Carnap und CharIes Morris über das 1935 beim Ersten Internationalen Kongreß für Einheit der Wissenschaft in Paris beschlossene Projekt einer "Encyclopedia of Unified Science". Wie es seinem unternehmungslustigen Wesen entsprach, hat er in den USA selbst noch einen Auftrag in Mexico übernommen, zu dem er im Januar 1937 für zwei Monate aufbrach. Wie wir sehen werden, maß er aber doch dem Treffen in Horkheimers Institut erhebliche Bedeutung bei.

Die erste Diskussion dort unter Neuraths Beteiligung fand Mitte Oktober 1936 statt. Nähere Angaben über weitere Teilnehmer, Themen und Diskus­sionsverlaufhabe ich nicht ermitteln können. Im Anschluß gab es Anfang No­vember noch eine weitere Diskussionsveranstaltung im Institut, über die wir durch die Erinnerungen eines Teilnehmers, nämlich Sidney Hook, unterrich­tet sind80 • Für das "Institut" nahmen an dieser Sitzung außer Horkheimer noch Pollock, Marcuse und Leo Löwenthai teil, während die positivistische Seite außer durch Neurath und Hook noch von Ernest Nagel und Meyer Sha­piro vertreten wurde. Während Neurath beim ersten Treffen hauptsächlich aus der Defensive argumentiert zu haben scheint, ging man nach der Beobachtung Hooks nun offenbar zum Gegenangriff über und nahm sich insbesondere eines der Lieblingsobjekte in der Theoriebildung des Instituts, die Dialektik, vor. Hook hatte kurz vorher im "Marxist Quarterly" bereits einen kritischen Arti­kel "Nature and Dialectics" veröffentlicht. Im Einklang mit dieser Kritik ver­suchten die Positivisten nun, die Dialektik als "synonymous with what passed ordinarily as scientific methods" zu explizieren oder das Eingeständnis zu er-

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halten "that it was a kind of hocus pocus .. SI . Hooks Schilderung fahrt fort: "Neurath was very exuberant and claimed that the so-called dialectic elements in Marxist thought were vestiges of Hegelian metaphysics compatible, to the ex­tent meaning could be given them, with the empirical discoveries of scientific sociology".

Nach Neuraths Abreise nach Mexico hat es dann offenbar noch ein weiteres Treffen mit sonst bis auf die zusätzliche Anwesenheit Lazarsfelds gleichem Teil­nehmerlcreis und Thema gegeben. Über seinen Verlauf ist mir nichts bekannt.

2.1 Unterschiedliche Reaktionen

Aus den Briefen, die die Hauptbeteiligten Neurath und Horkheimer an andere Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppen nach diesen Diskussionen richteten, er­geben sich nun vollkommen divergente Einschätzungen und Pläne. Neurath war nämlich auf eine Intensivierung der Diskussionen und eine längerfristige Zusammenarbeit eingestimmt. In diesem Sinne schrieb er am 12.11.1936 nach der zweiten Diskussionsrunde an Carnap: "Diskussion in Horkheimer­Seminar ergab großes Interesse an unserer Sache. Es liegen unsere Artikel und Bücher geradezu in Haufen herum ... Leider ist Horkheimer der Anschau­ung, daß Husserl viel klarer ist als Mach". Das erklärte sich Neurath damit, daß Horkheimer bei Cornelius Machismus "in orthodoxer Form gelernt" ha­ben müsse und das seija immer schlimm, weil Machs Bedeutung viel weniger in seinen allgemeinen programmatischen Formulierungen als in seinen kon­kreten Analysen zum Ausdruck komme. Immerhin wolle Horkheimer "un­sere ganze Bewegung" in seiner Zeitschrift abhandeln und ein mehrtägiges Symposium zum Thema im Januar veranstalten, zu dem auch Nagel, Hook vielleicht auch Shapiro "und andere uns nahestehende Leute" kommen soll­ten. Carnap bekäme von Horkheimers Institut die Reise bezahlt. Sinn dieses größeren Rahmens, der auf einen Vorschlag Neuraths zurückging, sollte es sein, daß "wir nicht isoliert auf dem elektrischen Stuhl sitzen, wenn uns Horkheimer mit seinen Freunden liebevoll kritisiert".

Carnaps Antwort vom 28.12. des Jahres ist charakteristisch für die Ver­breitung der Arbeiten des Instituts bei sicherlich den meisten Mitgliedern des Wiener Kreises: "Wer ist Horkheimer? Ich vermute, jemand von der New School for Social Research. Stimmt das? Und welches ist seine Zeitschrift, in der er unsere ganze Bewegung abhandeln will?" Carnap, der ursprünglich an dem geplanten Symposium hatte teilnehmen wollen, mußte darauf dann aber - offenbar wegen eines Rückenleidens, das ihn zum Tragen eines Stützkor­setts zwang - verzichten. Auch eine für den Herbst 1937 geplante Runde bei Horkheimer, zu der Neurath außer Carnap noch Philipp Frank aus Prag auf­bieten wollte, ist nicht mehr zu Stande gekommens2 •

Dagegen hatte schon die erste Diskussion im Oktober bei Horkheimer ganz andere Reaktionen ausgelöst. So schrieb er am 22.10.1936 an Adorno:

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"Die Auseinandersetzung mit der "Wissenschaftlichen Philosophie" soll da­für (als) nächstes daher um so entschiedener erfolgen. Wir haben hier im In­stitut in letzter Zeit bereits einige ausgedehntere Seminardiskussionen zum Zwecke unserer Orientierung geführt. Das letzte Mal hat Otto Neurath, der es ja wissen muß, über die jüngsten Schicksale der Schule referiert" . Im An­schluß schlägt Horkheimer dann Töne an, die die später veröffentlichte Pole­mik vorwegnehmen und die Annahme plausibel machen, daß Horkheimer schon die folgenden Diskussionen mit den Positivisten nur noch unter dem Gesichtspunkt geführt hat, von ihnen selbst ihre schwachen Stellen vorgeführt zu bekommen. Denn er fährt fort: "Im Grunde ist das ganze nur ein elendes Rückzugsgefecht der formalistischen Erkenntnistheorie des Liberalismus, der bereits auch auf diesem Gebiet in offene Liebedienerei gegen den Faschismus übergeht".

In der Folge war es dann Adorno, der in einer Reihe von langen Briefen83 eine Fülle von Anregungen zu Horkheimers geplantem Aufsatz beisteuerte. Man kann insofern schon ohne weiteres davon sprechen, daß dieser von seiner Konzeption und vielen seiner Argumente, wenn auch nicht von der Ausfüh­rung im detail her, schon das erste Gemeinschaftswerk von Horkheimer und Adorno ist. Das allmählich immer stärkere Zusammenrücken der bei den weit vor der "Dialektik der Aufklärung" wäre im übrigen auch bereits viel früher öffentlich geworden, wenn - wie geplant, aber dann doch nicht durchgeführt - gleichzeitig mit Horkheimers Attacke auf den Positivismus Adornos auf den gleichen inhaltlichen Ideen und methodischen Prinzipien basierende Ab­rechnung mit Mannheims Wissenssoziologie publiziert worden wäre84 •

Adornos Anregungen zu Horkheimers Artikel betreffen folgende Punkte:

1) die inhaltliche Kritik am logischen Positivismus, insbesondere a) die Unvereinbarkeit der in seinem Begriff gegebenen Hauptelemente,

nämlich des Logischen mit dem Empirischen b) seine Konzeption einer formalen Logik c) seinen Begriff der Erfahrung

2) das bei dieser Kritik einzuschlagende Verfahren 3) seine politische Funktion 4) die zur Illustration der Kritik hauptsächlich heranzuziehenden positivisti­

schen Autoren.

Zur Undurchführbarkeit des positivistischen Programms wegen angebli­cher Widersprüchlichkeit seiner Hauptbestandteile führt Adorno u.a. aus: "Die prinzipielle Unmöglichkeit, ihre beiden Grundoperationen, Experiment und Kalkül, in Übereinstimmung zu bringen, ist die Ausgangsantinomie der Logistik d.h. der Beweis, daß es ihr nicht gelingt, eben jene einheitliche Inter­pretation zu geben, die sie beansprucht; weil nämlich die Wirklichkeit ihr wi­derspricht, und weil sie selber brüchig ist,,85. Hier ist nun in der Tat zunächst zuzugeben, daß für den logischen Positivismus, anders als noch etwa für den

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Empirismus 1.St. Mills oder des frühen Russell, ein Dualismus konstitutiv ist, nämlich der von analytischen und synthetischen Sätzen, und dieser Dualismus betrifft sowohl den Gehalt dieser Sätze als auch die bei ihrer Kontrolle jeweils einzuhaltenden Verfahren: während nämlich über die Wahrheit synthetischer Sätze nur die Erfahrung (und vorzugsweise: die wiederholbare und kontrol­lierbare Erfahrung im Experiment) entscheiden kann, werden die analyti­schen Sätze der Logik und Mathematik unabhängig von aller Erfahrung aus anderen vorausgesetzten analytischen Sätzen nach logischen Regeln erschlos­sen. Zu diesem Dualismus gibt es sachlich auch nur die Alternativen, entwe­der mehr als zwei solcher Satzklassen anzuerkennen (etwa zusätzlich noch die kantischen synthetischen Urteile apriori) oder wie Mill und Russell (oder spä­ter Quine) mit nur einer Satzkklasse auszukommen. Auf solche Alternativen hat sich Adorno freilich nicht festgelegt.

Woher Adorno nun die Auffassung als positivistische bezogen hat, die "Logistik" beanspruche, eine einheitliche Interpretation der Wirklichkeit zu geben, muß unklar bleiben, weil die Logistik als moderne Version der Logik nach Auffassung des logischen Positivismus lediglich in die Lage versetzt, aus gewissen Sätzen andere zu erschließen. Über die Wahrheit solcher Sätze oder gar den Anspruch, eine Interpretation der gesamten Wirklichkeit zu geben, ist nach dieser Ansicht aus logischen Mitteln allein ausdrücklich nichts zu ermit­teln.

Dagegen gilt für den logischen Positivismus im Ganzen schon in gewis­sem Sinne, daß er eine einheitliche Weltauffassung anstrebt. Dieser Anspruch soll aber so eingelöst werden, daß die aus synthetischen Sätzen bestehenden empirischen Theorien verschiedener Wissenschaftsbereiche mit den Mitteln der Logik zueinander in Beziehung gesetzt werden (indem man sie etwa auf Widerspruch, Reduzierbarkeit, Äquivalenz etc. untersucht). Inwiefern dieses Programm selbst bereits eine Antinomie enthält bzw. zu ihr führt, wäre frei­lich noch zu zeigen.

Im einzelnen stellt sich Adorno die Widerlegung des Positivismus aller­dings so vor, daß auch jeder seiner beiden Bestandteile, also sowohl seine Konzeption der Logik - eben die Logistik - als auch sein Begriff der Erfah­rung jeweils "auf ihre eigene Antinomie" gebracht werden.

Was die Logistik betrifft, geht er von dem aus, was er für das Russellsche Paradoxon "in seiner elementaren Form" hält, nämlich: "Dieser Satz ist falsch,,86. Da sich der Ausdruck "dieser Satz" darin auf den angeführten Satz selbst bezieht, führe seine weitere Analyse in der Folge auf einen unendlichen Regreß. Damit zeige sich, daß "Dieser Satz ist falsch" überhaupt keine Be­deutung habe, sondern "eine bloße Komplexion von Worten" sei. Russells Ty­pentheorie, die zur Vermeidung von derlei Komplikationen erdacht sei, stelle sich bei näherem Hinsehen und insbesondere bei einem Rekurs auf die Bedeu­tung der in einem Satz verwendeten Termini als überflüssig heraus. Also: "es gehört zum Sinn einer wie immer gearteten logischen Aussage, etwas zu mei­nen, andernfalls führt sie auf Antinomien. Genau damit ist aber die gesamte

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Auffassung der Logik als einer Komplexion von Spielmarken prinzipiell wi­derlegt,,87.

Was ist von diesen ja nun wirklich ziemlich differenzierten Überlegungen zu halten?

Zunächst einmal handelt es sich bei dem von Adorno zitierten Satz nicht um die Russellsche Paradoxie oder eine Formulierung (Normalform oder der­gleichen) davon. Die Russellsche Paradoxie ist nämlich jene mengentheoreti­sche, die entsteht, wenn man sich fragt, ob die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, sich selbst enthält oder nicht88 . Sodann ist in der Tat die Typentheorie von Russell zum Zweck der Vermeidung einer Klasse von Antinomien ausgearbeitet worden, zu denen auch die von Adorno zitierte ge­hört, größtenteils aber wesentlich kompliziertere. Mit der Typentheorie steht und fallt nun aber weder die Logistik als solche noch das Russell-Fregesche Programm der Reduktion eines Teils der Mathematik auf Logik. Denn gerade der für die Lösung der von Adorno angeführten Paradoxie benötigte Teil der­selben ist für beide Zwecke entbehrlich, wie Ramsey 1925 gezeigt hat89 . Da­mit ist auch die Adornosche "Widerlegung" der Logistik hinfällig.

Horkheimer, der zunächst geschrieben hatte "Ihre Polemik gegen die Russellsche Theorie des Paradoxons trifft so genau die Sachlage"90, daß er Adornos Überlegungen mit Hinweis auf dessen im Entstehen begriffenes Hus­serlbuch zitieren wollte, hat doch später davon Abstand genommen. Denn er hatte "eine Stelle bei Russell gefunden, in der er selbst die Urteile, die er durch die Typenlehre unmöglich zu machen sucht, als sinnlos bezeichnet,,91.

Da Horkheimer selbst nur wenige eigene Überlegungen zur Logistik aus­gearbeitet hatte, nimmt es dann nicht wunder, wenn er im gleichen Brief schreibt: "Wenngleich zu den Einzelheiten der Logistik, mit denen ich mich recht weitgehend vertraut gemacht habe, sehr viel zu sagen wäre, habe ich es doch vermieden, darauf einzugehen". So finden sich in seinem "Neuesten An­griff auf die Metaphysik" in den der Logik gewidmeten Teilen nur jene recht oberflächlichen Bemerkungen über die Unmöglichkeit einer formalen Logik und die abstrakte Entgegensetzung von Logistik und Dialektik, die in den 60er Jahren so viel unnötige Verwirrung erzeugt hat. Von der Absicht einer "im­manenten Widerlegung" der Logistik haben Horkheimer und Adorno jeden­falls Abschied genommen, und der von Adorno aufgebrachte Gedanke, zur "expliziten Auseinandersetzung mit der Logistik" dann "vielleicht gelegent­lich einen zweiten Aufsatz (zu) bringen" 92 , ist dann später von beiden nicht weiter verfolgt worden.

Wie sieht es nun mit der Kritik am zweiten Standbein des logischen Posi­tivismus, seiner Auffassung von Erfahrung, Wahrnehmung und Experiment aus? Adornos Argument beginnt zunächst historisch: während nämlich das Pochen auf Erfahrung noch zu Zeiten Bacons durchaus "progressiv geplant" gewesen sei, sei es mit dem Fortschreiten der empiristischen Tradition schon etwa bei Mill einer "weltanschaulichen Neutralität" gewichen und für den heutigen Zustand gelte: "Die resignierende Tendenz des Erfahrungsbegriffs

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setzt nun bei den Neopositivisten endgültig sich durch,,93. Zum Beweis der letzten Teilthese führt Adorno an, daß die Positivisten versuchten, "den Be­griff der Erfahrung vollends von dem ihm inhärierenden subjektiven Mo­ment" zu trennen und damit "von jeder Art menschlicher Aktivität zu isolie­ren", um "von allen wesentlichen gesellschaftlichen Fragen, und gar der Pra­xis unbehelligt zu bleiben".

Den naheliegenden Einwand, daß jedenfalls eine Seite des positivisti­schen Pochens auf Erfahrung der auch in praktische Dimensionen führende Kampf gegen Irrationalismus und zeitgenössische Metaphysik war, die in Österreich und auch im Deutschland der Zwischenkriegszeit an den Universi­täten in voller Blüte standen, nimmt Adorno vorweg und begegnet ihm mit fol­genden etwas kryptischen Überlegungen: "Man könnte dann schließen mit ei­ner kurzen Betrachtung der Dialektik des Begriffs des "Wissenschaftlichen" selber, ... der, in seiner eigenen Konsequenz, auf Praxis als seine Bedingung führen muß, während das willkürliche Abbrechen der neuen Positivisten an allen entscheidenden Stellen nicht sowohl Ausdruck ihres Kampfes gegen die Metaphysik ist, (mit welcher sie sich im Ernstfall bekanntlich allemal sehr gut verständigen können, wäre es auch nur durch angebliche "Arbeitsteilung", -es wäre an Jaspers zu erinnern, bei dem die Haltung eines kritischen Positivis­mus a la Max Weber selber als Metaphysik des heroischen Geistes und ähnli­cher Unfug hypostasiert wird - ... )" Was dabei Max Weber mit dem logi­schen Positivismus zu tun haben könnte und Jaspers etwaige metaphysische Interpretation Webers mit innerpositivistischer Arbeitsteilung, ist systema­tisch und historisch kaum zu verstehen. Die Absicht einer immanenten Wider­legung des Positivismus jedenfalls scheint mir auch in puncto Kritik des posi­tivistischen Erfahrungsbegriffs nicht eingelöst.

Nichtsdestotrotz rät Adorno dringend zur Methode einer immanenten Wi­derlegung an den strategisch wichtigen Stellen der "Spielmarkenlogik" und der "subjekt, d.h. menschenlosen Erfahrung" sowie dem "Bruch der Ge­samtkonzeption" als der eigentlich "tötlichen Stelle". Denn alles andere bliebe gegenüber dem "Sekuritätsanspruch für die Herren unverbindlich,,94. Da Horkheimer sich nach dem zutreffenden Eindruck Adornos in seinem Ar­tikel vom Ideal immanl!nter Widerlegung ein gehöriges Stück entfernt hatte, kündigte letzterer nach der Publikation mit Blick auf seine bevorstehende Amerikareise an: "Über die immanente Liquidierung des Positivismus wer­den wir eingehend zu sprechen haben"95.

Da die Intention der "immanenten Liquidierung" sich nicht ohne weite­res realisieren ließ, wundert es nicht, daß sich im Briefwechsel (und erst recht in Horkheimers Artikel) Betrachtungen über die politische Funktion des Posi­tivismus nach vorne drängen. Dabei muß man im Auge behalten, daß Hork­heimer von vornherein einen offensiven Ton anschlägt. Adorno ist dagegen mit Vorwürfen wegen angeblicher Affinitäten des Positivismus zum Faschis­mus vorsichtiger: "Das Ideal der wissenschaftlichen Sekurität, das die Herren vertreten, scheint mir der genaue Ausdruck der gegenwärtigen Stellung zum

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Privateigentum, das gegen das "bolschewistische Chaos" aufrecht erhalten wird, obwohl die Folgen seiner Aufrechterhaltung selber zur Suspension des Privateigentums unter den Formen des Protektionismus und schließlich zu sei­ner Zerstörung durch den Krieg führen"96. Hier wäre freilich zu fragen, wes­sen "gegenwärtige Stellung zum Privateigentum" gemeint ist, ob die der Pri­vateigentümer selbst, ihrer Garanten oder Gegner, der faschistischen staatli­chen Instanzen etc., denn davon hängt es ersichtlich ab, ob das positivistische Sekuritätsideal als sein Ausdruck in Frage kommt oder nicht. Daß Protektio­nismus und Krieg das Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, scheint mir schon nach damaligem Erkenntnisstand im übrigen eine fragwür­dige These zu sein.

Schließlich macht Adorno noch einige aufschlußreiche Bemerkungen zu der Frage, welche Positivisten man für den geplanten Artikel exemplifizierend heranziehen sollte. Die Tendenz dabei ist eine Präferenz für die englischen Autoren in der Tradition der analytischen Philosophie gegenüber den eigentli­chen Positivisten: " ... wobei ich die besseren, wie Russell und Wittgenstein und auch Moore, der als Sprachtheoretiker gewisse Verdienste hat, den Trot­teln a la Karnap und Schlick vorziehen würde,,97. Nachdem Horkheimer zu bedenken gegeben hatte, daß man wegen des größeren Einflusses der Carnap­Richtung in den USA besser daran täte, sich dort mehr mit dieser Tendenz auseinanderzusetzen, zeigt sich Adorno konzessionsbereit: "Was die Frage Russell oder Carnap anlangt, so haben Sie vielleicht recht. Bei R. ist übrigens nur an die früheren Arbeiten zu denken; das Spätere ist alles mehr oder min­der Geschwätz,,98.

Viel Zeit scheint Horkheimer nicht auf die Ausarbeitung des Artikels verwandt zu haben. Noch am 14.11.1936 hat er offenbar nicht angefangen, denn er bittet Adorno, ihm bezüglich der Logistik alles mitzuteilen, was ihm zu diesem Gegenstand irgend wichtig erscheine, da er die Absicht habe, "die Kritik recht bald zu schreiben". Und schon am 22.2. 1937 teilt er ihm mit: "Ich habe die Arbeit nun sehr rasch fertiggemacht, weil es sich im Grunde nicht lohnt, allzuviel Zeit darauf zu verwenden". Weiter unten heißt es: "Auch bei diesem Aufsatz werden Sie die Spuren der Hast des hiesigen Lebens ent­decken".

Der Gedankenaustausch über den Artikel hielt auch nach der Fertigstel­lung des Manuskripts - zum Teil offenbar auf den Rändern der Druckfahnen - noch an. Nachdem Adorno sie erhalten hatte, reagierte er am 23.3.1937 "mit der größten Freude und der vollsten Zustimmung". Wie angedeutet, hatte er lediglich beim Verzicht auf immanente Widerlegung Kritik anzumelden. Außerdem wünschte er einen "freundlichen Satz über Heidegger" und auch "einige Komplimente an die Respektabilität der Wissenschaftlichen" zu strei­chen. Auf diesen Wunsch erwiderte Horkheimer, er habe den entsprechenden Abschnitt so geändert, daß "der Gegensatz zwischen dem Wissenschaftsopti­mismus der Logistiker und dem sozialen Pessimismus Heideggers als ein bloß scheinbarer bezeichnet" werde99 • Eine Passage über "gewisse politisch an-

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ständige Züge und einzelne Leistungen der Gruppe" habe er dagegen schlecht ganz wegfallen lassen können, "weil wir einzelne politisch anständige Akte und manche fachlichen Bestrebungen dieser Leute ja wirklich anerkennen".

3. Diskussion des Horkheimer-Artikels "Der neueste Angriff auf die Metaphysik"

3.1 Die Konzeption des Aufsatzes

Wenn man den im Frühjahrsheft 1937 der "Zeitschrift" erschienenen Aufsatz Horkheimers "Der neueste Angriff auf die Metaphysik" mit dem Material und den Gedankengängen vergleicht, die zwischen Horkheimer und Adorno seit Ende Oktober 1936 ausgetauscht worden waren, fällt zweierlei auf. Zum einen entspricht die Struktur des publizierten Artikels sehr weitgehend dem Adornoschen Expose-Vorschlag aus dem Brief vom 28.11.1936. Denn nach ei­ner längeren allgemeinen Einleitung und einer kürzeren Vorstellung des posi­tivistischen Programms befaßt sich Horkheimer zuerst mit

a) dessen Erfahrungsbegriff (S. 12-30) b) seiner Konzeption der Logik (S. 34-39) sowie c) der (angeblichen) Unmöglichkeit, diese beiden Elemente zu einem einheit­

lichen Programm zu verknüpfen (S. 39 ff.)I()().

Zum andern fällt auf, daß hierbei gegenüber Adornos Vorschlag die Rei­henfolge der Gesichtspunkte und auch der Umfang der einzelnen Teile so ge­ändert wurde, daß der Besprechung der Logistik nun erheblich weniger Ge­wicht beigemessen wird. Das ist nach dem Mißgeschick mit der beabsichtig­ten Kritik der Russellschen Typentheorie, die nun nur noch in einem Halbsatz erwähnt wird 101, vielleicht auch kein Wunder.

Die Einleitung (S. 4-11) und der Schlußteil (S. 47ff) des Aufsatzes gehen offensichtlich auf Überlegungen zurück, die im Briefwechsel Horkhei­mer / Adorno nur eine untergeordnete Rolle gespielt haben (zum Beispiel ei­nige Behauptungen über die Relation von logischem Positivismus einerseits und Liberalismus und Faschismus andererseits) oder dort überhaupt erst nach der Übersendung der Druckfahnen an Adorno besprochen worden sind (wie ein Vergleich der politischen Rolle Heideggers und jener der Positivisten). Es ist wahrscheinlich, daß sich diese Überlegungen aus Diskussionen im Institut ergeben haben. Denn zu diesen Themen finden sich auch schon in Marcuses Aufsatz "Zur Kritik des Liberalismus in der autoritären Staatsauffassung" von 1934 dezidierte Überlegungen.

Die genannten Abschnitte des Aufsatzes sollen im Folgenden der Reihe nach diskutiert werden, wobei besonderes Gewicht auf Horkheimers Kritik

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am positivistischen Erfahrungsbegriff und seine Behauptung eines Zusam­menhanges zwischen Positivismus und Liberalismus sowie Faschismus gelegt wird.

3.2 Kritik am positivistischen Erfahrungs- und Wissenschaftsbegriff

Gewiß werden im Horkheimers Aufsatz auch gelegentlich andere Themen dis­kutiert, die man unter diese Überschrift bringen kann.

Als wichtigste werde ich im Folgenden aber diese diskutieren:

a) die Unmöglichkeit, bei dem durch Erfahrung akkummulierten Wissen zwischen Wesen und Erscheinung (und unter Umständen trügerischer Oberfläche) der Fakten zu unterscheiden,

b) die Unmöglichkeit, Zukünftiges zum Gegenstand wissenschaftlicher Un­tersuchungen zu machen und insbesondere solches "Neue", auf das man eine umwälzende politische Praxis abstellen könnte, und

c) die Unmöglichkeit, zwischen solchen Tatsachen zu unterscheiden, die nach moralischen Kriterien zu bejahen oder zu verwerfen sind.

Zusammengenommen können diese Defizite als Konsequenzen einer Re­duktion der Vernunft auf den bloß rechnenden Verstand verstanden werden. Es muß deshalb geprüft werden, ob sie bestehen und ob Horkheimers eigene Auffassungen zu diesen Punkten geeignet sind, sie zu überwinden.

3.2.1 Wesen und Erscheinung

Es ist bereits angedeutet worden, daß die positivistische Unfähigkeit, zwi­schen Wesen und Oberfläche der Erfahrung zu unterscheiden, schon in den früheren Aufsätzen Horkheimers eine wesentliche Rolle als Abgrenzungskri­terium zwischen dem Positivismus und seiner Version eines Materialismus spielt. Diese Unterscheidung wird, obwohl sie offenbar von Hegel inspiriert ist, von den Materialisten der Frankfurter Schule anders interpretiert. So hat Marcuse in seinem Aufsatz "Zum Begriff des Wesens" vom Sommer 1936 eine historische Relativierung des Begriffspaares hervorgehoben: "Der mate­rialistische Wesensbegriff ist ein geschichtlicher Begriff. Das Wesen wird nur faßbar als das Wesen einer bestimmten "Erscheinung", im Hinblick von ihr, von ihrer faktischen Gestalt auf das, was sie an sich ist und sein könnte (aber faktisch nicht ist)" 102. Diese Relativierung wirft natürlich die Frage nach der "Wahrheit dieses Wesensbildes" bzw. genauer gesagt nach den "Kriterien für die objektive Wahrheit der innerhalb der dialektischen Theorie vorgenomme­nen Trennung von Wesen und Erscheinung" auf, und zwar auch, wie man for­dern möchte, bei ihrer Anwendung im Einzelfall. Dafür werden zwei Krite­rien angegeben" Als erstes nennt Marcuse die "Eignung des jeweiligen We­sensbegriffs, als Leitidee für die Erklärung eines gegebenen Zusammenhangs

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von Erscheinungen zu dienen". Es ist nun leicht zu sehen, daß dieses Krite­rium nicht notwendig im Widerspruch zum Positivismus steht. Im Gegenteil erinnert diese Marcusesche Explikation stark an die empiristische Erklä­rungsproblematik, innerhalb derer ja auch die empirischen Phänomene auf grundlegendere Tatbestände wie etwa Naturgesetze zurückgeführt werden, die ihrerseits Zusammenhänge zwischen verschiedenen (oder auch: verschie­denartigen) Phänomenen herstellen. Es scheint sogar, daß eine solche Rela­tion auch für Marcuse erforderlich ist, denn ohne einen solchen Bezug zu den erscheinenden Phänomenen würden etwaige Wesensbestimmungen beliebig werden. Wenn auf diese Weise Wesensbestimmungen immer noch an empiri­sche Phänomene gekoppelt blieben, hätte ein aufgeklärter Positivismus dage­gen gewiß nichts einzuwenden. Denn die von Marcuse zitierte Kritik Moritz Schlicks an der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung hatte ja gelautet: "Es gibt keine Tatsache, die zu einer ... Gegenüberstellung zweier irreduzibler Realitäten (nämlicher einer der Erscheinung, einer anderen des Wesens, der Verf.) zwänge oder auch nur berechtigte" 103.

Bei Marcuse wird nun aber, deutlich anders als im Positivismus, ein wei­teres Kriterium für die Wahrheit des in Theorien beschriebenen Wesens "in den geschichtlichen Kämpfen" gesehen: "Nur in ihnen kann die endgültige Ausweisung ihrer wesentlichen Wahrheiten statthaben. Und gerade aus der Geschichtlichkeit der dialektischen Begriffe erwächst eine neue Art von "All­gemeingültigkeit und Objektivität"" 104. Diese Explikation ist formal gese­hen natürlich kein Wahrheitskriterium, denn sie legt ja lediglich fest, wo et­waige Wesensbestimmungen "getestet" werden könnten (nämlich eben in ge­schichtlichen Kämpfen). Wie das im einzelnen geschehen soll, bleibt unklar, zumal der politische Erfolg als ein Wahrheitskriterium sozialwissenschaftli­cher Theorien zur Abgrenzung gegenüber dem Pragmatismus von der kriti­schen Theorie ausdrücklich ausgeschlossen wird 105. Wie auch immer ein handlungsbezogenes Wahrheitskriterium für Wesensbestimmungen aussehen mag, hätte es zumindest mit diesem den Nachteil gemeinsam, daß Entschei­dungen über den Wert einer Theorie immer nur "post festum" erfolgen könn­ten, während man ja häufig genug bereits "jetzt" wissen will, auf der Basis welcher Theorien (mit ihren unter Umständen konfligierenden Wesensbestim­mungen) man handeln soll.

Entweder unterscheidet sich die Explikation des Wesensbegriffs also nicht hinreichend vom Erklärungsbegriff des logischen Positivismmus oder sie führt zu nicht hinreichend durchdachten Problemen, die damit zusammen­hängen, daß man nicht erst durch einen eventuell in der Zukunft eintretenden Erfolg einer politischen Praxis darüber belehrt werden möchte, ob die ihr zu­grunde liegenden Wesenserkenntnisse wahr sind, sondern bereits dann, wenn man diese Praxis aufnimmt.

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Die !1n"Reschichte des Positivismus-Streits 37

3.2.2 Die Prognose des Neuen.

Die Möglichkeiten von Prognosen gerade auch in den Sozialwissenschaften haben beide Seiten der Kontroverse verschiedentlich betont. Für Neurath wa­ren Prognosen geradezu das "Um und Auf,l06 wissenschaftlicher Aktivität, da sie einerseits die Überprüfung von Hypothesen gestatten und andererseits die Grundlage für zukünftiges Handeln und insbesondere auch für gesell­schaftliche und insbesondere wirtschaftliche Planung auf großer Stufenleiter bilden. Neurath hat in den Sozialwissenschaften besonderes Augenmerk auf jene Phänomene gerichtet, die aus kausalen oder gar logischen Gründen Be­grenzungen von Prognosemöglichkeiten begründen, nämlich die reflexiven Prognosen (wie die selffulfilling prophecies) und die Unvorhersagbarkeit des künftigen Wissenszuwachses 107. Er hat sich allerdings erhofft, den Stellen­wert dieser Erscheinungen in Wirtschaft und Gesellschaft so eingrenzen zu können, daß sie nicht mit der Möglichkeit holistischer gesellschaftlicher Pla­nung in Konflikt kämen.

Ohne die genannten Phänomene zu thematisieren, hat Horkheimer in sei­nem Aufsatz "Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften" ganz ähnliche Thesen über die Prognose als Ziel der Wissenschaft und die Ab­hängigkeit der Verbesserung gerade sozial wissenschaftlicher Prognosen auch vom gesellschaftlichen Wandel vertreten 108.

Diesen Hintergrund muß man im Auge behalten, wenn man nun im "neu­esten Angriff' eine spezielle Prognoseproblematik behandelt sieht, nämlich "das Neue". Was verbirgt sich dahinter? Neurath hatte in seiner "Empirischen Soziologie" verkündet, daß man "gerade bedeutsame Wandlungen ... nicht im vorhinein" erfassen könne, also zum Beispiel keine Revolutionen, "wenn sie nicht eine übliche Erscheinung sind" 109. Diese Unmöglichkiet ergibt sich bei Neurath grob gesagt aus zwei Umständen: das zukünftige Auftreten gänzlich neuer Ideen kann man schon aus logischen Gründen nicht prognostizieren, weil man diese Ideen als Teil solcher Prognosen bereits jetzt beschreiben müßte und sie dadurch bereits jetzt erschaffe 11o• Das betrifft aber nur den Gehalt von Revolutionen. Der Zeitpunkt ihres Eintreffens sei nur vorhersag­bar, wenn man über ihr Auftreten Gesetze aufgestellt hätte, aus denen man dann zusammen mit gewissen Randbedingungen die gewünschten Prognosen gewinnen könnte. Diese Voraussetzung sei aber nicht erfüllt.

Horkheimer kritisiert nun am Empirismus, daß er schon deshalb, weil er "den Begriff des Neuen mit dem einer Unzulänglichkeit von Prognosen ver­wechselt" 111, im Grunde stets der Gegenwart verhaftet bleibe. Inwiefern es sich dabei tatsächlich um eine Verwechslung handelt, wird nicht ausgeführt. Auch sucht man im Aufsatz vergeblich nach positiven Schilderungen zur Frage, wie man "das Neue", also etwa den Inhalt und den Zeitpunkt von Revo­lutionen, denn tatsächlich prognostizieren könnte.

Allerdings ist die Thematik später in den Diskussionen zwischen Hork­heimer und Adorno im Vorfeld der "Dialektik der Aufklärung" noch einmal

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aufgegriffen worden. In einer Debatte über "positivistische Züge der Freud­schen Theorie" 112 vertritt Horkheimer geradezu die These: "Der Grundzug des Positivismus ist der, daß eigentlich prinzipiell das Neue ausgeschlossen werden soll'" 13. Wenig später greift Adorno das Thema im Zusammenhang von Diskussionen über Positivismus und materialistische Dialektik wieder auf und resümiert: "Wir hatten uns dahin verständigt, daß der Positivismus und wesentlich auch der Kritizismus das Neue eigentlich nicht kennen. Was ist nun aber das Neue eigentlich selbst?" 114 Nach einigen eher lyrischen als be­grift1ichen Anstrengungen Horkheimers, die schließlich in der Aussage gip­feln "das Neue ist das Unbekannte" 115 kritisiert Adorno, es bestehe "bei der völligen Emanzipation des Neuen vom Alten und der Fassung des Neuen als des absolut Verschiedenen die Gefahr von dessen völliger Auslaugung'" 16.

Horkheimer beendet die Debatte mit folgenden Bemerkungen "Neu und alt, man kann zwar das Alte bestimmen, aber nicht das Neue. Das Neue kann nur negativ bestimmt werden, indem man sich kritisch zum Alten verhält. Be­griff der kritischen Theorie ist das Organon des Neuen. Die Frage der Revolu­tion entscheidet über das Neue. Es ist nicht zufallig, daß alle positiven Aussa­gen über die klassenlose Gesellschaft entweder unmöglich oder dem revolu­tionären Bewußtsein geradezu widerstrebend sind".

Damit ergibt sich, daß Horkheimer am Positivismus - offenbar im Vor­griff auf noch nicht vorhandene eigene Ideen - ein Defizit kritisiert hatte, das ihm dann beim Versuch, diese Ansichten im Rahmen der kritischen Theorie zu präzisieren, als "unmöglich oder dem revolutionären Bewußtsein geradezu als widerstrebend" erscheint.

Diese Gegenprobe zu machen, scheint mir auch beim nächsten Themen­kreis die geeignete Kritikmethode.

3.3.3 Positivismus, Materialismus und Moral

Eine der wichtigsten Kritiken Horkheimers am Positivismus ist der Vorwurf, daß dieser nicht in der Lage sei, auf wissenschaftliche Weise zwischen Glück und Unglück, Gerechtigkeit und Unrecht zu unterscheiden. Diese Kritik trifft nach meiner Ansicht etwas Wesentliches. Zwar haben nämlich die Mitglieder des Wiener Kreises - anders als etwa die Angehörigen der Frankfurter Schule - auch einige systematische Untersuchungen zum Themenkreis Ethik, Moral, Werte und Normen veröffentlicht ll7 . Aber sie haben sich dabei doch alle vor den Schwierigkeiten gesehen, die sie sich für dieses Gebiet durch die Aufstellung allgemeiner empiristischer Sinnkriterien selbst geschaf­fen hatten. Entweder war danach eine wissenschaftliche Ethik nurmehr als deskriptive möglich, d.h. als zur empirischen Psychologie gehörende Be­schreibung der tatsächlich in der Gesellschaft befolgten Normen, die als sol­che empirisch wahr oder falsch ausfallen kann" 8, aber unter Gesichtspunkten der Rechtfertigung von allgemeinen Normen oder einzelnen Handlungen na­türlich irrelevant bleibt. Oder sie konnte als eine Disziplin gefaßt werden, die

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ethische Bewertungen nur emotiv auffaßte, d.h. als Ausdruck der jeweiligen subjektiven Zustimmung oder Ablehnung von Tatsachen. Während Moritz Schlick in seinem Buch "Fragen der Ethik" methodisch den ersten Weg be­schritten hat. haben Rudolf Carnap und Alfred Ayer den zweiten Weg eigentlich eher skizziert als tatsächlich ausgeführt l19 • Das ist dann durch R.L. Stevenson geschehen 120.

Die Folge dieser beiden Haltungen ist allerdings ganz ähnlich. Die erste ge­stattet überhaupt keine Bewertung einer gegebenen Gesellschaftsform, sondern kann nur angeben, wie sich deren Mitglieder tatsächlich moralisch verhalten, die zweite führt in einen dezisionistischen Relativismus, dem die Wahl zwi­schen Kapitalismus, Faschismus und Stalinismus quasi eine Frage des indivi­duellen Geschmacks wird. Diese fatale Konsequenz ist von einigen Kritikern des logischen Positivismus auch gegenüber Carnap und Ayer - jeweils mit Be­zug auf den Faschismus - hervorgehoben worden l21 .

Allerdings muß man bei den Positivisten zwischen ihrer wissenschafts­theoretisch begründeten Haltung gegenüber moralischen Fragen und ihrer praktischen Einstellung zu gegenwärtigen und zukünftigen gesellschaftlichen Zuständen sorgfaltig unterscheiden. Hans Reichenbach hat diesen Dualismus vielleicht am besten veranschaulicht: "Wer heute über den Sinn des Daseins et­was sagen will, der hüte sich vor Begriffsanalysen; er gehe als Angestellter oder Arbeiter in die Fabriken, oder als Arzt unter die Kranken, oder als Mitkämpfer in soziale Bewegungen - dann hat er zur Wertbildung unseres Zeitalters etwas zu sagen. Aber er verzichte auf rationale Konstruktionen - die überlasse er dem theoretischen Denken, der werfreien Erforschung der Sachverhalte, in der allein wissenschaftliche Philosophie bestehen kann" 122.

Auch Horkheimers Gesprächspartner Neurath hatte sich sowohl praktisch als auch publizistisch ausführlich mit Fragen der Moral und Politik befaßt. Es ist etwa an sein Sozialisierungsgutachten für die Münchener Republik oder an sein 1928 veröffentlichtes Buch "Lebensgestaltung und Klassenkampf' zu erinnern.

Aber im Ganzen ist nach meiner Ansicht Horkheimer völlig im Recht, wenn er kritisiert, daß solche praktischen Aktivitäten nicht in die Philosophie des Positivismus integriert sind.

Man muß nun freilich fragen, ob es damit bei Horkheimer und seinen An­hängern besser steht. Die effektivste Methode, die theoretische Möglichkeit ei­ner nicht um die Dimension der Praxis halbierten Rationalität auszuweisen, hätte natürlich in der Vorlage einer entsprechenden eigenen Konzeption bestan­den, die dann vielleicht auch auf unmittelbar politische Fragen wie die Herstel­lung sozialer Gerechtigkeit in unterschiedlichen Wirtschaftsformen hätte einge­hen sollen. Solche systematischen Anstrengungen sind seitens der kritischen Theorie leider ausgeblieben und die wenigen zeitgenössischen Andeutungen, die man bei Horkheimer finden kann, gehen sämtlich in dieselbe Richtung wie die der kritisierten Positivisten.

Horkheimer hat sich vor 1937 zu diesem Themenkomplex in den Ab­schlußpassagen seines Artikels "Materialismus und Metaphysik" und - aus-

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führlicher - in "Materialismus und Moral" geäußert. Dort vertritt er, grob gesagt, die ethische Konzeption eines dezisionistischen Eudaimonismus. De­zisionistisch ist dieses Programm, weil es ausdrücklich auf Begründungsan­sprüche verzichtet. So heißt es etwa: "Sie (die moralische Gesinnung, Verf.) ist keiner Begründung fähig - weder durch Intuition noch durch Argu­mente" 123, und dies habe die kritische Theorie im übrigen mit anderen philo­sophischen Strömungen gemeinsam: "Die Einsicht, daß die Moral nicht be­wiesen werden kann und auch kein einzelner Wert rein theoretischer Begrün­dung fähig ist, teilt der Materialismus mit idealistischen Strömungen der Philosophie" 124. Zu diesen "idealistischen Strömungen" muß man nach Horkheimers damals von Lenin übernommenen Sprachgebrauch des Begriffs "Idealismus" wohl auch den Positivismus zählen. Die Moral sei nun aller­dings einer Begründung nicht nur nicht fähig, sondern auch nicht bedürftig und mithin " ... das Streben der Menschen nach Glück (sei, der Verf.) als eine natürliche, keiner Rechtfertigung bedürftige Tatsache anzuerkennen ... " 125. In methodischer Hinsicht unterscheidet sich Horkheimers Moralauffassung also nicht von der der Positivisten und ein Unterschied kann lediglich darin er­blickt werden, daß die Positivisten die Begründungsunfähigkeit der Moral als einen Mangel ansehen, Horkheimer dagegen nicht.

Eine Gemeinsamkeit hinsichtlich der Begründungsfrage der Moral schließt natürlich Divergenzen in deren inhaltlichen Fragen nicht aus. Die soeben zitierte Horkheimerstelle charakterisiert seinen Standpunkt inhaltlich als einen eudaimonistischen. Dieser wird weiter dadurch gekennzeichnet, daß er zwar menschliches Glück und nicht, wie der Hedonismus, Lust als univer­selles Ziel menschlichen Strebens nennt, es aber ablehnt, einen Rangunter­schied zwischen Glück und "bloßer" Lust zu machen, etwa weil die Befriedi­gung der Lust, im Gegensatz zu "höheren" Motiven, der Begründung, Ent­schuldigung oder Rechtfertigung bedürfe 126.

Helmut Schnädelbach ist nach diesen Überlegungen durchaus zuzustim­men, wenn er die materialistische Moralphilosophie Horkheimers inhaltlich als eudaimonistisch und methodisch so eingeordnet hat, daß "sie nicht zufäl­lig in die Nähe der beiden wichtigsten und einflußreichsten normentheoreti­schen Positionen seiner Zeit: des Emotivismus in der Metaethik und des Dezi­sionismus" gerate 127 •

Dezisionistischer Eudaimonismus ist nun aber auch die ethische Position Neuraths, der im Kapitel "Marx und Epikur" seines 1928 erschienen Buchs "Lebensgestaltung und Klassenkampf' geschrieben hatte: "Die Lebenslage des Proletariats, sein Glück und Unglück sind durch die kapitalistische Le­bensordnung bedingt. Hilfe kann nur kommen durch die Umgestaltung der Ordnung, durch geschichtliche Umwälzung. So ist Marxismus eine Art So­zialepikureismus: Er fragt nach dem Glück der Menschen, dem Glück ganzer Klassen, dem Glück der Menschheit. Er sieht, daß es abhängig ist von gesell­schaftlichem nicht von individuellem Tun!" 128. Die einzige Differenz, die zwischen Horkheimer und Neurath in Dingen der moralischen Konzeption

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bestanden hat, ist der Umstand, daß der Eudaimonismus sich bei Neurath stärker auf handelnde Kollektive richtet, während Horkheimers Eudaimonis­mus - wie übrigens auch derjenige Moritz Schlicks - eher als individualisti­scher zu charakterisieren ist129 •

Nun hatte Neurath sein Buch bereits 1928 verfaßt und man könnte den­ken, er habe seine moralischen und politischen Ansichten vielleicht bis 1936 geändert. Daß das genaue Gegenteil der Fall ist, ergibt sich schon aus dem Umstand. daß er just im gleichen Heft der "Zeitschrift", in dem auch Hork­heimers Artikel erschienen war, sein theoretisches Konzept für eine verglei­chende Lebenslagenforschung weiterentwickelt hat, die den sonst häufig ziemlich unbestimmten moralischen Begriff des Glücks im Detail analysieren und interpersonell wie auch international vergleichbar machen sollte, ohne dabei - wie in der Literatur über den interpersonellen Nutzenvergleich üblich - nur auf monetäre oder monetär ausdrückbare Größen zurückzugehen 130.

Der Vollständigkeit halber sollte man erwähnen, daß die kritischen Theo­retiker später in den 40er Jahren noch gelegentlich Gedanken zur Rechtferti­gung der Moral entwickelt haben. So heißt es etwa in dem Bericht "Zur For­schungstätigkeit des Instituts. Forschungsprojekt über den Antisemitismus" von 1941: "Der Gesellschaftstheorie könnte es gelingen, einer skeptizisti­sehen Verachtung von Werturteilen (wie sie der "bewußte und aufrichtige Skeptizismus der Positivisten" praktiziere, der Verf.) zu entsagen, ohne der Versuchung eines normativen Dogmatismus zu erliegen (wie sie durch eine "Rückkehr zur alten Metaphysik, etwa zum Neuthomismus" gegeben sei, Verf.). Das wäre möglich, wenn man die gesellschaftlichen Institutionen und Aktivitäten auf die Werte bezöge, die sie selbst als ihre Maßstäbe und Ideale proklamieren. Auf diese Weise könnte man die Aktivitäten im Lichte der er­klärten Ziele und Absichten der Partei untersuchen, ohne diese als gültig oder evident anzuerkennen" 131 •

Dieses Programm führt jedenfalls für die hier diskutierte Problematik nicht weiter. Denn es befaßt sich mit rein empirischen Feststellungen (nämlich von der Art, ob bestimmte Normen tatsächlich befolgt werden oder nicht) und ist insofern mit Schlicks Auffassung einer deskriptiven Ethik identisch. Es könnte also z.B. die für die heutige Faschismusforschung wichtige Frage dis­kutieren, ob die Praxis des nationalsozialistischen Holocaust an den europäi­schen Juden im Einklang mit der Naziprogrammatik gestanden habe oder nicht. Das Beispiel zeigt deutlich genug, daß damit für politisch-moralische Wertungen noch überhaupt nichts gewonnen ist.

Das Ergebnis dieser Überlegungen über das Verhältnis von Positivismus, Materialismus und Moral ist widerum, daß sich trotz aller Horkheimerschen Polemik inhaltliche Unterschiede zum Positivismus nur in minimalen Nuan­cen feststellen lassen.

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3.3.4 Kritik am Physikalismus

Die bis hierhin erörterten Einwände richten sich gegen "den Positivismus" im allgemeinen. Sie berücksichtigen noch nicht seine seit etwa 1931 im Wiener Kreis aktuell gewordene Gestalt, die sich allgemein mit den Stichworten des Physikalismus und Enzyklopädismus, von Einheitswissenschaft und wissen­schaftlicher Einheitssprache sowie speziell für die Psychologie und Soziologie mit Vorstellungen von Behaviorismus und Sozialbehaviorismus charakterisie­ren läßt. Mit dieser damals aktuellen Tendenz des Positivismus hat sich Hork­heimer ebenfalls auseinandergesetzt.

Über den Physikalismus schreibt er allgemein: "Es wird behauptet, der Sinn aller Begriffe der Wissenschaft sei durch physikalische Bestimmungen zu definieren, und davon abstrahiert, daß schon der Begriff des Körperlichen im physikalischen Verstand ein ganz besonderes, subjektives Interesse, ja die gesamte gesellschaftliche Praxis involviert" 132 . Leider wird diese vielver­sprechende Idee weder an dieser Stelle noch in der beigefügten längeren, auf Husserls gerade erschienenes Buch "Die Krisis der europäischen Wissen­schaften und die transzendentale Phänomenologie" bezogenen Fußnote aus­geführt. Stattdessen heißt es zunächst weiter: "Der naiv-harmonistische Glaube, der solcher Idealvorstellung von Einheitswissenschaft und schließlich diesem ganzen neuen Empirismus zugrunde liegt, gehört der entschwinden­den Welt des Liberalismus an. Man kann sich mit jedem über alles verständi­gen"133.

Auf das Verhältnis von Positivismus und Liberalismus komme ich noch ausführlicher zurück. Im Zusammenhang mit dem Programm einer Einheits­wissenschaft jedenfalls ist die Gedankenverbindung zum Liberalismus unan­gemessen. Denn zwar wurde von den logischen Positivisten eine Verständi­gung durch die Idee der Überführung aller Behauptungen und Probleme in eine Einheitssprache in der Tat angestrebt. Dadurch sollte aber nicht nur Har­monie gepflegt, sondern gegebenenfalls Probleme als sinnlos ausgeschieden und die sinnvollen einer Entscheidung zugeführt werden, und das ist das ge­naue Gegenteil eines uferlosen harmonistischen Pluralismus.

Horkheimer hat gegen den Physikalismus schließlich auch eine Neuauf­lage der leninschen Machkritik ins Feld geführt: "Der moderne Empirismus mitsamt der Logistik ist eine Logik der Monade; die Kritik ,die sie wegen ih­res "Solipsismus" erfahren hat, ist ganz berechtigt" und in der Fußnote dazu heißt es: "Vom solipsistischen Charakter des modernen Positivismus war im Text nicht noch einmal die Rede. Seit Lenins Buch gegen den Empiriokritizis­mus ist er wiederholt erörtert worden. Inzwischen hat sich nichts geändert, es sei denn, daß die positivistischen Formulierungen größere Vorsicht zeigen. Nicht daß es kein Bewußtsein und psychisches Leben gebe, sondern daß die psychologischen Begriffe auf physikalische zurückzuführen seien, lautet jetzt die These die freilich auf dasselbe hinausläuft" 134. Dies ist in verschiedenen Hinsichten eine erstaunliche These. Denn zunächst einmal hatte ja Horkhei-

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mer selbst zu denen gehört, die Lenins Solipsismusvorwurf gegen Mach erör­tert hatten und zwar so: "Dieser Vorwurf trifft vieHeicht die Mehrzahl der Schüler, Mach selbst gegenüber ist er ein Irrtum" 135. Wie Gunzelin Schmid Noerr in seiner editorischen Vorbemerkung zu Horkheimers Lenin-Rezen­sion betont hat, verhält sich Horkheimer in seinem Aufsatz "Der neueste An­griff auf die Metaphysik" wesentlich kritischer gegenüber Mach und dem Positivismus 136 und, so möchte man hinzufügen, wesentlich unkritischer ge­genü~er Lenin, da er ihn ja als quasi autoritativen Zeugen gegen die Positivi­sten anruft. Inwiefern der Solipsismusvorwurf nun die Schüler Machs im Wiener Kreis trifft, erörtert Horkheimer leider nicht. Wie steht es damit?

Schon für die phänomenalistische Entwicklungsstufe des Wiener Kreises, die der physikalistischen Wende vorausging, trifft der Solipsismusvorwurf nur bedingt, da etwa Carnap zwischen inhaltlichem ("metaphysischem") und methodischen Solipsismus genau unterschieden und sich lediglich zu letzte­rem bekannt hatte 137 • Für die physikalistische Phase trifft er dagegen über­haupt nicht, da das Ich hier nicht jene herausgehobene RoHe spielt wie noch im methodischen Solipsismus.

Wie schon oben angedeutet, wurde die Anwendung des Physikalismus auf die Psychologie und die Soziologie und die auf diese Weise zustande gebrachte Einheitswissenschaft auch von einigen logischen Positivisten als der wundeste Punkt des Programms empfunden 138. Horkheimers Kritik geht darüber in­haltlich nicht hinaus, wenn er etwa den aHzu programmatischen Charakter des geforderten Sozialbehaviorismus in Passagen wie dieser kritisiert: "Die Em­piristen pflegen zu sagen, zwischen Physik und Theorie der GeseHschaft be­stehe kein grundsätzlicher Unterschied, diese habe es nur noch nicht so weit gebracht" 139 • Der Unterschied zur innerpositivistischen Selbstkritik besteht lediglich im polemischen TonfaH, den Horkheimer in diesem Zusammenhang anschlägt: "Der sektenhafte Geist dieser harmonischen Weltansicht ist auch da vorhanden, wo man zwar fortfährt, sich einer lebenden Sprache zu bedie­nen, aber mit einem überlegenen Bewußtsein, daß man es "eigentlich" meine wie die Physik und nur der Bequemlichkeit halber grob verfahre,,'40.

3.3.5 Kritik an der Logistik

Wie schon erwähnt, wird in Horkheimers Kritik an der Logistik im Vergleich zu Adornos ursprünglichen hochfliegenden Absichten nun geringeres Ge­wicht beigemessen. Im Zentrum steht dabei die Kritik an ihrem formalen Cha­rakter: "Die Trennung von Form und Inhalt ist entweder undurchführbar oder unzutreffend" 141 •

Von einigen historischen Bemerkungen, die belegen soHen, daß die klas­sische und traditioneHe Logik eine materiale gewesen sei, "die sich selbst als Moment der jeweils erreichten inhaltlichen Erkenntnis versteht" 142 , können wir hier absehen. Denn Horkheimer hätte zwar bei einem Blick in die Aristo­telische SyHogistik auffallen müssen, daß diese Logik sehr wohl formal ver-

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fährt (etwa Variable einführt und formale Schlußregeln verwendet), aber die Untersuchungen etwa von Lukasiewicz l4" Patzig l44 und anderen, die diesen Standpunkt ausführlich untermauert haben, sind erst später erschienen. Die Frage, wie die klassische und traditionelle Logik aufzufassen sei, ist aber für die Beurteilung der modernen Logistik irrelevant.

Gegen letztere hatte Horkheimer schon im Brief an Adorno vom 8.12.1936 ins Feld geführt: "Daß die sogenannte "Iogische" Analyse von Sätzen ohne ihre Bedeutungsanalyse sinngemäss nicht zu leisten ist, erscheint auch mir als einer der wichtigsten Ansatzpunkte der Kritik. Auch ich habe dabei an das Pa­radoxon und die Typenlehre gedacht. Doch zeigt sich bereits bei der Konzep­tion einer syntaktischen Logik als Fachdisziplin das gleiche Problem. Auch in der syntaktischen Logik wird zum Beispiel der Unterschied zwischen Sätzen und sinnlosen Wortkombinationen gemacht. Die Entscheidung erfolgt auf Grund des Nachweises, daß die in den Sätzen verwandten Begriffe Gattungen angehören, die nach den bestimmten Regeln der Syntax der betreffenden hi­storischen Sprache zu Sätzen verbunden werden dürfen oder nicht. Abgese­hen davon, daß diese Regeln selbst nur auf Grund und im Zusammenhang der gesamten inhaltlichen Erkenntnis, die überhaupt in der gegebenenen Periode vorliegt, zureichend entwickelt werden können, läßt sich auch die Zugehörig­keit eines bestimmten Begriffs zu einer bestimmten Gattung im syntaktischen Sinn nur in groben Fällen ohne eine Bedeutungsanalyse bestimmen, die not­wendig zu sachlichen Problemen führt". Diese Überlegungen bilden auch den Kern der im Artikel angeführten Kritik. Was ist davon zu halten?

Zunächst einmal ist es durchaus zutreffend, daß im syntaktischen Teil der Logik zwischen verschiedenen Kategorien von Zeichen unterschieden wird, etwa zwischen Prädikat- und Individuenausdrücken. Diese Unterscheidung wird in der Tat im Hinblick auf eine spätere Interpretation dieser Ausdrücke eben durch Prädikate oder durch Individuen getroffen, und insofern kann man mit Recht behaupten, daß bereits für die Konstruktion des syntaktischen Teils der Logik gewisse inhaltliche Überlegungen eine Rolle spielen, "die notwen­dig zu sachlichen Problemen führen". Aber von dieser These ist doch die ganz phantastische Vorstellung zu unterscheiden, daß syntaktische Regeln "nur auf Grund und im Zusammenhang der gesamten inhaltlichen Erkenntnis, die überhaupt in der gegebenen Periode vorliegt, zureichend entwickelt werden können", wie sie in abgeschwächter Form auch im Aufsatz auftaucht l45 • Nun formulieren diese Regeln nur die grammatischen Formregeln einer Sprache (sei sie nun natürlich oder künstlich). Wäre Horkheimers These wahr, wäre nicht nur dies ganze Regelwerk, sondern auch die grammatische Korrektheit jedes einzelnen Satzes von jedweden Änderungen dieser "gesamten inhaltli­chen Erkenntnis" abhängig. Man könnte also erst nach dem Erlernen des ge­samten verfügbaren Wissens seiner Zeit zum ersten Mal versuchen, einen grammatisch korrekten Satz zu bilden und müßte dabei noch immer fürchten, daß dieser inkorrekt wäre, wenn sich mittlerweile dieses Wissen an irgendeiner Stelle geändert hätte. Diese Auffassung kann nicht so ganz in Ordnung sein.

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Selbst wenn sie es wäre, hätte sie noch mit einer Kritik der Logistik wenig zu tun, denn diese beginnt, ein syntaktisches Verständnis dieser Disziplin vor­ausgesetzt, erst mit dem Übergang von solchen syntaktischen Formregeln zu logischen Umformungsregeln.

Schließlich sei noch erwähnt, daß sich in Horkheimers Aufsatz auch erste Formulierungen finden, die die später im Positivismusstreit weithin disku­tierte Idee vorwegnehmen, der formalen Logik bzw. "der Logistik" müsse man als Gegenbild die Dialektik entgegensetzen: "Der Forderung an den Phi­losophen, sein "instinktives Gegengefühl" zu überwinden und erst einmal Logistik zu lernen, die von dieser Schule immer wieder verkündigt wird, ist entgegenzuhalten, daß man die Anfangsgründe der Dialektik kennen muß, be­vor man sie wiederlegt'''46. Allerdings ist hier noch nicht davon die Rede, daß die Dialektik in sachlicher Konkurrenz zur Logistik stehe. Denn der Ver­gleich bezieht sich ja nur auf die nötige Bekanntschaft mit den jeweiligen Dis­ziplinen. Deren inhaltliches Verhältnis zueinander soll hier noch nicht disku­tiert werden, weil dies Thema erst im Positivismusstreit der 60er Jahre eine größere Rolle gespielt hat.

3.4 Ideologiekritik

Für wichtiger als alle immanenten Widerlegungsversuche des Positivismus hat Horkheimer seine im "Neuesten Angriff' angestellten Überlegungen über die soziale und politische Funktion dieser Lehre genommen. Nach Ador­nos Warnung, "den Herren" sei bei ihrem allgegenwärtigen "Sekuritätsstre­ben" mit derlei Bemerkungen nicht beizukommen, könnte man vermuten, daß sie solche Ideen als irrelevant beiseite geschoben hätten. Das ist aber nicht der Fall.

Im Gegenteil waren Horkheimer und Neurath in der Frage der Zulässig­keit und auch Relevanz derartiger Untersuchungen auf abstrakter Ebene voll­kommen einig. Denn Horkheimer hatte an Neurath, auf mögliche Aversionen Carnaps gegen ideologiekritische Diskussionen eingehend, geschrieben: "Ich fürchte nur, daß ihm die Gegensätze, auf die ich in der Arbeit hinweise, wenig interessieren. Das Problem ist mehr die gesellschaftliche Funktion des logi­schen Empirismus als philosophische Richtung und nicht so sehr die eine oder andere Einzelfrage der Wissenschaftslogik. Das hält er wahrscheinlich für be­langlos" 147. Auf diese Passage, die im übrigen deutlich Horkheimers Ge­wichtung der verschiedenen Aspekte seines Aufsatzes beleuchtet, hatte Neu­rath geantwortet: "Ich glaube nicht, daß Carnap irgend eine wissenschaftliche Frage für belanglos hält. Die Frage, die Sie anschneiden über die soziale Funktion unserer Bewegung, ist doch absolut wissenschaftlich. Ich jedenfalls interessiere mich brennend dafür" 148. Als ob Neurath geahnt hätte, was auf ihn zukommen könnte, setzte er freilich hinzu: "Es fragt sich nur, wie gut sie beantwortet wird, und ob die Antwort in empiristischer Weise erfolgt".

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Ich möchte nun behaupten, daß gerade die ideologiekritische Seite der Horkheimerschen Arbeit, auf die er so großen Wert legte und wo er sich wohl auch eine größere Kompetenz zutraute als etwa in Dingen der Logik, gleich­zeitig die inhaltlich dürftigste und methodisch angreifbarste des Aufsatzes darstellt.

3.4.1 Heidegger und der Positivismus

Der Aufsatz beginnt nämlich mit Reflexionen über das Verhältnis von Wissen­schaft und Metaphysik. Dabei werden die philosophischen Reaktionen auf dieses Spannungsverhältnis nach ihren Extremen geordnet. Am einen Ex­trem, bei dem die Bedürfnisse der positiven Wissenschaften ganz vernachläs­sigt und umso mehr dasjenige der Metaphysik befriedigt wird, ist die "neuro­mantische Metaphysik" angeordnet, als deren Hauptrepräsentant in der Ge­genwart Heidegger zwar nicht namentlich erwähnt wird, aber ganz offensichtlich gemeint ist l49 . Am anderen Ende der Skala findet sich der Po­sitivismus mit seiner Verabsolutierung des empirischen Wissenschaftsbe­triebs und der korrespondierenden Verurteilung der Metaphysik als sinnloses Gerede. Horkheimers These ist nun - übrigens von der formalen Struktur her seinem früheren Aufsatz "Der Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Phi­losophie" ganz parallel150 - , daß sich die beiden Extrempositionen nicht wirklich ausschließen, sondern im Gegenteil in politischer Hinsicht konver­gieren: "Wenn ihr Zusammenhang mit der Existenz der totalitären Staaten nicht offen zutage liegt, so ist er doch nicht schwer zu entdecken. Neuromanti­sche Metaphysik und radikaler Positivismus gründen beide in der traurigen Verfassung eines großen Teils des Bürgertums, das die Zuversicht, durch ei­gene Tüchtigkeit eine Besserung der Verhältnisse herbeizuführen, restlos auf­gegeben hat und aus Angst vor einer entscheidenden Änderung des Gesell­schaftssystems sich willenlos der Herrschaft seiner kapitalkräftigsten Grup­pen unterwirft" 151 .

Auf die Begründung dieser überraschenden These wird in der Folge keine besondere Sorgfalt verwandt, obwohl etwa die bereits publizierten Bemerkun­gen Carnaps über Heideggerl52 und Heideggers Ansichten über Carnapl53 den besten Anlaß hätten bieten können, einmal mehr die analytische Kraft der Unterscheidung von Wesen und Erscheinung dadurch zu erweisen, daß man den offensichtlichen Antagonismus dieser Positionen als nur oberflächlichen Schein entlarvte und demgegenüber ihre Wesensverwandtschaft aufwies. Stattdessen hat sich dann aber die ganze Wucht der Horkheimerschen Polemik ausschließlich gegen den Positivismus gerichtet. In diesem Sinne schreibt er dann auch im Brief an Adorno davon, er habe die Scheinbarkeit des Unter­schieds von Heidegger und den Positivisten als Problem lediglich angemeldet, "man sollte ihm gelegentlich nachgehen"154. Das ist meines Wissens in der Folge nicht mehr geschehen, wenn man von dem kontingenten Umstand ab­sieht, daß Adorno seine unter dem Titel "Jargon der Eigentlichkeit" veröffent-

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lichte Polemik gegen die Lebensphilosophie und gegen Heidegger 1964, also kurze Zeit nach dem Beginn des berühmten Positivismusstreits in der deut­schen Soziologie, hat erscheinen lassen.

Wenn ich mir nun erlaube, der Horkheimerschen These "gelegentlich nachzugehen", komme ich zu dem Ergebnis, daß sie völlig abwegig ist. Zwar bedarf sie einer gewissen Präzisierung, um überhaupt diskutiert werden zu können. Denn in welcher Weise neuromantisehe Metaphysik und Positivismus in der beschriebenen "traurigen Verfassung des Bürgertums" gründen, wird ja nicht ausdrücklich gesagt. Aber man darf wohl annehmen, daß sich dessen trauriger Zustand bei seinen beiden ideologischen Abkömmlingen so äußert, daß diese

a) der "Angst vor einer entscheidenden Änderung des Gesellschaftssystems" und

b) der willenlosen Unterwerfung unter die "Herrschaft seiner kapitalkräftig­sten Gruppen"

philosophischen Ausdruck verleihen bzw. sie sogar legitimieren. Davon kann aber weder im Fall der Positivisten noch Heideggers die Rede

sein. Denn die meisten logischen Positivisten hatten nicht nur keine Angst vor einer entscheidenden Änderung des Gesellschaftssystems, sondern haben ihre eigenen Arbeiten geradezu im Zusammenhang mit einer derartigen Änderung gesehen I". Insbesondere Neurath hat sich sowohl bei der Novemberrevolu­tion von 1918 als auch danach im "Roten Wien" bis zu seiner Emigration 1934 und bei seinen Arbeiten im Rahmen des ersten Fünfjahrplans in Moskau in den Dienst einer solchen Änderung gestellt. Von einer willenlosen Unterwer­fung unter die Herrschaft der kapitalkräftigsten Gruppen des faschistischen Systems kann schon deshalb keine Rede sein, weil fast alle logischen Positivi­sten vor Faschismus und Nationalsozialismus in die Emigration geflohen sind. Am ehesten könnte man im Gegenteil den Aufnahmeantrag Adornos in die Reichsschrifttumskammer als eine solche "willenlose Unterwerfung" charak­terisieren.

Aber auch auf Heidegger trifft die Horkheimersche These nicht zu. Ob Heidegger, der vor 1933 mit dem linken, "sozialistischen" Flügel des Natio­nalsozialismus sympathisiert zu haben scheint i56 , Angst vor einer entschei­denden Änderung des Gesellschaftssystems gehabt hat oder in seiner philoso­phischen Arbeit so verstanden werden kann, daß diese unbewußt eine solche Angst ausdrückt, weiß ich nicht. Daß er sich aber nach der nationalsozialisti­schen Machtübernahme dem Faschismus lediglich "unterworfen" habe, und zwar "willenlos", davon kann angesichts seines großen und selbst für deutsche Hochschullehrer ungewöhnlichen Engagements für den Nationalsozialismus überhaupt keine Rede sein. Vielmehr deutet alles darauf hin, daß er den grö­ßenwahnsinnigen und in Anbetracht der Verhältnisse politisch naiven Plan verfolgt hat, sich zum "Führer des Führers" aufzuschwingenI57 • Seine Rek-

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toratsübernahme in Freiburg, seine führende Rolle bei der Einführung des Führerprinzips an den Hochschulen Badens und seine Anstrengungen, im Verein mit einigen anderen nationalsozialistischen Hochschulrektoren den Hochschulverband gleichzuschalten, zeigen, daß er wenigstens für seinen Aufstieg in die alleinige Führungsrolle der deutschen Wissenschaft auch einen Plan gehabt hat' 58 .

Zweifellos sind nicht alle diese Heideggerschen Aktivitäten und Planun­gen der deutschen und internationalen Öffentlichkeit schon in den 30er Jahren bekannt gewesen. Aber es ist schon erstaunlich, wie konsequent auch Heideg­gers spektakuläre öffentliche Auftritte von Horkheimer und seinem Kreis ig­noriert wurden 159. Anders kann man es wohl kaum nennen, wenn in der "Zeitschrift" nur eine einzige ziemlich kurze Besprechung einer Schrift von Heidegger zu finden ist, nämlich folgende Bemerkungen über seine Rektorats­rede "Die Selbstbehauptung der deutschen Universität", die in einem 21 Titel umfassenden Sammelreferat von nationalsozialistischen Äußerungen zur "Hochschulreform" versteckt sind:

"Die Philosophie der Deutschheit ist auch die der Hochschule. Ein so re­präsentativer Philosoph wie Heidegger verkündet in seiner Rektoratsrede: Wir wollen uns selbst. Wissenschaft ist Wissen um das Volk und seinen Auf­trag. Die Aufgabe der Studenten wie der Lehrer ist Dienst am Volk in der drei­fachen Form des Arbeitsdienstes, des Wehrdienstes und des Wissensdienstes. So erhalten sie die geistige Welt, die einem Volke die Grösse verbürgt. Die geistige Welt aber bedeutet Macht der tiefsten Bewahrung seiner erd- und blut­haften Kräfte als Macht der innersten Erregung und weitesten Erschütterung seines Daseins" 160.

Irgendeine Kritik an oder gar Polemik gegen Heidegger ist in diesen gera­dezu "positivistisch" beschreibenden Bemerkungen nicht festzustellen. Da­bei hätte eine genauere philosophische Analyse gerade hier schönstes An­schauungsmaterial über den Zusammenhang gewisser Spielarten der Meta­physik mit dem Nationalsozialismus ergeben können. Denn bevor Heidegger in seiner Rektoratsrede auf seine berühmte Trias von Arbeits-, Wehr- und Wis­sensdienst zu sprechen kommt, knüpft er noch einmal ganz ausdrücklich an seine Freiburger Antrittsvorlesung mit dem Titel "Was ist Metaphysik?" an 161 •

Warum Horkheimer und sein Kreis jede Auseinandersetzung mit diesem in der Tat "repräsentativen Philosophen" in der Nazizeit vermieden haben, bleibt unklar. Ob eine trotz Heideggers offensichtlicher Hinwendung zum Na­tionalsozialismus andauernde Wertschätzung durch einzelne "Frankfurter" wie Horkheimer und insbesondere Marcuse oder vielleicht Uneinigkeiten in der Beurteilung seiner Haltung dazu geführt haben, bedarf besonders nach den neuesten Veröffentlichungen über Heideggers politische Rolle im Natio­nalsozialismus genauerer Untersuchungen l62 • Es ist ja nicht uninteressant zu wissen, daß sich etwa Marcuse im selben Zeitraum, nämlich den frühen 30er Jahren, von einer Verbindung von Marx und Heidegger eine Weiterentwick-

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Die Vorgeschichte des Positismus-Streits 49

lung sozialistischen Gedankenguts erhofft hat, als letzterer sich immer mehr dem Nationalsozialismus annäherte '63 .

4.4.2 Liberalismus, Kapitalismus und Positivismus

Daraus, daß der Vergleich zwischen Heidegger und den Positivisten hinsicht­lich ihrer jeweiligen politischen Ansichten, Haltungen und Aktivitäten im Dritten Reich verunglückt ist. folgt freilich nicht, daß Horkheimer nicht doch mit einigen Thesen zur politischen Rolle des Positivismus recht haben könnte. Auf diese Funktion kommt er im Aufsatz an verschiedenen Stellen zu spre­chen. Die wichtigste davon ist wohl diese: "Die Ideologie, die Identifikation des Denkens mit den Fachwissenschaften, läuft angesichts der herrschenden ökonomischen Gewalten, die sich der Wissenschaft wie der gesamten Gesell­schaft für ihre Zwecke bedienen, in der Tat aufVerewigung des gegenwärtigen Zustands hinaus. Die erwähnten liberalistischen Gruppen, deren Bewußtsein durch diese Philosophie am besten umrissen wird, haben ihn mit ihrer zuneh­menden Ohnmacht in Europa mindestens seit vielen Jahrzehnten als den na­türlichen angesehen und finden angesichts seiner Akzentuierung in den totali­tären Staaten eben diese vom logischen Empirismus propagierte Sauberkeit als gegebenes theoretisches Verhalten,d64. Leider vermißt man im Aufsatz eine genauere Begriffsbestimmung des "Liberalismus" wie auch Auskünfte, wie man sich die Zuordnung des Positivismus zum Liberalismus bzw. "libera­listischen Gruppen" im einzelnen zu denken habe. Es ist deshalb nicht nur legitim '65 , sondern auch erforderlich, einige frühere Äußerungen aus dem Umkreis Horkheimers sowie einige spätere von ihm selbst kommentierend zu Rate zu ziehen.

In seiner ersten Arbeit für die Zeitschrift, die 1934 unter dem Titel "Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung" erschien, hat Marcuse die These vertreten, daß "der Liberalismus" nicht etwa, wie es die umfängliche Polemik der Nationalsozialisten gegen ihn nahezulegen schien, eine dem Faschismus entgegengesetzte Ideologie ist. Vielmehr werde diese Polemik nur entwickelt, um davon abzulenken, daß beide die gleiche ökonomische und soziale Struktur aufwiesen. Dieses Argumentationsziel wird aber nur erreicht, weil eine große Vielfalt von verschiedenen Liberalis­musbegriffen benutzt wird, und Thesen, die für einen oder mehrere davon wahr oder plausibel erscheinen, verwendet werden, um Folgerungen für die anderen abzuleiten. In Marcuses Aufsatz lassen sich auf drei Seiten minde­stens vier verschiedene Begriffe von Liberalismus unterscheiden, nämlich

a) ein ökonomischer (im Sinne von Kapitalismus oder historisch auf eine be­stimmte Periode eingeschränkt: im Sinne von Kapitalismus der freien Kon­kurrenz)

b) ein sozialer (im Sinne von: Besitzbürgertum) c) ein politischer (im Sinne von: politischem Linksliberalismus) und schließlich

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d) ein wirtschaftstheoretischer (im Sinne einer wissenschaftlichen Rechtferti­gung des erstgenannten).

Daß die Argumentation kurzschlüssig ist, zeigt sich etwa an folgendem Zitat: "Bei aller strukturellen Verschiedenheit des Liberalismus und seiner Träger in den einzelnen Ländern und Epochen bleibt die einheitliche Grund­lage erhalten: die freie Verfügung des individuellen Wirtschaftssubjekts über das Privateigentum und die staatlich-rechtlich garantierte Sicherheit dieser Verfügung. Alle ökonomischen und sozialen Forderungen des Liberalismus sind wandelbar um dies eine stabile Zentrum - wandelbar bis zur Selbstauf­hebung. So sind selbst gewaltsame Eingriffe der Staatsgewalt in das Wirt­schaftsleben oft genug während der Herrschaft des Liberalismus geschehen. sobald es die bedrohte Freiheit und Sicherheit des Privateigentums verlangte, besonders gegenüber dem Proletariat. Der Gedanke der Diktatur und der au­toritären Staatsführung ist dem Liberalismus (wie wir gleich sehen werden) durchaus nicht fremd; und oft genug sind in der Zeit des pazifistisch­humanitären Liberalismus nationale Kriege geführt worden" 166.

Gewiß sind in der Zeit, als es im Deutschland einen politischen Linksli­beralismus noch gab, Kriege wie der erste Weltkrieg geführt worden. Aber daraus folgt kein Widerspruch, sondern nur, daß er sich als politische Minder­heitsposition mit seinen Ideen des Pazifismus und des Völkerbundes nicht hat durchsetzen können l67 • Nicht anders verhält es sich mit Marcuses These, daß "dem Liberalismus" der Gedanke der Diktatur und der autoritären Staatsfüh­rung nicht fremd ist: zum Beweis wird herangezogen, daß ein Vertreter eines theoretischen Wirtschaftsliberalismus, nämlich Ludwig von Mises, sich posi­tiv gegenüber dem italienischen Faschismus ausgesprochen hat l68 . Soll dar­aus folgen, daß allen anderen verwendeten Begriffen von Liberalismus und ih­ren Vertretern der Gedanke der autoritären Diktatur ebenfalls nicht fremd ge­wesen ist?

Einige "Frankfurter" haben sich mit dem Verhältnis von Liberalismus und Faschismus etwas mehr Mühe gegeben. Namentlich Pollock hat schon in seinen "Bemerkungen zur Wirtschaftskrise" von 1933, die übrigens einige Überlegungen enthalten, die parallel auch in Neuraths Wirtschafts- und Ge­sellschaftsmuseum angestellt wurden 169, im Rahmen einer ökonomischen Analyse zu zeigen versucht: "Was zu Ende geht, ist nicht der Kapitalismus, sondern nur seine liberale Phase. Ökonomisch, politisch und kulturell wird es in Zukunft für die Mehrzahl der Menschen immer weniger Freiheiten geben" 170.

Horkheimer hat diese Einsicht 1939 in seinem berühmten Aufsatz "Die Juden und Europa" erheblich zu der These verschärft, der Faschismus gehe mit Zwangsläufigkeit aus dem Liberalismus hervor, weil die Krise des Kapita­lismus keine andere politische Lösungsmöglichkeit zulasse. Seinem vielzi­tierten Diktum: "Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen", folgt nämlich die Bemerkung: "Mag das Loblied,

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das die Intellektuellen auf den Liberalismus anstimmen, oft schon zu spät kommen. da die Länder rascher in totalitäre sich umwandeln, als die Bücher Verleger finden, sie geben die Hoffnung nicht auf, daß irgendwo die Refor­mierung des westlichen Kapitalismus glimpflicher sich abspielt als die des deutschen und gut empfohlene Freunde doch noch eine Zukunft haben. Aber die totalitäre Ordnung ist nichts anderes als ihre Vorgängerin, die ihre Hem­mungen verloren hat" 171.

Die sich aus dieser Diagnose ergebende fatalistische Konsequenz, daß auch die westlichen Demokratien England und die USA zwangsläufig in den Faschismus hineinlaufen müssen, ist nun aber nicht eingetroffen, und im Ge­genteil haben auch diese erheblich dazu beigetragen, daß jener militärisch nie­dergeworfen wurde. Dieser Beobachtung hat auch Horkheimer Jahrzehnte später dadurch Rechnung getragen, daß er dem Vorwort zur Neuauflage sei­ner Aufsätze eine Abschwächung seiner Liberalismuskritik beigegeben hat, die sich in den neulich veröffentlichten nachgelassenen Schriften zu einer völ­ligen Revision steigert172 • Horkheimer hat daraus freilich nicht die Konse­quenz gezogen, die früher unter anderem als Apologeten des Liberalismus kritisierten Positivisten nun - nach seiner Neubewertung - freudig zu begrü­ßen, sondern hat diese Kritik sogar noch erweitert.

Ich erwähne diese Sachverhalte hier etwas ausführlicher, um anzudeuten, daß schon die Liberalismuskritik des "Instituts" auf schwankendem Boden steht 173. Das ist natürlich keine gute Basis für eine Positivismuskritik, die die Wahrheit einer solchen Diagnose des Liberalismus ausdrücklich voraussetzt.

Daß die meisten logischen Positivisten keine Vertreter des Liberalismus in irgendeiner der oben genannten Bedeutungen waren, ist schon betont wor­den. Welchen Eindruck politische Linksliberale etwa von den Sozialise­rungsplänen Neuraths hatten, mag man daran ermessen, daß ein Parteitags­redner der linksliberalen DDP sein offenbar weithin bekanntes Programm der "Vollsozialisierung" als "tolle Sozialisierung" parodierte l74 •

Horkheimer gibt nun durchaus zu, daß logische Positivisten in ihrem per­sönlichen Verhalten politisch akzeptabel gehandelt hätten: "Wie Ernst Mach ein fortschrittlicher Mensch gewesen ist, so haben sich viele Mitglieder (des Wiener Kreises, der Verf.) für freiheitliche Ziele eingesetzt": "Nach ihrer Doktrin ist das zufällig. Sie bietet so wenig ein Gegenmittel gegen politischen wie spiritistischen Aberglauben" 175. Dies sei schon in der Vergangenheit der Fall gewesen und setze sich nun in der Gegenwart fort. Genausowenig, wie man vom Standpunkt des Positivismus etwas gegen den mittelalterlichen He­xenglauben hätte einwenden können, könnte nun etwas gegen den grassieren­den Antisemitismus gesagt werden. Wie verhält es sich damit?

Die Einschätzung, "die Empiristen hätten angesichts einer größeren Quantität von Protokollsätzen nicht einmal auf der Unwahrscheinlichkeit (des Hexenglaubens, der Verf.) bestehen dürfen"l76, ist gänzlich unzutreffend. Denn dieser hatte einige wesentliche deskriptive Elemente. Hexen wurde nämlich allgemein die Fähigkeit zugeschrieben, jederlei Schaden zu bewirken

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wie Krankheit, Seuchen, Tod, etc. Derartige Behauptungen scheitern nun nicht an "den Mitteln streng rationalistischer Philosophie" 177 , wie Horkhei­mer glaubte, sondern an der von Empiristen empfohlenen Kontrolle durch Er­fahrung, und sind nicht ganz zufällig historisch auch so bekämpft worden. So­dann wären die verschiedenen individuellen Tests auf ein Vorliegen einer ver­muteten Hexeneigenschaft (wie Nagel- oder Wasserprobe) Ansatzpunkte für empiristische Kritik. Sie sind nämlich von ihrer logischen Struktur sämtlich so angelegt, daß sie in allen denkbaren Fällen zu ungunsten der Beschuldigten ausgehen, und dies ist historisch auch von Kritikern des Hexenwahns ange­führt worden. Der logische Positivismus hätte sich an diesem historischen Beispiel also bewährt.

Über die Unfähigkeit des Positivismus, gegen Antisemitismus und andere Minderheitenhetze vorzugehen, hat Horkheimer Folgendes ausgeführt: "Es gehört geradezu zum Wesen dieses Begriffs der Erkenntnis, daß sie, wenn neun Zehntel aller Menschen Gespenster sehen, wenn sie unschuldige Grup­peh der Gesellschaft als Teufel und Dämonen ausrufen und Räuberhauptleute zu Göttern erklären, also angesichts jener furchtbaren Verwirrung, die der Auflösung einer Gesellschaftsform vorauszugehen pflegt, grundsätzlich unfä­hig ist, diesem Anschwellen prätendierter Erfahrungen ein anderes Bild der Realität vorzuhalten und das gemeine Bewußtsein zu kritisieren" 178 • Die Lage ist hier derjenigen bei der Kritik am Hexenglauben ganz parallel. Denn auch der Antisemitismus (der hier angedeutet wird) enthält eine ganze Reihe allgemeiner und spezieller deskriptiver Elemente. Aktuell wurde "den Juden" etwa nachgesagt, sie hätten sich vor der Teilnahme am ersten Weltkrieg "ge­drückt", hätten sich als Kriegsgewinnler bereichert, die militärische Nieder­lage wie auch die nachfolgende Revolution bewirkt, seien gleichzeitig Verur­sacher und Nutznießer der Inflation gewesen etc. Dies sind sämtlich durch empirische Forschung entscheidbare Behauptungen, auf deren Widerlegung im übrigen der jüdische Abwehrkampf gegen den Antisemitismus ziemlich viel Energie verwendet hat. Und es ist kein Wunder, daß solche faktischen Überlegungen auch in den Forschungsunternehmungen des Instituts aus den 40er Jahren eine Rolle gespielt haben 179.

Hier soll nun freilich nicht behauptet werden, daß die Auseinanderset­zung mit Hexenglauben, Antisemitismus (und heutzutage: Ausländerfeind­lichkeit) ausschließlich mit Tatsachenargumenten geführt werden kann. Das ist schon wegen den in diesen "Lehren" mitschwingenden Bewertungen und Normierungen nicht möglich, und es soll auch nicht verschwiegen werden, daß eine rein argumentative Auseinandersetzung mit der Intoleranz gegenüber Minderheiten häufig genug nicht ausreicht.

Aber andererseits ist es doch ganz abwegig, den erheblichen Beitrag zu leugnen, den die Erfahrungskontrolle bei der Zerstörung derartiger Ideolo­gien anzubieten hat.

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4.5 1#1rum so heftig?

Wodurch erklärt sich nun angesichts der in vielen Punkten weitgehenden in­haltlichen Gemeinsamkeiten von Positivismus und kritischer Theorie der Überschuß an Polemik im Artikel Horkheimers?

Daß Gemeinsamkeiten auch als solche aufgesucht und bewußt werden müssen, wenn sie ein Handeln bestimmen sollen, ist schon oben erwähnt wor­den. Der Umstand, daß ein Teil der Horkheimerschen Kritik im Vorgriff auf den erhofften großen Wurf der "kritischen Theorie" formuliert wurde, hat den Umfang der Übereinstimmungen wohl zum Teil verdeckt. Aber das reicht zur Erklärung für die Schärfe der Polemik nicht aus.

Das Hauptmotiv ist sicherlich in der von Horkheimer vertretenen Sache begründet. Denn er mußte sich besonders getroffen fühlen, wenn die Positivi­sten auch Teile seiner auf eine bessere Gesellschaft zielenden Lehre als nicht nur falsch, sondern - qua Metaphysikverdacht - auch als sinnlos verworfen zu haben scheinen. Diese Verärgerung kommt am Ende des Aufsatzes deutlich genug zum Ausdruck: "Sie (die Positivisten, der Verf.) verwirren heillos die Fronten und schimpfen jeden einen Metaphysiker oder Dichter, gleichviel, ob er die Dinge in ihr Gegenteil verkehrt oder sie beim Namen nennt" 180. Deut­licher als hier wird im ersten Brief an Adorno in der Positivismusangelegen­heit vom 22.101936 die Erregung darüber spürbar, daß gerade die vom "Insti­tut" vorrangig thematisierten Gegenstände, nämlich "alle Sphären der Kul­tur", "schamlos ... dem Irrationalismus preisgegeben werden. Nichts anderes kann es ja bedeuten, daß nur diejenigen Gedanken als Erkenntnis gelten dürfen, die mit den Mitteln der modernen Logik auszudrücken sind. Da sich nun aber immer deutlicher herausstellt, daß man damit im Grunde überhaupt nichts aus­drücken kann, so enthüllt sich das ganze schließlich als der Kampf gegen die Anwendung des Denkens auf Gesellschaft und Geschichte überhaupt".

Diese Abneigung mag noch durch den von Neurath im Vollgefühl der lo­gischen Überlegenheit seines Standpunkts angeschlagenen Tonfall verstärkt worden sein, wie er etwa in folgender Passage zum Ausdruck kommt: "Da ich meine, daß Sie in der Wissenschaft ungefähr so formulieren, wie die von mir voll gebilligten Wissenscnaftler, kann ich Ihre Betrachtungen über den Wis­sen schafts betrieb, über Erkenntnis usw. als "terminologische Abweichun­gen" kennzeichnen. Das geht natürlich nicht, wenn diese "Ergänzungen" das Um und Auf der gedanklichen Aktivität sind. Was bei Ihnen absolut nicht der Fall ist. Ich würde daher die Neigung haben selbst Ihre bedenklichsten Wen­dungen mit Ihrer Hilfe zunächst in die allgemeine wissenschaftliche Sprache, wie wir sie propagieren zu verwandeln" 181. Man kann sich leicht vorstellen, daß das freundliche Angebot, für die Übersetzung von Horkheimers Ideen in die physikalistische Einheitssprache der Wissenschaft auf dessen Hilfe zu­rückkommen zu wollen, die Erbitterung nur noch gesteigert hat.

Neben dem sachlichen Hauptmotiv ist nicht im Artikel, dafür aber um so deutlicher in der internen Korrespondenz ein anderes nicht zu übersehen, das

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vielleicht weniger edel erscheint und deshalb nach außen unterdrückt wird ("AlI dies habe ich nicht gesagt"): "Der Zauber ist letzten Endes auf akade­mische Positionen und ordentliche Lehrstühle aus" 182, also letzten Endes eine Art wissenschaftlicher und akademischer Futterneid. Vorbehalte gegen "das Avancement" hatte Horkheimer früher, als er noch selbst keine Karriere gemacht hatte, gegenüber jedwedem Mitglied des Establishments verlauten lassen I8-'. Danach erschienen ihm wissenschaftliche Karrieren wohl nur noch dann suspekt, wenn sie von Personen außerhalb seines Umkreises gemacht wurden.

Dabei läßt sich die Behauptung, "der Zauber" sei nur auf akademische Positionen aus, jedenfalls für die Positivisten nicht aufrecht erhalten. Denn zunächst hatten diese, nachdem sie nach dem Februar 1934 in Wien nicht mehr öffentlich in Erscheinung treten konnten, erhebliche Anstrengungen un­ternommen, ihre Bewegung im Ausland auf internationaler Ebene fortzuset­zen. Dazu gehörte die massive Präsenz auf den beiden internationalen Philo­sophiekongressen 1934 in Prag und 1937 in Paris, auf denen sie ganze Sektio­nen dominierten, während die Frankfurter allenfalls einen Beobachter schickten l84 • Seit 1935 kamen bei den Positivisten die bis 1941 jährlich statt­findenden eigenen Tagungen für "Einheit des Wissenschaft" hinzu, auf denen der Plan eines in internationaler Arbeitsteilung voranschreitenden Enzyklopä­dieprojekts beschlossen und vorangetrieben wurde.

Gewiß haben nun diese Aktivitäten zusammen mit vielen anderen Bemü­hungen zur Verbreitung der Strömung beigetragen. In zusätzlichen akademi­schen Positionen haben sie sich nicht niedergeschlagen. Denn wenn man die professionellen Schicksale der mathematisch-naturwissenschaftlich orientier­ten Mitglieder des Wiener Kreises in der Emigration mit denen deutscher Mathematiker und Naturwissenschaftler vergleicht, stellt man fest, daß Ver­treter dieser Fachrichtungen in den USA ganz allgemein mit offenen Armen empfangen wurden l85 • Dagegen ging es den Geistes- und Sozialwissenschaft­lern in der Emigration im Durchschnitt sehr viel schlechter. Zumal die Histo­riker und Soziologen des Wiener Kreises hatten im Exil jedenfalls keine bes­seren Chancen als die Mitarbeiter Horkheimers.

Neurath etwa war für die Finanzierung seiner Reise nach Prag, wo außer dem achten internationalen Philosophiekongreß ja schließlich die von ihm or­ganisierte Vorkonferenz zum ersten Kongreß für Einheit der Wissenschaft stattfinden sollte, auf milde Gaben eines Freundes angewiesen l86 . Eine Rück­kehr in die akademische Laufbahn, die ihm in Deutschland nach seiner Betei­ligung an der Münchener Räterepublik abgeschnitten worden war, scheiterte 1936 in Prag, weil man gegen eine Vertretung von Carnaps Lehrstuhl durch Neurath rassische und politische Vorbehalte hatte 187. Auf das traurige Schicksal Edgar Zilsels im Exil komme ich noch zurück.

Daß das Frankfurter Institut bei internationalen Tagungen kaum präsent war, bildete zusammen mit seiner merkwürdigen Fetischisierung des Deut­schen als Publikationssprache der "Zeitschrift" wie auch seiner ersten im

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Ausland veröffentlichten Studien (wie "Autorität und Familie") und seinem weitgehenden Verzicht auf eine Beteiligung am akademischen Lehrbetrieb die Ursache für seine vergleichsweise geringere Popularität in den USA 188. Daß speziell Adorno, für den Horkheimer sich eine Karriere nur an ersten Adres­sen wie Harvard erträumt hatte l89 , nicht wie gewünscht zum Zuge kam, ist größtenteils auf dessen Scheitern bei dem Versuch zurückzuführen, in Oxford - unter der Aufsicht Gilbert Ryles! 190 - einen englischen Doktorgrad zu er­werben. Daß sich Ryle etwa für sein Thema, die deutsche Phänomenologie, nicht interessiert hätte, kann man nicht behaupten 191.

5. Reaktionen auf den "neuesten Angriff'

Außer Adorno haben sich auch andere Mitglieder und Sympathisanten des In­stituts äußerst positiv über Horkheimers "Neuesten Angriff' ausgesprochen, wie aus Briefen etwa von Benjamin und Pollock hervorgeht l92 . Kritische Äu­ßerungen aus diesem Umkreis sind mir dagegen nicht bekannt.

Es ist nicht verwunderlich, daß die Reaktionen Neuraths und der Positivi­sten anders ausfielen. Neurath hatte Horkheimer als "unserem freundschaftli­chen Kritiker" noch am 10. Juni 1937 geschrieben: "Ich erwarte Ihren Aufsatz mit Spannung" und sogar hinzugesetzt: "Ich möchte mit Ihnen möglichst bald darüber sprechen, weIche Seite unserer Debatte von Ihnen aus in unserer En­zyklopädie eventuell behandelt werden könnte", da ja an der "Aussprache zwischen Empiristen aller Richtungen" sehr gelegen sei und "wir ... innerhalb des Empirismus sehr tolerant (sind)". Zumal das Angebot, einen Beitrag zu der "Enzyklopädie" beizusteuern, das - wie wir aus dem internen positivi­stischen Briefverkehr wissen - normalerweise nur handverlesenen Sympa­thisanten gemacht wurde, verrät Neuraths Hoffnung, Horkheimer mittler­weile halbwegs zu einem Empiristen bekehrt zu haben. Daß diese Einschät­zung Illusion war, mußte er binnen weniger Tage mit dem Eintreffen des Frühjahrsheftes der Zeitschrift erkennen. Am 21. Juni schreibt er an Horkhei­mer: "Nun habe ich Ihren Artikel gelesen. Erst hats mir die Stimm verschla­gen vor Schreck. Dann habe ich ihn nochmals gelesen. Da habe ich denn doch gesehen, wie Sie alle Keulenschläge sozusagen unter liebevollem Zuspruch austeilen." Die kaum nachvollziehbare Wahrnehmung "liebevollen Zu­spruchs" wird allerdings bald relativiert: "Sie sind ja wirklich bestrebt uns nach genauer Betrachtung und persönlicher Befragung aufs Schaffott zu sen­den. Denn wir kommen übel weg".

Neurath kündigt dann an, "Als Soziologe unseres Kreises, der überdies persönlich unter Maschinengewehrfeuer genommen ist. .. natürlich auf diesen Artikel kurz (zu) antworten, denn nur denen, die mit uns keinen Kontakt su­chen, antwortet man besser nicht". Außerdem schlägt er, wie bereits angedeu­tet, eine Diskussion mit Frank und Carnap für den Herbst in New York vor.

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Dieser Vorschlag wird auch von Horkheimer postwendend akzeptiert. Adorno, "selbst ein ganz ausgezeichneter Philosoph", werde alles Nötige we­gen dieser Aussprache vereinbaren. Dazu scheint es jedoch nicht gekommen zu sein. Auf Neuraths Ankündigung einer Erwiderung geht Horkheimer vor­erst nicht ein.

Dies Verfahren erwies sich jedoch nicht mehr als gangbar, als Neurath am 8. Dezember den Text einer Erwiderung sandte, die den Umfang eines kleine­ren Artikels gehabt haben muß. Es war mir unmöglich, diesen Text aufzufin­den. Er ist aus Gründen, die weiter unten geschildert werden, nicht in Hork­heimers Nachlaß. Aber das Original oder wenigstens eine Abschrift befindet sich auch nicht unter den Hinterlassenschaften Neuraths. Das ist vielleicht auch kein Wunder, da sein Eigentum nach abenteuerlicher Flucht i93 vor den deutschen Truppen nach England von einem Greifkommando des Amtes Ro­senberg geplündert wurde, das der vorgesetzten Dienststelle darüber schrieb, ihm sei "die Privatbibliothek des früheren Ministers der Eisner-Regierung Neurath" in die Hände gefallen l94 . Der Inhalt dieser Erwiderung kann des­halb nur bruchstückweise aus dem nachfolgenden Briefwechsel erschlossen werden. Sicher ist jedenfalls, daß er sozusagen eine offizielle Antwort des lo­gischen Positivismus gewesen ist, denn Neurath teilt im Begleitschreiben mit, er habe Horkheimers Artikel auch mit Freunden besprochen, und er gibt of­fenbar auch deren Reaktionen wider, wenn er fortfährt: "Ich kann Ihnen nur wiederholen, ich glaube es ist eine betrübliche Sache, daß Sie ihn geschrieben haben. Aber man muß die Feste feiern wie sie fallen und die Polemiken neh­men, wie sie herabregnen" 195.

Angesichts der Schwere der aufgetauchten Differenzen trat in der nach­folgenden Diskussion die inhaltliche Problematik gl!genüber der methodi­schen Frage in den Hintergrund, wie man sie überhaupt zu führen habe und wie man insbesondere eine in ihrem Verlauf aufgestellte These als wahr oder falsch erweisen könne. So hatte Neurath auf Seite 13 seiner Erwiderung offen­bar geschrieben: "Horkheimer deutet nirgends an, mit Hilfe welcher Krite­rien man feststellt, wann eine Ansicht "richtig", wann sie "unrichtig" ist", und dies bezeichnete Horkheimer in seiner Erwiderung auch als "wundesten Punkt meiner Arbeit" 196. Nach einigen allgemeineren Bemerkungen über die Schwierigkeiten der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes, ein Wahrheits­kriterium zu finden, schreibt er dann für seine Person: "Auf mich sollten Sie jedoch in dieser Hinsicht keine allzu großen Hoffnungen setzen, denn ich ver­suche, wenigstens seit einer Reihe von Jahren, darzulegen, inwiefern gerade bei den entscheidendsten Probleme das geforderte Kriterium nicht namhaft zu machen ist".

Wie Neurath sofort bemerkt hat, ist dies Eingeständnis natürlich für die Diskussion fatal, denn es hat - vorausgesetzt, Horkheimer zählt gewisse der mit Neurath verhandelten Fragen zu den "entscheidendsten Problemen" -die Konsequenz, daß man die von Horkheimer im "Neuesten Angriff' aufge­stellten Thesen genausogut behaupten wie negieren kann. Neurath antwortet

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auch sogleich: "Was die Details Ihres Briefes anlangt, so möchte ich betonen, daß dann, wenn man über das Wahrheitskriterium so vorsichtig denkt, man nicht über "richtig" so dezidierte Äußerungen machen dürfte. ENTWEDER­ODER"m.

In der Kritik der positivistischen Wahrheitstheorie und deren Kriterien war Horkheimer ungleich dezidierter als mit eigenen positiven Vorstellungen, wie auch Martin Jay bei seiner Diskussion des Horkheimer-Artikels betont hat 14X. Im Brief an Neurath markiert er seine "eigentliche Differenz" zu den Positivisten dort, "wo sie den Begriff der Erkenntnis oder der Wahrheit. .. auf eines oder mehrere ... Kriterien eingeschränkt sehen möchten. Was ich in die­ser Richtung etwa unter dem Schlagwort der Nachprüfbarkeit in der Argu­mentation der logischen Empiristen gefunden habe, erscheint mir entweder als vage und unbestimmt oder als viel zu inhaltsarm, um dem Begriff der Wahrheit adäquat zu sein" 199. In der Folge nimmt sich Horkheimer dann ei­nes der vielen Kriterien vor, das die logischen Positivisten im Laufe der Zeit für den Begriff der Erkenntnis (oder genauer gesagt: des Sinns) entwickelt ha­ben, nämlich das der Verifizierbarkeit und bemerkt dazu ganz im Sinn des Unbestimmtheitsvorwurfs: "Selbstverständlich müssen theoretische Gebilde so beschaffen sein, daß sie prinzipiell in irgendeiner Weise verifizierbar sind. Aber diese Aussage ist so allgemein, daß sich jeder ernste Bibelforscher und erst recht jeder Spiritist damit einverstanden erklären kann,,2oo. Wenn jedoch der Positivismus die zugelassenen Verfahren einer Verifikation so festlege, daß etwa auf die Reduzierbarkeit auf sogenannte Protokollsätze abgestellt werde, erscheine ihm das Verifizierbarkeitskriterium in dieser Version ande­rerseits nun wieder zu eng.

Ich halte dies für eine durchaus einschlägige Kritik, die aber nicht sehr originell ist, da die Positivisten ihr damals von vielen Seiten ausgesetzt waren. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß einige von ihnen gerade in diesem Sta­dium des Briefwechsels damit beschäftigt waren, das empiristische Sinnkrite­rium so zu abzuschwächen, daß die Forderung nach Reduzierbarkeit jedes sinnvollen Satzes auf Protokollsätze schon nicht mehr erhoben wurde, son­dern nur noch die wesentlich schwächere nach "Bewährung" an der Erfah­rung. Fünfzig Jahre nach diesem Versuch kann man eigentlich das Fazit zie­hen, wie es Empiristen wie Hempel längst gezogen haben, daß es ein einfa­ches und einheitliches Kriterium für den Sinn von Sätzen überhaupt wie auch spezieller für wissenschaftlich signifikante Sätze nicht finden lassen wird.

Bedauerlicherweise ist Neurath auf Horkheimers Einwände gegen die Verifizierbarkeit als Sinnkriteriium nicht eingegangen. Das liegt vielleicht daran, daß Horkheimer in diesem Kontext zur Erklärung seines Standpunktes das völlig verunglückte Beispiel zweier "Prognosen" anführte: "Es wird zum Beispiel kein Unterschied mehr zwischen einer Prognose im Sinn der Behaup­tung künftiger geschichtlicher Vorgänge und im Sinn der Einsichtigkeit eines Urteils gemacht. "Zweimal zwei ist vier" erscheint als Prognose, weil es ein Satz ist, dessen Wahrheit sich jederzeit herausstellen wird, und daß die völki-

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schen Ideen sich weiter ausbreiten werden, ist eine Prognose, weil es wahr­scheinlich so kommen werde. Dies und noch sehr vieles erscheint mir als der Ausfluß jener ersten Konfundierung, die das Problem der Existenz aus der Logik hinaus in die Metaphysik verweist. .. ,,201. Wie Neurath sogleich ange­merkt hat, verrät die Wahl dieser Beispiele selbst eine "ernste Konfundie­rung", denn nach empiristischer Auffassung gehört der Satz ,,2 und 2 ist vier" nicht zu der Klasse empirischer Sätze und erst recht nicht zu der Klasse möglicher Prognosen, weil er für eine empirische Überprüfung weder durch gegenwärtige noch zukünftige Erfahrung in Frage kommt.

Horkheimer hat aber nicht nur die Verifizierbarkeit als empiristisches Kriterium des Sinns, sondern auch die Verifikation als empiristisches Krite­rium der Wahrheit von Sätzen angegriffen.

Sein Einwand ist hier, daß es "geistige Situationen" gebe, " in denen der Rekurs auf solche formellen Prinzipien allein nicht hinreicht, um zwischen mehreren theoretischen Strukturen zu entscheiden, Situationen, in denen die Verifikation über das Verständnis und die Nachprüfung hinaus geradezu mit der Existenz des Verifizierenden zusammenfällt" 202 . Als solche Situationen möge man sich etwa eines der von Horkheimers im "Neuesten Angriff' aus­geführten Beispiele eingeschränkter Erfahrung in Situationen der Gefangen­schaft vornehmen. In einer solchen Situation ist es folgerichtig, wenn Hork­heimer sich weigert, "gerade nur das als wahr und wahrscheinlich gelten zu lassen, was man unter den jetzt gegebenen Umständen mit Hilfe dieser Krite­rien "kontrollieren" kann" 203 • Derartige Einschränkungen der Erfahrungs­kontrolle nähmen wegen der gegenwärtigen Entwicklung der Gesellschaft zu, sodaß "gerade bei den wichtigsten Probleme die verifizierbaren Feststellun­gen so wenig (wiegen), weil die erdrückend große Mehrzahl der Menschen, die sogenannten Intellektuellen nicht ausgenommen, kraft ihres Schicksals in ihren Feststellungen aufs äußerste beschränkt sind" 204 •

Diese Bemerkungen beruhen ganz offensichtlich auf einem Mißverständ­nis. Denn die Positivisten haben oft genug betont, daß es ihnen bei der Verifi­zierbarkeit als Sinnkriterium immer nur um die Möglichkeit der Überprü­fung von Sätzen im Prinzip gegangen ist. Sätze, die wegen politischer Ver­hältnisse zeitweise nicht oder auch aus technischen Gründen noch nicht tatsächlich verifiziert werden können, sind danach nicht als sinnlos ausgeschlossen205 • Die zitierte Passage hat außer der philosophisch­systematischen Seite aber auch eine historisch-politische Seite. Denn gewiß besteht keine Frage, daß faschistische Regimes dazu tendieren, die Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten der Bürger einzuschrän­ken. Aber über das Ausmaß, in dem die große Mehrzahl der Menschen und insonderheit die Intellektuellen etwa im Dritten Reich in ihren Feststellungen behindert waren, kann man streiten. Denn ein Großteil der antisemitischen Verfolgungspolitik etwa spielte sich ja jahrelang vor aller Augen ab, und es war sicherlich häufig schwieriger, an den Schrecken des Faschismus vorbei­zusehen als sie zu bemerken.

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Außerdem muß auf jeden Fall gänzlich unklar bleiben, wie Horkheimer sich die Überwindung von administrativ verfügten Einschränkungen der gesell­schaftlichen Erfahrung vorgestellt hat, solange sie noch bestanden. Er schreibt: "Ich meine, bei der Frage, wodurch die Wahrheit ausgezeichnet sei, kann man zumindest in unserem Fall strenggenommen nichts anderes tun als sie darstel­len" und führt zur Erläuterung in Klammern fort: "Die Mehrdeutigkeit dieses Worts ist mir als altem Hegeischen Wirrkopf natürlich willkommen, die Wahr­heit darstellen meint ja nicht bloß etwas hinschreiben, sondern auch dafür sor­gen, daß der entsprechende Gegenstand in Erscheinung tritt,,206. Diese Bemer­kungen gehen an dem Problem vorbei, wie man beurteilen kann, ob etwas wahr ist oder nicht. Denn die Entscheidung darüber ist sichtlich dem Problem seiner Darstellung (in jeder möglichen Wortbedeutung) vorgeordnet.

Bei aller Kritik am und zeitweiligen scharfen Polemik gegen den Positi­vismus bleibt am Briefwechsel Horkheimer/Neurath bemerkenswert, daß Horkheimer stets zwischen der konkreten Einzelforschung der logischen Po­sitivisten und ihrer Philosophie unterscheidet. Erstere sei nützlich und oft so­gar verdienstvoll, nur letztere abträglich und schädlich. In diesem Sinne schreibt er: "Wie Sie wissen, geht es mir mit Ihnen ähnlich wie Ihnen mit mir. Es scheint mir, daß Ihre Forschungen und besonders Ihre statistische Bildtech­nik höchst wertvolle Dienste leisten können, dagegen bin ich betroffen, sobald Sie zu Weltanschaulichem (Philosophie kann ich es nun einmal nicht nennen) übergehen. Dort sind Sie zwar ebenso scharfsinnig, aber unendlich viel be­grenzter als sonst. Es ist einzig die weltanschauliche Verfestigung oder Auf­blähung bestimmter Einzelheiten des Wissenschaftsbetriebs zu einer Art phi­losophischen Standpunkts, gegen die ich mich in meinem und Ihrem Interesse wehren muss, nicht gewisse Leistungen Ihres Kreises, vor denen ich große Achtung habe"zo7. Da Horkheimer solche Ansichten auch im Vorwort zum Frühjahrsheft 1937 seiner Zeitschrift publiziertZ08 und, wie wir sahen, auch gegenüber Adorno im internen Briefverkehr betont hat, besteht kein Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Einschätzung.

Mehr als alle inhaltlichen Divergenzen hat die Weigerung Horkheimers, Neuraths Erwiderung abzudrucken, zum schließlichen "Abbruch der diplo­matischen Beziehungen" geführt. In ihrem Briefwechsel gibt es zwar auch Streitigkeiten darüber, ob das Institut die Veröffentlichung sogar zugesagt habe (wie Neurath behauptet und Horkheimer bestreitet). Aber darauf kam es letztlich nach Neuraths Ansicht auch gar nicht an: "Daß eine Zeitschrift, die Artikel von der Art bringt, wie Ihrer gewesen ist, eine Erwiderung aufzuneh­men hat, gilt auch dann, wenn man das nicht besprochen hätte, als selbstver­ständlich" 209. Horkheimer hatte es bereits in der ersten Stellungnahme zu Neuraths Erwiderung abgelehnt, "die Erörterungen über den logischen Empi­rismus in der Zeitschrift durch eine ausgedehnte Diskussion zu verlän­gern"ZIO, da sie von vornherein erklärtermaßen "keine Plattform einander widersprechender Anschauungen" gewesen sei. Neurath möge seinen Text doch in der "Erkenntnis" veröffentlichen.

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Neurath erwiderte auf diesen Vorschlag am 12. Januar 1938 zunächst mit dem Hinweis, daß eine Entgegnung dort schon deshalb nicht in Frage komme, weil sie inzwischen eingestellt sei. Weiter unten heißt es dann schon sichtlich verärgert: "Doch, um poetisch zu schließen: Der Worte sind genug gewech­selt, laß mich nun die Korrekturabzüge meiner Erwiderung sehen. Daß Sie sie abzudrucken ernstlich ablehnen können, kommt ja gar nicht in Frage, ich bin schon etwas befremdet, daß Sie um die Veröffentlichung herumzukommen su­chen, nachdem Sie sich nicht gehemmt gefühlt haben, Ihren Artikel abzu­drucken,,211. Daß die Antwort in Horkheimers Zeitschrift erfolge, sei auch "umso wichtiger, als ein Artikel von mir in der Nummer erschien, die Ihren ungewöhnlich gehaltenen Angriff brachte".

Daß Neurath nicht bereits längst den Kontakt abgebrochen hatte, mag auch damit zusammengehangen haben, daß ihm Horkheimer Vermittlerdien­ste bei der Beschaffung von Zuschüssen der englischen Nuffield-Stiftung für seine Arbeiten über den Vergleich von Lebensstandards in Aussicht gestellt hatte. Im internen Briefwechsel zwischen Horkheimer und Adorno wird frei­lich deutlich, daß es dabei auch darum ging, bei der Stiftung einen "Präze­denzfall" für eine Unterstützung des "Instituts" zu schaffen. Außerdem wollte man offenbar zwar den größten Teil etwaiger Stiftungsmittel an Neurath für sein " hobby " weiterleiten, aber, so Horkheimer an Adorno, "würde wohl auch für unsere Arbeiten etwas dabei herausspringen"212.

Daß Horkheimer am 30.1.1938 den Abdruck der Erwiderung definitiv ab­lehnte - nicht ohne nochmals, wenngleich in Anbetracht seiner Qualifizie­rung von Neuraths Forschungen als dessen " hobby " im internen Briefverkehr diesmal schon weniger glaubwürdig, zu versichern, daß er seinen Arbeiten "stets die aufrichtigste Sympathie bezeugt (habe) und gedenke, dies auch wei­terhin zu tun,,213 - brachte das Faß zum Überlaufen und ließ noch vorhan­dene Rücksichten auf etwa winkende Stiftungsmittel in den Hintergrund tre­ten. Neuraths Schlußstrich vom 21. Februar des Jahres ist lakonisch: "Lieber Herr Horkheimer! Bitte lassen Sie mir mein Manuskript zusenden. Mit bestem Gruß Ihr Dtto Neurath". Dieser Bitte scheint auch entsprochen worden zu sein, da sich kein Text der Erwiderung im Horkheimer-Nachlaß befindet, ein Durch­schlag eines Begleitschreibens zur Rücksendung allerdings ebensowenig.

6: Die weitere Entwicklung der Beziehungen bis 1942

Eigentlich erstaunlich ist, daß nicht alle logischen Positivisten nach Neuraths Abbruch der diplomatischen Beziehungen Kontakte zur Frankfurter Schule nicht für völlig sinnlos gehalten, sondern sie im Gegenteil gepflegt oder sogar allererst angeknüpft haben.

Neurath selbst hat hinter den Kulissen in einem wichtigen Fall für die Herstellung einer Verbindung gesorgt. So schrieb er am 3. Juni 1937 - also

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noch vor dem Erhalt des Horkheimer-Artikels - an Philipp Frank zum Thema "Nun Ihre AMERIKA-Fahrt" unter anderem: "Ich weiß, daß Hork­heimer sie sicher einladet. Darf ich ihm schreiben, er ist sehr nett ... Er zahlt glaube ich sogar was". Darauf hatte Frank aus Prag geantwortet: "Ich sehe hier, daß Horkheimer einen ziemlich scharfen Artikel gegen unseren Kreis veröffentlicht hat. Aber trotzdem will er, wie Sie schreiben, uns zu Vorträgen einladen?" Neurath beruhigte Frank mit Hinweis auf Horkheimers Unter­scheidung zwischen der positivistischen Denkweise, die er kritisiere, und der konkreten Einzelforschung positivistischer Gelehrter, die er meist schätze, und fuhr fort: "Ich habe selten bei jemandem so viel von unseren Schriften beisammen gesehen, wie bei ihm, ganze Berge vom Kausalgesetz und seine Grenzen bis zur Empirischen Soziologie"214. Außerdem habe Horkheimer, "ohne daß ich ihn darum bat, meinen Artikel auf Institutskosten ins Englische übersetzen lassen". Neurath war offenbar noch nicht klar, daß diese Freund­lichkeit angesichts der merkwürdigen Ansicht der meisten "Frankfurter", das Deutsche sei die eigentliche Sprache der Philosophie, auch dazu hatte dienen sollen, seinen Aufsatz als außerphilosophischen Spezialistenbeitrag kenn­zeichnen zu können2l5 •

Zu einer Reise Franks in die USA ist es dann wie gesagt 1937 nicht mehr gekommen. Aber nach seiner Emigration aus Prag hat er dann im Herbst 1938 eine Reise in die USA unternommen und sich nach vielen Umwegen über Ka­nada und Kuba, wo er schließlich ein Einreisevisum in die USA erhielt, dann am 20.10. bei Horkheimer gemeldet. Eine daraufhin für das Frühjahr 1939 ge­plante gemeinsame Diskussion im "Institut" mußte Frank absagen, und erst seine kurz nach Ausbruch des zweiten Weltkriegs am 10.10. des Jahres an Horkheimer gerichtete Frage "Haben Sie noch Interesse an der Diskussion über den logischen Positivismus?" führte schließlich zur lange vorher geplan­ten Diskussion im Institut. So hielt Frank schließlich am 17. November 1939 einen "Introductory talk on positivism". Kar! Korsch, mit dem Frank und Horkheimer über das Vorhaben offenbar korrespondiert hatten, hielt ein Kor­referat zum Thema "Gesellschaftliche Anwendung des logischen Empiris­mus". Beider Beiträge sind nicht veröffentlicht worden. Aber aus einem Brief, den Korsch am nächsten Tag an Hans Reichenbach schickte, sind wir wenig­stens aus seiner Sicht über den Verlauf der Veranstaltung unterrichtet. Korsch, der schon Ende 1938 vom Horkheimer-Institut enttäuscht gewesen sein soll, schreibt: "Es war nicht uninteressant. Meine eigene Stellung war insofern schwierig, als ich weder der orthodoxen Richtung des Positivismus (vertreten durch Frank, Zilsel, einige andre, und etwas weniger starr, von Hempel) noch dem krassen philosophischen Idealismus, den die Leute vom Institut "Mar­xismus" u. "Materialismus" nennen, zustimmen konnte ... Franks Vortrag war klar und direkt, nur traf er in seiner Kritik nicht recht jene stark sophisti­zierte Nuancen, um die sich das Interesse der Institutsidealisten dreht, wie sie in der Tat an ihm und am logischen Empirismus, überhaupt an aller modernen Wissenschaft vorbeiredeten. Es wäre gut, wenn Sie dabei gewesen wären!,,216.

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Reichenbach hat übrigens selbst noch Gelegenheit zu Diskussionen mit Mitgliedern der Frankfurter Schule gefunden.

Dabei handelte es sich allerdings nicht um Probleme des Positivismus oder der Sozialwissenschaften, sondern um eine lockere Diskussion über ge­genwärtige Tendenzen der Kunst, an der - nach dem Umzug Horkheimers und Adornos nach Los Angeles - auch die dort inzwischen ansässigen Bert Brecht und Hans Eisler teilnahmen2l7 • Dies war der letzte mir bekannte Kon­takt von Positivismus und Frankfurter Schule.

Die zwar nicht letzte, aber dauerhafteste Interaktion hatte sich noch vor dem Umzug an die Westküste bis zum Sommer 1941 in New York hingezogen. Sie bestand darin, daß mit Edgar Zilsel vom Sommer 1939 an ein früheres Mitglied des Wiener Kreises fUr das Institut sogar eine Forschungsarbeit über­nahm. Über diese Episode hat Martin Jay im Zusammenhang einer Schilde­rung der "annähernd 200 000 Dollar an 116 Doktoranden und 14 promovierte Forscher", die das Institut vergeben hat, so berichtet: "Einziges unumstößli­ches Kriterium (der Stipendienvergabe, Verf.) war leidenschaftlicher Antina­zismus. Selbst Positivisten wie Edgar Zilsel wurden ohne jedweden Versuch, sie auf die Linie des Instituts zu bringen, unterstützt" 218. Diese Darstellung kann so nicht stehenbleiben. Denn zunächst einmal erhielt Zilsel aus Instituts­mitteln keinerlei Zuwendungen, sondern ausschließlich von Stiftungen wie der RockefeIler Foundation oder dem Oberlander Trust, denen gegenüber das Institut als Antragsteller auftrat.

Zilsel bearbeitete fUr das Institut ein Projekt mit dem Titel "The Social Roots of Science", dessen einzelne Teile noch in den 40er Jahren verstreut in amerikanischen Zeitschriften veröffentlicht wurden und erst 1976 in deutscher Übersetzung erschienen sind2l9 • Für die Bearbeitung des Themas hat Zilsel eine Unmenge von frühneuzeitlichen Quellen ausgewertet und, wie Krohn ge­zeigt hat, sozusagen einen berufssoziologischen Erklärungsansatz fUr die Ent­stehung der experimentellen Naturwissenschaften gewählt. Seine These ist nämlich, daß Experiment und Naturgesetz als kennzeichnende Elemente neu­zeitlicher Naturwissenschaft sich erst durch die Überwindung der sozialen Schranken zwischen humanistischen Gelehrten und handwerklich arbeiten­den Künstlern und Ingenieuren hat entwickeln können. Man fragt sich, was es bei dieser ThemensteIlung, Quellenbasis und Vorgehensweise hätte bedeuten können, Zilsel "auf die Linie des Instituts" zu bringen. Das hätte zumindest doch wohl vorausgesetzt, daß das Institut selbst über Mitarbeiter verfügt hätte, die soziologische mit philologischen und naturwissenschaftlichen Denkwei­sen hätten verknüpfen können. Interessant in diesem Zusammenhang ist, daß Zilsel auf die Bearbeitung eines alternativen Projekts "Naturgesetze und hi­storische Gesetze", dessen Skizze im Schriftwechsel mit dem Institut erhalten ist, verzichtet hat, wie er am 21.4.1939 an Leo LöwenthaI schreibt: " ... u.a. auch deshalb, weil (dieses) Thema ziemlich tief in rein physikalische Pro­bleme hineinfUhrt, von denen ich nicht weiß, ob Sie Ihrem Institut nicht etwas zu physikalisch vorkommen werden,,220. Irgendwelchen inhaltlichen Einfluß

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hat sein neues Umfeld auf Zilsels Arbeit offenbar nicht gehabt, wie man über­haupt sagen kann, daß die Vorgeschichte des Positivismusstreits jedenfalls an den Publikationen der historischen logischen Positivisten offenbar spurlos vorübergegangen ist221 •

Bis wann genau das Institut Mittel für Zilsel beantragt hat, ist nicht er­sichtlich. Im letzten Schreiben vom Juni 1941 erkundigt sich Pollock bei Zil­sei, was er für das folgende akademische Jahr beantragen solle. Ob solche Gelder noch geflossen sind, weiß ich nicht. Ein Brief vom 14.1.1942 mit Bitte um Übersendung eines Sonderdrucks eines gerade im American Journal of Soc~olo.~~ erschienen Aufsatzes ist der letzte dokumentierte Kontakt mit dem Instltut--- .

Zilsel hat sich während seiner Zeit in New York bemüht, trotz bereits an­gegriffener Gesundheit die Fortsetzung seiner intensiven wissenschaftlichen Arbeit mit dem Fortbestand seiner Familie und auch der Fortsetzung politi­scher Arbeit in sozialistischen österreichischen Emigrantenzirkeln zu verbinden223 • Das ist ihm auf Dauer nicht mehr gelungen. Nach seiner Über­siedlung an die Westküste im Juli 1943 nahm er sich dort am 11. März 1944 das Leben. Daß seine früheren Freunde aus dem Wiener Kreis in den USA irgen­detwas unternommen hätten, um dieses Ende abzuwehren, ist mir bislang nicht bekannt.

7. Schlußbemerkungen

Wenn man die Gesamtheit der Kontakte zwischen Positivisten und Frankfurter Schule in der Exilzeit überblickt, scheint mir der Eindruck einer verpaßten Gelegenheit unabweisbar. Denn beide Gruppen hätten von einer Fortsetzung der Kooperation nur profitieren können und haben stattdessen eine Entwick­lung genommen, die unterhalb der vorhandenen Möglichkeiten blieb.

Bei den Positivisten war das Scheitern der Kontakte einer der Gründe da­für, warum die von ihnen programmatisch durchaus ernstgenommene sozial­wissenschaftliche Seite ihrer Arbeit letztlich unterentwickelt blieb. Daran än­dert auch das Erscheinen von Neuraths Beitrag "Foundations of the Social Sciences" in der "Encyclopedia of Unified Science" 1944 nicht. Er weist im Gegenteil die Symptome der Unterentwicklung der empiristischen Position in Dingen der Sozialwissenschaften deutlich auf, und deshalb ist es auch kein Zufall, wenn Carnap als einer der Herausgeber der Reihe die persönliche Ver­antwortung für die Edition dieses Beitrags nicht übernehmen wollte224 • Nach dem zweiten Weltkrieg gab es dann keine Chance mehr für eine Fortsetzung dieses Zweiges der positivistischen Arbeit durch ehemalige Mitglieder des Wiener Kreises. Denn nach Zilsel ist auch Neurath - bereits im Dezember 1945 - gestorben. Felix Kaufmann, der als allerdings eher der Phänomenolo­gie zuneigendes ehemaliges Mitglied des Wiener Kreises auch über sozialwis-

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senschaftliche Fragestellungen publiziert hatte, starb vier Jahre später in sei­nem New Yorker Exi1225 •

Philipp Frank, der ja - obwohl Physiker - persönlich am Austausch mit dem "Institut" teilgenommen hatte, ist wohl derjenige gewesen, der am ehe­sten und klarsten gesehen hat, daß das Projekt des logischen Empirismus sich in der Emigration immer weiter vom konkreten Kontakt mit der tatsächlichen Wissenschaftsentwicklung und auch von seinen ursprünglichen politischen Absichten entfernte. So schrieb er am 10.12.1943 an Neurath: "Speaking about this movement (i.e.: den logischen Empirismus, Verf.), I am afraid to say that it has led into a certain impass. This impass comes from the lack of any real cooperation. Some people get more and more into pure logical forma­Iism which means almost into a new scholasticism. Other ones who try to in­fluence the real world profess ideas wh ich have Iittle connection with a general scientific approach". Diese Kritik wurde übrigens von Neurath geteilt, wenn er in seinem letzten Brief an Frank am 18. Juni 1945 schrieb: "I have the fee­ling that the Viennese CircIe people become formalists and less and less inter­ested in empiricism as a living thing", eine Haltung, die er für "dangerous, particularly in the social sciences and in politics" ansah.

In der Perspektive einer zunehmenden Desillusionierung über den logi­schen Empirismus muß man auch Franks Beitrag zum Carnap - der mit den Anspielungen über eine zumehmend formalistische und gar scholastische Haltung offenbar gemeint war - gewidmeten Band der "Library of Living Philosophers" lesen. Dort versteckt sich Frank nämlich hinter einem sowjeti­schen Philosophen V. Brushlinsky, der in der Zeitschrift "Unter dem Banner des Marxismus" 1932 den logischen Empirismus kritisiert habe und kommen­tiert dann: "The lack of attention given to the pragmatic component brings ab­out, according to the Soviet Philosophy, a lack of coordination between theory and practice and, in connection with it, an exaggerated importance to the logi­cal component"226. Nun ist das indirekte Rede. Daß es sich aber um Franks eigene Meinung gehandelt hat, geht wohl am deutlichsten daraus hervor, daß sich der "zitierte" Autor weder an dieser noch an anderer Stelle der sowjeti­schen Zeitschrift geäußert hat.

Meine Hypothese, deren Erläuterung der Fortsetzung dieser Arbeit vor­behalten werden muß, ist nun, daß es gerade die mangelnde Ausarbeitung der sozial wissenschaftlichen und politischen Vorstellungen des logischen Empi­rismus gewesen ist, die nach 1945 eine oberflächliche Plausibilität dafür er­zeugt hat, die vorhandene Lücke mit den thematisch passenden Stücken der inzwischen ausgearbeiteten Philosophie des Wieners Karl Popper zu füllen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, daß diese auf den genannten Gebieten mit den Ansichten der historischen logischen Empiristen unvereinbar ise27 •

Aber auch die Frankfurter Schule hat seit dem letzten Drittel der 30er Jahre eine Entwicklung genommen, die ihr nicht gut bekommen ist. Ich meine die allmähliche Abwendung von empirisch gestützter sozialwissenschaftli­cher Forschung bei ihren führenden Vertretern und den damit einhergehenden

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Prozeß einer zunehmenden "Rephilosophierung", wie er verschiedentlich re­gistriert worden ist. In diesem Prozeß ist die geschilderte Vorgeschichte des Positivismusstreits gewiß nur eines unter mehreren Momenten gewesen. An­dere waren institutsinterne Veränderungen wie der Eintritt Adornos und das damit zumindest zeitlich zusammentreffende Ausscheiden Erich Fromms. Das seltsame Geschick der erst in den 80er Jahren veröffentlichten Studie Fromms "Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reichs" ist ein greifbares Indiz für die mit der "Rephilosophierung" einhergehende "Entso­ziologisierung", wie man die faktische Aufgabe des Projekts einer interdiszi­plinären Sozialwissenschaft nennen könnte. Selbstkritische zeitgenössische Äußerungen von führenden Mitgliedern der Frankfurter Schule zu diesen Ent­wicklungen sind mir nicht bekannt.

Anmerkungen

siehe dazu die Literaturangaben zu den Stichworten Wissenschaft, Wissenschafts­soziologie, Positivismusstreit im Anhang zu von Friedeburg I Habermas (1983) 469 ff

2 siehe etwa Kern (1982) 228 3 Ich nenne nur - in zeitlicher Reihenfolge - Neurath (1973), Mohn (1978), Stadler

(1979), Hegselmann (1979), Dvorak (1981), Nemeth (1981), Stadler (l982a) und (1982b), Dahms (1985).

4 Ich unterscheide terminologisch den Positivismus Comtes und J.St. Mills vom Neopositivismus Machs und Avenarius' und vom logischen Positivismus des Wie­ner Kreises. Der Kürze halber rede ich überall dort von "Positivismus", wo keine Verwechslung zu befürchten ist. Für die Entwicklung des logischen Positivismus im amerikanischen Exil benutze ich auch die Bezeichnung "logischer Empi­rismus".

5 Für den Kreis um Max Horkheimer benutze ich die Bezeichnung "Frankfurter Schule", für seine Lehre die Selbstcharakterisierungen als "Materialismus" und (etwa seit 1937) als "Kritische Theorie".

6 Müller (1985) 301, insbesondere Anmerkung 26 7 siehe dazu Glaser (1981) und neuerdings den monumentalen Band Stadler (1988) 8 siehe exemplarisch Korthals (1985) 9 Adorno hatte sich dazu noch nicht schriftlich geäußert.

10 Korthals (1985) 11 Müller (1985) 294 ff 12 Horkheimer (1931) 31 13 Stadler (1982a) 14 Das scheint inzwischen auch in der DDR anerkannt zu werden; siehe Hoff­

mann/Laitko (1988) und die dort angegebene Literatur 15 Blackmore I Hentschel (1985) für Pätzoldt passim und für Cornelius ebenda 50, 6lf,

103f, 189 sowie das Verzeichnis der Briefe Machs in Stadler (1982a) 16 siehe Horkheimer (1931); zu seinem Verhältnis zu Cornelius siehe als frühe Äuße­

rung Horkheimer (1923) und später Horkheimer (1931) 31 17 siehe dazu Schütte-Lihotzky (1982) 41

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18 siehe für den Wiener Kreis Neurath (l93Ia) N 1,465 ff, für den Frankfurter Hork-heimer (1931)

19 siehe z.B. Horkheimer (1944/45) 212. 20 Horkheimer (1933a) 84; ähnlich Horkheimer (1934) 217 21 Nachlaß Horkheimer: Notizen XI, 57 22 siehe für eine auf diesen Merkmalen aufbauende Klassifikation von Wissenschaft­

lerkollektiven Dahms (l985a) 3-8 23 Dies betont etwa Hegselmann (1979); siehe zu diesem Wechsel aus autobiographi-

scher Sicht auch die Bemerkungen von Carnap (1963) 24 und 50 ff 24 Neurath (1928) N I, 284 25 siehe Neurath (193Ia) N 2, 545 26 Zilsel (1932) 93 27 Zisel (1929) 186 28 Neurath (1936) N 2, 769 f 29 Jay (1976) 41 30 Stadler (1979) 41 31 Dahms (l985c) 32 Dvorak (1987) und (1988) 33 Stadler (1979) 52 f 34 Mohn (1985) 35 siehe dazu das Ausstellungsbegleitbuch Stadler (l982b) und neuerdings aus auto-

biographischer Sicht Arntz (1988) 23 ff 36 StadIer (1985) 37 Jay (1976) 31, 33 38 Gumbel (1979) Dokumentenanhang 39 Horkheimer (1931/34) H 2,373-378; das Zitat S. 378 40 In Horkheimer (1967) 155 wird - hinsichtlich der Philosophie Ortega y Gassets -

sogar argumentiert: "Die bloße Tatsache, daß seine Philosophie populärer Ver­wendbarkeit zugänglich ist, d.h. ihr pädagogischer Charakter, vernichtet sie als Philosophie".

41 siehe einige Thesen zu diesem Vergleich bei Dahms (l985b) 310 42 ebenda 43 siehe als Beleg für diese Haltung die Auszüge aus seinem an das Berliner Kultusmi-

nisterium gerichteten Antrag in Wiggerhaus (1986) 151 f 44 von Haselberg (1983) 18 ff 45 siehe dazu Wiggershaus (1986) 180 46 Wiggershaus (1987) 19 47 für den Wiener Kreis siehe Stadler (l982a) und Dahms (1985b), für die "Berliner"

Stadler (1982a) 48 Stadler (1982b) und Dahms (1985b) 331 ff 49 Dahms (l985b) 313 50 so die Vermutung seines Sohns Paul Rudolf (mündliche Information) 51 siehe Köhler (1933) sowie zur Diskussion des Kontexts dieser Stellungnahme Ash

(1985) 120 ff. 52 Information von Friedrich Stadler (Wien) 53 Vesela-Duchackova (1981) 102 und Beck/Vesely (1981) 332 54 Feuer (1980) 167 55 Horkheimer spricht (in Horkheimer (1931) 30) von sich als "dem jungen und unbe-

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kannten Mann, der sein (d.h.: Grünbergs, der Verf.) Nachfolger werden soll". 56 Strelewicz (1987) 57 Horkheimer (1933a) H 3, 101 58 Schmidt (1987) 59 Horkheimer (1933a) 60 H 12,368 61 H 12,476 62 Horkheimer (1934) H 3, 180 63 ebenda, 205 64 ebenda 65 Neurath (1981) 306 66 Zilsel (1976) 67 Horkheimer (l933a) H 3, 99 68 Horkheimer (1934) H 3, 218 69 ebenda 70 entfallen 71 Horkheimer (1933a) H 3, 101 72 ebenda, 96 73 ebenda, 100 74 ebenda 75 Horkheimer (1935) H 3, 281 76 Horkheimer (1933a) H 3, 100 77 siehe zur Kritik an supranaturalistischen Tendenzen bei James schon die Briefe

Ernst Machs in Blackmore/Hentschel (1985) 62 f, 86, 112; zur Kritik des Wiener Kreises an irrationalistischen Zügen bei Driesch Zilsel (1933) und Schlick (1934)

78 Horkheimer (1933b) H 3, 147 79 Der im Horkheimer-Archiv in Frankfurt aufbewahrte Briefwechsel enthält 8 Briefe

Horkheimers an Neurath (der erste vom 19.1.1936, der letzte vom 10.1.1938) und 16 Briefe und 2 Postkarten Neuraths an Horkheimer (der erste vom 6.1.1936, die letzte Karte - undatiert - aus dem Jahre 1940) sowie diverse Beilagen (wie Kopien von Briefen Dritter, Tagungsprogramme, Literaturlisten etc.) Nach einem von Frie­drich Stadler erstellten Inhaltsverzeichnis des Neurath-Nachlasses im Wiener­Kreis-Archiv in Amsterdam befindet sich dort keinerlei Korrespondenz Neu­rath I Horkheimer.

80 Hook (1980) 81 ebenda, 176 82 siehe für Spuren dieser Pläne den Briefwechsel Neurath/Frank im Wiener-Kreis­

Archiv Amsterdam 83 Die im Horkheimer-Archiv aufbewahrten Adorno-Briefe befassen sich zwischen

dem Oktober 1936 und dem Sommer 1937 etwa zu gleichen Teilen mit Horkhei­mers geplanter Positivismuskritik, einer von Adorno geplanten Polemik gegen Mannheim, Adornos beruflicher Perspektive sowie diversen personalpolitischen Fragen im Umkreis des Instituts.

84 Diese Absicht konnte 1937 nicht realisiert werden, weil Adorno Mitte Dezember 1936 wegen Paßangelegenheiten nach Deutschland ging (Adomo an Horkheimer, 28.11.1936) und deshalb die Arbeit nicht mehr rechtzeitig fertigstelIen konnte. Gleichwohl hielt Horkheimer sie für "besten dialektischen Materialismus" (Hork­heimer an Adorno, 22.2.1937). Einer späteren, dann jedoch schließlich nicht mehr

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zu Stande gekommenen Veröffentlichung von Adornos Mannheimkritik sollte eine Vorbemerkung vorangestellt werden: "Ich werde ungefähr sagen, daß Ihre Kritik sinngemäß zur Polemik gegen den Positivismus gehört und daß die beiden Aufsätze nur aus technischen Gründen nicht im gleichen Heft erschienen sind. Der Aufsatz sei die Durchführung einer besonderen Seite unserer Polemik. Die Intentionen seien dieselben". (Horkheimer an Adorno, 6.4. 1937)

85 Adorno an Horkheimer, 28.11.1936, 3 86 ebenda 87 ebenda 88 Whitehead / Russell (1910) 60 ff 89 Ramsey (1978) 171 ff, bes. 175 90 Horkheimer an Adorno, 8.12.1936 91 Horkheimer an Adorno, 22.2.1937, 3 92 Adorno an Horkheimer, 23.3.1937 93 Adorno an Horkheimer, 28.11.1936, 4 94 ebenda 95 Adorno an Horkheimer, 23.4.1937 96 Adorno an Horkheimer, 28.11.1936, 3 97 ebenda, 4. Der Schreibfehler (Karnap statt Carnap) steht so im - sonst sorgfaltig

handschriftlich durchkorrigierten - Typoskript. 98 Adorno an Horkheimer, 25.1.1937, 2 99 Horkheimer an Adorno, 6.4.1937 100 Seitenangaben hier nach der ZfS 101 Horkheimer (1937) H 4, 147. Der Satz lautet dort: "Trotz mancher Neuerungen, die

bei allem auf sie verwandten Scharfsinn noch fragwürdig sind, wie zum Beispiel die Typenlehre, ist die neue Logik im wesentlichen mit der formalistischen überhaupt identisch". Sollten auch andere schwerverständliche Stellen der Arbeit eine so kom­plizierte Vorgeschichte haben (etwa aus der Diskussion mit Neurath und seinen Freunden), wird man auf sie noch viel exegetischen Aufwand verwenden können.

102 Marcuse (1936) 73 103 Zitatebenda, 64 104 ebenda,73 105 siehe z.B. Horkheimer (1832) H 3, 41 f., wo es u.a. heißt: "Die Prüfung der Wahr­

heit eines Urteils ist etwas anderes als die Prüfung seiner Lebenswichtigkeit". 106 Neurath (1931) 418 107 siehe dazu z.B. Neurath (1931a) 514 ffund für eine Diskussion dieser Phänomene

Dahms (1987) 108 Horkheimer (1933c) 109 Neurath (193Ia) 498, zitiert in Horkheimer (1937) 128 110 Neurath (1931a) 515 111 Horkheimer (1937) 134 112 Horkheimer / Adorno (1939) 445 113 ebenda, 443 114 ebenda, 464 115 ebenda, 465 116 ebenda 117 Zu nennen sind vor allem Schlick (1931) und Kraft (1938). Siehe zu diesen Ansät­

zen Hegselmann (1984)

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118 so Schlick (1984) 73 ff (ganz ähnlich übrigens Horkheimer (1933b) 133); siehe für eine Diskussion dieses Standpunkts Hegselmann (1984) 28

119 Carnap (1934) und Ayer (1936) chap. VI sowie Ayer (1946) 20 ff. 120 Stevenson (1944) 121 siehe dazu Hegselmann (1984) 10 122 Reichenbach (1931) 60; Man vergleiche damit eine ähnliche, im amerikanischen

Exil geschriebene Passage in Reichenbach (1951) 197. Reichenbach hat in diesem Buch (276-302) übrigens eine eigene Ethikauffassung entwickelt, die man als im­perativistisch charakterisieren kann.

123 Horkheimer (I933b) H 3, 133 124 ebenda, 146 125 Horkheimer (l933a) H 3, 103 126 Horkheimer (l933a); siehe ganz ähnlich Schlick (1984) 140 ff: "Das Vorurteil ge-

gen die Lust' 127 Schnädelbach (1986) 63 128 Neurath (1928) N I, 286 129 siehe dazu Schnädelbach (1986), 62 ff 130 Neurath (1937) 131 Horkheimer (1941) H 4, 375 132 Horkheimer (1937) H 4, 122 133 ebenda 134 ebenda, 156 135 Horkheimer (1928/29) 178 136 Schmid Noerr (1987) 172 137 Carnap (1928) 138 Selbst Neurath räumt im letzten Satz der letzten Fußnote zu seinem Aufsatz "So­

zialbehaviorismus" (N 2, 569) ein, Behaviorismus und Sozialbehaviorismus harrten noch ihrer systematischen Behandlung.

139 Horkheimer (1937) H 4,141 140 ebenda, 158 141 Horkheimer (1937) H 4,144 142 ebenda, 148 143 Lukasiewicz (1957) 144 Patzig (1959) 145 Sie lautet dort: " ... die Unterscheidung zwischen Aussagen und bedeutungslosen

Lautgebilden ... ist aber von den konkreten Entscheidungen über sachliche Pro­bleme nicht zu trennen" (ebenda, 145).

146 ebenda, 152 f 147 Horkheimer an Neurath, 3.5.1937 148 Neurath an Horkheimer, 10.6.1937 149 Der gedruckte Text zählt al1gemeiner auf: romantischen Spiritualismus, Leben­

sphilosophie, materiale und existentiale Phänomenologie (Seite 112). Im Brief an Adorno schreibt Horkheimer aber deutlicher: "Den, wie Sie sagen, freundlichen Satz über Heidegger hatte ich bereits vor Eintreffen ihres Briefes so umgeändert, daß er jetzt den Gegensatz zwischen dem Wissenschaftsoptimismus der Logisti­ker und dem sozialen Pessimismus Heideggers als einen bloß scheinbaren be­zeichnet". Im schließlich gedruckten Text ist dann al1erdings statt konkret von Heidegger nur noch von "neuromantischer Metaphysik" die Rede.

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150 Dort werden ebenfalls zunächst Irrationalismus und Rationalismus als Scheinal­ternativen entlarvt, um dann den Materialismus als Ausweg aus dem Dilemma präsentieren zu können.

151 Horkheimer (1937) H 4, 116 152 Carnap (1932) 153 Heidegger hatte gemeint, dessen "Philosophie zeige die äußerste Verflachung

und Entwurzelung unter dem Schein mathematischer Wissenschaftlichkeit: es sei kein Zufall, daß diese Art Philosophie im inneren und äußeren Zusammenhang stehe mit dem russischen Kommunismus und in Amerika ihre Triumphe" feiere (zitiert nach Habermas (1989) 24).

154 Horkheimer an Adorno, 6.4.1937 155 siehe dazu die letzten Absätze der Programmschrift der Positivisten: "Wissen­

schaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis" (1929) 156 Farias (1989) 154, Otto (1988) 134 f. Die Zeit zwischen 1930 und 1933 ist eine der

auch von diesen Autoren am wenigsten untersuchten in Heideggers Leben; gerade in diese Spanne fallt aber offensichtlich seine Hinwendung zum Nationalsozia­lismus.

157 so die plausible Interpretation von Pöggeler (1985) 158 siehe dazu besonders Ott (1983) und (1984) 159 Dabei zeigen die sporadischen Anmerkungen in Marcuse (1934) M 3, 37,41 und

43, daß einige Mitglieder des Instituts recht gut über Heideggers Wirken für den Nationalsozialismus unterrichtet gewesen sein müssen.

160 Marx (1934) 139 161 Heidegger (1983) 21 und 9 ff. 162 Ich meine insbesondere Farias (1989) und Ott (1988). 163 Die Enttäuschung über das Nichtzustandekommen dieser Verbindung ist noch im

letzten Abschnitt von Marcuse (1934) M 3, 44 zu spüren, wo davon die Rede ist, daß der Existentialismus "die größte geistige Erbschaft der deutschen Geschichte ausgeschlagen" habe. Dabei ist unter "Existentialismus" die Heideggersche Richtung und mit der "größten geistigen Erbschaft" die "wissenschaftliche The­orie der Gesellschaft, ... die Kritik der politischen Ökonomie" gemeint gewesen. M .E. würde es sich anbieten, vor dem angedeuteteten Hintergrund die von Alfred Schmidt (1968) begonnene Diskussion über das Verhältnis von Marcuse und Hei­degger wieder aufzunehmen.

164 Horkheimer (1937) H 4, 154 165 Im "Vorwort zum sechsten Jahrgang" (1937) der "Zeitschrift für Sozialfor­

schung" wird von Horkheimer im Zusammenhang der Vorstellung seiner Positi­vismusarbeit noch einmal ausdrücklich der "sachliche Zusammenhang der theo­retischen Aufsätze in ihrer zeitlichen Folge sowie innerhalb der einzelnen Hefte" betont.

166 Marcuse (1934) M 3, 13 167 siehe dazu neuerdings allgemein Langewiesche (1988) 227 ffund Hoff (1988) 103

ff sowie für das akademische Milieu die Fallstudie Dahms / Halfmann (1988) 168 Marcuse (1934) M 3, 13. Den argumentativen Umweg über Vergleichspunkte mit

dem italienischen Faschismus hat übrigens Horkheimer (1937) 140 f gegen Neu­rath einschlagen wollen. Aus dem bloßen Umstand, daß Neurath und Mussolini gelegentlich mit positiver Bewertung von "Relativismus" gesprochen haben, wird dort eine ideologische Nähe konstruiert. Horkheimer ist dabei offensicht-

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Die I0rgeschichte des Positivismus-Streits 71

lich entgangen. daß Mussolini einen weltanschaulichen Relativismus meint, wäh­rend Neurath an der von Horkheimer zitierten Stelle im Zusammenhang mit kon­kurrierenden Ansätzen zur Grundlegung der Mathematik von Relativismus spricht.

169 Ich meine insbesondere seine Kritik an der "rnasslosen Kostspieligkeit des Sy­stems" und dessen Tendenz zur Vernichtung von gesellschaftlichem Reichtum, insbesondere auch von Agrarprodukten (Pollock (1933) 340 f).

170 ebenda. 350 171 Horkheimer (1939) H 4,309 172 Horkheimer (1968) H 3, 18; vergl. H 14, 471, 476, 493, 497, 522 173 Auf die zwischen Ellen Kennedy einerseits und Alfons Söllner, Ulrich K. Preuß

und Martin Jay andererseits in "Geschichte und Gesellschaft" (1986 und 1987) über etwaige Ähnlichkeiten zwischen der Frankfurter Schule und den Lehren earl Schmitts in der Kritik am Liberalismus ausgebrochene Kontroverse kann hier nicht eingegangen werden. Das ist vielleicht auch in diesem Kontext nicht er­forderlich, weil sich Kennedys Bemerkungen über die Zeit vor 1933 nur auf Randfiguren der Frankfurter Schule beziehen und für die in meinem Zusammen­hang besonders interessierende Zeit von 1933 bis 1937 nur ziemlich sporadisch sind.

174 Information von Klaus Sommer (Göttingen) 175 Horkheimer (1937) H 4, 159 176 ebenda, 149 177 ebenda 178 ebenda, 142 179 So heißt es in Horkheimer (1941) H 4, 380 programmatisch: "Man muß die an­

geblichen Eigenschaften der Juden, die antisemitische Reaktionen auslösen, un­bedingt analysieren, um herauszufinden, welche von ihnen eine Realitätsbasis ha­ben und welche erfunden sind".

180 Horkheimer (1937) H 4, 161 181 Neurath an Horkheimer, 15.11.1936 182 Horkheimer an Adorno, 22.2.1937, 3 183 Horkheimer (1931/34) H 2, 319 ff 184 siehe Benjamins Bemerkungen darüber im Brief an Scholem vom 5.8.1937 (in

Benjamin (1978) 2, 735) 185 siehe dazu etwa Dahms (1986) 186 siehe den Briefwechsel Neurath / Frank 187 siehe dazu Hegselmann (1985) 277 188 siehe dazu auch Krohn (1987) 215, wo "aktive Schritte zur eigenen Deproviziali­

sierung" vermißt werden 189 Horkheimer an Adomo, 22.2.1937, 2 190 Wiggershaus (1986) 180. Zwei unterschiedlichere philosophische Temperamente

sind kaum vorstellbar. 191 Ryle ist vielmehr einer der wenigen englischen Philosophen gewesen, der dar­

über injener Zeit selbst publiziert hat. Siehe die in Ryle (1971) 167-224 gesammel­ten kritischen Studien zu diesem Thema. Ob Ryle darüber Diskussionen mit Adomo geführt hat oder von ihm sogar zu dieser Beschäftigung angeregt wurde, ist mir nicht bekannt.

192 siehe den Brief Pollocks an Paul Mattick in Jay (1976) 35 sowie den in Benjamin

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(1978) leider nicht abgedruckten Brief Benjamins an Horkheimer vom 3.11. 1937. in dem es heißt: "Die deutsche philosophische Produktion wird freilich a la lon­gue nicht ausreichen, unsere eigene Position per contrarium zu umreissen. Ihr Aufsatz gegen die Wiener Schule stellt eine erste Angriffsoperation weiteren Aus­masses dar. Es wäre gut, wenn entschlossene Auseinandersetzungen mit Schulen anderer Länder erscheinen könnten". Wie aus Horkheimers Antwort hervorgeht, hätte sich Adorno ganz in diesem Sinne mit dem amerikanischen Pragmatismus auseinandersetzen sollen. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Stattdessen hat Horkheimer selbst später diese Absicht verwirklicht. Siehe Horkheimer (1947)

193 siehe dazu Marie Neurath (1973) 68-71 194 Poliakov I Wulf (1959) 158 195 Neurath an Horkheimer, 8.12.1937 196 Horkheimer an Neurath, 29.12.1937 197 Neurath an Horkheimer, 12.1.1938 198 Jay (1976) 'ifl 199 Horkheimer an Neurath, 29.12.1937 200 ebenda 201 ebenda 202 ebenda 203 ebenda 204 ebenda 205 Das ergibt sich aus der Unterscheidung von empirischer und logischer Möglich­

keit der Verifikation sowie der These, daß für die Verifizierbarkeitsforderung nur die logische in Frage kommt. Siehe für eine besonders klare Exposition dieses Sachverhalts Schlick (1936) Abschnitt III.

206 Horkheimer an Neurath, 29.12.1937 207 ebenda 208 Dort schreibt Horkheimer auf Seite 2: "Die Kritik an der positivistischen Schule

hindert uns nicht, ihre fachlichen Leistungen anzuerkennen". 209 Neurath an Horkheimer, 12.1.1938 210 Horkheimer an Neurath, 29.12.1937 211 Neurath an Horkheimer, 12.1.1938 212 Horkheimer an Adorno, 20.10.1937 213 Horkheimer an Adorno, 30.1.1938 214 Neurath an Frank, 18. 6. 1937 215 Im "Vorwort zum sechsten Jal)rgang" (1937) der "Zeitschrift" schreibt Horkhei­

mer nämlich: "Auch in diesem Heft ergänzen sich die deutschen Aufsätze wech­selseitig" und: "Der Aufsatzteil ist durch solche Studien von Spezialisten erwei­tert, die mit Fragen der Sozialwissenschaft zusammenhängen. Unterschiede der theoretischen Einstellung treten hier ganz hinter die Klärung einzelner Sachver­halte zurück". Daß damit insbesondere Neuraths Aufsatz gemeint war, ergibt sich aus dem Zusammenhang.

216 Korsch an Reichenbach, 18.11.1939. Für den Hinweis auf diesen Brief danke ich Michael Buckmiller (Hannover).

217 siehe dazu die nachgelassenen Diskussionsprotokolle in H 12, 559 ff, insbeson­dere 572 und 581-586, sowie Brecht (1973) 510 und 517

218 Jay (1976) 145 219 Ich meine Zilsel (1976).

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220 Dieses Schriftstück befindet sich im Briefwechsel Horkheimer I Zilsel. 221 Allenfalls könnte man Reichenbachs polemische Abrechnung mit Hegel (in Rei­

chenbach (1951) 67 ff) als Widerschein dieser Diskussionen sehen, insbesondere seinen Satz: "Speculative Philosophy, after its climax in the system of Kant, has found only mediocre representatives and is decaying" (Seite 73).

222 Es handelt sich dabei um Zilsel (1942). 223 siehe dazu den erschütternden Bericht seines Sohns Paul Rudolf Zilsel (1988) 224 siehe dazu Hegselmann (1985) 286 f 225 siehe zu Kaufmann Helling (1988) 226 Frank (1963) 164 227 siehe einige vorläufige Hinweise zum Beleg dieser These in Dahms (l985b) 359

Quellen- und Literaturverzeichnis

I unveröffentlichte Quellen

a) Max-Horkheimer-Archiv Frankfurt am Main

Briefwechsel: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno (Sign.: VI, 1) - Max Horkheimer/Walter Benjamin (Sign.: VI, 5) - Max Horkheimer I Philipp Frank (Sign.: I, 7) - Max Horkheimer lOtto Neurath (Sign.: I, 19) - Max Horkheimer I Edgar Zilsel (Sign.: I, 27)

Notizen: Max Horkheimer XI 57

b) Wiener-Kreis-Archiv Amsterdam

Briefwechsel: Otto Neurath I Rudolf Carnap - Otto Neurath I Philipp Frank

II Literatur

a) Gesamtausgaben und Ähnliches (*)

Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, 20 Bände (Hrsg: RolfTiedemann) Frank­furt 1973 ff

Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, 18 Bände (Hrsg.: Alfred Schmidt I Gunzelin Schmid Noerr) Frankfurt 1985 ff

Herbert Marcuse: Schriften, Frankfurt 1979 ff Otto Neurath: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, 2 Bände

(Hrsg.: Rudolf Haller I Heiner Rutte) Wien 1981

b) sonstige Literatur

Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) (1983) Theodor W. Adorno, München Gerd Arntz (1988) Zeit unterm Messer, Köln

* In den Anmerkungen wird möglichst nach Gesamtausgaben zitiert und zwar so: An­fangsbuchstabe des Autorennamen, Nummer des Bandes, Seitenzahl (also z.B.: AI, 111 für Adorno, Band I, Seite 111)

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Die Jf)rgeschichte des Postitivismus-Streits

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ders. (1933a) Materialismus und Metaphysik, in: ZfS 2 (1933) 1-33, abg. in: H 3,70-105 ders. (1933b) Materialismus und Moral, in ZfS 2 (1933) 162-195, abg. in: H 3, 111-149 ders. (1933c) Zum Problem der Voraussage in den Sozialwissenschaften, in ZfS 2

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(1934) 1-51, abg. in: H 3, 163-220 ders. (1935) Zum Problem der Wahrheit, in: ZfS 4 (1935) 321-363, abg. in: H 3 227-325 ders. (1937) Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in: ZfS 6 (1937) 4-51, abg. in: H

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76 Hans-Joachim Dahms

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Die JiJrgeschichte des Positivismus-Streits 77

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(pub\. unter dem Pseudonym Rudolf Richter) ders. (1942) The Sociological Roots of Science, in: American Journal of Sociology 47

(1941) 245-Z79, deutsche Übersetzung in: Zilsel (1976) 49-65 ders. (1976) Die sozialen Ursprünge der neuzeitlichen Wissenschaft (Hrsg.: Wolfgang

Krohn) Frankfurt Paul R. Zilsel (1988) Über Edgar Zilsel, in: Stadler (1988) 929-932

Korrespondenzanschrift : Universität Göttingen Fachbereich Sozialwissenschaften Platz der Göttinger Sieben 3 3400 Göttingen

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Carsten Klingemann

Das "Institut für Sozial- und Staatswissenschaften" an der Universität Heidelberg zum Ende der Weimarer Republik und während des Nationalsozialismus

Die deutsche Revolution stellt die Soziologie vor eine Aufgabe. so groß. so umfassend. daß das eigentliche Leben dieser Wissenschaft erst mit ihr beginnt.

Ernst Wilhelm Eschmann. 1933/

Einleitung

Nach Meinung von M. Rainer Lepsius war Heidelberg während der Weimarer Republik neben Berlin. Frankfurt am Main, Köln und Leipzig eine jener "fünf örtlichen Konzentrationen der Soziologie", die nach der nationalsoziali­stischen Machtübernahme "alle aufgelöst" worden seien. "In Heidelberg wurde Alfred Weber zwangsweise emeritiert und die jüngeren Dozenten ent­lassen.,,2 Nach dieser ebenso lapidaren wie endgültigen Feststellung er­scheint jede weitere Beschäftigung mit dem Thema "Sozialwissenschaften in Heidelberg nach 1933" als müßig. Hier soll jedoch im Gegensatz zur engen Disziplingeschichtsschreibung gezeigt werden, daß auch in Heidelberg -ebenso wie an den anderen vier genannten Hochschulorten3 - während der NS-Herrschaft Soziologie und Sozial forschung professionell und institutiona­lisiert betrieben wurden. Dabei fällt nicht nur der quantitative Umfang der fachwissenschaftlichen Aktivitäten auf, sondern auch der Versuch, professio­nelle Ansätze und Methoden im Rahmen nationalsozialistischer gesellschafts­und sozialpolitischer Strategien einzusetzen.

Bis 1933 trat das 1924 aus dem Volkswirtschaftlichen Seminar hervorge­gangene Institut für Sozial- und Staatswissenschaften (InSoSta) nicht als insti­tutionelles Zentrum der sich langsam als Einzeldisziplin konstituierenden deutschen Soziologie hervor. Die beiden vorliegenden Gesamtdarstellungen der Geschichte der Empirischen Sozialforschung und ihrer Institutionen in Deutschland4 erwähnen es ebensowenig wie Dirk Käslers Darstellung der "Entstehungs-Milieus" der frühen deutschen Soziologie, die auch auf die "Sozialgestalt" ihrer "Zentren" eingeht5• Weiterhin wurde das InSoSta nicht genutzt, um die Soziologie als akademische Disziplin mit eigenständigem Wissenschaftsprogramm zu etablieren. Die fachliche Spezialisierung Alfred Webers, der mit gebotener Abschwächung nach seinem Bruder Max stets als Repräsentant der Heidelberger Soziologie genannt wird und zusammen mit Emil Lederer und earl Brinkmann das Direktorium des InSoSta bildete, be­hinderte die Institutionalisierung der Soziologie. "Gerade aber mit seinem

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80 Carsten KlingemaIIn

(Alfred Webers, C.K.), die Fächer transzendierenden Denken war Webers Kultursoziologie kein Faktor, der eine Soziologie als Einzelwissenschaft för­dern konnte. Obwohl er seit 1922 Mitglied des Rates der DGS (Deutsche Ge­sellschaft für Soziologie, C.K.) war, also zu ihrem Führungskreis gehörte, trat er nicht aktiv für die Schaffung einer eigenständigen akademischen Disziplin ,Soziologie' ein.,,6

Das InSoSta und der "Fall Gumbel"

Die Basis der weiteren Ausführungen ist somit nicht die häufige Verklärung der Heidelberger Soziologie am InSoSta durch ihre Identifikation mit dem zeitweilig an der Universität lehrenden Max Weber sowie der von ihm, seiner Frau Marianne und seinem Bruder Alfred in privaten Gesprächszirkeln ge­pflegten Soziologie. 7 Jedoch soll die politische Komponente der gängigen Einschätzung des InSoSta hier näher betrachtet werden, da sie eine Vorausset­zung für die Beurteilung von Sozialwissenschaft im "Dritten Reich" darstellt. Auch heute noch gilt das InSoSta - selbst bei einem kritischen Betrachter des Mythos' Heidelberg - als Hort der gerühmten Liberalität der Heidelberger Universität. "Die auch nach dem Ersten (Welt-)Krieg sprichwörtliche Libera­lität der Heidelberger Universität - Rechte sprachen gern vom ,roten Heidel­berg' - läßt sich recht genau lokalisieren: in der juristischen Fakultät und im Institut für Sozial- und Staatswissenschaften ( ... ), das Nationalökonomie, So­ziologie und später auch Zeitungswissenschaft umfaßte."8 Als Beleg dafür führt Jansen u.a. an, daß in der juristischen Fakultät mehrere "vernunftrepu­blikanische" Gelehrte tätig waren, unter ihnen Gerhard Anschütz, Gustav Radbruch und Graf Dohna; weiterhin, daß der Pazifist und politisch links ste­hende Publizist Emil Julius Gumbel am InSoSta nach seiner Habilitation ei­nen Lehrauftrag für Statistik innehatte. 9

Für diese Sichtweise spricht, daß auch noch in der Weimarer Republik an den Universitäten sozialdemokratische Professoren wie Radbruch und Lede­rer eine Rarität waren und ein radikaldemokratischer Pazifist wie der zu allem Überfluß auch noch jüdische Gumbel überhaupt keine Chance gehabt hätte. Genau an diesem Punkt werden aber auch die Grenzen der Heidelberger Libe­ralität im Verhalten ihrer herausgestellten Repräsentanten erkennbar. Im "Fall Gumbel" galt es nämlich, Farbe zu bekennen und zu beweisen, daß die sehr achtenswerte Offenheit der intellektuellen Salons und Seminare in der politi­schen Auseinandersetzung Bestand hat. Da es hier nicht möglich und auch nicht nötig ist, den bereits dokumentierten "Fall Gumbel" nochmals ausführ­lich darzustellen, soll nur auf das Verhalten uns hier interessierender Beteilig­ter hingewiesen werden, da die häufig beschworene "Machtferne" der Sozio­logie dann in einem anderen Licht erscheint.

Als die Philosophische Fakultät, zu der das InSoSta zählte, im ersten Dis­ziplinarverfahren gegen Gumbel (1924/25) keine formale Handhabe fand,

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Institut für Sozial- und StaatswissenschaJten 81

ihm die Venia legendi zu entziehen, "griffen die Heidelberger Kollegen zu ei­nem ganz ungewöhnlichen Mittel der moralischen Diffamierung" und publi­zierten die Voten der drei Gutachter des universitären Untersuchungsaus­schusses in einer öffentlich (auch an die Presse) reichsweit verteilten Bro­schüre. Ein Autor dieses "Pamphlets" war der bereits erwähnte Graf Dohna. Karl Jaspers, der sich dem Votum von Graf Dohna und dem Historiker Baeth­gen bezüglich der wissenschaftlich mangelhaften Eignung Gumbels nicht an­geschlossen hatte, erstellte ein Sondervotum, das dessen wissenschaftliche Eignung ausdrücklich nicht bestritt, aber charakterliche Mängel diagnosti­zierte und deswegen als schwerwiegendes "moralisches Verdikt" 10 gewertet wird.

Als wenige Jahre später (1929/30) das Badische Kultusministerium (BMK) Gumbel gegen den Willen der Philosophischen Fakultät wie auch der gesamten Universität - obwohl längst überfällig - zum außerordentlichen Professor ernennen wollte, stellte diese Gumbels persönliche Eignung in Frage. Einem erneuten Sondervotum von Jaspers, das Gumbels wissenschaft­liche Qualifikation herausstellte, schloß sich diesmal Alfred Weber "mit ei­nem eigenen, ganz besonderen Zusatz an. Er hielt den Zeitpunkt für die Er­nennung Gumbels zum Professor - trotz seiner hohen Qualifikation - näm­lich , für verfrüht'." 11

Als schließlich im Sommer 1932 unter dem Druck nationalsozialistischer Studenten ein neues akademisches Untersuchungsverfahren gegen Gumbel wegen seiner Rede gegen die Kriegsverherrlichung l2 eingeleitet wurde, bilde­ten das Gremium, das den Vorschlag an das Ministerium zum Entzug der Lehrbefugnis innerhalb kürzester Zeit vorlegte, Gerhard Anschütz als Vorsit­zender, ein Altphilologe und der gerade als außerordentlicher Professor an das InSoSta berufene ehemalige Assistent Alfred Webers, Arnold Bergstraesser. Gustav Radbruch, als Gumbels Offizialverteidiger, vertrat ihn "wenig enga­giert" 13. Anschütz konnte sich dem Verfahren durch Krankheit entziehen, so daß tatsächlich Bergstraesser die Verhandlungen führte. "Er war es auch, der das entscheidende Votum gegen Gumbellieferte ... ". 14 Einen Tag nach der so­genannten Machtergreifung am 30. 1. 1933 wies das badische Staatsministe­rium - eine der letzten Amtshandlungen der alten Regierung - Gumbels Be­schwerde gegen den Entzug der Lehrbefugnis als unbegründet zurück. Mit diesen knappen Bemerkungen zum "Fall Gumbel" sollte auf die routinemäßig idealisierte, im Kern aber zeittypisch abgründige politische Offenheit des In­SoSta in der Weimarer Zeit hingewiesen werden. 15 Auch Norbert Elias erin­nerte sich in einem Vortrag an der Universität Bielefeld im Jahr 1983 daran, daß Alfred Weber noch gegen Ende der Weimarer Republik die Reihenfolge seiner Habilitationsaspiranten strikt einhielt. So rangierte vor Elias ein ausge­wiesener Nationalsozialist.

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82 Carsten Klingemann

Das InSoSta und "Die Tat"

Andere prominente Mitglieder des InSoSta konkurrierten mit den auch von Nationalsozialisten bevorzugten Themen um die publizistische Destruktion der politischen Kultur der bereits schwankenden Weimarer Republik als Mit­arbeiter der einflußreichen politischen Zeitschrift "Die Tat". Bis 1930 war Gi­seIher Wirsing Assistent bei Webers Kodirektor earl Brinkmann - "einer meiner Lieblingsschüler"16 - und wurde dann politischer Mitarbeiter sowie später Schriftleiter der "Tat". Ernst Wilhelm Eschmann war von 1927 bis 1932 (mit einer kurzen Unterbrechung für einen Aufenthalt an der London School of Economics) Assistent von Alfred. Weber. Weber lehnte die Politik des Tat­Kreises nach der Erinnerung Eschmanns ab. Er war auch nicht bereit, dem Wunsch des damaligen Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht, dem die wirtschaftspolitische Haltung Eschmanns als Mitglied des Tat-Kreises nicht gefiel, nach dessen Entlassung zu entsprechen. 17 Wie immer man Webers Einstellung werten mag, gegenüber der antidemokratischen Politik des Tat­Kreises und seines Assistenten Eschmann wäre ein deutliches Wort ange­bracht gewesen. Allerdings ist das wohl zuviel verlangt, wenn Eschmanns Be­schreibung der Zwiespältigkeit Webers gegenüber nationalen Belangen zu­trifft. Aus der hugenottischen Abstammung der Brüder Weber und dem Be­kenntnis der Hugenotten zu Deutschland ergibt sich "bei den Webers der leidenschaftlich deutsche, sich zeitweise zum Nationalismus, ja Imperialis­mus, steigernde Patriotismus auf der einen Seite; auf der anderen aber eine kühl objektivierende Distanzierung."18 Auch Alfred Webers Einstellung ge­genüber dem italienischen Faschismus, über den Eschmann bei Weber promo­vierte, drückt diese politische Ambivalenz aus. "Alfred Webers Haltung zu den Ereignissen in Italien war anfanglich nicht unpositiv; sie muß von seinem Begriff der Krise der europäischen Demokratie her und allgemein aus der da­maligen auf Italien beschränkten Engfassung des Begriffs Faschismus her ver­standen werden.,,19 Angesichts der Krise der Weimarer Demokratie erlag auch Weber der Sehnsucht nach einem starken Führer und plädierte in den zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre für eine weitere Selbstentmachtung des Parlaments und für eine "unegalitäre Führerdemokratie". 19.

Beleuchtet man also die Schattenseiten der sprichwörtlichen Liberalität der Heidelberger Universität, die ja am besten durch die juristische Fakultät und das InSoSta repräsentiert werde (Jansen), so stellt man fest, daß auch in diesem Fall die für deutsche Soziologen typische Mischung aus politischer Unbedarftheit, Konservativismus, wohlwollendem Abwarten bis hin zu akti­vem Eintreten für das kommende "Dritte Reich" anzutreffen ist. 20 Klaus Fritzsches Fazit der fatalen Rolle des Tat-Kreises, in dem Wirsing und Esch­mann wichtige Funktionen wahrnahmen, charakterisiert das spezifische intel­lektuelle Klima, in dem auch zahlreiche Sozialwissenschaftler, selbst etliche spätere Emigranten, den Nationalsozialismus als ,Lösung' der Krise des de-

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Institut jür Sozial- und Staatswissenschajten 83

mokratischen Systems herbeiwünschten. "Wer allein der Tat - dem attraktiv­sten, einflußreichsten und gewichtigsten Periodikum, das jene ,educated Ger­mans' ( ... ) erreichte - durch alle Gründe und Abgründe gefolgt war, der war innerlich ganz und gar nicht mehr unvorbereitet, sondern bis zur Bewußtlosig­keit für den Faschismus disponiert, der konnte kaum erschrecken, sondern fand sich bereits kontinuierlich transzendiert: träumend noch, oder schon schlagend, auf der anderen Seite des Rubikon, wohin er nicht mit willentli­chem Bedacht gegangen war. Und nur die antikapitalistischen Accessoires mußte er noch, wie Teile der ,Bewegung' selbst, ganz abzulegen sich gewöh­nen. Wie Hermann Rauschning nachmals dem ,Tat' -Kreis attestierte: ,Sie be­seitigten Widerstände und ebneten Gedankenbahnen, die den Nationalsozia­lismus akzeptabel erscheinen ließen. Ich spreche hier aus persönlicher Erfah­rung."'21

Das InSoSta und die Hakenkreuz/ahne im März 1933

Dieser Beschreibung der politischen Atmosphäre, die durch eine Offenheit gekennzeichnet ist, die auch Gegnern der Weimarer Demokratie wohlwollend Spielraum ließ, widerspricht auch nicht jene vielgerühmte Standhaftigkeit Al­fred Webers anläßlich der Hissung der Hakenkreuzfahne im März 1933 am Palais Weimar, in dem das InSoSta untergebracht war. Gewöhnlich wird dieses Ereignis so dargestellt: "Es bleibt Alfred Webers historisches Verdienst, daß er von Anfang an den Nationalsozialismus bekämpft hat. Im März 1933 ließ er die Hakenkreuzflagge vom Dach seines Institutsgebäudes herunter­holen ... ".22

Nach der Reichstagswahl Anfang März 1933, an der die SPD, insbeson­dere aber die KPD nicht mehr regulär teilnehmen konnten, und die NSDAP zusammen mit der Deutschnationalen Volkspartei trotz des Terrors gerade et­was mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen erhielt, wurden auch auf Heidelberger öffentlichen Gebäuden Hakenkreuzfahnen gehißt. Dagegen wandte sich Alfred Weber in einem offenen Brief an den Oberbürgermeister, der im Heidelberger Tageblatt veröffentlicht wurde. Daraufhin wurde Weber in der "Volksgemeinschaft", dem "Kampfblatt der Nationalsozialisten", ange­griffen. Einige Tage später übernahm der NS-Gauleiter durch einen Staats­streich als Reichskommissar die Regierungsgewalt in Baden. Entgegen seiner Anweisung wurden daraufhin nicht nur auf ihm unterstehenden Gebäuden, sondern auch auf anderen öffentlichen Universitätsgebäuden Hakenkreuz­und schwarz-weiß-rote Fahnen gehißt. Als am Fahnenmast vor dem Palais Weimar die Hakenkreuzfahne aufgezogen wurde, alarmierte Weber den ihm bekannten Polizeidirektor, der zwar vom Reichskommissar bereits beurlaubt worden war, aber seine Amtsgeschäfte noch nicht an den Nachfolger überge­ben hatte. Dieser erklärte, daß die Hissung nicht erlaubt sei, woraufhin der

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84 Carsten Klingemann

Hausmeister die Fahne einholte. Am nächsten Tag wurde die Fahne von SA­und SS-Leuten wieder gehißt. Der neue Polizeidirektor lehnte auf Anfrage des Rektors ein Eingreifen der Polizei ab. Alfred Weber schloß aus Protest das In­SoSta. "Einige Stunden später fand eine außerordentliche Sitzung des Enge­ren Senats statt. Rektor Andreas referierte über die Flaggenhissungen und We­bers Kollege Bergstraesser über die Vorgänge am ,InSoSta'. Daraufhin nahm der Engere Senat, anscheinend ohne Gegenstimme, folgenden Antrag an: ,Die Direktionen der Universitätsinstitute sind zu ersuchen, in der Frage der Flaggenhissung und im Treffen von Anordnungen, die auf die jetzige politi­sche Lage Bezug haben, nicht selbständig vorzugehen, sondern sich an die Richtlinien des Rektorats bzw. des Engeren Senats zu halten.' Damit war We­bers mutiges Vorgehen von der Universität desavouiert worden.,,23 Die Schil­derung des Verlaufs dieser Sitzung läßt die Behauptung aus jenen Emigranten­kreisen in den USA, die den später dorthin ebenfalls emigrierten Bergstraes­ser wegen seiner weithin bekannten Sympathien für den Nationalsozialismus angriffen, glaubwürdig erscheinen, daß es Bergstraesser selbst war, der einige Nazi-Studenten zum Hissen der Hakenkreuzfahne ermutigt hatte. 24

Als die Fahne nach drei Tagen, begleitet von einer diffamierenden Rede eines SA-Anführers, eingezogen wurde, öffnete Weber das InSoSta wieder. In der "Volksgemeinschaft" lief die Kampagne, die der Schriftleiter, ein ehema­liger Student des InSoSta, gegen Weber führte, weiter. Auf den Angriff, daß Weber 1918 nicht protestiert hätte, als "die roten Seeräuberfetzen auf den öf­fentlichen Gebäuden Deutschlands gehißt wurden", antwortete Weber im Hei­delberger Tageblatt, daß er 1918 anderes zu tun hatte. "Ich habe mich damals in Berlin vom ersten Tage an mit Einsatz meiner ganzen Person an der Bildung von Freikorps gegen den Spartakistenaufstand beteiligt."25 Daraufhin mußte die "Volksgemeinschaft" ihre Kampagne einstellen.

Wenige Tage später erließ Reichspräsident Hindenburg eine Anordnung, die Hitler persönlich über Radio verlas, wonach es nun gestattet sei, Hakenkreuz- und schwarz-weiß-rote Fahnen auf öffentlichen Gebäuden zu hissen. Der Rektor forderte daraufhin die Institutsdirektoren auf, sich diese Fahnen zu besorgen und für deren Hissung zu sorgen. An erster Stelle seines Rundschreibens nannte er das InSoSta. "Eine solche Demütigung konnte ein Mann wie Alfred Weber schwer ertragen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß er nun, als letzte Protestmaßnahme, die ihm verblieben war, seine Beurlaubung für das Sommersemester 1933 sowie seine vorzeitige Emeritierung bean­tragte.,,26 Dieser Interpretation Demms, dem das Emeritierungsgesuch We­bers nicht bekannt war, widerspricht dessen Wortlaut nicht. Allerdings schrieb Weber erst einen Monat nach der Anweisung des Rektors unter Ver­weis auf seinen im Sommer bevorstehenden 65. Geburtstag und die entspre­chenden Gesetze an das badische Kultusministerium am 12.4.1933: "Ich glaube einem Wunsch der Unterrichtsverwaltung zu entsprechen, wenn ich um meine Emeritierung einkomme.,,27 Gleichzeitig bat er um die (ebenfalls

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Institut für Sozial- und StaatswissenschaJten 85

gewährte) Beurlaubung für das Sommersemester 1933. Die Vermutung ist be­rechtigt, daß Weber einige Tage nach der Fahnenaktion noch nicht daran dachte, sich emeritieren zu lassen, da er in zwei Schreiben an den Engeren Se­nat und an den Rektor das InSoSta und das Institut für Zeitungswesen vertei­digte: "Es ist über jeden Zweifel erhaben, daß die beiden Institute auf dem Boden der freien Wissenschaft im nationalen Geist geführt werden." Und: "Das Institut hat seit Jahren besondere Bemühungen entfaltet, um die Erzie­hung und Verbreitung nationalen politischen Denkens zu entwickeln. Der wissenschaftliche Leiter des Instituts für Zeitungswesen, Herr Prof. von Eckardt, hat seine klar antimarxistische Gesinnung des öfteren in öffentlichen Vorträgen bekundet:,c7a

Das InSoSta 1933/34

Im Juli 1933 bekam das InSoSta nochmals Besuch von ,,12-15 SS Leuten" mit einem Sturm führer - "es waren nur Studenten" -, um nach vorheriger An­zeige wegen "marxistischer Literatur" der Polizei "bei der Durchsuchung zu helfen". Der zuständige Kriminalsekretär versiegelte ein auch vorher schon verschlossenes Zimmer im InSoSta, nachdem er anstelle des abwesenden Di­rektors earl Brinkmann und seines Stellvertreters Arnold Bergstraesser von einem Assistenten erfahren hatte, daß das Institut dort mit Genehmigung des badischen Kultusministeriums marxistische Bücher und Zeitschriften "als Unterlagen für die Referate der Studierenden" aufbewahren dürfe. Am näch­sten Tag führte er Gespräche mit Bergstraesser und dem Führer der Heidel­berger Studentenschaft Gustav Adolf Scheel, der wiederum mit dem Hoch­schulreferenten des badischen Kultusministeriums den Sachverhalt telefonisch besprach, wonach letzterer die Beschlagnahme aufheben ließ. 27b

Als weitere Grundlage für die Beschreibung des Institutsbetriebs im "Dritten Reich" soll die auf eigenen Angaben beruhende Bestandsaufnahme der Heidelberger Soziologie aus dem Wintersemester 1924/25 herangezogen werden.

,,1. Eigene Professuren für das Fach bestehen nicht. Einen Lehrauftrag dafür hat Geh. Hofrat Prof. Alfred Weber; er hat ihm bisher in der Form von Seminarübungen genügt (vgl. Kölner Vierteljahrshefte 1, 88).

2. Das bisherige Volkswirtschaftliche Seminar der Universität führt seit dem Win­tersemester 1924/25 amtlich den Namen: Institut für Sozial- und Staatswissenschaften und hat sich besonders auf Grund neuer Verbindungen mit dem Auslande und einer reichlichen Bücherbeschaffung die Pflege einer methodisch und stofflich vergleichen­den Soziologie zur besonderen Aufgabe gemacht.

3. Der am obigen Ort genannte Diskussionsabend der Studenten besteht grund­sätzlich fort. Er hat sich in letzter Zeit namentlich staatssoziologische und praktisch­politische Themata unter Einladung auswärtiger Referenten gestellt.

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( ... ) 5. Im Wintersemester 1924/25 liest hier Prof. Dr. C. Brinkmann zweistündig pri­

vatim über Allgemeine Gesellschaftslehre. Im Sommersemester 1924 las er über Wirt­schaft und Gesellschaft der slawischen Welt (zweistündig), im Wintersemester 1923/24 über Grundlagen der auswärtigen Politik (zweistündig). ( ... )

7. Dr. Alfred Weber hat Vorlesungen über Kultursoziologie in Aussicht ge­nommen.,,28

In den folgenden Jahren waren jeweils für geraume Zeit verschiedene Wissenschaftler am InSoSta beschäftigt, die auch Soziologie vertraten. Emil Lederer wurde 1931 an die Universität Berlin berufen. Nach vier Jahren Pri­vatdozententätigkeit folgte Karl Mannheim 1930 einem Ruf an die Universität Frankfurt am Main. Webers ehemaliger Assistent Arnold Bergstraesser wurde 1932 außerordentlicher Professor für Staatswissenschaften. Außerdem war ab 1931 der Finanzsoziologe Herbert Sultan als Privatdozent tätig. Hans von Eckardt, Schüler Alfred Webers und ab 19Z7 Leiter des Instituts für Zeitungs­wesen, hatte eine außerordentliche "staatswissenschaftlich-historische Pro­fessur für Publizistik,,29 inne, und wird häufig der Heidelberger Soziologie zugerechnet.

Für Alfred Weber stellte sich der Instituts-Betrieb in einem Rückblick aus dem Jahr 1946, als er einen Zeitungsartikel über Verbindungsmöglichkeiten zwischen Universität und Öffentlichkeit schrieb, wie folgt dar: "Man wird zu­geben, daß vor dem Nazieinbruch die Sozialwissenschaft, (um) in diesem Sinn ein solches Bindeglied zu sein, in Heidelberg gepflegt wurden. Sie waren als Fachgruppe der philosophischen Fakultät mit einem großen und einem kleinen Institut versehen (Institut für Sozial- und Staatswissenschaften, Insti­tut für Zeitungswesen), zwölf Heidelberger Voll-Lehrkräfte, unter denen sich auch namhafte Sozialisten befanden, brachten über die sehr ausgebreiteten Diskussionen untereinander und mit den Studenten hinaus in immer wieder­kehrenden Veranstaltungen Fragen des öffentlichen Lebens zur Erörterung. Es war mit das erste, was das Naziregime tat, diese dem öffentlichen Leben frei zugekehrten Sozialwissenschaften in Heidelberg zu zerstören. Es blieb nur noch eine von den alten Voll-Lehrkräften der Universität bei dem Ausradierungs- und Veränderungsprozeß übrig. Die übrigen (sie?) waren mehr oder weniger aktive Nationalsozialisten. Und das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften mit seiner Bibliothek von mehr als 40.000 Bänden lag wie ein gestrandetes Wrack verödet als Opfer gleichsam am Ufer. An die Stelle der Sozialwissenschaften hatte man die anscheinend politisch harmlose Handelshochschule aus Mannheim mit der Betriebswirtschaftslehre als Zen­trum in die Universität hineingeschoben, die aber, von ausgeprägten Parteige­nossen geführt, besonders in den letzten Jahren einen richtigen nationalsozia­listischen Propagandabetrieb inszenierte ... ,,30.

Wenn Weber rückblickend von "zwölf Voll-Lehrkräften" spricht, die die Heidelberger Sozialwissenschaften vor 1933 repräsentierten, dann muß er alle

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einmal dort beschäftigten sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Lehr­kräfte zusammengezählt haben. Allerdings gibt er einen Hinweis auf die Wei­terexistenz des Instituts nach 1933. Webers Interpretation der angeblichen Mo­tive der neuen Machthaber für die Integration der Handelshochschule Mann­heim in die Universität Heidelberg ist fragwürdig. Erstens hat sich "das Naziregime" überhaupt nicht um "die" Sozialwissenschaften in Heidelberg gekümmert. Zweitens zeigt Reinhard Bollmus in seiner Studie über die Hin­tergründe der Integration der Handelshochschule und die Errichtung einer Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Heidel­berg, daß die tatsächlichen Zielsetzungen der Hochschulverlegung mit We­bers Sichtweise nicht in Einklang zu bringen sind. "Es hat sich ( ... ) kein Hin­weis darauf gefunden, daß Eugen Fehrle und Wilhelm Groh, jene Promotoren auf seiten der Nationalsozialisten in der Universität, die ihnen zweifellos ver­dächtige Max-Weber-Tradition auf so komplizierte Weise vernichten woll­ten."'l Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß sich an der Integra­tion der Handelshochschule der Direktor des InSoSta earl Brinkmann32 und der mit den Verwaltungsgeschäften des InSoSta betraute Arnold Bergstraesser aktiv beteiligten. Brinkmann wurde Ende 1933 "mit der Leitung der sämtli­chen durch die Eingliederung der Handelshochschule Mannheim an die Uni­versität Heidelberg zu überführenden wirtschaftlichen Institute betraut.,,33

WeIche konkreten personellen Folgen hatten nun die neuen NS-Gesetze für das InSoSta? 1933 wurden aufgrund des im April erlassenen sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung d~s Berufsbeamtenturns dem außerordentli­chen Assistenten und Wirtschaftswissenschaftler Jakob Marschak, naturali­sierter Russe, Sozialist und Jude, die Lehrbefugnis wegen seiner "nicht ari­schen" Abstammung entzogen. Der Leiter des Instituts für Zeitungswesen, Hans von Eckardt, wurde aus politischen Gründen34 nach § 4 des Gesetzes entlassen. Der jüdische Privatdozent und Finanzsoziologe Herbert Sultan, der unter die Schutzklausel des Gesetzes für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs fiel, konnte erst mit Hilfe des 1935 erlassenen Reichsbürgergesetzes, das die deutschen Juden zu Bürgern zweiter Klasse degradierte, die Lehrbefugnis ent­zogen werden. Der außerordentliche Professor für Staatswissenschaften Ar­nold Bergstraesser, Nationalist, schwerverletzter Frontkämpfer und aktiver Propagandist des "Dritten Reichs", dem schließlich eine jüdische Großmutter nachgewiesen wurde, konnte mit Hilfe der genannten Gesetze aus sogenann­ten rassischen Gründen nicht entlassen werden. Man machte ihm dann den Vorwurf, entgegen der Anordnung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM) Doktoranden angenommen und bei der ThemensteIlung die "von einem Nichtarier zu erwartende notwendige Zu­rückhaltung" außer Acht gelassen zu haben. Die Anschuldigungen wurden aber nicht "als ausreichend für eine Entlassung vom Dienst angesehen"35. Die zitierten Ausführungen beruhen auf Angaben aus der Personalakte Berg­straessers des Archivs der Universität Heidelberg. Sie sind allerdings unver­ständlich, da Bergstraesser, wie noch berichtet wird, mit Vorliebe NS-

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Funktionäre und -Sympathisanten promovierte. 36 Ihm wurde schließlich im August 1936 die Lehrbefugnis aufgrund des § 18 der Reichshabilitationsord­nung aus dem Jahr 1934 entzogen, der dies ermöglichte, wenn es "im Univer­sitätsinteresse geboten" schien.

Die Emeritierung Webers und die Entlassung des Ökonomen Marschak im Jahr 1933 bedeuteten also nicht die Stillegung des InSoSta. Weber selbst promovierte noch während seines Urlaubssemesters sechs Doktoranden bis zum 1. August 1933. 37 Die Stimmung vieler Soziologen drückte eher ein pro­grammatischer Aufsatz Ernst Wilhelm Eschmanns aus. In der Ausgabe der "Tat" für den Zeitraum Oktober 1933/ März 1934 hatte Eschmann, der inzwi­schen als Dozent an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin Soziolo­gie lehrte, "Die Stunde der Soziologie" verkündet. Sie sollte ab jetzt "Heil­und Hilfswissenschaft", eine "Wissenschaft des Dienstes", kurzum "Baulehre der Gemeinschaft" 38 sein.

Amold Bergstraesser und das InSoSta bis zum Jahr 1935

Arnold Bergstraessers Aktivitäten am InSoSta nach 1933 verdienten eigentlich eine umfassende Analyse, da sich in ihnen die Hoffnungen konservativ­nationalistischer Intellektueller auf eine aktive MitgestaItung des "Dritten Reichs" sowie ihre Verstrickungen und ihr Scheitern in idealer Kombination und Ausprägung vorfinden lassen. Aus Platzgründen kann jedoch in diesem Aufsatz am Beispiel Bergstraessers nur skizziert werden, weIche Aufbruch­stimmung die Etablierung des NS-Regimes bei sympathisierenden Sozialwis­senschaftlern auslöste. Der Marianne Weber-Kreis setzte nach der Macht­übernahme, wie sich Marianne Weber 1948 erinnerte, auf die politischen Ein­fluß möglichkeiten seines Mitglieds Bergstraesser. "We expected certain important political accomplishments ofhim in the new state, after the upheaval but it turned out differently. A hitherto unseen flaw in his ancestry prevented his success and in the end drove hirn abroad.,,39 Bergstraesser versuchte an­scheinend den Makel des "Nicht-Ariers" durch besondere Treuebeweise zu kompensieren. Im Oktober 1933 pries er in England die neuen Machthaber in einem Vortrag im Royale Institute of International Affairs (Chatham House).4O Noch 1933 erschien in der einschlägig bekannten Hanseatischen Verlagsanstalt sein Buch "Nation und Wirtschaft", in dem er sich den Nazis anbiederte und Hermann Göring als Referenz zitierte. 41 Im Juni 1934 er­schien sein Aufsatz "Vo1kskunde und Soziologie", der ein Grundmodell der organischen Soziologie zu einem ideellen Pfeiler des NS-Staates erklärte. Volkskunde und Soziologie müßten gefordert werden, weil "die Überwindung der Vorherrschaft rationaler Daseinsformen in der Gesellschaft durch die Er­kenntnis und Neubelebung der Kräfte der Gemeinschaft zu einem Grundge­danken des neuen Staates geworden ist.,,42

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Aus der Sicht deutscher Emigranten in Paris trat Bergstraesser dort 1934 ebenfalls als Propagandist des "Dritten Reichs" auf, indem er in Paris leben­den Nazi-Austauschstudenten moderates Auftreten lehrte und Kontakte zu be­stimmten französischen Kreisen hielt, auf deren Wohlwollen die deutsche Re­gierung Wert legte. 43 Konkreter lassen sich Bergstraessers Kontakte zur brau­nen "Bewegung" am InSoSta schildern. Er war der bevorzugte Doktorvater für altgediente NS-Studentenfunktionäre und hoffnungsvolle Nachwuchs­kräfte.

Mit der Arbeit über "Dante in Deutschland" (Wien 1934) promovierte er 1933 den SA-Scharführer Friedrich Wagner, der nach seiner Tätigkeit in der Reichsstudentenführung, als Referent für "Wissenschaft und Hochschule, Schule und Erziehung" im Leitabschnitt München des Sicherheitsdienstes der SS (SD), als Mitarbeiter des Amtes VII ("Weltanschauliche Forschung und Auswertung") des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) und nach seiner Hei­delberger Habilitation Professor für Staats- und Kulturphilosophie an der Aus­landswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin sowie deren stellver­tretender Dekan unter seinem Vetter, dem bekannten Reichssoziologen Karl Heinz Pfeffer wurde. Nach 1945 war Wagner Mitarbeiter der Akademie für Raumforschung und Landesplanung in Hannover, des Instituts für Raumfor­schung in Bonn-Bad Godesberg und des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel. 44

Ebenfalls 1933 promovierte Bergstraesser den ehemaligen Fachschaftsleiter Hans Schirmer mit einer Arbeit über "Das deutsche Nationalbewußtsein bei Friedrich Christoph Dahlmann" (Neumünster 1936). Schirmer hatte in der publizistischen Kampagne gegen Alfred Weber in einer öffentlichen Erklä­rung betont, daß am InSoSta "geistige Arbeit im nationalen Sinn geleistet wurde".45 1934 promovierte Bergstraesser den "Alten Kämpfer" (NSDAP seit 1931), seinen späteren Assistenten Carl lantke mit der Arbeit "Der staatli­che Sinn der Bodenständigkeit des preußischen Adels in der Epoche der preu­ßischen Großmachtentfaltung" (Bruchsal im Breisgau 1935). Als Dozent war lantke an der Universität Königsberg später Dozentenführer im Nationalso­zialistischen Deutschen Dozentenbund und (staatlicher) Dozentenschaftslei­ter. Nach 1945 war er an der Sozialforschungsstelle Dortmund und Sozio­logie-Professor an der Universität Hamburg. 46 Ebenfalls 1934 promovierte Bergstraesser den ehemaligen (ca. 1930) Hochschulgruppenführer des Natio­nalsozialistischen Deutschen Studentenbundes (NSDStB) der Universität Heidelberg, Fritz HippIer, mit einer Arbeit über "Staat und Gesellschaft bei Mill, Marx, Lagarde. Ein Beitrag zum soziologischen Denken der Gegen­wart" (Berlin 1934). Hippier hatte zwischenzeitlich die Universität gewech­selt und war Studentenführer von Groß-Berlin sowie Oberbannführer im Stab der Reichsjugendführung. Später wurde er Reichsfilmintendant im Reichspropagandaministerium47 • Ebenfalls 1934 promovierte Bergstraesser mit Franz Alfred Six, Parteigenosse seit 1930, einen weiteren Heidelberger NS-Funktionär mit einer Arbeit über "Die politische Propaganda der NSDAP im Kampf um die Macht" (Heidelberg 1936). Ab 1932 war Six Hauptschrift-

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leiter des "Heidelberger Student", zusätzlich ab 1933 Hauptamtsleiter (Aufklä­rung und Werbung) der NS-Studentenschaft und Kreisamtsleiter V der Süd­westdeutschen Studentenschaften (zuständig für Presseangelegenheiten). 1934 wurde er schließlich Leiter der Reichsfachabteilung Zeitungswissenschaft der Deutschen Studentenschaft. Six' Karriere im SD, die mit 20 Jahren Haft in den Nürnberger Nachfolgeprozessen geahndet wurde, ist zu vielschichtig, als daß sie hier auch nur skizziert werden könnte . .\8 Als Gründer und erster Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin und Präsident des Auslandswissenschaftlichen Instituts (mit dem Status eines Reichsinstituts) verhalf er der Soziologie und Soziologen wie Hans-Joachim Beyer, Ernst Wil­helm Eschmann, Karl Heinz Pfeffer, Friedrich Wagner und dem gleich zu nen­nenden Kurt Walz zu einem professionellen Betätigungsfeld.49 1935 hatte Berg­straesser Walz mit einer Arbeit über "Rationalismus und Irrationalismus in der Staats integration" promoviert. Walz war ebenfalls bereits seit 1931 Mitglied der NSDAP und nach dem Studium Kreiskulturwart und Kreisamtsleiter der NS­Kulturgemeinde. Er habilitierte sich bei Franz A. Six an der Universität Königs­berg, der ihn später als Dozenten für Auslandspresse und Auslandspublizistik an die Auslandswissenschaftliche Fakultät holte. In der Bundesrepublik war Walz Dozent an der Arbeitsstätte für Gruppenpädagogik Haus Schwalbach und an der Schule der Bundeswehr für innere Führung in Koblenz-Pfaffendorf und gab als Lehrgebiete Kultur-Soziologie bzw. Soziologie an. 50

Mit Paul Hövel, der 1931 in die NSDAP eingetreten war und 1934 mit ei­ner Arbeit über "Arbeitsbeschaffung und Wirtschaftsplanung im nationalso­zialistischen Staat" (Wiesbaden 1935) bei Bergstraesser promovierte, hatte dieser einen weiteren "Alten Kämpfer" als Assistenten, da Hövel Anfang April 1934 die Stelle von Otto Ptleiderer, dem letzten Assistenten Alfred We­bers übernahm. Bereits Ende 1934 begann Hövels Karriere beim Propaganda­ministerium. "Der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda bittet, seinem Ministerium den am Institut für Sozial- und Staatswissenschaf­ten tätigen Assistenten mit Sondervertrag Dr. Paul Hövel sofort für eine kom­missarische Beschäftigung auf die Dauer von zunächst sechs Monaten zur Verfügung zu stellen."sl Er blieb über dieses halbe Jahr hinaus im Propagan­daministerium, war in der Reichskulturkammer "führend tätig" und als Ober­regierungsrat 1942 u.k.-gestellt (d.h. wurde nicht zur Wehrmacht eingezo­gen).52 Als Vertreter des Ministeriums nahm er auch an Sitzungen des Ende 1943 am Auslandswissenschaftlichen Institut gegründeten "Europaseminars" teil. Dort trafen sich unter der Leitung von Karl Heinz Pfeffer Wissenschaftler (vornehmlich des Auslandswissenschaftlichen Instituts) wie z.B. der spätere Botschafter der Bundesrepublik in den USA und bei der NAID, Wilhelm Grewe, mit Vertretern der obersten Staats- und Parteidienststellen angesichts der drohenden militärischen Niederlage Deutschlands zu Fragen einer neuen, die Hegemonie Deutschlands bewahrenden Europapolitik. 53

Arnold Bergstraesser hat es an Engagement für das neue Regime nicht fehlen lassen. Aber der überzeugte Nationalist und NS-Trittbrettfahrer war als

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"Nicht-Arier" der Führung der Heidelberger Universität, die zu einer ,,'Stoß­trupp~Hochschule"54 ausgestaltet werden sollte, nicht erwünscht. Bergstraes­ser ließ sich für das Wintersemester 1935/36 und das Sommersemester 1936 unter Fortzahlung der wegen der verringerten Mittel seiner Stiftungs­Professur bereits gekürzten Bezüge55 beurlauben. Gestapo-Stellen in Heidel­berg, Karlsruhe und Berlin hatten sich inzwischen auch in die Auseinanderset­zungen um Bergstraessers Verbleiben eingeschaltet56 • Das Geheime Staatspo­lizeiamt Berlin hatte - laut Erlaß des REM vom 17. 7. 1935 - Bergstraesser als Gegner des Nationalsozialismus bezeichnet, der bewußt zersetzend wirke und gegnerische Kreise unterstütze. Erstaunlich darei ist, daß das badische Kultusministerium genau ein Jahr nach diesem Erlaß das REM unter Verweis auf den Rektor der Universität Heidelberg, dem Bergstraesser "als Nichtarier grundsätzlich unerwünscht erscheine" und der deswegen den Entzug der Lehrbefugnis beantragt hatte, aufforderte, eine endgültige Entscheidung zu treffen. 57 Im August 1936 wurde Bergstraesser die Venia legend i schließlich entzogen.

earl Brinkmann und das InSoSta nach 1933

Das "gestrandete Wrack", wie Alfred Weber die Lage des InSoSta nach 19J3 charakterisierte, behielt - trotz anfänglicher finanzieller Einbußen - weiter­hin Wasser unter dem Kiel und beschäftigte eine erwähnenswerte Mannschaft. Unter dem Direktor Carl Brinkmann und seinem Nachfolger Horst Jecht (ab 1943) waren von Frühjahr 1933 bis Frühjahr 1945 mindestens zwanzig Assi­stentinnen und Assistenten (davon sechzehn promovierte und eine diplo­mierte), zwei Hilfsassistenten und sieben wissenschaftliche Hilfskräfte (davon eine promovierte und drei diplomierte) am InSoSta beschäftigt. Außer Brink­mann, Jecht und dem Privatdozenten Gisbert Rittig waren die ehemaligen As­sistenten Carl Jantke, Antonio Montaner, Karl Schiller sowie Max Ernst Graf zu Solms-Roedelheim und die promovierten Absolventen Friedrich Wagner und Kurt Walz als Soziologen bzw. als Wirtschafts- und Sozial wissenschaftler auch in der Bundesrepublik tätig. Allerdings gingen bereits zum 1. April 1933, als Brinkmann die Leitung allein übernahm, die Zuwendungen von Stiftungen und privaten Gönnern an das InSoSta, das vor der Weltwirtschaftskrise nur etwa zwanzig Prozent seiner Einnahmen vom Kultusministerium erhielt und ab 1931 von der Rockefeller-Stiftung hohe Beträge für Forschungsprojekte be­kam, zurück. Das InSoSta, das in guten Zeiten - nach Angaben von Carl Brinkmann - zwanzig bis dreißigtausend Reichsmark für Bücheranschaffun­gen und Buchbinderkosten ausgeben konnte, mußte seinen Etat von 30.000 Reichsmark (1932) auf die Hälfte drücken. Da mit dem Auslaufen der Rockefeller-Projekte auch die Zahlungen an die Bearbeiter eingestellt werden konnten und "durch Hereinnahme von bisher in einer Frankfurter jüdischen

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Privatbank verwalteten Fonds ein gewisser Vermögensverzehr in die Lücke trat"S8, konnte Brinkmann den Haushalt - ergänzt durch andere Sparmaß­nahmen und mit Hilfe eines Sonderzuschusses von 1.500 Reichsmark - zum Jahreswechsel 1935/36 ausgleichen.

Bis etwa Ende 1935 fOrderte die Rockefeller-Stiftung noch die For­schungsprojekte von Dr. Karl Schiller, der dann an das Institut für Weltwirt­schaft in Kiel gingS9 , über Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung in Deutschland und von Dr. Willi Hüfner, der dann in die Industrie ging, über die landschaftliche Gliederung der deutschen Wirtschaft und die Zusammenord­nung der Verkehrsmittel durch den Nationalsozialismus60 sowie von Dr. Al­bert Prinzing, aktiver NS-Studentenfunktionär, später Professor an der Aus­landswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin, über Außenhandels­theorie und das Britische Imperium. 61

Es traf sich gut, daß die Ende 1935 gegründete Reichsarbeitsgemein­schaft für Raumforschung (RAG) und die gleichzeitig gegründete staatliche Planungsbehörde, die Reichsstelle für Raumordnung (RfR), die Funktion der Rockefeller-Stiftung als ForschungsfOrderer übernahmen. So konnten dem so­zialwissenschaftlichen Nachwuchs Arbeitsmöglichkeiten und berufliche Per­spektiven eröffnet werden. Von den 56 Doktoranden der Philosophischen Fa­kultät mit dem Nebenfach Zeitungswissenschaft hatten z.B. von 1934 bis Som­mer 1938 siebzehn Soziologie als Hauptfach. 62 Auf Anfrage des Rektors stellte Brinkmann im Dezember 1939 fest: "Der Personalbestand des Instituts ist z.Z. genügend vollzählig und beweglich, um dem vollen Semesterbetrieb genügen zu können. Von einem strengen Maßstab aus kann ich daher Z.Z. von Zuschuß- und Reklamationswünschen absehen.,,63 Brinkmanns Behauptung eines funktionierenden Institutsbetriebs soll an hand einiger rekonstruierbarer Aspekte überprüft werden.

Die einleitende Beschreibung der geistig-politischen Atmosphäre am In­SoSta zum Ende der Weimarer Republik hatte am Beispiel der Verhaltenswei­sen von Alfred Weber und Arnold Bergstraesser im Fall Gumbel sowie den publizistischen Aktivitäten von Giselher Wirsing und Ernst Wilhelm Esch­mann und der Förderung von NS-Aktivisten durch Bergstraesser darauf ver­wiesen, daß der durch das Institut verkörperte liberale Geist der Heidelberger Universität auch geprägt war durch die Tolerierung oder aktive Beteiligung an der intellektuellen Mobilmachung gegen Republik und Demokratie. Carl Brinkmann wurde zwar nie Mitglied der NSDAP, war aber im Nationalsozia­listischen Deutschen Dozentenbund64 und im NS-Juristenbund sowie För­derndes Mitglied der SS.6S In der vom späteren Generalgouverneur Hans Frank gegründeten Akademie für Deutsches Recht, deren wissenschaftlicher Leiter und Vizepräsident längere Zeit der Rechtssoziologe Carl August Emge war, und der zahlreiche Soziologen angehörten, war Brinkmann Mitglied der Arbeitsgemeinschaften für Agrarpolitik, Finanzgeschichte, Finanzwirtschaft und Preispolitik. Als 1940 im Rahmen der Forschungsabteilung der Akademie die neue Klasse IV, "Zur Erforschung der völkischen Wirtschaft", gegründet

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wurde, übernahm Brinkmann in deren Arbeitsgemeinschaft ,~irtschaftsge­schichte" den Vorsitz. Er war Mitautor der Publikationen zum Thema "Der gerechte Preis" der Akademie und hielt dort, wie bereits erwähnt, einen Vor­trag über Max Webers Objektivitätslehre. 65. Seine Stellung an der Universität war - trotz seiner ersten Ehe mit einer "nicht arischen" Frau - anscheinend unumstritten. Er war, wie bereits erwähnt, zuständig für alle Fragen der Ein­gliederung der wirtschaftswissenschaftlichen Institute der Handelshoch­schule Mannheim in die Universität Heidelberg. Als Dekan der Philosophi­schen Fakultät setzte er sich im Herbst 1934 dafür ein, daß zwei "nicht ari­sche" Professoren weiterhin in Prüfungskommissionen tätig werden sollten, um das Studium in ihrem Fachgebiet nicht zu gefährden. 66 Als er im Sommer 1935 seinen langjährigen Schüler, Willi Hüfner, als Nachfolger seines persön­lichen Assistenten Karl Schiller einstellen wollte, schrieb er aus seinem schweizerischen Urlaubsort an den Rektor: "Wollen Sie, der Sie ja alle die Dozentenschaft-u.a. Führer an der Hand haben, mir den Freundschaftsdienst erweisen, einmal persönlich nach dem Rechten zu sehen?,,67 Die Zustim­mung des Leiters der Fachschaft Staatswissenschaftler der Heidelberger Hochschulgrupe des NSDStB, Albert Prinzing68, der "bis in die leitenden Stellen der Reichs- und Parteiverwaltung das größte Vertrauen,,69 genoß und auch geraume Zeit später Assistent am InSoSta wurde, hatte sich Brinkmann bereits vorher eingeholt.

Wie Bergstraesser förderte auch Brinkmann die wissenschaftlichen Karrie­ren von NS-Aktivisten. Prinzing, der auch Pressereferent der Kreisführung Süddeutschland der Deutschen Studentenschaft und als ehemaliger Austausch­student in Rom Leiter des Italienreferats der Deutschen Studentenschaft70 war, wurde nach seiner umstrittenen Heidelberger Habilitation71 1938 an das Ham­burger Weltwirtschaftsarchiv berufen. 1939 wurde der Duzfreund von Franz Alfred Six Führer im SD72 und 1940 Dozent und später Professor für Volks­und Landeskunde Italiens an der Auslandswissenschaftlichen Fakultät. Als er nach Six' Ernennung zum Leiter der Kulturpolitischen Abteilung im Auswär­tigen Amt dessen Nachfolger als Dekan73 werden sollte, wurde er 1943 an die deutsche Botschaft in Rom versetzt. 74 Der Nachfolger earl Jantkes als Assi­stent von Bergstraesser, Dr. Walter Brodbeck, ging bei dessen Entlassung für ein dreiviertel Jahr an die deutsche Botschaft in Paris, kehrte dann ans InSoSta zurück, bis er im Sommer 1938 an die "Studiengesellschaft für Nationalöko­nomie, wissenschaftliche Forschungsstelle des Reichsbauernführers" berufen wurde. 75

Gardy Gerhard Veltzke trat erst als Student 1934 in die NSDAP ein, war aber bereits seit 1929 in der HJ, in der er schließlich den Rang eines Ober­stammführers einnahm. Noch während seiner Tätigkeit als Leiter der Reichs­schule des Amtes weltanschauliche Schulung der Reichsjugendführung machte er im Januar 1937 sein Diplom als Volkswirt. 1938 promovierte er mit der Arbeit "Der gebundene bäuerliche Besitz in der fürstenbergischen Ge­setzgebung" bei Brinkmann. Von Sommer 1937 bis Herbst 1939 war er Assi-

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stent am InSoSta und arbeitete an einem Forschungsauftrag des Reichsnähr­standes. Nach einer Tätigkeit beim Kurator der Universität Straßburg wurde er Abteilungsleiter und Pressereferent in der Reichsstudentenführung und 1944 schließlich Persönlicher Referent des Reichsdozentenführers und alten Heidelberger Studentenführers Gustav Adolf Scheel, der zu diesem Zeitpunkt auch Reichsstudentenführer und Gauleiter in Salzburg war. 76 Brinkmanns letzter persönlicher Assistent vor seiner Berufung an die Universität Berlin zum 1.4.1942 war der spanische Staatsangehörige Antonio Montaner, der 1941 mit der Arbeit "Die Papier- und Zellstoffwirtschaft Südamerikas" bei ihm promoviert hatte. Er war in der HJ und Partei-Anwärter sowie im Winterseme­ster 1941/42 Amtsleiter für Presse und Propaganda der Studentenführung der Universität Heidelberg. Er folgte Brinkmann für drei Monate nach Berlin und führte dann stellvertretend die Geschäfte des InSoSta, bis der neue Direktor Horst Jecht kam. Anschließend war er Direktorial-Assistent an dem unter füh­render Mitwirkung von earl Brinkmann an der Universität gegründeten "In­stitut für Großraumwirtschaft".77

Andreas Pfenning und die Soziologie "als Waffe"

Bevor die Forschungsprojekte des InSoSta während des "Dritten Reichs" be­schrieben werden, soll abschließend, da auf weniger exponierte Mitarbeiter des Instituts hier nicht eingegangen werden kann, die Karriere eines häufig als Repräsentant der NS-Soziologie apostrophierten Heidelberger Assistenten, Andreas Pfenning, geschildert werden. In Theodor Geigers kritischer Ausein­andersetzung mit Karl Mannheims Ideologiebegriff dient Pfenning als exklu­sives Beispiel für die politische Gefährlichkeit der Mannheimschen Konzep­tion. "Karl Mannheim ist durch seinen Pan-Ideologismus zum unfreiwilligen Waffenschmied dieser nazistischen Afterphilosophen geworden."78 Während Pfenning bei Rene König als Vertreter der hemmungslos gleichgeschalteten Soziologen79 und bei Don 1. Hager als "genuine Nazi,,80 auftritt, hebt Heinz Maus, der offensichtlich nicht alle Schriften Pfennings kannte, sogar einen Aufsatz von ihm aus der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft und eine Kritik von ihm an Hans Freyer positiv hervor. 81 25 Jahre später spielt Pfenning dann eine Hauptrolle in Otthein Rammstedts Darstellung einer "Deutschen Soziologie" der Jahre 1933 bis 1945, besonders in dem Kapitel "Die Deutsche Soziologie als ,Waffe"'. 82

Andreas Pfenning wurde 1904 als Sohn eines Fleischermeisters in Itzehoe geboren und arbeitete nach dem Besuch der Realschule bei einer"Bank und ei­nem Finanzamt. Er studierte dann ein Semester an der Handelshochschule Berlin und schrieb sich im Wintersemester 1927 /28 an der Universität Köln ein. Nach der Prüfung für praktische Kaufleute, der Ersatzreifeprüfung und der Prüfung zum Diplom-Kaufmann promovierte er 1932 bei Erwin von

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Beckerath mit der Arbeit "Das deutschnationale Agrarprogramm und seine Realisierung".83 1933/34 arbeitete er in einer Konkursverwaltung und übte danach bis 1938 eine "freie wissenschaftliche Tätigkeit"84 aus. Pfennings weitere Karriere wurde offensichtlich dadurch gefördert, daß der Partei­Anwärter 1935 in die SS aufgenommen wurde und im Oberabschnitt Südwest der Reichsführung SS tätig war. 85 Wenn man bedenkt, daß Pfenning fünf Aufsätze und eine Propagandabroschüre in der vom Heidelberger Rektor Ernst Krieck herausgegebenen Zeitschrift "Volk und Werden" bzw. in dessen Schriftenreihe "Weltanschauung und Wissenschaft" veröffentlichen konnte, und Krieck außerdem Gaudozentenbundsführer war, befreundet mit Gustav Adolf Scheel, dem damaligen Leiter des Oberabschnitts Südwest des SD, und Krieck dort selbst als einflußreicher SD-Wissenschaftskontrolleur fungier­te86 , dann wird deutlich, daß Pfenning seine kurze akademische Karriere als Kriecks Wissenschaftsprogrammatiker über den SD starten konnte.

Als im Sommer 1938 die Stelle des Bibliothekars am InSoSta frei wurde, bat Brinkmann das badische Kultusministerium um Einstellung Pfennings, da diese Stelle als die materielle Grundlage für dessen für das Wintersemester 1938/39 geplante Lehrtätigkeit als Dozent an der Staats- und Wirtschaftswis­senschaftlichen Fakultät dienen sollte. 87 Anfang 1941 wurde Pfennings außer­ordentliche AssistentensteIle in eine wissenschaftliche AssistentensteIle um­gewandelt und sein Vertrag bis September 1942 verlängert. Er wurde jedoch bereits im März 1941 eingezogen und kehrte auf seine Stelle nicht mehr zu­rück. 88 Ebensowenig wie Pfennings Pamphlete und Programmschriften, etwa "Vom Nachteil und Nutzen der Soziologie für die Politik" 89 , für die tatsäch­lich praktizierte Soziologie und Sozial forschung im "Dritten Reich" von Be­lang waren, war sein kurzes Gastspiel am InSoSta typisch für die dort gelei­stete Forschungsarbeit - lediglich einige der Dissertationen von NS­Aktivisten weisen gewisse Parallelen zu Pfennings weltanschaulichen Rezep­turen auf.

Agrar-, Siedlungs- und Raumforschung

Ab 1936 traten nun die von der RAG, der RfR und dem Reichsnährstand geför­derten agrar- und siedlungssoziologischen sowie Raumforschungsarbeiten in den Vordergrund. Brinkrnann hatte gleich nach 1933 einschlägige Publikatio­nen über die Region Baden (Siedlungsaufgaben, Allmenden, Erzeugung und Verbrauch landwirtschaftlicher Produkte, Landflucht und Aussiedlungsmög­lichkeiten)90 vorgelegt. Bis zum Kriegsbeginn beschäftigte er sich mit land­wirtschaftlichen Strukturproblemen. Bei seinem Beitrag für das Gemein­schaftswerk der RAG zur Landfluchtfrage konnte er dann auch auf Arbeiten aus seinem Institut, die von der RAG gefördert worden waren, zurückgreifen. Er plädierte für das Primat einer zumindest mittelfristig forcierten Industriali-

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sierung zu Lasten einer durch Blut-und-Boden-Mystik bestimmten Agrarpoli­tik. 91 Mit der Einverleibung bzw. Besetzung westpolnischer Gebiete änderte sich die AufgabensteIlung. Nachdem der Reichsführer SS Heinrich Himmler im Herbst 1939 auch noch zum "Reichskommissar für die Festigung deut­schen Volkstums" ernannt worden war, dem die "Gestaltung der neuen Sied­lungsgebiete" übertragen wurde, sollten die in der RAG zusammengefaßten Wissenschaftler vornehmlich deren "Hauptaufgabe II ,Untersuchungen über die Möglichkeiten der Stärkung und Festigung des deutschen Volkstums und der Bildung neuen deutschen Volksbodens im deutschen Ostraum'" ihres "Kriegsprogramms" bearbeiten. Bei der Behandlung der Frage der Aussied­lungsmöglichkeiten aus dem "Altreich" seien "die Untersuchungen so anzu­setzen, daß sie auf lange Sicht die soziologisch bedeutsamen Tatsachen für die Beurteilung der Gesamtstruktur der betreffenden Gebiete hinsichtlich vor al­lem der bäuerlichen Verhältnisse darbieten". Dabei war zu beachten: "Für das Untersuchungsziel sind einmal die Gesichtspunkte des Reichsführers SS in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volk­stums, sodann die Erlasse der RfR, des Reichsbauernführers sowie die An­weisungen des Obmanns der RAG an die Untersuchungsleiter maßgebend."92 Im Anschluß an diese vom einflußreichen Hauptschriftleiter der Zeitschrift der RAG "Raumforschung und Raumordnung" verkündeten Richtlinien für das Kriegsprogramm der RAG legte Brinkmann die methodologischen Pro­bleme der Erfassung der "Siedlerreserve" dar und forderte, daß die Aussied­lungsplanung gleichzeitig zur Sanierung der "westlichen Notstandsgebiete" genutzt werden müßte, wobei er besonders auf die "Schwierigkeiten repräsen­tativer Aussiedlungsstatistik"93 hinwies.

Obwohl Brinkmann nicht bevorzugt über die von der RAG an die Univer­sität Heidelberg vergebenen Mittel verfügen konnte, da z.B. die Geschäfts­stelle der Hochschularbeitsgemeinschaft der RAG dem Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre und Statistik, Ernst Schuster, unterstand, der selbst mehrere Mitarbeiter im Bereich der Raumforschung beschäftigte94 , konnten am InSoSta umfangreiche Projekte durchgeführt werden. Ludwig Coy promo­vierte bei Brinkmann Anfang 1937 mit der Arbeit "Möglichkeiten der Ver­wendung der kultivierten Flächen in der Kraichbachniederung" und erhielt dann als wissenschaftliche Hilfskraft seine Bezüge von der RAG95 . Der be­reits erwähnte Gardy Gerhard Veltzke promovierte 1938 und wurde danach vom Reichsnährstand (Landesbauernschaft Baden) mit der Durchführung der Untersuchung "Die Entwicklung des Bodenrechts und der Bodenbesitzver­hältnisse in den geistlichen Grundherrschaften des südbadischen Raumes" be­auftragt. 96 Günther Scherzer promovierte 1940 mit der Arbeit "Die Allmen­den in Baden. Wirtschaftsgeschichtliche und agrarpolitische Beiträge zur Frage des Gemeineigentums", die er im Auftrag und mit Unterstützung der RAG angefertigt hatte und die in der vom Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft herausgegebenen Zeitschrift "Berichte über Landwirt­schaft" erschien. 97 Max Ernst Graf zu Solms-Roedelheim war wissenschaft-

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liehe Hilfskraft, persönlicher Assistent von earl Brinkmann und Forschungs­assistent am InSoSta und promovierte 1938 mit der Arbeit "Die Einflüsse der Industrialisierung auf 14 Landgemeinden bei Karlsruhe" (Heidelberg-Hand­schuhsheim 1939). Er war Stipendiat der RAG, erstellte 1938 zwei Arbeiten über badische Siedlungsgeschichte für die Studiengesellschaft für National­ökonomie, wissenschaftliche Forschungsstelle des Reichsbauernführers, an die der Assistent Brodbeck ebenfalls 1938 berufen wurde, und bearbeitete 1940/41 Forschungsaufträge der RAG über nordbadische Agrar- und Sied­lungsprobleme. Nachdem Graf Solms einen Einberufungsbefehl erhalten hatte, stellte der Rektor auf Anregung des InSoSta einen Antrag auf Unab­kömmlichkeit, "da er im Auftrag und gemäß den Richtlinien der Reichsstelle für Raumordnung im Rahmen ihres kriegswichtigen Forschungsprogramms mit der Untersuchung über die Aussiedlungsmöglichkeiten aus dem Klein­und Zwergbauerntum sowie der Siedlerreserve an nachgeborenen Bauernsöh­nen und Landarbeitern Nordbadens befaßt ist.,,98 Dem Antrag wurde stattge­geben. 1940 veröffentlichte Graf Solms noch einen methodologischen Aufsatz "über die Notwendigkeit, unsere Kenntnisse industrialisierter Landgebiete zu verbessern" in den Berichten über Landwirtschaft, und war dann ab April 1941 für ein knappes Jahr (bis zur Einberufung) als Betriebsprüfer beim Gene­ralbevollmächtigten für das volks- und reichsfeindliche Vermögen in Straß­burg mit der Prüfung kommissarischer Verwaltungen und der Feststellung von Pachtgrundlagen befaßt. 99

Aufgrund der eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten (insbesondere im Archiv der Universität Heidelberg) sind vermutlich mit den beschriebenen Projekten zur Raumforschung nicht alle Forschungsarbeiten des InSoSta er­faßt worden 100. Dennoch, glaube ich, konnte gezeigt werden, daß das Institut seine Forschungsaktivitäten nach 1933 nicht einstellte, sondern hauptsächlich in den Bereich der sozialökonomischen Agrar-, Siedlungs- und Raumfor­schung verlagerte. Diese Forschungen waren als wissenschaftliche Vorarbei­ten für administrative Planungen auf konkrete Umsetzung ausgerichtet, wur­den über drittmittelfinanzierte Stellen organisiert und für die Förderung des sozialwissenschaftlichen Nachwuchses in Wissenschaft und Administration genutzt. Aus diesem Arbeitszusammenhang stammt mit Graf zu Solms­Roedelheim ein Vertreter der Nachkriegssoziologie im engeren Sinne.

Die Verflechtung des InSoSta mit höchsten Planungsinstanzen des NS­Regimes war längst nicht so eng wie etwa im Fall des Soziographischen Insti­tuts an der Universität Frankfurt am Main von Ludwig Neundörfer, das direkt mit dem Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums koope­rierte. 101 Eine ähnliche Verbindung zu der die Ausrottung ganzer Völker ein­beziehenden sozialstrukturellen Großraumplanung des "Generalplans Ost", wie sie etwa für das Institut für Grenz- und Auslandstudien in Berlin­Stegiitz lO2 und das Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik in Berlin­Dahlem, wo Sozial wissenschaftler an Entwürfen des Generalplans Ost mitge-

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arbeitet haben 103, nachgewiesen werden konnte, liegt ebenfalls nicht vor. Es ist aber unverkennbar, daß auch im Fall des InSoSta der ,Bedarf' administrati­ver Planungs instanzen die Entwicklung eines Forschungsinstitutes induzierte und qualifizierten Fachwissenschaftlern im außeruniversitären Bereich Ar­beitsmöglichkeiten verschaffte. Und im Gegensatz zu Tradition der deutschen Soziologie wurde dadurch auch die empirische Sozialforschung gefOrdert.

Das InSoSta und das Institut für Großraumwirtschaft an der Universität Heidelberg (IfG)

Neben seiner Tätigkeit am InSoSta war Brinkrnann maßgeblich an der Grün­dung des IfG beteiligt. Die Idee zu dieser Gründung wurde in einer Zeit gebo­ren, als ein von Nazi-Deutschland beherrschter europäischer Wirtschafts­großraum in greifbarer Nähe schien und sich den politisch engagierten Wis­senschaftlern als konkrete Planungsaufgabe darstellte. Konzeptionen einer europäischen Großraumwirtschaft wurden seit längerem in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft diskutiert, wie die 1932 von Franz Eulenburg unter dem Ti­tel "Großraumwirtschaft und Autarkie" vorgelegte kritische Zusammenfas­sung der Kontroversen zeigt. 104

Anfang der vierziger Jahre wurden die Möglichkeiten eines von Deutsch­land beherrschten Großwirtschaftsraumes als kontinental-europäische Reichsmark- und Clearingzone von den Kriegsgegnern durchaus ernstgenom­men. In England (J.M. Keynes) und den USA wurden Gegenstrategien ent­wickelt, die sich offensichtlich an NS-Konzeptionen orientierten und bei der Neuordnung der Nachkriegsweltwirtschaft (Bretton Woods) umgesetzt wer­den sollten lO5 • Die Idee einer unter deutscher Souveränität stehenden europä­ischen Wirtschaftsgemeinschaft sollte daher nicht als typische Ausgeburt des nazistischen Größenwahns abgetan werden, wenngleich angesichts der dro­henden militärischen Niederlage Deutschlands etliche der hegemonialen Großraumplanungen bald fiktiv wurden. 106 Illusionslose Repräsentanten des NS-Regimes schalteten deshalb schon bald auf eine moderatere Nachkriegs­konzeption um, die Deutschland natürlich auch eine gewisse Vormachtstel­lung bewahren sollte. Erst einmal widmete sich jedoch wirtschafts- und sozial­wissenschaftlicher Sachverstand im Rahmen der NS-Europastrategien lO7 der Organisation des wirtschaftlichen Großraums. 1939 gründete Werner Daitz, seit 1931 Mitarbeiter für wirtschaftspolitische Fragen in der Reichsleitung der NSDAP, Leiter des Amtes Sonderaufgaben im Außenpolitischen Amt der NSDAP und des Außenpolitischen Schulungshauses im Amt Rosenberg, Mit­glied des Reichstags und Träger des Titels eines Gesandten lO8 , die Gesell­schaft für europäische Wirtschaftsplanung und Großraumwirtschaft e.Y. (GWG) in Berlin. Ihrem "Führerring" gehörten Staatssekretäre, hohe Mini­sterialbeamte und Vertreter oberster Reichsbehörden an. Als stellvertretender

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Vorsitzender ihres Wissenschaftlichen Beirats fungierte Andreas Predöhl 109,

Direktor des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, der im Jahrbuch der Gesell­schaft "Das Neue Europa" einen programmatischen Aufsatz mit dem Titel "Großraum, Autarkie und Weltwirtschaft" publizierte. 110 Die GWG hatte mit ihrem 1940 in einer Denkschrift vorgetragenen Vorschlag der Errichtung ei­nes Reichskommissariats für Großraumwirtschaft 111 keinen Erfolg, machte aber mit zahlreichen Publikationen und mit dem Anfang 1941 von ihr gegrün­deten Zentralforschungsinstitut für nationale Wirtschaftsordnung und Groß­raumwirtschaft in Dresden, das anfanglich vom Leiter der "HauptsteIle So­ziologie" des Amtes Rosenberg, Wilhelm Longert, kommissarisch geleitet wurde lila, von sich reden. 112 In dessen fünfzehnköpfigem "Wissenschaftli­chen Rat" saßen wiederum Kar! C. Thalheim, Reinhard Höhn und Andreas Predöhl sowie der Sozial wissenschaftler Erik von Sivers und der 1933 entlas­sene ehemalige Gießener Soziologe Friedrich Lenz, der ab 1941 im Auswärti­gen Amt tätig war. 112a Obwohl Martin Bormann als mächtiger Leiter der Partei-Kanzlei im Juli 1942 die GWG für "überflüssig" erklärte und gegen­über Alfred Rosenberg, dem als Chef des Außenpolitischen Amtes der NSDAP die GWG unterstand, ihre Auflösung forderte, da sie sich quasi-offi­zielle Kompetenzen anmaße l13 , konnte sie sich anscheinend behaupten. Auch 1943 und 1944 erschienen die "Mitteilungen" ihres Zentralforschungsinsti­tuts, in denen neben Lenz, Predöhl und Thalheim z.B. der stellvertretende Hauptschriftleiter der Zeitschrift "Auswärtige Politik", Jürgen von Kempski, über den "Großraum als rechtsphilosophisches Problem" und von Sivers über die "Struktur der Großraumwirtschaft" schrieben 114.

Bereits im Oktober 1941 hatte der Verein deutscher Wirtschaftswissen­schaftler in Weimar seine Tagung zum Thema "Europäische Großraumwirt­schaft" abgehalten, an der auch Predöhl sowie mit Walter Thoms und Ernst Schuster der Leiter und ein Abteilungsleiter des Instituts für Großraumwirt­schaft teilnahmen. 114a

Die Überlegungen zum Großwirtschaftsraum waren mit der völkerrecht­lichen Kontroverse um eine NS-Großraumordnungll5 sowie der sich stetig wandelnden militärisch-politischen Lage verknüpft und für sich genommen schon so komplex, daß das Institut für Großraumwirtschaft an der Universität Heidelberg mit fünf Abteilungen ausgestattet werden sollte. Es wurde am 1.10.1941 formell eröffnet und begann seine Arbeit mit einer Eröffnungs- und Kuratoriumssitzung am 2. 1. 1942. An der Eröffnungssitzung nahmen zwei hohe Ministerialbeamte vom Reichswirtschaftsministerium (RWM) und einer vom REM sowie vier Professoren der Universität Heidelberg teil, darunter der Dekan der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als Leiter des IfG. An der Sitzung des Kuratoriums, dem einzigen Entscheidungsgre­mium des Instituts, nahmen unter dem Vorsitz eines Staatssekretärs des RWM drei weitere hohe Beamte des Ministeriums sowie ein Vertreter der REM, des BMK, der Rektor und vier Professoren teil. Die Satzung des IfG sah folgende Besetzung des Kuratoriums vor: ein Staatssekretär des RWM (Vorsitzender),

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zwei Vertreter des RWM, ein Vertreter des REM, ein Vertreter der Partei­Kanzlei, ein Vertreter des BMK, der Dekan der Staats- und Wirtschaftswis­senschaftlichen Fakultät, alle planmäßigen Professoren der Wirtschaftswis­senschaften der Universität Heidelberg sowie in gleicher Anzahl führende Vertreter der Wirtschaft. 116 Die Zeitschrift "Raumforschung und Raumord­nung" faßte die Aufgabenbestimmung aus den Paragraphen eins und zwei der Satzung zusammen, wonach das IfG "bei der Erforschung der Grundlagen der künftigen europäischen Großraumwirtschaft vor allem die wirtschaftspo­litisch vordringlichen Fragen bearbeiten" 117 sollte.

Das RWM stellte einen Jahresetat von 60.000 RM und die Universität die (umgebaute) akademische Lesehalle kostenlos zur Verfügung. Die ursprüng­lich vorgesehenen agrar-, industrie-, handels-, kredit- und sozialpolitischen Abteilungen mit jeweils einem Heidelberger Professor als Leiter an der Spitze wurden noch 1942/43 durch eine sogenannte Forschungsabteilung und eine für verkehrswissenschaftliche Großraumforschung ergänzt. 118 Die Stellen für einen Direktorial- und fünf weitere Assistenten sowie zwei wissenschaftliche Hilfskräfte wurden im Laufe des Jahres 1942 besetzt. Noch Ende 1944 be­schäftigte das IfG den Direktorialassistenten, drei Assistenten und zwei wis­senschaftliche Hilfskräfte. Als einer der Direktoren die Konkurrenzsituation zu bestehenden Heidelberger Universitätsinstituten kritisierte, legte der Leiter des IfG dem Rektor Anfang 1943 einen beeindruckenden - aber kaum über­prüfbaren - Rechenschaftsbericht über die umfangreichen Aktivitäten des Instituts vor. 119 Auf der Arbeitstagung des IfG Ende 1942 wurden Vorträge bzw. Referate vom Staatssekretär des RWM sowie von hohen Beamten aus dem RWM, dem Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, dem Reichs­ministerium für die besetzten niederländischen Gebiete, der Generalinspek­tion für Wasser und Energie, von zwei italienischen Wissenschaftlern und zwei Heidelberger Professoren gehalten. Im Sommer 1943 besuchte schließ­lich der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung das IfGI20 • Eine Beurteilung der wissenschaftlichen Leistungen und politischen Bedeutung des Instituts ist hier nicht möglich, so daß nach dieser Skizzierung des Aufbaus des IfG dessen Beziehungen zum InSoSta nachgezeichnet werden sollen.

earl Brinkrnann war nicht nur an der Planung der Errichtung des Instituts beteilige2oa , er führte auch nach dessen Eröffnung Mitte Februar 1942 in Berlin zusammen mit dem Leiter und einem weiteren Kollegen Verhandlun­gen über die zukünftige Arbeit des Instituts im RWM, Reichsarbeitsministe­rium, Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, mit einem Ver­treter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung sowie mit Albert Speerl21 , der im selben Monat Minister für Bewaffnung und Munition gewor­den war.

Brinkrnann war Direktor der agrarpolitischen Abteilung des IfG, die die Bearbeitung der handelspolitischen Methodik, der regionalen Problematik des östlichen Raumes sowie des mittel-südamerikanischen Teilraumes und der

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Landwirtschaftspolitik als Aufgabenbereich zugewiesen bekam. Der Arbeits­bereich "Soziologie des Großraums" gehörte hingegen zur Abteilung von Ernst Schuster, Direktor des Instituts für Volkswirtschaftslehre und Statistik, der Anfang der vierziger Jahre auch über "Soziologie des Imperialismus" Vorlesungen und Übungen abhielt. 122 Brinkmanns persönlicher Assistent am InSoSta, Antonio Montaner, der ihn im Frühjahr 1942 für drei Monate nach Berlin gefolgt war, dann nach Heidelberg zurückging und die Geschäftsfüh­rung des InSoSta übernahm, war ab Sommer 1942 gleichzeitig im IfG be­schäftigt, wo er ein Jahr später die Stelle des Direktorialassistenten be­setzte. m Dr. Gertrud Rittig-Baumhaus, ehemalige wissenschaftliche Assi­stentin am Institut für Finanzwissenschaft der Universität Breslau und Referentin an der Forschungsstelle für allgemeine und textile Marktwirtschaft am Institut für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Mün­ster, die 1943 für einige Monate am InSoSta eine wissenschaftliche Assisten­tensteIle vertrat, ging im Herbst des Jahres als Assistentin an das IfG. 124

Noch zwei weitere Brinkmann-Promovenden übernahmen Forschungspro­jekte am IfG. Ilija Nitzhoffhatte mit der Arbeit "Staat und Wirtschaft im Uni­versalismus Othmar Spanns" 1942 promoviert und bearbeitete dann im IfG das Thema "Die Industrialisierung Bulgariens im Rahmen der europäischen Großraumwirtschaft".125 Ilse Schmidhuber-Dingerdissen promovierte über die "Entwicklung des landwirtschaftlichen Kreditwesens in Italien und Frankreich" (Neudamm 1939) und arbeitete am IfG über "Die westlichen Mittelmeerländer als raumökonomische Einheit". 126 Das InSoSta gab aller­dings nicht nur Nachwuchskräfte ab. Der habilitierte Assistent des Instituts für Volkswirtschaftslehre und Statistik, Gisbert Rittig, kam nach einer Lehrstuhl­vertretung in Göttingen Anfang der vierziger Jahre als Dozent an das InSo­Sta. 127 Als Brinkmann an die Universität Berlin ging, wurde sein Nachfolger als Direktor des InSoSta, Horst Jecht, 1943 ebenfalls Abteilungsleiter im IfG. Mit seinem Beitrag "Die Entwicklung zur europäischen Wirtschaftsgemein­schaft" für den vom Verein Berliner Kaufleute und Industrieller sowie der Wirtschaftshochschule Berlin 1942 herausgegebenen Band "Europäische Wirtschaftsgemeinschaft" war er bereits einschlägig hervorgetreten. Das IfG beschäftigte noch im November 1945 zwei Assistenten sowie zwei Sekretärin­nen und wurde erst zum 31. März 1946 aufgelöst. 128

Das InSaSta und Horst Jecht

Bevor Horst Jecht, der bis dahin an der Berliner Universität und Wirtschafts­hochschule tätig war, 1943 die Nachfolge Brinkmanns antrat, hatten die Assi­stenten Klaus Heinrich und Antonio Montaner die Geschäftsführung des In­SoSta übernommen. Der Frankfurter Soziologe und Wirtschaftswissenschaft­ler Heinz Sauermann vertrat derweil Brinkmanns Lehrstuhl. 129

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Der Nationalökonom und Finanzsoziologe Jecht war bereits als Privatdo­zent Mitglied des DGS geworden und hatte Ende 1933 für die Wahl Hans Frey­ers zu deren neuem Präsidenten gestimmt, wofür er sich bei dessen Gegenkan­didat, Werner Sombart, in der Weise entschuldigte, daß es nicht wünschens­wert gewesen sei, wenn Sombart als "Haupt einer liberalistischen Rumpf­gesellschaft in der Öffentlichkeit" \30 angesehen worden wäre. Jechts Doppel­qualifikation als Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe kam ihm bei den Verhandlungen um Brinkmanns Nachfolge zugute. Ernst Schusters in einem Gutachten aufgestellte Forderung, daß der Kandidat "soziologisch-philoso­phisch" wie bislang Brinkmann arbeiten sollte, wurde vom Dekan der Staats­und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät als Argument für die Ablehnung eines mathematischen Ökonomen gegenüber dem Rektor genutzt. \31 Die So­ziologen Georg Weippert und Hellrnut Wollenweber hoben in ihren Gutachten für Jecht hervor, daß er seine soziologischen Kenntnisse hervorragend umge­setzt habe, und daß sein Buch "Wesen und Formen der Finanzwirtschaft. Um­risse einer Finanzwirtschaftslehre und Finanzsoziologie" (Jena 1928) seine "bedeutungsvolle wissenschaftliche Leistung" sei. 132

Anhand der bisher bekannten Unterlagen kann nicht festgestellt werden, in welchem Umfang am InSoSta unter Jecht noch ein effektiver Institutsbe­trieb stattgefunden hat. Zumindest waren noch ein Assistent und mehrere di­plomierte wissenschaftliche Hilfskräfte dort beschäftigt, bis Jecht Ende 1945 als Direktor entlassen wurde, nachdem er zuletzt nur noch unter Alfred We­bers ,Oberaufsicht' handeln konnte. 133

Jecht selbst wurde offensichtlich in interessierten Kreisen aktiver Reichs­soziologen und -wirtschaftswissenschaftler als wichtiger Fachvertreter ange­sehen. So war er unter den fünfzehn Sozialwissenschaftlern der "Arbeitsbe­sprechung des Reichswirtschaftsministeriums über soziologische Fragen und Aufgaben", zu der Anfang Dezember 1944 der (Unter-)Staatssekretär im RWM und Leiter der Abteilung Inland des Sicherheitsdienstes der SS, Otto Ohlendorf, in dasselbe Haus am Wannsee einlud l34 , in dem die Konferenz zur "Endlösung der Judenfrage" stattgefunden hatte. Mitte Februar 1945 teilte Jecht schließlich dem Rektor mit, daß das InSoSta in die im Sommer 1944 ge­gründete "Wehrforschungsgemeinschaft des Reichsforschungsrats" aufge­nommen werden solle und ein vorläufiger Ausweis über die Zugehörigkeit vorliege. 135 Die Gründe für die Aufnahme des InSoSta in die eigentlich nur für die mit "kriegswichtigen" Aufgaben befaßten naturwissenschaftlichen In­stitute reservierte Wehrforschungsgemeinschaft sind mir nicht bekannt, wäh­rend sie im Fall des Soziographischen Instituts an der Universität Frankfurt am Main sich aus dessen Tätigkeit für den Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums ergeben. \36 Horst Jecht wurde schließlich auf Anord­nung der Militärregierung fristlos entlassen, war aber bereits Ende 1948 wie­der im Hochschuldienst l37 und weiterhin Mitglied des DGS. \38

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Das Erbe der "Oppositionswissenschaft"

Als Vierundzwanzigjähriger hatte Carl Brinkmann 1919 in seiner Frühschrift "Versuch einer Gesellschaftswissenschaft" die Soziologie in ihrer Entstehung als "Oppositionswissenschaft" charakterisiert. 139 In einem strikt politischen Sinn ist sie das seit Comte in ihren Hauptströmungen wohl nie gewesen. Als zeitgenössischer Beobachter stellte Heinz Maus 1939 fest, daß es nach dem Verzicht auf eine Theorie der Gesamtgesellschaft dieser drohe, "in eine ober­flächliche Geschichts- oder auch sozial philosophische Konstruktion abzuglei­ten, die in Allgemeinheiten sich erschöpft, deren Leere die aufgerafften Fak­ten nicht füllen und deren Verlust an Wirklichkeitsnähe durch die Rede, in ausgezeichnetem Maße realistisch zu sein, nicht schon liquidiert ist." Als "ab­schreckendes Beispiel" 140 nannte er exklusiv Alfred Webers "Kulturge­schichte als Kultursoziologie" aus dem Jahr 1935. Mit äußerst scharfen Wor­ten griff der emigrierte Ludwig Marcuse Webers in den Niederlanden erschie­nene Kulturgeschichte als Kultursoziologie in Leopold Schwarzschilds Pariser Neuem Tagebuch an. Für ihn war sie das "Elaborat eines reuigen Sünders". Webers Absicht sei es, "den Nationalsozialismus für die europäische Gesell­schaft herzurichten." Er schließt mit den Worten: "Wer wirklich riechen kann, dem stinkt schon heute diese parfümierte ,Kulturgeschichte als Kultursoziolo­gie' widerwärtiger in der Nase als der unparfümierte Kot der neuen deutschen Landsknechtliteratur." 141a Auf jeden Fall konnte sich Weber mit den neuen Machtverhältnissen akkomodieren. Auf Anweisung des badischen Kultusmi­nisters wurde der Vorstoß aus seinem Haus unterbunden, Weber gemäß den Ausführungsbestimmungen des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns die Emeritusbezüge zu entziehen. 141 1938 war es zwar dann das badische Kultusministerium, das die Absicht des Reichswis­senschaftsministeriums, Weber zum 70. Geburtstag zu gratulieren - trotz der Weber durch das Rektorat bescheinigten Loyalität -, konterkarierte. 1943 gratulierte es dann selbst zum 75. Geburtstag, woraufhin Weber seine Visiten­karte mit Dank an das nun im besetzten Straßburg residierende Ministerium schickte. 142 Schon im Frühsommer 1936 hatte Weber (nach seinen Angaben) als einziger deutscher Teilnehmer an einem Kongreß der Fondation pour la Science, Centre International de Synthese in Paris teilnehmen können. In sei­nem Bericht über den Kongreß an den Rektor wies er auf das besondere Inter­esse an soziologischen Anschauungen über chinesische Himmelslehre hin und meinte: "Wenn der Zirkel, um den es sich handelt, auch relativ klein ist, hatte es andererseits vielleicht doch auch einen Sinn, daß Deutschland darin nicht fehlte." 143

Carl Brinkmanns Oppositionsgeist beschränkte sich - was nach dem bis­her Gesagten nicht weiter verwundert - darauf, daß er eine Erwiderung zum negativen Gutachten der Alfred Rosenberg unterstehenden "Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums" (RFS) über die 1936 in der Schriften-

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reihe des InSoSta im Verlag Junker und Dünnhaupt erschienene Dissertation von Karl Schiller ("Arbeitsbeschaffung und Finanzordnung in Deutschland") verfaßte. Die RFS hatte bemängelt, daß die Dissertation "das spezifisch Na­tionalsozialistische der deutschen Arbeitsbeschaffung nicht erkannt und nicht verstanden" habe und hatte außerdem darauf verwiesen, daß es sich um eine Arbeit aus dem InSoSta handele, dessen "Ausrichtung" gleichzeitig - was aber nicht geschah - "in die kritische Würdigung einbezogen" werden müsse. 144 In seiner Stellungnahme für den Verleger, die Brinkmann wegen ei­ner möglichen Gefahrdung des Rufs seines Instituts auch dem Rektor und dem BMK im Durchschlag einreichte, stellte er klar, daß Schillers Untersuchung ausschließlich von der Rockefeller-Stiftung finanziert worden war, und die Absicht des Buches darin bestanden habe, "in der nationalsozialistischen Ar­beitsbeschaffung über die bloße ,Ankurbelung' hinaus eine dauernde Len­kung der Volkswirtschaft nachzuweisen." 145

Diese Argumentation Brinkmanns ist schlüssig, wenn man bedenkt, wel­che Aufgabe sich die RFS selbst gestellt hatte: "Die Reichsstelle zur Förde­rung des deutschen Schrifttums hat die verantwortungsvolle Aufgabe zu erfül­len, eine weltanschauliche und künstlerische Überprüfung des deutschen Schrifttums, insbesondere der Neuerscheinungen vorzunehmen und darüber zu entscheiden, welche Werke eine Bereicherung für das Gedankengut des na­tionalsozialistischen Staates darstellen." 146 Bei der RFS bestellten auch Ver­lage Gutachten für bereits verlegte Bücher, um im Fall eines positiven Urteils damit gegen eine an die RFS zu zahlende Gebühr zu werben. 147 "Relevant waren Rosenbergs Verdikte und Empfehlungen nur für die NSDAP, ihre Glie­derungen und angeschlossenen Verbände, und das bedeutete im Effekt, daß er darauf Einfluß nehmen konnte, welche Neuerscheinungen in die Parteibüche­reien eingestellt wurden und welches Material zur Parteischulung verwendet wurde." 148 Auch diese Nutzung ihrer fachwissenschaftlichen Arbeit galt da­maligen Soziologen wie Brinkmann durchaus als erstrebenswert.

Vielleicht empfand Brinkmann, der durch sein Engagement für das IfG bereits erprobt hatte, wie engere Beziehungen zwischen sozialwissenschaftli­cher Arbeit und dem NS-Herrschaftsapparat hergestellt werden konnten, des­halb seine Berufung nach Berlin als "ein Glück" ("Heidelberg wurde uner­träglich" 149), da dort ganz andere Möglichkeiten einer Verzahnung sozialwis­senschaftlicher Arbeit mit politischer Planung bestanden. Es ist dann auch nicht weiter verwunderlich, daß in Brinkmanns "Wirtschaftstheorie" aus dem Jahr 1948, die wesentlich auf Publikationen aus dem gerade untergegangenen "Dritten Reich" beruht, und die ihre Praxisnähe betont, auch eine Publikation des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deutschen Arbeitsfront (Berlin) besonders hervorgehoben wird. 150 Wie die derzeitige Edition der Publikatio­nen und unveröffentlichten Materialien des mehrere Hundert Mitarbeiter zäh­lenden Arbeitswissenschaftlichen Instituts belegt, war es eine sehr moderne Form einer konsequent auf sozialtechnologische Instrumentalisierung ausge­richteten Sozialwissenschaft. 151

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Unter earl Brinkmann entwickelte sich das InSoSta während der NS­Diktatur in derselben Richtung. Die Ablösung des akademisch-abgehobenen Stils des Weberschen sozialwissenschaftlichen Räsonnements wurde unter den Bedingungen des braunen Terrors beschleunigt und mündete in einer in jeder Hinsicht verwerflichen Komplizenschaft mit dem NS-System. Reinhard Bollmus hat im Zusammenhang mit der Schilderung der Eingliederung der Handelshochschule Mannheim in die Unversität Heidelberg zu Recht darauf verwiesen, daß die Universität Heidelberg Anfang der dreißiger Jahre unab­hängig von der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus vor ungelö­sten strukturellen Problemen stand, die durch die NS-Maßnahmen überlagert wurden. Die Konfrontation der alten Tradition der Heidelberg Universität, des "Iebendigen Geistes", dem 1930 noch das neue Universitätsgebäude ge­weiht wurde, "mit der materiellen Dynamik eines Zeitalters von ungeheurem Industrie- und Bevölkerungswachstum hätte nicht mehr lange auf die kulturso­ziologische Diskussion im Strahlungskreis Alfred Webers beschränkt bleiben können." 152

In diesem Sinn läßt sich vermuten, daß die traditionelle Auffassung von Soziologie, die vor der NS-Machtübernahme nur noch von Alfred Weber am InSoSta vertreten wurde, dem Institut keine Perspektive geboten hätte. Erfolg­versprechender waren die von der Rockefeller-Stiftung geforderten For­schungsprojekte, die sich problemlos auf die neuen Verhältnisse umpolen lie­ßen. Als die Förderung in Reaktion auf die - allerdings von der RockefeIler­Stiftung nur als vorübergehend eingeschätzte - NS-Machtübernahme einge­stellt wurde, führte Brinkmann diese Form der Modernisierung der Heidel­berger Sozialforschung unter Ausrichtung auf strukturpolitische Strategien des NS-Regimes weiter. Dabei wurden eigene wissenschaftliche Forschungs­interessen mit den politischen Vorgaben der staatlichen Drittmittelgeber ver­knüpft und schließlich auch der verbrecherischen Expansionspolitik unterge­ordnet. Allerdings bestand Brinkmann z.B. bei den Überlegungen zur Aus­siedlungsproblematik auf der gleichzeitigen Weiterentwicklung wissenschaft­licher Instrumente und der Hebung des Standards. Die Umorientierung des InSoSta auf ein stärker empirisch ausgerichtetes anwendungs bezogenes Ar­beiten und die erfolgreichen Nachkriegskarrieren ehemaliger Mitglieder des Instituts deuten auf vielschichtige Innovationspotentiale von Sozialwissen­schaft selbst unter totalitären Bedingungen hin.

Anmerkungen

Ernst Wilhelm Eschmann: Die Stunde der Soziologie, in: Die Tat, 25. Jg. (1933/34), Bd. II, S. 958

2 M. Rainer Lepsius: Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Welt­krieg, 1945 bis 1967, in: Günther Lüschen (Hg.): Deutsche Soziologie seit 1945. Sonderheft 21 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opla­den 1979, S. 27; zu den näheren Umständen von Alfred Webers Emeritierung s.u.

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3 Der Begriff der "örtlichen Konzentration der Soziologie" ist überdies sehr unbe­stimmt. Im Zusammenhang der Frage nach der Institutionalisierung der deut­schen Soziologie in der Weimarer Zeit stellt Stölting z.B. für Berlin fest: "So er­gibt sich im Berlin der 20er Jahre, daß, obwohl einige der deutschen Soziologen an der Berliner Universität tätig waren, sich dennoch kein Arbeitszusammen­hang, geschweige denn eine akademische Institutionalisierung in Form eines In­stituts oder Seminars ergab. So wichtig die Berliner Universität institutionell in anderen Fächern mithin war, spielt sie als akademische Einrichtung bei der Insti­tutionalisierung der deutschen Soziologie eine nur geringe Rolle." Erhard Stöl­ting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik. Berlin 1986, S. 117. Während des "Dritten Reichs" gab es sehr unterschiedliche Formen professio­neller Sozialwissenschaft im Kontext administrativer Planungsstrategien in fol­genden Berliner Instituten: Arbeitswissenschaftliches Institut der Deutschen Ar­beitsfront, Michael Hepp: "Die Durchdringung des Ostens in Rohstoff- und Landwirtschaft". Vorschläge des Arbeitswissenschaftlichen Instituts der Deut­schen Arbeitsfront zur Ausbeutung der UdSSR aus dem Jahr 1941, in: 1999. Zeit­schrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 2. Jg. (1987), H. 4, S. 96ff; Auslandswissenschaftliches Institut, Erich Siebert: Entstehung und Struk­tur der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin (1940 bis 1945), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin. Gesellschafts- und Sprachwissenschaftliche Reihe, Jg. XV (1966), H. I; Institut für Grenz- und Auslandstudien, Berlin-Steglitz, Carsten Klingemann: Ange­wandte Soziologie im Nationalsozialismus, in: 1999. Zeitschrift für Sozialge­schichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 4. Jg. (1989), H. I; Institut für Staatsfor­schung an der Universität Berlin, Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik, Uni­versität Berlin, Berlin-Dahlem, Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, Carsten Klingemann: Soziologie und Sozialforschung im Nationalsozialismus, in: Harald Kerber/ Arnold Schmieder (Hg.): Soziologie. Ein Grundkurs. Rein­bek (erscheint) 1990; weiterhin waren in Berlin mehrere Fachvertreter aus­schließlich im Hochschulbereich tätig. Auch die anderen drei "örtlichen Konzen­trationen der Soziologie" sind nach 1933 durch einen regen Betrieb gekennzeich­net; vgl. zu Frankfurt am Main, C. Klingemann: Angewandte Soziologie (5. diese Anm.); zu Köln, C. Klingemann: Kölner Soziologie während des Nationalsozia­lismus, in: Wolfgang B1aschke/Olaf Hensel u.a. (Hg.): Nachhilfe zur Erinne­rung. 600 Jahre Universität zu Köln. Köln 1988; zu Leipzig, Jerry Z. Muller: The other God that failed. Hans Freyer and the Deradicalization of German Conserva­tism. Princeton 1987; und den Beitrag von G. Schäfer in diesem Band

4 Vgl. Horst Kern: Empirische Sozial forschung. Ursprünge, Ansätze, Entwick­lungslinien. München 1982; Susallne Petra Schad: Empirical Social Research in Weimar-Germany. Paris-The Hague 1972

5 Dirk Käsler: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs­Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung. Opladen 1984

6 E. Stölting (Anm. 3), S. 109; außerdem sei hier auf "das vom Ertrag her gesehen wenig erfolgreiche Experiment" des InSoSta mit seinem in den zwanziger Jahren eingerichteten Praktikerbeirat hingewiesen; vgl. Helmut Schuster: Industrie und Sozialwissenschaften. Eine Praxisgeschichte der Arbeits- und Industriefor­schung in Deutschland. Opladen 1987, S. 410

7 Vgl. zum "Mythos Heidelberg", zu dessen konstitutiven Elementen neben Land-

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schaft, Natur und Architektur insbesondere der "Geist Heidelbergs" zählt, der wiederum durch die Universität und ihr Umfeld, insbesondere den Zirkel um Max Weber, repräsentiert wurde, Michael Buselmeier: Mythos Heidelberg, in: Karin Buselmeier / Dietrich Harth / Christian Jansen (Hg.): Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg. Mannheim 21986, S. 497

8 Christian Jansen: Auf dem Mittelweg nach rechts. Akademische Ideologie und Politik zwischen 1914 und 1933, in: K. Buselmeier u.a. (Hg.) (Anm. 7), S. 185

9 "Die juristische Fakultät war mit Professoren wie Anschütz, Radbruch, der als einer der ganz wenigen Ordinarien in Deutschland der SPD angehörte, Thoma, Graf Dohna, Walter Jellinek, Heinsheimer und Gutzwiler mehrheitlich mit poli­tisch liberalen, zumindest ,vernunftrepublikanischen' Gelehrten besetzt. In der Weimarer Republik war sie darin eine große Ausnahme. Die Lehrstühle am ,1n­SoSta' hatten Alfred Weber, Gothein, später Lederer, auch einer der raren SPD­Ordinarien, und von Eckardt inne. Hier konnte sich der Anti-Militarist und poli­tische Publizist Gumbel habilitieren und erhielt 1923 einen Lehrauftrag für Stati­stik." (Ebd.) Gumbel war dem Institut nur formell unterstellt.

10 Alle Zitate von Wolfgang Benz: Emil1. Gumbel. Die Karriere eines deutschen Pazifisten, in: Ulrich Walberer (Hg.): 10. Mai 1933. Bücherverbrennung in Deutschland und die Folgen. Frankfurt / M. 1983, S. 173f; vgl. Christian Jansen: Der Fall Gumbel und die Heidelberger Universität 1924 - 1932. Heidelberg 1981 (unveröffentI. Zulassungsarbeit)

11 W. Benz (Anm. 10), S. 183 12 Vgl. zur Kriegsbegeisterung und -verherrlichung der deutschen Soziologen, dar­

unter auch die Brüder Weber, Sven Papcke: Dienst am Sieg: Die Sozialwissen­schaften im Ersten Weltkrieg, in: Ders.: Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte. Frankfurt am Main 1985

13 W. Benz (Anm. 10), S. 186 14 Claus-Dieter Krohn: Der Fall Bergstraesser in Amerika, in: Exilforschung. Ein

internationales Jahrbuch, Bd. 4, 1986, S. 259; bereits in der Sitzung der Philoso­phischen Fakultät, auf der die Einsetzung des Untersuchungsausschusses be­schlossen worden war, "schossen sich ... Weber und Bergstraesser als erste auf ihn ein." C. Jansen (Anm. 10), S. 88

15 Wenngleich Max und Alfred Weber gegenüber der überwältigenden Mehrheit der deutschen Professorenschaft sich im Einzelfall relativ schnell von orthodoxen po­litischen Positionen lösen konnten, so vertraten sie aus heutiger Sicht dennoch nur in Nuancen abweichende Positionen in allen Fragen der machtpolitischen Stellung Deutschlands und der überfälligen Reform seiner inneren Verfassung -vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg; vgl. z.B. Sven Papcke: Eine Theo­rie der Sachzwänge: Zum Leben und Werk Max Webers, in: Ders. (Anm. 12); Eberhard Demm: Alfred Weber im Ersten Weltkrieg, in: Ders. (Hg.): Alfred We­ber als Politiker und Gelehrter. Die Referate des Ersten Alfred Weber-Kongresses in Heidelberg (28. - 29. Oktober 1984 [1983, C.K.]). Stuttgart 1986; E. Demm: Alfred Weber und sein Bruder Max. Zum 25. Todestag Alfred Webers am 2. Mai 1983, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 35 (1983)

16 Carl Brinkmann an den Bonner Philosophen und Kultursoziologen Erich Rot­hacker, der zu diesem Zeitpunkt Leiter der Abteilung Volksbildung im neuen Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda war und um Vorschläge für geeignete Kandidaten für zu besetzende Stelle gebeten hatte, am 6.4.1933;

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Nachlaß Erich Rothacker I, Universitätsbibliothek Bonn; am 16.7.1942 teilte Brinkmann Rothacker mit, daß er "meines Freundes Wirsing wegen immer wie­der gern in der MNN" (Münchener Neueste Nachrichten) schreibe (ebd.), an die Wirsing "auf Vorschlag des Reichsführers SS" als "Chefpolitiker" berufen wor­den war (später Hauptschriftleiter); Berlin Document Center (künftig = BDC), Lebenslauf von Dr. Giselher Wirsing, 12.7.1938; zu Wirsings Mitarbeit am "In­stitut zur Erforschung der Judenfrage" in Frankfurt am Main, einer Außenstelle der "Hohen Schule der NSDAP" und seiner Nachkriegskarriere z.B. als Chefre­dakteur der Zeitschrift "Christ und Welt" vgl. Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Stuttgart 1966; Klaus Fritzsche: Politische Romantik und Gegenrevolution. Fluchtwege in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft: Das Beispiel des ,Tat:Kreises. Frankfurt am Main 1976

17 Vgl. Ernst Wilhelm Eschmann: Persönliche Erinnerungen an Alfred Weber, in: E. Demm (Hg.) (Anm. 15), S. 202

18 Ebd., S. 200 19 Ebd., S. 199; als bei den Abschiedsfeierlichkeiten anläßlich Karl Mannheims Be­

rufung nach Frankfurt am Main "sozusagen deutsch-konservative Werte, die AI­fred Weber selber sonst kritisch zu nehmen pflegte, in einer hochmütig­unzulässigen Weise verspottet" (S. 203) wurden, verließ Weber vorzeitig das Fest.

19a Vgl. C. Jansen (Anm. 8), S. 180f; vgl. zur Kritik von Webers Konzept einer "oli­garchischen Demokratie" 1 " Führerdemokratie", Herbert Döring: Der Weimarer, Kreis. Studien zum politischen Bewußtsein verfassungstreuer Hochschullehrer in der Weimarer Republik. Meisenheim am Glan 1975, S. 2\3ff

20 Vgl. dazu exemplarisch den Opportunismus, die Selbstgleichschaltungsbemü­hungen sowie die echte Aufbruchsstimmung deutscher Soziologen bei dem Ver­such einer kleinen Gruppe von NS-Aktivisten aus den eigenen Reihen, über die Vereinnahmung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie im NS-Staat Karriere zu machen; C. Klingemann: Soziologen vor dem Nationalsozialismus. Szenen aus der Selbstgleichschaltung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Jo­sef Hülsdünker 1 Rolf Schell hase (Hg.): Soziologiegeschichte. Identität und Kri­sen einer ,engagierten' Disziplin. Berlin 1986; und den Beitrag "Entnazifizie­rung und Soziologiegeschichte" in diesem Band

21 K. Fritzsche (Anm. 16), S. 319 22 Christian Sigrist/Reinhart Kößler: Soziologie in Heidelberg, in: K. Buselmeier

u.a. (Hg.) (Anm. 7), S. 84 23 Eberhard Demm: Zivilcourage im Jahre 1933. Alfred Weber und die Fahnenak­

tion der NSDAP, in: Heidelberger Jahrbücher, XXVI (1982), S. 76 24 Vgl. C.-D. Krohn (Anm. 14), S. 266; zu Bergstraessers Überfaschismus bis zu

seiner Entlassung, s.u. 25 E. Demm (Anm. 23), S. 78 26 Ebd. 27 A. Weber an das Ministerium für Kultus und Unterricht, 12.4.1933; Generallan­

desarchiv Kar1sruhe (künftig = GLA) 466/20780; Weber bezeichnete diesen Vorgang nach 1945 mehrfach als "Zwangsemeritierung". Andererseits sprach .er auch von seinem Antrag auf Emeritierung, den er stellte, weil die Regierung auf seine Anfrage hin nicht gewillt gewesen sei. ihn vor etwaigen Anrempelungen

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durch ihm fremde Studenten auf dem Katheder zu schützen; vgl. E. Demm (Anm. 23), S. 79; dem amerikanischen Soziologen Earle Edward Eubank, der im Sommer 1934 europäische Soziologen für sein Projekt "The Makers of Socio­logy" besuchte, erzählte Weber wiederum, daß er gezwungen worden sei, die Universität zu verlassen, da er als Gegner der neuen Regierung angesehen werde, bat Eubankjedoch, in Amerika von ihm nur als einem Emeritus zu sprechen; vgl. Dirk Käsler: Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubank besucht europäi­sche Soziologen im Sommer 1934. Opladen 1985, S. 122

27a Weber an Engeren Senat, 18.3.1933; Weber an Rektor, 20.3.1933; zit. nach E. Demm (Anm. 23), S. 79

27b Außenstelle des Landespolizeiamtes bei der Polizeidirektion Heidelberg, Abt. N, Heidelberg, 11.7.1933, gez. Müller, Krim. Sekr.; GLA, 235/30016

28 Nachrichten über den Stand der Soziologie als Lehrfach an deutschen Hochschu­len im Wintersemester 1924/25, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 4. Jg. (1924/25), S. 323f

29 Vgl. Arnulf Kutsch: Das Medium als Gegenstand der Wissenschaft. Ansätze ei­ner Rundfunkforschung an der Universität Heidelberg 1932/33, in: Mitteilungen des Studienkreises Rundfunk und Geschichte, 10. Jg. (1984), Nr. 4, S. 321; vgl. zur engen Beziehung des InSoSta zum Institut für Zeitungswesen, Albrecht Ackermann: Das Institut für Zeitungswesen (Zeitungswissenschaft) an der Uni­versität Heidelberg 1927 - 1945, in: Rüdiger vom Bruch lOtto B. Roegele (Hg.): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1986

30 Alfred Weber: Neue Universität, Rhein-Neckar-Zeitung, 16.5.1946; zit. nach Reinhard Bollmus: Handelshochschule und Nationalsozialismus. Das Ende der Handelshochschule Mannheim und die Vorgeschichte der Errichtung einer Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Heidelberg 1933/34. Meisenheim am Glan 1973, S. 5. Der Artikel erschien tatsächlich je­doch am 14.5.1946.

31 R. Bollmus (Anm. 30), S. 137; inwieweit die Max-Weber-Tradition den National­sozialisten an der Universität Heidelberg, Fehrle und Groh, tatsächlich verdäch­tig war, vermag ich nicht zu beurteilen. Der NS-Sympathisant und aktive Organi­sator der Integration der Handelshochschule Mannheim, earl Brinkmann, hielt z.B. am 10.12.1938 in der wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft der Klasse III (Erforschung des volksgenössischen Rechts) der Akademie für Deut­sches Recht des späteren Generalgouverneurs Hans Frank einen Vortrag über Max Webers Objektivitätslehre; Zentrales Staatsarchiv der DDR, Dienststelle Merseburg, Rep. 92, Nachlaß Werner Sombart, Nr. 16, BI. 53; für Brinkmann war sie zeitgemäß auslegbar; vgl. C. Brinkmann: Die Bedeutung Max Webers für die heutigen Sozialwissenschaften, in: Schmollers Jahrbuch, 67, 1943 (= Deut­sche Urschrift des Beitrags zur letzten internationalen Fachfestschrift vor dem Kriege: Melanges economiques et sociaux offerts 11 Emile Witmeur [Paris, Sirey, 1939], 3lff); auch bei den berufenen Verwaltern der Max Weber-Tradition im Ma­rianne Weber-Kreis, in dem sich nach 1933 auch etliche der entlassenen Hoch­schullehrer trafen, galt Brinkmann wohl nicht als Gegner der Tradition. Er hielt dort im Juni 1941 einen Vortrag mit dem Thema "Der Idealtypus bei Max We­ber"; vgl. Der Marianne Weber-Kreis. Heidelberg 1958, S. 15

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32 Anfang der dreißiger Jahre hatte das InSoSta drei Direktoren: Carl Brinkmann, Emil Lederer (bis zu seiner Berufung nach Berlin im Jahr 1931) und Alfred We­ber; vgl. Semesterbroschüre des InSoSta, Sommersemester 1931; Universitätsar­chiv Heidelberg (künftig = UAH) B-6680 / 2

33 Rektor an InSoSta, 20.11.1933; UAH, B-6680/ 2; nachdem Brinkmann diese Auf­gabe übernommen hatte, gab Bergstraesser die Führung der Verwaltungsge­schäfte ab; Rektor an badischen Minister des Kultus und Unterrichts (künftig =

BMK), 25.10.1933; BMK an Rektor, 8.11.1933; GLA, 235/29854 34 Gegen den als "links" geltenden von Eckardt, der in erster Ehe mit einer Jüdin

und in zweiter Ehe mit einer "Halbjüdin" verheiratet war, war vorher eine groß­angelegte Diffamierungskampagne gestartet worden. Daran beteiligt waren: die Studentenschaft der Universität Heidelberg unter dem ersten ASTA-Vorsitzenden Gustav Adolf Scheel, später Reichsdozenten- und Reichsstudentenbundführer so­wie Gauleiter in Salzburg; der "Vertrauensmann der N .S. Studenten im Zeitungs­Institut" und Mitglied der Zeitungswissenschaftlichen Fachschaft; der studenti­sche "Führer des Nationalen Blocks" der Universität Heidelberg sowie der Par­teigenosse Dr. Heinz Wismann, der über den Leiter der Reichspressestelle der NSDAP, der selbst das Institut kannte, beim badischen Kultusministerium inter­venierte (ein Dr. Heinz Wismann war später Leiter der Abteilung Schrifttum im Propagandaministerium und stellvertretender Leiter der Reichsschrifttumskam­mer), weiterhin gab es (zum Teil) handschriftliche Denunziationen von Eckardts und Versuche, sich dadurch eine Stelle am Institut zu verschaffen. Von Eckardts Nachfolger als Institutsleiter monierte den großen Einfluß von Alfred Weber auf das Institut und die soziologische Ausrichtung von Eckardts; GLA, 235/3278; von Eckardt traf diese Entwicklung völlig überraschend; vgl. ebd. und A. Kutsch (Anm. 29); auch die Abfassung eines langen Rechtfertigungsschreibens an den Rektor, "in dem er seine nationale Gesinnung betonte", half ihm nicht; A. Acker­mann (Anm. 29), S. 166

35 Arno Weckbecker: Die Judenverfolgung in Heidelberg 1933 - 1945. Heidelberg 1985, S. 158

36 Ich konnte diesen Widerspruch nicht aufklären, da mir der Rektor der Universität Heidelberg jede Einsicht in Personalakten verweigerte. Außerdem erhielt ich bei meiner Arbeit im Universitätsarchiv keine Einsicht in Akten, in denen personen­bezogene Daten zu vermuten waren. Deswegen können bestimmte Aussagen nur mit Vorbehalt getroffen werden. (Außerdem wurde mir - einmalig für westdeut­sche Universitätsarchive - die Kopiererlaubnis für freigegebene Akten verwei­gert.) - Eine Überprüfung anhand des im Bundesarchiv Koblenz befindlichen Nachlasses von Arnold Bergstraesser war nicht möglich, da mir nur eine der bei­den Töchter Bergstraessers eine Benutzungserlaubnis erteilte.

37 Vgl. E. Demm (Anm. 23), S. 79; Jakob Marschak war seit 1930 Privatdozent und hatte einen Lehrauftrag für Wirtschaftskunde des In- und Auslands; GLA, 235/29853; Johann Mitgau, Privatdozent für Sozialwissenschaft seit 1930, war ab 1.4.1930 beurlaubt und lehrte an anderen Hochschulen. Im Übergang von sei­ner Stelle an der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin zur Hochschule für Lehrerbildung in Cottbus bzw. Frankfurt/Oder hielt er im Wintersemester 1933/34 ohne Wiederanstellung oder Lehrauftrag drei Lehrveranstaltungen an der Universität Heidelberg ab; später übernahm er auch nebenamtlich die "Schu­lung der verschiedenen Sparten der Polizei zu Frankfurt / Oder" und machte des-

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wegen einen Ausbildungskurs an der Schule des Sicherheitsdienstes der SS in Bernau mit. Ab 1942 war er im Bayerischen Statistischen Landesamt für das Reichsinnenministerium als Gutachter tätig; vgl. Hermann und Marianne Mit­gau: Gemeinsames Leben. Dritter Teil 1930 - 1941. München 1942 (als Hand­schrift vervielfältigt), S. 41, 44[, 130, 138, 144. Ab Sommer 1943 war er dann auch für das Reichssicherheitshauptamt tätig; vgl. BDC, Unterlagen Hermann Mitgau; GLA, 235/2311; Marie Baum und Walter Waffenschmidt werden von Bollmus (Anm. 30, S. 4) auch zum InSoSta gezählt. Marie Baum wurde wegen "nicht arischer Abstammung" der Lehrauftrag für Soziale Wohlfahrtspflege ent­zogen; Waffenschmidt war außerplanmäßiger Professor für Nationalökonomie und wurde nicht entlassen.

38 EW. Eschmann (Anm. I), S. 958, 959; in den ersten Jahren des "Dritten Reichs" erschienen mehr als ein Dutzend solcher Programmschriften, auch von Soziolo­gen, die später emigrieren mußten; vgl. C. Klingemann: Heimatsoziologie oder Ordnungsinstrument. Fachgeschichtliche Aspekte der Soziologie in Deutschland zwischen 1933 und 1945, in: M. Rainer Lepsius (Hg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918 - 1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wir­kungsgeschichte. Sonderheft 23 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und So­zialpsychologie. Opladen 1981; C. Klingemann: Vergangenheitsbewältigung oder Geschichtsschreibung. Unerwünschte Traditionsbestände deutscher Soziologie zwischen 1933 und 1945, in: Sven Papcke (Hg.): Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der Soziologie in Deutschland. Darmstadt 1986

39 Marianne Weber: Academic Conviviality, in: Minerva, XV, 2 (Summer 1977), S. 221

40 Arnold Bergstraesser: The Economic Policy of the German Government, in: In­ternational Affairs, Jan. 1934

41 Bei seinen Internierungen in den USA spielte dieses Buch eine wichtige Rolle. Bergstraesser versuchte abzuwiegeln, indem er u.a. behauptete, er habe einen Hi­storiker namens Hermann Göring zitiert; vgl. C.-D. Krohn (Anm. 14); das Buch wurde nach 1945 von den Militärbehörden verboten; vgl. Christoph Cobet: Zur Soziologie nach 1945, mit Hinweisen zur Bibliographie, in: Ders. (Hg.): Einfüh­rung in Fragen an die Soziologie in Deutschland nach Hitler 1945 - 1950. Frank­furt am Main 1988, S. 30

42 A. Bergstraesser: Volkskunde und Soziologie, in: Geistige Arbeit, 5. Juni 1934, S. 5; in einem nicht veröffentlichten Kommentar stellte Ferdinand Tönnies klar, daß er niemals gesagt habe, daß man "Gemeinschaft" durch politischen Willen erzeugen könne; vgl. F. Tönnies: Soziologie und Volkskunde (Manuskript, 6 S.); Nachlaß Ferdinand Tönnies 34: 85, Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek Kiel

43 "Nazi-Professor treibt sich in Paris herum. Die Wandlungen des Arnold Berg­straesser", in: Pariser Tageblatt, No. 89, 11.3.1934

44 Vgl. Bundesarchiv Koblenz (künftig = BA), R 21 / Anhang, Karteikarte Friedrich Wagner; Unterlagen Friedrich Wagner; GLA, 235/2629, Personalakte F. Wag­ner; Institut für Zeitgeschichte München (künftig' IfZ), MA 116/ 17 (fünf Beur­teilungen Wagners); Artikel F. Wagner, in: Kürschners Gelehrtenkalender 1954, 1966; als der Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät Franz Alfred Six 1942 Wagner für den Lehrstuhl für Staats- und Kulturphilosophie vorschlug, hob er Wagners langjährige Ausbildung am InSoSta als besonderes Qualifikations-

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merkmal hervor; Six an REM, 11.6.1942, Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem (künftig = GStA), Rep. 76, Nr. 'öl

45 Vgl. E. Demm (Anm. 23), S. 76; Willy Richter, stellvertretender Leiter des Ar­beitsamtes Bruchsal, promovierte ebenfalls 1933 bei Bergstraesser mit der Arbeit "Die Bedeutung staatlicher Einflüsse auf die landwirtschaftlichen Grundbesitz­verhältnisse bei der Betrachtung des Allmendwesens in Baden" (Walldorf 1937) und Artur Sticht über "Stände und Klassen in der deutschen soziologischen und ökonomischen Literatur der letzten 80 Jahre" (Bruchsal 1934); die Dissertation von Heinrich Tisch "Das Problem des sozialen Auf- und Abstiegs im deutschen Volk" (Speyer 1937) soll auch von Bergstraesser "veranlaßt" worden sein; vgl. Hermann und Marianne Mitgau: Gemeinsames Leben. Dritter Folge Zweiter Teil, München 1942 - Göttingen 1952 (o.D., als Handschrift vervieif<iltigt), S. 209

46 BDC, Unterlagen Carl Jantke; Artikel Carl Jantke, in: Wilhelm Bernsdorf (Hg.): Internationales Soziologenlexikon. Stuttgart 1959

47 Im Sommersemester 1934 und im Wintersemester 1934/35 veranstaltete Hippier als Kreisführer III der Deutschen Studentenschaft und des NSDStB Übungen "über wissenschaftliches Arbeiten" und "über Theorie, Wesen und Tendenzen des Kapitalismus" an der Goebbels unterstellten Deutschen Hochschule für Poli­tik; GStA, Rep. 303, NT. 227; vgl. auch die Rechtfertigungsschrift des späteren Werbeberaters der FDP, Fritz HippIer: Die Verstrickung. Einstellungen und Rückblenden von Fritz Hippier, ehern. Reichsfilmintendant unter Josef Goeb­bels. Düsseldorf o.D. (ca. 1981); die Dissertation von Hippier erschien in der von Gunther Ipsen herausgegebenen Abteilung Volkslehre und Gesellschaftskunde der Neuen Deutschen Forschungen

48 Vgl. Regina Urban 1 Ralf Herpolsheimer: Franz Alfred Six, in: Arnulf Kutsch (Hg.): Zeitungswissenschaftler im Dritten Reich. Sieben biographische Studien. Köln 1984

49 Vgl. Karl Heinz Pfeffer: Begriff und Methode der Auslandswissenschaften, in: Franz Alfred Six (Hg.): Jahrbuch der Weltpolitik 1942. Berlin 1942

50 Vgl. R. UrbaniR. Herpolsheimer(Anm. 48), S. 205; Artikel Kurt Walz, in: Kür­schners Gelehrtenkalender 1954, 1961

51 BMK an Rektor der Universität Heidelberg (künftig = Rektor), 14.11.1934; UAH B-6681 1 1

52 BDC; Unterlagen Paul Hövel 53 Vgl. Komitee zur Untersuchung der Verhältnisse an westdeutschen Universitäten

an der Karl-Marx-Universität Leipzig (Hg.): Die wissenschaftliche und politi­sche Karriere des Dr. phil. habil. Karl Heinz Pfeffer, Professor für Soziologie der Entwicklungsländer an der Universität Münster, 0.0., o.D. (ca. 1962)

54 Rektor an BMK, 4.4.1935; GLA, 235/29854 55 Vgl. den Antrag Bergstraessers auf Weiterbeschäftigung bei gekürzten Bezügen

vom 4.1.1935; GLA, 235/29854 56 Vgl. BDC, Karteikarte Arnold Bergstraesser (REM) 57 BMK an REM, 17.7.1936 (Auszug); GLA, 235/29854; weitere vorliegende Ein­

zelheiten der Umstände der Entlassung Bergstraessers können hier aus Platz­gründen nicht vorgestellt werden. Sie widersprechen nicht der Schilderung, wo­nach die Universitätsleitung Bergstraessers Entlassung betrieb. So ließ sich noch im Januar 1937 der "Stellvertreter des Führers" die Personalakte Bergstraessers

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vom REM schicken und reichte sie erst im Juni zurück; vgl. BDC, Karteikarte A. Bergstraesser (REM); eine Überprüfung dieser Sichtweise wäre allerdings erst durch die mir verwehrte Einsichtnahme in die Personalakte Bergstraessers im UAH und in seinen Nachlaß möglich.

58 Brinkmann an BMK, 13.2.1936; UAH, B-6680/2; als Brinkmann im Februar 1936 dem badischen Kultusministerium die ungünstige finanzielle Lage des Insti­tuts vortrug, erschien auch ein kurzer Artikel von ihm in den Münchener Neue­sten Nachrichten, in dem er in Verbindung mit der Besprechung zweier Bücher von Hans Freyer und Alfred Weber die aktuelle Situation der deutschen Soziolo­gie als desolat skizzierte; vgl. C. Brinkmann: Zur Lage der deutschen Soziologie, in: Münchener Neueste Nachrichten, Nr. 47, 16.2.1936, S. 4. Webers Buch war auch Anlaß für Ernst Wilhelm Eschmann, sich Gedanken über "Die Heidelber­ger Soziologie" (in: Geistige Arbeit, 20.8.1936, Nr. 16, S. 7) zu machen. Über die aktuelle Soziologie in Heidelberg äußert sich der inzwischen in Berlin lehrende Eschmann allerdings nicht.

59 Brinkmann an Dr. Paul Junker, 26.10.1936; UAH, B-6680/2 60 Brinkmann an Dekan der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät

(künftig = Dekan), 18.11.l935; UAH, B-6681 / I 61 Ebd.; 1935 wollte die Rockefeller-Stiftung noch eine Veröffentlichung des 1933

entlassenen Jakob Marschak im Rahmen einer Publikationsreihe des InSoSta for­dern. Brinkmann und der Rektor waren für die Veröffentlichung mit dem Hinweis auf dem Titelblatt auf die Rockefeller-Stiftung, aber ohne Nennung des Instituts­namens; Brinkmann an Rektor, 2.3.1935; Rektor an Brinkmann, 6.3.1935; UAH, B-6680 / 2; eine Schilderung der realpolitischen Förderungspolitik der Rockefeller-Stiftung gegenüber emigrierten deutschen Sozialwissenschaftlern er­klärt auch die Motive für die WeiterfOrderung der daheimgebliebenen; vgl. Peter M. RutkofflWilliam B. Scott: Die Schaffung der "Universität im Exil", in: Ilja Srubar (Hg.): Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher Sozialwis­senschaftIer 1933 - 1945. Frankfurt am Main 1988, S. 109 - 125, bes. S. 119; vgl. Kristie Macrakis: Wissenschaftsforderung durch die Rockefeller-Stiftung im "Dritten Reich". Die Entscheidung, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik finan­ziell zu unterstützen, 1934 - 39, in: Geschichte und Gesellschaft, 12. Jg. (1986); Kar! Heinz Roth: Schöner neuer Mensch. Der Paradigmenwechsel der klassi­schen Genetik und seine Auswirkungen auf die Bevölkerungsbiologie des "Drit­ten Reichs", in: Heidrun Kaupen-Haas (Hg.): Der Griff nach der Bevölkerung. Aktualität und Kontinuität nazistischer Bevölkerungspolitik. Nördlingen 1986; die Dissertationen von Hüfner, Schiller und Prinzing erschienen in der bereits vor 1933 begonnenen Schriftenreihe des InSoSta "Zum wirtschaftlichen Schicksal Europas. 1. Teil: Arbeiten zur europäischen Problematik, II. Teil: Arbeiten zur deutschen Problematik", die im Junker und Dünnhaupt Verlag (Berlin) erschien

62 "Bericht über die organisatorische und wissenschaftliche Entwicklung des Insti­tuts, der Lehre und des Studiums, 20.6.1938; erstattet vom Leiter des Instituts für Zeitungswissenschaft, Prof. Dr. Hans Hermann Adler", S. 6; UAH, B-6683 / 3

63 Brinkmann an Rektor, 20.12.1939; UAH, B-6681 /2; hierbei muß berücksichtigt werden, daß die Studentenzahlen aufgrund der wissenschaftspolitischen Maß­nahmen des NS-Regimes allgemein rückläufig waren. Die finanzielle Situation des InSoSta ließ sich wegen des großen Verlusts an Archivbeständen der Philoso­phischen Fakultät und der Einschränkung der Benutzungsmöglichkeiten des Ar-

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chivmaterials nicht präziser erfassen. Neben unterschiedlich hohen Sonderzu­schüssen (bis zu 1500 Reichsmark) und z.B. einer Zuwendung aus der Gothein­Gedächtnisstiftung, deren Mittel allerdings später für einen Lehrauftrag für Aus­landskunde einem Protege des Rektors und Gaudozentenbundführers Ernst Krieck zugewiesen wurden, und den nicht zu quantifizierenden regelmänigen Zuwendungen der RAG (s.u.) stieg der feste Institutsetat von 4600 Reichsmark im Jahr 1936 auf 6200 (1939), sank auf 4300 (1940) und stieg wieder auf 6000 Reichsmark (1941 u. 1942); zeitweilig unterlag er einer allgemeinen Kürzung von 30 % (1939) bzw. 10 % (1941); UAH, B-6680/2

64 BDC, Unterlagen Carl Brinkmann 65 BA, R 21 / Anhang, Karteikarten Carl Brinkmann; auner Brinkmann waren auch

die Soziologen Max Hildebert Boehm, den allerdings Alfred Rosenberg am Par­teieintritt hinderte, Ludwig Heyde, Waldemar Mitscherlich und Wilhelm Vleu­gels ebenfalls Förderndes Mitglied der SS; vgl. zur Einschätzung Brinkmanns als "Parteimann" durch Leopold von Wiese gegenüber dem amerikanischen Sozio­logen Earle Edward Eubank im Januar 1935, Dirk Käsler (Anm. Tl), S. 162, 164; Brinkmann hat mit großer Sicherheit auch für die Wahl von Hans Freyer zum neuen Vorsitzenden der DGS im Dezember 1933 gestimmt, wodurch von Wieses Pläne, seinen Einfluß als Geschäftsführer auch in einer selbst gleichgeschalteten DGS zu behalten, vereitelt wurden; vgl. C. Klingemann (Anm. 20)

65a BA, R 61, BI. 16, 18, 21, 23, 40; Zentrales Staatsarchiv der DDR, Dienststelle Merseburg, Rep. 92 (Nachlaß Werner Sombart), Nr. 16, BI. 53, 123; 1935 nahm er an zwei Sitzungen der Abteilung für das wissenschaftliche Studium der inter­nationalen Beziehungen des Kulturpolitischen Ausschusses der Deutschen Ge­sellschaft für Völkerbundfragen teil. Dabei verwies er auf die "Deutschfeindlich­keit gewisser Kreise des englischen Institute of International Relations"; BA, NS 15/293

66 Vgl. Arno Weckbecker: Gleichschaltung der Universität? Nationalsozialistische Verfolgung Heidelberger Hochschullehrer aus rassischen und politischen Grün­den, in: K. Buselmeier u.a. (Hg.) (Anm. 7), S. 280

67 Brinkmann an Groh (Rektor), 4.8.1935; UAH, B-6681 / 1; als Nachfolger des ent­lassenen Jakob Marschak wurde für die üblichen zwei Jahre (bis Ende 1935) Jo­seph Moreth als 1. Assistent beschäftigt, der bei Emil Lederer mit der Arbeit "Verhältnis von Arbeitszeit und Arbeitsleistung" (Wall dorf bei Heidelberg 1928) promoviert hatte; BMK an Rektor, 14.11.1933; Brinkmann an BMK, 8.11.1935; UAH, B-6681/ 1

68 Lebenslauf Albert Prinzing; UAH, B-6681 / 1 69 Brinkmann an Dekan, 18.11.1935; UAH, B-6681/ 1 70 In Rom war Prinzing außerdem Vertrauensmann der Studierenden deutscher

Staatsangehörigkeit in der Ausländerorganisation der Gruppi Universitari Fasci­sta; Lebenslauf A. Prinzing; UAH, B-6681 / 1

71 Vgl. R. Bollmus (Anm. 30), S. 105; seine Dissertation erschien als Teildruck und auch unter dem Titel "Wirtschaftslenkung. Das australische Beispiel" (Berlin 1937) als sechstes (und letztes) Heft der Schriftenreihe des InSoSta "Zum wirt­schaftlichen Schicksal Europas, 11. Teil: Arbeiten zur deutschen Problematik". In seinem Vorwort erklärte Brinkrnann diesen Publikationsort für angemessen, da "die großen Beispiele totaler staatlicher Wirtschaftslenkung" in Übersee heran­wüchsen. Als Habilitationsschrift reichte Prinzing den 2. Teil der Dissertation ein.

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72 BDC; Unterlagen A. Prinzing; nach 1945 war Prinzing u.a. Vorstandsmitglied bzw. -vorsitzender bei AEG und Osram, vgl. versch. Ausgaben von Wer ist wer?

73 Vgl. E. Siebert (Anm. 3), S. 32 74 Nachrichten des Auslandswissenschaftlichen Instituts, Folge 6, Juli 1943, S. 362 75 Brinkmann an BMK, 8.11.1935; Brinkmann an Dekan, 15.8.1936; Brinkmann an

BMK, 10.5.1938; UAH, B-6681/1 76 Personal bogen Gardy Gerhard Veltzke (mit Anlage'I); UAH, B-6681 1 1; BDC,

Unterlagen G. G. Veltzke 77 Vgl. Brinkmann an BMK 27.7.1940; UAH, B-6681 12; vgl. weitere Angaben in

GLA, 235129853 und 29958; als Professor für Nationalökonomie an der Univer­sität Mainz gab Montaner auch nach 1945 Soziologie als Arbeitsgebiet an, außer­dem war er Mitglied der DGS; vgl. Artikel A. Montaner, in: Kürschners Gelehr­tenkalender 1954, 1966

78 Theodor Geiger: Kritische Bemerkungen zum Begriffe der Ideologie, in: Gott­fried Eisermann (Hg.): Gegenwartsprobleme der Soziologie. Alfred Vierkandt zum 80. Geburtstag. Potsdam 1949, S. 142

79 Rene König: Die Situation der emigrierten deutschen Soziologen in Europa, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11. Jg. (1959), S. 114; als authentischer Interpret der NS-Elitentheorie erscheint Pfenning bei David Schoenbaum: Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reichs. München 1980, S. 97, 159, 162; und als NS-Wirtschaftstheoretiker bei Werner Krause: Wirtschaftstheorie unter dem Hakenkreuz. Die bürgerliche politische Ökonomie in Deutschland während der faschistischen Herrschaft. Berlin (Ost) 1969 (s. Register)

80 Don 1. Hager: German Sociology under Hitler 1933 - 1941, in: Social Forces, Vol. 28, Oct. 1949 - May 1950, S. 7

81 Heinz Maus: Bericht über die Soziologie in Deutschland 1933 bis 1945, in: Köl­ner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11. Jg. (1959), S. 89

82 Vgl. Otthein Rammstedt: Deutsche Soziologie 1933 - 1945. Die Normalität ei­ner Anpassung. Frankfurt am Main 1986, S. 114ff

83 IfZ, MA 116/12 84 Personalbogen Andreas Pfenning; UAH, B-6681 12; Standes liste A. Pfenning;

GLA, 235131687 85 Personalbogen A. Pfenning; UAH, B-6681/2 86 Vgl. Gerhard Müller: Ernst Krieck und die nationalsozialistische Wissenschafts­

reform. Weinheim-Basel 1978, S. 125, 139, 497; das in Kriecks Schriftenreihe 1936 erschienene Buch "Staatswissenschaft und Revolution" wurde vom Amt Rosenberg, der Dienststelle Alfred Rosenbergs als "Beauftragter des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP", heftig kritisiert; IfZ, MA 116/12

87 Brinkmann an BMK, 12.8.1938 (zwei Briefe); UAH, B-6681/1 88 Brinkmann an BMK, 8.1.1941; Brinkmann an BMK, 25.3.1941; Horst Jecht an

Rektor, 13.8.1945; UAH, B-6681/2; nach 1945 galt Pfenning als vermißt; Ver­zeichnis der Universitätsangehörigen, die durch die Militärregierung entlassen wurden und bei denen die Zahlungseinstellung ihrer Dienstbezüge bereits vor der Entlassung erfolgte; o.D. (1952); GLA, 235/29829

89 In: Volk im Werden, 7. Jg. (1939) 90 Vgl. die Literaturangaben im Artikel Carl Brinkmann, in: Kürschners Gelehrten-

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1J6 Karsten Klingemann

kalender 1940/41; Brinkmann publizierte in einem breiten Themenspektrum und nach 1933 auch mehrfach im Ausland.

91 Vgl. C. Brinkmann: Baden, in: Konrad Meyer/Klaus Thiede (Hg.): Die ländli­che Arbeitsverfassung im Westen und Süden des Reiches. Beiträge zur Land­fluchtfrage. Heide!berg u.a. 1941; er zog dabei u.a. heran. P. Wecker: Beitrag zum Verständnis des Problems der Landfluchtfrage in Baden (ungedruckte Raumforschungsarbeit des Heidelberger Instituts für Sozial- und Staatswissen­schaften), S. 248

92 Frank Glatze!: Besiedlung der Ostgebiete durch bäuerliche Kolonisation aus dem Altreich, in: Raumforschung und Raumordnung, 4. Jg. (1940), S. 184; für den Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums waren weitere Soziolo­gen tätig, vgl. C. Klingemann: Angewandte Soziologie (Anm. 3)

93 C. Brinkmann: Gesundung der bäuerlichen Verhältnisse und Siedlerreserve in Nordbaden, in: Raumforschung und Raumordnung, 4. Jg. (1940), S. 186

94 Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (E. Schuster) an Dekan, 5.11.1937; UAH, B-6681 1 1; vgl. z.B. den Lebenslauf in der Heidelberger Disser­tation von Waldemar Fehringer: Die landschaftlichen, sozialen und volklichen Veränderungen im unteren Murgtal durch die Ansiedlung und Ausdehnung der papiererzeugenden Industrie. Ein Beitrag zur Raumforschung. Würz burg­Aumühle 1938

95 Brinkmann an Rektor, 22.6.1937; UAH, B-6681 1 I 96 Personalbogen G.G. Veltzke (mit Anlagen); UAH, B-6681 1 I; Gutachten von Carl

Brinkmann, 8.8.1939; BDC, Unterlagen G.G. Veltzke 97 Berichte über Landwirtschaft, N.F., Bd. XXV (1940), H. 3/4; seinen Aufsatz

"Groß- und Kleinbetriebe der Landwirtschaft" (Schmollers Jahrbuch) bezeich­nete Heinz Maus (Anm. 81, S. 77, 89) als "soziologisch relevant".

98 Brinkmann (iV. Klaus Heinrich) an Rektor, 13.4.1940; UAH, B-6681 12 99 Fragebogen, Military Government of Germany (mit Lebenslauf), gez. Max E.

Graf zu Solms-Roedelheim, 20.2.1946; GLA, 235/29976; Personalbogen Max Ernst Graf zu Solms-Roedelheim; UAH, B-6681 12

100 So konnten z.B. noch keine näheren Informationen beschafft werden zur Arbeit von Paul 1. Herrmann: Untersuchungen zur ag raren Struktur Mittelbadens (Landkreis Bühl und Rastatt). Vorschläge zu einer Neuordnung der Boden- und Besitzverhältnisse (Maschinenschrift), 0.0. (1942). Staats- und Wirtschaftswis­senschaftliche Dissertation, 10.7.1942, Universität Heidelberg; außerdem wurden auch andere Themenbereiche bei Brinkmann bearbeitet; vgl. z.B. die Disserta­tionen zur Frauenerwerbsarbeit von Hedwig Maaß: Von Frauenarbeit zu Frauen­fabrikarbeit. Untersuchung über Ursachen und Anfange der industriellen Frauenarbeit. Witten 1938; und Else Härtling: Die Lage der erwerbstätigen Frau unter besonderer Berücksichtigung der gehobenen Berufe und der arbeitseinsatz­politischen Fragen. Heidelberg 1941; die ehemalige Studentin von Alfred Weber, Luise Manz, promovierte 1937 bei Brinkmann mit der Arbeit "Der Ordo-Ge­danke. Ein Beitrag zur Frage des mittelalterlichen Ständegedankens" (Stuttgart­Berlin 1937); vgl. L. Manz an Weber, 22.4.1946; BA, Nachlaß Alfred Weber, Nr. 35

101 Vgl. C. Klingemann: Angewandte Soziologie (Anm. 3) 102 Vgl. ebd. 103 "Die Grundlagen dieser Vorlage (des Generalplans Ost, c.K.) sind in meinem

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Institut für Sozial- und StaatswissenschaJten 1/7

Institut für Agrarwesen und Agrarpolitik erarbeitet worden unter Mitwirkung ei­niger engster Mitarbeiter in der Planung und im Zentralbodenamt (zwei Ämter in der von Konrad Meyer geleiteten Amtsgruppe C beim Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, C.K.) und unter Hinzuziehung von Professor Dr. Boesler - Jena (Finanzwissenschaft)." Konrad Meyer an Reichsführer SS, 28.5.1942; abgedruckt bei Dietrich Eichholtz: Der "Generalplan Ost". Über eine Ausgeburt imperialistischer Denkart und Politik (mit Dokumenten), in: Jahrbuch für Geschichte, 26, 1982, S. 259; in seinem Nürnberger Prozeß teilte Konrad Meyer seinem Verteidiger mit, daß sein ehemaliger Mitarbeiter, der habilitierte Agrarsoziologe und Dozent an der Universität Berlin, Herbert Morgen, am Ge­neralplan Ost mitgearbeitet hatte; K. Meyer, handschriftliche Notiz an seinen Verteidiger Dr. Behling; BA, All. Proz.; nach 1945 war Herbert Morgen u.a. Professor und Direktor der Pädagogischen Hochschule für landwirtschaftliche Lehrer in Oldenburg und Präsident der Akademie für Raumforschung und Lan­desplanung in Hannover

104 Franz Eulenburg: Großraumwirtschaft und Autarkie. Jena 1932 105 Vgl. Kar! Heinz Roth: Vernichtung und Entwicklung. Die nazistische "Neuord­

nung" und Bretton Woods (Arbeitspapier für das Bonner Tribunal gegen den Weltwirtschaftsgipfel am 3.5.1985), in: Mitteilungen der Dokumentationsstelle zur NS-Sozialpolitik, I. Jg. (1985), H. 4; Detlef Hartmann: Völkermord gegen soziale Revolution. Das US-imperialistische System von Bretton Woods als Voll­strecker der nationalsozialistischen Neuen Ordnung, in: Autonomie, H. 14, 1985

106 Vgl. Achim Bay: Der nationalsozialistische Gedanke der Großraumwirtschaft und seine ideologischen Grundlagen. Darstellung und Kritik. Köln 1962; als Kor­referent dieser an der Universität Er!angen-Nürnberg angenommenen Disserta­tion fungierte pikanterweise der bekannte Reichssoziologe Karl Valentin Müller.

107 Vgl. Hans Werner Neulen: Europa und das Dritte Reich. Einigungsbestrebungen im deutschen Machtbereich 1939 - 1945. München 1987

108 Vgl. BA, NS 8/ 104, BI. 63; Daitz war außerdem Mitglied in mehreren Aufsichts­räten, vgl. Erich Stockhorst: 5000 Köpfe. Wer war was im Dritten Reich. Kiel 21985, S. 96f

109 Vgl. Rolf Seeliger: Braune Universität. Deutsche Hochschullehrer gestern und heute, H. 6, München 1968, S. 62ff; dem Wissenschaftlichen Beirat gehörten z.B. auch die Professoren Reinhard Höhn, Carl Schmitt und Karl C. Thalheim an; ebd., S. 71

110 A. Predöhl: Großraum, Autarkie und Weltwirtschaft, in: Das neue Europa. Bei­träge zur nationalen Wirtschaftsordnung und Großraumwirtschaft. Dresden 1941

I1I Vgl. Karl Drechsler / Hans Dress / Erhart Hass: Europapläne des deutschen Impe­rialismus im zweiten Weltkrieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, XIX. Jg. (1971), S. 917

lila Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, 13 HH WWI 112 Sowohl das Stichwort "Großraumwirtschaft" wie auch das Zentralinstitut wurden

zum ersten Mal erwähnt in dem für die jeweils geltende Sprachregelung verbind­lichen "Lexikon-Wegweiser von A-Z" im Adressenwerk der Dienststellen der NSDAP, des Staates, der Berufsorganisationen. Berlin, 3. Ausgabe 1941/42, S. 68f, 190

112a Vgl. Mitteilungen des Zentral forschungsinstituts für Nationale Wirtschaftsord­nung und Großraumwirtschaft, 1943, H. I, S. 156-160

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118 Carsten Klingemann

113 M. Bormann an A. Rosenberg, 26.7.1942; BA, NS 81187, BI. 124f; der GWG wurde jedoch durch den Reichsschatzmeister der NSDAP unter Berufung auf das Werbeverbot von Organisationen in Absprache mit Bormann die Gründung von Wirtschaftsbeiräten in den Gauen untersagt; Reichsschatzmeister an A. Rosen­berg, 2.11.1942; BA, NS 8/204, BI. 26ff

114 Die Zeitschrift "Auswärtige Politik" erschien bis 1942 unter dem Titel "Monats­hefte für Auswärtige Politik" und war über ihren Träger, das Deutsche Institut für Außenpolitische Forschung, in der Hand des Auswärtigen Amtes: vgl. Hermann Weber: Rechtswissenschaft im Dienst der NS-Propaganda. Das Hamburger Insti­tut für Auswärtige Politik und die deutsche Völkerrechtsdoktrin in den Jahren 1933 bis 1945, in: Klaus Jürgen Gantzel (Hg.): Wissenschaftliche Verantwortung und politische Macht. Berlin-Hamburg 1986 (zu von Kempski, s. Register); von Kempski war vorher Hauptschriftleiter des Archivs für Rechts- und Sozialphilo­sophie; nach 1945 war er auch in der bundesrepublikanischen Soziologie aktiv; vgl. z.B. Max Horkheimer: Survey ofthe Social Sciences in Western Germany. Washington 1952 (Register); von Sivers war außerdem noch einer anderen Alfred Rosenberg unterstehenden Gruppierung von Sozial wissenschaftlern verbunden. Für die "Arbeitsgemeinschaft zur Erforschung der bolschewistischen WeItge­fahr" bearbeitete er den Forschungsauftrag "Die seelischen und geistigen Grund­lagen des Bolschewismus"; HZ, MA 258, BI. 10; BA, NS 8/241

114a Europäische Großraumwirtschaft. Vorträge, gehalten auf der Tagung des Vereins deutscher Wirtschaftswissenschaftler zu Weimar vom 9. bis ll. Oktober 1941. Leipzig 1942; der Berliner Hochschullehrer und wissenschaftliche Leiter der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung und bekannte Nachkriegssozio­loge Friedrich Bülow verfaßte mit "Großraumwirtschaft, Weltwirtschaft und Raumordnung" (Leipzig 1941) ebenfalls einen einschlägigen Text.

115 Vgl. Lothar Gruchmann: Nationalsozialistische Großraumordnung. Die Kon­struktion einer "deutschen Monroe-Doktrin". Stuttgart 1962

116 Alle Angaben nach UAH, B-6693/ 1 117 E.M.: Institut für Großraumwirtschaft an der Universität Heidelberg, in: Raum­

forschung und Raumordnung, 6. Jg. (1942), S. 20f 118 Arbeitsbericht 1942/43; GLA, 235/29958 119 WalterThoms (Leiter des IfG) an Rektor, 5.2.1943; UAH, B-6693/ 1; derehema­

lige Direktorialassistent, Prof. Dr. Antonio Montaner (Ludwigshafen) konnte sich nicht mehr an Einzelheiten des Institutsbetriebs erinnern (Telefongespräch mit dem Verf., 28.9.1988)

120 Vgl. UAH, B-66931 / I 120a Bereits 1941 hatte der Assistent Klaus Heinrich mit "Zollunion und Großwirt­

schaftsräume" (Schmollers Jahrbuch, 65. Jg., 1941 I) einen einschlägigen Auf­satz publiziert.

121 Dekan an Rektor, 12.2.1942; UAH, B-6693/ I; Speer betrieb selbst Großraumpo­litik; vgl. Karl-Heinz Ludwig: Technik und Ingenieure im Dritten Reich. Düssel­dorf 21979, S. 429

122 Ernst Schuster war seit 1923 Mitglied der DGS; vgl. Artikel E. Schuster, in: Kür­schners Gelehrtenkalender 1961; er war auch Teilnehmer am Jenaer Soziologen­treffen im Jahr 1934; vgl. den Beitrag "Entnazifizierung und Soziologiege­schichte" in diesem Band

123 Vgl. GLA, 235/29958

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Institut für Sozial- und StaatswissenschaJten

124 Vgl. UAH, B-6681 /2 125 Vgl. GLA, 235/29853, 29958 126 Vgl. GLA, 235/29958

1/9

127 Vgl. Art. G. Rittig, in: Kürschners Gelehrtenkalender 1940/41; G. Rittig: Ameri­kanismus und Bauerntum, in: Deutsche Agrarpolitik, 2. Jg. (1943), Nr. 3; in der Bundesrepublik lehrte Rittig an der Universität Göttingen.

128 Vgl. UAH, B-6681/2 129 Vgl. GLA, 235/ 29CJ76; Sauermann, der ebenfalls als Wirtschaftswissenschaftler

und Soziologe ausgewiesen war, war vor 1933 Mitarbeiter des Soziologen Karl Dunkmann, arbeitete im "Dritten Reich" für die Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung (vgl. Raumforschung und Raumordnung, 5. Jg. [1941/, S. 86f); war als Teilnehmer für den dann wegen des deutschen Überfalls auf Polen ausge­fallenen Internationalen Soziologenkonkreß in Bukarest vorgesehen (vgl. Univer­sitätsarchiv Köln, Zug. 9/31) und war Anfang der vierziger Jahre Leiter der Ab­teilung für Sozialverwaltung beim Institut für Wirtschaftswissenschaft der Uni­versität Frankfurt am Main, die als Ersatz für das nach der Emeritierung des Soziologie-Professors Heinz Marr völlig dahinsiechende Soziologische Seminar galt (vgl. Universitätsarchiv Frankfurt am Main, Az.: XI, 10 - 11)

130 H. lecht an W. Sombart, 1.1.1934; Zentrales Staatsarchiv der DDR, Dienststelle Merseburg, Rep. 92, Nachlaß Werner Sombart, Nr. 18a, BI. 35, 35R

131 Vgl. Dekan an Rektor, 15.7.1942; GLA, 235/29853 132 Vgl. GLA, 235/29853 133 Vgl. H. Jecht an Rektor, 15.11.1945; UAH, B-6680/2, B-6681/2 134 Neben den Wissenschaftlern nahmen noch gut ein Dutzend Vertreter von Mini­

sterien und obersten Reichsbehörden sowie Ohlendorfs Vorgänger im Sicher­heitsdienst, Prof. Dr. Reinhard Höhn, an der Arbeitssitzung teil, auf der Ohlendorf ein längeres Einführungsreferat, der Jenaer Soziologe Max Hildebert Boehm das Hauptreferat und der Wiener Soziologe Franz Ronneberger das Korreferat hielten. (Eine Aufarbeitung des umfangreichen Aktenmaterials zu dieser Arbeitssitzung ist geplant.) Die 1944 als Verbindungsstelle zwischen Wissenschaft und Politik ge­gründete Volkswirtschaftliche Abteilung des RWM hatte für die Vorbereitung ihrer Nachkriegsplanungen bereits vor dieser Arbeitsbesprechung Verbindung mit dem InSoSta aufgenommen; vgl. Ludolf Herbst: Der Totale Krieg und die Ordnung der Wirtschaft. Die Kriegswirtschaft im Spannungsfeld von Politik, Ideologie und Pro­paganda 1939 - 1945. Stuttgart 1982, S. 437, 447

135 H. lecht an Rektor, 17.2.1945; UAH, B-6680/2 136 Vgl. zum Soziographischen Institut, C. Klingemann: Angewandte Soziologie

(Anm. 3); der ehemalige Assistent am InSoSta Carl Jantke danach Dozent an der Universität Königsberg, teilte allerdings ebenfalls dem REM Anfang 1945 mit, daß er im Auftrag des Außenstellenleiters der Wehrforschungsgemeinschaft Kö­nigsberg mit kriegswichtigen Unterlagen Mitte Februar verlassen habe, im Mini­sterium aber wegen eines "Terrorangriffs" nicht habe vorsprechen können und nun in Landshut sei; C. lantke an REM, 14.2.1945 (Telegramm); Unterlagen C. Jantke, BDC

137 Vgl. GLA, 235/3231 138 Vgl. Artikel H. Jecht, in: Kürschners Gelehrtenkalender 1961, 1966 139 C. Brinkmann: Versuch einer Gesellschaftswissenschaft. München-Leipzig 1919,

S. 16

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120 Carsten Klingemann

140 H. Maus: Zur gesellschaftlichen Funktion der Soziologie, in: Archiv für Rechts­und Sozialphilosophie, Bd. XXXIII (1939/40), S. 182; Weber konnte nach 1933 auch in Deutschland publizieren, vgl. Josef Kepeszczuk: Alfred Weber. Schriften und Aufsätze 1897 - 1955. München 1956

141 Vgl. R. Bollmus (Anm. 30), S. 66 141a L. Marcuse: Professor Alfred Weber, in: Das Neue Tagebuch, H. 45, 9.11.1935 142 Vgl. BMK an Rektor, 14.7.1938; Rektor an BMK, 21.7.1938; BMK an REM,

28.7.1938; BMK an Weber, 13.7.1943; GLA, 466/20780 143 A. Weber: Bericht (19.6.1936); GLA, 235/20780 144 Vollständiger Abdruck des von Karl Schiller zur Verfügung gestellten Gutachtens

der Reichsstelle für den Verleger vom 22.9.1936, in: R. Seeliger (Anm. 109), S. 94 - 96

145 C. Brinkmann an Dr. Paul Junker (Anm. 59); auch in einem anderen Fall wurde deutlich, daß akademische Belehrungen über die wahren geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus bei dessen parteiamtlichen Hütern nicht beliebt waren; als Brinkmann in der Zeitschrift "Das Reich" Gustav Schmoller zum Vorbild na­tionalsozialistischer Wirschaftswissenschaft erklärte, wurde dies von Wilhelm Longert, dem Leiter der "Hauptstelle Soziologie" im Amt Rosenberg, zurückge­wiesen; W. Longert an Prof. Heinrich Bechtel, 13.7.1942; BA, NS 15/192. (Eine Aufarbeitung des umfangreichen Archivmaterials zur Hauptstelle Soziologie wird vorbereitet.)

146 Sinn und Ziel der Reichsstelle zur Förderung des deutschen Schrifttums; gez. Hans Hagemeyer (Leiter der RSF), o.D. (ca. 1934); BA, NS 8/153, BI. 155 -157, hier: BI. 155

147 RFS an Reichsleiter A. Rosenberg, 26.3.1934; BA, NS 8/153, BI. 133; für die RFS waren u.a. Arnold Gehlen, Gunther Ipsen, Karl Heinz Pfeffer, Max Rumpf, Helmut Schelsky und Karl C. Thalheim tätig.

148 Volker Dahm: Die nationalsozialistische Schrifttumspolitik nach dem 10. Mai 1933, in: U. Walberer (Hg.) (Anm. 10), S. 73

149 C. Brinkmann an Erich Rothacker, 16.7.1942; Nachlaß Erich Rothacker I, Univer­sitätsbibliothek Bonn

150 Vgl. C. Brinkmann: Wirtschaftstheorie. Tübingen 1948, S. 91 151 Vgl. die von der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts

besorgte Edition 152 R. Bollmus (Anm. 30), S. 68

Korrespondenzanschrift: Universität Osnabrück FBR Sozialwissenschaften Albrechtstr. 28 4500 Osnabrück

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Gerhard Schäfer

Wider die Inszenierung des Vergessens

Hans Freyer und die Soziologie in Leipzig 1925 -1945

Die Soziologie Hans Freyers wird neuerdings wieder von interessierter Seite ins Gespräch gebracht. I Freyer, der wie J.c. Papalekas meint, "zu den be­deutendsten deutschen Sozialwissenschaftlern und Soziologen im 20. Jahr­hundert,,2 gehöre, übte in der Nachkriegszeit erheblichen Einfluß aus: Im Bereich der Geschichte, der Philosophie und der Soziologie. Auch politisch war Freyer damals aktiv. Der aus dem völkisch orientierten Sera-Kreis der Ju­gendbewegung stammende, im I. Weltkrieg als Frontoffizier kämpfende Wis­senschaftler gab während des Wiederaufbaus der westdeutschen Armee und eines dazugehörigen Offizierskorps in den 50er Jahren seine Erfahrungen an die Bundeswehrführung in Form von Vorträgen weiter. In der Formierung der westdeutschen Nachkriegssoziologie spielten eine Reihe von Freyer­Mitarbeitern und -Schülern aus der Leipziger "scientific community" eine nicht unbedeutende Rolle, zu denken ist hier an Arnold Gehlen, Helmut Schelsky, Gunther Ipsen und Hans Linde. Von erheblicher Bedeutung waren damals auch außeruniversitäre Aktivitäten von Freyer-Schülern: Karl-Heinz Pfeffer begann seine ersten soziologischen Nachkriegsarbeiten beim Bonner Institut für Raumforschung und an der Hannoveraner Akademie für Raumfor­schung und Landesplanung und setzte seine auslandswissenschaftlichen Akti­vitäten, die er im Nationalsozialismus begonnen hatte, beim Bremer Aus­schuß für Wirtschaftsforschung, schließlich beim Hamburger Weltwirt­schaftsarchiv fort; Kar! Valentin Müller, ein Habilitand Freyers, gründete in Hannover mit Hilfe des sozialdemokratischen Kultusministers Adolf Grimme ein Institut für empirische Soziologie; der habilitierte Ökonom und Soziologe Erich Dittrich, vormals Leiter der Hochschularbeitsgemeinschaft für Raum­forschung an der Leipziger Universität der frühen 40er Jahre, leitete nach 1950 das Institut für Raumforschung in Bonn, eine dem Ministerium für den Marshallplan, ab 1952 dem Innenministerium zugeordnete Planungsinstitu­tion, die den nazistisch belasteten Professoren zur Wiederverwendung Z.T. Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten bot. Hans Freyer selbst war seit 1952 eines der sechs Mitglieder des dort angesiedelten wissenschaftlichen Bei­rats. 3 Kontakte zu den Schaltstellen der politisch-ökonomischen Entschei­dungsträger der Arbeitgeberverbände vermittelte schließlich der ehemalige Leipziger NSDStB-Funktionär Dr. Fritz Arlt, der bei Freyer und Gehlen stu­diert und seine bevölkerungspolitischen Expertisen für die Germanisierungs­politik des "Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums" im Generalgouvernement erarbeitet hatte. 4

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In den soziologischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre spielte Fre­yer keine Rolle mehr. Person und Werk fanden erst wieder Aufmerksamkeit, als am Ende der 70er Jahre die Aufarbeitung des Kapitels "Soziologie im Fa­schismus" begann und hierbei Freyers Tätigkeiten genauer untersucht wur­den. Auf Freyers Teilhabe an der geistigen Wegbereitung für den deutschen Faschismus hatte Rene König bereits 1937/38 in seiner Habilitationsschrift und erneut in einem Nekrolog auf Hans Freyer (1969) hingewiesen. 5 1984 er­schien die bedeutende Studie des Fritz Stern-Schülers Jerry Zucker Muller über Freyers Arbeiten. Sofern von einer aktuellen Freyer-Diskussion die Rede sein kann, so wurde sie durch eine Intervention Schelskys (1980) initiiert. 7 In seinem Kommentar zur Darstellung der Entstehungsgeschichte der deutschen Soziologie von M. Rainer Lepsius, und auf einer im wesentlichen von ihm ini­tiierten Arbeitstagung der Fritz-Thyssen-Stiftung in Aachen (1982), zum Thema: Gab es eine Leipziger Schule der Soziologie und Sozialphilosophie?, ging es vor allem darum, die von Schelsky und anderen für wichtig erachteten Traditionsbestandteile der sogenannten "Leipziger Schule für Soziologie" für die gegenwärtige Fachidentität zu reaktivieren und das Bild des Lehrers und "Schulhaupts" Hans Freyers aus den überaus belastenden Traditionsbestän­den zu befreien. 8 Als bisherige Folgeprodukte dieser Rehabilitierungsstrate­gie sind inzwischen Neueditionen von Freyers Schriften erschienen; die ihnen beigefügten Nachworte der Freyer-Forscherin E. Üner liegen der Absicht nach in diesem Trend. Es bedarf schon erheblicher Kunstgriffe, um den durch seine Mitwirkung im deutschen Faschismus gründlich diskreditierten Wissen­schaftler zu einem Klassiker der Soziologie zu stilisieren. "Mit ungerechten politischen Diffamierungen dachte man Freyer wissenschaftlich auszuschlie­ßen", schreibt E. Üner. 9 Weder um ungerechte noch um gerechte Diffamie­rungen (die sich E. Üner offensichtlich vorstellen kann) geht es in den folgen­den Darstellungen, sondern darum, Zusammenhänge zu beschreiben, aus de­nen Freyers Werk nur um den Preis der Verfalschung als "klassisches" zu extrahieren ist.

Zur Tradition der Soziologie in Leipzig

In den meisten Einführungen in die Soziologie bzw. die Soziologiegeschichte sucht man vergeblich nach dem Stichwort "Leipziger Schule der Soziologie". Selbst die unter Schelskys Einfluß zustandegekommene "Geschichte der So­ziologie" von Friedrich Jonas enthält zwar eine Reihe von Bezügen auf Arnold Gehlens und Helmut Schelskys Beiträge zur Interpretation der Philosophie des deutschen Idealismus, jedoch fehlt ein Hinweis auf einen möglichen schu­lebildenden, geistigen und institutionellen Zusammenhang. 10 Joachim Mat­thes spricht in seiner weitverbreiteten "Einführung in das Studium der Sozio­logie" von der "Leipziger Schule der älteren deutschen Soziologie", deren

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Wider die Inszenierung des Vergessens /23

Charakteristikum er in der Kombination von empirischer Sozialwissenschaft und philosophisch-phänomenologischer Orientierung sieht. 11 Schelsky selbst hatte den Ausdruck einer "Leipziger Schule der Soziologie" zum "fiktiven wissenschaftsgeschichtlichen Syndrom" 12 erklärt und in seinem Referat auf der erwähnten Aachener Tagung (1982) die außerordentliche Vielfalt der Ideenstruktur dreier Generationen von Psychologen, Sozial philosophen , Hi­storikern und Soziologen beschrieben, deren gemeinsame Bezugspunkte im Rechtshegelianismus, der Diltheyschen Lebensphilosophie und der Riehl­sehen Volkslehre wurzelten. 13 Zur ersten Generation, wenn man will, die der "Großväter", rechnete Schelsky Karl Bücher (1897 - 1930), Vertreter der histo­rischen Schule der Nationalökonomie und Begründer des Instituts für Zei­tungswissenschaft (1916/ 17). Büchers politisches Interesse hatte vor allem ei­ner sozialreformerischen Integration der Arbeiterklasse in die moderne kapi­talistische Industriegesellschaft gegolten; dieses bürgerlich-liberale Interesse teilte er mit zwei anderen Größen der Leipziger Universität um die Jahrhun­dertwende, mit dem Psychologen Wilhelm Wundt (1832 - 1920) und dem Hi­storiker Karl Lamprecht (1856-1915), die diese Vorstellung in ihrem "Leipzi­ger Debattierkränzchen" 14 nicht nur theoretisch behandelten, sondern auch in der Arbeiterbildung der Stadt Leipzig vertraten, an der sie mit Vorträgen und Universitätskursen aktiv teilnahmen. Eine liberale Haltung zeigten Lam­precht und Bücher auch in Fragen der Hochschulreform. Beide versuchten, die gesellschaftliche Dominanz der Korporationen an den Wilhelminischen Universitäten zurückzudrängen und die Finkenschaft, die nicht korporativ ge­bundenen Teile der Studentenschaft, gleichberechtigt an der studentischen In­teressenvertretung teilhaben zu lassen. Dieses Modell der bewußten Stärkung demokratischer Mitwirkungsrechte der Studenten - etwa bei der Wahl des Rektors der Universität - blieb lange Zeit die fortschrittlichste Verfassung der allgemeinen Studentenschaft im ganzen Deutschen Reich, bis die faschistische Studentengruppe in Leipzig - hier spielt die Generation der "Söhne" (Schelsky, Ar!t, u.a.) eine aktive Rolle - mit ihrer Mehrheit diese demokrati­sche Komponente zugunsten des Führerprinzips an der Universität zerschlug. 15

Kar! Lamprecht - neben Johannes Volkelt zweiter Gutachter von Freyers Dissertation (1911) - war mit seiner sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fra­gen einbeziehenden Geschichtsauffassung in wissenschaftlichen und politi­schen Gegensatz zur klassischen politischen Historiographie geraten. Hatten der Freiburger Gegenspieler Georg von Below - später einer der vehemente­sten Kritiker der Institutionalisierung des Lehrfaches Soziologie - und seine Anhänger unter dem Vorwand des angeblichen geschichtswissenschaftlichen Dilettantismus bei Lamprecht ihr Plädoyer für eine die Geschichte der großen Personen, der Staaten und Nationen akzentuierende Geschichtsschreibung er­neuert, so bemühte sich Kar! Lamprecht in seiner "Deutschen Geschichte" um die auch von W. Wundt geforderte "Psychisierung der Wirtschaftsge­schichte", deren Leitbegriff des "Wirtschaftssinnes" neben der Berücksichti­gung der ökonomischen Faktoren vor allem das Phänomen der "Kollektiv-

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Seele" einschloß. 16 Die Behandlung der Ökonomie brachte Lamprecht zu Unrecht den Vorwurf des materialistischen Ansatzes ein l7 ; die von Wundt in dessen "Völkerpsychologie" ebenfalls geforderte Darstellung der Rolle der Massen in der Geschichte erregte den Verdacht der Nähe zur Sozialdemokra­tie auf der Seite der traditionellen Historikerzunft. 18 Von einer Reihe von So­ziologen wurden die Verdienste Lamprechts um die Soziologie entsprechend gewürdigt - so vor allem von dem Leipziger Privatdozenten Franz Eulen­burg (1867 -1943).19 Die Anregungen, die von Lamprecht auf die, um die lahrhundertwende in Leipzig studierende nachfolgende Soziologengeneration ausgingen (etwa in ihren Dissertationen), sind bislang kaum in aller Breite be­achtet worden: 10hann Plenge, Erich Rothacker, Hans Freyer, Alfred Vier­kandt, Robert Michels, Hendrik de Man und Willy Hellpach. Lamprechts Aufgeschlossenheit der Soziologie gegenüber verhält sich, insofern besteht hier historisch-soziologisch Diskontinuität, antizyklisch zur antisoziologi­schen Tendenz der Treitschke-Linie20 , was sich unter anderem darin doku­mentiert, daß er neben dem Philosophen Paul Barth (1858 -1922) unter den beiden Ökonomen Karl Bücher und Franz Eulenburg zu den vier Leipziger Unterzeichnern der Einladung für die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie gehörte. 21

Franz Eulenburg, der spätere Rektor der Handelshochschule Berlin, 1943 eben dort in Gestapohaft verstorben, behandelte bereits im Sommer 1906 das Thema "Soziologie als Einleitung in die Sozialwissenschaft" und schrieb er­ste wissenschaftsstatistische und -soziologische Abhandlungen, so z.B. über die schwierige materielle Lage und ideologische Abhängigkeit der Extraordi­narien im "System Althoff,.22 Ähnlich wie K. Bücher erweiterte Eulenburg die psychologische Dimension des Sozialen um andere Faktoren, z.B. "räum­liehe", "zeitliche", und "biologisch-demologische" Zusammenhänge und so­ziale Beziehungen unter Einschluß von Klassenbeziehungen. Er ging soweit, die Existenz sozialer Gesetze im Sinne "historischer Gesetze" ausdrücklich anzuerkennen, deren "empirische Regelmäßigkeiten" aus der äußeren Auf­einanderfolge und Wiederholung sozialer Vorgänge identifizierbar seien. 23

Schelskys Charakteristik der ersten Generation Leipziger Traditionsbildner bedarf demnach beträchtlicher Ergänzung und Erweiterung, insofern als die sächsische Wissenschaftsmetropole vor und nach der lahrhundertwende vom Geist des am naturwissenschaftlichen Denkmodell orientierten Positivismus - Lamprecht war besonders von A. Comte beeinflußt - beseelt war und zu­gleich in der spezifisch deutschen Tradition der romantisch-evolutionistischen Auffassung menschlicher, nationaler Gemeinschaftsbildung wurzelte. Bei al­ler Fortschrittlichkeit ihrer Position in hochschul- und gesellschaftspoliti­schen Fragen, die sowohl bei Wundt als auch bei Lamprecht mit einer Interna­tionalisierung ihres Denkhorizonts verbunden war, näherten sie sich doch zu­gleich auch alldeutschen Positionen (so Lamprecht) bzw. propagierten im Zeichen der "Ideen von 1914" eine konservative Kritik an Demokratie und Parlamentarismus (so Wundt).24

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Die überwiegend kritische Rezeption Lamprechts in der zeitgenössischen Soziologie (so bei G. Simmel und F. Toennies) steht im deutlichen Gegensatz zu der Ablehnung der Lamprechtschen Kulturgeschichtsschreibung bei der Mehrheit der damaligen Historikerzunft, ein Widerspruch, der sich nach der Novemberrevolution in der Debatte um die Institutionalisierung der Soziologie zwischen CH. Becker und G. v. Below reproduzieren sollte. Die traditionelle Gesellschaftswissenschaft, die in Gestalt der älteren ,Polizeiwissenschaft' be­reits vor 1848 in ein Delta der Einzelwissenschaften zerlaufen war, sollte nun in der neuen Leitwissenschaft Soziologie wieder synthetisiert werden.

Zu den Förderern der Soziologie in Leipzig gehörte auch der Ökonom und Statistiker Ferdinand Schmidt. Als Mitglied der DGS bemühte er sich ab 1916 um die Gründung eines "Instituts für Gesellschaftsforschung", in dem auf statistischer Grundlage gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse ge­wonnen werden sollten. Diese realistisch-pragmatische Kombination von Sta­tistik und Soziologie, die später auch von Walter Schöne (1885 -1943) in den 20er Jahren fortgesetzt wurden, erschien zur Erfüllung gesellschaftlicher Aufgaben in der Bevölkerungs-, Verkehrs- und Siedlungs- sowie Sozial- und Wirtschaftspolitik durchaus fruchtbar. Diese an die spätere ,Realsoziologie' Gunther Ipsens erinnernde Soziologiekonzeption war offenkundig gegen die ,spekulativen', bzw. mehr theoretisch ausgerichteten Soziologien Simmels und v. Wieses gerichtet und orientierte sich am Vorbild Comtes positivisti­scher Wissenschaftslehre mit einer erkenntnistheoretischen Prämisse, der die meisten Leipziger in der von Max Weber rigoros vertretenen Werturteilsfrei­heits-Position gefolgt waren. 25 Wenn auch schon bei Wundt und Lamprecht - wie bei Weber selbst - bezweifelt werden muß, daß sie das Prinzip wert­freier Erkenntnis jemals konsequent durchgehalten haben, so wird in der "Vä­ter" -generation gerade mit diesem Postulat entschieden gebrochen. Hans Freyer ist als Leiter des neugegründeten "Instituts für Soziologie" das heraus­ragende Beispiel eines die politische Position bewußt reflektierenden und in den historischen Prozeß aktiv eingreifenden Sozial wissenschaftlers.

Besonders bedeutsam für die Entwicklung der Soziologie ist die Generation der ,Väter', da diese in der Zeit der Weimarer Republik Ordinariate erhielten bzw. in den Status des Extra-Ordinarius gelangten und mit ihren wissenschaftli­chen Konzepten und ihrem politischen Wirken die Leipziger Universität be­herrschten. Allen ist darüber hinaus gemeinsam, daß sie von den verschiedenen Einzelwissenschaften herkommend an dem übergreifenden Prozeß einer Sozio­logisierung der Wissenschaften beteiligt waren. Dabei läßt sich insbesondere für die Nachkriegsphase eine Verschiebung der grundlegenden Orientierung fest­stellen. Die Leipziger Universität hatte sich von der "großen antiidealistischen philosophischen Zentrale Deutschlands"26 zu einer Universität gewandelt, in der mehrere geisteswissenschaftliche Kristallisationszentren koexistierten:

l. Walter Goetz (1867 -1958) vertrat seit 1915 als Lamprecht-Nachfolger und Direktor des 1909 gegründeten "Instituts für Kultur- und Universalge-

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schichte" ("Ku-Hi") eine auf Synthese verschiedener historischer Spezialdis­ziplinen angelegte Kulturgeschichte. Goetz, der von 1920-1928 zugleich Leipziger Abgeordneter für die DDP im Reichstag war, war gegenüber sozio­logischen Auffassungen im Rahmen der Geschichtsschreibung aufgeschlos­sen, was in der gemeinsamen Betreuung von Dissertationen mit H. Freyer so­wie im Abdruck der programmatischen Antrittsvorlesung des 1925 von Kiel nach Leipzig zurückgekehrten Freyer im "Archiv für Kulturgeschichte" zum Ausdruck kam. 27 Goetz, der die Unterstützung der konservativen Kollegen für die braune Studentenschaft geißelte,28 kann zur Minderheit der republika­nischen Gruppe "Weimarer Hochschullehrer" um F. Meinecke, G. Radbruch und W. Kahl gerechnet werden. Die partielle Zusammenarbeit zwischen Goetz und Freyer, die auf einem Konsens empirischer Orientierung und histo­rischer Grundlegung der Soziologie basierte, zerbrach mit dem Rücktritt von Goetz 1932 und der immer offenkundiger werdenden Annäherung Freyers an autoritäre Positionen. Freyer wurde schließlich sein Nachfolger als Leiter des völlig umgebildeten und gleichgeschalteten "Ku-Hi" in der Funktion eines Professors für politische Wissenschaften. 29 Der liberale Demokrat Goetz ge­hörte zu den wenigen Leipziger Hochschullehrern, die die antidemokratische Praxis des Leipziger NSDStB schon vor 1933 entschieden kritisiert hatten. 30

Die ab 1933 amtsenthobenen Historiker, vor allem sei auf Alfred Doren (1869-1934) und den 1942 im Getto Theresienstadt (nicht identisch mit KZ Th!) umgekommenen Siegmund Hellmann (1972-1942), Mitherausgeber der Wirtschaftsgeschichte Max Webers, verwiesen, repräsentierten ebenfalls eine von Lamprecht beeinflußte, sich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte öff­nende Leipziger Historikergeneration. Demgegenüber vollzieht der Althisto­riker Helmut Berve (1896-1979), 1940-1943 Rektor der Universität, nicht nur als Dekan der philologisch-historischen Abteilung der Philsophischen Fakul­tät eine deutliche Anpassung an die politische Linie der NSDAP.

Georg Sacke (1901-1945) wurde als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der osteuropäischen Abteilung des "Ku-Hi" im April 1932 wegen seiner mar­xistischen Geschichtsauffassung und prosowjetischen Haltung entlassen. Sacke, der nach 1933 im Leipziger Widerstand der KPD eine wichtige Rolle spielte, hatte vor 1933 in der marxistischen Arbeiterschulung ("MASCH") und der VHS zahlreiche Vorträge über sowjetische Geschichte gehalten. An der Entlassung des Historikers waren nicht nur das Institut und die Fakultät, deren Dekan Freyer ihm erst wenige Monate zuvor im Dezember 1932 die Ha­bilitationsurkunde ausgehändigt hatte, beteiligt, sondern auch jene beamteten Professoren (G. Gerullis und 1.0. Achelis), die 1933-34 im preußischen Kul­tusministerium die Durchführung des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns" vom 7. 4. 1933 überwachten. 31

2. Das zweite Kristallisationszentrum in Leipzig lag in dem vom Nachfolger W. Wundts, Felix Krueger (1874-1948), geleiteten Psychologischen Institut. Krueger, als Deutschnationaler der "Idee von 1914" nahestehend, löste die

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Wundtsche Völkerpsychologie ab und begründete die Leipziger "Ganzheits­psychologie". Krueger, der wie Wundt die Psychologie mit der Philosophie verband, reflektierte auf ein konservatives politisches Programm, dessen bio­logisch begründeter Ganzheitsbegriff - ähnlich wie bei Othmar Spanns uni­versalistischem Ständestaatskonzept - EinbruchsteIlen und Amalgamie­rungsansätze für die und mit der faschistischen Ideologie bot. 32 Dieser Theo­rie zufolge wurde das Ganze der Psyche zu einem ontologischen Prinzip des Lebendigen erhoben, bei dem der Satz vom Primat des Ganzen gegenüber sei­nen Teilen Gültigkeit hat. Die psychische Ganzheit ist zugleich als eine dyna­mische Größe zu denken, die in sich eine gegliederte Struktur aufweist. Im Unterschied zur idealistischen Auffassung vom Sozialen ist die organische Ganzheitspsychologie Kruegers biologisch begründet und erlaubt durchaus Übergänge vom konservativen Volksgemeinschaftsdenken zur faschistischen Ideologie, "wo die biologisch verstandenen sozialen Einheiten rassistisch auf die Einheit von Blut oder Rasse gegründet werden:.32a Krueger entfaltete in der 1914 gegründeten "Fichte-Gesellschaft" (getragen vor allem von christli­chen Gewerkschaften und dem Deutschen Handlungsgehilfenverband)33 als deren langjähriger stellvertretender Vorsitzender eine heftige Agitation gegen die Sozialdemokratie. Viele Mitglieder seines Instituts engagierten sich ab 1928 in Alfred Rosenbergs "Kampfhund für deutsche Kultur", so Hans Vol­kelt, der für den Bereich Psychologie zusammen mit dem Gehlen- und Schels­ky-Freund Hans Bürger-Prinz unmittelbar nach der Machtübertragung Zen­surfunktionen im Rahmen der "Parteiamtlichen Prüfungskommission" wahr­nahm. 34

Hans Freyer, der 1920 an der vom Leipziger Zweig der Fichte­Gesellschaft gegründeten Fichte-Hochschule zeitweilig als Dozent wirkte/5

war durch Krueger zu dieser antimarxistisch ausgerichteten Erwachsenenbil­dungsinstitution gestoßen, in der später der Psychologe Karlfried Graf von Dürckheim-Montmartin (1896-1988), der Soziologe Gunther Ipsen (1899-1984) und der Philosoph Arnold Gehlen (1904-1976) ebenfalls führend tätig waren. Die Leipziger Fichte-Hochschule verstand sich zu Beginn der Weimarer Republik als Gegenpol zur von Hermann Heller (1891- 1933) inspi­rierten Leipziger Volkshochschule, ihr Direktor wurde vom DHV finanziert, deren Hausverlag, die Hanseatische Verlagsanstalt in Hamburg, für die Ver­breitung ihrer dem Umkreis der sogenannten "konservativen Revolution" zu­gerechneten nationalistischen Literatur sorgte. Zu diesem Netz konservativer Propagandainstitutionen und ihrer Kommunikationsorgane zählte auch der Jungdeutsche Bund, der als völkischer Flügel der Jugendbewegung in den An­fangsjahren nach 1918 durch Frank Glatzel als leitendem Direktor der Leipzi­ger Fichte-Hochschule entscheidenden Eint1uß auf die inhaltliche Gestaltung gewann. 36

Im Bereich der universitären Philosophie zählte Felix Krueger zu den führenden Köpfen der 1917 von Bruno Bauch (Jena) gegründeten "Deutschen Philosophischen Gesellschaft", deren Vorsitzender er lange Jahre war (1927-

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1934). Die betont nationale Haltung schlug sich dann auch in den "Blättern für deutsche Philosophie" nieder, dem Hausorgan der Philosophischen Ge­sellschaft, das von zwei weiteren Leipzigern, zunächst von Hugo Fischer, dann ab 1930 auch von Gunther Ipsen herausgegeben wurde. E. Üner stellt in den Vorbemerkungen zur Neuedition Freyers<:,her Schriften lapidar fest: "Alle drei Leipziger Kollegen (Felix Krueger, Gunther Ipsen und Hugo Fi­scher) legten Vorsitz bzw. Herausgeberschaft im Jahre 1934 nieder".·17 Aus diesem Faktum auf einen grundlegenden konzeptionellen oder vielleicht poli­tisch motivierten personellen Wechsel zu schließen, erscheint jedoch völlig unangebracht, da im Falle F. Kruegers der Schwerpunkt seiner Aktivität in der Folgezeit sowohl im Vorsitz in der "Deutschen Psychologischen Gesellschaft" (1933 -1936), als auch in seinem Leipziger Rektorat (1935) lag, während G. Ip­sen mit seinem Ruf nach Königsberg auf einen Lehrstuhl für "Philosophie und Volkslehre" (später noch um Psychologie und Pädagogik erweitert) zum WS 1933/34 seine Schwerpunkte auf realsoziologische Themenbereiche verlegte (Dorf-/ Agrar- und Bevölkerungssoziologie), eine Umorientierung, die sich aus der engen Zusammenarbeit mit Freyer bereits Ende der 20er Jahre abzu­zeichnen begonnen hatte.

In Leipzig blieb auch die von Krueger 1927 / 28 vorgetragene Programma­tik der Verankerung der Philosophie in der sozial psychologischen Struktur der deutschen ,Volksseele' und ihre politische Vereinheitlichung in der volksge­meinschaftlichen Ganzheit38 nach 1934 durchaus richtungsbestimmend, wenngleich die Politisierung des philosophischen Diskurses in den ,Blättern' die Rückbindung an die Psychologie im Kruegerschen Sinne eher zurücknahm bzw. sie auf andere Grundlagen - z.B. anthropologische - stellte. Daß Felix Krueger später wegen philosemitischer Äußerungen sich der Kritik der Leip­ziger Rassenfanatiker und der sächsischen Kultusbehörde aussetzte, von den Rektoratsgeschäften entbunden und schließlich zum 31. 3. 1938 vorzeitig eme­ritiert wurde, ist ein Beleg dafür, daß die Nazis nicht bereit waren, ihre einsti­gen konservativen ideologischen Wegbereiter von eher aristokratisch­großbürgerlichem Zuschnitt zu tolerieren. 39

3. Über die Psychologie hinaus bedeutsam ist die Vertretung der Philoso­phie, die zum einen durch den naturwissenschaftlich geprägten Schüler Ernst Haeckels, die Konzeption des Neovitalismus entwickelnden Hans Driesch (1867 -1941), zum anderen durch den von der Gymnasial-Pädagogik herkom­menden idealistischen Philosophen Theodor Litt (1880-1962) repräsentiert wurde. Hans Driesch, bei dem Arnold Gehlen promoviert und habilitiert wor­den war, war Mitglied der "Liga für Menschenrechte" und hatte als Pazifist u.a. im Juli 1931 das "Protestschreiben republikanischer und sozialistischer Hochschullehrer" gegen die Entlassung des Heidelberger Privatdozenten Emil Julius Gumbel unterzeichnet. Noch 1933 wurde der bei den Nazis ver­haßte demokratische Intellektuelle von seinem Leipziger Ordinariat ver­drängt, auf das wenig später 1934 Arnold Gehlen berufen wurde.40 Der "Op-

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portunist" Gehlen (so Helmut Schelsky) eröffnete seine Lehrtätigkeit mit ei­ner Antrittsvorlesung am 30. 11. 1934 über "Der Staat und die Philosophie", in der er - die Philosophie des deutschen Idealismus weiterentwickelnd -eine Versöhnung von Idealismus und Faschismus versuchte, die von Alfred Baeumler und Ernst Krieck entschieden abgelehnt wurde. 41

Theodor Litt, der von Gehlens Anbiederung an die braunen Machthaber in dessen Antrittsrede bitter enttäuscht war, hatte er sich doch zuvor noch für dessen Hausberufung stark gemacht, war als Nachfolger Eduard Sprangers eine bedeutende Figur in der Leipziger Philosophischen Fakultät der 20er Jahre. Sein meistgelesenes Werk, "Individuum und Gemeinschaft" (1919, 1926 l ),42, schloß eine Kulturphilosophie mit soziologischer Tönung ein, die sich mit einem entschiedenen liberalen Wissenschaftsethos verband. Gerade dieses liberale Credo war der Stein des Anstoßes für die ersten Krawalle Leip­ziger Nazistudenten, als der amtierende Rektor Litt die Wandelhalle der Uni­versität nicht für politische Agitationszwecke des NSDStB freigab. 43 Kein ge­ringerer als Hans Freyer hatte diesen politischen und wissenschaftlichen Denkansatz entschieden kritisiert und den Weg "von der Volksbildung zur po­litischen Schulung" im Sinne des Nazismus aufgezeigt. 44 Die Angriffe auf Litt hatten sich im Laufe des Jahres 1933 verschärft. Der NSDStB-Kreisleiter (Mittel- und Norddeutschland) Wolf Friedrich hatte sich an den "Spionage­Erlaß" der Deutschen Studentenschaft (DSt) in Berlin gehalten und dem Dresdner Volksbildungsministerium mit Schreiben vom 28. 10. 1933 mitge­teilt, "daß Professor Dr. Litt in der gegenwärtigen Situation sich nicht die nö­tige Zurückhaltung gegenüber dem neuen Staat auferlegt."45 Die Angriffe der Nazistudenten und anderer politischer Instanzen spitzen sich 1934 so zu, daß Litt zunächst um Urlaub, dann um vorzeitige Emeritierung bat, die ihm zum 30. 9. 1937 gewährt wurde. Obwohl der emeritierte Hochschullehrer noch der NSV beigetreten war, konnte er in den folgenden Jahren nur begrenzt publizie­ren und erhielt im Jahre 1941 von der Gestapo Vortragsverbot für das Gebiet Sachsen.45a Die Leitung seines Instituts übenahm Arnold Gehlen, der aller­dings zum Sommersemester 1938 an die Königsberger Albertina wechselte. Während H. Schelsky (1912-1984) 1937 zum außerplanmäßigen Assistenten am Philosophischen Seminar avancierte, nachdem Gotthard Günther diese Stelle geräumt hatte, war Litt von seinen Amtspflichten entbunden, bis er am 24.7. 1945 durch den Dekan Hans-Georg Gadamer wieder eingesetzt wurde. Es gehört zu den seltsamen Widersprüchen Theodor Litts, den Studenten Schelsky als Promotionskandidaten (Fach: Pädagogik) zu akzeptieren, ob­wohl zu jenem Zeitpunkt unüberbrückbare politische Gegensätze zwischen ihm und dem Kandidaten bestanden hatten. 46 Vermutlich stand der idealisti­sche Philosoph Litt im SS 1935 unter einem solchen politischen Druck, daß er sich den Prüfungsabsichten eines prominenten Leipziger NSDStB-Studen­ten nicht entziehen konnte.

Bereits im Sommer 1933 war die zweite Abteilung von Litts "Institut für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde", das "Seminar für freies Volksbil-

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dungswesen", ausgegliedert und dem "Institut für Soziologie" unter H. Freyer zugeordnet worden. Nach einer gemeinsamen Absprache zwischen T. Litt, H. Freyer, dem Kreis IV des NSDStB und des NSDStB-Studentenfunktionärs Hellrnut Mcrzdorf (1910-1945) (= Leiter des "Amtes für politische Schu­lung" der Leipziger Studentenschaft) sowie dem apl. Professor Gunther Ipsen wurde letzterem vom sächsischen Volksbildungsministerium die Seminarlei­tung übertragen, was einer Entmachtung Litts zugunsten Freyers gleichkam, da Ipsen am 20. 10. 1933 die Leitung des "Seminars für das freie Volksbil­dungswesen" an das Institut für Soziologie zurückgab. 47

Hans Freyer, der bis ca. 1930 die Leipziger Volkshochschule durch seine eigene Mitarbeit als Dozent zumindest mitgetragen hatte, wandte sich im Zuge seiner 1930/31 erfolgten politischen Parteinahme für die nationalistische RechteolX von der Leipziger VHS ab. Als Vertreter der Universität im VHS­Vorstand kämpfte er aktiv gegen die Orientierung der VHS auf die Interessen der Arbeiterbewegung. Wegen der Aktivität auch sozialistischer und kommu­nistischer Dozenten schürte der deutschnationale Oberbürgermeister Dr. earl Goerdeler mit Hilfe der völkischen Kräfte der Fichte-Hochschule (K. Graf von Dürckheim-Montmartin, G. Ipsen, A. Gehlen, H. Freyer u.a.) die Stim­mung gegen die als marxistisch geltende VHS. Der letzte Assistent T. Litts am "Seminar für freies Volksbildungswesen", Dr. Fritz Borinski (1903 - 1988), der eng mit der VHS zusammenarbeitete, war wie seine Vorgängerin, Gertrud Hermes, keineswegs marxistischer Sozialdemokrat, sondern ein von Her­mann Heller geprägter, aus der bürgerlich-liberalen Jugendbewegung (Leuch­tenburgkreis) kommender Jurist und Soziologe, der sich auf der Basis des Ausbaus sozialstaatlicher Demokratie dem Programm einer Versöhnung von Arbeiterklasse und Nation verpflichtet fühlte. 49 Borinski mußte 1934 emi­grieren und kam erst 1947 aus London zurück in die Westzone, wo er führend an der Wiedergründung von Heimvolkshochschulen beteiligt war. Mit der er­zwungenen "Selbstauflösung" der VHS und der Integration des ehemaligen Litt-Seminars (Abteilung 2) in das ab November 1933 von Hans Freyer gelei­tete alte Lamprechtsche "Institut für Kultur- und Universalgeschichte" war den konservativen, zum Faschismus übergelaufenen Professoren ein beträcht­licher Erfolg im Kampf gegen die Arbeiterbewegung gelungen, an dem die Leipziger Soziologen einen besonderen Anteil hatten.

Zu den noch nicht erwähnten Philosophen, die sich der Soziologie zu­wandten und bedeutende Beiträge erarbeiteten, zählte der Privatdozent Hugo Fischer (1897 -1975), der - ein Freund Ernst Jüngers - sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit Marx als auch mit Lenin aus nationalbolschewisti­scher Sicht lieferte. 50

In diesem Zusammenhang ergibt sich aus dem z.T. widersprüchlichen Übergangsfeld zwischen Nationalismus und kleinbürgerlichem Sozialismus doch eine gewisse Nähe zu dem bürgerlichen Leuchtenburgkreis, deren Ver­treter zeitweilig den Gesprächsfaden zu Otto Straßers "Schwarzer Front" knüpften und der Querfrontkonzeption von Schleichers Sympathien abgewin-

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nen konnten. Zugleich unterhielten einige der Studenten des "Leuchtenburg­kreises", deren Arbeitskreis im Sommer 1933 verboten wurde, Kontakte zu Gruppierungen um die von Eduard Heimann, Paul Tillich u.a. herausgege­bene Zeitschrift "Neue Blätter für den Sozialismus". 51

Der von Schelsky in seinem Referat erwähnte und nach 1950 bei ihm gele­gentlich zitierte Joachim Wach (1898 - 1955) ist vor allem durch seine ,Verste­hensphilosophie' und seine Religionssoziologie bekannt geworden. Daß J. Wach 1935 die Lehrbefugnis aus "rassischen" Gründen entzogen wurde, fehlt in Schelskys Darstellung der "Väter" -Generation wie auch die Tatsache, daß Wach sich vor seiner Emigration in die USA regelmäßig an illegalen Ge­sprächszirkeln Leipziger Studenten und Wissenschaftler beteiligt hatte. 52

Wach war nach 1933 wegen des "Frontkämpfer" -Paragraphen zunächst von der antisemitischen Entlassungswelle verschont geblieben. Zudem hatte er an­fangs durch den politischen Druck bedingt seine ,Treue' zum nationalsoziali­stischen Staat betont, obwohl er als Mitglied des NS-Frontkämpferbundes seine "nationale Zuverlässigkeit" schon unter Beweis gestellt hatte.

Paul Tillich (1886-1965), vor seiner Berufung nach Frankfurt auch in Leipzig mit einem Lehrauftrag vertreten, war aktiver Sozialdemokrat und führender Repräsentant eines "religiösen Sozialismus", dessen Forderung nach einer "sozialistischen Entscheidung" (1933) bei den konservativen Leip­ziger Philosophen/ Soziologen keine Beachtung fand. Nach der Entlassung dieses Professors für Soziologie und Philosophie durfte A. Gehlen im SS 1933 genau auf jener Position eine Vertretungsprofessur wahrnehmen.

Festzuhalten bleibt, daß zum Leipziger Universitätskontext auch demo­kratische und sozialistische Traditionslinien gehörten, die auszublenden zu ei­ner fehlerhaften Rekonstruktion der historischen Entwicklung der Soziologie in Leipzig führt.

Faschistische Gehalte im soziologischen Denken Hans Freyers vor 1933

Nach der Übernahme der Soziologieprofessur in Leipzig 1925 - zwischen 1922 und 1925 hatte Freyer eine Philosophie-Professur inne - beginnt Hans Freyer mit dem Aufbau eines soziologischen Instituts und einer eigenständi­gen Bibliothek.53 Unabhängig von den politischen Präferenzen Freyers, der sich zunächst noch relativ offenhält gegenüber demokratischen Gruppierun­gen und der lassalleanisch geprägten Arbeiterbewegung, ab 1930 aber zuneh­mend die Position der "konservativen Revolution" einnimmt, lassen doch seine von Hegel und Dilthey beeinflußten Schriften von Anfang an keinen Zweifel an seinem politisch-gesellschaftlichen Gestaltungswillen: "Nur wer gesellschaftlich etwas will, sieht soziologisch etwas. 54

In den stärker literarisch motivierten Schriften Freyers von "Antäus" (1918) bis zu "Der Staat" im Jahre 1925, deren Sprache aus der griechischen

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Mythologie und dem Wortschatz der männerbündischen Jugendbewegung schöpft, werden die philosophischen Kategorien entfaltet, auf denen seine spätere wirklichkeitswissenschaftliche Soziologie aufbaut: im "Allfäus"" wird der Bruch mit der Philosophie der Aufklärung und der Politik des bürgerlich-liberalen 19. Jahrhunderts vollzogen, in dem Freyer vom Primat organischer Natürlichkeit ausgeht, die im Mythos der "Mutter Erde" wur­zelt. Geschichte erscheint demnach als autonomer Vollzug eines Naturereig­nisses, das sich einer planvollen gesellschaftlichen Zukunftsgestaltung ent­zieht. Statt dessen greift die unberechenbare Willkür der Irrationalität um sich: Aus dem intuitiven "Ahnen oder Wissen um ihre (der Geschichte -G.Sch.) Bestimmung" (S. 31) erwächst einer echten Führungselite die ethi­sche Pflicht zum Handeln. "Das Blut der Rasse" (S. 74) macht die Substanz der Bewunderung Freyers für den Wertkonservativismus des Adels aus, für den es eine "gläubige Hingabe" (S. 77) geben kann. Der Masse des Volkes bleiben die Gestaltungsfreiheiten der geschichtlichen Zukunft verschlossen, die den Führernaturen - bei Freyer "helläugige Könige des Gelingens" (S. 38) - vorbehalten sind. In der Fortführung des "Antäus" im "Prome­theus"56, wird die Politisierung der Philosophie vorangetrieben. Zum Leben gehört die Macht, die politische Macht zur Durchsetzung unendlicher Mög­lichkeiten des politischen Wollens. Die jeweilige Entscheidung zur politischen Tat - an diesem Punkte gibt es Überschneidungen mit der Theorie des politi­schen Dezisionismus bei earl Schmitt - erfordert ausdrücklich bedingungs­lose Gefolgschaft und schließt folglich einen rationalen, demokratisch politi­schen Zustimmungsdiskurs aus. Was im Krisenjahr 1923 einen Sprecher der Jugendbewegung in seiner Verzweiflung über das "Schicksal" Deutschlands nach Versailles bewegt, ist in einem philosophischen Irrationalismus seeli­scher Tiefenstrukturen verwurzelt. "Es wird aber nicht mit Vorsatz gemacht, sondern es geschieht als herrliche Geschichte von selbst, wenn eine Genera­tion, die heißeres Blut und ein leidenschaftliches Herz geerbt hat und darum zu inneren Wagnissen bereit ist, zusammentrifft mit einem Schicksal, das ihr an die Nieren geht." (S. 3)

Das 1926 in zweiter Auflage erschienene Buch "Der Staat" (1925) er­scheint in einer mit den befreundeten Kollegen A. Jolles und G. Ipsen heraus­gegebenen Reihe mit dem Titel: " Staat und Geist. Arbeiten im Dienste der Be­sinnung und des Aufbaus" als deren Band 1 und kann insofern als ein pro­grammatisches Werk gelten. Vor allem G. Ipsen, den mit Hans Freyer nicht nur die Frontoffizierserfahrung des 1. Weltkrieges, sondern auch eine gemein­same Lehrtätigkeit in der Freien Schulgemeinde Wickersdorf (Gustav Wyne­ken) verband, hatte sich parallel zu seiner Beschäftigung mit Psychologie und Sprachphilosophie besonders mit der "Geistesgeschichte der deutschen Bewe­gung, vor allem mit Hegel und Nietzsche"57 beschäftigt. Dieser gemeinsame Erfahrungshintergrund, durch die Erlebnisse in der Novemberrevolution, die Konfrontation mit der Idee der Räterepublik und den Arbeiterregierungen in Sachsen und Thüringen gesättigt, stärkte die antibürgerlichen und antimarxi-

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stischen, zugleich nationalistischen Affekte in ihrem politischen Denken. Das geisteswissenschaftlich-soziologische Denken richtete sich bei Freyer im Rückgriff auf die Ganzheitsvorstellungen des Dilthey-Schülers Felix Krueger auf zwei Fragen: Wie kann aus dem hierarchisch geschichteten Organismus Volk ein die bürgerlich-kapitalistische Klassengesellschaft überwindender Prozeß der Vergemeinschaftung eingeleitet werden ("Volkswerdung")? Wie müssen Staat und Führung aussehen, damit aus den atomisierten Individuen eine gesellschaftliche Erlebnisgemeinschaft geformt werden kann ("politi­sches Volk")?

Zunächst baut Freyer ganz idealistisch auf der Vorstellung auf, daß der "Geist" die Teilhabe des Menschen am offenbarten Sinn des Seins bedeutet (= Kultur). In zeitlich aufeinanderfolgenden Stufen durchläuft der Geist einen dialektischen Prozeß, an dessen Ende der Staat als höchste Stufe der Kultur­entfaltung steht. Die Verwirklichung des Geistes ist bei Freyer an geographi­sche ("Reich") und biologische Faktoren ("Rasse und Blut") gebunden, ebenso an ein bestimmtes "Menschentum". Die personellen Träger des Volk­werdungsprozesses sind die "Führer", die als "Arzt und Lehrer" des Volkes (S. 154) für die "Heilighaltung der Rasse" (S. 153), zuständig sind. Der "Füh­rer" bringt die Masse auf den politischen Weg: "Dann muß geleitet und ge­horcht, entworfen und ausgeführt werden ... " (S. 119). Freyer gesteht dem "Führer" ausdrücklich "etwas Frevel" (S. 204) zu und ergänzt - den Frei­brief für Diktatoren ausstellend -, daß er dies sogar tun müsse, "sonst kommt er keinen Schritt weiter" (S. 204). Freyer leitet das Freund-Feind-Verhältnis als existentielles Strukturgesetz politischen Handeins aus den biologisch­blutsmäßigen Unterschieden zwischen Völkern und der Vorstellung des über die jeweiligen politischen Grenzen hinausweisenden Reiches ab. Die Freund­Feind-Kategorie schließt die Möglichkeit des Krieges immer mit ein, nach in­nen zur Niederwerfung der "Gemeinschaftsfremden", nach außen zur Festi­gung und gegebenenfalls imperialistischen Erweiterung des Reiches. Freyers Politikbegriff orientiert sich bereits 1925 am Modell des Krieges, der seiner Auffassung nach "am Anfang unserer deutschen Gegenwart" (S. 140) stand: "Alle Politik denkt nach den Kategorien Sieg und Niederlage, ist Kampf, rechnet stets mit allen Mitteln des Kampfes, rechnet also auch stets mit dem Krieg. Alle Politik ist Drohen mit dem Krieg, Vorbereiten des Krieges, Hin­ausschieben oder Beschleunigung des Kriegs, Anzetteln oder Verhindern des Kriegs, kurz (um ein bekanntes Wort umzukehren), Fortsetzung des Kriegs mit veränderten Mitteln" (S. 142).

Freyers politisches Gedankengut steht Mitte der 20er Jahre bereits voll ausgebildet vor uns: Der Staat als höhere Ganzheit fordert die totale Hingabe des Individuums, und der Ernstfall wird zur entscheidenden Zielgröße (Krieg und totale Mobilmachung), begründet auf den biologisch-organischen Sinn­prinzipien von Volk und Reich. Die Kombination von Volk und Staat im Be­griff des "völkischen Staates" eröffnet dem "politischen Volk" den eigentli­chen Sinn der Geschichte. In "Pallas Athene"58 wird der Prozeß der Dialek-

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tik von Volk und Staat beschrieben: Ein Volk wird erst politisch - so Freyer -, wenn es einen Staat gibt, dessen Spitze, ein politischer Führer, selbst Aus­druck der Konzentration aller Kräfte auf das letzte Ziel ist. "Das unbekannte Volk steht auf und sagt ein politisches Ja. Aus den alten Säften wächst. noch einmal, eine Epoche, die Sinn hat. Ihre Irrtümer wiegen leicht. Ihre Erschüt­terungen sind produktiv. Ihr Umsturz ist, so hart er zugreift. ohne Willkür. Zukunft liegt über dem Heute, weil es eine Wandlung des Ewigen ist. Die Menschen glauben, schreiten aus, blicken vorwärts, zwischen ihnen reitet, ungesehen, der Reiter aus Bamberg." (S. 122) - Das ist der intellektuelle Kommentar zum sich nach dem sog. "Röhm-Putsch" stabilisierenden System der faschistischen Herrschaft, deren ideologische Rechtfertigungsmuster in allen Varianten vorgeführt werden: Kaum Irrtümer, kaum Fehler. keine Will­kür - im Gegenteil: Die Entwicklung insgesamt eher produktiv. Das Verbot aller politischen Parteien, die Verhaftung einer ganzen Reichstagsfraktion, die Errichtung einer Reihe von KZ-Lagern und ihre Auffüllung mit zehntausen­den von politischen Opponenten, die Judenhetze und der Boykott ihrer Ge­schäfte, die Bücherverbrennungen, die Zensur in den Bibliotheken und die er­ste Welle der Entlassung von Wissenschaftlern/Kollegen gemäß dem politi­schen oder rassischen Paragraphen des "Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" - sollte dies alles nur leichter Irrtum, keine Willkür, eher produktives Resultat der "neuen Zeit" gewesen sein? E. Üners Interpre­tation einiger Stellen aus Hans Freyers "Ethik des politischen Volkes", so der Untertitel von "Pallas Athene", im Sinne "passiver Resistenz" ist unhaltbar, nicht nur, weil sich eine Fülle von Zusammenhängen in den Textpassagen fin­den läßt, die das Gegenteil belegen, sondern auch, weil das politische Verhal­ten Freyers in diesen Jahren eindeutig ist. Er hatte nicht nur die Entlassungs­schreiben für mehrere Kollegen unterzeichnet, die E. Üner zum Kontext der Leipziger Schule rechnet, sondern er hatte auch mindestens einer Doktoran­din, die wegen ihrer politischen Auffassungen im Gefiingnis saß, die Unter­stützung in der Not verweigert. Nach E. Üner hat sich Freyer an das System des Faschismus angepaßt, "um (sich) dann in den toten Winkeln des Systems einnisten und subversiv wirken zu können".59 Angesichts der Faktenlage läßt sich weder diese Auslegung noch Schelskys Urteil über Freyers fundamental liberale Wissenschaftsauffassung erhärten, insbesondere, wenn man an Frey­ers Budapester Tätigkeit für das Auswärtige Amt denkt. 60

Freyers politische Philosophie und Soziologie wird von seinen Kritikern in der Regel erst mit dem Übergang zum Manifest der konservativen Revolu­tion als "präfaschistisch" (R. Gielke) oder "eindeutig faschistisch" (E. Stöl­ting)61 qualifiziert, was an der besonderen Publizität der nach 1931 erschei­nenden Programmschriften gelegen haben mag. Wie wir jedoch gesehen ha­ben, waren die für die ideologische Präparation des Faschismus in Deutsch­land konstitutiven Diskurse bereits in "Der Staat" vorgebildet, wenn auch die biologische Fundierung seiner Vergesellschaftungskonzeption den Rassismus nicht medizinisch-eugenisch begründete. So richtig es ist, daß Hans Freyer

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keinesfalls ein faschistischer Rassentheoretiker war, so ist sein Begriff des po­litischen Volkes dennoch "in jeder Weise durchlässig für ein rassentheoretisch begründetes Vorgehen des totalen Staates gegen Menschen anderer Abstam­mung".62

Eine gewisse Sonderstellung nimmt das Standardwerk "Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft" (1930)61 insofern ein, als Freyer hier aus der kriti­schen Übersicht über alle damals relevanten soziologischen Theorieansätze der ausgehenden Weimarer Republik die Umrisse einer eigenen Konzeption skizzierte. Freyers Verdienst liegt vor allem darin, mit einer philosophischen Grundlegung die Soziologie in den Rang einer systematischen Disziplin zu er­heben (S. 12). Er ordnete seine ,,wirklichkeitswissenschaft" (Max Weber)64 in den Traditionsstrang deutscher Soziologie von der Romantik über Hegel und Dilthey zur Leipziger Ganzheitspsychologie ein (S. 16). Mit Kar! Marx teilte Freyer den Übergang von der Ideal- zur Realdialektik (S. 19), dessen empirisch-soziologisches Programm allerdings in seiner Person eher dekla­matorischen Charakter hatte, weil die Sozial- und Geschichtsphilosophie seine wissenschaftlichen Domänen blieben. Auffällig ist in diesem Zusam­menhang, daß Freyer nach 1933 die intensive Marx-Rezeption leugnete, wie Erhard Stölting zutreffend beobachtet hat. 65

In dieser Arbeit warnt Freyer vor einem blinden Empirismus US­amerikanischer Prägung (S. 5) und polemisiert gegen die französische Sozio­logie (S. 38) wegen deren positivistischer Überzeugung (S. 46). An Georg Simmels formaler Soziologie kritisiert Freyer ebenso die ungeschichtliche Betrachtungsweise (S. 56) wie an Leopold von Wieses abstrakter Beziehungs­lehre (S. 65) und Othmar Spanns universalistischer Ständestaatstheorie (S. 78). Freyer verortet den Ursprung der Entstehung der Soziologie in der Krise der bürgerlich-kapitalistischen Klassengesellschaft, deutet die ökonomisch­soziale und kulturell-geistige Krisenlage aber keineswegs konservativ­antisoziologisch als Ausdruck des Verfalls (S. 166f.), sondern lenkt das Inter­esse der Soziologie auf das Studium der immanenten Gesetze, "nicht um sie zu fixieren, sondern um ihnen die Erneuerung der sozialen Ordnung abringen zu können" (S. 167). Der Gemeinschaftstopos ist bereits seit 1928 die philosophisch-psychologische66 , 1930 die politische und struktursoziologi­sche Kategorie (S. 252), die den Prozeß der Überwindung der Klassengesell­schaft in subjektiv-objektiver Vermittlung repräsentieren soll. Freyers Über­einstimmung mit Max Webers Auffassung von der Soziologie als Wirklich­keitswissenschaft ist substantiell in den soziologischen Strukturbegriffen (Herrschaft, soziales Handeln, etc.) relevant, endet jedoch bei der erkenntnis­und wissenschafts theoretischen Positionsbestimmung gegen das Werturteils­freiheitspostulat: "Wir stehen dem Gegenstand unserer Erkenntnis nicht theo­retisch gegenüber, sondern sind durch eine Willensbeziehung mit ihm verbun­den, ja, sind existentiell mit ihm identisch" (S. 90). Die wissenschaftliche Parteinahme in dem historisch-gesellschaftlichen Entwicklungs- und Verän­derungsprozeß assoziiert zunächst Ähnlichkeiten mit dem Marxschen Praxis-

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begriff in den Feuerbach-Thesen. Der entscheidende Unterschied zu Marx liegt in dem subjektiv-voluntaristischen, dezisionistischen Tat-Denken, des­sen Charakteristikum nach Walter Giere in einer eigentümlichen "Verknüp­fung eines von Hegel geprägten objektiven Idealismus mit dem radikalen Sub­jektivismus der Existenzphilosophie" Heideggers besteht. 07 Materialisti­schem Geschichtsdenken zufolge ist die subjektive Praxis der Menschen in der Geschichte untrennbar gebunden an die historischen Bedingungen. Das Marxsche Diktum der "Aneignung der Natur von seiten des Individuums in­nerhalb und vermittels einer bestimmten Gesellschaftsform,,68 meint, daß die jeweilige historische Gesellschaftsformation, ihre herrschende Produktions­weise und die dadurch präformierten Klassenverhältnisse den Aktionsrahmen für die gesellschaftlichen Veränderungen bezeichnen. Freyer wählt aber aus den bereits erwähnten persönlichen (Jugendbewegung! Fronterlebnis ) und ideengeschichtlichen Prämissen (Hegel! Dilthey ! Krueger) bewußt nicht die Lösung der Krise aus einer linken Klassenposition,69 sondern setzt auf die soziale Bändigung des im Kern konservierten Kapitalismus über die politische Herstellung einer Volksgemeinschaft: "Die Frage nach der Struktur des Volks ist also gleichsam das letzte Problem der Soziologie" (Soz. Wirk!., S. 253).

Erst die faschistische Krisenlösungsvariante schafft die Voraussetzungen für den politischen Volkwerdungsprozeß, in dessen Verlauf die" revolutionäre Dialektik" der Arbeiterbewegung "Iiquidiert" wird70 zugunsten des "Prin­zips Volk" (S. 44). Im Jahr der Harzburger Front verkündet Freyer die "Revo­lution von rechts": "Noch sammelt sie nur, aber sie wird schlagen" (S. 5). Die Brüningsche Notverordnungspolitik und der Aufstieg der NSDAP geben An­laß zu Hoffnung: "Gerade der Abbau der Revolution von links eröffnet die Re­volution von rechts" (S. 37). Mit der Stillegung des Klassenantagonismus wird der bürgerliche Staat aus dem Interessenkampf herausgeholt und zur "pouvoir neutre" stilisiert. Die revolutionären Kräfte des Proletariats werden "umgeschaltet" (S. 37), in die Gesellschaft "eingeordnet" (S. 32), Volk und Staat verschmelzen (S. 62f.): Das Prinzip Volk ersetzt das Prinzip Klasse (S. 37). Zugleich wird im Zuge des Volkwerdungsprozesses die Aufgabe der So­ziologie als eines Kindes der bürgerlichen Gesellschaft tendenziell verschwin­den. Die Reduktion der Soziologie auf eine empirische Sozialtechnologie im Sinne der etwa von K.-S. Rehberg so bezeichneten "Geheimwissenschaft für die Herrschenden"7' wird bereits 1930 angekündigt. Die klassische Soziolo­gie verliert mit der Auflösung des bürgerlich-kapitalistischen Vergesellschaf­tungsmodells ihre Bestimmungsfunktion, ein Gedanke, der in der von Gehlen und Freyer betreuten Dissertation von A. Golopentia auftaucht: 72 Die Aus­schaltung der bürgerlichen Verkehrsformen und der in der institutionellen Vielfalt beschlossenen Kommunikations- und Interaktionsmöglichkeiten war eine Konsequenz des totalitären Überwachungssyndroms der SD­Intellektuellen, die in jedem privaten Zirkel- sei's eine Freimaurerloge, sei's eine kommunistische Gruppe - eine potentielle Widerstandsformation zu er­kennen glaubten. M. Neumann beschreibt die Eskamotierung des Sozialen

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wie folgt: "Das Vergesellschaftungsmodell des Faschismus - Führer und Ge­folgschaft - läßt als soziale Beziehung nur die hierarchische von Befehl und Gehorsam zu. Die sozialen Beziehungen der Menschen in ihren Klassenlagen und untereinander, wenn man so will, des Volkes, werden von Staat und Partei unter weitgehender Zustimmung der Betroffenen expropriiert oder sollen doch ersetzt werden durch Gemeinschaftsmythen und Regeln des gesellschaft­lichen Verkehrs, die für relativ selbstbestimmte soziale Beziehungen wenig Spielraum lassen. Das entspricht dem Modell der Marschkolonne, die eben dadurch funktioniert, daß in ihr soziale Kommunikation ausgeschaltet wird -nur so kann im Gleichschritt marschiert werden". n

Hans Freyer hatte spätestens 1930 nicht nur seine wissenschaftlichen, sondern auch seine politischen Prioritäten gesetzt. In Leipzig arbeitete er aufs engste mit dem ehemaligen DNVP-Mitglied und Oberbürgermeister Dr. earl F. Goerdeler zusammen,74 auf der von L. v. Wiese initiierten Frankfurter Dozententagung vom 28. 2. 1932 war die Kontroverse zwischen v. Wiese und Freyer um die Pole systematische Soziologie versus historische Soziologie so zugespitzt worden, daß G. Ipsen und H. Freyer die Tagung vorzeitig verließen. P. Honigsheim referierte knapp 30 Jahre später einen zeitgenössischen Kom­mentar wie folgt: "Freyer und Ipsen witterten Morgenluft".75 Mit anderen Worten: Die Leipziger Soziologen setzten längst auf die Karte des Um­schwungs von rechts, ob als autoritäres Präsidialkabinett oder als Bündnis von konservativen und faschistischen Kräften. Vier Wochen zuvor hatte Adolf Hit­ler die prinzipielle Interessenübereinstimmung zwischen Faschismus und Ka­pitalismus in seiner Rede vor dem Düsseldorfer Industrieklub propagandi­stisch erneuert. 76 Gemeinsam mit führenden Vertretern der deutschen Stu­dentenschaft (DSt) und der bündischen Jugendbewegung, insbesondere des Boberhauses in Schlesien, arbeiteten die heiden Leipziger Soziologen an der Verankerung des Arbeitsdienst-Gedankens, der durch das Zusammenleben von Arbeitern, Bauern und Studenten die keimzellenhafte Vorform des "na­tionalen Sozialismus" (Freyer) auf Reichsebene darstellen sollte, die seit 1931 unter H. Brüning in Gestalt des "freiwilligen Arbeitsdienstes" (FAD) gesetz­geberische Gestalt gewonnen hatte. G. Ipsen, der seit Ende der 20er Jahre mit nationalen Studenten in Südosteuropa (Rumänien / Bulgarien / Ungarn) soge­nannte "Dorfwochen" durchführte, schrieb das Vorwort zu dem von Hans Raupach zusammengestellten Erfahrungsbericht über den bulgarischen Ar­beitsdienst,77 und Hans Freyer rezensierte die Publikation für die Zeitschrift "Studentenwerk". 78

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Hans Freyers Entwicklung vom Soziologen der "konservativen Revolution" zum politischen Professor im Faschismus

In den acht Jahren Soziologie in Wissenschaft und Lehre an der Leipziger Universität hatte sich Freyer vom jugendbewegten Outsider zu einem reichs­weit bekannten, an der Universität in verschiedenen Gremien, zuletzt als De­kan der philologisch-historischen Abteilung der Philosophischen Fakultät (1932/1933) sehr einflußreichen Hochschullehrer entwickelt. Wie aus seinen Nachkriegsschriften seit dem "Antäus" (1918) deutlich hervorgeht, ist Freyer bei allem literarisch expressionistischen Stil seines Oeuvres ein genuin politi­scher Denker. Schon die bisherigen Ausführungen lassen aus diesem Chrakte­ristikum des Politischen die These als zweifelhaft erscheinen, derzufolge "sich seine Ausarbeitungen nur auf die theoretische Ebene bezogen und nie real politische Parteinahme sein sollten".79 Die wissenschaftlichen und politi­schen Beiträge Freyers zwischen 1933 und 1936, zum Teil bis 1938, zeichnen sich durch ein eindeutiges professorales Bekenntnis zur "nationalen Revolu­tion" und zur Politik des "Führers" Adolf Hitler aus. Die "realpolitische Par­teinahme" (E. Üner) für den deutschen Faschismus läßt sich keineswegs nur an den tagespolitisch motivierten Redebeiträgen für die NSDStB-Studenten in Leipzig und im Kreis IV (Mitteldeutsch land) und der Dozentenschaft Leipzigs belegen, sondern erstreckt sich auch auf die soziologietheoretischen Abhand­lungen über den neu zu definierenden Standort der Soziologie bzw. auf die philosophische Diskussion um die Weiterentwicklung des Idealismus für ei­nen volksgemeinschaftlich begründeten Faschismus. Politisch gesehen läßt sich seine in diesen Jahren oft verwendete Formel vom "nationalen Sozialis­mus" nicht als soziologisierte Variante jenes kleinbürgerlichen Sozialis­mus/ Antikapitalismus beschreiben, der den Straßer-Flügel innerhalb der NDSAP kennzeichnete. Der Kapitalismus als Gesellschaftsformation sollte prinzipiell beibehalten, jedoch durch gezielte Sozialpolitik "vermenschlicht" werden. In der politischen Programmschrift "Revolution von rechts" wird die Sozialpolitik zum entscheidenden Mittel der Systemintegration: "Sie (d.h. die Sozialpolitik - G. Sch.) emanzipiert den Menschen nicht, aber sie bestätigt ihm, daß er Mensch ist und zieht die Konsequenz daraus".80 Das sozialpoliti­sche Integrationsprogramm richtet Freyer vor allem an die Gewerkschaften vom DHV bis zum ADGB, deren revolutionäre Energien gebändigt werden müßten. Freyers tiefsitzende Revolutionsfurcht richtet sich gegen die Arbei­terbewegung, deren politische und gewerkschaftliche Organisationen den po­litischen Volkwerdungsprozeß stören könnten. Der jugendbewegt-antibürger­liche Habitus Freyers darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß die soziale Basis und Funktion seines politischen Denkens die sozialpolitisch befriedete, bürgerlich-kapitalistische Volksgemeinschaft ist. 81 Wie er bereits 1930 die marxistische Theorie und die ihr immanente politische Theorie des Klassen­kampfes zugunsten der nationalen Ganzheitsperspektive verwirft, so geht er

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1931 offen zur "völkischen Revolution" als Lösungsansatz über. 82 Freyers Schlundiktum von 1930 - "wahres Wollen fundiert wahre Erkenntnis,,83 -drückt die Standortgebundenheit und den subjektiv-voluntaristischen Aktivis­mus in dieser Phase des gesellschaftlichen Umbruchs aus. Wir belegen im fol­genden die einzelnen Schritte, in denen Freyer seinen politischen Willen konse­quent umsetzt in Wissenschafts-, Hochschul- und allgemeinpolitische Praxis.

Nach der Emeritierung des Historikers Walter Goetz, der im Herbst 1933 zusätzlich Berufsverbot an der Universität Leipzig erhielt, ist die Stelle des Direktors des traditionsreichen "Institut für Kultur- und Universalge­schichte" (Ku-Hi) zunächst vakant. Aus der Position des Dekans nutzt Freyer die neue politische Konstellation, um in gemeinsamem Gespräch mit dem überaus aktiven Studenten Hellmut Merzdorf (Kreisschulungsleiter Mittel­deutschland) und dem sächsischen Volksbildungsminister Dr. Wilhelm Hart­nacke eine Umorganisation der institutionellen Strukturen der Geistes- und Sozialwissenschaften in Leipzig herbeizuführen. 84 Dabei ergibt sich als Er­gebnis der Reorganisationsbemühungen eine beispiellose Konzentration so­zialwissenschaftlichen Forschungspotentials im "Ku-Hi" unter Leitung des zum "Professor für politische Wissenschaften" ernannten Freyer. In das "Ku­Hi" werden neben den traditionellen historischen Subdisziplinen und Institu­ten einbezogen: das Institut für Soziologie, das von Theodor Litts Pädagogik­Institut abgetrennte Seminar für freies Volksbildungswesen (Leitung bis Okto­ber 1933: Gunter Ipsen), das vom Leipziger NSDStB inspirierte "Seminar für politische Erziehung" (Leitung Werner Studentkowski bis 1934/ Frühjahr, da­nach: NSDStB-Kreisleiter Wolf Friedrich, ab 1936: Dr. Wilhelm Matthias, alle drei führende Nationalsozialisten in Sachsen) und das neugebildete Insti­tut für Politik. Freyer ist der wissenschaftliche Leiter aller dieser Institutio­nen. Die politische Zielsetzung des sächsischen Volksbildungsministers Hart­nacke ist auf "eine gemeinschaftliche Schulung aller im Geiste des National­sozialismus"85 ausgerichtet, deren Übereinstimmung mit Freyers für alle Studenten obligatorischem "politischen Semenster"86 offenkundig ist. Freyer hatte darüber hinaus in der Korrespondenz mit dem sächsischen Minister den Gedanken eines mit dem NSDStB-Kreisleiters W. Friedrich, u.a. erörterten Plans einer "wissenschaftlichen Führerschule" ins Spiel gebracht, für den eine "Heranziehung von Herrn Studentkowski" in Betracht käme. 87 Zu dem Referentenstab für die Schulung der Erstsemester gehörten die Studenten: Kurt Wagner, Gustav Berger, Helmut Schelsky, und andere, die später alle­samt Funktionen im sogenannten "Am Rosenberg" übernehmen sollten. Die Vorlesungen der Autbaustufe wurden von Philosophen, Historikern, Juristen und Soziologen der Universität bestritten, von denen der Volksbildungsmini­ster eine vorbehaltlose Unterstützung der faschistischen Ideologie erwartet hatte. Dazu gehörten: Hans Freyer, Arnold Gehlen, Helmut Berve, Hans Vol­kelt, Wolfgang Schadewaldt, Friedrich Schaffstein und andere. 88

Der Unterschied zur Schulungskonzeption H. Freyers, die von den Leip­ziger Nazistudenten emphatisch begrüßt wurde89, bestand darin, daß die po-

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litische Schulung der Erstsemester auf einer akademisch-universitären und ei­ner stärker praktisch-politischen Ebene erfolgen sollte. Die entscheidende Aufgabe des NSDStB-Leipzig und des "Amtes für politische Schulung" der Leipziger Studentenschaft lag darin, "daß nach dem Besuche dieser Kurse die Studenten durch praktische Zusammenarbeit mit außerhalb der Hochschule stehenden Volksgenossen im Geiste der Volksgemeinschaft erzogen wer­den".90 Gemeint waren damit die Versuche der Nazistudenten, an den in den Arbeitslagern der vorausgegangenen Jahre gewonnenen Erfahrungen anzu­knüpfen und gemeinsame Seminare von "Jungarbeitern und Studenten" durchzuführen. Diese vor allem an Gregor Straßer anknüpfende Strategie des Appells an die "antikapitalistische Sehnsucht" der Arbeiter war in der tradi­tionellen Hochburg der Arbeiterbewegung am ehesten verheißungsvoll, lag doch der Arbeitslosigkeitsanteil der Arbeiter in Leipzig seit 1931 bedeutend höher als im Reichsdurchschnitt und war etwa zum Zeitpunkt des rasanten NSDAP-Aufstiegs am 1. Mai 1932 der Massenanhang bei den Naziarbeitern (in der NSBO) in Leipzig noch relativ gering: der 1.- Mai-Umzug der 1500 Nazidemonstranten dauerte ganze 10 Minuten, verglichen mit den über 50000 sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeitern, die eine machtvolle Demonstration veranstalteten. 91 Wenn auch der reale Einfluß der ca. 50-60 studentischen Wochenendkurse (1933-35) empirisch kaum exakt meßbar ist, so darf seine systematische Wirkung nicht unterschätzt werden. 92

Verantwortlich für die Koordination der Schulungsarbeit in Leipzig, spä­ter für den Gau Sachsen insgesamt, war der ehemalige Soziologiestudent Wer­ner Studentkowski (1903 -1951). Studentkowski hatte mit ausdrücklicher Un­terstützung Gregor Straßers bei Hans Freyer seit Anfang der 30er Jahre an ei­ner Dissertation über die Sozialstatistik der NSDAP-Mitglieder (der "alten Kämpfer") gearbeitet, diese jedoch trotz umfangreicher Vorarbeiten nie fer­tiggestellt. 93

Freyer konnte am Jahresende 1933, ohne je Mitglied der NSDAP werden zu müssen, als wohlbestallter Ordinarius über ein personelles, sachliches und institutionelles Forschungskapital verfügen wie kaum ein anderer Hochschul­lehrer der Universität Leipzig. Elemente seiner Hochschulreformkonzeption in "Das politische Semester" (1933) ließen sich in der politischen Erziehung der Leipziger Studentenschaft durch seine eigenen Soziologiestudenten in die Praxis umsetzen. Mit der Errichtung des Südeuropa-Instituts 1936 übernahm Freyer die stellvertretende Leitung, aus deren Position heraus er im Jahre 1937 einen programmatischen Aufsatz in der neu eröffneten Zeitschrift "Leipziger Vierteljahresschrift für Südosteuropa" veröffentlichte,94 nachdem er 1934 be­reits mit der stellvertretenden Leitung des ostasiatischen Seminars betraut worden war. Der Einfluß erstreckte sich ferner auf das "Raumpolitische Se­minar", das von Freyer-Studenten ab 1936 maßgeblich getragen wird und vom habilitierten Dozenten Karl-Heinz Pfeffer eine Reihe von Forschungsimpulsen erhält. 95 Die wissenschaftspolitische Wirksamkeit erschließt sich nicht zu­letzt über die verschiedenen Förderungsmöglichkeiten, die sich Freyer als

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Mitglied honoriger Gesellschaften, der "Sächsischen Akademie der Wissen­schaften", der "Albrecht" -Stiftung und der "Fürstlich-Jablonowskischen Ge­sellschaft" zur Förderung der Wissenschaften bieten, einer Stiftung, die u.a. Helmut Schelskys Habilitationsarbeit prämiierte. 96 Auf Reichsebene fiel Freyer schließlich die Rolle des Präsidenten der DGS zu, weil er nach der Selbstgleichschaltung der liberalen Soziologen (von Wiese, etc.) der Kompro­mißkandidat zwischen dem in die Minderheit geratenen traditionell-liberalen Flügel und den faschistischen "hardlinern" um Reinhard Höhn u.a. wurde, und nach von Wieses rückblickenden Worten als "Vertrauensmann der Natio­nalsozialisten"n in dieser Auseinandersetzung galt. Weder kann Freyers ak­tive Rolle beim organisatorischen Hinüberführen der DGS in den Faschismus gegen den zum Teil erbitterten Widerstand des Sozialdemokraten F. Tönnies bestritten werden, noch kann von der sofortigen Absicht einer Stillegung der Soziologischen Gesellschaft gesprochen werden. Gemeinsam mit anderen So­ziologen gab er im Auftrag der DGS die Zeitschrift "Volksspiegel" ab 1934 heraus, in der er neben K.H. Pfeffer und H. Linde aus Leipzig publizierte. Wenn auch die Organisation der DGS in den folgenden Jahren nicht sehr aktiv gewesen zu sein scheint, so ist Freyer zumindest noch 1936 in seiner Eigen­schaft als "Führer" der deutschen Soziologen aufgetreten. 98

Die wissenschaftliche Ebene ist für Freyer immer die Operationsbasis ge­wesen für die darauf aufbauenden allgemeinen politischen Aktivitäten. Schon 1932 hat er im Rahmen des Thurnwald-Symposiums die Soziologie als "ange­wandte Politik" definiert, eine Kurztormel, die dem Soziologen auch in den bereits erwähnten Organisationsvorschlägen für das sächsische Kultusministe­rium am Herzen liegt. Pädagogen, Verwaltungsfachleute und Politiker sollten zumindest im Nebenfach Soziologie studiert haben, weil soziologische Kennt­nisse für die Gestaltung und Vertiefung der Sozialbeziehungen ebenso wie für sozialtechnische Planungsaufgaben dringend vonnöten sein. 99

In allen Abhandlungen zur Standortbestimmung der Soziologie nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten weist Freyer darauf hin, daß die Soziologie nur noch für eine Übergangsphase - nämlich die Volkwerdungs­phase - eine Existenzberechtigung habe. "Die Soziologie wird über die ihr gemeinhin vertrauten Gegenstände, über alles ,Soziale' im engeren Sinne des Wortes, weit hinausblicken müssen, wenn sie die wirklichen Kräfte, die Volks­gemeinschaft schaffen, erkennen will.,,100 Dabei unterscheidet Freyer sorgfäl­tig zwei Etappen in der Herausbildung des "nationalen Sozialismus": Im ersten Stadium, das sich offensichtlich auf die erste Gleichschaltungsphase bis zur Ausschaltung der innerparteilichen Gegner am 30. Juni 1934 bezieht, aber auch noch über diesen zeitlichen Einschnitt hinausgreift, ist "das intensive Studium der spezifisch ,gesellschaftlichen' Erscheinungen, auch der hartnäckigsten Son­derinteressen, auch der stehengebliebenen Klassengegensätze, auch der getarn­ten oder offnen Zentren eines reaktionären Willens" 101 notwendig.

Die explizit politische Fragestellung der Soziologie - Freyer meint hier 1935 offensichtlich alle "Gemeinschaftsfremden": Juden, Sozialisten / Kom-

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munisten, Anhänger der Bekennenden Kirche und der katholischen Opposi­tion oder auch Spannianer - rückt das Fach Soziologie "in das Gesamtsystem der politischen Wissenschaften"lo2. Im zweiten Stadium. "wenn das Gesamt­gefüge der gesellschaftlichen Ordnung also auf absehbare Zeit feststehend vorausgesetzt werden kann" 103, kann eine theoriegeleitete Gesellschaftstech­nik als systemstabilisierende Hilfswissenschaft fruchtbar angewendet werden, "um die Ordnung planmäßig aufrechtzuerhalten und im einzelnen zu verbes­sern"I04. Freyers "wirklichkeits- und gegenwartsgerichtete Volkswissen­schaft" richtet sich einmal auf die Ausschaltung der Gegenkräfte der Volksge­meinschaft, zum anderen - im Anschluß an Wilhelm Heinrich Riehl - auf die Weckung der gesunden Kräfte im deutschen Volk, die gleichsam unter der Hülle der Klassengesellschaft ihr Leben in der Verwurzelung von "Blut und Boden" weiter fristen konnten (d.h.: die Bauern)105.

Hans Freyer hat die vor 1933 für seinen Gesprächszirkel von Assistenten, Studenten und Professoren charakteristische Offenheit für Studenten ver­schiedener Herkunft und Weltanschauung nach dem Machtwechsel rasch auf­gegeben. Er ließ dem im "Institut für Soziologie" ein- und ausgehenden, mit ihm freundschaftlich verbundenen jüdischen Studenten H. Drucker bald nach dem Einsetzen der ersten antisemitischen Hetzwellen im April 1933 mitteilen, daß er das Soziologische Institut nicht mehr betreten dürfe. Er sah auch keine Möglichkeit mehr, die bei ihm begonnene Promotion in Leipzig oder an­derswo abschließen zu lassen. Dem langjährigen Mitarbeiter Ernst Manheim, einem Vetter des Soziologen Karl Mannheim, der noch 1933 nach London emigrierte, hatte Freyer die Habilitation verweigert, die bereits zum Druck voriag lO6.

Als Dekan der philologisch-historischen Abteilung, der wenige Monate zuvor im Dezember 1932 dem marxistischen Osteuropa-Historiker G. Sacke mit seiner Unterschrift die Habilitationsurkunde ausgehändigt hatte, unter­zeichnete er ebenfalls jenes Begleitschreiben der Philosophischen Fakultät zum Bescheid des Dresdner Volksbildungsministeriums, der den Entzug der venia legendi und die Entlassung aus dem Hochschuldienst zum Inhalt hatte 107 .

Im Falle der ehemaligen Doktorandin Dr. Maria Grollmuß wird das intel­lektuelle Verantwortungsbewußtsein Freyers erneut auf die Probe gestellt. M. Grollmuß, in einem katholischen Elternhaus aufgewachsen, arbeitete nach Absolvierung ihres Lehrerinnen-Seminars vorübergehend als Lehrerin, bis sie 1920 - bereits 24jährig - ein Zusatz-Studium der Geschichte und Sozio­logie aufnahm. Sie arbeitete - gemeinsam mit dem späteren Westberliner So­ziologen Otto Stammer - in der Sozialistischen Studentenschaft Leipzig mit und beendete ihr Studium mit einer Dissertation über "Joseph Görres und die Demokratie" 108. Die Arbeit war in ihrer ersten Fassung 1925 vor allem von Erich Brandenburg negativ beurteilt worden, während Walter Goetz für ihre Annahme plädierte. Bei ihrer zweiten Fassung, die sie 1928 einreichte, wurde Hans Freyer als Gutachter hinzugezogen: Freyer und Goetz votierten für zwei,

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Brandenburg für drei. M. Grollmuß bestand ihre mündliche Doktorprüfung in beiden Fächern mit "sehr gut" (W. Goetz: Geschichte/H. Freyer: Soziolo­gie). Ob die starke Bewunderung für die Ideale der Französischen Revolution, das Eintreten für die demokratischen Rechte des Volkes oder die linkskatholi­sche Orientierung des 1. Görres der jungen Historikerin besonders gefielen, ist heute schwer zu ergründen, erklärt aber manche Reaktion des erzkonserva­tiven E. Brandenburg lO9 • In der Folgezeit arbeitete Maria Grollmuß in Frank­furt als Journalistin an der "Deutschen Zeitung" und der "Rhein-Mainischen Volkszeitung", deren Herausgeber der ehemalige Reichskanzler und linke Zentrumspolitiker Dr. Joseph Wirth war llO • Sie engagierte sich als gläubige Katholikin für Frauenrechte, was in einem ihrer Artikel "Die Frau und die junge Demokratie" deutlich zum Vorschein kam. Mit dem 19Z7 vollzogenen Eintritt in die SPD glaubte sie, dem Vormarsch der Rechten auf dem Wege der Aushöhlung der Demokratie Einhalt gebieten zu können. Ihr Versuch, in Ber­lin eine Studienassessorinnen-Stelle zu bekommen, mißlang - doch die ei­gene Arbeitslosigkeit und die vieler Jugendlicher im Nordosten Berlins ver­bunden mit ihren Erfahrungen als Praktikantin in der Berufsberatung führten erneut zur Überprüfung ihrer politischen Positionen. Im Herbst 1931 schloß sie sich der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) an, einer Linksabspaltung von der SPD unter Führung von Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld. In einem programmatischen Artikel versuchte Maria Grollmuß am Vorabend des Fa­schismus, die Sozialisten der SAP und die "Rechts" -Kommunisten der KPD­o zu einer Einheit zusammenzuführen, um nicht in "Reformismus" oder "Sektierertum" abzugleiten. "So sieht die Entscheidung aus, die heute vor uns und den Genossen der SAP, steht, die bald auch vor den Genossen der KPD stehen wird. Einheit durch Kampf und im Kampf oder Untergang in Pas­sivität und Zersplitterung." 111

Nach den ersten Terror- und Verhaftungswellen des neuen Regimes geht Maria Grollmuß in die Illegalität und hilft bei dem Transport politisch Ver­folgter in die Tschechoslowakei, in die viele Oppositionelle aus dem "Grenz­land Sachsen" fliehen. Am 7. 11. 1934 wird sie verhaftet, ein Jahr verbringt sie zunächst in verschiedenen Untersuchungsgefängnissen, und im November 1935 wird sie aufgrund einer Anklageschrift des Volksgerichtshofes wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Im Zuge des gleichzeitig laufenden Verfahrens wegen Aberkennung ihrer Dok­torwürde wendet sich die junge Frau aus dem Zuchthaus Waldheim mit Schreiben vom 22. 12. 1935 an ihren ehemaligen Prüfer Hans Freyer - W. Goetz, der eigentliche Doktorvater, ist bereits von der Universität verjagt -mit der Bitte, "ein Wort der Fürsprache und Verteidigung für mich einzule­gen." 112 Sie bekennt sich zur Tradition des Austromarxismus in der Spielart Otto Bauers, bei dem Demokratie, Marxismus und Gewaltlosigkeit die politi­schen Leitprinzipien seien. In der Urteilsbegründung wurde jedoch - so M. Grollmuß in ihrem Schreiben - die "auch indirekte Stärkung jeder Spielart des Marxismus, auch des klassischen oder demokratischen für hochverrä-

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terisch" 1 13 erklärt. Im Anschluß an den Hinweis auf die beigefügten Unterla­gen, die für den zuständigen Ausschuß des Akademischen Senats gedacht wa­ren, schließt sie ihren Brief mit den Worten: "Ich bitte Sie, sehr verehrter Herr Professor, meine ungewöhnliche Bitte als Beweis meines großen Vertrauens zu betrachten. Ihre sehr ergebene Maria Grollmuß." 114 Der nationalsozialisti­sche Zeitungswissenschaftier Hans Amandus Münster, der 1945 in Leipzig zu den wenigen nie kontroversen, sofort zu vollziehenden Entlassungsfällen in Leipzig gehörte, 115 teilt als amtierender Dekan Hans Freyer die Bestätigung mit, "daß Sie mir (d.h. H.A. Münster - G. Sch.) den Brief mit der Bemer­kung übergeben haben, eine Unterstützung des Antrags von Fr!. Grollmuß durch Sie käme selbstverständlich überhaupt nicht in Frage:.! 16 - Die Uni­versität teilt der sorbischen Widerstandskämpferin in der Folge die Aberken­nung der Doktorwürde mit, eine Ungerechtigkeit und Demütigung, die 1959 von der Karl-Marx-Universität Leipzig korrigiert wird. 1940, als ihre reguläre Haftstrafe zu Ende ging, verfügte der Himmler-Stellvertreter Heydrich mit Befehl vom 23. 12. 1940 "Schutzhaft" für Maria Grollmuß. Sie kommt schließlich ins KZ Ravensbrück, wo sie wegen ihrer Sprachkenntnisse in Pol­nisch, Französisch und Russisch die internationalen Verbindungen in der Wi­derstandsbewegung des Lagers herstellen und als Lehrerin wirken kann. Dr. Maria Grollmuß starb 1944 im Konzentrationslager an den Folgen einer schweren Krankheit.

Bis zum 1. Mai 1933 waren in Leipzig ca. 1700 politische Häftlinge, vor­wiegend KPD-Mitglieder, in Polizeigefangnisse eingeliefert worden, die so­zialdemokratische "Leipziger Volkszeitung", das Reichsbanner Schwarz-Rot­Gold und der Massenselbstschutz der SAP verboten und die Konsum-Filialen geschlossen worden. Nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933, bei der trotz aller Behinderungen und Einschüchterungen die Arbeiterparteien in Leipzig noch 50 % der Stimmen erhielten, wenn auch die NSDAP mit 37 % zur stärk­sten Partei avancierte, setzten die Nazis zum entscheidenden Schlag gegen die Leipziger Arbeiterbewegung an. Am 2. Mai 1933 wurde das Volkshaus von den Schlägergarden der SA besetzt, zahlreiche Gewerkschaftsangestellte ver­haftet und das Vermögen der freien Gewerkschaften geraubt. Bei dieser Gele­genheit wurden die Gewerkschaftskartei und Bücher im Garten des Volkshau­ses ebenfalls durch die SA verbrannt, sozusagen als Vorwegnahme der Bü­cherverbrennungen, die auf maßgebliche Initiative des Leipziger Soziologie­studenten und Führers der OSt, Gerhard Krüger, von Berlin aus in nahezu al­len Universitätsstädten "veranstaltet" wurden. 117 Wenn es eine vergleichbare öffentliche Bücherverbrennung in der Stadt Leipzig sonst nicht gegeben hat, so ist doch die kühle Antwort Freyers auf die Frage des US-Soziologen Earle Edward Eubank nach der Aussonderung von Büchern in Bibliotheken kenn­zeichnend für die Verharmlosung der faschistischen Kampagne "Wider den undeutschen Geist": "Freyer selbst halte derzeit eine Vorlesung über Marx und lasse auch Arbeiten über Marx schreiben. Die wissenschaftlichen Bi­bliotheken seien nicht angerührt worden, jedoch in den öffentlichen Büche-

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reien habe es einige Bücher gegeben, die man aus den Lesesälen entfernt habe." Eubank erlebt einen distanzierten höflichen Hans Freyer, der, auf die politische Lage des faschistischen Deutschland angesprochen, trotz einiger vorübergehend unangenehmer Beschränkungen "davon überzeugt sei, daß sich schließlich alles zufriedenstellend entwickeln würde." 118

Mit der Jahreswende 1932/1933 nehmen die öffentlichen Auftritte H. Freyers vor der von den Nazis eroberten Studenten- und Dozentenschaft Leip­zig zu. Eine Reihe von Vorträgen sind in der Zeitschrift der "Leipziger Stu­dentenschaft" abgedruckt, z.B. die "Rede zur Reichsgründungsfeier vom 18. Januar 1933 an der Universität Leipzig", 119 in der die völkisch-nationalisti­sche Kontinuitätslinie in der neueren deutschen Geschichte betont wird. Teile seiner Vorstellungen zur Einführung des "politischen Semesters", die sich ex­plizit mit den "studentischen Ansätzen zu politischer Selbsterziehung" 120 verbinden, werden in verschiedenen Ausgaben nachgedruckt und von einem seiner Soziologiestudenten, Hans Politt, außerordentlich positiv rezen­siert. 121 Zwei entscheidende Voraussetzungen für die Realisierung seiner po­litischen Hochschulreform müssen erläutert werden, will man Freyers Beitrag zur politischen Erziehung für den "Aufbau des politischen Volkes" in Deutschland richtig verstehen. Einerseits bleibt der Erfolg des "politischen Semesters" gebunden an das Maß der Einordnungsbereitschaft der Studenten in das Volk, die konkret durch Arbeitsdienst, Landdienst und Grenzlandarbeit sowie Wehrpflicht unter Beweis gestellt werden soll. An die Adresse einer ge­legentlich Eigeninteressen verfolgenden Sondergruppe, die Korporationen, gerichtet, fordert er den faschistischen Monopolanspruch auf die "totale Er­ziehung des ganzen Menschen" mit starken Worten: "der Student, der sich beklagt, daß er vor lauter Arbeitsdienst usw. nicht zur wissenschaftlichen Ar­beit kommt, darf keine Deckung finden, weder bei dem Dozenten, der sich über soviel wissenschaftlichen Eifer freuen zu müssen glaubt, noch bei den Kommilitonen." 122 Andererseits weiß Freyer, daß die "Dozentenfrage" 123 von mindestens ebenso großer Bedeutung für das Gelingen des faschistischen Wis­senschaftsprojekts ist, weshalb er heftig gegen die "unverwurzelte, neunmal­kluge Intelligenz" 124 polemisiert. Daß es Schwierigkeiten und Reibungen mit jenem konservativen Hochschullehrertypus geben mußte, der als "Überläu­fer" den Forderungen einer politischen Universität nicht entsprechen konnte, stimmt mit den Klagen der damaligen Nazistudentenführer überein, die im Zusammenwirken mit dem jeweiligen Rektor-" Führer", der NS-Dozenten­schaft, dem Führer-Stellverteter R. Heß, dem "Amt Rosenberg" und dem REM an der Berufung des neuen Dozententyps interessiert waren. 125 So hieß es in einem Brief des sächsischen Volksbildungsministers Hartnacke: die Pro­fessoren, die "durch Ausscheiden der Herren Hellmann, Keßler, Witkowski und Everth frei geworden sind und frei werden",126 sind mit "politisch und rassisch zuverlässigen Persönlichkeiten" zu besetzen.

Freyer bemühte sich selbst um die Verwirklichung des neuen Wissenschaftler-Typus, wenn er am 4. 11. 1933 vor der versammelten Leipzi-

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ger Dozentenschaft den "Einsatz der Universität für den 12. November", 1~7 den Tag der Abstimmung über den Austritt aus dem Völkerbund, beschwört. Mit dem Völkerbundsaustritt, der als erster Schritt zur Revision des Versai1ler Systems und zur Wiederherstellung der nationalen Ehre Deutschlands zu be­greifen sei, wird das Bekenntnis zur "legalen Revolution" :::rneuert: "Sie ist das Bekenntnis zu dem neugewordenen Deutschland und zu dem Führer, der die Entscheidung über die nächste Wegstrecke unserer Geschichte in seiner Hand hält." 128 Diese Rede, in der Leipziger Hochschulzeitung abgedruckt, dem Organ der Leipziger Studentenschaft und des NSDStB, kann als universi­tätsinterne Vorwegnahme jener vom Sächsischen Lehrerbund (NSLB) in Leipzig am 11. 11. 1933 organisierten Großveranstaltung mit dem Chirurgen F. Sauerbruch, dem Philosophen M. Heidegger und dem Eugeniker E. Fischer gedeutet werden, bei der das "Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialisti­schen Staat" 129 öffentlich unterstrichen wurde. Obwohl Leipzig nicht als ge­sonderte Universität ausgewiesen ist, haben zahlreiche Wissenschaftler der Universität Leipzig dieses Dokument unterschrieben, wozu neben dem Rektor Golf auch H. Freyer und A. Gehlen gehörten. 130

Wenige Wochen später wird das bereits mehrfach erwähnte neue "Semi­nar für politische Erziehung" (ab 1936: Seminar für nationalpolitische Erzie­hung) in der Aula der Universität Leipzig eröffnet. Neben dem Rektor A. Golf und den bekannten sächsischen Nazigrößen vom Gauleiter und Reichsstatthal­ter Martin Mutschmann über den Volksbildungsminister W. Hartnacke und dem NSDAP-Reichstagsabgeordneten Werner Studentkowski und dem NSDStB-Kreisleiter IV (Mitteldeutschland) Wolf Friedrich tritt Freyer als Hauptredner dieser Eröffnungsveranstaltung auf und verkündet: "Das Ziel der Volkwerdung, das einst so hoffnungslos verbaut schien, sei durch den Führer in wunderbarer Weise Wahrheit geworden." 131 Werner Studentkowski, der erste Seminarleiter, der schon im Frühjahr 1934 als Personalreferent in die Hochschulabteilung des Dresdner Kultusministeriums wechselte, ohne je ein Examen abgelegt zu haben, schloß die Veranstaltung mit einem Treuebekennt­nis zum Führer und ließ sie mit einem dreifachen Sieg-Heil und dem anschlie­ßenden Horst-Wessel-Lied ausklingen. Als erste Vortragsveranstaltungen wurden an diesem Abend bereits angekündigt: Hans Freyer, der Gedanke des Führerstaates und Hans Volkelt, Adolf Hitler als Erzieher, u.a. 132

Die Zusammenarbeit der NS-Professoren mit den NSDStB-Studenten setzte sich auch im kommenden Jahr fort, als während der Kreistagung des Kreises IV von NSDStB und OSt in Halle (Mai 1934) wiederum die Leipziger Wissenschaftselite (Prof. Berve/Münster /Freyer u.a.) mit Vorträgen auftritt. Hans Freyer ist erneut der Hauptredner des Treffens, dessen Referat in der "Deutschen Studentenzeitung" abgedruckt ist. I33 "Die drei mythologischen Mächte" lautet sein Thema - damit meint er erstens den Führer, zweitens das politische Ziel der Volksgemeinschaft und drittens die diesen Prozeß umset­zenden Organisationen von Partei und Staat (SA/HJ / Arbeitsdienstlu.a.).

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Der Sozialwissenschaft kommt Freyer zufolge eine wichtige Aufgabe bei der Sicherung von Massenloyalität zu, insofern sie verpflichtet sei, "richtige Be­griffe über Staat und Volk, über Rasse und Politik" 134 zu liefern.

Freyer, dessen Freunde auf einflußreichen Posten in der Ministerialbüro­kratie sitzen (z.B.: W. Ahlmann, G. Gerullis, 1.0. Achelis) und dessen Schü­ler im sächsischen Kultusministerium (K.Y. Müller, W. Studentkowski) bzw. in der Staatskanzlei leitende Funktionen wahrnehmen (eh. Zinßer, H. Hahn), ist auch im Ausland ein vielgefragter Referent, der ähnlich wie M. Heidegger, C. Schmitt, K. Haushofer oder H. Frank z.B. nach Rom in die Bibliotheca Hcrtziana des KWI-Instituts für Kunst- und Kulturwissenschaft eingeladen wird, während eine bereits ausgesprochene Einladung an den jüdischen Emi­granten Kar! Löwith wenig später zurückgezogen wird. In Löwiths Erinnerun­gen an den Freyer-Vortrag in Rom am 7. 5. 1935 werden die Begriffe Auf­bruch, Entscheidung, Augenblick, Existenz lebendig, wobei der Handlungs­impuls "aus dem Blut, aus der Rasse, aus dem Glauben"135 kommen, sozusagen aus den Tiefen der mythisch überhöhten tausendjährigen deutschen Geschichte. Die gleiche Grundtendenz durchzieht einen weiteren, 1937 veröf­fentlichten Vortrag, der insbesondere auch wegen der darin enthaltenen Max Weber-Kritik Beachtung verdient. In Freyers Auseinandersetzung mit Max Weber bemängelt er die schon früher geäußerte, in der positivistischen Be­trachtungsweise liegende Standpunktlosigkeit, die affirmative Einstellung zum universalen Rationalisierungsprozeß und die methodologische Defensiv­position gegenüber dem Materialismus. Alle diese Aspekte lassen Freyers Beurteilung zufolge eine nur intellektuelle Orientierung in der gesellschaftli­chen Wirklichkeit zu, die er durch eine aktivistische Tatkonzeption völkisch­faschistisch überwinden zu können glaubt. 136

Seit 1934 hatte Freyer häufig gemeinsam mit seinem Assistenten Kar! Günzel, dem Adjutanten des NS-Dozentenbundführers Dr. Siegfried Koep­pen, und dem von K. Lamprecht geprägten Oberassistenten Herbert Schöne­baum, Auslandskurse mit dem NS-Studentenbund durchgeführt. Das "Grenz­land Sachsen",137 so schrieb Hans Freyer 1936 in der Zeitung des NS­Gaustudentenbundes Sachsen, sollte zum "Ausgangspunkt der deutschen Be­ziehungen zu der lebensstarken, zukunftsreichen Welt Südosteuropas" 138

werden. Dabei hegte Freyer die Hoffnung auf eine Neuordnung Südosteuro­pas, wie sie vom "Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT), aber auch von der offiziellen NS-Außenpolitik angestrebt wurde: politische und ökonomi­sche Dominanz des Deutschen Reiches und seines Exportkapitals bei gleich­zeitiger Anerkennung und Respektierung der völkischen Eigenart der Ungarn und Rumänen. Mit der Zunahme der Kriegsauseinandersetzungen und der wirtschaftlichen und militärischen Einbeziehung des Südostraumes wird der Konsens in diesen Fragen vom Auswärtigen Amt durchbrochen zugunsten ei­ner brutaleren imperialistischen Herrschaftsstrategie. Die Stärkung des Deutschtums in den südosteuropäischen Staaten ist das verbindende Element zwischen Konservativen und Faschisten, wobei sich am Beispiel Freyers die

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Offenheit und Flexibilisierung in Richtung auf eine gewaltsame Okkupations­lösung (bezogen auf die Tschechoslowakei) durchaus zeigen läßt: "Die in der Tschechoslowakei wohnenden Deutschen, Heimatberechtigte im tiefsten Sinne des Worts, sind auf einmal zu einer Art Geiseln in fremder Hand gewor­den ... " 139 Indem Freyer auf eine vermeintliche Unterdrückung der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei verweist, liefert er zugleich die Annähe­rungsbasis für eine ideologische Rechtfertigung kommender Annexionspoli­tik. Die politische Rolle Sachsens liegt in der Wahrnehmung einer bewußten "Verteidigungsstellung" im System der deutschen Ostgrenze, wofür ihm die "Riesenballung hochqualifizierter Volks- und Arbeitskraft" die beste Garan­tie zu sein scheint. Wir wissen, daß Hitler zu diesem Zeitpunkt (Ende 1936) mit der Verkündung des Vierjahresplanes die Vorbereitung des Kriegspro­gramms klar anvisiert hatte. 140

Wir lassen an dieser Stelle die Freyersche Konzeption von auswärtiger Kulturpolitik außer acht, insbesondere die mit seiner Gastprofessur für deut­sche Kulturgeschichte in Budapest seit dem Spätsommer 1938 beginnende kulturpolitische "Vorposten" -Rolle, die ab Februar 1941 durch die Stellung eines Präsidenten des "Deutschen Wissenschaftlichen Instituts" (DWI) in Bu­dapest, einer Institution des Auswärtigen Amtes, gekrönt wurde. 141

Zu Beginn des Jahres 1937 kommt es zu Auseinandersetzungen um den Inhalt eines wissenschaftlichen Zeitungsaufsatzes Freyers und eine damit ver­bundene politische Kritik einiger NS-Vertreter an dem bis zu diesem Zeit­punkt die Entwicklung nach 1933 affirmativ begleitenden Soziologen. Wie ist diese Auseinandersetzung zu erklären? - Jerry Z. Muller hat in einem Auf­satz 1986 die These von der "Dynamik der intellektuellen Enttäuschung" 142

vorgetragen, die allerdings meiner Auffassung nach hinsichtlich ihrer Begrün­dungsbasis weder hinreichend ist noch eine Erklärung für die Kontinuität ei­ner eigentümlichen Ambivalenz in Freyers Denken und Handeln bietet. Die Enttäuschungen resultieren zum einen aus der persönlichen Betroffenheit von Überwachungsmaßnahmen (SD/ Amt Rosenberg etc.), zum anderen aus der Zwangsemeritierung und Entlassung von befreundeten Kollegen (z.B. F. Krueger, H. Fischer). Weiterhin ist darauf zu verweisen, daß das Regime mit dem Übergang zur forcierten Aufrüstung an einem Mangel an Rohstoffen und Devisen litt, erste Einschränkungen im Konsumgütersektor ("Brotkrise" "Rationierung") verbunden mit Qualitätsminderungen bei Textilien den Ein­druck eines krisenhaften Einbruchs vermittelten. 143 Die durch diese Erfah­rungen gewonnene realistische Skepsis hinsichtlich der Erfolgsaussichten des faschistischen Vergesellschaftungsmodells schlägt sich in einer zum Teil et­was zurückhaltenderen Form der Unterstützung und zugleich moderaten Kri­tik an einzelnen Herrschaftsmechanismen nieder, die aber auch in dem viel­leicht tiefgründigsten Buch dieser Phase über "Machiavelli" (1938) keines­wegs zu einer Position der Dissidenz weiterentwickelt wird. 1244

Freyer kamen zumindest Zweifel, ob die rassenpolitischen Zielsetzungen des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" (1933) angemessene

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Maßnahmen zur "Vereinheitlichung" des politischen Volkes waren, allerdings in der sehr verklausulierten Form: "Die politische Insel. Geschichte der Uto­pien von Platon bis zur Gegenwart" (1936).145 Immerhin war sein Aufsatz "Das Land Utopia. Ein ewiger Traum der Menschheit", der im Januar 1937 vom "Hannoverschen Anzeiger" und dem "Stuttgarter Neuen Tageblatt" ge­druckt worden war, Anlaß für politische Verdächtigungen und Angriffe. 146 "Ist der ewige Menschheitstraum vom besten Staat auf Erden ausgeträumt?" - so lautet die provokative Frage Freyers, die hinsichtlich der Zukunft der fa­schistischen Diktatur eher verklausuliert, aber skeptisch-kritisch beantwortet wird: "Aus dem konkreten Land, das in der Geschichte steht, wird das Land Nirgendheim. Aus dem Plan, der mit wirklichen Mitteln in Angriff genom­men werden soll, wird das nur Seinsollende, das nur als Ideal vorgestellte Ge­genbild der Wirklichkeit." 147 Prompt hatte der Hauptschriftleiter des "Stutt­garter Neuer Tageblatts", W. Güntzler, an den Dekan der Philosophischen Fa­kultät, Prof. H. A. Münster, brieflich mitgeteilt, daß aus "Parteikreisen" Stimmen laut geworden wären, denen zufolge der "Artikel mit dem Gedanken des Nationalsozialismus nicht vereinbar ... und (daß) der Schlußteil des Auf­satzes lediglich als Tarnung eines nicht nationalsozialistischen Gedankenguts aufzufassen sei.,,148 Nachdem verschiedene Stimmen, so der Stuttgarter Jour­nalist E. Belzer u.a., die Zweifel an Freyers Loyalität gegenüber dem NS-Staat hatten zerstreuen können und der NS-Gaustudentenbundsführer, vertreten durch Edmund Theil, an den Dekan Münster mit Schreiben vom 13. 4. 1937 mitgeteilt hatte, "daß die Zusammenarbeit mit Herrn Prof. Freyer nach mei­nem Wissen mit der Studentenführung Leipzig heute einwandfrei und rei­bungslos vor sich geht",149 wurde der Fall vom Dekanat zu den Akten gelegt.

Aus dieser zweifellos schwierigen Lage konnte sich Freyer nur deswegen erfolgreich herausmanövrieren, weil er bei aller Kritik im Detail an der prin­zipiellen Legitimität der faschistischen Herrschaftsordnung bis in die 40er Jahre hinein keineswegs zu rütteln gedachte. Das hervorstechende Kennzei­chen Freyers ist die merkwürdige Ambivalenz, die sich in der relativen Zu­rückhaltung in wissenschaftlichen Abhandlungen einerseits, einer viel pro­noncierteren profaschistischen Haltung in kleineren politischen Ansprachen oder Zeitungsartikeln und in der Kooperation mit faschistischen Dienststellen (z.B. Gesandtschaft Budapest) andererseits spiegelt. R. Gielkes sonst ver­dienstvoller, weil differenzierter Beitrag zur Rolle Freyers im Faschismus, enthält jedoch eine aus der ebenfalls beobachteten Ambivalenz gezogene Schlußfolgerung, die ich in der folgenden Formulierung nicht teilen kann: "In Freyers Denken spielte die wissenschaftsbezogene, intellektuelle Seite letzt­lich die entscheidende Rolle." 150 Der Terminus vom "Intellektuellen­Faschismus" 151 scheint auf den ersten Blick überzeugend und geeignet, die elitäre Distanz des verantwortungsbewußten und perspektivisch denkenden Wissenschaftlers zur primitiv-grobschlächtigen Rassentheorie und der Per­vertierung des Geistes im Faschismus zum Ausdruck zu bringen. Es gibt bei Freyer gerade nach 1935 die bereits oben erwähnten zwei Ebenen seines poli-

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tischen Denkens und Handeins, die sich je nach politischem Anlaß, besonde­ren historischen Rahmenbedingungen und jeweiligem Adressatenkreis bzw. staatlichen Dienststellen oder Auftraggebern vermischen bzw. zugunsten der einen oder anderen verschieben. Die eine Ebene könnte man die eher gegen­wartsbezogene, kurzfristig-tagespolitisch motivierte Linie nennen, deren Grundlage im nationalsozialistischen Staat und der Volksgemeinschafts­Ideologie zutiefst verwurzelt ist, weshalb Freyer trotz aller Skepsis und vor­sichtigen immanenten Kritik nie zu einer wirklichen oppositionellen Haltung gegen den faschistischen Imperialismus finden konnte. Die zweite Ebene be­ruht auf der aus historischen Erfahrungen und Einsichten gewonnenen prog­nostischen Fähigkeit, über das spätestens seit Kriegsausbruch, vielleicht auch erst seit der Niederlage von Stalingrad (1943) - hier beginnt bei allen Freyer­Deutungen das Feld der Spekulation - evidente Scheitern des faschistischen Herrschaftsmodells hinaus das europäisch-abendländische Zivilisationsmo­dell zu retten ("Weltgeschichte Europas"). Die Erhaltung der bestehenden po­litischen Ordnung verliert relativ an Bedeutung gegenüber der langfristigen Sicherung monopolkapitalistischer Herrschaftsverhältnisse im Rahmen eines sich antikommunistisch verstehenden, christlich begründeten Westeuropa.

Freyer kritisiert in seiner 1944 fertiggestellten, jedoch erst 1986 von E. Üner zugänglich gemachten Schrift "Preußentum und Aujklärung"152 das "Gesetz der Illegitimität", das unaufhaltsam ins Rollen gerate, wenn "das Bild der echten Herrschaft als einer sittlichen Ordnung zwischen Herrscher und Volk" 153 zerstört werde. Die Anspielung auf die Herrschaft des Führers und seiner Clique ist deutlich, allerdings in der Kritik Friedrich 11. in dessen "An­timachiavell" an N. Machiavellis Skizze des Cesare Borgia verpackt ("Cas­cade des Verbrechens"): "Um seine verbrecherischen Unternehmungen zu bezahlen, mußte Cesare Borgia rauben; um seines Raubes sicher zu werden, mußte er morden; so zieht eine Untat die andere nach sich, bis schließlich das Ganze wie ein unaufhaltsam niederrollender Felsblock den Täter selbst zer­schmettert." 154

Diese Aussagen von 1944 lassen sich mit dem "Machiavelli" -Buch von 1938 nicht vergleichen. Freyers Zustimmungsbereitschaft trifft die prinzi­pielle Akzeptanz der politischen Führergestalten: "Man kann sich die Männer für die Aufgaben, die die Stunde stellt, nicht malen, man muß sie nehmen, wie sie sind" 155 und die daraus abgeleitete "Ethik der geschichtlichen Stunde": "Der Fürst darf nicht eine unsichere Hand und schlaflose Nächte be­kommen, wenn es ein Verbrechen zu tun gilt; er muß auch dann ganz sicher mit voller Gewissensruhe seinen Weg gehen. Ein ethisches Training ist not­wendig mit dem Ziel, ,mit Ehren schlecht sein zu können,:d56 Demgegen­über stehen, wie 1. Z. Muller zutreffend bemerkt, Warnungen an eine von Korruption bestimmte Struktur politischen Handeins a la Cesare Borgia eben­falls in seinem Text. 157 Ob allerdings diese Formulierungen, Ambivalenzen und Doppeldeutigkeiten als "Normbilder des Standhaltens" (E. Üner)158 in­terpretiert werden können, ist mehr als zweifelhaft.

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Im Sommer 1938 war Hans Freyer nach vorausgegangenen Ferienkursen in Debrecen und am Plattensee und Gastvorträgen am Budapester Eötvös­Kolleg mit seiner Familie nach Budapest gezogen, wo er seitdem als Gastpro­fessor für deutsche Kulturgeschichte an der dortigen Universität lehrte. Die Einrichtung ständiger Gastprofessuren entsprach dem § IV des Deutsch­Ungarischen Kulturabkommens vom 28. 5. 1936. 159 Gemäß seinen eigenen Vorschlägen wurde der habilitierte "Dozent vom erwünschten neuen Typ", 160

Karl-Heinz Pfeffer, Vertreter Hans Freyers in Leipzig, bis er 1940 eine a.o. Professur für "Volks- und Landeskunde Großbritaniens" an der neu errichte­ten "Auslandswissenschaftlichen Fakultät" in Berlin erhielt. Die Kulturpoli­tik des Deutschen Reiches in dieser Etappe der Expansion nach Südosten (Österreich / "Rest" -Tschechoslowakei) kann nicht isoliert von der politisch­ökonomischen Interessenlage gesehen werden, in deren strategisches Kalkül sie eingebettet war. Mit der Annexion Österreichs war der erste Schritt zur Hegemonie in Südosteuropa gelungen, wobei eine Interessenkoinzidenz zwi­schen dem deutschen Handels- und Exportkapital und den südosteuropäi­schen Rohstoff- und Agrarexporteuren geeignet erschien, die nach 1918 ent­standene Dominanz englisch-französischer Kapitalinteressen tendenziell ab­zulösen. 161 Konnte der Nationalsozialismus als Teil seiner Kriegsvorberei­tungsstrategie seine Rohstofflücken (Erdöl/Kupfer / Zink/ Blei / Chrom / Bau­xit) z.T. schließen, so erhoffte sich Ungarn - als 1919 im Frieden von Trianon territorial empfindlich geschrumpfter K. und K.-Nachfolgestaat - eine Un­terstützung seiner revisionistischen Gebietsforderungen gegenüber der Tsche­choslowakei. Die Stärkung der volksdeutschen Minderheit in Ungarn insbe­sondere durch die Förderung von Sprache und Kultur war eins der wesentli­chen Agitationsfelder für die zunehmend unter faschistische Regie (NSDAP / AG) geratene deutsche Volksgruppe in Ungarn. Die seit 1933 in der Deutschen Gesandtschaft Budapest ansässige Auslandsorganisation der NSDAP organi­sierte 1939 zirka 5 000 Volksdeutsche aus Budapest in der NSDAP und führte zahlreiche Veranstaltungen für SA, HJ, KDF und DAF durch. 162

In diesem politischen, ökonomischen und kulturellen Kontext war Hans Freyer zunächst in seinen Reden und Artikeln ein zurückhaltender Interpret der deutsch-ungarischen Kulturbeziehungen, indem er - gleichsam gegen die totale Hegemonialisierung der ungarischen Wissenschaft und Kultur durch NSDAP / AG, SS und z.T. auch AA - den versöhnlichen Akkord der Verstän­digung und "Begegnung" der Völker anstimmte und zugleich den Faktor der ungarischen Eigenständigkeit gewahrt wissen wollte. 163 Die Anerkennung, die Freyer im Berliner REM von der grauen Eminenz Heinrich Harmjanz und unter den ungarischen Politikern und Wissenschaftlern genoß, führte im Fe­bruar 1940 mit Hinweis auf die deutsch-ungarischen Kulturverhandlungen zu einer erneuten einjährigen Verlängerung der Gastprofessur.

Seit 1937 verfolgte das Auswärtige Amt das Ziel, schrittweise den geistig­wissenschaftlichen Einfluß des faschistischen Deutschland auf andere Völker zu erweitern, den französischen bzw. anglo-amerikanischen Einfluß zurück-

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zudrängen, um langfristig die geistige Führung in Europa auszuüben. Dazu bedurfte es eines Systems von Kulturabkommen (Bulgarien: 1940; Slowakei: 1942; Rumänien: 1942), verbunden mit der Einrichtung von sogenannten "Deutschen Wissenschaftlichen Instituten" (DWI), an deren Spitze Präsiden­ten von politischem Format und wissenschaftlicher Reputation stehen sollten. H. Freyer eröffnete am 12. 2. 1941 in der Aula der Budapester Universität das neue "Deutsche Wissenschaftliche Institut", er erhielt einen Assistenten, den habilitierten Königsberger Dozenten Helmut Schelsky, eine Bibliothekarin und zwei weitere Hilfskräfte. Der ursprünglich noch versöhnlichere Ton des Kulturaustausches wurde zunehmend in einen deutschen Führungsanspruch auf "die alte geistige und wissenschaftliche Stellung in Osteuropa"11>4 umin­terpretiert. Die konkreten Aufgaben des DWI als "Vorort deutscher Wissen­schaft'd65 lassen sich wie folgt beschreiben:

l. Medium der Vermittlung deutschen Kulturerbes und faschistischer Ideolo­gie (Förderung eines Elite-Nachwuchses / Sprachpflegeabteilung / Biblio­theks-aufbau / Verteilung politischer Broschüren); 2. Vorort deutscher Wissenschaft in Budapest (Gastvorträge ausgesuchter deutscher Wissenschaftler); 3. Auslandskundliche Ausbildungsstätte für den deutschen Hochschullehrer­nachwuchs; 4. Intensive Beobachtung des wissenschaftlich-kulturellen Lebens in Ungarn (Mitteilungen an die Deutsche Gesandtschaft Budapest und an das Auswärtige AmtiBerlin: Dossiers über jüdische Wissenschaftler, u.a.); 5. Kulturelle Aufgaben für die deutsche Volksgruppe in Ungarn/Budapest (Musik, Kunst und Sport) als kulturelle Mission zur Stärkung des Deutsch­tums im Südosten.

Bereits ein Jahr nach seinem Amtsantritt kann der neue DWI-Präsident im Kreise seiner Kollegen über die kulturimperialistische Wirkungsweise sei­ner Arbeit folgende Ergebnisse präsentieren: "An den Universitäten halten aufgrund des deutsch-ungarischen KuIturvertrags in jedem Lehrjahr mehrere deutsche Gelehrte teils einzelne, teils mehrwöchige Gastvorlesungen. Außer­dem bilden die zahlreichen wissenschaftlichen Gesellschaften und Vereine ein aufnahmebereites und sachverständiges Forum für Gäste aus den Reihen der deutschen Wissenschaft. Dazu treten diejenigen Institutionen, die in der Pflege des deutsch-ungarischen Kulturaustauschs ihre Hauptaufgabe finden: Die Ungarisch-Deutsche Gesellschaft mit ihren Ortsgruppen und das Deut­sche Wissenschaftliche Institut in Budapest samt seinen Zweigstellen in ande­ren ungarischen Städten. Alles in allem gerechnet dürfte keine Woche vergec hen, in der nicht mindestens ein deutscher Vortrag aus irgendeinem Gebiet der Wissenschaft stattfände. Ein regelmäßiger Besprechungsdienst, der die wis­senschaftlichen Zeitschriften Ungarns mit den deutschen Neuerscheinungen versorgt, ist eingerichtet." 166 Die Kooperation mit der Partei war durch zwei

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zusätzliche Mitarbeiter im Institut, Dr. Ernst Haeckel und Dr. Walter Schurig, beide bekannte NSDAP / AO-Mitglieder, sichergestellt; 167 sie vertraten zirka eine halbe Millionen Ungarndeutsche (5,5 % der ungarischen Bevölkerung nach der Volkszählung von 1930). Das DWI unter Freyers Leitung war poli­tisch nicht nur in engem Kontakt zur deutschen Volksgruppe in Ungarn unter ihrem NSDAP-Führer Franz Basch, in dessen Zeitschrift, "Südostdeutsche Rundschau. Zeitschrift der deutschen Volksgruppe in Ungarn" Freyer eben­falls veröffentlichte, sondern stand über seine volkstumspolitische Arbeit mit dem "Deutschen Auslands-Institut" (DAI) in Stuttgart und dem "Volksbund (bis 1933: Verein, G. Sch.) für das Deutschtum im Ausland" (VDA) in ständi­gem Kontakt. 11>8 Der ungarische Historiker L. Tilkovsky hat die verschiede­nen Aufgabenbereiche des DWI-Kulturimperialismus differenziert analysiert: "Aufgabe der neuen Institution war es, die Forschungen über das Deutschtum in Ungarn zusammenzufassen und zu lenken und die Instruktionen und Auf­träge der verschiedenen reichsdeutschen Volkstumsforschungsinstitute und Organisationen (z.B. DAI, VDA) zu übermitteln. Außerdem sollte das Insti­tut, das in Szeged, Kassa, Debrecen, Kolzsvar, Györ und Pecs Abteilungen einrichtete, in Ungarn die Deutschstämmigen erfassen, den deutschen Ur­sprung von Siedlungen und Städten nachweisen, die deutschen Kulturleistun­gen in Ungarn aufzeichnen und die Dissimilationspropaganda des Volksbun­des ,wissenschaftlich' untermauern. Die Presseabteilung des Instituts ver­sorgte einerseits die reichsdeutsche bzw. gesamtdeutsche Presse mit ,wissen­schaftlichen' Daten über das Deutschtum in Ungarn, andererseits beaufsich­tigte sie den Inhalt der deutschen Presse in Ungarn. Viele seiner hauptamtli­chen und korrespondierenden Mitarbeiter wurden aus den Reihen der Volks­tumsforscher des Volksbundes ausgewählt. Ein sehr wichtiges Ziel des Insti­tuts war weiterhin, die Verbindung zwischen Reichsdeutschen und Volksdeut­schen zu vertiefen, ihre Zusammenarbeit zu fOrdern.,,169 Angesichts dieser auf Archivauswertung beruhenden Darstellung verwundert es kaum, wenn ein führender deutscher Wissenschaftler, Prof. Dr. Andreas Predöhl - Direktor des Kieler Weltwirtschaftsinstituts -, nach Abschluß seiner einwöchigen Vor­tragsreise in Ungarn in einem ausführlichen Bericht an das Berliner AA das Wirken H. Freyers folgendermaßen charakterisiert: "Freyer ist nicht nur ein Gelehrter von hohem Rang und ein hervorragender Exponent nationalsoziali­stischer Wissenschaft. Er hat sich auch praktisch in Budapest für die deutsche kulturelle Gestaltung in einem Maße eingesetzt, die alle Bewunderung ver­dient." 170

Im Zusammenhang mit dem Überfall des Deutschen Reiches auf die So­wjetunion am 22. Juni 1941 beteiligte sich der DWI-Präsident gemeinsam mit dem Volksbund-Stellvertreter Goldschmidt und dem NSDAP / AO-Landes­gruppenführer Henry Esp an den Verhandlungen über die Aufstellung eines volksdeutschen Freiwilligenkorps. Nach einer Intervention des Reichsaußen­ministers von Ribbentrop Anfang 1942 übernahm der Volksbund, mit dem Freyer aufs engste verbunden war, nicht, wie ursprünglich gedacht, die unga-

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rische Regierung, die Aufgabe der Anwerbung und Rekrutierung von 20000 freiwilligen Volksdeutschen für die Waffen-SS. 171 Freyer entwickelte in die­ser Phase intensive Kontakte zum AA, zum Generalstab der Wehrmacht in Budapest und zu ungarischen Politikern und Wissenschaftlern von Rang: "Freyer stand mit allen Gruppen in vertrauensvollem Kontakt. .. 17~

Dabei ging Freyers Bestreben schon vor der Wahrnehmung seiner offi­ziellen kulturpolitischen Funktionen eher auf die Erhaltung einer gewissen Selbständigkeit Ungarns gegenüber dem deutschen Faschismus aus, in dessen Abhängigkeit Ungarn seit Ende der 30er Jahre immer mehr geraten war. Der seit der ungarischen Revolution 1919 virulente Antisemitismus wurde durch die Nazis immer wieder geschürt und hatte 1938, 1939 und 1941 in sogenann­ten "Judengesetzen" politischen Ausdruck gefunden. m War diese Gesetzge­bung den radikaleren nazistischen Kräften in Ungarn keineswegs ausreichend, so hatte selbst H. Himmler 1942 für mehr Vorsicht im Umgang mit der ungari­schen Regierung plädiert und die Rolle des Volksbundes auf die antikommuni­stische Propaganda und die Anwerbung von SS-Kräften beschränken wollen. Die extreme politische Abhängigkeit Ungarns vom Deutschen Reich zeigte sich deutlich im Jahre 1939, als Ungarn mit dem Ausscheiden aus dem Völker­bund (im Mai) und mit der Unterzeichnung des Antikomintern-Paktes am 25. 11. 1939 de facto zu einem Satellitenstaat geworden war. Mit der Ausweitung der deutschen Kriegsoperationen wurde Ungarn auch militärpolitisch immer stärker einbezogen: Ungarn diente als Aufmarschgebiet nach Jugoslawien (6. 6. 1941), und ungarische Regimenter halfen beim deutschen Überfall auf die Sowjetunion (22. 6. 1941).

Die Stimmung in Ungarn schlug spätestens seit dem Frühjahr 1943 nicht nur wegen der totalen Ausbeutung der ökonomischen Ressourcen in Reserve, Feindschaft und schließlich antifaschistischen Widerstand um, sondern auch wegen der Niederlagen der Deutschen bei Stalingrad und der 2. ungarischen Armee bei Woronesh, die sich mit der Landung der anglo-amerikanischen Truppen in Italien noch dramatischer gestalteten. Den Rückzug der Familie Freyer aus Ungarn im Sommer 1944 hat 1. Z. Muller detailliert beschrieben und dabei den Reputationsverlust des deutschen Professors selbst bei seinen ungarischen Kollegen und Freunden hervorgehoben. Das Gesicht des Terrors (Adolf Eichmann) begann die Fassade der Verständigung (Hans Freyer) zu entschleiern: "Indeed, the two images seemed to merge, for the SS reportedly took over Freyer's DWI." 175 Wir verwenden deshalb den Begriff "Fassade", weil Hans Freyer in seiner Eigenschaft als akademisch-kultureller Botschafter des 3. Reiches gleichsam hinter den Kulissen geheime Beratungsfunktionen für den deutschen Gesandten in Budapest wahrnahm. 176 Im Rahmen dieser Tätigkeit ermutigte er zahlreiche bekannte deutsche Wissenschaftler zu Gast­vorträgen in Budapest, unter ihnen so bekannte Namen wie Ferdinand Sauer­bruch, atto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, Carl Schmitt, Ernst Rudolf Huber, Hans Georg Gadamer und Andreas Predöhl. Außerdem kündigte Freyer eine Vortragsreihe über "Rassen- und Bevölke-

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rungspolitik" mit den bekannten faschistischen Professoren Burgdörfer, Fi­scher und von Eickstedt an, da diese Themen von den ungarischen Gesell­schaften selbst nicht behandelt würden. Das Auswärtige Amt ermutigte umge­kehrt deutsche wissenschaftliche Vereinigungen, insbesondere das Ungari­sche Institut in Berlin bzw. die Ungarisch-Deutsche Gesellschaft, ungarische Wissenschaftler zu Gastvorträgen in das Deutsche Reich einzuladen, wobei das AA schon vor Freyers Präsidentschaft ungarische Intellektuelle jüdischer Herkunft nicht berücksichtigte.

Zu Hans Freyers regelmäßigen Aktivitäten gehörte das Erstellen von klei­neren Dossiers über die rassische Herkunft und politische Einstellung ungari­scher Wissenschaftler. Sein zeitweiliger Assistent, Helmut Schelsky, hat ihn im Frühjahr 1941 in dieser "Beschäftigung" unterstützt, die - wie aus den nur bis 1941 erhaltenen Restakten der Gesandtschaft Budapest hervorgeht -offensichtlich auf Gerüchten und Gesprächsinformationen prodeutscher, anti­semitischer Fakultätsmitglieder basierte. Alle diese Berichte über die" Zuver­lässigkeit" der in Frage kommenden Wissenschaftler wurden vom Gesandten selbst oder dessen Legationsrat an das AA in Berlin weitergereicht, das bei entsprechender Information eine geplante Einladung sofort strich. In einer vertraulichen Mitteilung an die Deutsche Gesandtschaft Budapest, die eine Einladung des Medizinprofessors Dr. Hainios betraf, teilte Freyer mit, daß dieser" nicht mit voller Entschiedenheit Antisemit" sei und zudem "in seiner Klinik immer einmal jüdische Assistenten aufgetaucht" seien. Hinsichtlich des Geographen Prof. Dr. Cholnoky spielte weniger die rassische als die poli­tische Begründung für die Ablehnung eine Rolle: "Seine politische Einstel­lung zum gegenwärtigen Deutschland - und bezeichnenderweise vor allem zu unserer Volksgruppenpolitik ist allerdings eindeutig negativ, ja feindlich." Freyers Schreiben an den Legationssekretär von Richthofen vom 17. 12. 1941 bezieht sich auf einen weiteren Mediziner, Prof. Dr. Tibor German. Freyers Feststellung zu diesem Kollegen lautete lapidar: "Prof. Dr. Tibor German, der Gatte der Schauspielerin Gizi Bajor, ist von rein jüdischer Abstammung." Zwei Tage später meldete der ehemalige SA-Führer Dietrich von Jagow in sei­ner Eigenschaft als Gesandter an das AA/Berlin einen nahezu gleichlauten­den Text weiter. An einem letzten Beispiel- einer Information über den Öko­nomen Stefan Varga - wird die intime Kenntnis von sozio-ökonomischen Ei­gentumsverhältnissen und internen Fakultätsvorgängen sehr deutlich: Varga wird abgelehnt, weil er erstens Halbjude sei, zweitens an einem privaten Insti­tut für Wirtschaftsforschung beschäftigt sei, das vom jüdischen Bank- und Fi­nanzkapital finanziert werde und drittens schließlich habe sich die Habilita­tion und Ernennung zum a.o. Professor" unter starken Stürmen in der Fakultät vollzogen". 177 J. Z. Muller interpretiert dieses Verhalten eher zurückhaltend­widersprüchlich: "Eine gewisse Ironie liegt darin, daß Hans Freyer sich dem vollen Zugriff der Maschinerie, mit der das Dritte Reich seine kulturelle Kon­trolle ausübte, nur dadurch entzog, daß er zu einem Teil- und zu einem wirk­samen Teil - dieser Maschinerie an der Peripherie wurde." 178 Es über-

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raschte daher kaum, daß Freyer auf einer Tagung der Südosteuropa-Institute in Breslau im September 1941 über die Vortragsveranstaltungen hinaus in sich daran anschließenden Geselligkeitstreffen die "pädagogische" Vertiefung der "Rassen- und Bevölkerungspolitik" anvisierte, obwohl diese Thematik nicht zu seinen eigentlichen Arbeitsgebieten gehörte.

Schon bei der Förderung einer Reihe von Leipziger Dissertationen zwi­schen 1933 und 1945 - Freyer übernahm jedes Jahr nach einer Absprache mit dem REM eine neunwöchige Vorlesungsverpflichtung im Juni / Juli in Leipzig - hatte sich Freyer an rassenpolitischer Ausrichtung kaum gestört, 179 wenn­gleich die vorgelegten Dissertationen wenigstens zum Teil die traditionellen Standards (von vor 1933) wahren konnten. Obligatorisch ist bei fast allen Au­torinnen/ Autoren eine schon fast rituelle Verbeugung vor den faschistischen Autoren und der Partei, eine 1endenz, die mit dem Grad der praktischen Wirksamkeit und der politischen Stellung in NSDStB / SA / NSDAP oder an­deren Untergliederungen zuzunehmen scheint. 180 Eine besondere Radikalität in faschistischer und antisemitischer Richtung vertraten vor allem die Studen­ten, die die Kombination Zeitungswissenschaft-Soziologie studierten, gele­gentlich auch die Kombination Soziologie-Philosophie bzw. -Geschichtswis­senschaft. 181

Was die Trendwende in der inhaltlichen Ausrichtung der soziologischen Doktorarbeiten nach 1933 angeht, so liegen die Akzente in Leipzig nicht über­wiegend auf dem Gebiet politisch-soziologischer Theoriebildung, sondern vor allem auf einer Reihe von realsoziologischen Feldern: Agrarsoziologie (Dorfstrukturen, Landesausbau): unter Anleitung von K. H. Pfeffer, zum Teil auch von H. Linde in Fortsetzung der Interessen G. Ipsens; Volkstumssoziolo­gie (Rolle deutscher Minderheiten in Mähren / Syrmien / Südosteuropa insge­samt) unter Anleitung von H. Freyer, zum Teil auch K. H. Pfeffers; Informa­tion und Propaganda (Staatsführung, Schriftleiter, Frauenbeilagen, jüdisch­kommunistische Presse) unter Anleitung von H. A. Münster und H. Freyer; empirisch-statistische Erhebungen zur Sozialstruktur (Angestellte, Selbstän­dige, Bauern) unter Leitung von H. Freyer, zum Teil in Fortführung von Anre­gungen durch G. Ipsen; konkrete Sozialplanung und -technologie (Stadt- und Siedlungsplanung, Familiensoziologie, Reichsberufsweukampf) unter Hilfe­stellung von H. Freyer, K. H. Pfeffer, G. Ipsen mit zum Teil ausgeprägt rassi­stischer Tendenz.

Die rassistische Komponente wird über die hier nur im Überblick er­wähnten Dissertationen hinaus besonders in den sozialanthropologischen Analysen Karl Valentin Müllers wirksam (1896-1963), der vor 1933 als So­zialdemokrat und Gewerkschafter (1920-1933) das eugenische Paradigma in­nergewerkschaftlich zu verankern suchte. Nicht durch die stetige reformeri­sche Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen, sondern "nur durch Rassenpflege" war seiner Auffassung nach ein "funktionsfähiges Arbeiter­turn" erreichbar. Müller hatte intensive Kontakte zum völkisch-faschistischen Lager (Verleger 1. F. Lehmann/Gesellschaft für Rassenhygiene Dresden/ Ar-

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chiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie/NSDAP-Reichsleitung) und zu den Gewerkschaftsführungen: "Meine gelegentlich gegen das marxistisch­internationale Parteiprogramm gerichtete schriftstellerische Arbeit - selbst mein Antisemitismus - wurde auch in der Führung der freien Gewerkschaf­ten nicht ungern gesehen, obschon man im Ernstfall nicht bereit war, mich zu decken." IX2

Hans Freyers Gutachten zu KV Müllers kumulativer Habilitation ist orientiert an dessen zentraler Fragestellung, wie aus der bäuerlichen hand­werklichen Familiensubstanz die "Elite der Arbeiterschaft" erwachsen kann. Er bewunderte die Kritik Müllers an der marxistischen Verelendungstheorie und begrüßte die praxisnahen Vorschläge einer "volksbiologisch denkenden Sozialpolitik", die" für die Aufartung der völkischen Substanz fruchtbar ge­macht" werden könne. 183 Den aus Österreich stammenden Volkstumsfor­scher und glühenden Naziwissenschaftler A. Helbok begeisterte das mutige Verhalten des Sozialanthropologen, weil er als "Antipode der roten egalisie­renden Ideologie" "mittendrin im feindlichen Lager einen mutigen Kampf' geführt habe. 184 Freyer sah in K. V. Müllers Thesen den Beweis für "die durchschnittliche Minderwertigkeit der niederen Gesellschaftsschichten", 185

eine These, die allein von dem Statistiker R. Meerwarth als keineswegs bewie­sen erachtet wurde. IX6 Die Umdeutung des Klassenkampfes in einen Rassen­kampf war das dominante Interpretationsmuster, das Müller mit den Sozia­lanthropologen A. Grotjahn,R. Michels und den Rassensoziologen A. Ploetz und G. Just verband. Nach einer Dozentur in Leipzig 1938 und einem Extraor­dinariat an der TH Dresden wurde K. V. Müller 1941 Ordinarius an der Deut­schen Universität in Prag, wo er mit großangelegten Untersuchungen "Deut­sche Lebensströme im Aufstieg des Tschechentums" und in Südosteuropa ins­gesamt auszumachen glaubte. 187 Gegenüber dem tschechischen Volk vertrat er zwar nicht die extreme faschistische Variante der "Ausrottung", sondern die "moderate" Version der "Einvolkung" und "Assimilation" der angeblich mit germanischem Blut durchsetzten Oberschichten.

Der zweite Habilitand Freyers in den 30er Jahren, Karl Heinz Pfeffer (1906-1971), war nicht weniger rassistisch orientiert, im Gegensatz zu K. V. Müller allerdings im Bereich der Staats ideologie des Antisemitismus. Bereits 1935 lieferte Pfeffer einen Beitrag mit dem Titel "Das Judentum in der Poli­tik" für Theodor Fritschs bekannten "Antisemitenkatechismus".

Pfeffer hatte lange vor 1933, ursprünglich aus der völkischen Jugendbe­wegung kommend (Jungnationaler Bund, Deutsche Akademische Gilden­schaft), während seiner Auslandsstudien in England 1931/32 die "Sozialwis­senschaft des neuen Deutschland" an der "London School of Economics" vertreten und in dem anschließenden, von der Rockefeller-Foundation finan­zierten Australienjahr 1932/33 in Melbourne mit dem kleinen "Bund der Freunde der Hitlerbewegung" unter Dr. Asmis Kontakt aufgenommen. 188

Durch seine regen politischen und wissenschaftlichen Aktivitäten machte Pfeffer schnell Karriere: Dozent für Soziologie 17. 12. 1934, Vertretung Hans

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Freyers in Forschung und Lehre (ab 15. 9. 1938), beamteter Dozent (11. 10. 1939), a.o. Professor für Volks- und Landeskunde Großbritanniens an der von der SS dominierten Auslandswissenschaftlichen Fakultät der Universität Berlin. \89

Über seinen Schüler urteilte Freyer: "Schonungslos gegen sich selbst stellte er alle seine Kräfte in den Dienst seines Dozentenberufs, der für ihn eine Form der politischen Mitarbeit am nationalsozialistischen Staat bedeu­tet." \90 Als Dekan der Auslandswissenschaftlichen Fakultät nahm er noch 1944 an einem vom Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsministerium und SD-Amtschef (Amt III: Inland) Otto Ohlendorf organisierten Soziologentref­fen am Wannsee teil, in der es um die Zukunft der Soziologie im Deutschen Reich ging. \9\

Für die Habilitanden Freyers in Leipzig galt - im übrigen auch für die Mitarbeiter seines Instituts in den 30er Jahren (Auerbach, Günzel, Schöne­baum, Ronte u.a.) - daß sie auf ihren jeweils spezifischen Arbeitsgebieten ebenso wie in ihrer politischen Praxis als überzeugte Nationalsozialisten auf­getreten sind. Die Sozialphilosophen A. Gehlen und H. Schelsky sind in die­sem Kontext neben den Freyer-Schülern H. Linde und W. Hildebrandt zu er­wähnen. Alle vier genannten Soziologen/ Sozialphilosophen arbeiteten in uni­versitären und politischen Zusammenhängen, die mit dem Herrschaftsapparat des Nationalsozialismus zu tun hatten: Schelsky und Gehlen, dazu noch eine Reihe von Freyer- und Gehlen-Schülern (H. Merzdorf, G. Berger, W. Kürten u.a.) arbeiteten für das "Amt Rosenberg", H. Linde (SS-Mitglied) für die Hochschularbeitsgemeinschaft für Raumforschung in Leipzig und für den Reichnährstand bzw. für den Stab des Reichsbauernführers und Walter Hilde­brandt, ehemaliges Mitglied des "Leuchtenburgkreises", als Mitarbeiter der "Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung" in Berlin und Erlangen so­wie beim "Militärischen Abschirmdienst" (Abwehr), bei dem verschiedene Leipziger als Osteuropaspezialisten tätig waren (w. Markert, H. Haufe, K. Günzel - alle ehemalige Freyer-Schüler). \92

Als im Frühjahr 1945 Hans Freyer, nunmehr wieder Professor für Sozio­logie, in Leipzig die Vorlesungen zunächst wieder aufnahm (im SS 1945 fan­den allerdings keine Veranstaltungen statt) und nachkriegsbedingt mit der Lei­tung einer Reihe von Institutionen betraut wurde, schien alles beim Alten ge­blieben zu sein. Die Tatsache, daß Freyer in seinem Fragebogen wahrheits­gemäß keinerlei Zugehörigkeit zu irgendeiner nationalsozialistischen Unter­organisation angeben kann, nicht einmal eine relativ harmlose NSV-Mitglied­schaft (wie T. Litt und H. G. Gadarner), rettet ihn dennoch nicht: die Entnazi­fizierungspraxis bezieht sich - so problematisch und unvollständig sie in die­ser Phase auch ist - nicht nur auf die bereits fertiggestellte "Weltgeschichte Europas", auf die sein Kollege Gadamer verweisen kann, sondern auf jene Schriften vor und nach 1933, die nicht den Geist von Humanität und Demokra­tie ausstrahlen, der für einen demokratischen Wiederaufbau notwendig gewe­sen wäre. Der Vortrag von 1937, der aus der Sicht der sächsischen Kultusbüro-

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kratie den Ausschlag für Freyers Entlassung aus dem Hochschuldienst gab, war allerdings nur ein relativ unbedeutsames Indiz für die tatsächliche Ver­strickung des Soziologen in Wissenschaft und Politik eines Systems der Bar­barei. 14.1

Im Zusammenhang mit der Darstellung der Freyer-Schriften nach 1933 hatten wir eine eigentümlich schillernde Ambivalenz festgestellt, die sich durch eine kurzfristig-tagespolitisch motivierte Loyalitätslinie einerseits und eine langfristig-systematische Zukunftsperspektive andererseits auszeichnet. Trotz allen gelegentlichen Schwankens zwischen beiden Denk- und Praxise­benen wird die europäisch-abendländische Zielperspektive erst mit der sich ankündigenden Niederlage des Deutschen Reiches (ca. 1943) zur Dominan­ten. Angesichts der über die Rolle Hans Freyers hinaus dargelegten Fakten zur Soziologie / Sozial philosophie in Leipzig ergibt sich zunächst folgendes Ge­samtbild:

Eine Leipziger Schule der Soziologie / Sozialphilosophie mit einem rela­tiv einheitlichen wissenschaftlichen Paradigma und einer kohärenten "scien­tify community" hat es nicht gegeben. Alfred Heuß und Helmut Schelsky, die noch persönlichen Kontakt zu der Kommunikationszentrale im Privathaus von Hans Freyer vor und zum Teil nach 1933 hatten, haben dies mit aller Deutlich­keit betont. 144 Die realsoziologisch arbeitenden Individualitäten G. Ipsen, H. Haufe, K. H. Pfeffer) waren auf verschiedene Universitäten verteilt, ihre Ar­beitsschwerpunkte liefen trotz gemeinsamer politischer Grundüberzeugungen zunehmend auseinander (Freyer und Gehlen), so daß nach dem Weggang Freyers (1938), Gehlens (1938) und Pfeffers (1940) die Soziologie nur noch vertretungsweise ein Schattendasein führte (z.B. H. Schelsky im Winterseme­ster 1942/43 und M. H. Boehm 1944).195

Die von Elfriede Üner verwendete Bezeichnung "strukturgenetische The­orie" 196 scheint kaum geeignet, das gemeinsame Band der zuvor selektiv zu­recht geschnittenen "scientify community" angemessen zu beschreiben, weil kaum mehr als eine Andeutung dieser Formel vorliegt. Selektivität ist das her­vorstechende Charakteristikum von Schelsky bis Üner in ihrem Bezug auf Leipziger Traditionsbestände, deren demokratisch-reformerische Impulse (Wundt, Lamprecht, Bücher, Eulenburg u.a.) ebenso wie demokratisch­sozialistische Ansätze (Tillich, Heller) oder antifaschistische Wissenschafts­positionen, die von liberal-konservativ bis marxistisch reichten (Litt, Keßler, Sacke u.a.), vollständig ausgeblendet werden.

Das Verschweigen einer ,anderen' Traditionslinie entspringt einerseits bestimmten politischen Interessen und reflektiert andererseits das "kommuni­kative Beschweigen" (Hermann Lübbe) als durchgängiges Merkmal der bun­desrepublikanischen Nachkriegsauseinandersetzung mit Faschismus und An­tifaschismus im Bereich der Wissenschaften.

Schelskys Intervention galt der wissenschaftlichen und politischen Reha­bilitierung seines Lehrers Hans Freyer. Deshalb wendete er u.a. seine Vor-

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würfe gegen eine "hysterisch-intellektualistische Zeitgeschichtsschrei­bung", lQ7 die es nicht vermocht habe, die Kontinuität einer liberalen Wissen­schaftskultur im Faschismus zu begreifen. Schelskys Reflektionen geraten da­bei ständig in Gefahr, apologetisch zu wirken, z.B. wenn er behauptet, daß die "eigentlichen Akteure des damaligen Systems, die Blockwarte der NSDAP, die Ortsgruppenleiter und Bürgermeister, die Kreisleiter und Gauamtsleiter, die vielen verdeckten Agenten der Überwachung usw ... alle mehr Einfluß auf das ,System des Lebens' von damals gehabt haben." 19M Schelskys Vorwort zu seiner Hobbes-Arbeit von 1980 und seine Antwort auf M. R. Lepsius (1980) lesen sich im Nachhinein wie ein soziologiehistorischer Vorgriff auf den Hi­storikerstreit seit 1986. Die bisherigen Ergebnisse der Soziologiegeschichts­schreibung haben zwar Schelskys These von der Existenz der Soziologie im Faschismus untermauert, aber bereits jetzt entgegen seinen eigenen Interessen die aktive Rolle von Sozialwissenschaftlern in diversen Herrschaftsapparaten (SA/SS/DAF u.a.) des Nationalsozialismus und die Anwendung praktischer Sozial forschung belegt. Soziologie und Soziologen aus Leipzig können als exemplarische Belege für beide Thesen gelten.

Angesichts der zahlreichen Soziologen, die während des Nationalsozia­lismus entlassen, in die Emigration gezwungen oder ermordet wurden, er­scheint der zwischen 1925 und 1945 vorherrschende soziologische Diskurs in Leipzig denkbar ungeeignet für eine demokratische Traditionsbegründung, wie sie seit 1946 Theodor Litt in Leipzig in Umrissen vorschwebte: "Was uns nottut, das ist eine Wandlung der Gesinnung, aus der heraus politisch gelebt und gehandelt wird ... "I99 Hans Georg Gadamer, der Rektor der Universität Leipzig und wie Litt zugleich Mitglied des antifaschistisch-demokratischen Kulturbundes war, bekannte sich in seiner Rede zur Eröffnungsfeier der Uni­versität Leipzig ausdrücklich zur politischen Verantwortung der Wissenschaft und forderte zur Bekämpfung der Ursachen des Faschismus auf: "Reaktio­näre Vertreter militaristischer Ideen und Rassentheorien haben auf deutschem Boden den Faschismus heraufbeschworen und die Herrschaft des Nationalso­zialismus in Deutschland vorbereitet.,,2°O Einen solchen Satz hat Freyer nach dem 8. Mai 1945 niemals schriftlich von sich gegeben.

Anmerkungen

Elfriede Üner, 1987, Nachwort: Herrschaft, Planung und Technik: Hans Freyers Versuch einer Rettung des Politischen, in: Hans Freyer, Herrschaft Planung und Technik. Aufsätze zur politischen Soziologie, hrsg. u. kommentiert von Elfriede Üner, Weinheim, S. 131-168, bes. S. 145 ff. (mit Bezug auf H. Marcuse u. 1. Ha­bermas)

2 Johannes C. Papalekas, 19802, Hans Freyer, in: Internationales Soziologenlexi­kon. Band 1, hrsg. V. W. Bernsdorf und H. Knospe, Stuttgart, S. 131 -133, hier: S. 131

3 E. Üner, a.a.o., S. 168, Anm. 185

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4 Vgl.: Fritz Arlt. 1940. Die ukrainische Volksgruppe im Generalgouvernement. Krakau; Fritz Arlt. 1940. Übersicht über die Bevölkerungsverhältnisse im General­gouvernement. Krakau; vgl. auch: Fritz Arlt. BDC (= Berlin Document Center). verschiedene Akten

5 Rene König. 1975. Kritik der historisch-existentialistischen Soziologie. Ein Beitrag zur Begründung einer objektiven Soziologie. München, S. 67ff., S. 79

6 1crry Zucker Muller. 1984. Radical Conservatism and Social Theory: Hans Freyer and the other God that failed. Columbia University. New York (jetzt auch verändert und erweitert unter dem Titel: The other god that failed. Hans Freyer and the Dera­dicalization 01' German Conservatism. Princeton 1987); vgl. auch Walter Giere, 1967. Das politische Denken Hans Freyers in den Jahren der Zwischenkriegszeit (\918 - 1939) Diss. Freiburg: Horst Friedrich, 1973. Hans Freyer (1887 - 1969) - Zur marxistisch-leninistischen Kritik und Einordnung seiner philosophischen und so­ziologischen Auffassungen, Diss. TU Dresden; Ronald Gielke, 1982, Hans Freyer als Geschichtsphilosoph. Eine kritische Studie zum bürgerlichen Geschichtsden­ken in der allgemeinen Krise des Kapitalismus, Diss. Berlin (DDR) ders., 1981, Hans Freyer - Vom präfaschistischen Soziologen zum Theoretiker der "Industrie­gesellschaft". in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 29 (1981); ders., 1983, Fa­schistische Ideologie im Werk Hans Freyers, in: Jahrbuch für Geschichte. Band 27, Berlin; Gabriele Töpferwein. 1986. Zur Entwicklung der Soziologie an der Univer­sität Leipzig. Diss. Karl-Marx-Universität Leipzig

7 Helmut Schelsky, 1981. Die verschiedenen Weisen, wie man Demokrat sein kann. Erinnerungen an Hans Freyer, Helmuth Plessner u.a., in: ders., Rückblicke eines .Antisoziologen', Opladen. Schelsky zielt dabei auf die These eines inneren geisti­gen Widerstandes. der von Freyer aus der Position des konservativen "Bremsers" gegenüber NSDAP und SS in Budapest praktiziert worden sei. Diese These hält den historischen Fakten ebensowenig stand wie die Behauptung, Freyer habe bis zum Schluß in Budapest ausgeharrt. Das REM in Berlin genehmigte dem Berater des deutschen Gesandten in Budapest mit Schreiben vom 15. 6. 1944 Vorlesungen an der Reichsuniversität Wien, nachdem der Leiter der Kulturpolitischen Abtei­lung des AA, Prof. Dr. Franz Alfred Six, zugleich SS-Brigadeführer, den DWI­Präsidenten Hans Freyer zuvor aufgefordert hatte, die .,Stellung" auf jeden Fall zu halten. Daß Freyer angesichts der Übernahme wichtiger Funktionen seines Insti­tuts durch die SS im März 1944 und des von Adolf Eichmann organisierten Exodus der ungarischen Juden bis zum Sommer 1944 die Vorbereitungen für seinen Rück­zug traf, ist naheliegend; vgl. BDC Hans Freyer - REM-Personalkarte - F 400 und UAL (= Universitätsarchiv der Karl-Marx-Universität Leipzig), PA 474, BI. 137 ff., bes. BI. 176

8 Karl-Siegbert Rehberg (Red.), 1982, Gab es eine ,Leipziger Schule' der Soziologie und Sozial philosophie? Eine Arbeitstagung der Fritz-Thyssen-Stiftung in Aachen am 29. /30. 4. 1982, Aachen.

9 Elfriede Üner, Nachwort: Herrschaft, Planung und Technik ... , a.a.O., S. 150 10 Vgl. Friedrich Jonas, 1981 2, Geschichte der Soziologie 2. Von der Jahrhundert­

wende bis zur Gegenwart - mit Quellentexten, Opladen, S. 160ff. 11 Joachim Matthes, 1981 3, Einführung in das Studium der Soziologie, Opladen, S. 58 12 Helmut Schelsky, 1981, Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie.

Ein Brief an Rainer Lepsius, in: Rückblicke ... , a.a.o., S. 23 13 Helmut Schelsky, 1982, Gab es eine ,Leipziger Schule'? ... a.a.o., S. 15 f.

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14 Vgl. Luise Schorn-Schütte, 1984, Karl Lamprecht, Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen, S. 78 ff. (zu diesem Zirkel gehör­ten außerdem W. Ostwald und F. Ratzel)

15 Vgl. Karl Lamprecht, 1917, Rektoratserinnerungen, hrsg. v. A. Köhler, Gotha; L. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. .. , a.a.o., S. 254 ff.: Demnach hatte Lamprecht - seine Erfahrungen an amerikanischen Colleges verwertend - die akademische und demokratische Aktivität der Studenten, deren letzter Asta 1904 zurückgetre­ten war, ermutigen wollen. Die Parität von Korporierten und Nichtkorporierten in der studentischen Verfassung der Leipziger Universität, durch die persönli­chen Verhandlungen Lamprechts während seines Rektorats erzielt, wurde vom WS 1911 / 12 an praktiziert. - Zur Zerschlagung dieser Verfassung durch eine Reihe von Nazistudenten, die vor allem Schüler Freyers waren (Joachim Bake, Herbert Hahn, Hellrnut Merzdorf u.a.) vgl. z.B. das Flugblatt des Leipziger NSDStB, das für den 12. 2. 1932 zur Vollversammlung in die Wandelhalle der Universität einlud, UAL, Plakatsammlung, Sign. 570E

16 Karl Lamprecht, 1974, Neue Kulturgeschichte, in: ders., Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissen­schaft, Aalen, S. 833 -848.

17 Erst die Ergänzungsbände der "Deutschen Geschichte" verweisen auf eine vertief­tere Rezeption Marxscher Geschichtstheorie; selbst einer von Lamprechts schärf­sten Gegnern unter den Leipziger Historikerkollegen, der deutschnationale Erich Brandenburg, weist den Verdacht marxistischer Nähe zurück: ders., 1920, Die ma­terialistische Geschichtsauffassung. Ihr Wesen und ihre Wandlungen, Leizig, S. 9

18 Auch W. Wundt war diesem Vorwurf des "Materialismus" begegnet: Wilhelm Wundt, 1920, Erlebtes und Erstrebtes, Stuttgart, S. 313

19 Vgl. Gabriele Töpferwein, Zur Entwicklung der Soziologie ... , a.a.O., S. 11 ff. 20 So vor allem Treitschkes Leipziger Habilitationsschrift: Heinrich von Treitschke,

1980, Die Gesellschaftswissenschaft. Ein kritischer Versuch, Darmstadt 21 Vgl. Gabriele Töpferwein, Zur Entwicklung der Soziologie ... , a.a.o., S. 11 22 Zu Franz Eulenburg, der über Leipzig, Aachen und Kiel schließlich in Berlin lan­

dete, wo er seit 1932 an der Wirtschaftshochschule eine Soziologieprofessur be­kleidete: Dirk Käsler, 1984, Die frühe deutsche Soziologie 1909-1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Eine wissenschaftssoziologische Untersuchung, Opladen, S. 628 f.; Gabriele Töpferwein, Zur Entwicklung de Soziologie ...• a.a.o., S. 178; Monika Richarz (Hrsg.), 1984, Jüdisches Leben in Deutschland. Selbst­zeugnisse zur Sozialgeschichte 1918 - 1945, Stuttgart, S. 467; Rudolf Schottlaen­der, 1988, Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk, Berlin, S. 124

23 Vgl. Franz Eulenburg, 1923, Sind ,historische Gesetze' möglich? Eine methodo­logische Untersuchung, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber. Band 1, hrsg. v. Melchior Palyi, München, S. 21- 71

24 Karl Lamprecht, Über auswärtige Kulturpolitik, in: ders., Ausgewählt Schrif­ten ... , a.a.o., S. 820; Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erstrebtes, a.a.O., S. m

25 Gabriele Töpferwein, Zur Entwickung der Soziologie ... , a.a.O., S. 16 f., S. 182; Walter Schöne, 1918, Die Statistik als Grundlage der empirischen Soziologie, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, Band 56 (1918), S. 257 -290

26 Wilhelm Wundt, Erlebtes und Erstrebtes, a.a.o., S. 338 27 Hans Freyer, 1926, Soziologie als Geisteswissenschaft, in: Archiv für Kulturge­

schichte, 16 (1926), (= Antrittsvorlesung in Leipzig, April 1925)

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Wider die Inszenierung des Vergessells 163

28 Walter Goetz. 1957. Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuß. hrsg. v. Herbert Grundmann, München 1 Graz, S. 78 f.

29 Vgl. Sächsisches Volksbildungsministerium an den Dekan der Philosophischen Fakultät (Aht. 1). Prof. Dr. H. Berve. v. 24. 11. 1933. hier nach: UAL. PA 474, BI. 81

30 Dies lag vermutlich daran, daß Schelskys NSBStB-Hochschulgruppe den Histo­riker W. Goetz wegen dessen Verteidigung ausländischer Studenten bereits 1932 scharf kritisierte: vgl. Walter Goetz, Historiker .... a.a.O., S. 78 f.; vgl. auch: Hans Driesch, 1951'. Lehenserinnerungen. Aufzeichnungen eines Forschers und Denkers in entscheidender Zeit. Münchenl Basel, S. 270 ff.

31 Zu H. Berve vgl. z. B. dessen Vortrag: Antike und nationalsozialistischer Staat, in: Vergangenheit und Gegenwart. Zeitschrift für Geschichtsunterricht und politi­sche Erziehung. 24 (1934). S. 257 - m; zur Entlassung von Dozenten und Pro­fessoren vgl.: .. 8 Leipziger Dozenten-Beurlauhungen". in: Leipziger Studenten­schaft. 18. Hbj. (Nr. 1/23.5. 1933), S. 13 (Unvollständig und apologetisch: Dr. Genrg Sacke fehlt z.B.); Später mit zum Teil falschen Namensangaben (der Öko­nom heißt: Gerhard, nicht Wilhelm Keßler, S. 105) und verharmlosenden Bewer­tungen: Herbert Helbig, 1961. Universität Leipzig, Frankfurt 1 Main (Reihe: Mit­teldeutsche Hochschulen, Band 2), dort wird der Faschismus an der Leipziger Universität auf die Führungskader hei Studenten und Professoren reduziert; zur Korrektur die beste Darstellung bei: Helmut Arndt, 1984, Niedergang von Stu­dium und Wissenschaft 1933-1945, in: Lothar Rathmann (Hrsg.). Alma mater Lipsiensis. Geschichte der Karl-Marx-Universität Leipzig, Leipzig, S. 261-274

32 Vgl. Felix Krueger. 1953, Über psychische Ganzheit (1926), in: ders., Zur Philo­sophie und Psychologie der Ganzheit. Schriften aus den Jahren 1918 - 1940, hrsg. v. Eugen Heuss. Berlin - Göttingen- Heidelberg, S. 89 f.

32a Ulfried Geuter, 1985, Das Ganze und die Gemeinschaft - Wissenschaftliches und politisches Denken in der Ganzheitspsychologie Felix Kruegers, in: Carl Friedrich Graumann (Hrsg.); Psychologie im Nationalsozialismus, Berlin -Heidelberg - New York - Tokyo, S. 55 - 87, S. 70

33 Zur .. Fichte-Gesellschaft" vor allem: Nelson Edmundson, 1964, The Fichte­Society: A Chapter in Germany's Conservative Revolution, PhD Harvard Uni­versity, S. 108 ff.

34 Vgl. Akademie der Künste (hrsg.), 1983, "Das war ein Vorspiel nur ... " Bücher­verbrennung Deutschland 1933: Voraussetzungen und Folgen, Berlin, S. 255 ff., S. 388 ff.

35 Jerry Zucker Muller, Radical Conservatism ... , a.a.O., S. 120 36 Vgl. die letzte, ausführliche Darstellung von einem ehemaligen Leipziger Zeitge­

nossen kurz vor seinem Tod 1988: Prof. Dr. Fritz Borinski an den Verfasser vom 10. 4. 1988

37 Elfriede Üner, 1987, Editorische Vorbemerkungen, in: Hans Freyer, Herrschaft, Planung und Technik ... , a.a.o., S. 4, wo der Eindruck einer nicht­konformistischen Haltung aus dem Gesamtkontext quasi immanent erzeugt wird, ohne dort expressis verbis zu stehen.

38 Vgl. Felix Krueger, 1927 -28, Vorwort, in: Blätter für deutsche Philosophie, 1 (1927/28), S. 1- 3; Erhard Stölting, 1986, Akademische Soziologie in der Weima­rer Republik, Berlin, S. 134 ff.

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164 Gerhanl Schäfer

39 Ohne Widerspruch der älteren Zeitgenossen bezeichnete Schelsky Krueger als "Juden", obwohl die Reichsstelle für Sippenforschung nach einem jahrelangen Überprüfungsverfahren seine arische Abstammung bestätigen mußte, nachdem ihm der kommissarische Leiter des Sächsischen Ministeriums für Volksbildung, Werner Studentkowski, am 28. 12. 1937 die Hypothese vom .. volljüdischen Groß­elternteil" mitgeteilt hatte, vgl. UAL, PA 95 (= Personalakte Felix Krueger), di­verse Schriftstücke. Damit aktivierte Schelsky ein von HJ-Führern und der NS­Presse in Leipzig (vgl. Leipziger Tageszeitung vom 9. 12. 1936) genährtes Ge­rücht gegenüber einem deutschnationalen Hochschullehrer. der bereits vor 1933 nachweislich zu den erklärten Antisemiten an der Leipziger Universität gehört hatte. Vgl. Helmut Schelsky, 1982, Gab es eine ,Leipziger Schule'? in: Karl-Siegbert Rehberg (Red.), 1982, a.a.O., S. 15-22, hier: S. 18

40 Zu Driesch vgl.: Reinhard Mocek, 1982, Hans Driesch, in: Philosophenlexikon. hrsg. v. Erhard Lange und Dietrich Alexander, West-Berlin

41 Vgl. Arnold Gehlen, 1980, Der Staat und die Philosophie, in: ders .. Philosophi­sche Schriften 11 (1933-1938). Arnold Gehlen-Gesamtausgabe Band 2, hrsg. v. Lothar Samson, Frankfurt 1 Main; die editorische Bemerkung, der zufölge die Antrittsvorlesung auf den Februar 1935 datiert wird, scheint falsch zu sein, wenn man Gehlens Angaben in dessen Personalakte Glauben schenken darf: UAL, PA 494, BI. I ff. Gehlen, der sich in der Folgeperiode zunehmend mehr um die Be­gründung einer philosophischen Handlungslehre in Gestalt einer empirischen Anthropologie bemühte, verlor kein Wort des Dankes und der Anerkennung an den ehemaligen Lehrer. Gehlen selbst war am I. 5. 1933 Parteimitglied geworden und wurde eine Zeitlang "NS-Amtsleiter Wissenschaft-Philosophisches Institut", vgl. den Hinweis in: Leipziger Hochschulzeitung, 22. Hbj. (Nr. 1/30.3. 1935), S. 2

42 Theodor Litt, 19263, Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik, Berlin

43 Vgl. die Stellungnahmen von Rektor und Studentenschaft zu den Vorgängen am 6. 7. 1932 an der Leipziger Universität in: Leipziger Studentenschaft, 16. Hbj. (Nr. 4/20. 7. 1932), S. 72 - 73 und die haßerfüllten Stellungnahmen des NSDStB in der folgenden Ausgabe: Leipziger Studentenschaft, 17. Hbj. (Nr. 1/11. 11. 1932), S. 20-21: Der Leipziger NSDStB verfügte seit 1931 über klare Mehrheiten im Asta und besetzte zu dieser Zeit mit Herbert Hahn den Schriftleiterposten (1932) der "Leipziger Studentenschaft".

44 Hans Freyer, 1931, Zur Bildungskrise der Gegenwart, in: Die Erziehung, 6 (1931), S. 597 -626, besonders S. 625 und, 1934, von der Volksbildung zur politi­schen Schulung, in: Die Erziehung, 9 (1934), S. 1- 12, S. 9f., wo Freyer den Glauben an den Sieg des Faschismus geradezu emphatisch beschwört: "Dieses Reich wird sich vollenden, und keine Macht der Erde, weder das überwaffnete Frankreich, noch das künstlich geschaffene Machtstaatensystem in unserer Ost­flanke, noch die internationale Sabotage wird seine Vollendung hindern." (S.9) -Dagegen die entschieden liberale Option: Theodor Litt, 1931, Hochschule und Politik, 7 (1932), S. 134-148, besonders S. 147f. (=Antrittsrede als Rektor im Herbst 1931). Litt war seit 1932 ständig persönlich-politischen Angriffen der Na­zistudenten ausgesetzt und wurde u.a. auch auf ihren Druck hin vom Amt des Prorektors im Frühjahr 1933 verdrängt. Nicht nur in seinen Seminaren, sondern

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Wider die Inszenierung des f.i>rgessens 165

auch in einem öffentlichen Vortrag in Riga über "Die Stellung der Geisteswissen­schaften im nationalsozialistischen Staate" lehnte er die Rassentheorie als unwis­senschaftlich ab (in: Die Erziehung, 9 (1934), S. 12 - 32, S. 22 f., S. 25f. Litt hatte die Kritik am Rassegedanken auch in seinem Seminar vorgetragen. Schelsky hatte sich Litts späteren schriftlichen Aussagen zufolge dagegen im Pädagogi­schen Seminar Leipzigs (SS 1933) ausdrücklich zur Rassentheorie bekannt und sich an gewaltsamen Aktionen beteiligt, so daß es Litt 1948 außerordentlich schwer fiel, sich H. Schelsky anläßlich dessen Bewerbung auf ein Soziologie­Ordinariat in Hamburg "als Verfechter demokratischer Grundsätze vorzustellen" (vgl. Schreiben Litts an die Berufungskommission "Soziologie" der Philosophi­schen Fakultät der Universität Hamburg vom Herbst 1948, Universität Hamburg, Fb Philosophie und Sozialwissenschaften).

45 Vgl. Schreiben des SA-Obersturmbannführers und Kreisleiters von Mittel- und Norddeutschland des NSDStB. Wolf Friedrich, an das Sächsische Volksbildungs­ministerium vom 28. 7. 1933, hier nach: UAL, PA 204 (=Personalakte Theodor Litt) BI. 52: Friedrich hatte 1934 bei dem engen Freyer-Vertrauten Andre Jolles (Literaturhistoriker) und dem Germanisten Theodor Frings promoviert. Freyer selbst hatte, ohne daß Friedrich jemals ein Soziologie-Seminar besucht hatte, den Kandidaten im Nebenfach Soziologie geprüft: Wolfgang Friedrich, 1934, Der la­teinische Hintergrund zu Merlants ,Disputaciae", Diss. phil. Leipzig.

45a Vgl. UAL, PA 204, BI. 79, 116 und 149 46 UAL, PhiI.Fak., Prom.-Akte 735, BI. 4 (=Promotionsakte H. Schelsky) 47 UAL, PhiI.Fak., Nr. B 111442, BI. 4; UAL, PhiI.Fak., Nr. B1I1452, BI. 9;

UAL, PA 600 (= Personalakte Gunther Ipsen), BI. 38 48 Vgl. Klaus Meyer, 1969, Arbeiterbildung in der Volkshochschule. Die "Leipziger

Richtung". Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Volksbildung in den Jahren 1922-1933. Stuttgart, S. 97, der zu Recht auf den Gegensatz von Litt (VHS) und Freyer (Fichte-Hochschule) hinweist; als zeitgenössische Quelle vgl. den Zei­tungsbericht: "Was geht mit Volksschule vor?", in: Leipziger Volkszeitung Nr. 97 /26. 4. 1932; die Leipziger Volkshochschulszenerie zeichnete sich durch ein von Hermann Heller initiiertes, von Paul Hermberg und Gertrud Hermes weiter­entwickeltes Geflecht von Institutionen aus, in dem Volkshochschul- und Arbei­terbewegung miteinander verklammert waren. Dazu gehörte das städtische Volksbildungsamt als Einrichtung der Stadt mit politisch-administrativer Kompe­tenz, der Volkshochschulverein mit u.a. interessierten Persönlichkeiten des öf­fentlichen Lebens und der Universität, die Schule für Wirtschaft und Verwaltung (Ausbildung von Betriebsräten), die Volkshochschulheime (insbesondere für die Arbeiterjugend) und das der Universität zugeordnete Seminar für freies Volksbil­dungswesen. Neben der eigentlichen Volkshochschule existierte eine eigene Ar­beitslosenschule und die der KPD nahestehende Marxistische Arbeiterschule. (MASCH).

49 Fritz Borinski, 1977, Zur Geschichte des Leuchtenburgkreises, in: ders. / u.a., Ju­gend im politischen Prozeß. Der Leuchtenburgkreis 1923 - 1933 bis 1977, Frank­furt/Main, besonders S. 60 f.

50 Vgl. Hugo Fischer, 1932, Karl Marx und sein Verhältnis zu Wirtschaft und Staat, Jena; ders., 1933, Lenin. Der Machiavelli des Ostens, Hamburg. Einflüsse Fi­schers auf den "Arbeiter" (1932) Ernst Jüngers sowie auf den vorübergehend in Leipzig studierenden, späteren Marburger Ordinarius Heinz Maus und dessen

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166 Gerhanl S('h(~fer

Beziehung zu Ernst Niekisch als Assistent an der Berliner Humboldt-Universität (1949-1951) sind vermutlich wichtiger als bisher angenommen. Wie der Verfasser in einem am 20. 5. 1974 (') mit Prof. Heinz Maus (Marhurgl geführten Gespräch über die "Leipziger Schule". insbesondere üher H. Frcyer. A. Gehlen und H. Schelsky. erfahren konnte. hat der Soziologiehistoriker Maus entgegen H. Lindes Hinweis (1981) die Einschätzung der Rolle Freyers weitaus differenzierter vorgetragen. Maus betonte in diesem Gespräch positiv den Anteil Freyers an der sogenannten "Stillegung" der DGS. negativ das "Arrangement" Freyers mit den Faschisten in Leipzig und Sachsen. Das politische Urteil üher A. Gehlen und H. Schelsky in den ersten Jahren nach der Machtübertragung war klar: "Die waren alle waschechte Nazis." Ich bin im übrigen sicher. da II der 1979 verstorbene Heinz Maus auf den Artikel H. Lindes über die "Soziologie in Leip­zig 1925 - 1945" (1981) mit eigenen Anmerkungen repliziert hätte.

51 Vgl. Fritz Borinski, Zur Geschichte ... , a.a.o., S. 42 ff. 52 Vgl. Gabriele Töpferwein, Zur Entwicklung der Soziologie .... a.a.O .. S. 24, S.

100 Anmerkung 92 53 Vgl. Freyers Lebenslauf: UAL PA 474, BI. 1a; zur Bibliotheksausstattung. zum

Personal und zu den Institutsschwerpunkten vgl.: Johann W. Hecker. 1930/31, Das Institut für Soziologie der Universität Leipzig, in: Leipzig. Illustrierte Mo­natsschrift für Kultur, Wissenschaft und Verkehr, 7 (1930/31), S. 149-151: die­sem Bericht zufolge hatte Leipzig die umfangreichste soziologische Institutsbi­bliothek im Deutschen Reich (ca. 2000 Bände), verfügen neben dem Direktor (Prof. Hans Freyer) über 1 Privatdozenten und 2 Assistenten sowie ca. 100 Stu­dierende.

54 Hans Freyer, 1930, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundle­gung des Systems der Soziologie, Leipzig - Berlin, S. 305

55 Hans Freyer, 1918, Antäus. Grundlegung einer Ethik des bewußten Lebens, Jena - Zitate in Klammern beziehen sich im folgendenjeweils auf das im Text hervor­gehobene Hauptwerk.

56 Hans Freyer, 1923, Prometheus. Ideen zur Philosophie der Kultur, Jena 57 Vgl. VAL PA 600, BI. 3; Hans Freyer, 19262 , Der Staat, Leipzig 58 Hans Freyer, 1935, Pallas Athene. Ethik des politischen Volkes, Jena 59 Elfriede Üner, 19862, Nachwort: Normbilder des Standhaltens, in: Hans Freyer,

Machiavelli, Weinheim, S. 120; ebenso in der Tendenz, einige Zitate aus "Revo­lution von Rechts" als "gewisse politische Distanz" zu interpretieren: Ursula Henke, 1985, Soziologien in Deutschland 1918 - 1945. Kontinuitäten und Diskon­tinuitäten konkurrierender Denkrichtungen, Habil.-Schrift Bochum, S. 248 -Beide Einschätzungen sind Verfalschungen und Verharmlosungen der politischen Rolle Hans Freyers.

60 Vgl. J. Z. Muller, Radical Conservatism ... , a.a.o., S. 559ff. Horst Borussiak, Die Universität Leipzig nach der Zerschlagung des faschistischen Staates und ihre Neueröffnung am 5. Februar 1946, in: Ernst Engelberg (Red.), 1959, Karl­Marx-Universität Leipzig, 1409-1959. Beiträge zur Universitätsgeschichte. 2 Bde., Leipzig, S. 340-389, S. 346; zur Rolle der SS im Auswärtigen Amt und ih­res Einflusses auf die auswärtige Kulturpolitik Hans-Jürgen Döscher, 1987, Das Auswärtige Amt im Dritten Reich. Diplomatie im Schatten der Endlösung, Ber­lin, S. 192 ff., S. 193 insbesondere Anmerkung 9

61 Als Manifest der Konservativen Revolution bezeichne ich hier: Hans Freyer, Re-

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Wider die Ills:ellierung des J;(>rgessens 167

volution von rechts. Jena 1931; Ronald Gielke. 1982. Hans Freyer als Geschichts­philosoph .... a.a.o.. S. 67 ff. Erhard Stiilting. 1984. Kontinuitäten und Brüche in der deutschen Soziologie 1933-34. in: Soziale Welt. 35 (H. 1/2/1984), S. 48 - 59. S. 50: Rene König. 1987. Soziologie in Deutschland. Begründer. Verfech­ter. Verächter. München. S. 4U7

62 Walter Giere. Das politische Denken Hans Freyers .... a.a.O .. S. 193 f. 63 Vgl. auch: Hans Freyer, 1931. Einleitung in die Soziologie. Leipzig 64 Vgl. den Zusammenhang bei Max Weber, 1968'. Die .,Objektivität" sozialwis­

senschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis (1904). in: ders .. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. hrsg. v. Johannes Winckelmann. Tübingen. S. 146-214. hier: S. 170

65 Vgl. Erhard Stölting. Kontinuitäten und Brüche .... a.a.O., S. 49 f. 66 Hans Freyer. 1929. Gemeinschaft und Volk, in: Felix Krueger (Hrsg.), Philoso­

phie der Gemeinschaft. Sonderheft 2 der Deutschen Philosophischen Gesell­schaft. Berlin. S. 7 - 22

67 Waltn Giere. Das politische Denken ... , a.a.O., S. 133 68 Karl Marx. 1971. Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie in: Marx­

Engels-Werke. Band 13. Berlin. S. 615 -642, S. 619 69 Vgl. Gerhard Ledig, 1931. Hans Freyers Soziologie und der Sozialismus, in:

Neue Blätter für den Sozialismus, 2 (1931), S. 291 - 294, besonders S. 291, S. 294 und Hermann Heller, 1971. Staatslehre, hrsg. v. Gerhart Niemeyer, in: ders., Ge­sammelte Schriften. 3. Band: Staatslehre als politische Wissenschaft, Leiden, S. 79 - 395. S. 137

70 Hans Freyer, 1931. Revolution von Rechts, Jena, S. 32 71 Vgl. die Diskussion in: Karl-Siegbert Rehberg (Red.). 1982, Gab es eine .,Leipzi­

ger Schule ... ?", a.a.O., S. 40 72 Anton Golopentia. 1937, Die Information der Staatsführung und die überlieferte

Soziologie, Brassov-Kronstadt (= Diss.Phil. Leipzig 1936) 73 Michael Neumann. 1988, Das Soziale. Ein Defizit der marxistischen Soziologie,

in: Düsseldorfer Debatte, H.5/1988, S. 42-49, S. 47f. 74 Fritz Borinski, 1977, Arbeiterbildung im Leipzig der zwanziger Jahre. in: Anne­

Marie Fabian (Hrsg.), Arbeiterbewegung-Erwachsenenbildung-Presse. Fest­schrift für Walter Fabian zum 75. Geburtstag, Köln-Frankfurt 1 Main, S. 11-25, S. 22

75 Paul Honigsheim, 1959, Die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziolo­gie in ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 11 (1959), S. 3 - 10, S. 10

76 Die Rede ist abgedruckt bei: Reinhard Kühnl, 1975, Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln, S. 134-139

77 Vgl. Hans Raupach, 1932, Arbeitsdienst in Bulgarien, Berlin (Vorwort: Gunther Ipsen)

78 Hans Freyer, 1932, Arbeitslager und Arbeitsdienst, in: Studentenwerk, 6 (1932), S. 126-133

79 Elfriede Üner, Nachwort: Herrschaft, Planung und Technik ... , a.a.O., S. 133 80 Hans Freyer, Revolution von rechts, a.a.O., S. 32 81 Walter Giere, Das politische Denken ... , a.a.o., S. 187 f. 82 Hans Freyer, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. .. , a.a.O., S. 297 83 ibid., S. 307

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168 Gerhard Schäfer

84 Vgl. Abschrift des Schreibens vom 5. 9. 1933 nach: UAL, Phil. Fak.. Nr. BI/1453, BI. 8

85 Vgl. das Schreiben des Sächsischen Volksbildungsministers W. Hartnacke an die Philosophische Fakultät vom 5. 9. 1933, UAL, PA 474. BI. 69-72, hier: BI. 69

86 Hans Freyer, 1933, Das politische Semester. Ein Vorschlag zur Universitätsre­form, Jena

87 VAL, Phil. Fak., Nr. ,,1/1453. BI. 10-14, hier: BI. 14. Werner Studentkowski war entscheidender Mitbegründer der Leizpziger Hochschulgruppe des NSDStB im November 1925, ab 1930 NSDAP-Landtagsabgeordneter in Sachsen, 1933 Reichtstagsabgeordneter und vor 1933 Mitglied des informellen Kommunika­tionszirkels im Hause Käthe und Hans Freyers. Die Leipziger Hochschulzeitung beschreibt in ihrer Ausgabe vom 10. 11. 1933 die Aufgabe des unter Werner Stu­dentkowskis Leitung stehenden "Seminars für politische Erziehung" wie tiJlgt: "Die Grundschulung erfolgt im Zusammenhang mit dem Kreisschulungsamt der NSDAP durch das ,Amt für politische Schulung' der Leipziger Studentenschaft unter Leitung von P.g. Merzdorf."

88 Vgl. den Bericht über die Arbeit des "Seminars für politische Erziehung" in: Leipziger Hochschulzeitung, 19. Hbj. (Nr. 7/15. 2. 1934), S. 54

89 Vgl. die Besprechung des Freyer-Buches durch Hans Politt in: Die Leipziger Stu­dentzeitung, 18. Hbj. (Nr. 2 (21. 6. 1933), S. 38

90 Vgl. den Bericht: Politische Erziehung der Leipziger Studentenschaft, in: Leipzi­ger Neueste Nachrichten vom 29. 10. 1933, hier nach: VAL, Phil. Fak., B1/1453, BI. 15

91 Vgl. den Zeitungsbericht: Die Maien-Pleite der Nazis, in: Leipziger Volkszei­tung, Nr. 2 (2. 5. 1932); In der Revolution geboren. In den Klassenkämpfen be­währt: Geschichte der KPD-Bezirksorganisationen Leipzig-Westsachsen, Leip­zig 1986

92 Vgl. BDC, SA-Personalakte Dr. Kurt Wagner, der für 1934/35 ca. 50 u.a. von ihm geleitete Lager angibt, die er zusammen mit Helmut Schelsky durchgeführt hat.

93 Schelskys Behauptungen hinsichtlich des Dissertationsprojektes von Werner Stu­dentkowski sind in allen Punkten falsch. Fest steht, daß Hans Freyer noch in den 60er Jahren lediglich die Existenz von Vorarbeiten in Gestalt von "Rohmateria­lien" bestätigte, jedoch ausdrücklich unterstrich, daß das Promotionsverfahren nie eingeleitet wurde, weil der Kandidat in spe durch seine parteipolitischen Akti­vitäten bzw. ab Frühjahr 1934 durch seine Berufung als Oberregierungsrat ins Dresdner Volksbildungsministerium gebunden war. Darüber hinaus war Helmut Schelsky und Hans Freyer spätestens seit 1961 bekannt, daß Werner Student­kowski bis zu seinem Tode 1951 in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik ge­lebt hatte (vgl. Mitteilungen von Herrn H. Studentkowski, Kopien im Besitz des Verfassers). Insofern bedarf die Wissenschaftsgeschichtsschreibung einer Kor­rektur: Albrecht Tyrell (Hrsg.), 1969, Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der "Kampfzeit" der NSDAP. Dokumentation und Analyse, Düsseldorf, S. 379; vgl. auch Hans Linde, 1981, Soziologie in Leipzig 1925 -1945, in: M. Rainer Lepsius (Hrsg.), 1981, Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Materialien zur Entwicklung, Emigration und Wirkungsgeschichte, Opladen, S. 102 -130, S. 127, Anm. 13. Vgl. Helmut Schelsky, Die verschiedenen Weisen ... , a.a.o., S. 146

94 VAL, PA 474, BI. 86

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Wider die /ns:.enierung des Vergessens /69

95 S. den Bericht im NSDStB-Gaustudentenblatt: Die studentische Mannschaft kehrt in die Hochschule zurück. Zur Gründung des Raumpolitischen Seminars der Universität Leipzig, in: Oftenes Visier, 24. Hbj. (Nr. 6/24. 6. 1936), S. 6

96 Vgl. Helmut Schelsky, 1981. Thomas Hobbes. Eine politische Lehre, Berlin, S. 6 97 Leopold von Wiese, 1959, Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie. Persönliche

Eindrücke in den ersten 50 Jahren. in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und So-zialpsychologie. II (1959), S. II -20, S. 17

98 Hans Freyer, 1936, Ferdinand Tönnies und seine Stellung in der deutschen Sozio­logie. in: Weltwirtschaftliches Archiv, 44. Band (1936/11 S. 1-9. S. 7 u. 9): vgl. auch Carsten Klingemann, 1986. Soziologen vor dem Nationalsozialismus. Sze­nen aus der Selbstgleichschaltung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: Joseph Hülsdünker 1 Rolf Schellhaase (Hrsg.), Soziologiegeschichte. Identität und Krisen einer .engagierten' Disziplin, Berlin. S. 59 - 84, S. 71 ff., S. 73 ff.

99 Vgl. Hans Freyer. 1932. Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, in: Richard Thurnwald (Hrsg.). Soziologie von heute, Ein Symposion der Zeitschrift für Völ­kerpsychologie und Soziologie. Leipzig. S. 14 - 23

100 Hans Freyer. 1934. Volkwerdung. Gedanken über den Standort und über die Auf­gabe der Soziologie. in: Volksspiegel. I (1934). S. 3 -9, S. 7

101 Hans Freyer. 1935. Gegenwartsaufgaben der deutschen Soziologie, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft. Band 95 (1935), S. 116-144. S. 138

102 ibid .. S. 135 103 ibid .. S. 139 104 ibid. 105 Vgl. Hans Freyer. Volkwerdung .... a.a.o.. S. 7; dieser Aspekt wurde besonders

von G. Ipsen hervorgehoben: Gunther Ipsen, 1933. Programm einer Soziologie des deutschen Volkstums,Berlin; ders., 1933, Blut und Boden. Das preußische Erbhofrecht, Neumünster; ders., 1933. Das Landvolk. Ein soziologischer Ver­such. Hamburg

106 1. Z. Muller, Radical Conservatism ... , a.a.o., S. 516 und S. 393 107 Vgl. Manfred Vnger. Georg Sacke - Ein Kämpfer gegen den Faschismus, in: Er­

nst Engelberg (Red.), Karl-Marx-Vniversität Leipzig ... , a.a.O., Bd. 2, S. 3m - 330. S. 308

108 Maria Grollmuß, 1932, Joseph Görres und die Demokratie, Diss. Phil. Leipzig 109 Vgl. VAL, Phil. Fak., Prom.-Akte 337 (= Promotionsakte Maria Grollmuß) 110 Zu Maria Grollmuß vgl.: Maria Kubasch, 1970, Maria Grollmuß, Berlin; Klaus

Drobisch, 1974, Maria Grollmuß, in: Gerd Hohendorf/u.a. (Red.), Lehrer im antifaschistischen Widerstandskampf der Völker. Studien und Materialien erste Folge, BerlinIDDR, S. 317-325; Liselotte Thoms-Heinrich, 1987, Über allem Schmerz steht die Hoffnung wieder auf. Dr. Maria Grollmuß, in: Sigrid Jaco­beit 1 Liselotte Thoms-Heinrich, Kreuzweg Ravensbrück. Lebensbilder antifa­schistischer Widerstandskämpferinnen. Köln, S. 37 -47

III Maria Grollmuß, 1931, Was ist die linke Sozialdemokratie? in: Gegen den Strom. Organ der KPD-Opposition, 4. Jg. (1931) S. 266-267; vgl. auch Hanno Drechs­ler, 1983 (zuerst 1964), Die sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung am Ende der Wei­marer Republik, Hannover, S. 190ff., S. 195

112 VAL, Phil. Fak., Prom.-Akte 335, BI. 24: Abschrift eines Briefes von Dr. Maria Grollmuß (Zuchthaus Waldheim) an Prof. Dr. Hans Freyer vom 22. 12. 1935.

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170

113 ibid. 114 ibid.

Gerhanl Schäfer

115 Vgl. Hans-Uwe Feige, 1978, Zum Beginn der antifaschistisch-demokratischen Er­neuerung der Universität Leipzig (April 1945 - 5. 2. 1946) Diss. Phil. Leipzig. Band I, S. 55, Band 2, S. 19f. (Anm. 8)

116 UAL, Phil. Fak., Prom.-Akte 335, BI. 26 117 Zur Rolle G. Krügers vgl.: Anselm Faust, Die Hochschulen und der .. undeutsche

Geist". Die Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933 und ihre Vorgeschichte. in: "Das war ein Vorspiel nur ... ", a.a.O., S. 31 - 50. S. 40; Krüger hatte bei Freyer und Brandenburg 1934 promoviert. Krüger. Gerhard, 1934. Student und Revolu­tion. Ein Beitrag zur Soziologie der revolutionären Bewegungen. Berlin. Diss. Leipzig 1934

118 Dirk Käsler, 1985, Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubank besucht euro­päische Soziologen im Sommer 1934. Opladen. S. 101- HO (Hans Freyer). Zitate nach: S. 104 und 108

119 Hans Freyer, 1933, Rede zur Reichsgründungsteier am 18. Januar 1933 an der Universität Leipzig, in: Leipziger Studentschaft. 17. Hhj. (Nr. 3/26. 1. 1933). S. 49-51

120 Hans Freyer. Das politische Semester .... a.a.O., S. 18 121 Vgl. Anm. 89 122 Hans Freyer, 1935, Die geistige Lage an den deutschen Hochschulen. in: Akade­

mische Blätter, 49. Jg. (\935), S. 151 - 159, S. 155 - Es handelt sich hier um das Organ des traditionell antisemitisch eingestellten Korporationsverbandes "Verein Deutscher Studenten" (VDSt).

123 Hans Freyer, Das politische Semester ... , a.a.O., S. 25 124 ibid., S. 40; Freyer stimmt in dieser Einschätzung mit den NSDStB-Führern

überein: Andreas Feickert, 1934, Studenten greifen an. Nationalsozialistische Hochschulrevolution, Hamburg, S. 19

125 Vgl. Helmut Seier, 1988, Die Hochschullehrerschaft im Dritten Reich, in: Klaus Schwabe (Hrsg.), Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815 - 1945. Büninger For­schungen zur Sozialgeschichte 1983, Boppard, S. 247 -295

126 Volksbildungsminister W. Hartnacke an die Philosophische Fakultät Leipzig vom 5. 9. 1933, in: UAL, PA 474, BI. 360-72, hier: BI. 71

127 Hans Freyer, 1933, Der Einsatz der Universität für den 12. November, in: Leipzi­ger Hochschulzeitung, 19. Hbj. (Nr. 2/10. 11. 1933), hier nach: UAL, PA 474, BI. 83

128 ibid. 129 Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu

Adolf Hitier und dem nationalsozialistischen Staat, hrsg. v. NS-Lehrerbund Sachsen, Dresden 1934

130 ibid., S. 135 f. 131 S. den Bericht: Leipzig erhält als erste Universität ein Seminar für politische Er­

ziehung, in: Leipziger Hochschulzeitung, 19. Hbj. (Nr. 4/16. 12. 1933), S. 28 132 ibid. 133 Hans Freyer, 1934, Die drei mythologischen Mächte, in: Deutsche Studenten­

Zeitung. Kreisbeilage Mitte-Nord, Nr. 8/17. 5. 1934; beide Vorträge (Anm. 131 und 133) fehlen sowohl bei E. Üner in ihrer sonst verdienstvollen Hans Freyer­Bibliographie als auch bei 1.Z. Muller.

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Wider die Ills;,ellierullg des J.-ergessells 171

134 ibid" S. 12 I ~5 K. Liiwith, 1986, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, mit

einem Vorwort von Reinhart Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Lö­with. Stuttgart. S. 85 ff., S. 87 f.: das Zitat bezieht sich auf Freyers Vortrag in: Hans Freyer. 19382, Das geschichtliche Selbstbewußtsein des 20. Jahrhunderts. Leipzig. S. 22

136 Hans Freyer, 1937, Gesellschaft und Geschichte. Leipzig - Berlin, S. 6. S. 15 137 Hans Freyer, 1936, Grenzland Sachsen, in: Offenes Visier. 25. Halbj. (Nr. 3! I.

12. 1936), S. 3 (auch dieser Aufsatz fehlt sowohl bei J.Z. Muller aus auch bei E. Üner)

138 ibid. 139 ibid.: der im folgenden verwendete Ausdruck "vermeintliche Unterdrückung"

bezieht sich auf die Repression im faschistischen Deutschland. Staatsbürgerliche Gleichstellung deutscher Bürgerinnen und Bürger gab es in der CSR sicherlich nicht.

140 Vgl. da7ll 7lIsammenfassend: lan Kershaw, 1988, Der NS-Staat. Geschichtsinter­pretationen und Kontroversen im Überblick, Reinbek bei Hamburg. S. 96ff., S. 104fT.

141 Die Datierung der Gastprofessur ist fälschlicherweise um ein Jahr vorverlegt bei: Ursula Henke, Soziologien in Deutschland ... , a.a.o., S. 156: Freyer verließ Leip­zig erst nach dem SS 1938: Helmut Schelsky, Die verschiedenen Weisen ... , a.a.O., S. 148; Freyers Plan, ein deutsches Kulturinstitut in Budapest zu leiten, konnte entgegen Schelskys Vermutung nicht realisiert werden. Schelskys Assi­stentur datiert ebenfalls nicht von Mitte 1940, zumal das "Deutsche Wissen­schaftliche Institut" (DWl) erst am 12. 2. 1941 in Budapest offiziell eingeweiht wurde. Am 19.3. 1941 wird die Beurlaubung Schelskys rückwirkend zum 14. 2. 1941 vom REM in Berlin ausgesprochen. Vgl. BDC, REM-Karte, I. Rep. 4181: Dr. Helmut Schelsky und BDC, Personalakte K 1 Sch 616: Dr. Helmut Schelsky (Fachgebiet: Systematische und politische Philosophie); die Gastprofessur Frey­ers war zunächst auf zwei Jahre befristet und wurde am 9. 2. 1940 zum ersten Male um ein weiteres Jahr verlängert; die Beurlaubung wurde schließlich zum I. 3. 1945 vom Oberregierungsrat Dr. Scurlal REM beendet. Vgl. UAL PA 474, BI. JJ3, 114, Bi. 125, BI. 158

142 Jerry Zucker Muller, 1986, Enttäuschung und Zweideutigkeit. Zur Geschichte rechter Sozialwissenschaftler im "Dritten Reich", in: Geschichte und Gesell­schaft, 12 (H. 3/1986), S. 289-316, S. 298

143 Ronald Gielke, Hans Freyer als Geschichtsphilosoph ... , a.a.O., S. \03ff. 144 Jerry Zucker Muller, Enttäuschung und Zweideutigkeit ... , a.a.o., S. 306f. 145 Hans Freyer, 1936, Die politische Insel. Eine Geschichte der Utopien von Platon

bis 7lIr Gegenwart, Leipzig 146 Vgl. UAL PA 474, BI. 104, 105, 107 147 UAL PA 474, BI. 104, 105 148 UAL PA 474, BI. 107 149 UAL PA 474, BI. 108 150 Ronald Gielke, Hans Freyer als Geschichtsphilosoph ... , a.a.o., S. 109 152 Hans Freyer, Preußentum und Aufklärung ... , a.a.o., 153 ibid., S. 38 154 ibid., S. 37

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172

155 Hans Freyer, Machiavelli, S. 83 156 ibid., S. 86 f. 157 ibid., S. 88f.

Gerhard Schäfer

158 Elfriede Üner, Nachwort: Norrnbilder. .. , a.a.o.; Üners These, derzufolge Frey­ers Position in der Machiavelli-Studie nicht dem Milieu "antidemokratischen Denkens" zuzuordnen seien, ist vorschnell (vgl. S. 109 f.). Immerhin war die Freyer-Studie mit dem Siegel der "NS-PrüfKommission des NS-Schrifttums" (scheint mit der Parteiamtlichen Prüfungskommission identisch zu sein) verse­hen, was angesichts der üblichen Gründlichkeit der NS-Zensoren eher auf posi­tive, d.h. zustimmungsfähige Rezeption der Arbeit schließen läßt. Demgegen­über werden die Ambivalenzen im Werk und in bestimmten Phasen von H. Frey­ers Wirken zu wenig beachtet bei: Werner van Treeck, 1985, Machiavelli und die Soziologie im Faschismus, in: Das Argument, Tl (Nr. 49/1985), S. 61 - 79, S. 67: "Machiavelli" sei die faschistische Version des ,,11 Principe".

159 Vgl. Reichsgesetzblatt, Jg. 1937, Teil H, S. 134 160 "Eine Formulierung Hans Freyers in seinem Gutachten über Karl Heinz Pfeffer

vom Tl. 10. 1934, in: UAL, PA 806 (= Personalakte Karl Heinz Pfeffer), BI. 35 - 36, hier: BI. 36; vgl. das spätere Gutachten Freyers über K. H. Pfeffer vom 4. 4. 1939, ibid., BI. 70-71

161 Zur faschistischen Südosteuropapolitik vgl. vor allem: Martin Broszat, 1976, Deutschland-Ungarn-Rumänien. Entwicklung und Grundfaktoren nationalsozia­listischer Hegemonial- und Bündnispolitik 1938-1941, in: Manfred Funke (Hrsg.), Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, Düsseldorf, S. 524-564; Bernd-Jürgen Wendt, 1987, Groß­deutschland. Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes, Mün­chen, S. 167ff.

162 Lorant Tilkovsky, 1981, Ungarn und die deutsche "Volksgruppenpolitik" 1918 - 1945, Köln -Wien, S. 55

163 Hans Freyer, 1941, Begegnung der Völker, Deutsch-ungarische Kulturbeziehun­gen, in: Leipziger Neueste Nachrichten vom 30. 1. 1941

164 ibid., auch: UAL, PA 474, BI. 128 165 Erich Siebert, 1971, Die Rolle der Kultur- und Wissenschaftspolitik bei der Ex­

pansion des deutschen Imperialismus nach Bulgarien, Rumänien und Ungarn in den Jahren 1938-1944. Mit einem Blick auf die vom westdeutschen Imperialis­mus wieder aufgenommene auswärtige Kulturpolitik, Diss. Berlin/DDR, 2 Bde., S. 199ff.

166 Hans Freyer, 1942, Deutsch-ungarischer Wissenschaftsaustausch, in: Volk und Reich, 18 (1942), S. 461-463; S. 462; der DDR-Soziologe H. Friedrich hat in die­sem Kontext Hans Freyer irrtümlich ein Zitat zugeordnet, das aber Teil des Auf­satzes von Franz Riedl, Volksdeutscher Aufbau in Ungarn, 18 (1942), S. 461 ist: vgl. Horst Friedrich, Hans Freyer (1887 -1969) ... , a.a.o., S. 171

167 Lonint Tilkovsky, Ungarn ... , a.a.o., S. 104; noch wichtiger ist der SD-Agent Ernst Kienast, der - zuvor persönlicher Referent des Reichsstudentenführers Dr. G. Scheel - seit 1940 als AttacM an der deutschen Gesandtschaft beschäftigt war und zahlreiche SD-Berichte verfaßte: BDC, SS-Personalakte Ernst Kienast

168 Vgl. Ernst Ritter, 1976, Das Deutsche Ausland-Institut Stuttgart 1917 -1945. Ein Beispiel deutscher Volkstumsarbeit zwischen den Weltkriegen, Stuttgart, S. 21, S. 25f.

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Wider die IIlS:enierullg des ~rge.l'.I'en.l' 173

169 Lorant Tilkovsky. Ungarn ...• a.a.O .. S. 141 170 Politisches Archiv des Ausw.irtigen Amtes. Gesandtschaft Budapest. Kult 2. Nr.

Id 171 Lorant Tilkovsky. Ungarn .... a.a.O .. S. 155. S. 183 ff.; zu Freyers Kooperation

mit dem Volksbund vgl.: BAK. R57 /neu/ 1156 (dort zahlreiche Belege). I n Helmut Schelsky. Die verschiedenen Weisen .... a.a.o.. S. 150 173 Vgl. vor allem: Istvan N. Bartha. 1942. Die Judenfrage in Ungarn. in: Volk und

Reich. 18 (2/1942): die ersten Maflnahmen 1938/39 wurden deshalb auch von der deutschen Volksgruppe als .. rassisch inkonsequent" bezeichnet: Franz Riedl, die Judengcsetzgebung in Ungarn. in: Volk und Reich, 15 (\ / 1939): vgl. auch die Ausführungen des Freyer- und Ipsen-Schülers: Helmut Klocke. 1939. Ungarns Weg zur Reform. in: Volk und Reich. 15 (1/1939): der die besondere Rolle des Deutschtums beim Aufbau des .. neuen" Ungarn hervorhebt. weil die Deutschen seiner Auftassung nach die einzige nicht madyarische Gruppe gewesen seien, die sich .. frei von Juden" hielt. Klocke war von 1936 bis 1945 im Reichsluftfahrtmi­nistcrium beschäftigt.

174 Hans Freyer (Hrsg.). Katalog der wissenschaftlichen Bibliothek-DWI-Budapest, Budapest 1941-42 (in: Deutsche Bücherei Leipzig)

175 Jerry Zucker Muller. Radical Conservatism ... , a.a.o., S. 562 176 Hans Freyer. 1942. Das Deutsche Wissenschaftliche Institut in Budapest. in: Ta­

gung Deutscher Wissenschaftlicher Ost- und Südostinstitute, Breslau 25. -27. 9. 1941. Breslau 1942. S. 104 - 106, S. 105 (Dieser Titel ist nicht in der Bibliographie E. Üners aufgenommen): Jerry Zucker Muller. Enttäuschung und Zweideutig­keit. ... a.a.o.. S. 314: allerdings handelte es sich in Budapest um eine Gesandt­schaft, nicht um eine Botschaft.

177 Alle Zitate nach den Dossiers in: Politisches Archiv / Auswärtiges Amt. Gesandt­schaft Budapest. Gastvorlesungen. Ungarische Wissenschaftler nach Deutsch­land. Kult. 2. Nr. lc und Kult. 10. Nr. 2: Hochschulwesen in Ungarn.

178 Jerry Zucker Muller. Enttäuschung und Zweideutigkeit ... , a.a.o.. S. 315 179 Vgl. folgende ausgewählte Dissertationen: Gerhard Krüger, 1934, Student und

Revolution .... a.a.o.. S. 14, S. 25; Gerhard Malbeck, 1935, Der Einfluß des Ju­dentums auf die Berliner Presse von 1800-1879. Ein Nachweis der Berechtigung des Auftretens AdolfStoeckers gegen die Verjudung der Berliner Presse. Dresden 1935. S. 48. 51. 72 ff.; Wolfgang Knorr, 1936, Die Kinderreichen in Leipzig. Mit sieben Zeichnungen, Heidelberg - Berlin, S. 5, 46, 50 f.; Elisabeth Keßler, 1936, Zur sozialen Haltung der Frau im Gemeinschaftsleben, Boma-Leipzig, S. 85, Im; Fritz Arlt. 1936, Die Frauen der altisländischen Bauernsagen und die Frauen der vorexilischen Bücher des alten Testaments, verglichen nach ihren Handlungs­werten, ihrer Bewertung, ihrer Erscheinungsweise, ihrer Behandlung. - Ein Bei­trag zur Rassenpsychologie -, Leipzig, S. 54ff., S. 61 f.; Heinz Bartsch, 1938, Die Wirklichkeitsmacht der allgemeinen deutschen Glaubensbewegung der Ge­genwart, Breslau, S. 117; Ruth Gaensecke, 1938, Die Frauenbeilagen der deut­schen Tageszeitungen im Dienste der Politik. Lehren aus der Vergangenheit -Forderungen an die Zukunft, Würzburg, S. 18, 74 ff.; Herbert Girardet, 1938, Der wirtschaftliche Aufbau der kommunistischen Tagespresse in Deutschland von 1918 bis 1933, unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im Regie­rungsbezirk Düsseldorf. Essen, S. 31; Erika Fischer, 1939. Soziologie Mährens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Hintergrund der Werke Marie von

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J 74 GerhlllYl Schi(fer

Ebner-Eschenbachs, Leipzig S. 105; Helmut Rödel, 1939, Rasse, Raum und Reich bei Moeller van den Bruck. Versuch einer Abgrenzung zum Nationalsozia­lismus, Berlin, S. 52 f.; Fast alle Doktorandinnen 1 Doktoranden hatten führende Stellungen in NSDStB, ANSt (= Arbeitsgemeinschati Nationalsozialistischer Studentinnen im NSDStB), NSDAP (und ihrem Rassenpolitischen Amt) einge­nommen oder wurden NS-Schritileiter (bei Studienfach: Publizistik). Die ras­senpolitische Schulung gehörte explizit zu den Schulungsaufgaben des Referen­ten für "Volkstumspolitik" im "Amt für politische Schulung" der Leipziger Stu­dentenschaft 1933/34 (= Helmut Schelsky). Die Studentinnen der ANSt beteiligten sich an den empirisch-rassensoziologischen Arbeiten der Kinderreichen-Kartothek W. Knorrs, die von allen relevanten Institutionen von Partei, Stadt und Gau finanziert wurde: W. Knorr war selbst stellvertretender Gauamtsleiter des Rassenpolitischen Amtes in der NSDAP-Gauleitung Dresden.

180 Z.B.: Marianne Volbehr, Dresden 1936, Der Neu-Saint-Simonismus, Dresden; Rolf Schroeter, 1937, Geschichte und Geschichtlichkeit in der deutschen Philoso­phie der Gegenwart, Köln

181 Die Bedeutung des Faches Journalistik erklärt sich aus der zunehmenden Rele­vanz von Information und Propaganda für das nationalsozialistische Herrschafts­system, u.a. rechtlich fixiert im sog. Schriftleitergesetz vom 4. 10. 1933; die an anderer Stelle vorzulegende Analyse soziologischer Dissertationen in Leipzig nach 1933 ergibt kein monolithisches Bild von Sozialwissenschaft/Wissenschaft im Faschismus, denn selbst in Phasen höchster propagandistischer Euphorie und frenetischer Massenakklamation waren die Wissenschaftler-Individuen in den Grenzen des Systems keineswegs auf eine in den Einzelwissenschaften jeweils gültige Position verpflichtet. Es ist dem System des Faschismus nicht gelungen, trotz aller Einschüchterungen, Repressalien und Gratifikationen, Humanität und wissenschaftliche Ethik jedes Individuums vollständig gleichzuschalten.

182 Vgl. UAL, PA 764 (= Personalakte Karl Valentin Müller), BI. 21/22: Aus dessen Lebenslauf zur Habilitation

183 UAL, PA 764, BI. 41: Aus Gutachten H. Freyers zu K.Y. Müllers Habilitationsan-trag

184 UAL, PA 764, BI. 44/45 185 UAL, PA 764, BI. 41 186 UAL, PA 764, BI. 47 u. 49: Gutachten des Statistikers Prof. R. Meerwarth 187 Müller, Karl Valentin - BDC-Akten Karl Valentin Müller (RFR-Karte REM­

Personalkarte M 467); BAK, R31/614: Personalakte Karl Valentin Müller, Deut­sche Universität Prag; ders., 1943, Deutsche Lebensströme im Aufstieg des Tschechenturns, Posen, S. 20

188 UAL, PA 806, BI. 4-9: Lebenslauf zum Habil.-Gesuch K.H. Pfeffer vom 4. 3. 1934; Karl Heinz Pfeffer, 1935, Das Judentum in der Politik, in: Theodor Fritsch (Hrsg.), Handbuch der Judenfrage, Leipzil8 1935, S. 171 -243; ders., 1943, Der englische Krieg auch ein jüdischer Krieg, München (= H. 24 der "Schritienreihe zur weltanschaulichen Schulungsarbeit des NSDAP)

189 UAL, PA 806, BI. 40, BI. 70-71, BI. 75, BI. 87 190 UAL, PA 806, BI. 71 191 Vgl. dazu die Archivbestände in: BAK, R 7 (= Reichswirtschaftsministerium),

hier nach: Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20./21. Jahrhunderts; mit Bezug auf die Leipziger Soziologie stellt Pfeffer fest: "Die Schule, die ich

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Wider die Ins:enierung des Ji'rgessens 175

aufgebaut habe mit unseren Leuten in Leipzig damals, ist zerschlagen. Die Arbei­ten. die wir gemacht haben. sind im Arbeitswissenschaftlichen Institut der DAF aufgegangen." (Protokoll, S. 15) Die Diskussion folgte auf ein ausführliches Re­tCrat von Otto Ohlendorf. einen Vortrag von Max Hildebert Boehm (Jena) und ein KorretCrat von Franz Ronneberger (Wien).

192 Vgl. Walter Greiff. 1985, Das Boberhaus in Löwenberg 1 Schlesien 1933 - 37. Selbstbehauptung einer nonkontormen Gruppe, Sigmaringen, S. 111 ff., S. 118 ff. und Mitteilungen von Carsten Klingemann IOsnabrück.

193 Vgl. UAL. PA 474, BI. 159-160 194 Helmut Schelsky. Nachbemerkung. in: Karl-Siegbert Rehberg (Red.). Gab es

eine .. Leipziger Schule ... "?, a.a.o .. S. 49 195 Ursula Henke plädiert in ihrer Habilitationsschrift für eine zeitliche Begrenzung

der Existenz einer .. Leipziger Schule" (etwa bis 1938/39), wobei ihre Begrün­dung lediglich auf die Oberflächengestalt der Lehrveranstaltungstitel rekurriert. Ihr formales, daher reduziertes Verständnis von Soziologie läßt die Zuordnung Gehlens und Schelskys zur Philosophie als "erstaunlich" (S. 156) erscheinen, wo doch z.B. die Themenwahl Schelskys im SS 1938 (,.Die geistigen Grundlagen des Faschismus" - Proseminar) bereits das Politische in Schelskys Philosophie indi­ziert und in seinen politisch motivierten Schriften vor 1938 unübersehbar ist: Ur­sula Henke. Soziologie in Deutschland ... , a.a.O., S. 156

196 Vgl. Elfriede Üner, Editorische Vorbemerkungen, in: Hans Freyer, Herrschaft. Planung und Technik ... , a.a.o., S. 1: etwas präzisierender: Elfriede Üner, 1986, Die Entzauberung der Soziologie, Skizzen zu Helmut Schelskys Aktualisierung der .. Leipziger Schule", in: Horst Baier (Hrsg.), Helmut Schelsky - ein Sozio­loge in der Bundesrepublik. Eine Gedächtnisschrift von Freunden, Kollegen und Schülern, Stuttgart, S. 5 - 19, besonders S. 6

197 Helmut Schelsky, Vorwort (1980), in: ders., Thomas Hobbes ... , a.a.O., S. 9f 198 ibid .. S. 10 199 Vgl. Theodor Litt, 1947, Geschichte und Verantwortung, Vortrag zur Eröffnung

des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, Ortsgruppe Leipzig, Wiesbaden, hier zitiert nach: Hans Heinz Holz, 1986, Philosophie als Weltanschauung. Umerziehung und Restauration - westdeutsche Philosophie im ersten Nachkriegsjahrzehnt, in: Dialektik 11. Wahrheiten und Geschichten -Philosophie nach '45, Köln, S. 45 - 70, S. 45

200 UAL, PA 488 (= Personalakte Hans Georg Gadamer), BI. 139

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Irmgard Pinn / Michael Nebelung

Kontinuität durch Verdrängung'

Die "anthropologisch-soziologischen Konferenzen" 1949 - 1954 als ein .,vergessenes" Kapitel der deutschen Soziologiegeschichte

J1Jrbemerkungen zur Soziologiegeschichte und zur wissenschaftlichen Relevanz von Rassentheorien

In der Fachgeschichtsschreibung war man sich bis vor kurzem weitgehend ei­nig darüber, daß die deutsche Soziologie mit der nationalsozialistischen Machtergreifung zum "völligen Stillstand" gekommen sei (König 1958). Schon weil so viele der (aus heutiger Perspektive) bedeutendsten Fachvertre­ter verfolgt und vertrieben worden waren, lag rückblickend diese Einschät­zung nahe. Zudem war die Auffassung weit verbreitet, die Soziologie sei den Nationalsozialisten aufgrund ihres machtzersetzenden und ideologiekriti­schen Potentials von vornherein "suspekt" gewesen (vgl. Maus 1948). Wenn beispielsweise Theodor W. Adorno 1952 schrieb, die Nationalsozialisten hät­ten "mit gutem Instinkt ein demokratisches Potential" in der Soziologie ge­wittert, trug er dazu bei, dem Fach den Nimbus einer "Oppositionswissen­schaft" zu verleihen. Und diese Selbsteinschätzung erfreute sich großer Be­liebtheit, so bei Ralf Dahrendorf, der Mitte der 60er Jahre sogar meinte, daß der Soziologe per se "unbequem" sei, da er immer ein distanziertes, gebro­chenes Verhältnis zu "seiner" Gesellschaft habe. Und mehr noch: er vermu­tete, daß es aus dieser peripheren Stellung eine besondere Affinität zwischen Soziologie und Judentum gebe2 •

Doch nicht nur Exilanten, sondern auch Soziologen, die in Deutschland ge­blieben waren, trugen zu der Vorstellung bei, das Fach habe mit der NS­Machtergreifung zu existieren aufgehört. Allerdings sah Helmut Schelsky, der bekannteste Vertreter dieser These, die Ursachen nicht in politischen Re­pressionen, sondern in einer innerdisziplinären Krise, nämlich der sich schon in den letzten Jahren der Weimarer Republik immer deutlicher zeigenden Un­fähigkeit der Soziologie, mit den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen durch Entwicklung neuer Theorien und Methoden Schritt zu halten (vgl. Schelsky 1959). Die mittlerweile selbst wiederum in die Fachgeschichte ein­gegangene Kontroverse zwischen M. Rainer Lepsius (1979) und Schelsky (1981) über den Standort der Soziologie im "Dritten Reich" war Ausgangs­punkt zahlreicher soziologiehistorischer Forschungsarbeiten, die zu einer Neubewertung des Faches und seiner Repräsentanten in der Phase zwischen 1933 und 1945 führten3• Sie haben unter anderem ergeben, daß es während dieser Zeit weitaus mehr Soziologen, soziologische Institutionen und Arbeits­gebiete gab, als man bis in die 70er Jahre annahm.

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178 Irmgard Pinn / Michael Nebelung

Umstritten ist jedoch weiterhin, ob soziologische Arbeiten. die völkische oder rassistische Elemente enthalten, überhaupt als wissenschaftlich anzuse­hen bzw. ob deren Vertreter als Soziologen zu bezeichnen sind. Geht man, wie M. Rainer Lepsius. von einem normativen Wissenschafts-Begriff aus. liegt zwangsläufig bereits im "rassischen Determinismus der nationalsozialisti­schen Weltanschauung das Gegenprogramm einer soziologischen Analyse" begründet (Lepsius 1981, S. 28). Die Ausgrenzung aller Soziologiekonzepte und aller Soziologen, die den Kriterien "rationaler" oder gar .,kritischer" Wissenschaft nicht standhalten, erweist sich jedoch schon bei der Lektüre von Referaten und Diskussionen der ersten Soziologentage oder von sonstigen Äu­ßerungen prominenter Soziologen zur "Rassenfrage" aus jener Zeit als pro­blematisch: Oft wird Max Webers Replik auf Alfred Ploetz' Vortrag beim er­sten Deutschen Soziologentag 1910 (Ploetz 1911) zum Beweis dafür zitiert, daß "die Soziologie" Theorien, welche menschliches Verhalten aus Erbanlagen er­klären wollten, von vornherein ablehnend. zumindest sehr distanziert gegen­übergestanden habe. Tatsächlich gab es jedoch viele Berührungspunkte zwi­schen der sich etablierenden Soziologie, der Rassenanthropologie sowie der in Deutschland durch Ploetz begründeten Rassenhygiene. Dabei handelte es sich sowohl um ein Konkurrenzverhältnis als auch um eine "Interessengemein­schaft", wie Werner Sombart die Beziehung zwischen beiden Disziplinen in der Diskussion über Ploetz' Referat charakterisierte. Selbst von Soziologen, die der völkisch-rassistischen Ideologie fernstanden, wurden rassenhygienische Kon­zepte als Beitrag zur Lösung sozialer Probleme ernsthaft in Betracht gezogen (z.B. von Theodor Geiger 1933, vgl. dazu auch Weingart u.a. 1988, S. 309 ff.). Würde man ihre Lehrtätigkeit, ihre Publikationen und Forschungen von vorn­herein für wissenschaftlich indiskutabel erklären, wäre eine fundierte Ausein­andersetzung mit Soziologen, die rassentheoretische Erklärungsmodelle für ge­sellschaftliche Phänomene und Prozesse in ihre Arbeiten integrierten und / oder in Kontexten lehrten und forschten, welche mit rassenpolitischen Zielsetzungen verbunden waren (z.B. in der Raumforschung), kaum möglich.

Während Forschungsarbeiten der letzten Jahre über die Soziologie im "Dritten Reich" wichtige Aufschlüsse brachten (wenngleich viele Fragen wei­terhin offenstehen) , beginnt man erst jetzt, sich für die Zeit nach dem Zusam­menbruch des "tausendjährigen Reiches" zu interessieren4 • Bereits die weni­gen bisher vorliegenden soziologiegeschichtlichen Untersuchungen zu dieser Phase (vgl. Weyer 1984 u. 1986, Cobet 1988) liefern jedoch eindrucksvolle Be­lege für theoretische, institutionelle und personelle Kontinuitäten. Sie sollen durch unsere Analyse der "anthropologisch-soziologischen Konferenzen" er­gänzt und erweitert werdens. Darüber hinaus wollen wir mit diesem Rück­blick insbesondere an eine in Vergessenheit geratene Zusammenarbeit von So­ziologen und Rassenanthropologen erinnern, welche für das Verhältnis zwi­schen Soziologie und Rassentheorien generell von Bedeutung sein dürfte6•

Bevor wir uns den Themen und Referenten der Konferenzen zuwenden, hal­ten wir eine allgemeine Vorbemerkung zu Rassen- und Vererbungstheorien

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Kontinuität durch Verdrängung 179

für angebracht: Rassentheorien gehen davon aus, daß das "Wesen" des Men­schen durch mit dem "Blut" vererbte spezifische Merkmale determiniert sei. Sie konstruieren nach der Wertigkeit dieser Merkmale Hierarchien zwischen Rassen, Völkern oder Gruppen innerhalb einer Bevölkerung, und zwar zu dem Zweck, soziale Unterschiede und daraus entstehende Konflikte zu "bio­logisieren". So wird aus der Grundüberzeugung einer "natürlichen Ungleich­heit" der Menschen sowohl die Kolonialherrschaft als Ausdruck einer natur­gegebenen Überlegenheit der weißen Rasse zu legitimieren versucht als auch der Antisemitismus wissenschaftlich "bewiesen". Das gleiche anthropologi­sche Modell liegt der Rassenhygiene zugrunde, die durch Maßnahmen der "Auslese" oder "Ausmerze" das Erbgut einer Rasse oder eines Volkes ver­bessern will. Die auf den ersten Blick ganz unterschiedlichen Ausgangs­punkte, Thesen und Ziele von Kolonial-Rassismus, Rassen-Antisemitismus und Eugenik führen oft zu Mißverständnissen und Irrtümern. So wird heute oft übersehen, daß es nicht einmal im "Dritten Reich" eine allgemein verbind­liche Rassenlehre gab. Konflikte unter Rassentheoretikern oder zwischen Ras­sentheoretikern und politischen Institutionen kamen gerade in dieser Zeit sehr häufig vor, so daß man daraus keineswegs unmittelbar auf die "Weltanschau­ung" eines Wissenschaftlers schließen darf. Auch waren Rassenhygieniker (vor 1933) keineswegs automatisch Antisemiten etc. Gerade wo das fehlt, was üblicherweise als "rassistisch" gilt, d.h. vor allem explizit antisemitische oder Farbige diskriminierende Äußerungen, ist es offenbar oft schwierig, Konzepte als in dieser Traditionslinie stehend zu erkennen. Das gilt vor allem für Theorien, wo es um nichts als die Erforschung der Vererbung (rassenspe­zifischer) körperlicher Merkmale zu gehen scheint.

Gegen die Beschäftigung mit den physiologischen (Rassen-)Unterschieden der Menschheit ist zunächst einmal weder aus wissenschaftlichen noch aus ethischen Gründen etwas einzuwenden. Sie ist wohl sogar unerläßlich, um die biologische Beschaffenheit des Menschen und seine Entwicklungsgeschichte zu erforschen, ebenfalls für bestimmte medizinische Forschungen etc. Auch wollen wir nicht etwa behaupten, daß Rassen- und Vererbungstheorien das­selbe seien: Einerseits gibt es Rassentheorien, in denen biologische Faktoren, wie solche der Vererbung physischer und psychischer Rasseneigenschaften, von nebensächlicher Bedeutung sind, z.B. die (vor allem durch Houston Ste­wart Chamberlain begründete) Traditionslinie, die Rasse als "Mythos" ver­steht. Andererseits wird in den Wissenschaften, die sich heute mit Fragen der Vererbung beschäftigen, "Rasse" oft in expliziter Abgrenzung vom alten ty­pologischen Rassenbegriff verwendet. Der moderne populationsgenetische Rassenbegriff (Rassen werden durch die Kombination von Genen bestimmt), heißt es dann, sei mit rassistischen Ideen und Zielsetzungen ganz und gar un­vereinbar. Doch während die mythischen Rassentheorien mittlerweile weitge­hend aus dem Kanon universitärer Forschung und Lehre verschwunden sind, trifft dies für die naturwissenschaftlich-anthropologischen Rassenkonzepte nur bedingt zu. Nicht nur, daß in der Verhaltens- und Intclligenzforschung

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oder in der Soziobiologie durchaus weiterhin im Sinne der "klassischen" Ras­senlehren geforscht und gelehrt wird - die beiden eben erwähnten Rassenbe­griffe schließen sich weder systematisch noch historisch aus, denn jede "an­thropologische" Rasse hat ihre "populationsgenetische" Konstitution, wie umgekehrt jede "polulationsgenetische" Rasse eine, mehrere oder alle an­thropologischen Rassen einschließt. Schließlich wäre es ein Trugschluß, aus der untergeordneten Bedeutung der "Rasse" in manchen Theorien, die sich mit Fragen der Vererbung beschäftigen - z.B. der Humangenetik - schon die Schlußfolgerung zu ziehen, hier sei das Denken in Rassenkategorien über­holt. Denn bei näherer Betrachtung erweisen sich auch sie sich in der Regel als durch ein rassenbiologisches Menschenbild geprägt und als zumindest an­schlußfahig an Konzepte, welche Menschen (wieder) nach Kriterien der Ästhetik, der Nützlichkeit, der Leistung etc. klassifizieren. Fast allen Wissen­schaftlern, die auf diesem Gebiet arbeiten, geht es, heute wie damals, nicht nur um die Vermessung von Schädeln, um den Vergleich von Haaren und Fingerbeeren-Mustern, um die Analyse der Konsistenz von Ohrschmalz oder um die Merkmale des Blutes und der Gene. Vielmehr steht hinter dem Inter­esse an physiologischen Unterschieden, wie die auf den anthropologisch­soziologischen Konferenzen gehaltenen Referate exemplarisch zeigen, stets mehr oder weniger deutlich die Frage nach damit korrelierenden psychischen, sozialen und kulturellen Merkmalen. Die Feststellung, daß seelische sogar von ungleich größerer Bedeutung seien als körperliche Unterschiede, ist Grundtenor der gesamten einschlägigen Literatur. Und was Fritz Lenz schon im Standardwerk der Rassenhygiene prägnant formulierte, findet sich bis heute sinngemäß in nahezu allen Publikationen zu diesem Thema: "Wenn es nur körperliche Rassenunterschiede gäbe, so wäre die ganze Rassenfrage ohne besondere Bedeutung."7

Nach 1945 wurde die Auseinandersetzung mit der Verstrickung von Anthro­pologie und Genetik (wie auch anderer Wissenschaften) in die NS­Rassenpolitik mit dem Standardargument abgewiegelt, die Nationalsoziali­sten hätten wissenschaftliche Erkenntnisse ideologisch vereinnahmt und miß­braucht, und allenfalls ganz wenige Wissenschaftler seien aus Naivität oder Opportunismus selbst der NS-Ideologie verfallen (so u.a. noch 1980 Knuß­mann und 1982 Spiegel-Rösing/Schwidetzky). Doch selbst in kritischer Ab­sicht verfaßte Studien gehen teilweise von solchen zwar nicht falschen, aber die genuine Amagalmierung von Wissenschaft und "Weltanschauung" aus­blendenden Annahmen aus. So versuchten die Bielefelder Sozialwissenschaft­ler Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz in ihrer umfangreichen Ar­beit über die Geschichte der Eugenik in Deutschland noch kürzlich, zwischen "wissenschaftlicher" Rassenhygiene und "politisierter" Rassenlehre eine scharfe Trennlinie zu ziehen. Das überrascht einigermaßen, denn ihre eigene wissenschaftsgeschichtliche Darstellung würde unseres Erachtens eher die gegenteilige Schlußfolgerung nahelegen. Nicht nur, daß einerseits etliche Ras­sentheoretiker naturwissenschaftlich-medizinischer Orientierung der germa-

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nophilen "nordischen Bewegung" oder anderen Blut-und-Boden-Mystizis­men durchaus nahe standen - sie integrierten solche Ideen auch in ihre wis­senschaftliche Arbeit bzw. richteten ihre Forschungen und Publikationen ex­plizit an rassenpolitischen Zielsetzungen aus. Andererseits waren die Natio­nalsozialisten durchaus bereit, gründlich und rasch "ideologischen Ballast" abzuwerfen. wenn sie sich von naturwissenschaftlichen Forschungserkennt­nissen einen Nutzen versprachen. Wie Karl-Heinz Roth (1986) eindrucksvoll beschrieben hat, gehörten deutsche Genetiker (z.B. Otmar von Verschuer, s.u.) in den dreißiger und vierziger Jahren zur internationalen Forscherelite, wobei sie seitens der politischen Machthaber beträchtliche Unterstützung fandenH• Schon weil eine naturwissenschaftlich fundierte Rassenpolitik grö­ßere Effizienz versprach, konnte sie die Sippenforschung, bis dahin Kern­stück der NS-Ideologie, zunehmend in den Hintergrund drängen.

Thesen und Forschungskonzepte der neueren Evolutionsbiologie oder So­ziobiologie können wir hier nicht erörtern (vgl. dazu Z.B. Koch 1984). Nur als Beispiel sei an eine jüngst in der ZEIT ausgetragene Kontroverse zwischen Jost Herbig, der Theorien einer biologischen "Programmierung" des Men­schen widerspricht, und Dieter E. Zimmer erinnert (1988). Sie zeigte wieder einmal, daß die Verfechter einer evolutionsbiologischen Vorprägung allen menschlichen Verhaltens heute mit denselben Hypothesen und Analogie­schlüssen argumentieren wie vor fünfzig Jahren. Niemand wird biologische Prädispositionen durch den Wahrnehmungsapparat und andere organische Gegebenheiten bestreiten - insofern wirkt sogar die Schwerkraft verhaltens­bestimmend. Von Extremfällen abgesehen9 , dürfte jedoch die Tatsache, daß die Kultur die "zweite Natur" des Menschen ist (Gehlen), die Suche nach in­dividuelles oder kollektives Handeln "determinierende" Erbfaktoren weiter­hin ins Leere laufen lassen. Daß es Junge und Alte, Dicke und Dünne, Dumme und Kluge gibt, bezeichnet Zimmer als durch die Gene gesteuereo, ebenso Gefühle, Leidenschaften, Motive, ja sogar den "Charakter". Daß er des weite­ren die Bereitschaft, Kinder und andere Verwandte zu schützen, das Bedürfnis nach einem eigenen "Territorium", nach Rangordnungen sowie die Feindse­ligkeit gegenüber Fremden auf die genetische Ausstattung zurückzuführen versucht, gehört zum Standardrepertoire dieser anthropologischen Denkrich­tung. Ungeachtet aller ebenso typischen Relativierungen und Einschränkun­gen (die Forschung stecke noch in den Anfängen, das Datenmaterial reiche noch nicht aus etc.), werden weitreichende Erkenntnisse über biologische Grundlagen sozialen HandeIns suggeriert, z.B. hinsichtlich unseres Verhal­tens gegenüber "Gastarbeitern" und "Asylanten". Eine Verknüpfung mit The­sen über die rassenbedingte Verschiedenheit der Menschen läßt sich daraus ganz leicht herstellen, so wenn der renommierte Anthropologe und Vertreter der Psychobiologie Christian Vogel in einem Interview mit der Zeitschrift "Psychologie Heute" 1988 die These vertritt, daß wir durch den "Egoismus der Gene" dazu prädisponiert seien, uns gegenüber Angehörigen fremder Rassen moralisch anders zu verhalten als gegenüber unseren Verwandten.

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Wir glauben nicht an eine Wiederholung der Geschichte, d.h. wir befürch­ten nicht, daß die "alte" Rassenhygiene wieder auferstehen könnte, doch liegt in der - scheinbar ideologiefreien - "Handlungslogik" der Genetik ein Ent­scheidungszwang nach moralischen, gesellschaftspolitischen, letztlich auch ästhetischen Kriterien. Das beginnt bei der Auswahl von Samenspendern und Eispenderinnen nach Schönheitsnormen, das spielt in der neusten Abtrei­bungs-Debatte eine Rolle, das gehört zu dem von Unternehmen und Versiche­rungen bereits praktizierten "Screening", einer Metheode zur Ermittlung er­blicher "Defekte". In modischem Outfit werden hier dieselben anthropologi­schen, medizinischen aber auch sozialpolitischen Konzepte weiterentwickelt, wie sie gerade in Deutschland schon einmal Leitbild des schönen, (erb-)ge­sunden, leistungsstarken etc. Menschen in einer von allem "Minderwertigen" bereinigten Gesellschaft waren 11. Wenn wir im nächsten Kapitel die Theorie­konzepte einiger Teilnehmer der "anthropologisch-soziologischen Konferen­zen" besonders unter dem Aspekt ihrer Einstellung zu Rassen- und Verer­bungfragen skizzieren, so geht es uns also nicht nur darum, sie als (verkappte) Rassisten zu decouvrieren. Abgesehen von dem Skandal, daß Wissenschaft­ler, die im "Dritten Reich" maßgeblich der NS-Rassenpolitik zugearbeitet hatten, ihre Karriere in der Bundesrepublik weitgehend unbehelligt fortsetzen konnten, zeigen sich hier vielmehr charakteristische Denk- und Einstellungs­muster, die, wie wir hier nur anhand weniger Beispiele erläutern können, bis in die Gegenwart fortwirken.

Die anthropologisch-soziologischen Konferenzen Themen und Referenten im Überblick

Nach 1945 gab es eine weitgehend in Vergessenheit geratene interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Soziologen und Anthropologen naturwissen­schaftlicher Herkunft l2 • Ziel dieser Kooperation, an der sich auch Philoso­phen, Volkswirtschaftler, Juristen usw. beteiligten, war es, die Wissenschaften vom Menschen den neuen politischen Gegebenheiten anzupassen - und die "Rehabilitierung" einer Wissenschaft zu betreiben, die sich wie keine andere mit der NS-Rassenpolitik liiert hatte. Etliche Mitglieder des Kreises, von dem hier die Rede ist, hatten forschend und lehrend dazu beigetragen, der NS­Ideologie eine wissenschaftliche Legitimationsgrundlage zu verschaffen, ins­besondere in der Rassenanthropologie und Rassenhygiene. Aus gegenseitiger Protektion bei der Neu- oder Wiederbesetzung von Lehrstühlen, aus der Tä­tigkeit als Herausgeber oder Mitarbeiter von Zeitschriften und Sammelbän­den, aus Funktionen in wissenschaftspolitisch wichtigen Gremien und Orga­nisationen oder der Veranstaltung von Kongressen etc. enwickelte sich rasch ein dichtes und vielschichtiges Beziehungsgeflecht. Erstaunlich ist dabei we-

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niger das Bemühen von Wissenschaftlern mit "brauner Vergangenheit", sich wieder akademisch zu etablieren, als die Bereitschaft "unbelasteter" Kolle­gen, daran mitzuwirken. Hermann Lübbe deutete diese unmittelbar nach 1945 - keineswegs nur an den Hochschulen - einsetzende Tendenz zum "Verdrän­gen und Vergessen" als historischen Komprorniß zwischen faschistischer Ver­gangenheit und demokratischer Gegenwart (Lübbe 0.1. [1984]). Für seine ein­prägsame (allerdings von ihm mit positivem Vorzeichen versehene) These ei­nes "kommunikativen Beschweigens" der NS-Vergangenheit liefern die anthropologisch-soziologischen Konferenzen eindrucksvolles Beispielmate­rial.

Maßgeblich auf Initiative Leopold von Wieses fimden diese Konferenzen 1949, 1951 und 1954 statt, die letzte in Verbindung mit dem 12. Deutschen Soziologentag 13. Wissenschaftlern, die sich mit dem "Menschen als geistig­seelischen Wesen" (Wiese) beschäftigten, sollte mit diesen Veranstaltungen Gelegenheit zu interdisziplinärem Austausch gegeben werden. Das geschah, indem sie jeweils aus der Sichtweise ihres eigenen Fachgebietes zu bestimm­ten Themen einen Vortrag hielten. So sprachen auf der ersten anthropolo­gisch-soziologischen Konferenz zum Thema " Person und Kollektiv" Wilhelm E. Mühlmann aus anthropologisch-soziologischer Perspektive, Ludwig Heyde aus der Sicht der Sozialpolitik und Alexander Mitscher!ich als Psycho­loge. Weitere Referenten waren der Philosoph und damalige französiche Be­satzungsoffizier Jean Vial, der Psychiater Heinrich Schulte, der Nationalöko­nom Walter Weddigen, der Jurist Thomas Würtenberger, der Ethnologe Gün­ter Wagner, der Pädagoge Fritz Blättner und der Theologe Michael Schmaus. Zu dem zweiten Thema, "Die sozialen und kulturellen Folgen der großen Be­völkerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts", referierten Karl G. Specht, Nels Anderson, Wilhelm E. Mühlmann, Ilse Schwidetzky, Hans Freyer, Peter Ras­sow, Gerhard Mackenroth und Paul Reiwald (Synthetische Anthropologie 1950). Die zweite anthropologisch-soziologische Konferenz, die 1951 wie­derum in Mainz stattfand, hatte ebenfalls zwei Leitthemen: "Wachsen, Reifen und Vergehen" sowie "Der Europäer" (Verhandlungen 1951/52). Zum ersten Thema sprachen Otmar Frh. von Verschuer ("Ontogenese und Phyloge­nese"), Friedrich Keiter (über das Jugendalter) und Ilse Schwidetzky ("Wer­den und Vergehen von Völkern als anthropologisches Problem"). Weitere Re­ferenten waren der Psychologe Udo Undeutsch, der Mediziner Louis R. Grote, der Kulturphilosoph Frederik Adama von Scheiterna, der Jurist Ulrich Scheuner und der Wirtschaftswissenschaftler Günther Schmölders. Den Ab­schluß bildeten der Religionsphilosoph Hans-Joachim Schoeps, der Philosoph Max Horkheimer sowie der Philosoph und spätere ZDF-Intendant Kar! Hol­zamer. Referate zum Thema "Der Europäer" hielten der Geograph Theodor Kraus, die Anthropologen Wilhelm E. Mühlmann und Ilse Schwidetzky, der Nationalökonom Alexander Rüstow, der Rechtssoziologe Eugen Lemberg, der Jurist Hans Thieme sowie die Soziologen Heinz Sauermann, Karl G. Specht und Leopold von Wiese. Die dritte anthropologisch-soziologische

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Konferenz fand 1954 statt l4 ; einziges Thema war "Das Kind". Als Referenten nahmen der Zoologe Adolf Portmann, der Mediziner Carl Bennholdt-Thom­sen, Wilhelm E. Mühlmann, die Entwicklungspsychologin Annemarie Sän­ger, der Sozial psychologe Theodor Scharmann, der Psychotherapeut Wilhelm Laiblin, der Pädagoge 1. P. Ruppert, der Jurist Kurt Lücken, der Bevölke­rungswissenschaftler Roderich von Ungern-Sternberg und der Theologe Gil­bert Cormann teil (Verhandlungen 1953/54). Die Vorträge waren - was an der Verbindung mit dem Soziologentag gelegen haben mag - viel stärker so­zialwissenschaftlich akzentuiert, und die zuvor dominierenden Rassenanthro­pologen fehlten. Das bedeutet jedoch keinen Kontinuitätsbruch, denn z.B. in dem Referat Ungern-Sternbergs lassen sich mühelos dieselben "weltanschau­lichen" Traditionslinien nachweisen wie in den meisten Referaten der ersten Konferenzen. Außerdem belegen beispielsweise um diese Zeit erschienene Publikationen und die Teilnehmerlisten anderer wissenschaftlicher Veranstal­tungen, daß die interdisziplinäre Zusammenarbeit fortgesetzt wurde. Dem im Detail nachzugehen, wäre jedoch Gegenstand eines neuen Aufsatzes, weshalb wir uns im folgenden auf eine Darstellung der ersten beiden Veranstaltungen beschränken werden.

Das auf den anthropologisch-soziologischen Konferenzen entwickelte Bild vom Menschen

Zwei Leitmotive durchziehen die Referate der beiden ersten Konferenzen: die Frage nach dem Verhältnis von "Anlage" und "Umwelt" sowie die Prognose einer drohenden "Vermassung" in der modernen Gesellschaft. Die Debatte um die Prägung von Individuum, Gesellschaft und Kultur durch Erbanlagen, wie sie seit Beginn des 20. Jahrhunderts in den Wissenschaften vom Menschen geführt wird, war im Dritten Reich - programmatisch - mit einer Entschei­dung zugunsten des Faktors "Rasse" stillgestellt worden. Daß diese Diskus­sion nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes erneut aufgenommen wurde, überrascht nicht, wohl aber, daß sie maßgeblich von eben jenen ge­führt wurde, die der NS-Rassenpolitik wissenschaftlich zugearbeitet hatten­und das im wesentlichen mit den alten (allenfalls oberflächlich modifizierten) Konzepten. Zweifellos wurden solche Kontinuitäten durch das restaurative ge­sellschaftliche Klima jener Zeit begünstigt. Das zeigte sich auch in etlichen Referaten, in denen eindringlich die Verfallssymptome der Massengesell­schaft beschworen wurden. Elitäre Distanzierungen vom "Massenmen­schen", die mehr oder weniger deutlich formulierten Zweifel an der Fähigkeit des durchschnittlichen Bürgers zur Übernahme demokratischer Verantwor­tung oder der Abscheu vor der kulturell nivellierenden "Vermassung" setzten in frappierender Borniertheit jene Tradition bürgerlicher Gesellschaftskritik fort, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts überall "innere Verarmung" und "Entleerung" gewittert hatte. Ebenso vermögen sorgenvolle Äußerungen

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über die demokratische Entwicklung Deutschlands kaum oberflächlich ein altbekanntes ordnungspolitisches Denkmodell zu kaschieren. Wie aus dieser Sichtweise schon die Weimarer Republik durch Egoismus, Disziplinlosigkeit, Gewaltbereitschaft und Dummheit der Massen ruiniert worden war, glaubte man jetzt, vor den Risiken eines" führerlosen" politischen Systems warnen zu müssen 15 • Diesem Aspekt wollen wir allerdings nicht weiter nachgehen, son­dern uns im folgenden auf die Anlage-Umwelt-Debatte konzentrieren 16 , wie sie schon Gegenstand des ersten Referates war, das Mühlmann zum Thema "Person und Kollektiv" hielt.

Das ThementeId "Die sozialen und kulturellen Folgen der großen Bevöl­kerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts" eröffnete dann Ilse Schwidetzky mit einem Referat, in dem sie vor allem der Frage nach den Beziehungen zwischen quantitativen und qualitativen (d.h. biologischen) Veränderungen innerhalb einer Bevölkerung nachging. Ihr Vortrag, besonders der von ihr behauptete Zusammenhang von Bevölkerungsvermehrung und Intelligenz, blieb in der Diskussion nicht unwidersprochen. Während einerseits Herbert Sultan die biologistischen Schlußfolgerungen aus Intelligenztests - sehr moderat - an­zweifelte (Protokoll 1949, S. 40 f. - DGS), betrachtete Wiese es andererseits als "ganz selbstverständlich, daß sie [die Intelligenz I eine biologische Katego­rie ist, die natürlich in ihren Auswirkungen auf das Soziale mannigfach ein­wirkt". Auch wenn der Jurist Becker seine inhaltlich nicht weiter erwähnens­werten Anmerkungen "ketzerisch" nannte und, nicht ohne Ironie, besorgt meinte, sie könnten die "Harmonie, die sich über uns gesenkt hat" stören (ebd., S. 35), so dürfte Karl G. Specht doch mit seinem resümierenden Protokoll 17 die Stimmungslage unter den Teilnehmern gut getroffen haben: Gerade "Grenzthemen", schreibt er, verlangen "nach einem gewissen Maß von Einsicht in die Möglichkeiten des eigenen Faches". Die "vorsichtigen 'sowohl-als-auch-Formulierungen' Frau Schwidetzkys und K. V. Müllers" seien deshalb bei den Teilnehmern auf größere Zustimmung gestoßen als die kritischen Bemerkungen Sultans.

Die zweite anthropologisch-soziologische Konferenz begann mit dem Themenzyklus "Wachsen, Reifen und Vergehen" (Verhandlungen 1951/52). Erster Referent war der Anthropologe Otmar Frh. von Vt:>rschuer. Sein Inter­esse an sozialen und sozialpolitischen Fragen war keineswegs neu: schon 1928 hatte er sich beispielsweise (unter Bezugnahme vor allem auf Othmar Spanns soziologische Schriften) mit dem Verhältnis von Sozialpolitik und Rassenhy­giene auseinandergesetzt. In seinem Referat von 1951 vermied er nun alles, was als politische oder "weltanschauliche" Stellungnahme gedeutet werden könnte, und vermutlich würde kein Zuhörer oder Leser, der Verschuer nicht kennt, auf die Idee kommen, dieser habe zu den führenden NS-Rassenanthro­pologen gehört. Aufschlußreich ist allerdings die "Unbefangenheit", mit der er Standardwerke der "Auslese" - und "Ausmerze" -Wissenschaft als aktuelle Literatur zur Genetik angibt (Kühn 1950; Baur-Fischer-Lenz 1936 u. 1940; Just 1940; Verschuer 1945). Daß Verschuer selbst darin nichts Anstößiges sah,

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dürfte niemand erstaunen. Doch uns erschreckt, mit welcher Selbstverständ­lichkeit dieser "wissenschaftliche Rassismus" von der deutschen Nachkriegs­soziologie akzeptiert wurde. Denn daß den Konferenzteilnehmern die am Kaiser-Wilhelm-Institut betriebenen eugenischen Forschungen oder die zitier­ten Werke, vor allem der "Baur-Fischer-Lenz", unbekannt gewesen sein soll­ten, können wir uns kaum vorstellen. Auch Friedrich Keiler, der in seinem Re­ferat "Wachstum und Reifen im Jugendalter" eine Typologisierung von Wachstumskurven entwickelte sowie Regeln und Phasen des Wachstums ana­lysierte, gehörte zu jenen Rassenanthropologen, die sich während des "Drit­ten Reiches" mit Themen wie "Volkscharakter und Rassenseele" (Keiter 1936, 1938 u. 1942) hervorgetan hatten. Während Keiter sich 1951 offensichtlich (wie der eben erwähnte Verschuer) um "Neutralität" bemühte, zeigen seine Veröffentlichungen bis in die 60er Jahre, daß er sich von seinen rassenpsycho­logischen Thesen und Forschungszielen keineswegs abgewendet hatte (s.u.). Mit der Frage, ob es in den "Lebensabläufen von Völkern" Gesetzmäßigkei­ten gibt und ob sich daraus womöglich Prognosen ableiten lassen, knüpfte llse Schwidetzky ganz ungeniert an Konzepte und Thesen der NS-Anthropologie an (vgl. auch Schwidetzky 1950). Unter anderem erörterte sie die bevölke­rungsbiologische Bedeutung von "Mischungs- und Einvolkungsvorgängen", die nach ihrer Meinung nicht nur quantitativ gesehen werden müsse, sondern zugleich in einer "Vergrößerung der Streuungsbreite von Begabungen und Temperamenten". Zwar distanzierte sie sich von "Rassenideologen" wie Go­bineau, Lapouge, Woltmann und Ammon, die in der Rassenkreuzung das größte Verhängnis gesehen hätten, doch wurde diese Idee (was sie wußte) er­stens ebenso von "seriösen" Rassenanthropologen vertreten und zweitens ist dies, worauf wir in der Einleitung hinwiesen, ein typisches Argument, um "wissenschaftliche" Rassentheorien von der mißbräuchlichen, "ideologi­schen" Verwendung des Rasse-Begriffes abzugrenzen. Als Kuriosität sei noch der Vortrag von Günther Schmölders erwähnt, der den "rätselhaften, unerbitt­lichen Rhythmus von Aufschwung, Krise und Depression ... erklären [wollte], der in immer gewaltigeren Pendel schwüngen das moderne Wirtschaftsleben von Jahrzehnt zu Jahrzehnt tiefgreifender beherrscht" (S. 71). Seine Spekula­tionen über den Einfluß der Jahreszeiten oder des Sonnenzyklus auf die Kon­junkturphasen wurden, wie aus dem Protokoll hervorgeht, ernsthaft diskutiert und fanden durchaus positive Resonanz.

In seiner Einleitung zum Vortragszyklus "Der Europäer" bezeichnete Wiese es als "kulturelle und politische Gegenwartsaufgabe, eine größere Ein­heit Europas herbeizuführen". Dem Zeitgeist entsprechend - aber gewiß auch aus innerer Überzeugung - grenzte er dabei "die Welt der Sowjetstaa­ten, solange sie vom Stalinismus beherrscht ist" von solchen Integrationsbe­strebungen aus, wohingegen er die USA dem europäischen Kulturkreis zu­rechnete (Wiese 1951/52). Abgesehen von solchen Bekenntnissen, blieben politische Gegenwartsfragen allerdings auch bei diesem Thema fast völlig aus­geklammert. Mühlmann z.B. fragte in seinem Referat nach den Ursprüngen

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kultureller Gemeinsamkeiten der Europäer. In seiner Feststellung, daß diese Gemeinsamkeiten nicht spezifisch europäisch seien - "Man kann europäisch werden in einem ähnlichen Sinne. wie das Kind zum Erwachsenen wird" -, kommt zwar unübersehbar eine eurozentristische Attitüde zum Ausdruck, aber immerhin widerspricht er hier Versuchen, Kultur unmittelbar aus biolo­gischen Determinanten abzuleiten. Eine "Rassenpsychologie" des mittelalter­lichen Menschen, meint er, würde mit den heutigen Europäern weniger Über­einstimmungen aufweisen als diese mit Chinesen oder Indern. "Diesseitig­keit, Weltlichkeit. Technizität. Zeitökonomie sind eine Sache der Entwick­lung. Ob außerdem auch ein Faktor der Anlage darin steckt, wie Schwidetzky meint, wissen wir nicht." Die Möglichkeit als solche will Mühlmann nicht ausschließen, aber vorläufig sieht er keine Methode, mit der sie bewiesen werden könnte (S. 125). Daß die banal anmutende These, die europäische Kul­tur sei nicht aus rassenbiologischen Merkmalen der Europäer zu erklären, im Expertenkreis der "anthropologisch-soziologischen Konferenz" durchaus keine Selbstverständlichkeit war, zeigt der Diskussionsbeitrag von Wolfgang Kellner: Nicht "rationale, innerweltliche Askese" treibe den Europäer zu sei­ner rastlosen Tätigkeit an, sondern eine Veranlagung, die er nach Alfred Vier­kandt "Funktionslust" nennt. Zum Beweis beruft er sich u.a. auf die unter­schiedliche Einstellung europider und negrider Polynesier zum Wettkampf­Sport. Zwar läßt Mühlmann sich nicht von Kellner überzeugen l8 , doch ist seine eigene Einstellung zu dieser Frage höchst ambivalent. In einem um die gleiche Zeit geschriebenen Aufsatz "Zur Problematik der Erbpsychologie und Rassenpsychologie" z.B. will er nicht ausschließen, daß Verhaltensweisen "exotischer Rassen" in einer "phylogenetisch primitiveren Grundstruktur" fundiert seien. Allerdings sei die Klärung der "phylogenetischen Primitiv­frage" wichtig, um Aussagen darüber zu treffen, "ob es seinsmäßige psychi­sche Grundstrukturen gibt, die am komplexqualitativen Erleben ,konstitutio­nell' zeitlebens festhalten" (Mühlmann 1952, S. 82).

Biographische Anmerkungen zu Teilnehmern und Referenten

Die Heterogenität der Konferenz-Teilnehmer (mehr noch der Eingeladenen) irritiert zunächst. Wie konnten die Organisatoren so kurz nach Zusammen­bruch des "Dritten Reiches" - offenbar ganz unbefangen - Wissenschaftler mit tietbrauner Vergangenheit und von den Nationalsozialisten vertriebene zur Mitarbeit auffordernl9? Und wie war es möglich, daß Emigranten sich mit je­nen zur interdisziplinären Zusammenarbeit an einen Tisch setzten, die als Wissenschaftler, als Richter am Erbgesundheitsgericht usw. der NS-Rassen­politik zugearbeitet hatten? Die in den DGS-Akten erhaltene Korrespondenz legt für diesen "Pluralismus" die Deutung nahe, daß es den Veranstaltern, d.h. in erster Linie Wiese, vor allem um die Durchsetzung wissenschaftspoli-

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tischer Interessen ging. Für die Zusammenstellung des Adressatenkreises wa­ren offenbar persönliche Kontakte (teils nach dem Schneeball-System) und politischer Einfluß der Eingeladenen von ausschlaggebender Bedeutung. So lud Wiese außer dem damaligen Bundespräsidenten (und DGS-Mitglied) Theodor Heuss etliche Personen ein, die er wohl als (potentielle) Förderer der Soziologie einschätzte. Politische und wissenschaftliche Orientierungen wa­ren dagegen - innerhalb eines breiten Spektrums - zweitrangig, und vermut­lich machten einige "Linke" oder Emigranten sich auch ganz gut auf der Teil­nehmerliste. Mit wenigen Ausnahmen (z.B. Max Horkheimer, Alexander Mitscherlich und Alexander Rüstow) kamen nicht durch die Nationalsoziali­sten verfolgte und vertriebene Wissenschaftler zu Wort, sondern solche, die wie Freyer, Mühlmann, Emge20 und Mackenroth ihre Arbeit in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt oder der NS-Ideologie zumindest nahege­standen hatten. Vor allem ist jedoch die Dominanz von Rassenanthropologen wie Verschuer, Keiter und Schwidetzky hervorzuheben. Dasselbe Bild ergibt sich bei einer Auswertung der Referate: 32 Referenten hielten insgesamt 36 Vorträge, wobei 18 der Referenten NSDAP-Mitglieder oder dem Nationalso­zialismus sehr eng verbunden gewesen waren. Dagegen lassen sich lediglich vier Referenten dem liberalen bis linken Umfeld zurechnen.

Wir können hier nicht auf die biographischen Daten aller Teilnehmer ein­gehen. Etliche gehörten sowohl vor wie nach 1945 zu den einflußreichsten Vertretern ihres Faches. Fritz Lenz beispielsweise zählte Anfang der 30er Jahre zur Elite der deutschen Erbforscher. Er war Leiter der Abteilung Ras­senhygiene am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erb­lehre und Eugenik, und das von ihm mitverfaßte eugenische Standardwerk "Baur-Fischer-Lenz" repräsentierte den national und international anerkann­ten Forschungsstand. Wie die meisten seiner Kollegen, diente er sich den Na­tionalsozialisten willfährig an, und zwar einerseits, weil er von ihnen die Ver­wirklichung seiner Konzeption der Rassenhygiene erhoffte, andererseits aber durchaus aus Überzeugung (vgl. Weingart u.a. 1988, S. 383). Die "Entnazifi­zierung" bewältigte er nach 1945 relativ rasch und reibungslos21 ; schon 1945 konnte er seine wissenschaftliche Arbeit als Ordinarius in Göttingen fortset­zen. 1956 nahm Lenz nochmals zu den "Grenzen praktischer Eugenik" Stel­lung. Ausführlich erörtert er, weshalb trotz etwa 300.000 Sterilisierungen, die bis 1945 vorgenommen worden waren, die Zahl der Schwachsinnigen und erb­bedingt Geisteskranken nicht wesentlich abgenommen habe. Von Kritik an der Mitwirkung der Anthropologie bei der wissenschaftlichen Grundlegung und Durchführung der NS-Rassenpolitik findet sich hier jedoch kein Wort - ge­schweige denn ein Zeichen der Reue. Statt dessen kommt Lenz zu der pessimi­stischen Schlußfolgerung, daß es wohl unmöglich sei, "die Entartung der westlichen Kulturvölker" durch Maßnahmen eugenischer Auslese aufzuhal­ten. Auch Hans »-einert, der in einem Diskussionsbeitrag die unzureichende Berücksichtigung der "biologischen Anthropologie" bei den anthropolo­gisch-soziologischen Konferenzen kritisierte, war als Direktor des Anthropo-

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logischen Institutes der Universität Kiel einer der führenden NS-Rassenan­thropologen; nach 1945 blieb er in Amt und Würden. Der Theologe Michael Schmaus, der sich emphatisch zum Nationalsozialismus bekannt hatte, wurde 1951 Rektor der Münchener Universität und einer der mächtigsten Vertreter seiner Disziplin in der Bundesrepublik (vgl. Deschner 1980). Der Historiker Peter Rassow, der 1949 "Die sozialen und kulturellen Folgen der großen Be­völkerungsvermehrung des 19. Jahrhunderts in ihrer geschichtlichen Bedeu­tung" erörterte, hatte Z.B. 1942 anläßlich des "Tages der nationalen Erhe­bung" in der Kölner Universität eine den Krieg verherrlichende Festrede gehalten" (was zumindest Wiese gewußt haben muß); der Psychiater Hein­rich Schulte war während des "Dritten Reiches" Richter am Erbgesundheits­gericht Berlin2'. Etliche Konferenz-Teilnehmer sind heute auch innerhalb ih­rer eigenen Disziplin kaum noch bekannt, so der Ethnologe Günther Wagner, der in den 40er Jahren die Anthropologie in den Dienst der deutschen Kolo­nialpolitik stellen wollte und, als daraus nichts wurde, Anfang der 50er Jahre nach Südafrika ging (vgl. Wagner 1940 und Gohtsch 1983, bes. S. 211 ff. u. S. 255). Oder wer spricht heute noch von den Bemühungen des Volkskundlers Walter Kuhn, die Rassenbiologie in sein Fachgebiet zu integrieren24? Ihre Theoriekonzepte sind zu Recht in Vergessenheit geraten, aber daß sie es wa­ren, die nach 1945 am wissenschaftlichen "Neubeginn" mitwirkten, scheint uns durchaus erinnernswert.

Fünf Referenten werden wir im folgenden ausführlicher vorstellen: Leo­pold von Wiese, Friedrich Keiter, Wilhe1m E. Mühlmann, I1se Schwidetzky und Otmar Frh. von Verschuer.

Leopold von Wiese

Die Haltung mancher bisher der "inneren Emigration" zugerechneten Sozio­logen wurde in jüngster Zeit neu zur Diskussion gestellt. Das gilt auch für Leopold von Wiese (1876-1969), der von der Nationalökonomie zur Soziologie kam. Nach mehrjähriger Tätigkeit an der dortigen Handelshochschule erhielt er 1919 an der neugegründeten Kö1ner Universität einen Lehrstuhl. Er war Mitbegründer und von 1919-1933 Schriftführer der DGS (Alemann 1981, S. 367); ab 1921 gab er die "Kölner Vierteljahrshefte", das offizielle Publika­tionsorgan der DGS, heraus. Zwar mußten diese 1934 ihr Erscheinen einstel­len und das Kölner "Forschungsinstitut für Sozialwissenschaften" wurde im gleichen Jahr geschlossen. Doch bedeutete das weder eine persönliche Ge­fährdung für Wiese noch das Ende der Soziologie in Köln: Beide Maßnahmen waren weniger politisch als durch Sparmaßnahmen der Stadt begründet25 ,

und die Auflösung des Instituts betraf im wesentlichen die sozialpolitische und -rechtliche Abteilung, wohingegen das Fach am Soziologischen Seminar durchaus weiterexistierte (vgl. Klingemann 1988, S. 76 ff.). Ebenso konnte Wiese seine Lehr- und Forschungstätigkeit weitgehend unbeeinträchtigt fort­setzen. Wenn in den "Kölner Vierteljahrsheften" die Auseinandersetzung mit

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(tages-)politischen Fragen verpönt war, so entsprach das zweifellos der vor­herrschenden Einstellung der Soziologenzunft, die sich unter dem Postulat der "Werturteilsfreiheit" um Anerkennung und Etablierung als eigenständige Disziplin bemühte. Doch war das auch Wieses höchstpersönliche Auffassung von der Soziologie. Der rapide zunehmende und politisch brisanter werdende Rassen-Antisemitismus wurde hier (wie übrigens auch auf den Soziologenta­gen) ebensowenig diskutiert wie die zunehmende Popularität rassenhygieni­scher Konzepte in Wissenschaft und Politik. Bei der Einrichtung einer Abtei­lung für "Biosoziologie" im Jahre 1933 handelte es sich ganz offensichtlich um den - zu späten - Versuch einer Anpassung an den herrschenden Zeit­geist. Und wenn auch nicht gerade mit überwältigendem Erfolg, bemühte Wiese sich doch noch etliche Jahre, die neuen Machthaber von der Nützlich­keit der Soziologie zu überzeugen (vgl. Weyer 1984). Nach dem Zusammen­bruch des "Dritten Reiches" engagierte Wiese sich dann für die Wiederbe­gründung der Soziologie und wurde erster Nachkriegs-Präsident der DGS.

1934/35 verbrachte Wiese neun Monate als Gastprofessor in den USA. Wie er später in seinen "Erinnerungen" (1957) schrieb, fiel ihm die Entschei­dung schwer, ob er nach Deutschland zurückkehren oder bleiben solle. Aus­schlaggebend war schließlich, daß man im Ausland vielfach glaubte, das "HitIer-Regiment" ginge schnell seinem Ende entgegen. Zudem, schreibt Wiese, waren die "ausgewanderten Gelehrten" in einer ganz anderen Lage; als Juden oder politische Gegner konnten sie nicht nach Deutschland zurück. "Wenn der eine oder andere mit falschem Pathos erklärte: ,Nie mehr werde ich diesen Boden betreten', so war das nicht immer ganz ehrlich. Er war ver­bannt. Wichtig und sehr bestimmend war auch, daß fast alle einen Teil oder womöglich ihr ganzes Vermögen gerettet hatten oder andere gesicherte Ein­künfte bezogen, während ich nichts als meine Gehaltsansprüche besaß, die hinfällig wurden, wenn ich nicht zurückkehrte. Das Abenteuer zu wagen, mich dem Zufalle anzuvertrauen und auf dem schwankenden Arbeitsmarkte einen neuen Berufsstart zu suchen, erschien mir, da ich für Frau und Kinder zu sorgen hatte und fast sechzig Jahre alt war, allzu gewagt." (S. 71)

Wieder in Deutschland, geriet Wiese tatsächlich ins Visier politischer Gegner, die in einem Artikel der "Braunen Wirtschaftspost" forderten, seinen Lehrstuhl Wilhelm Börger zu übertragen26 • Durch die Auflösung des Institu­tes verlor Wiese dann zwar 1935 seinen Posten als Institutsdirektor (vgl. Gol­czewski 1988, S. 314 f.), doch blieb er Ordinarius und Seminardirektor. Wenn er in seinen "Erinnerungen" schreibt, daß er bis 1945 ständig in Gefahr schwebte, "als bekannter sogenannter ,Liberaler'" in einem Konzentrations­lager zu verschwinden, kann es so arg doch kaum gewesen sein: Er war in die­sen Jahren u.a. Mitglied der Akademie für Deutsches Recht und der Hoch­schularbeitsgemeinschaft für Raumforschung, führte im Auftrag des Regie­rungspräsidenten von Trier ein Forschungsprojekt durch und wertete 1941 /42 ein Jahr lang in der "Archivkommission" des Außenministeriums in Paris er­beutete Akten aus (vgl. Klingemann 1988, S. 81). Wiese selbst betonte, von

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den Nationalsozialisten nicht nur als Person, sondern auch wegen seiner so­ziologischen Position angegriffen worden zu sein. Deren Kritik habe z.B. sei­nem Begriff des "Volkes" gegolten, wie er ihn insbesondere in seiner "Allge­meinen Soziologie" entwickelt hatte. Doch wie ist es zu verstehen, wenn Wiese sich dagegen 1957 (!) mit dem Argument rechtfertigt, es habe sich um ein Mißverständnis gehandelt? Tatsächlich, schreibt er, sei "Volk" für ihn stets ein vitales (biologisches) Gebilde gewesen. Diese Passage läßt sich u.E. nur so lesen, daß Wiese dem nationalsozialistischen Volks-Begriff auch nachträg­lich noch zustimmt.

Wieses Soziologie war, wie schon in seiner frühen Schrift "Zur Grundle­gung der Gesellschaft" (1906) deutlich wird, stark durch Herbert Spencer, den eigentlichen "Erfinder" des Sozialdarwinismus, beeinflußt. Mit der Ab­grenzung der Gesellschaftslehre von den Naturwissenschaften räumte Wiese den physischen Grundlagen des menschlichen Lebens (Vererbung, Entwick­lung, Rasse etc.) eine eigenständige Wirksphäre ein. Seine Beziehungslehre verwies also von vornherein auf ein biologisch-anthropologisches Funda­ment, auch wenn dies bis Anfang der 30er Jahre, als Wiese das Programm ei­ner neuen Biosoziologie entwarf, eher im Hintergrund blieb. Seine Vorstel­lung, daß die Soziologie Teil einer umfassenden Anthropologie als "Wissen­schaft vom Menschen" sein müsse, arbeitete er erst 1940 in einer programmatischen Schrift mit dem Titel "Homo Sum" aus (vgl. Rehberg 1981). Das Verhältnis von Erb- und Auslesefaktoren zu Umwelteinflüssen war jedoch schon Gegenstand eines Referates, das er 1912 auf der Ersten Haupt­versammlung der Internationalen Vereinigung für vergleichende Rechtswis­senschaft und Volkswirtschaftslehre zum Thema "Das Problem der Auslese in seiner Bedeutung für die Sozialpolitik" hielt. Unter Ausklammerung aller rassenanthropologischen Fragestellungen (S. 528) wollte er hier zwischen Be­fürwortern einer modernen Sozialpolitk und ihren Kritikern vermitteln, doch wird schon in der aus heutiger Perspektive fast grotesk anmutenden Darstel­lung des Staates als "großes Wohlfahrts- und Fürsorgeinstitut", der dem ein­zelnen alle Lebensrisiken und Sorgen abnehme, Wieses eigene Haltung deut­lich. Arbeitsschutz, Arbeitszeitbegrenzung, Sonntagsruhe, feste und Mini­mallöhne, Arbeitslosenversicherung etc., schreibt er, hätten bereits zu "Aqualismus" und einseitiger Begünstigung der arbeitenden "Massen" ge­führt, die "bequem, sorglos, geschützt" leben wollen (S. 530 ff.). Aber der Preis für diese moderne, bereits "Züge des Polizeigeistes" tragende Sozialpo­litik, sei ein die selbständigen und starken Naturen behindernder Freiheitsver­lust. So wendet Wiese denn einerseits gegen die "Selektionisten" ein, daß Umwelteinflüsse (Anpassung) gegenüber den Erbanlagen (Auslese) durchaus wirksam seien, daß eine vernünftige Sozialpolitik keineswegs zu Verweichli­chung und Erschlaffung führen müsse und daß man für individuelle Progno­sen noch nicht genügend über die Vererbungsgesetze wisse, doch sieht er an­dererseits in der Rassenhygiene positive Kräfte gegen die Übertreibungen der sozialen Ethik wirken (ebd., S. 535 ff.). Daß Abstammungsdeterminanten

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sich letztlich gegen soziale und kulturelle Faktoren durchsetzen, ist jedoch Wieses Schlußfolgerung aus seinen anthropologischen Studien auf Ceylon (Wiese 1914). Unter den Rodias, einer außerhalb der Kastenordnung stehen­den, unter elendsten Bedingungen lebenden Bevölkerungsgruppe, fand er ab­stoßend häßliche, dumme, charakterlose wie auch auffallend schöne, "edle" Menschen. Die Ursache dieser "Tragödie" glaubte er darin gefunden zu ha­ben, daß verstoßene Angehörige der Adelsschicht sich mit primitiven Wald­menschen vermischt hätten, d.h. biologisch hochwertiges mit minderwerti­gem Erbgut. Daß das Schöne, Edle sich immer wieder durchsetzt, sieht Wiese geradezu als einen "Triumph des Blutes über die Umgebung" (ebd., S. 45).

Es wäre unredlich, Wieses Äußerungen über Rassen- und Vererbungsfra­gen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ohne weiteres zur Grundlage einer Auseinandersetzung mit seiner Haltung in den 30er Jahren oder nach 1945 zu nehmen. Ansichten, wie sie Wiese äußerte, waren damals unter bürgerlichen Akademikern durchaus üblich, also nicht unbedingt Ausdruck einer völkisch­rassistischen Haltung, die später größtenteils in den Nationalsozialismus mün­dete. Im Gegenteil dürfte Wieses Einstellung belegen, wie weit eine prinzi­pielle "Aufgeschlossenheit" für rassenanthropologische und rassenhygieni­sche Ideen selbst in bürgerlich-liberalen Kreisen verbreitet war. Auch sein Versuch, noch 1933 eine vernünftig praktizierte Rassenhygiene zu rechtferti­gen und gegen die offenbar auch ihm nicht verborgen gebliebenen rassisti­schen Brutalitäten abzugrenzen27 , entsprach nicht gerade der "herrschenen Meinung". Doch kann das ebensowenig als Einspruch gegen die Rassenideo­logie (so Becker 1956) interpretiert werden. Wichtig und interessant scheinen uns Wieses hier zitierte frühe Aufsätze als Hintergrundsfolie sowohl für sein Konzept der Soziobiologie Anfang der 30er Jahre als auch für seine Einstel­lung zu Rassen- und Vererbungsfragen nach 1945. Für manche mehrdeutige oder schwer interpretierbare spätere Formulierung und Verhaltensweise (z,B. die offensichtlich ganz "unbefangene" Kooperation mit Rassenanthropolo­gen) finden sich darin zumindest erklärende Anhaltspunkte.

Noch Wieses Geleitwort zum Neuerscheinen der "Kölner Zeitschrift für Soziologie" von 1948 läßt seine (wissenschafts-)politische Einstellung in ei­nem dubiosen Licht erscheinen. Aus dem Artikel, mit dem er sich 1934 von den Lesern der "Kölner Vierteljahrshefte" verabschiedet hatte28 , zitiert er ausgerechnet jene Passage, die man wohl kaum anders denn als Anbiederung gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern verstehen kann: "Jetzt wäre gerade auch in Deutschland die Zeit für eine kraftvoll wirkende realisti­sche Gesellschaftlehre gekommen! Biologie, Erb- und Rassenlehre, sowie po­litische Ethik können es nicht allein machen". Und er fügt hinzu: "Wir neh­men den Faden des Wirkens dort, wo wir ihn fallen lassen mußten, ungebro­chen wieder auf' (1948/49, S. 1 f.). Über die Zeit zwischen 1933 und 1945 will er nicht mehr sagen, als daß diese Jahre für "Menschen, denen es Le­bensbedürfnis ist, die Luft geistiger Freiheit zu atmen, '" schwer, sehr schwer" gewesen seien, Daß Millionen seiner Mitbürger in diesen zwölf Jah-

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ren elementarere Lebensbedürfnisse entzogen wurden als geistige Freiheit, scheint ihm nicht der Erwähnung wert. Schließlich sei in diesem Zusammen­hang noch Wieses Besprechung der von Horkheimer, Adorno u.a. unter dem Titel "Studies in Prejudice" 1950 vorgelegten Untersuchungen über die auto­ritäre Persönlichkeitsstruktur, die Genese des Vorurteils etc. in der "Kölner Zeitschrift" erwähnt: Wenn Wiese sich auch um ein "abgewogenes" Urteil be­müht, hat er Inhalt und Ziel der Studien doch offensichtlich nicht verstanden oder verstehen wollen. Und einige Bemerkungen über typisch jüdische Eigen­schaften können nur als antisemitisch bezeichnet werden (vgl. Neumann 1988).

In seiner Chronik anläßlich des 600jährigen Jubiläums der Universität Köln "Kölner Universitätslehrer und der Nationalsozialismus" (1988) wird Wiese (ähnlich wie Peter Rassow, s.o.) von Frank Golczewski seltsam wider­sprüchlich charakterisiert, nämlich einerseits als Wissenschaftler, der - ab­gesehen vom Verlust seines Direktorenpostens - mit den NS-Machthabern keine Probleme hatte (S. 314). Andererseits führt er Wiese in der "Liste der durch den Nationalsozialisten verfolgten Hochschullehrer der Universität Köln" auf (ebd., S. 447). Das trägt nicht gerade zur Erhellung biographischer und disziplingeschichtlicher Fragen bei. Wenn Wiese auch kein Parteigänger der Nationalsozialisten war, kann man ihn unseres Erachtens gewiß nicht län­ger - wie es bis vor kurzem einhellig geschah29 - der "inneren Emigra­tion" zurechnen.

Friedrich Keifer

Friedrich Keiter wurde 1906 in Wien geboren und studierte dort Anthropolo­gie, Ethnologie und Psychologie. Nach seiner Promotion 1929 wurde er Assi­stent am Anthropologischen Institut in Kiel. 1933 promovierte er in Graz zum Dr. med., wo er sich auch habilitierte. Walter Scheidt holte ihn 1933 als Assi­stenten ans Rassenbiologische Institut nach Hamburg. 1939 ging Keiter nach Würzburg; dort wurde er im August 1941 apl. Professor. Später war er Trup­penarzt in Rußland und Frankreich, 1945 geriet er in Kriegsgefangenschaft. 1946 kehrte er nach Hamburg zurück und gründete ein Gerichtsanthropologi­sches Privatlaboratorium. Seit 1958 hielt er wieder Vorlesungen in Würzburg, ab WS 1965 war er Gastdozent in Hamburg. 1967 verunglückte er tödlich auf dem Rückflug von Indien.

Keiter, der sich nach 1945 zum "Opfer" des Nationalsozialismus dekla­rierte und sich noch kurz vor seinem Tod darüber beklagte, in der Bundesre­publik "akademisch entrechtet" geworden zu sein, gehörte zu den engagierte­sten NS-Rassenanthropologen (vgl. Saller 1961, S. 102, Weingart u.a. 1988, S. 537 f.). Und wenn das von ihm und seinem Lehrer Scheidt vertretene Konzept der Kulturbiologie auch nicht gerade das der NS-Rassenpolitik am nächsten stehende war, so ließ beides sich doch gut miteinanderer vereinbaren. Wir he­ben Keiter aus dem Teilnehmerkreis der anthropologisch-soziologischen Kon-

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ferenzen hervor, weil erstens in seiner Rassenpsychologie das zentrale Anlie­gen aller Rassentheorien, nämlich die Suche nach geistig-seelischen und kul­turellen Rassenunterschieden, besonders deutlich zutage tritt. Und zweitens zeigen seine Arbeiten nach 1945 exemplarisch, wie NS-Rassentheoretiker es in der Bundesrepublik wieder zu angesehenen Positionen bringen und ihre al­ten Ideen mit akademischen Weihen bis in die Gegenwart weiter verbreiten konnten. So machte Keiter sich Ende der 60er Jahre in einem - posthum ver­öffentlichten - "Situationsüberblick über den gegenwärtigen Stand der Ver­haltensgenetik" (Keiter 1969) Gedanken über die Vergleichbarkeit von Hunde- und Menschenzucht, wobei er zu folgender Erkenntnis kam: "Es muß eine Erbvariation auch der Verhaltensapparate geben, einfach weil schlechthin alle bisher faßbaren anthropologischen Merkmale, also die Gesichtszüge, aber auch die physiologischen Funktionen, die Körpermaße, auch die Krank­heitsdispositionen ausnahmslos variable, um Mittelwerte oszillierende Grö­ßen sind" (S. 68 f.). In einem weiteren verhaltensbiologischen Aufsatz behan­delte er das Problem, "ob die physiognomische Beeindruckbarkeit durch fremdartige Rassenzüge wie Dunkelhäutigkeit, übergroße Nase, dicke Lip­pen, fliehendes Kinn, flaches Gesicht mit Mongolenfalten sachlich irgendet­was an sich habe, ob das fremdartige Äußere auch ein besonderes seelisches Innere anzeige" (ebd., S. 142-156). Dieser Text dürfte, wie die anderen Auf­sätze des Sammelbandes, für den Forschungsstand dieser "Schule" Ende der 60er Jahre durchaus repräsentativ sein. Unter anderem enthält er eine konsti­tutionsbiologische Untersuchung an 20.000 Personen, die mit dem Ziel durch­geführt wurde, durch anthropologische Messungen typologische Erkennt­nisse über die Zusammenhänge von Körperbau und Verhalten zu gewinnen. Signifikante - und bereits mit EDV-Unterstützung ausgewertete - Korrela­tionen fanden sich für Handumfang zu Tanzstil, zu Flugzeugführereignung und zu sexueller Aktivität sowie Querdurchmesser des Beckenausgangs zum Sexualverhalten und zu Führungsrolle und Geselligkeitsverhalten (Schlegel 1969, S. 29-43). Man könnte geneigt sein, solche Theorien und Forschungen als Obskuritäten abzutun, würden sie nicht bis heute - wenn auch eher in Überschneidungsfeldern zu anderen Disziplinen oder in populärwissenschaft­lichen Varianten - weiterexistieren. Ob als "Rassenpsychologie", "Verhal­tensbiologie" oder mit einem anderen Etikett: anthropologische Modelle, die es zu ermöglichen scheinen, aus dem Gesicht oder aus dem Körperbau, aus der Gestik oder aus sonstigen Verhaltensweisen bestimmte verborgene gei­stige, seelische oder kulturelle Merkmale "abzulesen", sind heute offenbar ebenso beliebt wie zu Zeiten Kaspar Lavaters (1741-1801), der beispielsweise einem "Schafsgesicht" die entsprechenden Eigenschaften zuschrieb. Auch wo sie nicht mit rassistischen Ideen und Intentionen verbunden scheinen, sollten solche biologistisch-deterministischen Vorstellungen über die "Natur" des Menschen ernstgenommen werden. Denn wie die Geschichte gezeigt hat, las­sen solche Verbindungen sich unter bestimmten gesellschaftlichen und politi­schen Konstellationen rasch herstellen.

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Wilhelm Emil Mühlmann

Nachdem er anfangs Biologie, Humangenetik und Anthropologie studiert hatte (u.a. bei Eugen Fischer), wandte Mühlmann (1904-1988) sich der Sozio­logie und Ethnologie zu. Er promovierte 1932 in Berlin bei Richard Thurn­wald, redigierte die von Thurnwald herausgegebene Zeitschrift "Sociologi­cus" und war dann in völkerkundlichen Museen (Berlin, Hamburg, Breslau) tätig. Mühlmann begrüßte die NS-Machtergreifung; 1934 trat er in die SA ein (Michel 1987, S. 30). 1939 habilitierte er sich für Völkerkunde und Völkerpsy­chologie und war bis 1945 Dozent an der Universität Berlin30 • 1950 erhielt er einen Lehrauftrag in Mainz und wurde dort 1957 ordentlicher Professor für Soziologie und Ethnologie. Von 1960 bis zu seiner Emeritierung 1970 lehrte er in Heidelberg. Erst durch einen öffentlichen (vor allem in der Presse ausgetra­genen) Konflikt mit einer jüdischen Studentin, in die sich auch der israelische Botschafter einmischte, begann man, sich für Mühlmanns Arbeiten während der NS-Zeit zu interessieren'l.

Mit seiner Trennung zwischen einer "biologischen" und einer "soziologi­schen" Ebene der Rassentheorie (die Vorstellungen eines durch Erbanlagen determinierten "Rassenkampfes" z.B. erklärte er für Unsinn) lag Mühlmann gewiß nicht im Haupttrend der NS-Rassenideologie. Das machte es ihm nach 1945 leicht, sich als heimlichen NS-Gegner bzw. als von ihnen gerade noch geduldeten wissenschaftlichen Außenseiter zu präsentieren. Und tatsächlich brauchte er sein Theoriekonzept nur terminologisch etwas zu "entschärfen", um es in der Bundesrepublik zu einem der geachtetsten Repräsentanten seines Faches zu bringen. Die erwähnte, für seine Äußerungen zur "Rassenfrage" nach 1945 typische Vieldeutigkeit ist schon in seinen frühen Schriften ange­legt: wo er keine Belege hat oder sogar selbst auf die Kulturbedingtheit von Verhaltensmustern etc. hinweist, läßt er doch stets die "Möglichkeit" zu rassi­schen Deutungen offen. Einige Publikationen gibt es allerdings, in denen er sich dezidierter äußert, vor allem eine Sammelrezension aus dem Jahre 1933 zum Thema "Rassenfragen im Schrifttum der Gegenwart" 32 . In der Rassen­theorie und Rassenpolitik, schreibt er, werden vorwiegend die anthropologi­schen (bzw. erbbiologischen, genetischen) Aspekte behandelt, viel zu wenig dagegen eine zweite, soziologische Problematik: "die Frage nach dem Ras­senbewußtsein, seiner Entstehung und seinen Auswirkungen, nach der Entste­hung von Rassen-Gegensätzen und -Konflikten" (S. 324). Insgesamt äußert Mühlmann sich zu den von ihm besprochenen Grundlagenwerken des NS­Rassismus durchaus affirmativ. Selbst wenn man berücksichtigt, daß Oppor­tunismus und vielleicht auch Zukunftsangst mitgespielt haben mögen, ist we­nig glaubwürdig, daß der Rezensent, wie er nach 1945 behauptete, dem NS­Rassismus von vornherein kritisch bis ablehnend gegenübergestanden habe (1947). Dieser Selbstdarstellung widerspricht auch seine Beteiligung als Refe­rent an einem von der Ortsgruppe Bremen der Deutschen Rassenhygienischen Gesellschaft im Frühjahr 1933 veranstalteten Vortragszyklus zum Thema

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"Von der Verhütung unwerten Lebens"". Als Repräsentant der Soziologie erörterte Mühlmann die Frage, ob bei Naturvölkern natürliche Auslese herr­sche, d.h. lebensunwertes Leben konsequent vernichtet werde. Das, so ver­sucht er mit vielen Beispielen zu belegen, sei nicht der Fall. Schon auf einem relativ niedrigen kulturellen Entwicklungsniveau, meint er, wird der "natürli­che" Ausleseprozeß durch Prozesse der sozialen Siebung durchkreuzt. Des­halb ist Rassenhygiene als Wissenschaft für Mühlmann angewandte Anthro­pologie und Soziologie34 • 1936 erschien dann Mühlmanns umfangreiche "Rassen- und Völkerkunde", der er eine "deutsche Aufgabe" zuwies: sie solle, schrieb er, dem "politisch verantwortlich fühlenden Deutschen" Orien­tierung geben und ihn insbesondere über die gravierenden Probleme "der Rassengegensätze in Kolonialländern, der sog. ,farbigen Gefahr" der rassi­schen Minderheiten, der Rassenmischung, der sozialen und kulturellen Rolle von Mischlingsschichten usw." informieren (1936, S. IV f.).

Mühlmanns Veröffentlichungen nach 1945 zeigen, daß er im wesentlichen an seinen früheren Forschungsinteressen und Thesen festhielt. Seine Fähig­keit, sich theoretischen Festlegungen zu entziehen, und seine Neigung, selbst Ansichten, z.B. zu Vererbungsfragen, die er für wissenschaftlich widerlegt betrachtete - wo ihm dies opportun schien -, noch für bedenkenswert oder interessant zu erklären, dürfte zu einer erfolgreichen Nachkriegskarriere bei­getragen haben. Zwar kritisierte er den NS-Rassismus, doch bezog sich diese Kritik - wie bei Schwidetzky - auf die "Rassenmythologie", nicht jedoch auf die Mitwirkung der Anthropologie an der organisierten Vernichtung "un­werten Lebens" (vgl. Sigrist/Kößler 1985, S. 89).

llse Schwidetzky

Die Anthropologin Ilse Schwidetzky, geboren 1907, ist hier in zweifacher Hin­sicht von besonderem Interesse: einmal als lehrende und unermüdlich publi­zierende "Traditionswahrerin" rassistischen Gedankengutes vom "Dritten Reich" bis in die Gegenwart. Ihre (Lehr-)Bücher dürften erheblich dazu bei­getragen haben, Studenten, die sich als Biologen, Mediziner etc. mit der na­turwissenschaftlichen Anthropologie beschäftigen, ein von Erb- und Rassede­terminanten geprägtes Bild vom Menschen nahezubringen. Schwidetzky steht aber auch für die von uns bereits mehrfach betonte Lehrer-Schüler-Konti­nuität. Wie sie selbst die Theorien ihres Lehrers Egon Freiherr von Eickstedt übernahm (und in Mainz auch dessen Lehrstuhlnachfolgerin wurde), hat sie wiederum "schulbildend" gewirkt. Dafür sei nur Rainer Knußmann, Ordina­rius für Anthropologie in Hamburg, genannt, der ganz in dieser geistigen Tra­dition forscht und lehrt, in einem weit verbreiteten Lehrbuch der Humanbio­logie z.B. die alten konstitutions- und rassenbiologischen Thesen mit modern­sten Erkenntnissen der Genetik zu verbinden versucht oder sich auf das (in der Soziologie längst vergessene) Konzept der "sozialen Siebung" (K. V. Müller) beruft (Knußmann 1980).

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Während sich Schwidetzky auf den Konferenzen zu Fragen der Rasse und der Vererbung relativ zurückhaltend äußerte, erörterte sie in den "Grundzü­gen der Völkerbiologie" (1950) unter dem Aspekt der "Wanderbiologie" die erbbiologischen Grundlagen des Kolonialismus. Im Anschluß an ein von ih­rem Lehrer Eickstedt entwickeltes Konzepes will sie zwei elementare Regeln der Verteilung von "progressiven" und "primitiven" Rassen über die Erde nach den Prozessen biologischer "Auslese" und sozialer "Siebung" (die oft aneinander gekoppelt sind)36 erklären. Die erste Regel lautet, "daß die Pro­gressiven die wirtschaftlichen Vorzugsgebiete innehaben, die intensivere Nut­zung und dichtere Bevölkerung gestatten, während die Primitiven in weniger ergiebigen, d.h. auch weniger begehrenswerten Räumen leben". Die zweite Regel besagt, die "Randlage der Primitiven" sei das Ergebnis von Verdrän­gungsprozessen. Und diese Verdrängung erreichte ihren Höhepunkt mit dem Kolonialismus. Diesen deutet sie als "Raumkampf', als Kampf der Starken gegen die Schwachen ("Primitiven"), in dem die Weißen erfolgreich die "Machtmittel ihrer höheren Zivilisation" eingesetzt hätten. Wer sich über da­mit einhergehende Grausamkeiten entrüste, lege schlichtweg falsche ethische Maßstäbe zugrunde (S. 30 ff.). Schwidetzky glaubt, daß sich der Kolonialis­mus auf einen "erbbedingten Wandertrieb" zurückführen läßt, der in unter­schiedlichen Konstitutionstypen von Bauern- und Hirtenvölkern zum Aus­druck komme (ebd., S. 36 ff.). Das, meint sie, müsse sich darüber hinaus in Unterschieden der Vitalität, der Intelligenz und des Charakters niederschla­gen (ebd., S. 62 ff.). Wenn sie nach Jahrzehnten intensivster Forschung auf diesem Gebiet schreibt, daß "die Wahrscheinlichkeit" für die Existenz seeli­scher Rassenunterschiede spreche, hier jedoch noch ein weites Feld zu bear­beiten sei (vgl. 1959, S. 145 ff.), so ist das, wie wir eingangs erörtert haben, eine für dieses Konzept ebenso typische Äußerung wie das Zukleistern dieser Erkenntnis mit soviel synkretistischem "Belegmaterial" für die Existenz psy­chischer und kultureller Rassenunterschiede, daß bei einem unbefangenen Le­ser der Eindruck entstehen muß, die Forschung stehe kurz vor dem entschei­denden Durchbruch.

In einer umfassenden Studie über die deutsche Anthropologie (Spiegel­Rösing / Schwidetzky 1982) beschreibt Schwidetzky u .a. deren institutionelle und theoretische Entwicklung. Zwar muß sie gewisse Beziehungen der An­thropologie zur NS-Rassenideologie einräumen, doch wehrt sie sich gegen eine Diskreditierung des Faches, nur weil einige Anthropologen - wie die Vertreter anderer Fächer - "der NS-Verführung erlagen" (S. 92 ff.). Der Na­tionalsozialismus habe sich ohnehin hauptsächlich auf Geschichtsphilosophen wie Gobineau, Schemann und Chamberlain gestützt; Hans F. K. Günther, von Haus aus Germanist, sei in der Anthropologie ein Außenseiter geblieben. Nach 1945 sei der Begriff "Rasse" - "unter dem Eindruck der verheerenden Folgen der NS-Rassenideologie" - gewissermaßen aus dem Sprachgebrauch verbannt worden. Sie selbst habe sich dieser Tabuierung allerdings wider­setzt, und neuerdings scheine es wieder gelockert zu werden. Allerdings sei

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mit der theoretischen Wendung zu Evolutionsfragen auch in Deutschland der alte, typologisierende Rassenbegriff in den Hintergrund getreten. Mit größter Selbstverständlichkeit werden von ihr Forschungsarbeiten und Publikationen, welche dem NS-Rassismus die wissenschaftlichen Grundlagen lieferten, als Beleg für die Produktivität und das hohe Niveau der deutschen Anthropologie angeführt und es wird ausdrücklich betont, daß sie z.T. immer noch nicht überholt seien. Statt "Maus und Schlange", womit Schwidetzky auf das nach ihrer Ansicht zu geringe Selbstbewußtsein der Anthropologie anspielt, hätte das Buch auch "Hase und Igel" heißen können, denn sie, ihr Lehrer Eick­stedt, ihr Schüler Knußmann und einige andere waren nach dieser Darstellung immer schon da, wo der anthropologische Forschungstrend sich hinbewegte.

Otmar Frh. von Verschuer

Verschuer (1896-1969) wurde 1933 Professor am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, 1935 Ordinarius und Di­rektor des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene in Frankfurt und ging 1942 als Nachfolger von Eugen Fischer nach Berlin zurück. Verschuer be­schäftigte sich vor allem mit der Zwillingsforschung; sein Doktorand Josef Mengele machte dazu (was Verschuer nach 1945 nicht gemerkt haben wollte!) in KZs die "praktischen Versuche,,37. Außerdem gab er die Zeitschrift "Der Erbarzt" heraus. Schon in den 30er Jahren repräsentierte Verschuer jene Richtung der Humangenetik, die sich dann nach 1945 völlig durchsetzte38 . Er war gläubiger Protestant und soll vor 1933 eher zu den "moderaten" Eugeni­kern gehört haben; in der Literatur wird er als Opportunist charakterisiert. Wie weit dieser "Opportunismus" ging, zeigt sich darin, daß er zum Fach­mann für Biologie in der "Forschungsabteilung Judenfrage" des Amtes Ro­senberg avancierte. Nach 1945 bewahrte ihn Kollegen-Solidarität davor, für das, was er getan hatte, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Statt dessen er­hielt er 1951 wieder ein Ordinariat in Münster, wo er bis 1965 lehrte39. Wie Eugen Fischer wurde Verschuer Ehrenmitglied der neu gegründeten Gesell­schaft für Anthropologie. Ganz im forschungspolitischen Trend, beschäftigte er sich nun mit den mutativen Folgen radioaktiver Strahlung und legte im Rah­men einer umfassenden genetischen Bestandsaufnahme 1950-61 ein geneti­sches Register für den Regierungsbezirk Münster an (vgl. Weingart u.a. 1988, S. 591). Ungeachtet einer christlich verbrämten Abkehr von radikalen rassen­hygienischen Postulaten, bekannte sich Verschuer noch in seinem Buch "Eu­genik" (1966) zu deren Prinzipien (vgl. Weingart u.a. 1988, S. 600 f.). Daß er seinen alten Ansichten treu geblieben war, zeigte sich schließlich auch in ei­nem Eugen Fischer zum 90. Geburtstag gewidmeten Aufsatz, in dem Ver­schuer 1964 über die Forschungsarbeiten am Kaiser-Wilhelm-Institut während der Zeit von 1927-1945 berichtet40 • Anthropologische Konzepte wie Rassen­kreuzung und -entstehung, die Genetik morphologischer und physiologischer Eigenschaften, erbpathologische Ansätze etc. schildert er, als hätte es die NS-

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Rassenpolitik nie gegeben. Und die als Legitimationsstrategie beliebte For­mulierung, "auf jede Wertung oder historische Würdigung" verzichten zu wollen, liefert auch ihm das Alibi, z.B. über die Zwillingsforschung im Ton wissenschaftlicher Objektivität - und selbstverständlich unter Auslassung so unwesentlicher Details wie der Grausamkeiten und Morde zu "experimentel­len" Zwecken - zu berichten. Dieser nicht untypische Beitrag zur Wissen­schaftsgeschichte schließt mit einer nostalgischen Reminiszenz an die "wahre Freiheit der Wissenschaft", wie sie damals am Institut geherrscht habe (vgl. Verschuer 1964, S. 161 f.).

Als Beispiel für die Unfähigkeit von Wissenschaftlern, ihre eigene politi­sche Verstrickung in die NS-Rassenpolitik zu begreifen, sei in diesem Zusam­menhang schließlich an das Vorhaben der UNESCO von 1949 erinnert, mit ei­ner Erklärung zum wissenschaftlichen Stand der Rassenforschung das "Ras­senvorurteil" zu beseitigen. Das stieß bei deutschen Genetikern und Anthropologen auf heftige Kritik. So wollte der Kieler Anthropologe Hans Weinert in seiner Stellungnahme zum ersten Entwurf zwar die Gleichheit aller Menschen "als Menschen" nicht abstreiten, fragte jedoch, welcher von den Herren, die die Deklaration unterschrieben haben, geneigt wäre, seine Toch­ter mit einem Buschmann, einem eingeborenen Australier o.ä. zu verheiraten. Auch Lenz hielt an der erblichen Bedingtheit von Rassenunterschieden fest. Denkmuster und Ethik waren offensichtlich über die Zäsur von 1945 hinaus gleich geblieben, nur die politischen Deklamationen wurden den neuen Ver­hältnissen angepaßt (vgl. Weingart u.a. 1988, S. 608 ff.). Die Soziologen bzw. die Soziologie bildeten da also keine Ausnahme.

Die Anfänge der Soziologie in der BRD

Wir wollen die anthropologisch-soziologischen Konferenzen im folgenden -skizzenhaft - in die damalige Situation der westdeutschen Soziologie einord­nen. Schon die Referate des Soziologentages, der 1946 - übrigens als erster sozialwissenschaftlicher Kongreß nach dem Krieg - in Bad Godesberg statt­fand, zeigen ein für die Wissenschaft insgesamt typisches Anknüpfen an die Vorkriegszeit. Fundamentale inhaltliche Kontroversen gab es offenbar nicht, und auch in den persönlichen Kontakten bemühte man sich um "Diskretion". So meinte Wiese 1946: "Um nicht ... alte Wunden aufzureißen, verzichte ich auf Schilderung der dramatisch betrübenden Geschehnisse jener Jahre" (1948, S. 3). Entsprechend findet man in dem umfangreichen Protokoll nur einen Hinweis auf die Notwendigkeit, sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinan­derzusetzen. 1949 versuchte sich der zunächst an der "Selbstgleichschaltung" der Kölner Universität maßgeblich beteiligte, später jedoch als ehemaliges Zentrums-Mitglied von den Nationalsozialisten amtsenthobene Christian Eckert41 mit seinen einleitenden Bemerkungen zum zweiten Tag der

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"anthropologisch-soziologischen Konferenzen" an einer Deutung der jüng­sten Vergangenheit: "Es ist müßig", meinte er, "immer davon zu sprechen, der Deutsche sei nicht schuld, die anderen seien Schuld. Wer mit uns, mit dem damaligen Führer ein Flottenabkommen geschlossen hat, ist genau so schul­dig oder unschuldig wie wir armen Würmer, die höchstens heute unsere Stei­lung verloren haben, die einmal verhaftet worden sind oder aber mitgelaufen sind, ohne zu wissen und zu wollen, wohin die Reise geht." Und diese nebu­löse Bilanz endete mit dem Appell, optimistisch zu sein, sich durchzusetzen "und damit allmählich aus dem tiefen Elend, in das wir hineingeführt worden sind, voranzukommen" (Protokoll 1949, S. 38 f. - DGS).

Der Verdrängung der eigenen Fachgeschichte entsprechen die nicht eben zahlreichen Versuche von Soziologen, die NS-Vergangenheit zu "bewältigen" - ohne sich konkret mit ihr auseinanderzusetzen. In der Kölner Zeitschrift bzw. auf Soziologentagen wurde der Nationalsozialismus selten ausführlich thematisiert. Nimmt man jedoch Äußerungen aus anderen Kontexten hinzu, lassen sich gewisse charakteristische Beschreibungs- und Bewertungsmuster feststellen: Des öfteren wird die Chance der Nationalsozialisten, an die Macht zu gelangen, letztendlich aus der Schwäche und dem Versagen der Demokra­tie begründet - und zwar nicht etwa aus deren unzulänglicher Realisierung in der Weimarer Republik, sondern aus einem "Übermaß" an Demokratie. So sah Wiese im Fehlen einer Elite ein entscheidendes Defizit. Es gab keine Füh­rer, meinte er, die die Massen hätten leiten können, keine "Persönlichkeiten", um Hitler entgegenzutreten. Oft wurden Nationalsozialismus und Sozialis­mus als "totalitäre Systeme" gleichgesetzt, der Nationalsozialismus sogar als aus der Opposition gegen den Kommunismus entstanden erklärt (Kraft 1950/51), wobei Kraft sogar soweit ging, die Judenverfolgung aus der kom­munistischen Verfemung "des Kapitalisten" zu deuten. Etliche Beispiele fin­den sich für eine Differenzierung zwischen "guten" und "schlechten" Ele­menten im Nationalsozialismus bzw. verbrecherischer Minderheit und "an­ständigen Nationalsozialisten" (vgl. Joachim Ranke, Ernst-Günter Geyl, Heinrich Herrfahrdt; vgl. dazu Weyer 1984, S. 111 ff.). Doch auch wo der Na­tionalsozialismus ohne Wenn und Aber verurteilt zu werden schien, geschah das oft mit vieldeutigen Leerformeln oder wolkigen Umschreibungen. So ver­glich Wiese den Nationalsozialismus mit der Pest, die über die Deutschen ge­kommen sei, oder nannte den Faschismus eine "politische Tyrannis". Schließ­lich wurde die "Schuld" an den NS-Verbrechen oft Hitler persönlich zuge­schrieben: Wiese sprach von Hitlers "Machtsucht", Ranke von "Machtrausch". Solche Argumentationsmuster waren zwar in den ersten Nachkriegsjahren weit verbreitet, aber als soziologische Deutungskonzepte sind sie völlig unbrauchbar.

Die Lage der Soziologie sah Wiese Anfang der 50er Jahre in einem zwie­spältigen Licht: einerseits werde das Fach offensichtlich für wichtig und nütz­lich gehalten - "Soziologen an die Front!" -, andererseits verwandele es sich "mit beängstigender Geschwindigkeit" in Statistik und Verwaltungs-

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lehre. Dezidiert gegen eine Amerikanisierung der deutschen Soziologie wandte Wiese sich dann 1954 in seiner Eröffnungsansprache zur dritten anthropologisch-soziologischen Konferenz (1953/54, S. 353-359). Das än­derte sich Mitte der 50er Jahre, sichtbar vor allem durch die Zäsur als Rene König Herausgeber der "Kölner Zeitschrift für Soziologie" wurde. In einer programmatischen Einleitung zum 7. Jahrgang (König 1955) sagte er, daß die deutsche Soziologie sich nun von "Leistungen und Leitideen" der 20er Jahre trennen, sich neuen Theoriekonzepten öffnen und sich zur Bewältigung der aktuellen Probleme der Methoden der empirischen Sozialforschung bedienen müsse. Die Stimmung in der deutschen Soziologie während der Zeit von 1945 bis 1950 wurde von Christoph Cobet (1988) so skizziert: Die ja überwiegend selbst zur "alt-neuen Elite" gehörenden Soziologen verzichteten auf Fragen und Projekte, die zu disziplininternen, zu gesellschaftlichen oder politischen Konflikten hätten führen können. Mit fast missionarischem Eifer machten sie sich statt dessen an die Bewältigung der großen Zukunftsaufgaben, z.B. bei der sozialverträglichen Gestaltung der "Friedenswirtschaft", beim Wieder­aufbau der Städte und bei der Eingliederung der Flüchtlinge. Was dazu ge­führt hatte, daß Millionen "Heimatvertriebene" in Westdeutschland sozial in­tegriert werden mußten, war allerdings kein Forschungsgegenstand.

Die von den Nationalsozialisten verfolgten und vertriebenen Soziologen be­fanden sich zu dieser Zeit - sofern sie noch lebten - fast alle im Exil. Es wa­ren zwar nicht gerade die exponiertesten NS-Soziologen (wie Karl-Heinz Pfeffer oder Reinhard Höhn), die den institutionellen Neubeginn prägten, aber starke Affinitäten (z.B. Hans Lorenz Stoltenberg) waren offenbar ein ge­ringeres Hindernis als eine "linke" politische Einstellung. Als der Philosoph Jürgen von Kempski, Teilnehmer an den beiden ersten Konferenzen, Wiese im April 1946 auf Adolf Günthers "unverhülltes Bekenntnis zum Antisemitismus und Nationalsozialismus" hinwies, scheint Wiese das eher lästig gewesen zu sein. Günthers Aufnahme in die DGS (auf Vorschlag Mühlmanns) stand seine Rassen-Soziologie jedenfalls nicht entgegen42 . Auch Karl Valentin Müller fand 1949, begünstigt durch das Klima des Kalten Krieges (und ebenfalls auf Vorschlag Mühlmanns) Aufnahme; wenn auch nicht in der DGS, brachte er es doch als Präsident des IIS zu hohen und angesehenen Funktionen. Hans Fre­yer, Arnold Gehlen, Carl August Emge u.a. waren Referenten der ersten Nachkriegs-Soziologentage. Kritik an der Strategie Wieses, die Soziologie möglichst rasch wieder institutionell zu verankern bzw. die Auseinanderset­zung mit dem "Dritten Reich" abzublocken, gab es nur vereinzelt, z.B. von Horkheimer, Adorno und Maus.

Wie in anderen Wissenschaften, in der Medizin, in der Justiz, in den Me­dien, in der Verwaltung, in der Politik etc. eroberten auch in der Soziologie die etablierten "Führungskräfte" - sofern sie nicht allzu sehr in die NS­Verbrechen verstrickt waren - nach 1945 rasch wieder "angemessene" Posi­tionen. Soweit vertriebene Soziologen überhaupt nach Westdeutschland zu­rückkehrten, geschah das mit wenigen Ausnahmen erst ab Ende der 40er

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Jahre. Dieses Abwarten erklärt sich aus der recht unsicheren politischen und ökonomischen Lage unmittelbar nach dem Krieg, vor allem aber wohl aus der Tatsache, daß man ihnen hier nicht gerade einen roten Teppich ausrollte. Zum Zeitpunkt ihrer Rückkehr waren dann die inner- und außeruniversitäten Struk­turen des Wissenschaftsbetriebs längst wieder verfestigt, neue "Beziehungs­systerne" etabliert, Positionen neu verteilt. Zwar wurden einige "Heimkeh­rer" zu Rektoren oder Dekanen ernannt und dienten auch sonst in mancherlei Weise als demokratische Aushängeschilder, doch wurde ihnen die Flucht vor den Nationalsozialisten oft noch nachträglich als Verrat angelastet, mehr noch ihre Zusammenarbeit mit den Allierten im Krieg. Das ist zu bedenken. wenn man heute über die unkritischen, zuweilen anbiedernd wirkenden Verhaltens­weisen von Remigranten urteilt43 • Max Horkheimer äußerte sich anfangs (er war damals noch in den USA) skeptisch über die Wiederbegründung der So­ziologie, so daß Wiese sich veranlaßt sah, ihm zu versichern. die DGS solle kein "Hort der Pflege von Rassenvorurteilen" werden (Brief vom 31.12.1947 - DGS). Das überzeugte Horkheimer offensichtlich, und schon bald ent­wickelte sich zwischen ihnen - wie auch zwischen Adorno und Wiese - ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Mit "Sachzwängen" oder pragmati­schen Erwägungen allein läßt sich dieses zunächst doch recht überraschende herzliche Einvernehmen, wie es Z.B. in der Korrespondenz zum Ausdruck kommt (vgl. DGS-Akten), nach unserer Auffassung nicht erklären. Darüber hinaus dürfte "die Kohärenz des bildungsbürgerlichen Milieus" die Kommu­nikation und Kooperation ungeachtet aller wissenschaftlichen und politischen Kontroversen erheblich gefördert haben (Neumann 1988, S. 117).

Insgesamt gelang die Konstruktion eines Mythos von der "Stunde Null" so perfekt, daß z. B. Harry Pross noch 1982 bemerkte, die wenigen Soziologie­professoren, denen wir den Neubeginn verdanken, hätten sich während der NS-Zeit "quergelegt" und insofern "politisch reine Westen" gehabt44 . Sozio­logen die sich so stark mit dem Nationalsozialismus eingelassen hatten, daß sie als offizielle Repräsentanten in der DGS - einstweilen - untragbar schie­nen (Gehlen, Freyer, Müller etc.) versuchten nach dem Krieg, sich durch das Institut International de Sociologie (IIS) eine organisatorische Basis zu ver­schaffen, was zu immer wieder aufflackernden Konflikten führte, Ende der 50er Jahre im "Bürgerkrieg in der Soziologie" (Gunther Ipsen) eskalierend45 • Bei diesen Streitigkeiten spielten allerdings inhaltliche Fragen kaum eine Rolle, vielmehr ging es um persönliche und instititutionelle Rivali­täten, um Macht und um Repräsentation "der" bundesdeutschen Soziologie. Es wäre auch falsch, das IIS als Organisation der rechten, NS-belasteten So­ziologen und die DGS als "fortschrittlich" zu sehen. Soziologen, die eine de­zidiert antifaschistische Position vertraten (z.B. König) oder "links" waren, bildeten auch in der DGS eine Minderheit. Sie scheinen einer offensiven Aus­einandersetzung eher aus dem Weg gegangen zu sein, was bei König vermut­lich auch mit dem Bestreben zusammenhing, eine Spaltung (wie sie durch die Konflikte mit dem IIS drohten) zu vermeiden.

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Auch in der soziologischen Theorie bedeutete der Zusammenbruch des ,.Dritten Reiches" keineswegs die tiefgreifende Zäsur, die man rückblickend vermuten könnte. Wie die Themen der Soziologentage und der anthropolo­gisch-soziologischen Konferenzen oder die Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre veröffentlichte soziologische Literatur zeigen46 , knüpfte man weit­gehend an Probleme und Thesen der Weimarer Zeit an. Doch ebenso konnte die im .,Dritten Reich" betriebene Soziologie offenbar problemlos fortgesetzt werden. Einen guten Eindruck über die Lage des Faches vermitteln Beiträge und Rezensionen der ab 1949 (wieder) erscheinenden "Kölner Zeitschrift für Soziologie": Während sich in den Aufsätzen keine Relikte völkisch-rassisti­schen Gedankenguts finden, gibt es einige wenige Rezensionen, von denen man kaum glauben kann, daß sie nach 1945 verfaßt wurden. So wird Wilhelm Hartnackes "Geistige Begabung, Aufstieg und Sozialgefüge" (1950) mit der Bemerkung vorgestellt, daß der Autor sich "seit Jahrzehnten ... volksbiologi­schen Fragen nach Bestand. Herkommen und Förderung der schöpferischen Intelligenz in unserem Volke" gewidmet habe. Hartnacke, sächsischer Kultus­minister a. D., hatte seine These von der Anlagebedingtheit der Intelligenz in unzähligen Varianten zu Publikationen verarbeitet und damit nicht nur bei Na­tionalsozialisten Beifall gefunden. In der jungen Bundesrepublik lieferte er da­mit willkommene Argumentationshilfe gegen den vom "klassenkämpferi­schen Ressentiment" genährten Vorwurf, daß zu wenige Arbeiterkinder hö­here Schulen besuchen würden. Auch die Rezensentin der Kölner Zeitschrift schließt sich seiner Auffassung an (Hartnacke 1950/51). Der Nachweis des Vorranges von Erbprägungen gegenüber Umwelteinflüssen war seit den 20er Jahren auch das Anliegen Karl Valentin Müllers. Mit seiner biologisch be­gründeten "Widerlegung" der Klassentheorie stand er, wie erwähnt, der Ras­senhygiene nahe (vgl. Just 1932). Doch schon Ende der 40er Jahre konnte er mit enormen öffentlichen Forschungmitteln seine Arbeiten wieder aufneh­men. 1951 wurde seine Broschüre "Die Begabung in der sozialen Wirklich­keit" in der KZfS rezensiert (Müller 1950/51). Und auch ihm wird, ähnlich wie Hartnacke, darin zugestimmt, daß die Sozialsiebung nach anlagemäßigen Fähigkeiten stärker wirksam ist als die milieubedingte Sozialprägung.

1952 rezensierte Wilhelm E. Mühlmann in der "Kölner Zeitschrift für So­ziologie" Hans F. K. Günthers "Formen und Urgeschichte der Ehe" (Günther 1952/53). Daß einer der führenden NS-Rassentheoretiker weiterhin publi­zierte, war für Mühlmann offenbar ganz selbstverständlich. Immerhin, kom­mentierte er zustimmend, trete das "Ideologische ... in diesem Buche ... er­freulich zurück". Hinsichtlich der von Günther nach wie vor propagierten Zucht-Ideen meinte Mühlmann allerdings skeptisch: "Leider hat aber die po­litische Praxis einer staatlich gelenkten ,Eugenik' in Deutschland gezeigt, daß solche wohlgemeinten Programme dialektisch ins Gegenteil ausschlagen kön­nen '" Man kann heute über die Dinge nicht mehr schreiben, ohne die Erfah­rungstatsache zu berücksichtigen, daß selbst sehr idealistische ,eugenische' Forderungen - und gerade solche - zu kollektiven Verbrechen von Seiten

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kleiner Minderheiten mißbraucht worden sind. Es ist ein Spiel mit dem Feuer, und es dürfte sich daher noch auf lange Zeit hinaus empfehlen, die Hände von solchen ,eugenischen' Programmen zu lassen." In einer anderen Rezension bezeichnete Mühlmann Ilse Schwidetzkys oben bereits erwähnte "Grundzüge der Völkerbiologie" (1950/51) als "das beste Elementarlehrbuch der Sozial­anthropologie, das wir zur Zeit haben", ja ein Werk, welches Max Webers 1910 gegenüber Ploetz geäußerte Skepsis hinsichtlich der "Möglichkeiten ei­ner Sozialbiologie" widerlegen könnte. Vor allem lobte er Schwidetzkys nüchternen Stil. Es sei "nicht zu befürchten, mit verschwommenem und schwülstigem ,Biologismus' und ,Rassismus' behelligt zu werden, wie dies in den vergangenen Jahren manchmal der Fall war,,47.

Das mag genügen, um auch am Beispiel der wichtigsten soziologischen Fachzeitschrift zu zeigen, daß die Haltung "der Soziologie" gegenüber rassen- und erbbiologischen Thesen nicht einmal nach 1945 so ablehnend ge­wesen ist, wie viele es bis heute gerne sehen möchten. Die interdisziplinäre Kooperation mit NS-Rassenanthropologen, wie sie auf den anthropologisch­soziologischen Konferenzen stattfand, läßt sich daher unseres Erachtens nicht als Randerscheinung oder Entgleisung abtun. Und nicht aufgrund fach inter­ner Kritik und Widerlegung, sondern offensichtlich erst mit der Emeritierung oder dem Tode ihrer Repräsentanten verschwanden solche Ideen dann im Laufe der Jahre aus der akademischen Soziologie48 . Dieses Ausbleiben einer kritischen Auseinandersetzung und Aufarbeitung ist nicht nur von disziplinge­schichtlichem Interesse. Zum einen glauben wir, daß nach wie vor Vorstellun­gen über die Prägekraft von Erbgut und Rasse auf Charakter, Intelligenz, so­ziale Stellung, Gesellschaftsstrukturen und Kultur weit verbreitet sind und in einem spezifischen gesellschaftlichen Klima wieder politisch relevant werden könnten. Dem muß die Soziologie durch historische Analyse und Aufklärung entgegenwirken. Zum anderen sehen wir, wie sich Naturwissenschaftler heute anmaßen, auch die sozialen Konsequenzen ihrer Forschungsarbeiten zu beurteilen. Ebenso finden sich in der aktuellen medizinisch-anthropologi­schen Fachliteratur durchgängig erbbiologisch fundierte Erklärungsmodelle des Gesellschaftlichen. Das muß die Soziologie ernst nehmen und entspre­chende Theorien und Forschungsmethoden entwickeln, sofern sie, etwa in Fragen gentechnologischer Forschung, nicht weiterhin im Abseits stehen blei­ben will.

Anmerkungen

Dieser Aufsatz basiert auf einem in der Ad-Hoc-Gruppe Philosophische Anthropo­logie in den Sozialwissenschaften auf dem ,,24. Deutschen Soziologentag" in Zü­rich im Oktober 1988 gehaltenen Vortrag. Für Anregungen, Kritik und Unterstüt­zung unserer Arbeit danken wir Karl-Siegbert Rehberg (Aachen), M. Rainer Lep­sius (Heidelberg/ Florenz), Anton Sterbling (Hamburg), Carsten Klingemann

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(Osnabrück), außerdem Ursula Rossi (Mannheim) für ihre Hilfe bei der Auswer­tung von DGS-Akten. Briefe und Dokumente aus den Aktenbeständen der Deutschen Gesellschaft für So­ziologie sind mit DGS gekennzeichnet.

2 Vgl. Dahrendorf 1965, S. 114 f. DaH Hans Freyer, Kar!-Heinz Pfeffer, Kar! Valent in Müller und andere im "Dritten Reich" als Soziologen weiterarbeiten konnten, manche durchaus Karriere machten, betrachtet Dahrendorf als Verirrungen, er­klärbar aus einer besonderen Utopie-Anfalligkeit von Soziologen.

3 Vgl. z.B. Bergmann u.a. 1981, Klingemann 1985a/b und 1986a/b, die von Lepsius 1981, Lüschen 1979 und Papcke 1986 herausgegebenen Sammelbände sowie Rammstedt 1986. Zur Geschichte der Wissenschaften im Dritten Reich allgemein vgl. Lundgreen 1985.

4 Vgl. Lepsius 1979; er spricht von einer "Gründergeneration", die diese Phase prägte (S. 36), ähnlich äußert sich Joachim Matthes (1972, S. 223); vgl. des weite­ren Kar! Martin Bolte 1976 und Johannes Weyer 1984. In den meisten soziologiege­schichtlichen Darstellungen wird die zunehmende Bedeutung der (aus den USA importierten) empirischen Forschung hervorgehoben, wenngleich Theoretiker wie Alfred Weber oder Leopold von Wiese organisatorisch den Neuanfang bestimmt hätten. Vgl. dazu z.B. Schelsky 1979 und 1981, Weyer 1986, Adorno 1952, Neuloh 1978 und Tenbruck 1979.

5 Daß das Skandalöse dieser Kooperation selbst von Zeitgenossen, die den Neube­ginn der Soziologie aus kritischer Distanz verfolgten, nicht öffentlich gemacht, ja wohl nicht einmal erkannt wurde, zeigt ein Bericht von Dolf Sternberger: Im Okto­ber 1949 von der Amerikanischen Kongreßbibliothek zum ausländischen Berater für Sozialwissenschaften in der Bundesrepublik Deutschland ernannt, verfaßte er einen Überblick über die damalige Lage der deutschen Soziologie. Zu den Bezie­hungen zwischen Soziologie und Anthropologie schreibt er, daß es (anders als in den USA) zwischen beiden Disziplinen kaum Berührungen gebe, weil die Anthro­pologie in Deutschland ein naturwissenschaftliches Fach sei. Zwar erwähnt er die "Anthropologisch-soziologische Konferenz" 1949 als einen Schritt zur Koopera­tion und Integration, doch schätzt er deren Bedeutung gering ein, da an dieser Ta­gung nur ein Vertreter der Anthropologie teilgenommen habe, nämlich Wilhelm Emil Mühlmann (Sternberger 1950, S. 3 f.). Daß es sich um eine maßgeblich von Rassenanthropologen mitinitierte und zur Neuetablierung genutzte Veranstaltung handelte, war ihm offenbar entgangen.

6 Zu den wechselseitigen Einflußbeziehungen und Gegnerschaften gibt es bisher erst Ansätze zu einer systematischen Aufarbeitung, und diese beziehen sich auf die Zeit vor 1945 (vgl. Klingemann 1987).

7 Baur/Fischer/Lenz, Bd. 2, 1936, S. 713; zu Lenz vgl. Lüth 1965 und Müller-Hili 1984, bes. S. 121 ff.

8 Bedauerlicherweise erwähnen Weingart u.a. diese Studie zwar, diskutieren sie aber nicht.

9 Zimmer stützt seine zugleich schwerwiegende und banale These auf die Folgeer­scheinungen der Hyperurikämie, einer seltenen schweren Stoffwechsel störung.

10 Dabei scheint ihm allerdings die Tatsache, daß Dünne zu- und Dicke relativ rasch abnehmen können ebenso entgangen zu sein wie die sozialen Konotationen von "dumm" und "klug". Was derartige Kurzschlüsse für fatale Konsequenzen haben können, zeigte sich vor einigen Jahren, als behauptet wurde, eine bestimmte Chro-

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mosomenanomalie wirke sich "kriminogen" aus. Wenn das damals medienge­recht vermarktete "Mörderchromosom" auch mittlerweile unter Kuriosa abge­legt wurde, hält das die nach biologischen Ursachen des Verhaltens forschenden Wissenschaftler offenbar nicht davon ab, weiterhin solche Thesen zu produzie­ren.

11 Vgl. Beck 1988, der dieses Problem unter der Überschrift "Die Modernisierung der Barbarei" erörtert. Während Beck davon ausgeht, daß die "soziale Horrorfrüh­form einer gesamtgesellschaftlichen Eugenik" überwunden sei und wir es heute "nur noch" mit einer "technologischen Eugenik" zu tun hätten (was sie für Beck allerdings nicht weniger gefährlich macht, vgl. bes. S. 53 f.), sehen wir im Men­schenbild und Gesellschaftsverständnis derer, die als Theoretiker, medizinische Praktiker oder politisch Verantwortliche an der Durchsetzung einer "abstrakten Reagenzglas-Eugenik" mitwirken, durchaus eine Tradierung anthropologischer und sozialer Vorstellungen aus den "klassischen" Rassentheorien, z.B. in der "Biologisierung" sozialer Probleme, in den Kosten-Nutzen-Berechnungen, in dem auch von Beck erwähnten "leisen Zwang zum perfekten Kind", aber auch in Kon­zepten zur weltweiten Kontrolle des Bevölkerungswachstums etc.

12 Parallel dazu gab es mit der Philosophischen Anthropologie einen weiteren Ansatz, philosophische, soziologische und naturwissenschaftlich-anthropologische Er­kenntnisse zu integrieren. Hier wurde an ein Konzept angeknüpft, zu dem grundle­gende Arbeiten von Max Scheler (gestorben 1928) und Helmuth Plessner (von den Nazis ins Exil vertrieben) bereits Ende der 20er Jahre verfaßt worden waren. Ar­nold Gehlen, dessen anthropologisches Hauptwerk "Der Mensch" 1940 in erster Auflage erschienen war, wurde neben Plessner wichtigster Nachkriegs-Repräsen­tant dieser Richtung. Gehlen nahm auch an den anthropologisch-soziologischen Konferenzen teil und rezipierte zustimmend die hier vertretenen Ideen (zum Ver­hältnis von Philosophischer Anthropologie und Soziologie vgl. bes. Rehberg 1981).

13 Wilhelm Emil Mühlmann war an der Vorbereitung und Durchführung maßgeblich beteiligt, auf seiten der Rassenanthropologen bei den ersten beiden Konferenzen auch Egon Frh. von Eickstedt. Obwohl dieser ein anderes Anthropologie-Konzept vertrat als Mühlmann und Wiese, kam man offenbar gut miteinander aus (vgl. Kor­respondenz Eickstedt-Wiese, Januar bis Juli 1949 - DGS [zu DGS vgl. Anm. 1».

14 Daß die die dritte Konferenz mit dem Soziologentag zusammengelegt wurde, hatte nur pragmatische Gründe. Ursprünglich war sie für Oktober 1953 geplant, aber zu viele Interessenten waren zu dieser Zeit verreist (Brief von Wiese an Roderich von Ungern-Sternberg vom 11.3.1954 - DGS).

15 Vgl. besonders die Referate von Heinrich Schulte, Ludwig Heyde und Michael Schmaus sowie der Diskussionsbeitrag von Max Brunner (Protokoll 1949, S. 61 -DGS). Eine Ausnahme bildete das Referat von Alexander Mitscherlich, der die "Vermassung" mit der Anonymisierung und Vereinsamung durch moderne Pro­duktionsmethoden in Zusammenhang brachte und das Bedürfnis nach einem "Füh­rer" als Regressionssymptom diagnostizierte. Er forderte abschließend dazu auf, ein geistiges Klima zu schaffen, in dem eine umfassende Persönlichkeitsentwick­lung möglich ist. Auch Maus gab zu bedenken, daß es sich bei der "Vermassung" womöglich nur um ein Schlagwort handele (ebd., S. 11).

16 Daß beide Themenkomplexe durchaus in Verbindung zueinander gesehen wurden, zeigt ein Diskussionsbeitrag Hans Freyers: das Problem sei von der älteren Mas­senpsychologie nicht beantwortet worden, sondern "nun eigentlich erst von uns aus

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zu stellen ... , im Rassengebiet, in Sozialformen, die auf Masse hinführen" (Proto­koll 1949, S. 55 - DGS).

17 Specht fal~te das umfangreiche Wortprotokoll (Protokoll 1949 - DGS) für die Ver­öffentlichung zusammen (Synthetische Anthropologie 1950). Auch das Wortproto­koll der Diskussion liefert keine Anhaltspunkte für tiefergehende Kontroversen.

18 Ähnlich meint Ernst Wilhelm Müller 1949, die Ausführungen seines Lehrers Mühlmann dahingehend "klarstellen" zu müssen, daß die Sozial anthropologie durchaus etwas "bezüglich der Bedeutung für die Erbangelegenheit, für das Schicksal und die Gestaltung sozialer Gruppen" zu sagen habe, wobei er besonders auf Begabungsuntersuchungen verweist (Protokoll 1949, S. 14 ff. - DGS). Wenn Mühlmann vor einer "theoretischen Zuspitzung auf die Erbanlagen" warnt (ebd., S. 17), ist das nicht als prinzipielle Ablehnung zu verstehen. Vielmehr gründet sich sein Einwand letztlich nur darauf. daß dies kein Problem der Sozialanthropologie sei.

19 Auf der ersten Konferenz referierten u.a. Heinrich Schulte, Michael Schmaus und Hans Freyer, doch auch Alexander Mitscherlich. Und Georg lahn schlug Wiese vor, den nach England emigrierten Soziologen Friedrich Hertz einzuladen, einen der engagiertesten wissenschaftlichen Rassismus-Kritiker (Brief von Georg lahn an Wiese vom 11. 7. 1949 - DGS). Zur zweiten Konferenz wurden sowohl der "Rassenseelenkundler" Friedrich Keiter als auch der gerade aus dem Exil nach Deutschland zurückgekehrte Religionsphilosoph Hans-loachim Schoeps als Refe­renten von Mühlmann vorgeschlagen. Der später als Experte für den Einsatz von Lügendetektoren bekannt gewordene Psychologe Udo Undeutsch kam über Vermittlung von Mühlmann durch Alfred Wellek zu seiner Einladung (Briefe Mühlmann an Wiese vom I. 2. und 14. 3. 1951 - DGS).

20 Emge, Vordenker einer nationalsozialistischen Rechtsphilosophie, wurde übrigens schon 1947 gebeten, Mitglied der DGS zu werden (Brief Wiese an Emge vom 3. 7. 1950 - DGS).

21 Lenz' Rechtfertigung seiner Aktivitäten im "Dritten Reich" sind typisch für das "pathologisch gute Gewissen" der meisten deutschen Wissenschaftler in ähnlicher Lage. So führte er an, nur unter Druck 1937 in die NSDAP eingetreten zu sein. Er sei gegenüber dem Nationalsozialismus immer kritisch und skeptisch gewesen und habe stets als unzuverlässig gegolten. Auch die gängige Berufung auf jüdische Ent­lastungszeugen fehlt nicht (vgl. Weingart u.a. 1988, S. 566). Vgl. zur Entnazifizie­rung auch den Beitrag von Carsten Klingemann im vorliegenden Band.

22 In der offiziellen Chronik der Universität Köln, in der es auch um die Beziehungen Kölner Universitätslehrer zum Nationalsozialismus geht, wird der 1940 nach Köln berufene Rassow als "gemäßigter NS-Gegner" charakterisiert, der "im Unter­schied zu vielen seiner Kollegen eine Korrumpierung durch die neuen Herrscher vermieden" habe. GoIczewski erwähnt seine Solidarität mit jüdischen Kollegen und betont, daß er sich nach 1945 "als einer der am wenigsten kompromittierten Hochschullehrer" um die Rückberufung jüdischer Kollegen verdient gemacht und "gegen die Wiederzulassung eindeutiger Nationalsozialisten" protestiert habe. Er habe dadurch "das integre Image der Kölner Universität" gepflegt (GoIczewski 1988, S. 350). Das steht in auffälligem Widerspruch zu Rassows Rede anläßlich der "Feier des Tages der nationalen Erhebung" am 29. I. 1942 zum Thema "Epochen neuzeitlicher Kriegsführung": Nach einer den "Reden des Führers" mit "tiefster innerer Bewegung" folgenden Geschichtsanalyse aus der Sicht der "Kriegskunst"

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schließt er mit den Worten: Wir wollen "in den vergangenen Epochen die erhabe­nen Vorbilder jener Tugend suchen, die über alle Zeit. über alle Epochen hinaus die oberste Kriegertugend ist, die Vorbilder des kriegerischen Mutes, der ein zwei­facher Mut ist: der Mut zum Tode. der Mut zum Leiden, und in beiderlei Gestalt. der Mut zur Überwindung des Gegners, zum Siege" (S. 21).

23 Vgl. Kürschner 1941; Schulte, der bis 1945 Leiter der Psychiatrie der Inneren Mis­sion bei Berlin war, übernahm nach 1945 die Leitung der Städtischen Nervenklinik Bremen. Er war einer der wenigen, die - wenn auch eher beiläufig und verklausu­liert - in ihren Referaten auf das "Dritte Reich" Bezug nahmen. Tiefenpsychologi­sche Erklärungen, wie sie besonders im Ausland bei Diskussionen über das jüngste geschichtliche "Riesenexperiment" in den Vordergrund gestellt würden - offen­sichtlich eine Anspielung auf die Studien zur autoritären Persönlichkeit -, weist er zurück. Statt dessen erkennt er als die letztlich am Nationalsozialismus Schuldigen die berufstätigen, in ihren Instinkten verunsicherten Mütter. Sie hätten durch Ver­weigerung von "Nestwärme" die seelischen Grundlagen der Vermassung zu verantworten.

24 Kuhn sei hier auch als Beispiel erstens für die wesentlich über persönliche Bezie­hungen erfolgte Rekrutierung von Teilnehmern und Referenten der anthropologisch-soziologischen Konferenzen und zweitens für das interdiszipli­näre "Protektions" -Geflecht genannt: Kuhn wurde auf Empfehlung Eickstedts, der ihn aus Breslau kannte, eingeladen (Brief von Eickstedt an Wiese vom Tl. 7. 1949 - DGS). Außerdem setzte Peter Rassow sich für ihn mit dem Hinweis ein, daß Kuhn "in Hamburg sehr elend mit einem Lehrauftrag" lebe und dabei sei, ein Buch über das Individuum als "Träger des Volksgutes" zu schreiben (Brief von Rassow an Wiese vom 24.7. 1949 - DGS). Dieses Engagement hatte offensichtlich Erfolg: 1954 erhielt Kuhn eine Professur an der Universität Hamburg (vgl. Kürschner 1961).

25 Wenn der amerikanische Wiese-Schüler Howard Becker 1956 in einer Festschrift zu dessen 80. Geburtstag schreibt, daß die Kölner Vierteljahrshefte von den Nazis verboten wurden, handelt es sich eindeutig um eine Fehleinschätzung. Überhaupt scheint uns Becker in seiner Würdigung wenig an biographischer und historischer Detailtreue interessiert gewesen zu sein.

26 Der Nichtakademiker Börger, dem an der Kölner Universität ein "Institut für Deut­schen Sozialismus" eingerichtet worden war, griff in diesen Konflikt zugunsten Wieses ein - wie insgesamt die Beziehungen nicht schlecht gewesen zu sein schei­nen (vgl. Klingemann 1988, S. 89). Überhaupt waren solche Attacken damals an der Tagesordnung und besagen, für sich allein genommen, wenig über die politi­sche Haltung des Angegriffenen, seine Position im Beziehungsgeflecht der NS­Institutionen etc. Wie aus den Akten des Universitätsarchivs Leipzig hervorgeht, wurde z.B. auch Freyers ideologische Zuverlässigkeit aufgrund eines am 31. 12. 1936 im Stuttgarter Neuen Tagblatt erschienenen Beitrages "Das Land Utopia!" aus Parteikreisen und aus der Studentenschaft in Zweifel gezogen (vgl. u.a. Schrei­ben des Stuttgarter Neuen Tagblattes v. 24. 3. 1937 an den Dekan der Philosophi­schen Fakultät der Universität Leipzig; vgl. weiter einen sehr negativ ausfallenden "Bericht" über Freyers Gesinnung aus dem Jahre 1935, der sich Bundesarchiv Ko­blenz befindet (NS 15/202) und ausführlich zu Freyer den Beitrag von Gerhard Schäfer in diesem Band). Selbst unter Rassentheoretikern (von denen jeder sich als Repräsentant der wahren NS-Weltanschauung verstand), tobten erbitterte Kämpfe

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um Anerkennung und Macht. Fischer, Verschuer und Eickstedt, also drei der füh­renden NS-Rassenanthropologen. waren einander in tiefer Feindschaft verbunden (vgl. Spiegel-Rösing/Schwidetzky 1982. S. 15 f. u. 92); auch zwischen Wilhelm Hartnacke und Ernst Krieck wurde um 1937 öffentlich höchst polemisch und de­nunziatorisch ein Konflikt über anthropologische Grundsatzfragen ausgetragen (vgl. Hartnacke 1937 und Akten des Bundesarchivs Koblenz NS 15 Nr. 239 und 290). Zahllose weitere Beispiele ließen sich anführen.

27 .. Doch sollte überhaupt eine Politik. die wertvolle Gemeinschaften anstrebt, nicht an die Barbarei der Rassenideologie, sondern an das edlere, echtere und vielseiti­gere Gebilde des Volkes anknüpfen. Damit ist ja keineswegs ,Blut' ganz durch .Geist' verdrängt. Eine vorsichtige, maßvolle und strikt sachlich-gerechte Eugenik ließe sich auch im Rahmen des Volkes anstreben, daja das Volk nicht bloß ein gei­stiges, sondern auch ein vitales Gebilde ist. Eine Hierarchie der Rassen mit allge­mein gültigen Wertstufen. die objektiv überzeugend sind, gibt es nicht. Hier ist al­les Glaube, meist Aberglaube und kollektiver Hochmut." (Wiese 1933. S. 538).

28 Wenn er rückblickend den Eindruck zu erwecken versucht, er habe die Zeitschrift aus Gründen politischer oder (wissenschafts-)ethischer Überzeugung eingestellt -"Auf keinen Fall wollte ich mir die Aufnahme von politisch tendenziösen Beiträgen aufzwingen lassen" (1948, S. 1) -, wirkt das nicht sehr glaubwürdig.

29 Vgl. Heine von Alemann 1981, S. 389; Erhard Stölting charakterisiert Wiese noch 1986 als einen "liberalen Humanisten" und hebt seine "persönliche Lauterkeit" hervor. Er habe vor den NS-Machthabern nicht die "geringste verbale Verbeu­gung" gemacht (1986. S. 280 ff.). Rene König, der Wiese bis vor wenigen Jahren zu den Repräsentanten der "inneren Emigration" rechnete, ist inzwischen von die­ser Auffassung abgerückt; vgl. Klingemann 1985b, S. 368 f.

30 Mühlmanns Habilitationsverfahren zog sich über drei Jahre hin, was er später auf Schwierigkeiten mit politischen Instanzen zurückzuführen versuchte. Tatsächlich scheint es sich jedoch um fachinterne Differenzen, besonders hinsichtlich der poli­tischen Verwendbarkeit der Völkerkunde, gehandelt zu haben (vgl. Klingemann 1986b, S. 142).

31 Vgl. dazu bes. Ute Michel 1986; Christian Sigrist und Reinhart Kömer erklären das Desinteresse bis zu diesem Zeitpunkt damit, daß damals die rassistische Ideologie zu "antiquarischem Staub sedimentiert" schien. Mühlmanns "aristokratische" Ansichten wurden nicht ernst genommen, während die Studenten seine enorme Gelehrsamkeit, sein facherübergreifendes Wissen und sein genuines Forscherstre­ben durchaus als anregend empfanden (1985, S. 89 f.).

32 Vgl. Mühlmann 1933a: er bespricht 1. Egon Frh. v. Eickstedts "Rassenkunde und Rassengeschichte der Menschheit", 2. Walter Scheidts "Rassenbiologie und Kul­turpolitik" (besonders den 3. Band lobt Mühlmann als "sehr empfehlenswerte Ein­führung in die Eugenik"), 3. Walther Darres "Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse" ("unentbehrlich für jeden, der sich über die geistigen Grundla­gen der heutigen Siedlungsbewegung, der Gedankenverbindung ,Blut und Boden' und der Bestrebungen zur Schaffung eines germanischen Erbrechtes unterrichten will"), 4. Ludwig Schemanns "Die Rasse in den Geisteswissenschaften" (Mühl­mann kritisiert, daß Schemann biologische und soziologische Faktoren bzw. Frage­stellungen miteinander vermengt) und 5. Wilhelm Schmidts "Die Stellung der Reli­gion zu Rasse und Volk" ("auch für den Andersdenkenden lesenswert").

33 Vgl. Mühlmann 1933b: Außer Mühlmann, der über "Ausleseprozesse in der

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menschlichen Gesellschaft" sprach, beteiligten sich an dieser Veranstaltungsreihe der prominente Züchtungsforscher Erwin Baur (u.a. Mitautor des als .,Baur­Fischer-Lenz" bekannten rassenhygienischen Standardwerkes), der Bremer Ras­senhygieniker Fr. K. Walter, der Erlanger Theologe Paul Althaus und der Münste­raner Jurist Ernst Heinrich Rosenfeld.

34 Das "Kernproblem der positiven Rassenhygiene ist die praktische Beherrschung der Auslese, soziologisch gesprochen: die soziale Kontrolle der Auslese, und damit die Förderung wertvollen Lebens in der Gemeinschaft ... Studieren wir ... die Aus­lesesysteme der gegenwärtigen Gesellschaft, so ergeben sich dabei von selbst die sozialen und psychischen Bedingungen, unter denen Kinderreichturn der gesunden und tüchtigen Menschen ein gesellschaftlich verbindliches Verhaltensmuster sein kann. Hier sehe ich die gemeinsamen wissenschaftlichen Aufgaben der Soziologie und Rassenhygiene" (Mühlmann 1933b, S. 45).

35 Mit einer "Rassenschichtungs" -Theorie wollte Eickstedt (1940) die "Rückständig­keit" von Kolonialvölkern anthropologisch legitimieren. "Progressiven" Rassen (Nordische und Dinarier) stellte er "primitive" Rassen mit einer "verlangsamten, retardierten" Entwicklung gegenüber, stehengeblieben auf einem infantilen Sta­dium der Menschheitsentwicklung. Bei der Unterscheidung "ontogentischer und phylogenetischer Primitivität" fand er nichts dabei, Merkmale von Australiern, Südindern und jungen Gorillas als Primitivtypen in einem Atemzug zu nennen (S. 53 ff.).

36 Schwidetzky definiert "Auslese" (nach Darwin) als das "Überdauern des Geeigne­ten, Ausmerze des Ungeeigneten", als ein Prinzip, das als Mittel der Gruppenan­passung durch die gesamte organische Welt gehe und darüber hinaus als "Gestal­tungsprinzip" auch für Kulturgüter und Ideen zutreffe. Dagegen bewirke die "Sie­bung" keine Änderung des Anlagenbestandes, sondern eine innere Umkonstruktion. Wanderungen, um die es hier geht, seien Anlaß zu Siebungs- und Auslesevorgängen (Schwidetzky 1950, S. 5 ff.).

37 1946 wurden von Robert Havemann gegen Verschuer in der "Neuen Zeitung" schwere Anschuldigungen erhoben, worauf dieser sich zum Gegner des National­sozialismus aufblies und zunächst einmal bestritt, daß Mengele überhaupt sein Assistent gewesen sei. Das ließ sich zwar rasch beweisen, doch Kollegen, auch sol­che, die als "unbelastet" galten (vor allem Hans Nachtsheim), verhinderten eine öffentliche Diskussion. Es wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, die Verschuer schließlich als Mitläufer einstufte (vgl. Weingart u.a. 1988, S. 420 ff. u. 572 ff.).

38 Vgl. dazu Karl Heinz Roth (1986) und unsere Bemerkungen zur Wissenschaftlich­keit von Rassentheorien in der Einleitung.

39 Weitere biographische Angaben in: Führerlexikon 1934, S. 505; vgl. Weingart u.a. 1988, S. 420 ff.

40 Der Verlust von politischem und wissenschaftlichem Einfluß, von Status und Anse­hen, nicht zuletzt von Lehrstühlen und Forschungsinstituten wirkte nach 1945 in der Rassenanthropologie (und nicht nur dort!) so "gemeinschaftsfordernd", daß tiefe Feindschaften beigelegt wurden. Ilse Schwidetzky schildert den "historischen Moment", als Verschuer und Fischer sich, umringt vom völlig erstarrten "Anthro­pologenvolk", auf der Anrhropologentagung 1951 die Hand reichten (Spiegel­Rösing / Schwidetzky 1982, S. 15 f.).

41 Die Haltung Eckerts zum Nationalsozialismus bezeichnet Golczewski als "minde-

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stens zweideutig" (\988, S. 21). Er beschreibt Eckerts Beteiligung an der "Gleich­schaltung" der Kölner Universität und sagt, daß er in der "Judenfrage" eine Hal­tung eingenommen habe, die über "das überaus Unerfreulich-Unkollegial-Un­sachlich-Unangenehme" anderer Hochschullehrer noch hinausgegangen sei (ebd., S. 67). Schon 1925 habe Eckert im Berufungsverfahren des jüdischen Finanzwis­senschaftiers Julius Landmann die Berufungskommission gefragt, "ob wir solch fremden Typus in unserer Fakultät in dieser Zeit für wünschenswert halten?" (ebd., S. 158). Trotzdem hat Golczewski Eckert in die Liste der NS-verfolgten Köl­ner Hochschullehrer aufgenommen.

42 Briefe Jürgen von Kempskis an Wiese vom 18. 4. und vom 29. 4. 1946 - DGS. Kempski schickte Wiese sogar ein Exemplar von Günthers "Der Rassegedanke in der weltanschaulichen Auseinandersetzung unserer Zeit" (1940), in dem dieser u.a. eine soziologische Lehre von den Rasse-Gruppen entwickelte. Kempski (der allerdings selbst nicht gerade als Oppositioneller in Erscheinung getreten war) for­derte außerdem auf dem Soziologentag 1946 zur Auseinandersetzung mit dem "Dritten Reich" auf, was jedoch eher peinlich-berührte Reaktionen hervorgerufen zu haben scheint (vgl. Papcke 1985, S. 194). Daß der Verstrickung in den NS­Rassismus wenig Bedeutung beigemesen wurde, zeigt z.B. auch Emges Aufnahme in die DGS (Brief Wiese an Emge vom 3. 7. 1950 DGS) oder Wieses Reaktion auf den Vorschlag K. V. Müllers, in der Kölner Zeitschrift einen Nachruf auf den An­thropologen Günter Just zu veröffentlichen, der der Soziologie die zweifelhafte Ehre erwiesen hatte, sie zur Grundlagenwissenschaft der Rassenhygiene zu erklä­ren (vgl. Just 1932, S. 21): Wiese lehnte das ab, aber aus rein formalen Gründen. Der Rassenstatistiker Siegfried Koller, der sich (gemeinsam mit Hans Wilhelm Kranz) 1938/41 mit einer Abhandlung über "Die Gemeinschaftsunfahigen" her­vorgetan hatte, wurde ebenso DGS-Mitglied wie der Anthropologe Hans-Wilhelm Jürgens, der als Habilitationsschrift das Problem der "Asozialität" in traditionsrei­cher Weise bearbeitete (1961). Max Hildebert Boehm, von Stoltenberg 1950 als DGS-Mitglied vorgeschlagen, wurde von Wiese zwar als "zu den drei rücksichtslo­sen Zerstörern unserer alten Gesellschaft" gehörend charakterisiert, er fand es aber dennoch passend, wenn Stoltenberg einen Aufnahmeantrag stellte (Brief Wiese an Stoltenberg vom 29. 9. 1950 - DGS).

43 Vgl. Srubar 1988, bes. S. 100 ff. Srubar erklärt aus dieser Zwangslage z.B. Hork­heimers Bemühungen um Kontakte zu "etablierten Kreisen", besonders um Leo­pold von Wieses Unterstützung beim Wiederaufbau des Frankfurter Instituts.

44 Harry Pross in: Die Zeit vom 26. 3. 1982, zit. nach Papcke 1985, S. 181. 45 Vgl. bes. Weyer 1986, S. 280-304; Rene König und Helmuth Plessner erhoben

schwere Bedenken gegen den IIS-Präsidenten Corrado Gini - König bezeichnete ihn als "rechte Hand Mussolinis; -, denen sich die DGS anschloß. Wiese, der vor 1939 ein führender Funktionär des IIS gewesen war, sympathisierte zwar mit dem IIS, vertrat aber offziell eine ablehnende Haltung. Die meisten deutschen Soziolo­gen waren Mitglied in beiden Organisationen. Die Teilnahme am 14. Kongreß des IIS 1950 in Rom erklärte die DGS zur Privatsache. Nach 1950 wurden die Konflikte soweit beigelegt, daß man sich gegenseitig akzeptierte und partiell zusammenarbei­tete (vgl. Weyer 1984, S. 80 f.). 1951 wurde in Wiesbaden die Deutsche Sektion des IIS gegründet; an der Gründungsversammlung nahmen teil: Wilhelm Brepohl, Hans Freyer (er wurde Sektions-Sprecher), Arnold Gehlen, Gunther Ipsen, Ger­hard Mackenroth, Karl Valentin Müller, Ludwig Neundörfer, Helmut Schelsky,

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Kurt Stegmann von Pritzwald. Von Anfang an gab es zwei Fraktionen: die Mehr­heitsfraktion, geführt von Stegmann, die für Kooperation mit der DGS war. und eine Minderheit um Ipsen / Müller, welche die Konfrontation wollte. Der von Ipsen proklamierte "Bürgerkrieg in der Soziologie" brach allerdings erst 1958/59 anläß­lich des 18. IIS-Kongresses 1958 in Nürnberg aus, wobei K. V. Müller (Generalse­kretär des IIS) treibende Kraft war.

46 1948 erschienen z.B. eine "Festgabe für Alfred Weber" und eine Festschrift für AI­fred Vierkandt zum 80. Geburtstag; 1955/56 Wieses "System der Soziologie" in erweitertem Wiederabdruck; Arnold Gehlen und Helmut Schelsky gaben ein "Lehr- und Handbuch" heraus (1955); Band I von Werner Ziegenfuß' "Handbuch der Soziologie", Alfred Webers "Einführung in die Soziologie" und das von Wil­helm Bernsdorf und Friedrich Bülow herausgegebene "Wörterbuch der Soziolo­gie" wurden um diese Zeit veröffentlicht. Der von Gehlen und Schelsky herausge­gebenen Sammelband enthält neben Beiträgen von Kar! Heinz Pfeffer, Elisabeth Pfeil u.a. auch einen Beitrag von Rene König. Was ihn dazu bewogen haben mag, sich mit den von ihm sonst scharf attackierten Altnazis - über Elisabeth Pfeil be­merkt er sarkastisch, ihr richtiger Name sei eigentlich Gunther Ipsen (Brief König an Plessner vom 14. 1. 1958 - DGS) - zumindet literarisch zu vereinigen, ist schwer vorstellbar. Immerhin spricht - auch - diese Publikation für eine sehr weitgehende Konsensbereitschaft.

47 Wie Schwidetzky im Vorwort mit Dank vermerkt, hatte Mühlmann das Manuskript kritisch durchgesehen (1950, o.S.).

48 Das verallgemeinert Papcke zu der Feststellung, daß es in der Soziologie "offenbar inhaltliche wie methodologische Strömungen, die die Soziologen als Zeitgenossen hilflos ihrem politischen Umfeld auszuliefern pflegen" gibt; Papcke 1985, S. 181. Nachdem viele Soziologen emeritiert oder gestorben waren, erledigte sich das "Problem der biographischen Kontinuität akademischer Verantwortungslosig­keit. .. bestehen aber blieb der rote Faden der fachlichen und / oder mentalen Blau­äugigkeit"; ebd., S. 197. Anläßlich des 24. Deutschen Soziologentages, der im Ok­tober 1988 in Zürich stattfand, wurde in mehreren Presseartikeln das Fehlen einer Auseinandersetzung mit der eigenen Fachgeschichte kritisch angemerkt. So wies der Schweizer Tagesanzeiger darauf hin, daß der "Historikerstreit" zwar von ei­nem Soziologen mit der Kritik an der konservativen Verdrängungstaktik und der Verdrängung deutscher Schuld am Nationalsozialismus initiiert wurde, daß aber nach Jürgen Habermas kein kompetenter Fachvertreter sich zu Wort gemeldet habe (Scheidges 1988). Und Cobet resümmiert seine Analyse der Soziologie nach 1945 mit der Bemerkung: "Eine bewußt gesteuerte Aktion zur Verschleierung der Reak­tion der Soziologie 1945-1950 auf die Befreiung vom Nationalsozialismus hätte nicht mehr verdunkeln können als 40 Jahre freie Forschung in der Bundesrepublik Deutschland" (Cobet 1988, S. 31).

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218 lrmgard Pinn / Michael Nebelung

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Korrespondenzanschrift: Karrmin-Forum 5100 Aachen

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"Blick nach vorn": Ein Gespräch mit Rene König

Wir hatten Rene König um ein Gespräch gebeten. Auf seine Einladung be­suchten wir ihn am 5. und am 6. April 1988 in seinem Haus in Widdersdorf bei Köln. Aus dem geplanten Gespräch, in dem es um Fragen der Fachge­schichte gehen sollte, wurde bald eine weiträumige Erzählung und mehr als bloße Fachgeschichte. Die Auswahl, die wir treffen mußten, war nicht ein­fach. Die Erzählung handelt von vielen Stationen eines sehr bewegten Lebens. Soziologie kommt darin auch vor, aber nicht nur. Ärgerlich war Rene König über eine Rezension seiner "Soziologie in Deutschland" - nicht nur darüber - in einer Tageszeitung für Deutschland. Die Redaktion hatte geschrieben: "Zorniger Rückblick eines Wissenschaftlers". I Zornig - ja, aber: Warum? - Davon stand in der Besprechung nichts. Die folgende Erzählung, die manchmal durch unsere Fragen unterbrochen wird, aber auch gelegentlich Zeitsprünge macht, gibt darüber Auskunft. Wer den 1. Band von Königs Auto­biographie gelesen hat, wird sich sofort an das eine oder andere erinnern. Demnächst erscheint der 2. Band. Auch hiervon ist der Erzählung viel zu ent­nehmen. Aber das eine und andere zusammengenommen, hört sich dann doch anders an, als es im Buche steht.

Michael Neumann, Gerhard Schäfer

Frage: 1949 wurden Sie, Herr König, als Ordinarius für Soziologie an die Universität zu Köln berufen. Warum sind Sie nach Deutschland zurückge­kommen?

Zurückgekommen bin ich wegen der jungen Leute. Gegenüber den Mit­arbeitern habe ich einen neuen Stil eingeführt. Es gab kaum einen Assistenten, mit dem ich mich mit der Zeit nicht duzte. Eines Tages stand ich mit dem Rek­tor der Universität in der Halle, da kam Peter Heintz vorbei, den ich mit Spitz­namen Vierteli nannte. Und ich sagte: "Du, wir sehen uns gleich, ich komme dann rüber." Der Rektor sah mich erstaunt an. "Aber Herr König, der heißt doch Heintz, wie nennen Sie denn den?". "Ja," sagte ich, "Vierteli nenne ich ihn". "Ja, wieso, was soll denn das heißen?" Ich habe gelacht und habe gesagt: "Wir sind die Halbgötter, Peter Heintz ist Assistent und ist ein Viertelgott."

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220 Michael NeumannlGerhard Schäfer

Der Rektor hat darüber nicht gelacht. Er verstand das nicht. Damals wollte man mich, besonders auf das Betreiben von Alfred von Martin, absolut in München haben. Während der Arbeit an meinem Machiavelli-Buch, hatte ich mit ihm eine Korrespondenz begonnen, die schließlich dazu führte, daß wir uns gegenseitig über die gesamte Emigrationszeit hinweg alle Publikationen schickten. Alfred von Martin hatte mich sogleich für den Lehrstuhl in Mün­chen vorgeschlagen. Den Lehrstuhl bekam dann Emerich K. Francis, auch ein Emigrant, den ich aus Notre Dame, USA, kannte. Francis sagte mir: "König, ich bin Katholik, und ich habe auf die katholische Karte gesetzt. Können Sie zurücktreten und für mich diese Professur freimachen?" Ich habe ihm gesagt: "Ja, warum nicht, ich habe jetzt die Professur in Köln, aber sie müssen Alfred von Martin fragen." Alfred von Martin war damit gar nicht einverstanden, der wollte absolut, daß ich nach München komme. Ich habe ihm zugesagt, daß ich kommen würde, sobald ein zweiter Lehrstuhl eingerichtet werde. Als der end­lich kam, bin ich dann aber doch in Köln geblieben. Hinzu kam, daß meine Frau absolut nichts von München wissen wollte. Ich stand auch ganz gut mit Leopold von Wiese. Mit seiner Tochter, Ulrike von Wiese, die in die Schweiz emigriert war, war ich sehr befreundet, wie auch mit ihrem Mann. Sie war mit einem Juden verheiratet. In Köln habe ich mich zuerst darauf konzentriert, ei­nen geordneten Lehrbetrieb zu organisieren und wollte erst einmal sehen, was man überhaupt machen konnte, was auch technisch vorhanden war, an Appa­raturen, natürlich auch an Büchern. Dabei habe ich die merkwürdigsten Er­fahrungen gemacht: Die wichtigsten Bücher waren alle da, aber die Leute hat­ten sie nicht gelesen. Der Beweis: sie waren oft nicht aufgeschnitten! Ich habe die Kölner Zeitschrift auch darum erst später übernommen, weil es mir am Anfang zu viel geworden wäre: gleichzeitig die Lehre zu organisieren, zu for­schen und die Zeitschrift zu machen.

Eine Frage zu dieser Zeitschrift: In einigen Darstellungen ist zu lesen, daß von Wiese Mühe hatte, sich von seinen Ämtern und vor allem von der Zeitschrift zu trennen ...

Allerdings. Aber mir war das ganz recht. Ich habe das mit dem damaligen Dekan Wesseis, einem Nationalökonomen, besprochen, der mir antrug alle mit dem Ordinariat zusammenhängenden Ämter sofort zu übernehmen. Ich habe das abgelehnt. Ich war ganz froh darüber, daß von Wiese einige Ver­pflichtungen weiterhin wahrnehmen wollte. Ich mußte erst einmal das Institut aufbauen. Dabei ging ich davon aus, daß ich in spätestens drei Jahren alle an­deren Ämter auch übernehmen würde.

Frage: Wieviel Stellen waren an Ihrem Lehrstuhl?

Am Anfang waren es 2 und 2. Zwei waren bei von Wiese, 2 bei mir. Dann war noch ein extra Sekretär für die Zeitschrift und dann zwei Sekretärinnen,

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Ein Gespräch mit Rene König 221

für jeden je eine. Später bekam ich zwei Sekretärinnen, was wohl zuviel war.

Frage: Ihren Arbeiten ist zu entnehmen, daß Sie zu der Soziologie von Wieses ein mindestens kritisches Verhältnis hatten. Andererseits war von Wiese wohl der erste deutsche Soziologe, der mit der Konzeption der Autono­mie des Sozialen radikal ernst gemacht hat, wie immer man auch die Qualität seiner Arbeiten beurteilen mag. Der Sache nach hätte es zwischen Ihrer So­ziologie und derjenigen von Wieses, jedenfalls bezogen auf die Bestimmung des Gegenstandes, eine starke Übereinstimmung geben können. Gleichzeitig ist eine gewisse Distanz gegenüber der von Wiese sehen Soziologie aus ver­streuten Bemerkungen in Ihren Schriften nicht zu verkennen. Fanden Sie das, was von Wiese vortrug, zu spekulativ oder zu konstruiert, wie würden Sie das heute sehen?

Das könnte ich so plötzlich gar nicht beantworten und müßte erst einen Moment darüber nachdenken. Zu Beginn meiner Kölner Tätigkeit gab es aber etwas Wichtigeres, das Sie übersehen. Ich war bis dahin immer an einer Philo­sophischen Fakultät gewesen und befand mich plötzlich an einer WISO­Fakultät, von deren Struktur ich keinen Schimmer hatte. Das war für mich eine ganz neue Erfahrung, mit der ich mich erst auseinandersetzen mußte, vor allem wegen der Betriebswirtschaftslehre, die ich immer mit größtem Miß­trauen betrachtet hatte. Ein Professor für Betriebswirtschaftslehre sagte mir einmal: "Sie reden immer so schlecht über uns." Ich sagte: "Ja natürlich tue ich das, das kann ich Ihnen ganz kurz erklären, Ihr versteht von Industrie wahrscheinlich nur sehr wenig. Ich bin Industriellensohn, Industriellen-Enkel und -Urenkel. Ich bin auf dem Fabrikhof aufgewachsen, ich verstehe etwas da­von, wenigstens oberflächlich und ohne Vertiefung. Was die Industrie Neues macht, weiß sie zunächst selber nicht, sie macht es eben. Sie ist nicht rational, sie geht kleinen zufälligen Entdeckungen nach, und bis die Industrie weiß, was sie macht, vergeht viel Zeit und dann kommt Ihr Betriebswirte und dann ver­geht noch einmal Zeit; Ihr seid notorisch verspätet in der Entwicklung und ih­rer Beurteilung und was Ihr lehrt, ist nur zu häufig abwegig, das ist von vorge­stern." Darüber haben wir uns vier Stunden unterhalten und der Kollege hat mir schließlich recht gegeben.

Der einzige, der wirklich modern war, der kam aber erst später mit seinen Assistenten, das war Erich Gutenberg. Das war ein hervorragender Kopf, da­für wollten die Leute aber von ihm nichts wissen. Seine Assistenten waren phantastische Kerle, die hatten wirklich Industrie- und Betriebserfahrung. Se­hen Sie, diese andere Fakultätserfahrung war für mich viel schwieriger als der Wandel an sich. Zuvor war ich an einer Philosophischen oder auch Philologi­schen Fakultät, denn ich bin ja auch Linguist. Mein eigentliches Studium war Türkisch, Persisch und Arabisch, das war auch der Grund, weswegen man mich auch später von Köln aus (1962 - 1978) als Fakultätsdelegierten nach Ka-

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222 Michael Neumann / Gerhard Schäfer

bul eingesetzt hat. Um auf die Fakultät zurückzukommen: es gab also Mißver­ständnisse. Das waren doch starke Umstellungen, diese neue Atmosphäre, das mußte ich jetzt alles erst lernen und das ist mir damals recht schwergefallen. Mein Hauptfach ist im Grunde Ethnologie. Die gehört hier, in Köln, zur Phi­losophischen Fakultät, und ich selbst war Mitglied der Wirtschaftsfakultät, daraus erwuchsen Probleme mit den Studenten, denn die wollten bei mir pro­movieren in Soziologie, was für die Administration ein Problem war. Solche Fragen mußten erst geklärt werden, von denen hatte ich keine Ahnung, keinen blassen Schimmer, wie man so etwas anpackt. Und ich hatte auch niemanden, der mich beraten konnte. Später hat dann die Philosophische Fakultät einen Beschluß gefaßt, nach dem ich die Prüfungsberechtigung erhielt, dann ging es ganz einfach. Es hat jedenfalls eine Zeit gedauert, ehe die Studenten der Phil. Fak. Soziologie im Nebenfach studieren konnten - das hatte ich als Bedin­gung gestellt. Das allgemeine Problem war die Frage, wie kann ich das, was ich zu bieten habe, in den vorgegebenen Rahmen einbringen und umgekehrt, den Rahmen, den man mir bietet, richtig ausfüllen und trotzdem etwas dazu geben, in diesem Falle die Ethnologie.

Frage: Hatten Sie, als Sie nach Köln kamen, irgendwelche Erwartungen über eine mögliche Zusammenarbeit mit anderen Fachkollegen?

Nein, denn ich kannte ja niemanden.

Frage: Anläßlich der Neueröffnung des Frankfurter Instituts für Sozial­forschung, 1951, haben Sie eine Rede gehalten. Verglichen mit den Reden an­derer Teilnehmer, gewinnt man den Eindruck, daß Sie zu den wenigen gehört haben, die wußten, womit sich die Frankfurter während ihres amerikanischen Exils beschäftigt hatten. 2

Ja, bei der Eröffnung des Instituts war ich dabei, wir kannten uns schon lange. Mit den Frankfurtern ging das am Anfang ganz gut. Aber dann wurde das Institut wirklich ein Problem eigener Art. Wissen Sie, von dem sozialisti­schen Großkapitalisten Horkheimer zu hören, was alles am Kapitalismus schlecht sei, das war etwas, was ich eigentlich nie ganz verstanden habe. Und Adorno? Der war so weltfremd, wie ein blindes Huhn in dieser WeIt. Er war komisch und gescheit, aber fern von dieser Welt, absolut fern. Und Horkhei­mer, war der Großkapitalist, schwebte über allen Wolken. Ich habe damals über die Eröffnung einen Artikel geschrieben. Den habe ich dem Finanzmann des Instituts, Professor Pollock, der einzig vernünftige, gezeigt; er war damit einverstanden und der Artikel wurde in der Frankfurter Zeitung veröffent­licht. Aber die Beziehungen wurden immer schwieriger; die Institutsmitglie­der stritten sich dauernd untereinander und dann lebten sie eben in einer so fernen Welt, mit ihrem Neomarxismus. Das sind die Dinge, die so verwirren.

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223 Ein Gespräch mit Rene König

Frage: In den ersten Büchern, die Sie in der BundesrepubIik zur empiri­schen Sozialforschung veröffentlicht haben, gibt es eine auch von Ihnen er­wähnte internationale Kooperation mit Paul Lazarsfeld, mit dessen Mitarbei­tern, aber auch mit den Vertretern der Frankfurter Schule. Heute stellt sich die Angelegenheit so dar, als hätten Sie sich eine ganze Menge von dieser Koope­ration versprochen. Irgendwann ist diese Kooperation offensichtlich einmal gescheitert oder war das vielleicht gleich zu viel vorgenommen?

Ja, die internationale Kooperation. Ich bin mitverantwortlich für die Gründung der International Sociological Association in der UNESCO. Und das ist ein Sujet, über das ich nicht reden möchte, und ich will Ihnen auch gleich sagen warum. Das meiste, was wir gemacht haben, damals unter un­möglichsten Anstrengungen und unmögIichsten Umständen, ist gescheitert. Das ist eine schmerzliche Erfahrung, aber es ist nicht zu ändern. Es ist die größte Enttäuschung unseres Lebens, der amerikanischen, französischen, englischen, skandinavischen und niederländischen Freunde. Wir haben da­mals im Nullkommanichts das ,International Social Science Journal' heraus­gebracht, das hier schnell eine sehr angesehene Zeitschrift wurde. Aber die europäische Integration hat nicht stattgefunden. Und da berühren Sie ein sehr schmerzhaftes Problem, über das ich eigentlich nicht mehr sprechen will. Wir haben für nichts gelebt. Ich bin fast der einzige Überlebende aus dem Kreise, ja, da ist noch Jan Szczepanski, den ich vor zwei Jahren wieder gesehen habe. Es ist alles vor die Hunde gegangen, was wir begonnen hatten. Es ist alles durch die neonationalistische Walze zerstört worden.Und es geht bis in die Po­litik hinein, wenn ich lese von der Stationierung und von der Verbesserung der Atomwaffen und der Raketen in der Bundesrepublik - ich bin hundertprozen­tig dagegen -, ist mir klar, der Krieg wird hier mit großem Eifer und Ausga­ben vorbereitet. Er wird vielleicht aus Versehen passieren. Sie merken, ich sehe das so negativ, daß ich es ablehne, darüber zu sprechen, aber ich muß Ih­nen sagen, daß das nicht nur meine, sondern die Besorgnis vieler Leute heute ist. Es ist wahrscheinlich für meine Generation entschieden, daß wir drei Weltkriege überstehen müssen, und der einzige Trost ist, den dritten werden wir alle nicht überleben. Aber ich bin voll darauf vorbereitet.

Frage: Was ist zu tun?

Das könnte ich jetzt nicht beantworten, so mit drei Worten. Ich bin, das müssen Sie merken, im Rückzugsmanöver. Ich ziehe mich vollständig von al­lem zurück. Sie werden es sehen, wenn mein Buch jetzt erscheint. Da greife ich diese Dinge teilweise direkt auf und danach mache ich nichts mehr, dann ziehe ich mich nach Italien zurück und gehe nicht in ein Kloster, sondern gehe zum italienischen Bauern, da fühle ich mich wohler und da lebe ich gern. Ich spreche Italienisch, und verstehe den Dialekt dort, wo ich wohne. Das ist ein kleines Städtchen von 12 000 Einwohnern, nur 20 km südlich von Rom auf der

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224 Michael Neumann/Gerhard Schäfer

Autobahn nach Neapel. Nein, dieses Thema möchte ich nicht fortsetzen - ich rede überhaupt viel zu viel, Sie haben ja Fragen, aber das müssen Sie mir zu­gutehalten, das ist so ernst. Die Temperatur, die moralische Widerstandskraft nähert sich dem Gefrierpunkt.

Wegen eines meiner jungen Kollegen, Michael Oppitz, ein Ethnologe, der sieben Jahre in Nepal verbracht hat, wurde ich nach Berlin ins Wissen­schaftskolleg eingeladen. Plötzlich, beim Mittagessen, tauchte Jan Szcze­panski aus Warschau auf. Wir haben uns drei Stunden lang unterhalten und waren für die anderen nicht mehr ansprechbar. Er ist nicht nur Pole, was schon ein Unglück ist, er wohnt in einem Land, das vom Zweiten Weltkrieg am schlimmsten geschädigt worden ist. Er ist nicht einmal Katholik, sondern Lutheraner. Er ist kein Kommunist und sitzt im Parlament, dort vertritt er sich selbst. Immerhin hat es eine Majorität im polnischen Parlament fertigge­bracht, zu sagen, daß Szczepanski dort vertreten sein soll, obwohl Jaruzelski ihn haßt. Szczepanski hat sich dadurch nicht verdrießen lassen. Sehen Sie, das gehört dazu. Die Dinge sind sehr schmerzhaft. Wir haben alle dreißig Jahre lang für die Katz gearbeitet, alles ist schiefgegangen. Sie werden darüber eini­ges im neuen Buch lesen, aber auch nicht alles. Ich will keine Skandale. Da ist viel im Gange, was nicht mehr aufzuhalten ist. Und das ist ein zu ernstes Problem, um überhaupt diskutiert zu werden, wir werden es über uns ergehen lassen müssen. Und gebe es dieser oder jener, daß wir sofort umkommen da­bei. Denn nachher ist der Teufel los. Einen Sohn haben wir schon in Sicher­heit, er ist Schweizer, er ist in Zürich; der zweite wird auch bald verschwin­den. Die jungen Leute merken das von allein. Sehen Sie, Szczepanski lebt mit seiner Frau allein in Warschau. Seine Kinder wohnen alle in Frankreich. Er geht nicht aus Polen weg, er sagt, auf meine Frage, warum gehst Du nicht?: "Nein, ich will bis zum Ende hier bleiben."

Wir sprachen von Budapest und Sie fragten nach Schelsky. Schelsky machte dort deutsche Kulturpropaganda, das weiß ich aus erster Quelle, näm­lich von Szandor Szalai, der ihn kannte und ihn damals dort getroffen hatte.

Frage: Sie haben mit Schelsky nach dem Kriege zusammengearbeitet?

Ja, aber - was ich ihm persönlich übelgenommen habe, ist, daß er mich an der Bielefelder Universitätsplanung nicht beteiligt hat.

Frage: Worin sehen Sie die Ursache?

Das weiß ich nicht. Das ist seine Sache. In meiner Sprache gesagt, ich habe mich ihm gegenüber fair benommen, er nicht. Das ist meine kurze Er­klärung. Ich habe ihn seinerzeit in die UNESCO eingeführt mit der Begrün­dung für mich und für andere, daß es nicht angehe, die Bundesrepublik nur durch Emigranten vertreten zu lassen. In die UNESCO und die anderen inter­nationalen Organisationen habe ich Schelsky als wichtigen Mann eingeführt,

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Ein Gespräch mit Rene König 225

der die ganze Zeit über dabei war, in der Partei und in allem. Ein Emigrant kann nicht in einem Land eine Vertretung haben für Dinge, bei denen er nicht dabei war. Abgesehen davon, daß ich einiges über Universitätsorganisationen geschrieben habe, hätte mich Schelsky bei der Bielefelder Planung hinzuzie­hen können. 3 Er hat es nicht getan, sondern er hat mich einfach hinter's Licht geführt. Schriftlich hat er mir auf meine Anfrage mitgeteilt, in der BieIefelder Sache würde nichts weiter geschehen, in Wahrheit ging da eine ganze Menge weiter.

Frage: Noch einmal zu den möglichen Ursachen, die bei Schelskys Ver­halten eine Rolle gespielt haben könnten. Auf einer Gedächtnisveranstaltung am 15. 12. 1986 der Sozialforschungsstelle Dortmund (40jähriges Bestehen) wurde unter anderem von einem der ehemaligen Assistenten der Sozialfor­schungssteIle darauf hingewiesen, daß es darum gegangen sei, die Machtposi­tion Schelskys innerhalb der bundesrepublikanischen Soziologie auszubauen.

Das mag sein. Ich habe mit denen damals sogar zusammengearbeitet, wir haben ein Büchlein herausgebracht. Das erste kleine Manual für Techniken der empirischen Sozialforschung.

Frage: Sie haben damals auch mit Wilhelm Brepohl zusammengearbeitet. Brepohl war im Dritten Reich Leiter der Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet. ..

Ja. Brepohl war Mitglied der NSDAP. Aber innerlich war er kein Nazi, er war ein typischer alter Konservativer. Brepohl hatte ein phänomenales Ge­dächtnis und konnte drei Stunden lang Geschichten erzählen aus der Vergan­genheit des Ruhrgebietes, da habe ich ganz lange Ohren gemacht, denn das war echte oral history, die bei ihm noch lebendig war ...

Frage: Es gibt ein Manuskript von ihm 1938 über die Polen.4 Das gehört mit zu dem Schlimmsten, was man produzieren konnte ...

Gewiß, ich kenne diese Arbeit und andere. Aber was wollen Sie: das war die Meinung der Deutschen. Ich selber kannte Polen aus meiner Danziger Zeit und lernte Polen lieben bis heute.

Frage: Lassen Sie uns im Anschluß an diesen kurzen Hinweis auf die Ar­beit von Soziologen im Faschismus noch einmal zurückkommen auf die End­phase der Weimarer Republik und die Situation der damaligen Soziologie. Ha­ben Sie während der Zeit in Deutschland Kar! Mannheim kennengelernt?

Karl Mannheim ist der einzige deutsche Soziologe, den ich nicht gekannt habe. Wir haben uns gegenseitig verpaßt. Als er 1928 nach Köln kam, da war ich noch nicht würdig, in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie zu sein,

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in diesem Jahr (1988) muß ich dagegen den Festvortrag in Zürich halten. Zum Ärger der einen und zur Freude der anderen werde ich über das Exil sprechen. Mit großem Interesse und Gewinn habe ich die Eubank-Gespräche gelesen. Auf Eubanks Frage, was die Mannheims von Hitler hielten, sagten sie: "We like hirn." Das ist natürlich ironisch gemeint, was soll ein Jude im Exil sonst auf eine so gedankenlose Frage antworten. 5

Frage: Der Sache nach ist Mannheims Wissenssoziologie ja nicht so sehr neu gewesen. Gleichwohl ist er darüber bekannt geworden. WeIche Bedeutung für die Weiterentwicklung der Soziologie würden Sie Mannheims Arbeiten beimessen?

Sie gehören zu den Säulen der modernen Soziologie in der ganzen Welt, nicht nur hier. Natürlich stehen Mannheims Arbeiten in einer bestimmten Tradition. Vor allem die Österreicher haben Erkenntnissoziologie und Wis­senssoziologie schon früh entwickelt. Aber natürlich haben auch Durkheim und seine Schüler, wie Sie wissen, Erkenntnissoziologie betrieben und sich vor allem mit Logiken und Denkweisen bei Primitiven beschäftigt. In Frank­reich gibt es seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts bereits eine Un­menge Ansätze in dieser Richtung. Aber merkwürdigerweise ist in diesem Fall die Verbindung in deutscher Sprache über Österreich gegangen. Nun ist es so, die Werke von Gumplowicz, die ja auch in dieser Tradition stehen, sind alle ins Französische übersetzt worden. Ludwig Gumplowicz war in Frank­reich als einer der ganz großen Soziologen bekannt. Überhaupt spielte die pol­nische Soziologie damals eine viel größere Rolle als Sie überhaupt meinen. Gumplowicz ist dabei nicht der einzige. Da sind starke Einflüsse auf Frank­reich ausgestrahlt. Das ist eine Tradition, die man allzu leicht vergißt. Mann­heim hat sich dann ganz anders entwickelt. Im Grunde ist er durch die Ereig­nisse aus der Bahn geworfen worden. Er hätte eine zentrale philosophische Rolle in diesem Deutschland spielen können. Er mußte dann aber sofort weg. Er war Jude, seine Frau auch. Und in England hat er trotz seiner Bedeutung große Schwierigkeiten gehabt. Das habe ich aber erst später erfahren. Ich hatte damals zunächst keine Ahnung, wohin er geflohen war.

In dieser Tradition steht auch Georges Sorel. Er ist der Entdecker der natio­nalen Ideologien und damit der ideologische Vater eines gewissen Mannes na­mens Mussolini. Der echte Faschismus schöpft aus dieser Quelle, in seiner Po­lemik gegen die bürgerliche Welt. Genau wie Marx auf der anderen Seite. Nach­zulesen ist das in Sorels Jugendschriften, die aber erst spät bekannt wurden.

Frage: Wie läßt sich dieser Aspekt mit der Mannheimschen Position ver­knüpfen?

Äußerlich gesehen gar nicht, aber innerlich sehr wohl. Sorel war damals in Deutschland ziemlich unbekannt und ich zweifle, ob Mannheim Sorel über­haupt gelesen hat.

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Frage: earl Schmitt war damals in Deutschland wohl der einzige oder je­denfalls einer der ersten, die Sorel rezipiert haben. 6

Ja.

Frage: Die Wissenssoziologie in Frankreich war ja sehr eingebettet in eth­nologische Zusammenhänge, die bei Mannheim eigentlich keine Rolle mehr spielen.

Ja.

Frage: Vielleicht ist das symptomatisch für die Soziologie in Deutschland während der Weimarer Republik. Trotz der Arbeiten Thurnwalds hat die Eth­nologie nie eine besondere Rolle in Deutschland gespielt. Gibt es dafür eine Erklärung?

Nein. Ich habe jedenfalls keine. Vielleicht hängt das mit der Uneinsich­tigkeit der deutschen Soziologie von damals für bestimmte Probleme zusam­men. Insofern handelt es sich auch hier wieder um ein Problem der Soziologie der Erkenntnis.

Frage: Noch einmal zur Ethnologie. In Berlin haben Sie wohl hauptsäch­lich bei Thurnwald studiert. Gleichzeitig haben Sie bei Vierkandt gearbeitet. Vierkandt fand das, was Thurnwald machte, zu positivistisch, zu empirisch. Dabei lag Ihnen die Ethnologie Thurnwalds sicher näher als diejenige von Vierkandt. Sie wollten sich aber bei Vierkandt habilitieren und nicht bei Thurnwald. Wie ist das zu erklären?

Thurnwald war sehr interessant, bei ihm traf sich alles, aber er war er­staunlich unpünktlich und weltfremd. Immerhin wäre er in der Habilitations­kommission gewesen. Ich habe enorm viel von ihm gelernt. Daß er später zum Nationalsozialismus umkippte, damit hatte eigentlich keiner seiner Schüler gerechnet. Er war ein lausiger Redner. Wenn er eine Vorlesung hielt, dann hat er immer ein Stück Papier bei sich und schrieb die Ideen auf, die ihm gerade während der Vorlesung durch den Kopf gingen. Seine Manuskripte waren scheußlich. Wir haben sie ihm immer durchgesehen und dann zurechtge­stutzt, so daß man sie lesen konnte. Er besaß ein außerordentlich breites und profundes Wissen, wie kaum ein anderer Ethnologe, den ich seither kennen­gelernt habe. Thurnwald hat einen großen Einfluß auf uns gehabt. Es gibt bei ihm übrigens auch eine Parallele zu Mannheim, von dem wir ja kamen. Thurnwald sprach von Projektionen von Ideologien in das primitive Denken. Damals sprachen wir von primitivem Denken, heute würden wir das nicht mehr tun. Darüber haben wir damals viel diskutiert. In Thurnwalds "Zeit­schrift für Völkerpsychologie und Soziologie" ist 1931 meine erste größere

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Abhandlung über "Die Französische Soziologie um 1930" erschienen. Thurnwald hatte mich damals darum gebeten, einen Bericht über den gegen­wärtigen Stand der französischen Soziologie zu schreiben. Damals war Wi1-helm E. Mühlmann Assistent von Thurnwald. Mit dem habe ich das Peinlich­ste erlebt, als ich nach dem Krieg hierher kam und bei dem ersten Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Soziologie war. Da komme ich in einen großen Saal hinein und sehe hinten einen Tisch, da sitzt Mühlmann mit niederge­schlagenen Augen. Er ist nicht aufgestanden, um mich zu begrüßen. Sehen Sie, wie da die Weltgeschichte verkehrt wird: Wir müssen dann hingehen und solche Leute begrüßen. Es ist irgendwie unerträglich. Viele Leute verstehen nicht meine Antipathie gegen manche deutsche Kollegen von damals; sie liegt darin, daß viele so vergeßlich sind. Warum hatte er nicht den Mut aufzustehen und sich zu dem, was geschehen ist, zu bekennen. Ich habe nie ein peinliche­res Erlebnis gehabt als dieses, der Geschädigte muß sich entschuldigen. Es ist eine verkehrte Welt, aber diese verkehrte Welt ist immer noch nicht ver­schwunden.

Frage: Noch einmal zu Thurnwald.

Der war für sehr viele junge Soziologen der Einstieg in die moderne em­pirische Soziologie; wobei Sie vorsichtig sein müssen, "ich flehe Sie an", würde Max Dessoir gesagt haben, seien Sie vorsichtig mit dem Ausdruck Empirie. Da gibt's dann auch die nationalsozialistische Soziologie, die ein­fach facts zusammenbringt, ohne Theorie. Ich nenne das empirizistisch. Das ist keine Empirie, das ist orientierungslose Sammelei.

Frage: Können wir einen Augenblick auf das Thurnwald-Symposium von 1932 eingehen? Es ging ja hier um den Versuch, über eine stärker empirisch orientierte Soziologie zu diskutieren. An dieser Diskussion nahmen unter an­derem Hans Freyer und Andreas Walther teil.

Ich weiß nicht mehr, was da geschehen ist. Ich war mit dem Studium fer­tig und habe so schnell wie möglich und so ordentlich wie möglich promovie­ren wollen. Dann ging alles holter di polter, ich war noch nie in einer solchen Situation gewesen. Aber zurück zu dem Thurnwald-Symposium. Diese Welle von vermeintlicher Empirie oder Empirizismus, wie ich das nennen würde, begann eigentlich erst unter dem Nazismus. Freyer, den Sie erwähnt haben, war bis 1930 marxistisch. Erst ab 1933 kommt Marx nicht mehr bei ihm vor. Er nannte diese Soziologie Wehr-Soziologie. Ich frage Sie, warum? Wer hat denn Deutschland damals eigentlich bedroht? Niemand. Die Deutschen haben die anderen bedroht. Es war umgekehrt. Es ist nicht erfunden, was ich jetzt sage: Wer hat den meisterlichen Satz geschrieben, die industrielle Aufrüstung der Welt ist jetzt abgeschlossen? Das stammt ebenfalls von Freyer. Man muß sich diesen hirnverbrannten Unsinn einmal vorstellen. Als Kultusminister

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hätte ich gesagt, hören Sie zu, nehmen Sie Ihren Abschied. In 14 Tagen kön­nen Sie gehen. Aber solchen Unsinn dürfen Sie nicht verzapfen. Und das ge­nau in der Zeit, wo Deutschland die größte Industrialisierungsperiode seiner Geschichte durchmachte. Denn eine richtig hoch-industrialisierte Gesell­schaft gibt es in Deutschland erst seit dem Nationalsozialismus. Das ist die, die wir heute haben.

Freyer war einerseits jugendbewegt, ich weiß, was das bedeutet, denn ich war es auch. Aber ich war nicht mehr bei dem normalen Wandervogel, son­dern ich war bei den Roten Falken (SPD). Freyer war gleichzeitig Romantiker im deutschen Sinne, Dilthey-Schüler und gleichzeitig Marxist. Seine Konzep­tion der historischen Existenz ist rein marxistisch. Wie sie damals eigentlich bei allen war, es gab noch keine Alternative im deutschen Sprachbereich dazu. Marx war immerhin der erste, der sich mit diesen Dingen befaßt hat, jetzt völ­lig abgesehen von seinen politischen Ideen. Das ganze Problem der Entfrem­dung, das ist das Grundproblem von Marx, das ist Heidegger, aber schon 50 Jahre vor ihm und am Gegenstand konkret erörtert.

Frage: Sie hatten zu dieser Zeit auch Kontakte zur Lazarsfeld-Gruppe in Wien.

Ja, die kannte ich gut. Mit denen war ich per Du. Lazarsfeld und ich ha­ben uns auch nach dem Krieg wieder gesehen. Als die Marienthal-Studie er­schien, habe ich sie mir gleich gekauft, obwohl ich wenig Geld hatte. Das hieß mindestens zwei Tage lang nichts zu essen zu haben.

Frage: Wir kommen noch einmal auf die Berliner Zeit zurück. Haben Sie eigentlich damals etwas mit Reichenbach und diesem Kreis der empirischen Philosophen zu tun gehabt?

Nein. Mit Reichenbach war ich oft in Zürich und in Marburg zusammen, aber wegen anderer Dinge und nicht in diesem Zusammenhang. Ja, wir kann­ten uns. Aber ich muß Ihnen gestehen, für reine Wissenschaftstheorie habe ich nichts übrig. Das übersteigt meinen Horizont, ich bin zu sehr gewöhnt, konkret zu sehen. Und die Erforschung der Möglichkeiten der Analyse von et­was hat mich noch nie interessiert. Mich interessiert nur die wirkliche Ana­lyse, die gemacht wird, wobei es natürlich in der Theorie verschiedene Alter­nativen gibt. Das ist eine Frage, die nicht so einfach zu lösen ist.

Frage: Kannten Sie Othmar Spann?

Spann habe ich in Wien gehört, der trug schon um 1930 ein Hakenkreuz am Rockaufschlag.

Frage: Wie war er als Vortragender? War er eindrucksvoll?

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Nein, er sagte in jeder Stunde dasselbe. Lesen Sie ein Buch von ihm. In jedem Buch steht das gleich drin. Er fangt mit irgend etwas an, endet dann im­mer bei dem sogenannten universalistischen Prinzip. Auch in den Vorlesun­gen war er rasend langweilig. Wir haben es damals nicht für möglich gehalten, daß sich so etwas durchsetzt, es war grenzenlos langweilig.

Frage: Haben Sie sich während Ihrer Berliner Zeit mit den Arbeiten Plen­ges beschäftigt? Er hatte damals ja ein großes Institut.

Nicht sehr ausführlich. Den habe ich immer für einen Außenseiter gehal­ten. Da Soziologie damals nicht definierbar war, konnte jeder unter diesem Ti­tel alles machen, was er wollte.

Frage: In Ihrer Autobiographie schreiben Sie an einer Stelle, daß Sie Ende 1932 mit den ersten Vorarbeiten für Ihre Habilitation begonnen hatten und dann die Arbeit erst einmal zur Seite gelegt haben ...

Ja, ein Grund lag darin, daß ich eine ganz schwere Bronchitis bekam. Der behandelnde Arzt war mein Freund Richard Hülsenbeck, der mir, als ich ge­heilt war, sagte: "So, Du warst mein letzter Patient. Wir fahren morgen in die Vereinigten Staaten." Mir empfahl er wegzugehen mit der Bemerkung: "Du bist nicht krank, aber Du bist psychisch krank. In dem Moment, wo Du gehst, wirst Du gesund." Hülsenbeck war ein guter Arzt, der auch die Wahrheit sagte, das hat mir geholfen. Das Problem war jetzt, ich mußte mich entschließen. Ur­sprünglich hatte ich daran gedacht, zu Ende zu habilitieren und dann das Land zu verlassen, damit ich nicht als jemand ins Ausland komme, der seine Ausbil­dung zu Hause nicht zu Ende gemacht hat; denn das wäre ja die nächstliegende Interpretation gewesen. Die Umstände waren das eine, aber wann man handelt, das ist die zweite sehr wichtige Frage, die vor allem für einen ganz jungen Men­schen nicht einfach zu beantworten ist. Unmittelbar ausgelöst wurde meine schließliche Entscheidung durch ein Gespräch mit Wolfgang Köhler. Ich war zu einem Abendessen bei einer jüdischen Familie in Berlin eingeladen und traf ihn dort. Da dachte ich, das ist gut, da kann ich mit ihm ein paar Worte reden, wie er über meine Habilitationsabsichten denkt. Da sagte er mir: "Hören Sie zu Herr König, ich muß Fraktur mit Ihnen reden, wissen Sie eigentlich, warum ich heute hier eingeladen bin, in einem jüdischen Haus in Berlin? Unter diesen heu­tigen Verhältnissen? Es ist mein Abschied von Deutschland. Ich fahre morgen in die Vereinigten Staaten und ich rate Ihnen, so schnell wie möglich das gleiche zu tun. Hier ist für uns nichts mehr zu suchen."

Ich bin danach noch ein bißchen hin und her gependelt zwischen Zürich, Berlin und Danzig (dem Wohnsitz meiner Eltern) und habe das Manuskript abgeschlossen. Ich habe dann aber die Arbeit bei der Philosophischen Fakul­tät I der Universität Zürich eingereicht und das Verfahren ging dann sehr schnell durch.

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Ich bin damals weggegangen, um nicht zurückzukehren. Das war das Entscheidende. Später habe ich in Zürich dann eine deutsche Frau geheiratet, aber erst nach dem Kriege. Dann habe ich geglaubt, jetzt geschieht etwas, aber es geschah nichts und es konnte nichts geschehen, das war das Schlimm­ste. Ich war damals in einer schweren finanziellen Klemme. Ein lächerlicher deutscher Abgeordneter, so ein kleiner, dicker Mops, der bekam damals 285000 DM Wiedergutmachung. Ich bekam nur auf einen Einspruch meines Advokaten hin, hier in Köln, von der Stadt 16000 DM. Ich fand das wunder­bar, nicht 60000 DM, sondern 16000 DM. Das habe ich in ein Haus inve­stiert, damals war alles noch billig, da habe ich etwas machen können daraus. Aber so gingen die Dinge. Die anderen haben auch noch Geld zusätzlich be­kommen, zu dem, was sie uns weggenommen hatten. Nicht mir persönlich, aber uns meine ich, alle die Leute, denen meine Sympathie gehört. Die Be­raubten und die Geschlachteten.

Frage: In Ihrem Umfeld wollten viele in die Vereinigten Staaten emigrie­ren. Hatten Sie sich das auch einmal für sich überlegt?

Nein, das hatte ich eigentlich nicht vor. Da war ich schon zu stark gebun­den in der Schweiz. Amerika lag für mich noch zu weit weg. Ich wollte in Eu­ropa bleiben und da kam für mich nur die Schweiz in Frage. Ich hatte dort auch Freunde. Aber der Aufenthalt dort war schwierig. Ich hatte auch nur das Fremdenbüchlein gehabt für Dienstmädchen und Milchknechte und andere Personen, die die Schweiz wieder zu verlassen haben. Das habe ich bis nach dem Kriege gehabt.

Frage: Wir möchten jetzt anknüpfen an diese Zeit in der Schweiz und England ...

Ja, bei Kriegsbeginn war ich in England. Ich hatte von der Schweiz ein für damalige Zeiten enorm gutes Stipendium erhalten, 2000 Franken für drei Monate, um in England englische Soziologie zu studieren. Das war für meine Verhältnisse wahnsinnig viel Geld, denn ich hatte ja nichts, ich durfte nichts verdienen. Ich habe in London in der Bibliothek des Britischen Museums ge­arbeitet. Das Resultat ist nie veröffentlicht worden, Stücke daraus habe ich in meinem Machiavelli-Buch eingearbeitet und in einigen anderen Sachen. Das Manuskript ist dann auf sehr abenteuerliche Art durch den diplomatischen Kurier in die Schweiz gelangt.

Frage: Sie erwähnen an verschiedenen Stellen, daß das Interesse an So­ziologie in der Schweiz nicht besonders groß war. In einschlägigen Geschich­ten der Soziologie taucht die Schweiz auch nie auf.

Ja, das ist richtig, bis auf Genf. In Genf, war was los ...

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Frage: Aber in Zürich?

Da gab es nichts, keinen Lehrstuhl.

Frage: Als Soziologe waren Sie also erst einmal allein auf weiter Flur?

Zunächst ja, nachher kam jemand, ein Privatdozent wie ich, das war Kurt Meier. Er war Jude und ist später in die Vereinigten Staaten gegangen, wo wir uns wieder getroffen haben. In Genf gab es Lehraufträge für Soziologie, aber weder in Zürich noch in Basel oder in Sankt Gallen an der Wirtschaftshoch­schule gab es dergleichen. Aus Sankt Gallen sind dann viele Studenten zu mir gekommen. Die Bibliothek in Zürich war nicht schlecht. Die war vor längerer Zeit von einem Lehrbeauftragten, einem Griechen, Abroteles Eleutheropu­los, aufgebaut worden. Eleutheropulos war in Zürich gewissermaßen mein Vorgänger, persönlich habe ich ihn aber nie kennengelernt, wir haben nur mit­einander korrespondiert.

Frage: Wie entwickelte sich das Interesse der Studenten an Soziologie?

Am Anfang hatte ich ganz wenig Studenten. Aber das hat sich dann bald geändert. In meinen Vorlesungen hatte ich dann schließlich 100 bis 120 Stu­denten. Auf Anregung meines Freundes, des Nationalökonomen Manuel Sait­zew, habe ich dann einen viersemestrigen Vorlesungszyklus entwickelt.

Frage: Sie erwähnen in Ihrer Autobiographie, daß das Interesse der Kan­tons Zürich an Soziologie und empirischer Sozialforschung nicht besonders stark war? War es da nicht schwer, unter solchen Bedingungen die Soziologie aufzubauen?

Das war nicht so schwer. So ist zum Beispiel das erwähnte Buch über die empirische Sozialforschung in einem Schweizer Verlag erschienen. Eine an­dere Möglichkeit ergab sich durch Zusammenarbeit mit dem früh verstorbe­nen Hans Aregger, dem Sekretär des Büros für Schweizerische Landespla­nung. Dieses Büro begann damals mit Stadtuntersuchungen und in diesem Zu­sammenhang habe ich auch eine Verkehrsstudie gemacht, die aber dann auf Französisch erschienen ist. Es gibt nebenbei bemerkt eine Reihe von Arbei­ten, die in Deutschland nicht bekannt sind, die ich auf Französisch geschrie­ben habe.

Frage: Sie haben in der Schweiz viel über Mode gearbeitet. Wie sind Sie eigentlich darauf gekommen, auf dieses Thema?

Das ist ein reiner Zufall. Dafür interessiert habe ich mich schon immer. Die Züricher Gesellschaft für Marktforschung hatte mich darum gebeten,

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über Mode einen Vortrag zu halten. Das habe ich dann auch getan. Dann kam ein Freund von mir und sagte, warum schreibst du das nicht aus, es ist sehr in­teressant. Daraufhin habe ich angefangen das Manuskript zu vervollständi­gen. Ich lernte dann Willy Schuppisser kennen, der war Finanzmann bei der Haute Couture in der Schweiz, die damals von einer Französin Gaby Jouval, vertreten war. Der sagte mir, das bringen wir als Buch heraus. Daraus wurde dann auch ein sehr schöner Bildband, mit einem Vorwort von Christian Dior. Diese Abhandlung habe ich dann mehrfach erweitert. Bis heute ist es ein Buch von 400 Seiten geworden. Später erschien eine italienische, spanische, eine französische, eine englische und sogar eine polnische Ausgabe.

Frage: In Ihrer Schweizer Zeit haben Sie aber wohl hauptsächlich über Familienprobleme gearbeitet?

Ja natürlich. Das erste Buch "Materialien zur Soziologie der Familie", ist 1944 in der Schweiz erschienen. Auch mein erster größerer Artikel zum Dienstjubiläum eines juristischen Kollegen, in dem es um "Die Notwendig­keit einer Familiensoziologie" ging. Das hat damals sehr viel Aufsehen erregt und seit der Zeit fing man an, sich mit familiensoziologischen Problemen zu beschäftigen. Das Buch ist jetzt in neuer Auflage in Köln herausgekommen. Inzwischen ist daraus ein dicker Band geworden (1974).

Frage: Durch den Druck, den das faschistische Deutschland auf die Schweizer Regierung ausübte, war die Situation für die Emigranten nicht ein­fach. Es gab Bespitzelungen, Denunziationen, Abschiebungen ...

Ja, so ist es gewesen, das weiß ich. Das war besonders nach der Wannsee­konferenz sehr unangenehm, denn unser Freundeskreis hat Leute herüberge­bracht aus Frankreich über die Berge. Wir haben eine Menge Freunde aus Frankreich in die Schweiz gebracht. Und jeder von uns mußte dann einen bei sich verstecken, so ungefähr eine Woche lang, bis man einen Nationalrat ge­funden hatte, der für den Flüchtling auftrat. Wir haben bei diesen Aktionen keine Schwierigkeiten gehabt, obwohl sie manchmal äußerst riskant waren. Die Schweizer, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben uns dabei sehr geholfen und unterstützt.

Frage: Was waren das für Leute, denen Sie geholfen haben?

Es waren entweder Juden oder Andersdenkende oder beides. Es gab zwei Emigrationswellen. Zur ersten gehörten auch Erika und Klaus Mann, die sich aber so verhielten, daß sie ständig auffielen. Die hatten keine Ahnung von der Schweizer Mentalität und waren in ihrem Benehmen manchmal unmöglich.

Frage: Die gingen dann in die Vereinigten Staaten?

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Ja. Vater Mann blieb zunächst noch in der Schweiz. Er hatte ein Haus ge­kauft. Er ist dann während des Krieges auch in die Vereinigten Staaten gegan­gen. Er hat vielen Flüchtlingen geholfen, die sind durch Frankreich durch die unbesetzte Zone gekommen. Ich habe denen in Frankreich durch meine Be­ziehungen helfen können, so daß sie durchgelassen wurden.

Frage: Golo Mann ist in der Schweiz geblieben?

Golo ist zunächst geblieben. Wir waren nicht befreundet und waren auch nicht verfeindet. Er war der Unglücksfall eines jüngeren Bruders. Nicht wahr, das ist ein Unglück. Gegen Klaus und Erika, die beide unsinnig begabt waren, kam er einfach nicht an. Dabei hatte er eine Reihe ganz guter Sachen gemacht. Wir trafen uns eines Tages bei dem Verleger Emil Oprecht in dessen Privat­wohnung. Da war gerade Prag besetzt worden, und ich sagte im Gespräch, die Prager haben gejubelt. Aber es waren gar keine Prager, es waren die Deut­schen dort. Da ging Golo langsam hinaus und verschwand und kam nicht mehr zurück. Ich hatte nämlich eins vergessen, die Familie Mann waren tschechi­sche Bürger geworden, die haben eine Ehrenbürgerschaft bekommen, damit sie überhaupt einen Paß hatten, das hatte ich vergessen. Und meine Bemer­kung hatte er dann sozusagen als eine nationale Beleidigung aufgefaßt. Ich ging hinter ihm her und habe mich bei ihm entschuldigt, er wohnte damals bei der Familie Oprecht. Aber er kam nicht recht mit der Sprache heraus, er äu­ßerte sich nicht weiter dazu. 1940 ist er dann ebenfalls in die USA emigriert, über Frankreich. Ich gehörte zu einer Gruppe, die dablieb, gemischt aus Schweizern und Deutschen und österreichischen Emigranten. Besonders enge Kontakte hatte ich zu den Österreichern; ich war sehr befreundet mit dem Bildhauer Fritz Wotruba und mit dem Dramatiker Fritz Hochwälder. Und dann auch noch mit dem Schriftsteller Franz Fein.

Frage: Diese Freunde kommen überwiegend aus nicht-wissenschaftli­chen Bereichen: Schauspieler, bildende Künstler, Literaten ... ?

Ja, das ist richtig. Sie sind nicht die ersten, die das feststellen. Ich stamme von dem höchsten Berg Europas, nämlich vom Montmartre, wo mein franzö­sischer Großvater lebte. Das war mitten im Boheme-Quartier. Ich bin unter der Boheme aufgewachsen. Mit Schulmeistern an der Uni habe ich von Haus aus nie etwas zu tun gehabt, obwohl mein französischer Großvater Wissen­schaftler war (Botaniker). In der Tat: ich habe ausschließlich mit Künstlern, Musikern, Malern, Bildhauern verkehrt.

Eine Frage zu einer anderen Person, die in Ihrer Autobiographie auf­taucht. Es ist Ernst Niekisch ...

Ich habe ihn gekannt. Sie werden es nicht glauben, was ich Ihnen jetzt er­zähle. Ich kannte Niekisch durch Mitscherlich. Niekisch wollte mich dazu

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überreden, bei ihm mitzumachen noch in Berlin. Wir saßen in einer Kondito­rei in der Leipziger Straße und er redete ständig auf mich ein. Ich sagte ihm, ,Sie müssen gar nicht weiterreden, denn mit dem, was Sie zu sagen haben, habe ich nichts zu tun. Mit den Nazis lebe ich momentan noch eine Weile, bei Ihnen wäre ich schon längst gehängt'. Niekisch dachte einen Moment nach und sagte dann ,ich glaube, ja'. Dann stand er auf, zahlte und ging. Ich habe später nie mehr etwas von ihm gehört. Ich habe erfahren, daß die Russen ihn bei ihrem Vormarsch aus dem Gefangnis befreit haben. Auch Mitscherlich hat nichts mehr von ihm gehört. Wir haben später einmal darüber gesprochen. 7

Frage: In diesem Zusammenhang möchten wir Sie nach Heinz Maus fra­gen, der ja mit Niekisch nach 1949 eine Zeitlang an der Berliner Humboldt­Universität eng zusammengearbeitet hat.

Maus habe ich erst nach dem Kriege kennengelernt. Er kannte sich gut in der französischen Soziologie aus, da wäre er der geeignete Mitstreiter gewe­sen, denn er hat sich ja sehr dafür interessiert und auch einiges in dieser Rich­tung gemacht. Er wollte eine Ausgabe der Gesammelten Schriften von Durk­heim herausgeben, daraus ist aber leider nichts geworden. Ich habe ihn später noch einmal in Marburg besucht. Da war er schon sehr, sehr krank und prak­tisch nicht mehr anzusprechen.

Frage: Jetzt sind wir schon in der Nachkriegszeit ...

Nach dem Kriege hatten die Amerikaner mich darum gebeten Vorlesun­gen zu halten. D.h. ein verstorbener amerikanischer Freund hatte sich mit mir in Zürich darüber beraten, was jetzt zu tun sei. Ich las jedenfalls in München und in Marburg und ich weiß nicht mehr wo noch. Das funktionierte sehr gut. Es ging dabei nicht um re-education, sondern einfach darum, Probleme vor­zuführen.

Frage: Der Amerikaner war Edward Hartshorne, mit dem Sie zusammen­gearbeitet haben?

Ja. Der wurde dann bei Frankfurt ermordet, auf der Autobahn, das ist nie ganz geklärt worden. Mein Kollege Heinz Sauermann war dabei, der Wagen war voller Bücher, und Hartshorne saß hinten im Fond. " Die haben von hin­ten durch die Scheibe geschossen und Sauermann wunderte sich plötzlich, warum Hartshorne nicht mehr antwortete. Die Schüsse hatte er durch den Fahrtlärm nicht gehört. Dann sah er in den Spiegel und hielt sofort an und stellte fest, daß Hartshorne tot war.

Frage: Kann das politische Gründe gehabt haben? Oder war das Zufall?

Nobody knows. Wir werden es wohl nie erfahren.

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Keiner hat sich einen Vers darauf machen können. Er war vorher lange bei mir in der Schweiz gewesen. Wir haben alles besprochen, was man machen könnte, eben um den Schein der re-education zu vermeiden. Das war ein sehr kluger Mann, auch die anderen Offiziere, die mit ihm zusammengearbeitet hatten.

Frage: Als Sie die Kölner Zeitschrift für Soziologie übernahmen, erweiter­ten Sie den Titel auf Soziologie und Sozialpsychologie und starteten in dem er­sten von Ihnen redigierten Band eine vehemente Kritik an Tönnies "Gemein­schaft und Gesellschaft".

Da gab es sicher Mißverständnisse. Mit der Titelgebung meinte ich nicht die Sozialpsychologie als Einzeldisziplin, sondern die psychologische Grundle­gung oder die sozialpsychologische Grundlegung der Soziologie, die also auf­gebaut ist auf Bewußtseinsphänomenen, das ist das Entscheidende. Ich gebe zu, mein Ausdruck war nicht sehr gut.

Frage: Als kritische Absetzung von der Psychoanalyse war das nicht zu verstehen ...

Nein, nein. Ist Ihnen eigentlich klar, daß ich seit 30 Jahren Mitherausgeber der Zeitschrift "Psyche" bin? Ich habe lebenslang mit Psychoanalytikern engste Kontakte gehabt, also mit Mitscherlich z.B., aber auch mit Richard Hülsenbeck in Berlin und habe selbst eine Lehranalyse gemacht, die allerdings abgebrochen werden mußte, weil mein Analytiker emigrierte. Ich habe mich immer mit Psy­choanalyse beschäftigt, die Herren in Frankfurt haben sich nie damit beschäf­tigt. Die haben sich nur theoretisch damit beschäftigt. Deswegen war es ja auch so schwer mit ihnen zu reden. Sie mußten dauernd etwas komplizieren, vor al­lem Teddy Adorno. Horkheimer war darin etwas rationaler. Wir kannten uns sehr gut und haben uns geholfen, aber mit ihnen verkehren, nein. Die waren mir zu überspannt. Teddy war enorm gescheit, aber dann gabe es seine Frau Gretchen, die hat ihn völlig als Kleinintellektuellen im Vogelkäfig gehalten. Er durfte nicht Piep und Pap sagen.

Frage: Haben Sie Walter Benjamin kennengelernt?

Nein, leider nicht, dabei müssen wir zusammen studiert haben. Ich habe viel von ihm gelesen und seine Arbeiten haben mich sehr angesprochen.

Frage: Können wir noch einmal zu Ihrem Tönniesaufsatz aus dem Jahre 1955 zurückkommen?

Es ist alles noch viel schlimmer als ich geschrieben habe. Manche Sachen sind so verworren, mal sagte er es so, drei Seiten später sagte er es wieder an­ders. Ich wollte mit diesem Artikel nicht polemisieren, ich wollte eine Weltan­schauung treffen. Nämlich die des kaiserlichen Deutschland, die bis heute wei-

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Ein Gespräch mit Rene König 237

ter wirkt. Dazu gehört der Begriff Gemeinschaft, das ist gar kein Begriff, son­dern ein Unbegriff. Dabei hat Tönnies allerdings das Entwicklungsmodell, was Freyer daraus gemacht hat, nämlich von Gemeinschaft über Gesellschaft, zu neuer Gemeinschaft, abgelehnt.

Frage: In dieser Zeit, in der Mitte der 50er Jahre, gab es heftige Auseinan­dersetzungen in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Mit Helmut Pless­ner gab es 1955 zum ersten Mal einen Emigranten als Präsidenten.

Ja. Zuerst sollte ich Präsident werden, ich habe aber nein gesagt und Pless­ner vorgeschlagen. Erstens war Plessner der ältere und zweitens war er der bes­sere. Darüber gab es heftige Auseinandersetzungen und wir wollten schon aus­einandergehen, da hatte ich die Idee, Plessner als Präsidenten und mich als Vi­zepräsidenten vorzuschlagen. Damit waren alle einverstanden und so ist es dann auch geschehen. Es gab damals viel Krach, vor allem wegen Frau Noelle-Neu­mann und anderen. Das war höchst unerfreulich, bis auf die Sitzordnung: Hier saßen die Nazis, dort saßen die Neuen oder Nicht-Nazis. Damit hatten wir zu kämpfen und Plessner hat das wunderbar gemacht, mit seiner ironischen Art, denn erstens war er, wie gesagt, der Ältere und an Qualität mir weit überlegen mit seinen philosophischen Hintergründen, und zweitens hat er als Präsident sehr geschickt die Auseinandersetzungen geleitet. Wissen Sie, das Bittere dabei war, daß es wieder die wenigen Emigranten waren, die sprachen, und nicht die anderen, die eigentlich hätten sprechen müssen, aber so taten, als sei nichts ge­schehen. Diese ganze Verlogenheit ... Viele begreifen nicht, wieso viele so kri­tisch über diese Deutschen denken. Ich galt als der Querulant, während es über die verehrliehe Frau Noelle-Neumann hieß, sie sei in Amerika gewesen. Ja si­cher, sie war in Amerika. Wer aber bekam denn damals ein Stipendium von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der nach Amerika wollte? Nur ein ausge­wiesener Nazi, andere kamen gar nicht in Frage, so kam Frau Noelle-Neumann nach Amerika, nicht, weil die Amerikaner sie gerufen hatten, wie sie so unter­stellt, die wußten gar nicht, wer sie war. 8 Sie wissen es auch heute noch nicht und wollen es auch gar nicht wissen. Das gehört zu den Dingen, die für mein Leben nicht zu überwinden sind.

Frage: Es gibt Hinweise, daß Schelsky um 1955 versucht haben soll, die Präsidentschaft zu übernehmen.

Sicher wollte er das, er hat es mehrfach versucht, aber es wurde einstim­mig dagegengestimmt. Immerhin gab es damals einige jüngere Leute, die die al­ten Zeiten weder vermißten noch etwa fortsetzen wollten. Sehr viele gute Leute, die ich zum Teil auch gut gekannt habe. Mit einigen stehe ich auch noch heute in Kontakt, obwohl ich eigentlich, nachdem ich nicht mehr unterrichte, wenig Bedürfnis nach Kontakten habe. Sie sehen ja, ich bin schon fast außer Hause und mache Dinge, die gar nichts mehr mit der Soziologie zu tun haben, die viel vernünftiger sind. Ich habe mich vor allem wieder der Ethnologie zugewandt.

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238 Michael NeumannlGerhard Schäfer

Anmerkungen

Vgl. Brede, Wemer, Zorniger Rückblick eines Wissenschaftlers, in: Frankfurter All­gemeine Zeitung, Nr. 142/24.6. 1987, S. 12. Wir verweisen in diesem Zusammen­hang auf zwei wichtige Bücher Rene Königs, die interessierten Leserinnen und Le­sern über das Interview hinaus Aufschluß über Leben und Werk vermitteln können: König, Rene, Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1984 (zuerst: 1980); ders., Soziologie in Deutschland. Begründer, Verächter, Verfechter, München 1987.

2 Gedruckt ist die Rede in: Institut für Sozialforschung an der Johann-Wolfgang­Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ein Bericht über die Feier seiner Wiederer­öffnung, seine Geschichte und seine Arbeiten, Frankfurt/ M. 1952, S. 19-21: die Er­öffnungsfeier fand am 14. 11. 1951 anläßlich des Neubaus statt.

3 Vgl. König, Rene, Vom Wesen der deutschen Universität, Berlin 1935 - wir verwei­sen auf die ausführliche "Besprechung" des Buches im "Kamptblatt des Gaustuden­tenbundes Sachsen der NSDAP" vom 18. I!. 1935 unter dem namentlich nicht ge­zeichneten Titel: Ist das die neue Universität?, in: Offenes Visier, 23 Hbj. / Nr. 2, 18. 11. 1935, S. 1- 2; vieles deutet - wenn auch nicht mit letzter Sicherheit - auf den Autor Helmut Schelsky hin, der sich in seiner Staatsexamensarbeit mit Wilhelm von Humboldt und in seiner mündlichen Doktorprüfung sowohl in Soziologie (bei Hans Freyer) als auch in Pädagogik (bei Theodor Litt) mit Fragen der Universitätsreform und von Hochschulneugründungen beschäftigt hatte. Die Kritik an Königs Fichte­Interpretation verstärkt diesen Eindruck, zumal Schelsky im April 1935 seine Fichte­Dissertation gerade vorgelegt hatte. Königs Fichte-Deutung im Sinne des "absoluten Idealismus" wird ebenso abgelehnt wie die uneingeschränkte Integration von Fichtes "Idee der deutschen Nation" in eine faschistische Ideologie. Zu den Übereinstimmungen mit dem oben zitierten Artikel, die bis in die sprachli­chen Formulierungen reichen vgl.: Schelsky, Helmut, Theorie der Gemeinschaft nach Fichtes ,Naturrecht' von 1796, Berlin 1935 (.Q. Diss. phi!. Leipzig 1935), S. 86ff., bes. S. 93 (dort die deutliche Kritik an Fichtes Idealismus).

4 Vgl. Brepohl, Wilhe1m, der Typus "Polack im Ruhrgebiet. Herkunft und Bedeutung der Minderwertigen, Gelsenkirchen 1938/1939.

5 Vgl. Käsler, Dirk, Soziologische Abenteuer. Earle Edward Eubank besucht europäi­sche Soziologen im Sommer 1934, Opladen 1985, S. 49-52, hier: S. 50.

6 Vgl. Schmitt, Carl, Die politische Theorie des Mythus (1923), in: ders., Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar - Genf - Versailles 1923 - 1939, Hamburg 1940, S. 9-18, S. llff. (zu G. Sorei).

7 Vgl. Mitscherlich, Alexander, Ein Leben für die Psychoanalyse. Anwendungen zu meiner Zeit, Frankfurt/M. 1980, S. 87, S. 103: Mitscherlich hatte Niekisch über Er­nst Jünger in Berlin noch vor 1933 kennengelernt.

8 Vgl. Noelle, Elisabeth, Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse, Frankfurt/M. 1940, S. 132ff.: dort entwickelt Elisabeth Noelle die Vorstellung von der Demoskopie als einer administrativen Hilfswissenschaft für das Goebbelsche Propagandaministerium, dessen Unterstützung durch einen Vertreter von der Verfas­serin dankend erwähnt wird (vgl.: S. 3).

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Carsten Klingemann

Entnazifizierung und Soziologiegeschichte: Das Ende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und das Jenaer Soziologentreffen (1934) im Spruchkammerverfahren (1949)

Einführung

Kurzbiographien Erich Rothacker Franz Wilhelm Jerusalem Reinhard Höhn

Jenaer Soziologentreffen (6. /7.1.1934) Teilnehmer (soweit bekannt) a) Wissenschaftler b) weitere Teilnehmer Vorträge / Publikationen Berichte über den Soziologentag (soweit bekannt)

Dokumente (Abschriften im Originalwortlaut) mit Kommentar Eidesstattliche Erklärung von Erich Rothacker (8. 10. 1947) Spruch der Berufungskammer Frankfurt am Main, TI. 4. 1949

Die im folgenden abgedruckten Dokumente aus dem Nachlaß von Erich Rot­hacker zum Spruchkammerverfahren gegen den ehemaligen Jenaer Rechtsso­ziologen Franz Wilhelm Jerusalem bieten sehr aufschlußreiches Anschau­ungsmaterial über die politische Selbsteinschätzung konservativer Sozialwis­senschaftier und ihrer Rolle im "Dritten Reich". Dabei spielen für die Einstufung Jerusalems im Berufungsverfahren als "entlastet" die Ereignisse um das Ende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS) und das Jenaer Soziologentreffen von 1934 eine prominente Rolle. Neben den üblichen ,Erin­nerungslücken', Geschichtsklitterungen und geziehen Lügen zeigen die Doku­mente auch, wie daheimgebliebene Fachvertreter das Stereotyp des "politi­schen Mißbrauchs" der Soziologie durch den Nationalsozialismus, das nach 1945 ganz allgemein gerne kolportiert wurde, schufen. Demnach wurden po­litisch offensichtlich unbedarfte, aber wohlmeinende Sozialwissenschaftier, die die sogenannte Machtergreifung in zeitgemäß-reformerische Aufbruch­stimmung versetzt hatte, von einigen wenigen radikalen Nazis instrumentali­siert, so daß sie schließlich nur noch auf ihrem Posten verharrten, um das

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240 Carsten Klingemann

Schlimmste zu verhüten. Als der ,braune Spuk' dann vorüber war, bescheinig­ten sie sich schließlich gegenseitig, aktiven Widerstand geleistet zu haben.

Erich Rothacker und Franz Wilhelm Jerusalem gehörten zu jener großen Gruppe national-konservativer Professoren, die hofften, ihre antidemokrati­schen und staatsautoritären Vorstellungen einer grundlegenden Hochschulre­form bzw. Erneuerung der Soziologie unter den Bedingungen der NS­Volksgemeinschaft realisieren zu können. Aus diesen Gründen wirkten sie an der Selbstgleichschaltung der Hochschulen mit, ohne daß sich jedoch ihre die politischen Realitäten verfehlenden und überdies höchst eigennützigen Pläne am Ende erfüllten. Der sich entgegen allen weltanschaulichen Phrasen durch­setzende hochschulpolitische Funktionalismus verzichtete auf dünkelhafte ge­lehrige Überhöhung. Rothacker mußte nach kurzer Zeit seinen Posten als Lei­ter der "Abteilung Volksbildung" im gerade gegründeten Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda aufgeben, obwohl er doch Z.B. als An­sprechpartner für die studentischen Spitzenfunktionäre des Nationalsozialisti­schen Deutschen Studentenbundes und der Deutschen Studentenschaft, die die Bücherverbrennung organisierten, fungiert hatte. Jedoch wurden dem Goebbels-Ministerium außer der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin keine Kompetenzen im traditionellen Bildungssektor zugestanden. Rothackers weitere Bemühungen, einen Posten in der NS-Administration zu bekommen, scheiterten ebenso wie seine hochschulpolitischen Denkschriften. Jerusalem konnte sein Ziel, der nationalsozialistischen Rechtsschöpfung eine Jerusalem­sche Prägung zu verleihen, ebenfalls nicht erreichen. Seine Idee, die ,liberali­stischen Überspitzungen' des hergebrachten Rechts durch eine kollektivi­stisch-völkische Note - unter Beibehaltung gewisser rechtsstaatlicher Grund­elemente - zu überwinden, scheiterte nicht erst an der paradoxen Realität des nationalsozialistischen "Doppelstaats" (E. Fraenkel), der existentiell auf die Amalgamierung von Rechtlosigkeit, Rechtswillkür und RechtsfOrmigkeit an­gewiesen war, sondern bereits an der Ablehnung durch konkurrierende akade­mische NS-Rechtswahrer.

Angeführt wurden diese von seinem ehemaligen Assistenten Reinhard Höhn, der der eigentliche Inspirator und Organisator des Aufstandes gegen die alte Leitung der DGS und die Durchführung des Jenaer Soziologentreffens war. Als hauptamtlicher Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes (SD) der SS und mit Unterstützung seines Freundes Ernst Krieck, dem NS-Vorzeige-Pädago­gen und damaligen Rektor der Universität Frankfurt am Main, sowie des In­spekteurs der Landesführerschulen des Arbeitsdienstes, Wilhelm Decker, versuchte Höhn, seine bis dahin blockierte akademische Karriere über die Mobilisierung der Soziologie zu beschleunigen. Obwohl dieses Unternehmen fehlschlug, war Höhn, der im SD auch für Hochschulpolitik zuständig war, geraume Zeit später Ordinarius und Direktor des Instituts für Staatsforschung an der Universität Berlin.

Wenngleich es Rothacker und Jerusalem (wie vielen anderen) nicht ge­lang, den Nationalsozialismus ihren Auffassungen gemäß zu kultivieren, so

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Entnazifizierung und Soziologiegeschichte 241

waren sie andererseits - im Gegensatz zu ihrer Nachkriegsselbstdarstellung als aktive Antifaschisten - sehr erfolgreich daran beteiligt, daß Opportuni­sten wie Reinhard Höhn, die schnell zu einflußreichen NS-Amtsträgern auf­stiegen, die Nazifizierung der Hochschulen voranbringen konnten. Die fol­genden Kurzbiographien von Rothacker, Jerusalem und Höhn skizzieren typi­sche Karriereverläufe sozialwissenschaftlicher Intelligenz im "Dritten Reich".

Erich Rothacker U.3.1888 - 11.8.1965

Professor für Philosophie, Direktor des psychologischen Instituts der Universität Bonn bis zur Emeritierung

Als Soziologe:

Mitglied der DGS und Referent auf Soziologentagen' Der Artikel über Rothacker im Internationalen Soziologenlexikon hebt besonders seinen Beitrag zur Kultursoziologie hervor und bezeichnet vier Schriften, die zwi­schen 1933 und 1945 erschienen, als für "die Soziologie bedeutsame Werke".2 Rothacker selbst benannte während des "Dritten Reichs" als eines seiner besonde­ren Arbeitsgebiete "Volks-Soziologie". 3

Zum Jahresbeginn 1933 mahnte Rothacker in einem Artikel über "Nationale So­ziologie", die "junge stürmisch zum Siege eilende Bewegung, der unser Herz ge­hört", daß sie nach der Überwindung von "Übergangskrankheiten" die Ausbildung hoher Verwaltungsbeamter vordringlich betreiben sollte - eine Aufgabe für eine nationale Soziologie. 4

Mitherausgeber der von Gunther Ipsen herausgegebenen Abteilung "Volkslehre und Gesellschaftskunde" der von Hans R.G. Günther und Rothacker herausgegebe­nen Reihe "Neue Deutsche Forschungen" Nach 1945 bescheinigte Max Horkheimer Rothacker "fine sociological reputa­tions". 5

Politische Aktivitäten:

Mitunterzeichner der "Erklärung deutscher Universitäts- und Hochschullehrer" für Adolf Hitler im "Völkischen Beobachter" vom 29.7.1932. Eintritt in den "Nationalsozialistischen Lehrerbund" (Fachschaft für Hochschul­lehrer) am 12.11.1932.6

Mitunterzeichner des Aufrufs" Die deutsche Geisteswelt für Liste 1. Erklärung von 300 deutschen Universitäts- und Hochschullehrern" im "Völkischen Beobachter" vom 4.3.1933. April 1933 Leiter der "Abteilung Volksbildung" im Reichsministerium für Volks­aufklärung und Propaganda. 7

Eintritt in die NSDAP am 1.5.1933.8

Mitglied des Ausschusses für Rechtsphilosophie der Akademie für Deutsches Recht9

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Denkschriften

"Denkschrift für Herrn Reichskommissar Rust", 22.4.1933 JO (verschiedene hoch­schulpolitische Projekte) "Reichsvolksdienst im Winter 1933/34,,11 Für das Reichsministerium des Innern: "Bericht zum Ausbau einer wissenschaftli­chen Abteilung des Reichsministeriums des Innern", 28.4.1933 (z.B. Einrichtung reichsunmittelbarer sozialwissenschaftlicher Forschungsinstitute) 12

Für das Reichsministerium des Innern: Denkschrift mit Überlegungen zur Hoch­schulsituation, Reorganisation der Hochschulpolitik und Einrichtung von For­schungsinstituten (z.B. "Gründung von kulturwissenschaftlichen Forschungsinsti­tuten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft"), 15.3.1934 13

Programmatische Schriften:

Nationale Soziologie, in: Westdeutsche Akademische Rundschau, 3. Jg., Nr. I, 1.1.1933 Politische Universität und Deutsche Universität, in: Kölnische Zeitung, 30. 7. 1933 Deutsches Semester, in: Sonntag-Morgen, 30.7.1933 Die Grundlage und Zielgedanken der nationalsozialistischen Kulturpolitik, in: Die Erziehung im nationalsozialistischen Staat. Vorträge, gehalten auf der Tagung des Pädagogisch-psychologischen Instituts in München vom 1. bis 5.8.1933. Leipzig 1933 Neue Aufgaben der Wissenschaft, in: Deutsches Bildungswesen. Erziehungswis­senschaftliehe Monatsschrift des Nationalsozialistischen Lehrerbundes, Nr. 11, Nov. 1934 Geschichtsphilosophie. München, Berlin 1934 (mit dem nach 1945 getilgten §41, in dem R. die "Instinktsicherheit des großen Staatsmanns Adolf Hitler", die "Ver­wirklichung der hohen Ideale Walter Darres" sowie dessen "Idealbild eines ,Neua­dels aus Blut und Boden'" [So 156, 1481 preist.)

Rothacker als Antifaschist und NS-Geschädigter:

Anläßlich einer vorübergehenden Suspendierung im Februar 1946 legte Rot­hacker eine sechsseitige Verteidigungsschrift vor, in der er sich unter Verweis auf die in seinen Personalakten bereits befindlichen Unterlagen und zahlrei­chen "Persilscheine" als öffentlich aufgetretener Nazi-Gegner und NS-Ge­schädigter darstellte. 14 Da seine Bonner Personalakten noch gesperrt sind, lassen sich die meisten Angaben nicht überprüfen. Rothacker gab sich u.a. als Philosemit aus und versuchte, den Charakter seiner Parteimitgliedschaft als rein formelle dadurch zu belegen, daß er ständig Ärger mit dem NS­Dozentenbund gehabt habe. In der bereits zitierten Denkschrift für das Reichsinnenministerium vom 15.3.1934 erklärt er sich - ohne Not, aber aus

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Enma:iji:ierung und Soziologiegeschichte 243

einsichtigen Gründen - "mit allen gegen Juden ergriffenen Maßnahmen voll einverstanden" 15. Aber auch in einem Schreiben an den Führer des Reichs­verbandes der deutschen Hochschulen, mit dem er häufiger hochschulpoliti­sche Strategien absprach, waren "die entfernten Dozenten kranke Organe un­seres Organismus". 16

Noch 1939 beklagte sich der örtliche Dozentenbundsführer über Rot­hackers "spöttisch-ablehnende" Haltung gegenüber dem Dozentenbund und stellte die Aufnahme wegen Rothackers Weigerung, Formalitäten zu beachten, zurück. Da Rothackers "ätzende Kritik" selbst vor der Partei nicht haltmache, sprach sich der Dozentenbundsführer auch gegen die Genehmigung einer Auslandsreise aus. 17 1941 war Rothacker dann aber nicht nur Teilnehmer ei­ner Arbeitstagung der Psychologen in Rom, der Dozentenbund erhob auch keine Einwände gegen eine Spanienreise, da Rothacker nun im Dozentenbund mitarbeite l8 • 1944 hielt Rothacker schließlich sogar Vorträge am Deutschen Institut in Paris. 19 Rothacker mag wohl wegen seiner bekannten Überheblich­keit einige Reibereien mit braunen Lokalgrößen provoziert haben und sich bei Gelegenheit auch über deren geistige Inferiorität mokiert haben. 20 Damit ge­hört er zu jener dominanten Gruppe von Gelehrten, deren mentale Vorbehalte ihre tatkräftigen Handlangerdienste für das NS-Regime und ihre prinzipielle Loyalität allerdings nicht aufhoben.

Franz Wilhelm Jerusalem 21.6.1883 - 1970

Professor für Allgemeine Soziologie, Staats- und Rechtssoziologie, Völkerrecht und Hilfswissenschaft des öffentlichen Rechts, Universität Jena; nach 1945 Lehrtätigkeit an den Universitäten Frankfurt am Main und München

Als Soziologe:

Jerusalem spielte in der Weimarer Republik für die Institutionalisierung der Soziologie keine Rolle. Obwohl er einschlägige Monographien vorlegte und in Fachzeitschriften publizierte, blieb er ohne Resonanz. 21 Wie auch andere Kollegen seiner Zeit arbeitete er an einem geschlossenen System einer Soziologie, die bei ihm um den Begriff der Gemeinschaft zentriert war. Obwohl sich seine Variante einer Gemeinschaftssoziolo­gie theoretisch als unfruchtbar, andererseits nach 1933 aber als politisch instrumentali­sierbar erwiesen hatte, hielt er noch nach 1945 an ihr fest. 22

Dennoch verfügte er auch nach 1933 in seinem Soziologischen Seminar nur über einen äußerst bescheidenen Etat, zu dem er sogar einmal 70 Reichsmark aus eigener Tasche zuschoß. Er beschäftigte mehrere Jahre hindurch lediglich einen unbezahlten Volontärassistenten und hatte zwischen zwei und 15 Seminarteilnehmer. 23 Neben juri­stischen Promotionen wurden bei ihm während des "Dritten Reichs" etwa ein gutes Dutzend in Soziologie abgeschlossen.

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Politische Aktivitäten:

Eintritt in die NSDAP nach Aufhebung der Neuaufnahmesperre zum 1.5.1937.14

Politische Einschätzungen:

Von studentischer Seite: "Von einer positiven Einstellung zum Nationalsozialismus kann bei Jerusalem nicht die Rede sein. Er hackt noch auf alten Theorien herum, die ich nicht einzusehen vermag. So hat er sich auf eine unbedingte Trennung zwischen öf­fentlichem und privatem Recht versteift. Nebenbei ist er Soziologe und betrachtet auch das Völkerrecht von einer ihm eigenen Anschauungsweise. Auf aktuelle Dinge im Staatsrecht geht er selten ein, und wenn, dann sehr vorsichtig, und oft einseitig:,15 In einer Erklärung vom Mai 1945 sagte ein Kollege aus, daß Jerusalem von der Kreislei­tung Jena der NSDAP ständig beargwöhnt worden sei und der nazistische Rektor der Universität verhindert habe, daß Jerusalem zum Ordinarius ernannt wurde.26

Anläßlich einer Einladung Jerusalems zu einem internationalen Kongreß im Jahr 1937 in Pari~ stellte der Kreisgruppenführer im Nationalsozialistischen Rechtswahrer­bund fest, daß Jerusalem nicht die Gewähr biete, "sich im Ausland rücksichtslos für den Nationalsozialismus und für den nationalsozialistischen Staat einzusetzen".27 Der Kreisleiter der NSDAP, der auch Bedenken gegen Jerusalem hegte, stellte sie aller­dings für diesen Fall zurück.28

Publikationen:

Nach 1933 versuchte Jerusalem in verschiedenen soziologisch-staatsrechtlichen Publi­kationen (z.B. Der Staat. Jena 1935; Das Verwaltungsrecht und der neue Staat. Jena 1935), seine weiterhin von der Dichotomie von Staat und Individuum ausgehende Ge­meinschaftslehre den neuen Verhältnissen anzupassen. Namentlich Reinhard Höhn machte jedoch deutlich, daß Jerusalern das Besondere des Verhältnisses von Führer, Volk, Rasse und Staat nicht angemessen erfasse. 29

Reinhard Höhn 29. 7. 1904

Professor für öffentliches Recht, Direktor des Instituts für Staatsforschung an der Uni­versität Berlin bis 194530

GemeinschaJtssoziologie

R. Höhn: Die Wandlung in der Soziologie, in: Süddeutsche Monatshefte, Bd. 31 (1933/34); ders.: Vom Wesen der Gemeinschaft. Vortrag gehalten auf der Landesfüh­rerschule 11, Lobeda, und der Reichsführerschule des Deutschen Arbeitsdienstes. Ber­lin, 1934 (H. 1 der Schriftenreihe: Das Wissen um die Gemeinschaft; hgg. von R. Höhn); ders.: Volksgemeinschaft und Wissenschaft, in: Süddeutsche Monatshefte, Bd. 32 (1934/35)

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Entnazifizierung und Soziologiegeschichte 245

Höhn als praktischer Soziologe

Gründer der Lebensgebietforschung I-berichterstattung des Sicherheitsdienstes der SS Organisator der "Arbeitsbesprechung des Reichswirtschaftsministeriums über so­ziologische Fragen und Aufgaben am I. Dezember 1944" im Auftrag von Otto Oh­lendorf, ständiger Vertreter des Staatssekretärs im Reichswirtschaftsministerium und Amtschef des SD-Inland "Erfahrungen der deutschen Ostsiedlung bis zur Machtergreifung für den verwal­tungsmäßigen Aufbau eines geschlossenen Siedlungsgebiets"; Febr. 1942 (Beispiel eines Forschungsprojekts des Instituts für Staatsforschung, das exklusiv für den Reichsführer SS, insbesondere in seiner Eigenschaft als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums, d.h. für die Planung der Ausrottungs- und Besied­lungspolitik im "neuen Osten", arbeitete.)

Politische Aktivitäten

vor 1933: Funktionär des Jungdeutschen Ordens seit 1932: Zusammenarbeit mit dem Nachrichtendienst der SS Eintritt in die NSDAP am 1.5.1933 ab 15.9.1933 hauptamtlich im SD, Leiter des Kulturreferats; als Hauptabteilungslei­ter der Zentralabteilung II 12 im SD-Hauptamt (Deutsche Lebensgebiete) Gründer der " Lebensgebietforschungen" I ,,-berichterstattung" 1937 Entfernung aus dem SD aufgrund politisch anrüchiger Publikationen von vor 1933 im Zusammenhang einer Fehde verfeindeter NS-Wissenschaftler auf persönlichen Wunsch seines Freundes Heinrich Himmler 1944 schließlich noch zu einem sehr hohen SS-Dienstgrad (Oberführer) befördert

Wissenschaftliche Karriere

1929 Promotion (Die Stellung des Strafrichters in den Gesetzen der französischen Revolutionszeit, 1791-1810); Repetitor in Jena ab 1930 nicht etatisierter Assistent bei EW. Jerusalem am Soziologischen Institut der Universität Jena 1934 Habilitation und Dozentur, Universität Heidelberg 1935 planmäßiges Extraordinariat, Universität Berlin; ab 1939 Ordinarius 1935-45 Direktor des Instituts für Staatsforschung an der Universität Berlin 1942 Wissenschaftlicher Direktor der Internationalen Akademie für Staats- und Verwaltungswissenschaften, Berlin Akademie für Deutsches Recht: Stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Polizeirecht; Mitglied im Unterausschuß für Fragen des öffentlichen Vereinsrechts; Mitglied der Klasse II der Abteilung für Rechtsforschung.

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246 Carsten Klingemann

Bereits auf dem Jenaer Soziologentreffen im Januar 1934 konnte Höhn einen Erfolg verbuchen. Er wurde, wie der Völkische Beobachter berichtete, zum "Verbindungs­mann einer Wissenschaft der Gemeinschaft zum deutschen Arbeitsdienst" ernannt. Die Ereignisse um das Soziologentreffen sind an anderer Stelle bereits beschrieben worden3l , so daß im folgenden nur die für das bessere Verständnis der abgedruckten Dokumente nötigen Erläuterungen gegeben werden.

Jenaer Soziologentreffen 6. /7. Januar 1934

Teilnehmer (soweit bekannt)

a. Wissenschaftler (* = Mitglied der DGS) Böhm, Max Hildebert*; Günther, Hans F.K.; Hellpach, Willy*; Herrfahrdt, Heinrich; Höhn, Reinhard; Jecht, Horst*; Jerusalem, Franz Wilhelm*; Krieck, Ernst; Lehmann. Gerhard*; Poetzsch-Heffter, Friedrich; Rothacker, Erich*; Rumpf, Max*; Schuster, Ernst*; Stoltenberg, Hans Lorenz*; Tatarin-Tarnheyden, Edgar*; Zizek, Franz* (Hans Freyer war hingegen auf einer Tagung in Budapest.)

b. Weitere Teilnehmer Justus Beyer, (wiss. Hilfsarb., Soziolog. Inst., Univ. Jena); Dr. Wilhelm Decker (s.u.); von Egidy (Marineoffizier); Abraham Esau, (Rektor, Univ. Jena); Dr. Alfred Kraus­kopf (s. u.); Merkel (Schulrat / Vertr. d. Thüringer Heimatschule ); Dr. Rothe (Vertr. d. Reichsführers d. Volksbundes f. d. Deutschtum i. Ausland); Dr. Schilling (Vertr. d. Deut. Rechtsfront); Schneider (Schulrat/ Vertr. d. Thüringer Heimatschule); Wipper­mann (Leiter d. Landesführerschule d. Arbeitsdienstes H, Lobeda)

Vorträge

Decker, Wilhelma (Vortragsthema unbekannt) Günther, Hans F.K.: Soziologie und Rassenforschung Höhn, Reinhard: Die praktischen Aufgaben der Soziologie in der Gegenwart Jerusalem, Franz W.: Gemeinschaft als Problem unserer Zeit Krauskopf, Alfredb : Gegenwärtige Probleme der Religionssoziologie Krieck, Ernst: Erziehung durch die Volksordnung Walther, Andreas: Die neue Idee organischer Gesellschaft (aus unbekannten Gründen

wurde ihm der Vortrag entzogen)

Berichte über das SoziologentrejJen (soweit bekannt)

a. Zeitungen Kölnische Volkszeitung, 13.,14.1.1934 Völkischer Beobachter (Norddeut. /Berliner Ausgabe), 10.1.1934 Völkischer Beobachter (Süddeut. /Münchener Ausgabe), 10.1. u. 11.1.1934

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Entnazifizierung und Soziologiegeschichre 247

b. Zeitschriften Beyer, Justus: Die Tagung der deutschen Soziologen in Jena und die Aufgabe der Wis­

senschaft im neuen Staate, in: Volk im Werden, 2. Jg. (1934) Lehmann, Gerhard: Probleme deutscher Soziologie. Bericht über das Soziologentref­

fen in Jena, in: Geistige Arbeit, Nr. 2, 20.1.1934 N.N.: Deutsche Soziologie, in: Der deutsche Volkswirt, 8. Jg., Jan. /März 1934 Stoltenberg, Hans L.: Das Treffen Deutscher Soziologen in Jena vom 5. bis 7. Januar

1934, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 12. Jg. (1933/34) P. Stöckigt: Wissenschaft in der Entscheidung. Bericht über das Treffen der deutschen

Soziologen am 6. und 7. Januar 1934 in Jena, in: Schule und Evangelium, 8. Jg., 1933/1934

N.N.: Neue Soziologie, in: Die Hilfe, 40, Nr. 2 (1934)

Publikationen

Eine gemeinsame Publikation der Vorträge war geplant, ist aber nicht erfolgt. Das Buch von Alfred Krauskopf "Die Religion und die Gemeinschaftsmächte" (Leipzig, Berlin 1935) beruht auf seinem Vortrag (s. dort das Vorwort).

Nach 1945

In seinem Vortrag pries Jerusalem seine Gemeinschaftslehre als Grundlage für die Ver­wirklichung der NS-Volksgemeinschaft an, was der Völkische Beobachter lobend her­ausstellte. Als Jerusalem 1947 Erich Rothacker um eine Eidesstattliche Erklärung für seine Verteidigung vor der Spruchkammer bat, wünschte er, daß Rothacker seinen Vor­trag, der angeblich Rousseau zum Thema gehabt haben sollte, als anti-nationalsozia­listisch charakterisiere.

"Auf der Grundlage unserer Unterredung möchte ich als wesentlich betrachten, wenn Sie imstande wären, eine Erklärung darüber abzugeben, dass ich auf dem So­ziologentag nicht als Nazi aufgetreten bin, sondern im Gegenteil als "altes Eisen", das nun beiseite zu legen sei. Wichtig wäre das Auftreten Höhns zu beschreiben und die Ausführungen des Mannes vom Arbeitsdienst über Höhn als kommenden Mann. Könnten Sie als vage Erinnerung wenigstens von meinem Vortrag über Rousseau sprechen und davon, dass er keine Ausführungen im Sinne des National­sozialismus enthielt? Sehr wertvoll wäre, wenn Sie hinzufügen würden - entspre­chend Ihrer Erzählung vom Sonntag -, dass die ganze Tagung den Nazis unsym­pathisch gewesen wäre, dass sie aber mit Erfolg versucht hätten, für sich das Beste daraus zu machen.,,32

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248 Carsten Klingemann

Wie das folgende Dokument zeigt, konnte sich Jerusalem auf Rothackers bekanntes er­zählerisches Talent verlassen.

Prof. Dr. Erich Rothacker33

Bonn Schumannstr. 41

Eidesstattliche Erklärung

Auf Wunsch von Herrn Professor Jerusalem fasse ich meine auf dem Jenenser Soziolo­gentag gewonnenen Eindrücke kurz zusammen. Er war der erste wissenschaftliche Kongress, den ich im Dritten Reiche mitmachte. Der Verlauf war ein sehr typischer und lehrreicher. Angelegt war die Tagung als eine streng wissenschaftliche alten Stils. In diesem Stil waren auch die Vorträge gehalten; selbstverständlich auch der von Pro­fessor Jerusalem (über Rousseau)c. Eine auffällige Ausnahme machte der Vortrag des damaligen Assistenten Dr. Höhn, den natürlich die wenigsten Besucher kannten. Nach Auskünften hatte er eine Rolle im Jungdeutschen Orden gespielt. Sein Auftreten war anspruchsvoll. Er wollte die Staatswissenschaft "revolutionieren", aber genau besehen war die Gesamthaltung auch dieses Vortrags trotz des bewußten Radikalismus noch überwiegend akademisch und theoretisch. Ich war zunächst nicht imstande, den Vor­trag zur Partei in ein eindeutiges Verhältnis zu bringen. Die spätere SS-Phraseologie war das noch nicht. Ein neues Gesicht erhielt dieser Vortrag erst durch die Diskussions-Rede eines Arbeitsdienstführersd , die dem Gesamttenor nach die voraus­gegangenen Vorträge recht gönnerhaft abtat (sozusagen als relevanzloses Professoren­gerede) dann aber die Ausführungen Höhns über den grünen Klee lobte. Diesen Mann solle man zum Professor dieser seltsamen "Soziologie" machen. Ich erinnere mich an diesen Moment sehr genau, weil ich nachher bei einem Glase Bier zu einigen mir un­bekannten Herrn ironisch sagte: "Wenn ich nächstens einmal einem Obersten begeg­nete, würde ich ihm sagen, ich wisse einen hervorragenden Gefreiten, den ich ihm zum Bataillonsführer empfiihle." Was eisigem Schweigen begegnete. Wobei es sich zeigte, daß unter den jüngeren Zuhörern echte Nazis waren. Es war damals nicht ganz klar, welche Staatsauffassung die NSDAP bevorzugte. Eigentlich war die verbreitetste Ideo­logie auf das "Volk" abgestellt und damit im Grunde liberal. Jedenfalls stand der Staatsgedanke, wie ihn Karl Schmidte im Sinne Görings vertrat, noch nicht im Vor­dergrund. Nun tauchte mit einem Mal ein Parteiexponent auf, der zweifellos als Beob­achter auf den Kongress geschickt worden war und unterstützte einen noch radikaleren Etatismus. Ich erinnere mich, überrascht gewesen zu sein, daß Höhn damit eine so leb­hafte offiziöse Anerkennung fand. Bald darauf erfolgte seine Berufung nach Berlin. An andere Nazis unter den Rednern kann ich mich nicht erinnern f • Im Gegenteil drehte sich der folgende Teil der Tagung stundenlang um ein recht langweiliges religions-soziologisches Thema. Aber der jugendliche Teil der Zuhörer machte mit einemma\ einen alarmierten Eindruck. Die Generalstimmung war: diese Professoren gehören samt und sonders zum alten Eisen und die Gesellschaft für Soziologie sei eine überlebte Angelegenheit. Tatsächlich konnte auch kein Soziologentag im Dritten Reich mehr stattfinden. Zu diesem "alten Eisen" gehörte sichtlich auch Herr Professor Jeru­salem. Sein Assistent Höhn dachte gar nicht daran, ihn politisch ernst zu nehmen und in ihm einen Nationalsozialisten zu sehen. Ich selbst bin denazifiziert und im Amte.

(gez.) Rothacker o. Prof. an der Universität Bonn.

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Rothackers. die Wahrheit auf den Kopf stellende Schilderung der Rolle Jerusalems und des Verlaufs des Soziologentreffens wurde von der Spruchkammer für ihre Begrün­dung der Einstufung Jerusalems als .. entlastet" voll übernommen.

Abschrife4

Ausfertigung Datumstempel): Tl. April 1949

Die Berufungskammer 2a Kammer Frankfurt. den 4.4.49 Ber. Reg. N r. 2fJ78 Aktenzeichen 1. Instanz F 1106771

Auf Grund des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus vom 5. März 1946 erlässt die Berufungskammer bestehend aus I. Weintraud ............................. als Vorsitzender 2. Lieberich .............................. als Beisitzer 3. Hartmann ............................. als Beisitzer 4. . ........................................ als Beisitzer 5. Lohmeyer ............................. als öffentlicher Kläger 6. Thasler ................................ als Protokollführer

gegen Franz Jerusalem, Professor, geb. 21.6.83 in Ürdingen, wohnhaft: Frankfurt, Friedrichstrasse 59 auf Grund der mündlichen Verhandlung - im Verfahren - folgenden

Spruch:

Auf die Berufung des Betr. wird der Spruch der Spruchkammer Frankfurt vom 4.12.1946 aufgehoben. Der Betr. wird in die Gruppe 5 der Entlasteten eingestuft. Die Kosten des Verfahrens fallen der Staatskasse zur Last. Frankfurt, den 4.4.1949

Der Vorsitzende gez. Weintraud

gez. Lieberich Beisitzer

Formblatt 14 - Tenor der Berufungskammer -

Der Protokollführer gez. Thasler

gez. Hartmann

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Begründung

Mit Spruch vom 12.4.1946 hat die Spruchkammer Frankfurt den Betr. in die Gruppe 4 der Mitläufer eingereiht und eine Geldsühne von RM 1500 festgesetzt. Die von dem Betr. gegen diesen Spruch form- und fristgerecht eingelegte Berufung, welcher der öf­fentliche Kläger widersprochen hat, führte zunächst zu einer Einstufung des Betr. in die Gruppe 5 der Entlasteten durch Spruch des 3. Berufungssenats vom 25.3.1947. Je­doch wurde durch Verfügung des Min. vom 26.1.1948 diese Entscheidung der Beru­fungskammer aufgehoben.

Der Betr. hat in seinem Schriftsatz vom 1.7.1948 an seinem Antrag, ihn in die Gruppe 5 der Entlasteten einzustufen, festgehalten und der öffentliche Kläger hat am 19.1.1949 beantragt, die Berufung abzuweisen.

Bezüglich der Begründung der beiderseitigen Anträge wird auf den Inhalt der zu den Akten überreichten Schriftsätze verwiesen.

Der Berufung war der Erfolg nicht zu versagen. Schon der angefochtene Spruch hat ohne Rechtsirrtum festgestellt, dass der Betr., welcher sich zum I. Mai 1937 bei der NSDAP anmeldete, sonst jedoch nur dem NS Rechtswahrerbund, dem RLBg und VDAh angehörte, am NS nur nominell teilgenommen hat. An dieser Feststellung war auch nach Prüfung der im September 1947 von Professor v. Wiese gegen den Betr. er­hobenen Anschuldigungen festzuhalten. Diese Anschuldigungen behandeln Vorfalle, die sich unter den deutschen Soziologen und in Bezug auf die Deutsche Gesellschaft für Soziologie im Jahre 1933 abspielten. Nach der Beweisaufnahme handelt es sich hierbei vornehmlich um zwei verschiedene wissenschaftliche Lehrmeinungen. Der Betr. vertrat in seinen Schriften, die bereits vor 1933 erschienen, eine kollektivistische Auffassung, welche im Rahmen der Gesellschaft für Soziologie unter der damaligen Leitung von Prof. Tönnesi und Professor v. Wiese nicht zu Worte kam. Während Vor­stand und Geschäftsführung der Gesellschaft für Soziologie anscheinend nach der Machtergreifung des NS die Gesellschaft möglichst nicht in Erscheinung treten, viel­mehr bis zur Wiedereinrichtung normaler und gesunder Verhältnisse ruhen lassen wollten, sah der Betr. augenscheinlich in dem politischen Umsturz eine Gelegenheit, seiner Auffassung, die in manchen Punkten von dem NS scheinbar auch vertreten wurde, nun stärkere Geltung zu verschaffen. Daher regte der Betr. bei dem Geschäfts­führer der Gesellschaft für Soziologie, Herrn Professor v. Wiese, eine Umbesetzung des Vorstandes und die Abhaltung einer Tagung an, auf welcher auch die Nicht­Liberale Richtung innerhalb der Soziologie zu Worte kommen sollte. Nachdem von dem Vorstand dieses Ansinnen abgelehnt wurde, trat der Betr. mit einem Aufruf an die deutschen Soziologenk heran, in welchem unabhängig von der deutschen Gesellschaft für Soziologie eine Tagung nach Jena einberufen wurde. Diesen Aufruf unterzeichnete der Betr. zusammen mit Günther, Höhn und Krieckl , also mit Männern, welche zu­mindest in der späteren Zeit als aktive Nationalsozialisten galten. Durch die Aussage des Professor Rothacker ist aber klargestellt, dass im November 1933 bei Erscheinen des Aufrufes diese Unterzeichner keineswegs den Eindruck einer Parteiveranstaltung erweckten. Günther und Krieck waren in Fachkreisen als Gelehrte bekannt, welche zwar Gedanken vertraten, die sich auch die Nationalsozialisten zunutze machten; in er­ster Linie hielt aber ihre wissenschaftliche Qualifikation vor. Während Höhn bis dahin überhaupt nicht bekannt gewesen ist, da er damals noch als Assistent des Betr. tätig war. So wurde nach der Aussage des Professors Rothacker der Soziologen-Tag in Jena im Jahre 1934 als erste wissenschaftliche Tagung nach der Machtergreifungm begriisst

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und auch nach der Erinnerung des Zeugen selbst von nichtarischen Professoren be­sucht. weIche damals ja noch lehren konnten". Erst der Verlauf der Tagung, nämlich das Auftreten eines Reichsarbeitsführers" als Diskussionsredner nach einem etwas na­tionalsozialistischen Referat von Höhn zeigte den Anwesenden, daß in diesem Staate wissenschaftliche, von Politik freie Tagungen doch nicht mehr möglich waren, so daß auch tatsächlich das Treffen in Jena die letzte Zusammenkunft der Soziologen blieb. Der Betr. hat glaubhaft versichert, daß er sich nach der Tagung von diesen Bestrebun­gen zurückgezogen hat, dass er an den weiteren Vorgängen im Rat der Gesellschaft für Soziologie, dem er niemals angehört hatte, nicht beteiligt war, zumal er selbst schon vor Jena aus der Gesellschaft ausgetreten war. Somit muss die Herausgabe des Aufru­fes im November 1933 im Sinne der damaligen Zeit verstanden werden und kann nicht als eine wesentliche Unterstützung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft im Sinne des Artikels 7 des Gesetzes gewertet werden. Sein wahres Gesicht hat der NS erst später gezeigt, insbesondere durch den Terror anlässlich der Beseitigung Röhm's im Jahre 1934. Ebenso wie der NS im Jahre 1933 für ein positives Christentum eintrat und von Kirchenverfolgung noch keine Rede war, konnte ein Gelehrter im Range des Betr. der Ansicht sein, dass die von den Nationalsozialisten propagierte Kollektividee sich mit seiner Auffassung deckte, und er veranlasst sehen, sich insoweit mit den Na­tionalsozialisten einzulassen.

Aus den Zeugenaussagen und aus allen vorgebrachten Erklärungen geht aber an­dererseits eindeutig hervor, dass der Betr. den NS und den nationalsozialistischen Staatsgedanken von dem Zeitpunkt an ablehnte als der NS den Boden des Rechts ver­liess. Der Betr. hat Z.B. gerade in der 1935 erschienenen Abhandlung: "Das Verwal­tungsrecht und der neue Staat" die Notwendigkeit einer Beibehaltung der Verwaltungs­gerichtsbarkeit betont und damit das Recht des Individuums gestützt, sich gegen Ge­waltakte des Staates zur Wehr zu setzen. Diese Lehre ist dem Betr. von den Nationalsozialisten verargt worden. Professor Wolf!' bekundet in der Erklärung vom 2.4.49, dass im Jahre 1935/36 Professor Höhn in seinen Vorlesungen an der Universi­tät in Berlin die Lehre des Betr. und seine Person als nichtnationalsozialistisch verächt­lich machte.

Der Beitritt zur NSDAP, den der Betr. im Jahre 1937 vollzog, kann daher nicht als Ausdruck einer politischen Überzeugung gewertet werden. Durch verschiedene Zeu­genaussagen und Erklärungen ist vielmehr belegt, dass die juristische Fakultät der Universität Jena s.Zt. bis auf eine Ausnahme geschlossen der Partei beitrat, nachdem der damalige Rektor gefährliche Folgen für die Universität für den Fall in Aussicht ge­stellt hatte, dass eine ganze Fakultät der Partei fernbliebe. Im allgemeinen ist der for­melle Beitritt zur NSDAP oder einer ihrer Gliederungen bei einem Lehrer und Hoch­schulprofessor anders zu werten als bei einem einfachen Staatsbürger; der Lehrer ist Vorbild für seine Hörer, sein Beispiel ist richtungsweisend und der von ihm vollzogene Parteibeitritt muss als Bekenntnis für eine gute Sache auf den Studenten wirken. Im Falle des Betr. trifft dies jedoch nicht zu. Der Betr. hat das Parteiabzeichen niemals ge­tragen, die Tatsache seiner Anmeldung bei der NSDAP wurde nach aussen überhaupt nicht bekannt. Vielleicht wusste der mit der Überwachung der Dozenten beauftragte Funktionär der nationalsozialistischen Studentenschaft davon. Jedenfalls brauchte ein Student, der sich nicht besonders danach erkundigte, davon nichts zu erfahren und der Zeuge Professor Böhmq hat bekundet, dass er von diesem Umstande nichts wusste, obwohl er seit 1936' an der Universität Jena lehrte und mit dem Betr. bis 1945 regel­mässig zusammenkam. Die Anmeldung zur NSDAP bildete daher einen internen

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Vorgang, den der Betr. - ob mit Recht oder Unrecht ist hier nicht zu entscheiden -glaubte im Interesse der Universität vollziehen zu müssen. der jedoch nach aussen keine Wirkung ausübte. Der Betr. hat dadurch zwar nominell dem NS angehört. es ist jedoch nicht zu erkennen, dass er den NS mehr als durch die Beitragszahlung unter­stützt hat.

Dagegen hat der Betr. in seinen Vorlesungen eine Wirkung auf die Studenten aus­geübt, weIche durchaus geeignet war, dem NS und seiner Gewaltherrschaft Abbruch zu tun. Der Betr. hat stets an Gesetz und Recht festgehalten. er hat immer wieder auf den Bestand der Weimarer-Verfassung und auf deren meisterhaften Aufbau hingewie­sen und hat selbst in seinen Prüfungen entgegen allen nationalsozialistischen Wün­schen die Weimarer Verfassung stets zum Prüfungsthema gemacht. Nach den Aussa­gen von Professor Böhm und Frau Gutenberg haben die Hörer des Betr. den Zeugen ge­genüber wiederholt betont, dass sie die Vorlesungen des Betr. gerade wegen der fast provokatorisch anmutenden Vertretung einer klaren Rechtsauffassung gegenüber den Gewaltmassnahmen und Verlogenheiten des nationalsozialistischen Regimes besuch­ten. Diese Handhabung seiner Vorlesungen ist nach Ansicht des erkennenden Senats als aktiver Widerstand im Sinne des Art. 13 des Gesetzs anzuerkennen. Art. 13 ver­langt, dass der auf eine Beeinträchtigung des ns. Gewaltherrschaft gerichtete Wider­stand nach Mass der Kräfte eines Betr. geleistet werden muß. Von einem Hochschul­professor u. wissenschaftlichen Lehrer kann nur ein mit geistigen Kräften geleisteter Widerstand erwartet werden. Wenn die Vorlesungen daraufhinzielen, die Irrlehren des NS aufzudecken und das Rechtsbewusstsein zu stärken, sowie den Hörern das geistige Rüstzeug zu geben, um die ns. Gewaltherrschaft weiter zu bekämpfen, dann liegt hie­rin ein aktiver Widerstand im Sinne des Art. 13.

Darüber hinaus hat nach den Bekundungen des Zeugen Professor Böhm der Betr. aber auch in einem Kreise Jenenser Professoren sich aktiv gegen die ns. Gewaltherr­schaft eingesetzt. Auf eine Anregung des Zeugen hat der Betr. im Jahre 1943 einen Kreis gegnerisch eingestellter Professoren zusammengestellt und regelmässig zu Dis­kussionsabenden zusammengerufen. Wenn schon in dieser Geschäftsführertätigkeit eine Art Konspiration gegen das bestehende Regime zu erblicken ist, so ist der Betr. auch durch seine Referate, die er auf den Diskussionsabenden hielt, aktiv hervorgetre­ten. Von den Zeugen Prof. Böhm und von mehreren eidesstattlichen Erklärungen wird insbesondere ein Vortrag über den Anarchismus im Rechtsdenken hervorgehoben, den der Betr. ausarbeitete und in diesem Kreise hielt. Die Fülle der Tatsachen, die den Teil­nehmern der Diskussionsabende durch diesen Vortrag zur Kenntnis gebracht wurden und die Offenbarung der inneren Zusammenhänge zwischen den ungesetzlichen Rechtsbeugungen der ns. Organe waren geeignet, nicht nur den Widerstandswillen der einzelnen Teilnehmer zu stärken, sondern ihnen auch Mittel zur Intensivierung des Abwehrkampfes zu geben, den jeder einzelne in seinem Kreise gegen die ns. Gewalt­herrschaft führte. Auch dieses Verhalten muss daher als aktiver Widerstand nach Mass der Kräfte eines Wissenschaftlers angesehen werden. Wenn die Kammer bei der Beur­teilung des Betr. auch zu beachten hat, dass an die Voraussetzungen des Art. 13 des Ge­setzes strenge Anforderungen zu stellen sind, so darf andererseits auch nicht übersehen werden, dass das Ausrnass der erforderlichen Entlastungen auch von dem Mass der Belastung eines Betr. abhängt. Im vorliegenden Falle ist die Belastung gering, sie be­schränkt sich auf die Mitgliedschaft bei der NSDAP, ohne dass diese nach aussen in Erscheinung trat. Die Entlastung des Betr. ist hingegen weit grösser, denn nach Aussa­gen des Professors Böhm hat der Betr. unablässig in seinen Vorlesungen gegenüber den

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Studenten und in den Aussprachabenden des Professorenkreises aktiv gegen jegliche Form der ns. Gewaltherrschaft angekämpft, Andere zum kämpfen aufgefordert und ih­nen das Rüstzeug zu diesem Kampfe gegeben.

Aber auch die weitere im Art. 13 des Gesetzes geforderte Voraussetzung, der durch den aktiven Widerstand erlittene Nachteil trifft auf den Betr. zu. Der Betr. ist nach den Bekundungen aller Prof., die s.Zt. in Jena tätig waren, nicht zum ordentli­chen Professor bestellt worden, weil er als politisch unzuverlässig galt'. Ein Antrag der Fakultät wurde abgelehnt und einen weiteren Antrag wagte die Fakultät aus dem gleichen Grunde nicht mehr zu stellen. Der Betr. hat sich aber in seinem Verhalten auch besonderen Gefahren ausgesetzt. Dass von ihm völlig ausgearbeitete Manuskript über den Anarchismus im Rechtsdenken hätte nach der Aussage des Professors Böhrn seine sofortige Verurteilung zur Folge gehabt. Mit Haussuchungen hatten alle Profes­soren nach der Aussage der Zeugin Gutenberg rechnen müssen und der Betr. ist von seinen Kollegen auf die Gefahrlichkeit seines Thns wiederholt aufmerksam gemacht worden. Es kennzeichnet die Haltung des Betr., dass er sich durch die persönliche Ge­fahr nicht in seinem Tun beirren liess. Die, durch die laufende Gefahr seiner Ent­deckung hervorgerufene seelische Belastung ist in der Rechtssprechung stets mit Recht als Nachteil anerkannt worden. Dieser Satz ist daher auch auf den Betr. anzuwenden.

Frankfurt, den 4.4.1949 Der Vorsitzende Der Protokollführer gez. Weintraud gez. Thasler Vorstehender Spruch wurde mit seiner Verkündung am 4. April 1949 rechtskräftig. Für die Richtigkeit der Ausfertigung Frankfurt I Main, den 25. April 1949 Die Geschäftsstelle der Berufungskammer (L.S.) gez. Schröder Urkundsbeamter.

Anmerkungen

Vgl. zu Rothackers Rolle in der Soziologie der Weimarer Republik Dirk Käsler: Die frühe deutsche Soziologie 1909 bis 1934 und ihre Entstehungs-Milieus. Opladen 1984 (s. dort das Register); Erhard Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Repu­blik. Berlin 1986 (s. dort das Register)

2 Hans-Joachim Lieber: Erich Rothacker, in: Wilhelm Bernsdorf/Horst Knospe (Hg.): Internationales Soziologenlexikon, Bd. 1, Stuttgart 21980

3 Bundesarchiv Koblenz (künftig = BA), R 21 I Anhang, Karteikarte Erich Rothacker 4 E. Rothacker: Nationale Soziologie, in: Westdeutsche Akademische Rundschau, 3. Jg.,

Nr. I (1.1.1933) 5 Max Horkheimer: Survey of the Social Sciences in Western Germany. Washington

1952, S. 6 6 Berlin Document Center (künftig = BDC), Unterlagen Erich Rothacker 7 "Daß ich vorübergehend im Ministerium Goebbels tätig war, haben Sie wohl von Herrn

Spiethoff gehört, aber leider sind alle die schönen Projekte, die der Minister selbst in Aussicht genommen hatte: Reichsuniversitäten, Führerschulen, Kaiser-Wilhelm­Gesellschaft usw. zerronnen, indem diese Dinge anderen Ministerien blieben." Rot­hacker an Joseph A. Schumpeter, 22.6.1933, in: Universitätsbibliothek Bonn (künftig

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= UBB), Nachlaß Erich Rothacker (künftig = NL Rothacker) I; das Propagandamini­sterium hatte am 11.4.1933 um Rothackers Beurlaubung ftir eine probeweise Verwen­dung im Ministerium gebeten; Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda an den Kurator der Universität Bonn, 11.4.1933 (Abschrift vom 18.4.1933); mündliche Auskunft aufgrund der Akten des Kurators, Universitätsarchiv Bonn (künftig = UAB); zu Rothackers Rolle als Ansprechpartner des Ministeriums ftir die studentischen Orga­nisatoren der Bücherverbrennung vgl. den Brief des Leiters des Hauptamtes ftir Presse und Propaganda der Deutschen Studentenschaft an Rothacker, 10.4.1933; abgedruckt in: Gerhard Sauder (Hg.): Die Bücherverbrennung. Zum 10. Mai 1933. München 1983, S. 80f; Rothacker unterbreitete nach Beendigung seiner Tätigkeit im Propagandamini­sterium seine dort nicht mehr zu realisierenden Pläne bereits am 22.4.1933 dem zukünf­tigen Preußischen und später auch Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung; vgl. Denkschrift ftir Herrn Reichskommissar Rust; BA, R 18/5445, BI. 135ff

8 BDC, Unterlagen Erich Rothacker 9 BA, R 61/106, BI. 111

10 S. Anm. 7 11 Liegt der Denkschrift an Rust bei (Anm. 7) 12 BA, R 18/5445, BI. 9ff 13 Ebd., S. 67ff 14 Durchschlag, 15.2.46, gez. Rothacker; UBB, NL Rothacker V, I; hier finden sich wei­

tere Erklärungen und Verteidigungsschriften mit ergänzenden Materialien 15 S. Anm. 13, BI. 83 16 E. Rothacker an Sehr verehrte Magnifizenz (H. Fischer), 11.4.1934; Zentrales Staatsar­

chiv der DDR, Potsdam, 70, Re 8, BI. 39R 17 Mündliche Auskunft aufgrund der Akten des Kurators, UBB 18 Rundbrief (Abschrift) des Reichsministeriums ftir Wissenschaft, Erziehung und Volks­

bildung, 24.5.1941; mündliche Auskunft aufgrund der Akten des Rektorats, UBB 19 Rothacker an Deutsche Kongreß Zentrale (Durchschrift), 3.7.1944; UBB, NL Rothacker

III 20 In der Hochschulkommission des Stellvertreters des Führers wurde 1935 sogar vermu­

tet, daß sich Rothacker "mit dem Propagandaministerium sowie mit Darre verkracht oder überworfen habe"; Prof. Wirz (Hochschulkommission) an Professor Bäumler, 1l.9.1935; Institut ftir Zeitgeschichte München, MA 16/14; in einem SD-Bericht (ca. 1937) über bedenkliche Zustände im Büro Rippentrop werden auch Kontakte von Mitar­beitern Ribbentrops zu Rothacker als Verfälscher der NS-Rassenidee moniert; vgl. Die Dienststelle des Außerordentlichen und Bevollmächtigten Botschafters des Deutschen Reiches, ihre Mitarbeiter und politischen Auswirkungen; BA, R 58/ 1069, BI. Iff, bes. BI. 31f

21 Vgl. D. Käsler und E. Stölting (Anm. I) 22 Vgl. F.W. Jerusalem: Der Begriff der Gemeinschaft und seine Stellung im Ganzen der

Soziologie, in: Studium Generale, 3. Jg. (1950) 23 Vgl. Universitätsarchiv Jena (künftig = UAJ), Bestand C, No. 755, Jahresbericht Sozio­

logisches Seminar, 1.4.1935-31.3.1936, No. 546; Kuratel, Das Soziologische Institut betr. 1921-1941; No. 548, Jahresbericht 1.4.1939-31.3.1940 (Soziologisches Seminar)

24 BDC, Unterlagen F.W. Jerusalem 25 Staatsarchiv Würzburg, Archiv der Reichsstudentenftihrung und des Nationalsozialisti­

schen Deutschen Studentenbundes, II* 198 26 Vgl. UAJ, Bestand K, No. 567, Prof. Dr. Lange, Erklärung, 7.5.1945 27 Vgl. UAJ, Bestand D, No. 1428, Kreisgruppenftihrer im Nationalsozialistischen Rechts-

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Entnazifizierung und Soziologiegeschichte 255

wahrerbund, Kreisgruppe Jena und Jena-Land an Rektor der Universität Jena, 23.4.1937 28 Vgl. UAJ, Bestand D, No. 1428, Rektor an Thüringischen Minister für Volksbildung,

24.5.1937 29 Vgl. R. Höhns Rezensionen von "Der Staat" und "Das Verwaltungsrecht und der neue

Staat", in: Deutsches Recht, 5.Jg. (1935), S. 291, 379ff; vgl. R. Höhn: Staat und Rechts­gemeinschaft, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, 95. Bd. (1935); vgl. auch die Rezension Otto Koellreutters von "Der Staat", in: Archiv des öffentlichen Rechts, N.F.. 28. Bd. (1937), S. 98f; vgl. auch die Kritik an Jerusalems Ständetheorie durch den ehemaligen wissenschaftlichen Hilfsarbeiter am Soziologischen Institut der Universität Jena, den späteren Verbindungsführer des Reichssicherheitshauptamtes zur Partei-Kanzlei und Freund von Reinhard Höhn, lustus Beyer, in seiner von Höhn be­treuten Dissertation "Die Ständeideologien der Systemzeit und ihre Überwindung". Darmstadt 1941, S. 249-257

30 Die meisten Angaben zu R. Höhn nach Helmut Heiber: Walter Frank und sein Reichsin­stitut für Geschichte des neuen Deutschlands. Stuttgart 1966 (s. dort das Register); er­gänzend: Heinz Boberach : Einführung, in: Ders. (Hg.): Meldungen aus dem Reich. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, 1938 - 1945. Bd. 1, Herrsching 1984: BDC Unterlagen Reinhard Höhn; BA, R 61 / \00, BI. 8; R 61 / 106, BI. 108, 140; Geheimes Staatsarchiv Berlin-Dahlem, Rep. 76, Nr. 46

31 Vgl. C. Klingemann: Soziologen vor dem Nationalsozialismus. Szenen aus der Selbst­gleichschaltung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, in: losef Hülsdünker / Rolf Schell hase (Hg.): Soziologiegeschichte. Identität und Krisen einer ,engagierten' Diszi­plin. Berlin 1986; Dieter I"dsemann: Zur Faschisierungstendenz in der "Deutschen Ge­sellschaft für Soziologie" 1922 - 1934. Untersuchung an den Nachlässen von Werner Sombart und Ferdinand Tönnies, in: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 15, 1985

32 FW. Jerusalem an E. Rothacker, 30.9.1947, in: UBB, NL Rothacker I 33 UBB, NL Rothacker I 34 Ebd.

a Wilhelm (Will) Decker: 13.12.1899 - 1.5.1945, Dr. phil., Gau- und Reichsredner, Mit­glied des Reichstags, Inspekteur der Landesführerschulen des Arbeitsdienstes, später Obergeneralarbeitsführer und Chef des Stabes in der Reichsleitung des Reichsarbeits­dienstes (Erich Stockhorst: 5000 Köpfe. Wer war was im 3. Reich. Kiel 2 1985). Decker nahm im Auftrag des Staatssekretärs für den Arbeitsdienst an der Tagung teil.

b Alfred Krauskopf: Pfarrer in Magdala; Promotion 1931 mit der Arbeit "Die Religions­theorie Sigmund Freuds: Ihre psychologischen und metaphysischen Wertungsgesichts­punkte" (Jena, Theol. Diss. 1933, Teildruck)

c Das Thema war "Gemeinschaft als Problem unserer Zeit" (s. Anm. a.) d Zu den Funktionen von Dr. Wilhelm Decker (s.o.) e Gemeint ist Prof. Carl Schmitt f Die Tagung stand unter der Leitung von Prof. Ernst Krieck, der sie ausdrücklich in sei­

ner Eigenschaft als Obmann des Amtes für nationalsozialistische Wissenschaft und Er­ziehung eröffnete. Der weithin bekannte NS-Rassentheoretiker Prof. Hans F.K. Gün­ther sprach über "Soziologie und Rassenforschung" (s.o.)

g RLB = Reichsluftschutzbund h VDA = Volksbund für das Deutschtum im Ausland j Gemeint ist der damalige Präsident der DGS Prof. Ferdinand Tönnies k Abgedruckt in: C. Klingemann (Anm.31)

Und dem Hamburger Soziologie-Professor Andreas Walther

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m Vom 16.-19.10.1933 fand bereits der 13. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psycho­logie in Leipzig statt.

n Nur noch in Ausnahmefällen nach dem sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs­beamtenturns vom 7.4.1933 (z.8. ehemalige Frontkämpfer)

o Dr. Wilhelm Decker (s. Anm. a.) p Vermutlich der Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie Ernst Wolf,

Universität Frankfurt am Main q Max Hildebert Boehm,Professor für Volkstheorie und Volkstumssoziologie. Universi­

tät Jena 1933-45 (selbst stark belastet) Seit 1933

s Nach dem auf Eigenangaben beruhenden Artikel in Kürschners Gelehrtenkalender von 1940/41 war Jerusalem bereits seit 1931 ordentlicher Professor.

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Carsten Klingemann

Geschichte der Soziologie Annotationen zur neueren deutschsprachigen Literatur

Schwerpunkt: Soziologie und Nachbardisziplinen im Nationalsozialismus

Seit dem Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo­gie von 1979 über "deutsche Soziologie seit 1945" (Lüschen 1979) ist einiges - wenn auch heterogenes - Material in Form von Monographien und Sam­melbänden (mit jeweils weiterer Sekundärliteratur) über die Geschichte der Soziologie in Deutschland erschienen:

Baier 1986, Berking 1984, Cobet 1988, Friedrichs 1988, Gorges 1980, 1986, Hinrichs 1981, Hülsdünker 1983, Karger 1978, Käsler 1984, 1985, Klin­gemann 1987, Lepenies 1981, 1985, Lepsius 1981, Neuloh 1983, Papcke 1985, 1986, Rummler 1984, Sahner 1982, Schellhase 1982, Schuster 1987, Soziale Welt 1984, Stölting 1986, Thieme 1988, Waßner 1985, 1989, Weyer 1984a.

Hierbei handelt es sich, wie auch bei den Arbeiten zur Geschichte der empirischen Sozialforschung (Berner 1983, Bonß 1982, Kern 1982), um ein gutes Stück der bislang vernachlässigten Fachgeschichte. Kontroversen lösten dabei besonders Helmut Schelskys Aufsätze aus (Schelsky 1980, 1981). Weite­res Material findet sich in unveröffentlichten Examensarbeiten (s. u.).

Neben zahlreichen Arbeiten über die "Frankfurter Schule 1 Kritische Theorie" (exemplarisch Wiggershaus 1986), über Max Weber und die Edition einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke finden sich jüngere Publikatio­nen über Georg Simmel (siehe die Sammelbesprechung, in: Soziologische Re­vue 1/1986), Ferdinand Tönnies (Clausen/Pappi 1981, Clausen u. a. 1985; sowie mehrere Bände in den Materialien der Ferdinand-Tönnies-Arbeitsstelle an der Universität Hamburg), eine Monographie über Franz Oppenheimer (Haselbach 1985) oder ein Sammelband über Alfred Weber (Demm 1986) und die von Elfriede Üner besorgte und kommentierte Neuauflage von Büchern Hans Freyers, um nur einige zu nennen. Berücksichtigt werden müßten auch jüngere Einzelaufsätze über Soziologen in Universitätsgeschichten (s. u.) und laufende Publikationen in Fachzeitschriften, von denen nur zur Dokumenta­tion der thematischen Breite genannt seien eine Arbeit über Ludwig Gumplo­wicz (Mozetic 1985) und über die Wechselbeziehungen zwischen deutschen und französischen Soziologen (Gephart 1982).

Was die Materiallage angeht, ist es nicht mehr zutreffend, "daß die Aufar­beitung der Geschichte der Wissenschaften und der Universitäten im Dritten Reich in thematischer wie empirischer Hinsicht äußerst lückenhaft ist" (Krü-

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ger 1986, 208). Für dieses Gebiet liegen Arbeiten vor, die jeweils sehr um­fangreiche Literaturangaben enthalten. Der systematische Überblick bei Mehrtens / Richter (1980) über Universitäten / Hochschulen, Fachdisziplinen, Forschungseinrichtungen und Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus wird bei Heinemann (1980) ergänzt in den Bereichen Hochschulpolitik, politi­sches Verhalten von Hochschullehrern 1932/33, Idee der "politischen Uni­versität", nationalsozialistische Personalpolitik an Hochschulen, NS­Dozentenlager und Alfred Rosenbergs "Hohe Schule"; und weiter mit ande­ren Schwerpunkten bei Harbordt (1983), Seier (1984), Tröger (1984), Lund­green (1985), Graumann (1985), Forum Wissenschaft (1985) sowie durch ei­nige Arbeiten über Universitäten während des Nationalsozialismus (z. B. Frontabschnitt Hochschule 1982, Buselmeier u. a. 1985, Becker u.a. 1987, Blaschke u.a. 1988, Geissler/Popp 1988, Schottlaender 1988. Weiteres Mate­rial zu den genannten Gebieten und insbesondere zu personellen, institutio­nellen, forschungsthematischen und wissenschaftspolitischen Fragen in ver­schiedenen Sozialwissenschaften und ihren Nachbarfachern findet man bei Klingemann (1981, 1985a, 1985b, 1986a, 1986b, 1986c, 1987). In jüngerer Zeit haben Brämer (1986) über Naturwissenschaften und Funke (1986) sowie Seier (1988) über politisches Verhalten von Gelehrten im Nationalsozialismus zu­sammenfassende Artikel geschrieben. Heranzuziehen wäre weiterhin die sehr umfangreiche Literatur zur 50jährigen Wiederkehr der "Bücherverbren­nung" und zur Diskussion um Martin Heidegger und earl Schmitt. Auch in der wachsenden Literatur über das Exil von Wissenschaftlern finden sich Hin­weise auf die Situation im NS-Staat (z. B. Neumann 1984, Krohn 1986, Grot­husen 1987, Srubar 1988).

Wenngleich bei einer systematischen Auswertung dieser Literatur noch gewisse Lücken festgestellt werden können, scheint mir das größere Defizit darin zu bestehen, daß sich auch jetzt noch viele Arbeiten wie die Dokumenta­tion "Braune Universität" aus den 60er Jahren (Seeliger 1964-68) vorschnell mit Resultaten einer "ideologiekritischen" Vorgehensweise begnügen. Denn erst die hauptsächlich durch Archivarbeit wissenschaftssoziologisch rekon­struierte mehrdimensionale Fachgeschichte (für Psychologie: Geuter 1984; für Psychoanalyse: Lohmann 1984, Lockot 1985; für Publizistikwissenschaft: Kutsch 1984, 1985; für Bevölkerungswissenschaft: Kaupen-Haas 1986; für Volkskunde: Gerndt 1987; für Politikwissenschaft: Weyer 1985, 1986b, Buch­stein/Göhler 1986, Lenk 1986, Weber 1986; für Raumforschung: Rössler 1987) erlaubt ein Urteil über Wissenschaft und Politik im Fall einer sozialwis­senschaftlichen Disziplin. So ist es z.B. primär der in seinem wissenschaftli­chen Ehrgeiz angelegte Forschung- und Erkenntniswille, der den Anthropolo­gen Mengele auf die Rampe in Auschwitz führte (Mitteilungen 1985, Müller­Hill 1984, Zofka 1986).

Es ist richtig, daß es "eine zuverlässige Darstellung der ,Empirie' der So­ziologie während des Nationalsozialismus" (Krüger) noch nicht gibt. Es lie­gen allerdings materialreiche Studien zu Einzelaspekten vor, die teilweise sehr

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anregende und tragfahige Hypothesen und Verallgemeinerungen ermögli­chen:

- aus der Sicht eines dissidenten "Zeitzeugen" und deutlich selektiv­impressionistisch (Maus 1959)

- im Sinne einer Bilanzierung der Verluste einer wahrhaftigen Soziologie ge­genüber dem Verbleib einer Pseudo- oder Anti-Soziologie völkischer Pro­venienz an den Hochschulen (Lepsius 1979, 1981a, 1981b, König 1984, 1987, Martens 1987, Freund 1987)

- als zusammenfassende Auswertung publizierter Detailinformationen aller Art (Klingemann 1981) sowie der jüngeren Diskussion (Paulsen 1988)

- ein Bericht über die Leipziger Soziologie von einem Leipziger (Linde 1981) und über Hans Freyer (Muller 1986)

- über Hans Lorenz Stoltenberg (Böhles 1982) - basierend auf Archiv- und Nachlaßarbeit:

- für das Gebiet der Industrie-, Betriebs- und Arbeitssoziologie (Schu­ster / Schuster 1984)

- über die "Forschungsstelle für das Volkstum im Ruhrgebiet" von Wil­helm Brepohl (Weyer 1984b)

- über das Ende der DGS (pasemann 1985, Klingemann 1986c) - über das Hamburger Seminar für Soziologie von Andreas Walther

(Waßner 1985, 1986a) - über die akademische Soziologie an verschiedenen Hochschulorten,

spezielle Soziologien, Nischen-Soziologen, Nachwuchssoziolo­gen/Habilitationen und Soziologie-Dissertationen (Klingemann 1985b, 1986a); für Leipzig: Töpferwein 1986, für Göuingen: Neumann 1987; für Köln: Klingemann 1988; für Aachen: Pinn 1988; für das Institut für Grenz- und Auslandstudien (Berlin) und das Soziographische Institut an der Universität Frankfurt am Main: Klingemann 1989

- über die Aktivitäten zweier Sprach soziologen (Sirnon, 1982, 1985) - beispielhaft für die Modernisierung der Soziologie nach 1933: die em-

pirische, strukturtheoretisch orientierte Stadtsoziologie des Andreas Walther zur wissenschaftlichen Vorbereitung einer effektiveren "Aus­merze" der "gemeinschafts schädigenden" Gruppen bei Slumsanie­rungsmaßnahmen (Waßner 1986b, Roth 1987, Pahl-Weber / Schubert 1987)

- als unveröffentlichte Arbeiten: - über den Hans Freyer (Üner 1980) - über den Volksspiegel (Wiebe 1981) - über Religionssoziologie an Hochschulen (Jendrischok 1982) - über Bevölkerungssoziologie (Gevelhoff 1982) - über Gunther Ipsen (Hentschel, 1984) - über "Soziologien" von 1918 - 1945 (Henke 1986)

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260 Carsten Klingemann

- über den Ethnosoziologen Wilhelm Emil Mühlmann (Michel 1986) - über den Rechtssoziologen Wilhelm Sauer (Steveling 1986) - über Ernst Wilhelm Eschmann (Zumbrägel 1988)

Daneben gibt es einige Arbeiten, die sich fast ausschließlich mit der Deu­tung programmatisch-propagandistischer, d. h. scheinbar eindeutiger Auslas­sungen über eine zu kreierende "deutsche", "völkische" oder "Gemein­schaftssoziologie" befassen und als gültige Ansätze für eine Theorie der NS­Soziologie ausgegeben werden:

- aus der Sicht eine "faschismustheoretischen" Ableitungsposition ist die Soziologie im Faschismus "als der extremistischen Form bürgerlicher Herrschaft" dadurch charakterisiert, daß sie gezielter als bisher einen Bei­trag zur Bestandssicherung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft leiste, indem sie ideologische Handlangerdienste anbiete (Bergmann u.a. 1981, Pasemann 1984)

- ausgehend von einer die Selbstdarstellung des NS-Regimes steigernden Theorie einer zu realisierenden braunen industriellen Opfergesellschaft wird die Reichssoziologie als wissenschaftlich-ideologische Opferprie­ster kaste dämonisiert (Faßler 1983, Hahn 1983; vgl. unter stärkerer Einbe­ziehung der praktizierten Soziologie: Hahn 1984)

- durch die Verabsolutierung nach 1933 allerdings nicht unbedingt dominie­render Ansätze und unter extensiver Ausdeutung teils marginaler Positio­nen wird die Etablierung und Geltung des "neuen Paradigmas" einer spe­zifisch "Deutschen Soziologie", ergänzt durch ihre Rolle als Theorie des Volksfeindes und unter Anfügung einer späten Wende zur angewandten So­ziologie vorgestellt (Rammstedt 1985, 1986, Kleine 1986)

Darüber hinaus gibt es Literatur, die nebenbei oder fragmentarisch be­stimmte Aspekte der Reichssoziologie behandelt: einzelne Soziologen, Insti­tute und Arbeitsgebiete (vgl. die Angaben bei Klingemann 1981 ff.) und jüngst das Verhältnis von Soziologie und Sozialgeschichte am Beispiel von Werner Conze: Koselleck 1987, Schieder 1987

Als vielversprechend hat sich dabei ein Ansatz erwiesen, der von den in der Soziologie substantiell angelegten Elementen ausgeht, die es ermögli­chen, daß sie als analytische Fachwissenschaft in bestimmten Ausprägungen nach 1933 reüssierte. Interessant für die Wirksamkeit der "Normal­Soziologie" vor und nach 1945 sind die vielen allgemein weniger bekannten Fachvertreter der braunen Ära, die dann auch überwiegend den alltäglichen Betrieb der bundesrepublikanischen Soziologie bestritten (mindestens 80 Per­sonen). Dabei müßten auch die Motive für das Vertuschen der Konflikte, die die zurückgekehrten Soziologen mit ehemaligen Reichssoziologen hatten (Weyer 1986a) bzw. ihre erstaunlich breite Kooperation (Demirovic 1988) noch genauer geprüft werden.

Generell liegt das Problem einer Analyse der Reichssoziologie nicht darin, ob die Soziologie "als angebliche Theorie Ideologie produziert". Die

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parteiamtlichen Tugendwächter der NS-Ideologie/ -Weltanschauung achteten peinlich darauf, daß keine besserwisserischen Soziologen (z. B.: M. H. Boehm, H. Freyer, u. a. m.) ihr Ideologie-Monopol antasteten.

Erwünscht waren analytisch arbeitende Fachwissenschaftler, die die zur Herrschaftssicherung benötigten, aber in Mein Kampf oder im Mythos Ro­senbergs oder bei den Juristen in allen Verwaltungen nicht abrufbaren Daten, Informationen und Konzepte für die jeweils interessierte Agentur des polykra­tischen NS-Staates produzierten (vgl. die Darstellung der exemplarischen Karriere von Helmut Meinhold bei Heim/ Aly 1986).

Literatur

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Geschichte der Soziologie 263

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Pahl-Weber, Elke / Schubert, Dirk (1987): Großstadtsanierung im Nationalsozialismus: Andreas Walthers Sozialkartographie von Hamburg. In: Sozial wissenschaftliche Informationen, 16. Jg., H. 2

Papcke, Sven (1985): Vernunft und Chaos. Essays zur sozialen Ideengeschichte, Frank­furt am Main: Fischer

Papcke, Sven (Hrsg.) (1986): Ordnung und Theorie. Beiträge zur Geschichte der So­ziologie in Deutschland, Darmstadt

Pasemann, Dieter (1984): Zur Entwicklung der Soziologie 1917-1945, In: Wendel, Gün­ter (Hrsg.): Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte. Wissenschaft und Gesellschaft 1917-1945, Berlin (Ost)

Pasemann, Dieter (1985): Zur Faschisierungstendenz in der "Deutschen Gesellschaft

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266 Carsten Klingemann

für Soziologie" 1922-1934. Untersuchungen an den Nachlässen von Werner Som­bart und Ferdinand Tönnies, In: Arbeitsblätter zur Wissenschaftsgeschichte. Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg, 15

Paulsen, Jörg (1988): Zur Geschichte der Soziologie im Nationalsozialismus, Diplom­Arbeit, Oldenburg: Bibliotheks- und Informationssystem der Universität Olden­burg

Pinn, Irmgard (1988): Soziologie an der Technischen Hochschule Aachen in den zwan­ziger und dreißiger Jahren. Anmerkungen zur Institutionalisierungsgeschichte des Faches. In: Institut für Soziologie der RWTH Aachen (Hrsg.): Gesellschaft -Technik - Kultur. 25 Jahre Institut für Soziologie der RWTH Aachen 1962 - 1987, Aachen: Alano

Rammstedt, Otthein (1985): Theorie und Empirie des Volksfeindes. Zur Entwicklung einer "deutschen Soziologie", In: Lundgreen (Hrsg.),1985

Rammstedt, Otthein (1986): Deutsche Soziologie 1933-1945. Die Normalität einer An­passung, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Roth, Karl Heinz (1987): Städtesanierung und ,ausmerzende Soziologie'. Der Fall An­dreas Walther und die ,Notarbeit 51' der ,Notgemeinschaft der Deutschen Wissen­schaft' 1934-35 in Hamburg, In: Klingemann (Hrsg.), 1987

Rössler, Mechthild (1987): Die Institutionalisierung einer neuen "Wissenschaft" im Nationalsozialismus: Raumforschung und Raumordnung 1935-1945, In: Geogra­phische Zeitschrift, Jg.75

Rummler, Hans-Michael (1984): Die Entstehungsgeschichte der Betriebssoziologie in Deutschland. Eine wissenschaftshistorische Studie, Frankfurt I Bern: Lang

Sahner, Heinz (1982): Theorie und Forschung. Zur paradigmatischen Struktur der westdeutschen Soziologie und zu ihrem Einfluß auf die Forschung, Opladen: West­deutscher Verlag

Schellhase, Rolf (1982): Die industrie- und betriebssoziologischen Untersuchungen der Sozialforschungsstelle an der Universität Münster (Sitz Dortmund) in den fünf­ziger Jahren, Münster: Lit-Verlag

Schelsky, Helmut (1980): Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie. Ein Brief an Rainer Lepsius, In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy­chologie, 32. Jg., H. 3

Schelsky, Helmut (1981): Rückblicke eines "Anti-Soziologen", Opladen: Westdeut­scher Verlag

Schieder, Wolfgang (1987): Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte. Das wissenschaftliche Lebenswerk Werner Conzes. In: Geschichte und Gesellschaft, 13. Jg.

Schottländer, Rudolf (1988): Verfolgte Berliner Wissenschaft. Ein Gedenkwerk, Ber­lin: Edition Hentrich

Schuster, Helmuth (1987): Industrie und Sozialwissenschaften. Eine Praxisgeschichte der Arbeits- und Industrieforschung in Deutschland, Opladen: Westdeutscher Verlag

Schuster, Helmuth I Schuster, Margrit (1984): Industriesoziologie im Nationalsozialis­mus, In: Soziale Welt, 35. Jg., H. 1/2

Seeliger, Rolf (1964-68): Braune Universität, 6 Bde, München: Selbstverlag Seier, Helmut (1984): Universität und Hochschulpolitik im nationalsozialistischen

Staat, In: Malettke, Klaus (Hrsg.): Der Nationalsozialismus an der Macht, Göttin­gen: Vandenhoeck & Ruprecht

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Geschichte der Soziologie 267

Simon, Gerd (1982): Zündschnur zum Sprengstoff. Leo Weisgerbers keItologische Forschungen und seine Tätigkeit als Zensuroffizier in Rennes während des 2. Welt­kriegs, In: Linguistische Berichte 79

Simon, Gerd (1985): Die sprachsoziologische Abteilung der SS, In: Kürschner, Wil­fried/Vogt, Rüdiger (Hrsg.): Sprachtheorie, Pragmatik, Interdisziplinäres, Bd. 2, Tübingen: Niemeyer

Soziale Welt (1984): 35. Jg., H. 1/2, Schwerpunkt: Soziologie im Nationalsozia­lismus?

Srubar, I1ja (Hrsg. )(1988): Exil, Wissenschaft, Identität. Die Emigration deutscher So­zialwissenschaftler 1933 - 1945, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Steveling. Lieselotte (1986): Wilhelm Sauer. Ein personen- und werkbiographischer Versuch. Unveröffentl. Magister-Arbeit, Münster

Stölting, Erhard (1986): Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin: Duncker & Humblot

Thieme, Frank (1988): Rassentheorien zwischen Mythos und Tabu. Der Beitrag der Sozialwissenschaft zur Entstehung und Wirkung der Rassenideologie in Deutsch­land, Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang

Töpferwein, Gabriele (1986): Zur Entwicklung der Soziologie an der Universität Leip­zig bis 1945. Unveröffentlichte Dissertation, Leipzig

Tröger, Jörg (Hrsg.) (1984): Hochschule und Wissenschaft im Dritten Reich, Frankfurt am Main: Campus

Üner, Elfriede (1980): Hans Freyer in der deutschen Soziologie bis 1933. Ein Beitrag zur wissenschaftssoziologischen Einordnung seines Werkes und seiner Wissen­schaftsgemeinschaft. Unveröffentlichte Diplom-Arbeit, München

Waßner, Rainer (1985): Andreas Walther und die Soziologie in Hamburg. Dokumente, Materialien, Reflexionen, Hamburg

Waßner, Rainer (1986a); Andreas Walther und das Seminar für Soziologie in Hamburg zwischen 1926 und 1945: Ein wissenschaftsbiographischer Umriß, In: Papcke (Hrsg.), 1986

Waßner, Rainer (1986b): "Angewandte Soziologie" im Dritten Reich - Das Beispiel Hamburg, In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis, 10. Jg.

Waßner, Rainer (Hrsg.) (1989): Wege zum Sozialen. 90 Jahre Soziologie in Hamburg, Opladen: Leske + Budrich

Weber, Hermann (1986): Rechtswissenschaft im Dienst der NS-Propaganda. Das Insti­tut für Auswärtige Politik und die deutsche Völkerrechtsdoktrin in den Jahren 1933 bis 1945, In: Gantzel, Klaus Jürgen (Hrsg.) (1986), Wissenschaftliche Verantwor­tung und politische Macht, Berlin: Reimer

Weyer, Johannes (1984a): Westdeutsche Soziologie 1945-1960. Deutsche Kontinuitäten und nordamerikanischer Einfluß, Berlin: Duncker & Humblot

Weyer, Johannes (1984b): Die ForschungsstelJe für das Volkstum im Ruhrgebiet 1935-41 - Ein Beispiel für Soziologie im Faschismus, In: Soziale Welt, 35. Jg., H. 1/2

Weyer, Johannes (1985): Politikwissenschaft im Faschismus, In: Politische Vierteljah­resschrift, 26. Jg., H. 4

Weyer, Johannes (1986a): Der ,Bürgerkrieg in der Soziologie'. Die westdeutsche So­ziologie zwischen Amerikanisierung und Restauration, In: Papcke (Hrsg.), 1986

Weyer, Johannes (1986b): Forschen für jeden Zweck?, In: Politische Vierteljahres­schrift, Tl. Jg.

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268 Carsten Klingemann

Wiebe, Rainer (1981): "Der Volksspiegel" - eine soziologische Zeitschrift im Dritten Reich. Unveröffentlichte Magister-Arbeit, Münster

Wiggershaus, Rolf (1986): Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwick­lung. Politische Bedeutung, München: Hanser

Zofka, Zdenek (1986): Der KZ-Arzt Josef Mengele. Zur Typologie eines NS­Verbrechers. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 34. Jg.

Zumbrägel, Klaus (1988): Ernst Wilhelm Eschmann - Vorstudien zu einer politischen Biographie. Unveröffentl. Magister-Arbeit, Münster

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Bibliographie Rudolf Heberle

Die Bibliographie erfaßt Bücher und Berichte, Aufsätze und Beiträge in Büchern. Nicht erfaßt wurden Rezensionen, Zeitungsartikel und unveröffentlichte Manuskripte. Die Bi­bliographie wurde von Rainer Waßner nach Unterlagen von Rudolf Heberle erstellt.

Biographische Angaben: R.H. geb. am 3. 7. 1896 in Lübeck. Studium in Göttingen, Freiburg, Marburg und Kiel. Promotion in Kiel (sc. pol.) 1923. 1923 bis 1926 Assistent am Staatswissenschaft­lichen Seminar der Universität Königsberg und Repetent am Institut für Ostdeutsche Wirtschaft. Von 1926 bis 1929 Research Fellow der RockefeIler Foundation. 1929 Ha­bilitation für Soziologie in Kiel. Von 1929 bis 1937 dort Lehre als Privatdozent. Seit 1930 Privatsekretär von Ferdinand Tönnies, Heirat mit dessen Tochter Franziska. Ab 1937 in den USA. 1938 Professor für Soziologie an der Louisiana State University in Baton Ruge. 1963 emeritiert. Gastprofessuren an der Michigan State University, Uni­versity of North Carolina, Columbia University.

l. Bücher und Berichte

Zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Schweden. (Probleme der Weltwirtschaft. Schriften des Instituts für Weltwirtschaft und Seeverkehr an der Universität Kiel, Bd. 39) Gustav Fischer Verlag, Jena, 1925, 121 S.

Die Deutschen in Litauen. (Schriften des Deutschen Auslandsinstituts Stuttgart, Kul­turhistorische Reihe, Bd. 19) Ausland und Heimat Verlag Stuttgart, 19Z7, 159 S.

Über die Mobilität der Bevölkerung in den Vereinigten Staaten. Gustav Fischer Verlag, Jena, 1929, 224 S.

Auslandsvolkstum. Soziologische Betrachtungen zum Studium des Deutschtums im Auslande. (2. Beiheft zum Archiv für Bevölkerungswissenschaft, Bd. 6) S. Hirzel Verlag, Leipzig, 1936, 34 S.

(zusammen mit Fritz Meyer) Die Großstädte im Strome der Binnenwanderung. Wirtschafts- und bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen über Wanderung und Mobilität in Deutschen Städten. S. Hirzel Verlag, Leipzig, 1937, 206 S.

Social Factors Section. In: Mississippi Backwater Areas Studz, Zazoo Segment. Uni­ted States Department of Agriculture. Joint Investigation, July 1941, 190 S. (zusam­men mit Udell Jolley)

From Democracy to Nazism. A Regional Case Study on Political Parties in Germany. Louisiana State University Press, 1945, 130 S. (2. Aufl. Grosset & Dunlap Verlag, New York, 1970, mit neuem Vorwort)

Page 268: Hans-Joachim Dahms (Auth.), Heinz-Jürgen Dahme, Carsten Klingemann, Michael Neumann, Karl-Siegbert Rehberg, Ilja Srubar (Eds.) Jahrbuch Für Soziologiegeschichte 1990 1990

270 Bibliographie Rudolf Heberle

The Impact ofthe War on Population Redistribution in the South. Papers of the Institute of Research and Teaching in the Social Sciences, No. 7. Vanderbilt University, Press, Nashville Tennessee, 1945, 64 S.

Survey ofthe War Time Labor Force of Louisiana. Department of Labor, United States Emp10yment Service, Louisiana, 1945, 82 S.

The Labor Force in Louisiana. Louisiana State University Press, Baton Rouge, 1948, 189 S.

(zusammen mit Dudley S. Hall) New Americans - Displaced Persons in Louisiana and Mississippi. Louisiana State Commission for Displaced Persons. Baton Rouge 1951,93 S.

Social Movements. An Introduction to Political Sociology. Appleton / Century Crofts, New York, 1951,478 S.

Landesbevölkerung und Nationalsozialismus. Eine soziologische Untersuchung der politischen Willensbildung in Schieswig-Hoistein 1918-1932. Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Nr. 6. Deutsche Verlags/ Anstalt, Stuttgart, 1963, 171 S.

(zusammen mit William C. Havard und Perry H. Howard) The Louisiana Elections of 1960. Social Sciences Series No. 9. Baton Rouge, 1963, XIII und 126 S.

Hauptprobleme der Politischen Soziologie. Ferdinand Enke Verlag, Stuttgart, 1967, 363 S.

(zusammen mit Werner 1. Cahnmann) (Herausgeber) Ferdinand Tönnies on Socio­logy: Pure, Applied, and Empirical. Selected Writings. The University of Chicago Press, Chicago and London, 1971, 351 S.

2. ZeitschriJtenauJsätze und Aufsätze in Büchern

Die Arbeiterbewegung in Schweden. Ostsee-Rundschau, 1925, H. 7, S. 154 - 156 Minoritätenpolitik in Litauen. Politische Wochenschrift, Nr.l8 (1925), S. 247-248 Zur Kritik der Völkischen Bewegung. (Pseudonym Dr. Wolfgang Jarno) Preußische

Jahrbücher, Bd. CC (1925), H. 3, S. 275-286 Zur Theorie der Herrschaftsverhältnisse bei Tönnies. Kölner Vierteljahreshefte für So­

ziologie, 1925, S. 51 -61 Die Deutschen in Litauen. Der Auslanddeutsche, Jg. 9 (1926), S. 478-482 Soziographie. Verhandlungen des Deutschen Soziologentages, 1930, Tübingen, S.

223-226 Soziographie. Schmollers Jahrbuch, 53. Jg. (1930), S. 95-114 Die Anpassung der Einwanderer in den Vereinigten Staaten. Kölner Vierteljahreshefte

für Soziologie, Vol. 8 (1930), H. 3, S. 281-292; H. 4, S. 407 -420 Landwirtschaftliche Wanderarbeiter in den Vereinigten Staaten von Amerika. Welt­

wirtschaftliches Archiv, Bd. 31 (1930), H. 2, S. 618-640 Die soziale Bedeutung der Mobilität in den Vereinigten Staaten. Ergebnisse einer so­

ziologischen Untersuchung. Hamburg-Amerika-Post, Bd. 2 (1930), S. 33-44 Mobility ofthe Agricultural Population in the United States. in: Galpin, Sorokin, Zim­

merman (Eds.), A. Systematic Sourcebook in Rural Sociology. Minneapolis, Uni­versity of Minn. Press, 1930, I, S. 508-523

Brief an einen deutschen Freund in Amerika. Hamburg-Amerika-Post, Bd. 2 (1930), S. 315-319

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Bibliographie Rudolf Heberle 271

Mensch und Landschaft in den Vereinigten Staaten. Hamburg-Amerika-Post, Bd. 2 (1930), S. 246-248

Neuere Amerika-Literatur. WeItwirtschaftliches Archiv, 32. Bd. (1931), S. 11-23 Soziographie. Handwörterbuch der Soziologie, hersgg. von Alfred Vierkandt, Enke

Verlag, Stuttgart, 1931, S. 564-568. Wiederabgedruckt in der Gekürzten Studie­nausgabe, Enke Verlag, Stuttgart 1982, S. 156-160

Tönnies. Internationales Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens, hrsgg. von L. Heyde, Werk- und Wirtschaftsverlag, Berlin, 1933, S. 1693 -1965

Die politische Haltung des Landvolks in Schleswig-Holstein. Ergebnisse einer politisch-soziographischen Untersuchung. Volksspiegel. Zeitschrift für Deutsche Soziologie und Volkswissenschaft, l. Jg. (1934), S. 166- 1'72

Aufgaben und Anwendung der Soziologie in der Landschaftsforschung. Soziale Pra­xis, Zentralblatt für Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege, 43. Jg. (1934), Heft 48, S. 1418 - 1422

EinkommensgestaItung und Geburtenbeschränkung. Soziale Praxis, 44. Jg. (1935), S. 690-698

Soziologische Ursachen der Geburtenbeschränkung. Die Ärztin, Monatsschrift des Bundes Deutscher Ärztinnen, ll. Jg. (1935), H. 10, S. 164-168

Die praktische Bedeutung der Soziologie für Volk und Staat. Geistige Arbeit, 1935, S. 5-6

Soziologische Theorie der Geburtenbeschränkung. Der öffentliche Gesundheitsdienst, l. Jg. (1935), H. 17, S. 658 -660

Trade Unions: Scandinavian Countries and Finland. American Em.:yc\opedia ofthe So­cial Sciences, Bd. 15 (1935), S. 19-22

Soziologische Zusammenhänge der Siedlung. Siedlung und Wirtschaft. Zeitschrift für das gesamte Siedlungs- und Wohnungswesen, 17. Jg. (1935), H. 6, S. 241-246

Soziographie von Moide und Suroide. Die Heidedörfer Moide und Suroide, Schriften des Geographischen Instituts der Universität Kiel, S. 47 -57, 1935

Soziologische Theorie der Geburtenbeschränkung. Bevölkerungsfragen, Bericht des Internationalen Kongresses für Bevölkerungswissenschaft, Berlin 1935, München 1936, S. 276-282

Lübeck. Volksspiegel, Zeitschrift für deutsche Volkswissenschaft, 3. Jg. (1936), H. 6, S. 355-357

Die Bedeutung von Zivilisationsgefälle und Kulturgefälle für die Selbstbehauptung von Auslandsvolksgruppen. Archiv für Bevölkerungswissenschaft und -politik, 6. Jg. (1936), S. 78-86

Die Bedeutung der Wanderungen im sozialen Leben der Völker. Reine und Ange­wandte Soziologie. eine Festgabe für Ferdinand Tönnies zu seinem 80. Geburts­tage, Hans Buske Verlag, Leipzig, 1936, S. 165 - 179

Bau und Gefüge der Truppe. Soldatentum. Zeitschrift für Wehrpsychologie, Wehrer­ziehung und Führerauslese, 1936, S. 112 - 120

The Sociology ofFerdinand Tönnies. American Sociological Review, Vol2 (1937), No. I, S. 9-25

Die Untersuchungen der Binnenwanderungen in Schweden und die künftige Deutsche Wanderungsstatistik. allgemeines Statistisches Archiv. Organ der Deutschen Stati­stischen Gesellschaft, Bd. 26 (1937), S. 339-343

Wirtschaftliche und gesellschaftliche Ursachen des Geburtenrückgangs. Archiv für Bevölkerungswissenschaft und -politik, Jg. 7 (1937), H. I, S. 1-33

Page 270: Hans-Joachim Dahms (Auth.), Heinz-Jürgen Dahme, Carsten Klingemann, Michael Neumann, Karl-Siegbert Rehberg, Ilja Srubar (Eds.) Jahrbuch Für Soziologiegeschichte 1990 1990

272 Bibliographie Rudolf Heberle

Binnenwanderung in Krise und Aufschwung. Soziale Praxis, 47. Jg. (1938), S. 343-347

Die Abwanderung aus Schieswig-Hoistein nach Hamburg-Altona. Jahrbücher für Na­tionalökonomie und Statistik, Bd. 147 (1938), S. 158 - 182

Verfahren der Wanderungsforschung. Statistik der Binnenwanderungen. Deutsches Statistisches Zentralblatt, 30. Jg. (1938), H. I, S. 3 - 14

German Approaches to internal Migration (with Annotated Bibliography). In: Dorothy Swaine Thomas, Research Memorandum on Migration Differentials, Social Science Research Council Bulletin No. 43 (1938), S. 269-341

Wanderung und Mobilität der Arbeiter in ihrer Bedeutung für Betrieb, Famil ie und Ge­meinde. Soziale Praxis, 47. Jg. (1938), S. 1219-1227

The Causes of Rural-Urban Migration: A Survey of German Theories. The American Journal of Sociology, 43. Vol. (1938), No. 6, S. 932 -950

The Application of Fundamental Concepts in Rural Community Studies. Rural Socio­logy, Vol. 6 (1941), No. 3, S. 203 -237

Some Observations on the Industrial and Occupational Structure of the Population of Louisiana. Proceedings of the Louisiana Academy of Sciences, Vol. 6 (1942), S. 107 -132

Human Resources - The Labor Force. Louisiana Educational Survey, Vol. 5. Sec. 10. Baton Rouge. 1942

Regionalism: Some Critical Observations. Social Forces, Vol. 21 (1943), No. 3, S. 280-286

The Political Movements among the Rural People in Schieswig-Hoistein 1918 to 1932. The Journal of Politics, Vol. 5 (1943), No. 1, S. 3 - 26, No. 2, S. 115 - 141

Contrasting World Orders. Aspects ofa World at War, ed. by Robert B. Heilman, Radio Forums of the Louisiana State University 1941- 1942, Published for the General Extension Division of the L.S.v., 1943, S. 41 -52

The Ecology of Political Parties. A Study of Elections in Rural Communities in Schleswig-Holstein, 1918-1932. American Sociological Review, Vol. 9 (1944), No. 4, S. 401-414

Discussion of Article "The Neighborhood as a Unit of Action in Rural Programs" by Bryce Ryan. Rural Sociology, Vol. 9 (1944), No. 1, 1944

Germany. Conference Report on "The Contribution of Extension Methods and Techni­ques Toward the Rehabilitation of War-Tom Countries". Washington D.C., Sept. 19-22, 1944 / US-Department of Agriculture, 1945, S. 78-81

War Time changes in the Labor Force of Lousiana. Social Forces, March 1946 A Sociological Interpretation of Social Change in the South Socia1 Forces, Vol. 25

(1946), No. 1, S. 9-15 Social Aspects ofHousing, Housing and Housing Sanitation, Lectures presented at the

meeting on February IOn, 1947, LSV. Campus / Low-Cost Housing Research, Ba­ton Rouge, 1947, S. 9-13

The Sociological Theories ofFerdinand Toennies. In: H.E. Barnes (ed.), An Introduc­tion to the History of Sociology, University of Chicago Press, 1948, S. 93 - 101

The Sociology of Georg Simmel. In: H.E. Barnes (Ed.), An Introduction to the Hi­story of Sociology, Chicago, University of Chicago Press, 1948, S. 102 - \ll

Social Consequences of the Industrialization of Southern Cities / Social Forces, Vol 27 (1948), No. 1, S. 29-37

Factors Motivating Voting Behavior in a One-Party State. A Case -Study of the 1948

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Bibliographie Rudolf Heberle

Louisiana Gubernatorial Primaries. (zusammen mit A.L. Bertrand) Social Forces, Vol Z7 (1949), No. 4, S. 343 - 350

273

Observations on the Sociology of Social Movements. American Sociological Review, Vol. 14 (1949), No. 3, S. 346-357

Displaced Persons in the Deep South. Rural Sociology, Vol 16 (1951), No. 4, S. 362-377

Principles of Political Ecology. Soziologische Forschung in unserer Zeit. Ein Sammel­werk Leopold von Wiese zum 75. Geb., hrsgg. von K.G. Specht, Köln, 1951, S. 187 - 196 und in: Proceedings of the Southwestern Social Science Association, Aus­tin Texas, 1951, S. 68 - 79

On Political Ecology. Social Forces, Vol. 31 (1952), S. 1-9 Sociological Aspects of Goethe's Works. In: C. Hammer jr. (ed.), Goethe after two

Centuries. Louisiana State University Studies, Humanities Series, No. 1, Baton Rouge, 1952, S. 63 - 72

Continuity and Change in Voting Behavior in the 1952 Primaries in Louisiana (zusam­men mit George Hillery jr. und Frank Lovrich). The Louisiana Southwestern So­cial Science Quarterly, Vol 33 (1953), S. 328-342

Migratory Mobility. Theoretical Aspects and Problems of Measurement. Proceedings World Congress of Population, Rome 1954, 15 MS-Seiten

An Ecological Analysis of Political Tendencies in Louisiana. (zusammen mit Perry H. Howard). Social Forces, Vol. 32 (1954), S. 344 - 350

Mainsprings of Urbanization in the South. In: Vance and Demerath (eds.), The Urban South, University of North Carolina Press, Chapel Hili, 1954, 21 MS-Seiten.

Theorie der Wanderungen. Soziologische Betrachtungen. Schmollers Jahrbuch, 75. Jg. (1955), S. 1 - 23

Das Soziologische System von Ferdinand Tönnies. Schmollers Jahrbuch, 75. Jf. (1955), S. 1-18

Types ofMigration. Southwestern Social Science Quarterly, 1955, S. 65 -70, wiederab­gedruckt in: R.E.M.P. Bulletin, Vol4 (1956), S. 2-5

Das Theorem Gemeinschaft und Gesellschaft in der Soziologie der politischen Par­teien. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. 7. Jg. (1955), H. 3, S. 426-442

Ferdinand Tönnies' Contributions to the Sociology of Political Parties. The American Journal of Sociology, Vol. LXI (1955), S. 213 -220

A Note on Riesman's ,The Lonely Crowd'. The American Journal of Sociology, Vol. LXII (1956), S. 34-36

Changes in the Social Stratification of the South. Transactions of the Third World Con­gress of Sociology, Vol. 3, 1956, S. 96 - 105

In Memoriam Alfred Weber. The American Journal of Sociology, LXIV (1958) Tönnies, Ferdinand. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart, Tübingen

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42-50

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274 Bibliographie Rudolf Heberle

Political Tendencies and Parties in Germany. The Canadian Journal of Economics and Political Science. Vol 25 (1959, S. 484-496

The Normative Element in Neighborhood Relations. The Pacific Sociological Review, Vol. 3 (1960), S. 3 - 11

Alfred Weber's Theory of Historical Sociology. Sociology and Social Research, Vol. 44 (1960), S. 387 - 393

Wandlungen der sozialen Schichtung im Süden der Vereinigten Staaten. Kölner Zeit­schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 12. Jg. (1960), H. 4, S. 686-706

Farmer. Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Tübingen, Stuttgart und Göttin­gen 1960, S. 478 -482

Introduction. Zur englischen Übersetzung von "Die Sitte" von Ferdinand Tönnies: Custom, an Essay on Social Codes, transl. by A. Farrell Borenstein, Glencoe 111., 1961, S. 11- 28

Wanderungsmobilität. Nachbarschaft. Soziale Bewegungen. Wahlsoziologie. In: Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 729 - 731, 957 - 960, 1258 - 1261, 1269 - 1272, TB-Ausgabe Stuttgart 1971

Parliamentary Government and Political Parties in West Germany. The Canadian Jour­nal of Economics and Political Science, Vol. 28 (1962), S. 417 -423

Bei den Deutschen in Litauen im Jahre 1925. Heimatgruß, Jahrbuch der Deutschen aus Litauen, 1965, S. 55-60

Zur Soziologie der Nationalsozialistischen Revolution. Notizen aus dem Jahre 1934. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, H. 4, 1965, S. 438 -445

Die sozialen Bewegungen "ethnischer" Gruppen. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Festschrift für OUo Stammer, 17. Jg., (1965), S. 619-631

Geleitwort zur Neuausgabe von Ferdinand Tönnies, Einführung in die Soziologie, Enke Verlag Stuttgart, 1965 (2. Aufl. 1981), S. XI - XIX

Conformity, "Other-Directedness" and the National American Character. Cimmarron Review, Vol. 1 (1967), S. 69-75

Tönnies, Ferdinand. International Encyc\opedia of the Social Sciences, 1968, S. 98-103

Social Movements: Types and Functions. International Encyc\opedia of the Social Sciences, 1968, S. 438-444

Siegfried, Andre. International Encyc\opedia ofthe Social Sciences, 1968, S. 236-238 Die Wahl ökologie und Wahlgeographie. Handbuch der empirischen Sozialforschung,

11. Band, Enke Verlag, Stuttgart, 1969, S. 870-911, wiederabgedruckt in der 2. Aufl., 1978, Bd. 12, S. 73 101

Zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus in Dithmarschen. Süderdithmarschen 1581 - 1970, Westholsteinische Verlagsanstalt, Heide, 1970, S. 175 - 187

Wanderungen in soziologischer Sicht. Herders Staatslexikon, 6. Aufl. Freiburg 1963, S.442-445

Zur Typologie der Wanderungen. Köllmann & Marschalk (Hrsg.), Bevölkerungsge­schichte, 1971, S. 69-75

(zusammen mit Werner Cahnmann) Introduction. Ferdinand Tönnies on Sociology, Chicago und London, 1971, S. VII -XXII

The Sociological System of Ferdinand Tönnies. An Introduction. Ferdinand Tönnies - a new Evaluation. Essays W.J. Cahnman, (ed.), and Documents. Brill, Leiden, 1973, S. 47 -69

Soziologische Lehr- und Wanderjahre. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozial-

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Bibliographie Rudolf Heberle 275

psychologie, Vol. 28 (1976), S. 197 -211, wiederabgedruckt in W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie, Frankfurt am Main 1980, S. 271 -298

Reminiscences of a Sociologist. Journal of the History of the Behavioral Sciences, Vol. 13, (1977), S. 13I - 140

In Praise of Field Work: An Autobiographical Note. Zeitschrift für Soziologie, Jg. II (1982), H. 2, S. 105-lI2

Anhang

Verzeichnis der Lehrveranstaltungen von Rudolf Heberle an der Universität Kiel zwi­schen 1929 und 1937

WS 29/30 Die Bevölkerung des Deutschen Reiches in soziologischer Betrachtung

SS 1930 Soziale Schichten und politische Bewegungen im gegenwärtigen Deutschland Soziologische Übungen

WS 30/31 Empirische Soziologie Soziologische Übungen über politische Parteien

SS 31 Übungen zur Einführung in die Soziologie Die politischen Parteien im modernen Staat Übungen zur empirischen Soziologie

WS 31/32 Theoretische Soziologie Übungen über neuere soziologische Theorien

SS 32 Soziographie Einführung in die Soziologie Übung "Wanderung im Zeitalter des Kapitalismus" Übungen zur theoretischen Soziologie

WS 32/33 System der Soziologie Die politischen Parteien im modernen Staat Soziologische Übungen

SS 33 Dorf, Stadt und Großstadt als soziale Lebensform Übung zu "Wirtschaft und Gesellschaft"

WS 33/34 Hauptprobleme der Soziologie Sozial statistik Soziologische Übungen

SS 34 Soziologie Übungen über soziologische Theorien Übungen über "Staat und Gesellschaft fremder Nationen"

WS 34/35 Die Bevölkerung des Deutschen Reiches Übungen über neuere soziologische Literatur

SS 35 Hauptprobleme der Soziologie Soziographisches Kolloquium

WS 35/36 Wirtschaft und Raum Grundzüge der Reinen Soziologie Übungen zur Einführung in die Reine Soziologie

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276 Bibliographie Rudolf Heberle

SS 36 Die Dorfgemeinschaft in Deutschland (zugleich Einführung in die so­ziologische Volkskunde) Übungen zur Soziologie holsteinischer Dörfer Bevölkerungsstatistik, -lehre und -politik

WS 36/37 Soziographie der Stadt und Großstadt Einführung in die Soziologie Soziologische Übungen

Anm.: Nach Rudolf HeberIes Auskunft wurden die Veranstaltungen zumeist in seiner Wohnung abgehalten; sie waren durchschnittlich von etwa 6 Studenten besucht. Die Angabe der Veranstaltungen folgt den Vorlesungsverzeichnissen; ob sich demgegen­über Veränderungen ergeben haben, kann nicht mehr festgestellt werden.

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Sozialwissenschaftliches Archiv Konstanz

Das an der Universität Konstanz bestehende Sozialwissenschaftliche Archiv enthält vor allem Nachlässe und Nachlaßteile mehrerer nach 1933 emigrierter Sozialwissenschaftier (insbesondere aus dem Umkreis der New School for Social Research in New York) sowie Nachlässe oder Nachlaßteile einiger Klassiker der Soziologischen Theorie. Die Materialien sind entweder im Ori­ginal oder auf Mikrofilm vorhanden. Der Zugang wird durch eine Benutzer­ordnung geregelt.

Informationen über die Archivbestände und die Zugangs regelung werden auf Anfrage versandt.

Das Archiv enthält folgende Materialien:

Max Ascoli (1898) Im Archiv befindet sich eine Auswahl seiner wissenschaftlichen Korrespondenz aus der Zeit zwischen 1934 - 1948 vorwiegend mit Mitgliedern der Graduate Faculty der New School for Social Research in New York. Die Briefe liegen als Photokopien vor. Ein Verzeichnis ist vorhanden.

Hans Heinrich Gerth (1908-1978) Die Materialsammlung besteht aus Kopien, deren Originale im Besitz von Frau Gerth sind. Sie enthält Mitschriften und Arbeiten aus Gerths Studienzeit, unter anderem aus Mannheims "Liberalismus-Seminar". Auch eine Sammlung von Gerths Zeitungsauf­sätzen ist vorhanden. Ein Index liegt vor.

Aron Gurwitsch (1901-1973) Im Archiv befinden sich Kopien seiner wissenschaftlichen Korrespondenz mit Alfred Schütz sowie sein wissenschaftlicher Nachlaß. Ein kommentiertes Verzeichnis der Briefe sowie ein Verzeichnis des Nachlasses liegt vor.

Paul Honigsheim (1885 -1963) Im Archiv befinden sich hektographische Manuskripte etlicher Vorlesungskripten aus der Zeit seiner Tätigkeit in Michigan sowie Vorträge, die er nach dem Kriege für den RIAS-Sender verfaßt hat. Ein Verzeichnis der Materialien liegt vor.

Felix Kaufmann (1895 -1949) Im Archiv liegt Kaufmanns gesamter wissenschaftlicher Nachlaß einschließlich der Korrespondenz auf Mikrofilm vor. Das Original befindet sich im Center for Advanced Research in Phenomenology an der Wilfried Laurier University in Waterloo, Ontario, Kanada. Ein Nachlaßindex liegt vor.

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278 Sozialwissenschaftfiches Archiv Konstanz

Paul F. Lazarsjeld (1901 -I(6) Das Archiv verfügt über Teile seines wissenschaftlichen Nachlasses sowie über Teile seiner Korrespondenz auf Mikrofilm und auf Fotokopien. Die Originale sind im Besitz der Columbia University, New York. Ein Index liegt vor.

Adolph Lowe (1893) Im Archiv wird eine Kollektion der Kopien seiner wissenschaftlichen Korrespondenz aufbewahrt, die zwischen 1947 und 1961 geschrieben wurde, vorwiegend jedoch aus der Zeit seiner Tätigkeit als Direktor des Institute of World Affairs stammt. Ein Ver­zeichnis der Briefe liegt vor.

Benita Luclcmann (1925 -19lf7) Aus dem Nachlaß von Benita Luckmann hat das Archiv eine reichhaltige Sammlung von Materialien und Dokumenten zur Geschichte der New School for Sodal Research in New York erhalten. Ein vorläufiges Verzeichnis liegt vor.

Karl Mannheim (1893 -1947) Im Archiv befinden sich die Kopien von Originalen zweier umfangreicher Manus­kripte aus der frühen Phase des Mannheimschen Werks. Sie wurden von den Heraus­gebern, Nico Stehr und Volker Meja, im Archiv deponiert. Das im Rahmen eines For­schungsprojektes "Karl Mannheim in der Emigration 1933-1947" gesammelte, foto­kopierte Material wurde geordnet und katalogisiert. Es enthält vor allem Dokumente zu Mannheims Tätigkeit in England, unter anderem Materialien, die aus Mannheims Mitarbeit in dem MOar-Kreis hervorgingen.

earl Mayer (1902 -I(4) Carl Mayers gesamter Nachlaß befindet sich im Original im Archiv. Ein Index liegt vor.

George Herbert Mead (1863 -1931) Der gesamte Nachlaß ist auf Mikrofilm im Archiv zugänglich. Die Originale befinden sich in der Regenstein Library der University of Chicago, Department of Special Col­lections.

Franz Pariser (1895 -I(4) Der Nachlaß befindet sich im Original im Archiv.

Kar! R. Popper (1902) Im Archiv befindet sich die Manuskriptkopie seiner Dissertation "Zur Methodenfrage der Denkpsychologie", die er im Sommer-Semester 1928 in Wien einreichte.

Albert Salomon (1891-1966) Im Archiv befindet sich der überwiegende Teil des wissenschaftlichen Nachlasses im Original. Kleinere Teile der wissenschaftlichen Korrespondenz liegen in Kopie vor.

Joseph A. Schumpeter (1883 -1950) Im Archiv ist eine Auswahl von Kopien aus seinem wissenschaftlichen Nachlaß vor­handen. Das Material bezieht sich vornehmlich auf die soziologischen Aspekte seines Werkes. Die Originale des umfrangreichen Nachlaßes werden im Harvard University Archiv aufbewahrt. Ein Verzeichnis des Gesamt-Nachlasses liegt vor.

Alfred Schatz (1899-1959) Schütz' gesamter wissenschaftlicher Nachlaß befindet sich auf Mikrofilm im Archiv. Darüberhinaus hat das Archiv die Zeitschriftensammlung von Alfred Schütz erwor-

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Sozialwissenschajtliches Archiv Konstanz 279

ben. Die aus Schütz' Handbibliothek stammenden, von ihm annotierten Werke von Parsons wurden von Frau Ilse Schütz als Dauerleihgabe überlassen. Das Archiv be­müht sich um die Gewinnung weiterer relevanter Buchbestände aus Schütz' Privatbe­sitz.

In einer besonderen Abteilung werden alle Anweisungen, Manuskripte und Noti­zen autbewahrt, die Alfred Schütz als Entwurf für die Fertigstellung der "Strukturen der Lebenswelt" hinterließ, und die Thomas Luckmann als Grundlage für die endgül­tige Ausarbeitung des Textes dienten. Sie sind so angeordnet, daß der Autbau der zwei Bände der "Stukturen" aufgrund des Schütz'schen Materials dokumentiert wird.

Alfred Vierkandt (1867-1953) Im Archiv befinden sich etliche annotierte Bände seiner Werke aus seiner Handbibliothek, die Korrekturfahnen seines Aufsatzes über "Die entwicklungspsychologische Theorie der Zauberei" von 1937 mit handschriftlichen Korrekturen sowie das nichtpublizierte Manuskript "Triebleben und Kultur" (Typos­kript mit handschriftlichen Ergänzungen).

Max Weber (1864-1920) Im Archiv befinden sich Kopien von Teilen der weit verstreuten wissenschaftlichen Korrespodenz Webers. Ein Verzeichnis der Briefe liegt vor.

Florian Znaniecki (J882 -1958) Im Rahmen eines Forschungsprojektes über seine Wirkung erfolgt die Sammlung sei­nes in den USA und in Polen liegenden Nachlasses durch Prof. Dr. Richard Grathoff in Bielefeld.

Anfragen an: PD Dr. Ilja Srubar Sozialwissenschaftliches Archiv Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Konstanz Postfach 5560 7750 Konstanz

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Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich

Das Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich (AGSÖ)wurde im Frühjahr 1987 gegründet, nachdem der lubiläumsfonds der Österreich ischen Nationalbank einen im Jahr zuvor eingereichten Antrag auf Förderung geneh­migt hatte (Restexemplare des Antragspapiers - 21 Seiten - können angefor­dert werden). Das "Antragsteller" -Komitee bildeten folgende Kollegen:

- Univ. Prof. Dr. Anton Amann (Institut für Soziologie an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultär der Universität Wien);

- Dr. Christian Fleck (Institut für Soziologie, Universität Graz); - Univ. Prof. Dr. Max Haller (Institut für Soziologie, Universität Graz, als

Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie); - Univ. Doz. Dr. Reinhold Knoll (Institut für Soziologie an der Sozial- und

Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien); - Univ. Doz. Dr. Josef Langer (Institut für Soziologie, Universität für Bil­

dungswissenschaften Klagenfurt, als Sprecher der Sektion Geschichte der Soziologie der ÖGS);

- Univ. Doz. Dr. Gerald Mozetic (Institut für Soziologie, Universität Graz).

Nach Genehmigung der Förderungsmittel durch den Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank wurde vom Vorstand der ÖGS - in Abspra­che mit den Antragstellern - beschlossen, daß Christian Fleck zum Leiter des Archivs bestellt wird. Die Förderungsmittel erlaubten es, in der Folge Rein­hard Müller als Mitarbeiter zu gewinnen. Ihm wurden die Errichtung der Da­tenbanken, anfangs vor allem als Arbeit am Soziologenverzeichnis gedacht, und die damit in Verbindung stehenden Archivrecherchen übertragen.

Erfreulicherweise erklärten sich namhafte in- und ausländische Sozial­wissenschaftier bereit, dem "wissenschaftlichen Beirat" des AGSÖ beizutre­ten. Dafür, daß viele von ihnen durch konstruktive Kritik den Erstentwurf des Antragspapiers verbessern halfen, sei ihnen Dank gesagt.

Dem wissenschaftlichen Beirat gehören an: Univ. Prof. Dr. Karl Acham (Graz); Univ. Prof. Dr. Erich Bodzenta (Wien); Bundesminister a.D. Dr. Hertha Fimberg (Wien); Univ. Prof. Dr. Peter Ger­lieh (Wien); Prof. Dr. Marie lahoda (Hassocks, UK); Prof. Dr. Karin Knorr (Bielefeld); Prof. Dr. M. Rainer Lepsius (Heidelberg); Univ. Prof. Dr. Paul

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Archiv zur Geschichte des Soziologie in Österreich 281

Neurath (Wien-New York); Univ. Prof. Dr. HelgaNowotny (Wien); Prof. Dr. Jerzy Szacki (Krak6w- Wien); Prof. Dr. Hans Zeisel (Chicago).

Das AGSÖ verfolgt das Ziel, die Geschichte der Soziologie in Österreich von ihren Anfängen im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu dokumentieren. Sowohl die Geschichte der Soziologie in Österreich als auch deren soziologi­sche Bearbeitung sind bislang wenig behandelte Themen. Die wenigen Publi­kationen dazu weisen große Lücken in der Entwicklungsgeschichte, bisweilen auch Ungenauigkeiten und Fehler auf. Dazu kommt noch eine meist stark bio­graphische, auf Einzelpersonen beschränkte Ausrichtung, während eine syste­matische Darstellung wie Analyse der biographischen, kognitiven und institu­tionellen Aspekte der Entwicklung der Soziologie in Österreich bislang feh­len. Neben der Schaffung einer dafür notwendigen dokumentarischen Grundlage sieht das AGSÖ eine wesentliche Aufgabe darin, die ohnedies we­nigen, noch vorhandenen Nachlässe, Korrespondenzen und ähnlichen Mate­rialien verstorbener oder noch lebender Soziologen Österreichs vor dem Ver­gessen oder der Vernichtung zu bewahren und - unter dem Blickwinkel des Datenschutzes - einer sorgfältigen Aufarbeitung zugänglich zu machen. Diese Aufgaben sind unter dem Aspekt folgender Arbeitsschwerpunkte zu sehen:

- Dokumentation des institutionellen Aspektes der Geschichte der Soziolo­gie, also der Probleme der Professionalisierung und Institutionalisierung der Soziologie in Österreich als eigenständiger Disziplin innerhalb und au­ßerhalb der Universitäten;

- Dokumentation des kognitiven Aspektes der Entwicklung, also der Ausdif­ferenzierung des soziologischen Theorie- und Lehrgehaltes aus verwand­ten Disziplinen, der Entwicklung einer eigenständigen Begriffs- und Theo­riesprache, der Ausdifferenzierung verschiedener Schulen innerhalb der Soziologie in Österreich;

- Dokumentation des biographischen Aspekts der Geschichte der Soziolo­gie, also Erfassung der Lebens- und Wirkungsgeschichte all jener Perso­nen, die zur Soziologie in Österreich zu zählen sind beziehungsweise Bei­träge zu ihr geliefert haben.

Neben der bloßen Sammlertätigkeit zeichnet sich das AGSÖ durch Er­stauswertungen des Materials in Form von Datenbanken zu österreichischen Soziologen und soziologischen Institutionen, einer Bibliographie der österrei­chischen Soziologie und einem soziologischen Lehrveranstaltungsverzeichnis der österreichischen Universitäten aus. Dazu kommt noch die Öffentlichkeit­sarbeit des AGSÖ, welche beispielsweise in Form von Ausstellungen oder Pu­blikationen erfolgt.

Zur Bewältigung der programmatischen Vorgaben baut das AGSÖ fol­gende Abteilungen auf:

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282 Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich

I. Datenbanken

1. Soziologenverzeichnis

Es handelt sich dabei um ein auf Vollständigkeit abzielendes Verzeichnis aller So­ziologen in Österreich beziehungsweise österreichischer Soziologen im Ausland von den Anfängen bis zur Gegenwart in Form einer Datenbank. Neben den biographischen Grunddaten wird besonders die Ausbildungs-, Wissenschafts- und Berufskarriere do­kumentiert.

2. Institutionenverzeichnis

Angestrebt wird ein auf Vollständigkeit abzielendes Verzeichnis aller universitä­ren und außeruniversitären, privaten oder (halb) öffentlichen Institute, Gesellschaften und Vereine in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart in Form einer Daten­bank. Neben den historischen und personalen Grunddaten werden besonders die Akti­vitäten und Arbeitsschwerpunkte derartiger Institutionen dokumentiert.

3. Schrijtenverzeichnis

Ziel soll eine auf Vollständigkeit abzielende Bibliographie der soziologischen Li­teratur in Österreich beziehungsweise der Literatur österreichischer Soziologen in Form einer Datenbank sein. Neben der üblichen Erfassung selbständiger wie unselb­ständiger Publikationen werden auch Diplomarbeiten, Dissertationen und Habilitatio­nen, Projekt- und Tagungsberichte sowie die sogenannte graue Literatur erfaßt.

4. Lehrveranstaltungsverzeichnis

Es wird ein auf Vollständigkeit abzielendes Verzeichnis aller "soziologischen" Lehrveranstaltungen an sämtlichen österreichischen Universitäten von den Anfängen bis zur Gegenwart in Form einer Datenbank unterhalten. Neben den titelmäßig als so­ziologisch kategorisierbaren Lehrveranstaltungen werden sämtliche Lehrveranstaltun­gen von Soziologen erfaßt.

11. Materialiensammlungen

1. Personen

Ein weiterer Schwerpunkt des AGSÖ besteht in der Sammlung archivalischer Ma­terialien in Form von Originalen oder Fotokopien zu einzelnen Soziologen in Öster­reich beziehungsweise österreichischen Soziologen im Ausland.

2. Institutionen

Archivalische Materialien in Form von Originalen oder Fotokopien zu einzelnen soziologischen Instituten, Vereinen und Gesellschaften in Österreich sollen einen Ein­blick in institutionsgeschichtliche Aspekte gewähren.

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Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich 283

III. Sondersammlung "Österreichische Gesellschaft für Soziologie"

Das AGSÖ verwaltet den Aktenbestand der Österreichischen Gesellschaft für So­ziologie, welcher - möglichst unter Mithilfe der ehemaligen Vorstandsmitglieder -vervollständigt werden soll.

VI Interviewsammlung

Besonderes Interesse gilt der Sammlung von Interviews mit österreichischen So­ziologen beziehungsweise Soziologen in Österreich in Form von Tonbandaufnahmen und loder maschinen-schriftlichen Transkriptionen.

V. Nachlaßsammlung

Ziel ist die Sammlung von Nachlässen in Form von Originalen oder Fotokopien, welche als jeweils geschlossener Bestand aufbewahrt, zugänglich gemacht und verwal­tet werden.

VI. Ikonographie

Gesammelt werden Bilddokumente zur Geschichte der Soziologie (sowohl Por­träts als auch Bilddokumente zu Tagungen, Vereinen etc.) in Form von Originalen oder Abzügen.

VII. Bibliothek österreichischer Soziologie

Die Bibliothek des AGSÖ umfaßt originale oder fotokopierte Publikationen zur Soziologie in Österreich.

Vor diesem programmatischen Hintergrund gilt es, eine erste Bilanz über die in der Anfangsphase durchgeführten Arbeiten zu ziehen:

Ad I. Datenbanken

1. Soziologenverzeichnis

Als Arbeitskreis dient dem AGSÖ die Datenbank "Österreichische Soziologen -Soziologen in Österreich". Sie umfaßt biographische Einträge zu nunmehr 346 Perso­nen, wobei die Daten zunächst der wissenschaftlichen Literatur entnommen wurden. Diese Angaben, die neben den biographischen Grunddaten vor allem die Bildungs­und Berufskarriere sowie Auszeichnungen, Preise und Mitgliedschaften betreffen, sind anband der in der Materialsammlung des AGSÖ vorhandenen Dokomente über­prüft und ergänzt worden. Die Aufnahmekriterien wurden bewußt großzügig gehand­habt, damit auch das personelle Umfeld aus den Rand- und Nachbarschaftsdisziplinen

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284 Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich

der Soziologie als Arbeitsbasis greifbar ist. Diese Datenbank, weIche mit dem Daten­banksystem KLEIO (Max-Planck-Institut für Geschichte, Göuingen) verwaltet wird, ist auch in Form einer Datei mit dem Programmpaket WORD zugänglich.

2. Schrijtenverzeichnis

Um nicht gänzlich in der älteren Geschichte der Disziplin zu versinken - und um an der jüngeren Vergangenheit der Soziologie in Österreich Interessierten eine Service­leistung zu bieten, steht der Versuch, die Veröffentlichungen österreichischer Soziolo­gen für den Zeitraum 1975 - 1985 zu dokumentieren. Bekanntlich ist der Zeitraum von 1950 bis 1974 durch die Veröffentlichung von Literaturlisten bzw. Bibliographien eini­germaßen erschlossen: Rosenmayr / Höllinger (Hrsg., Soziologie. Forschung in Öster­reich, Wien 1969) führten für den Zeitraum 1950 bis 1968 420 Titel an, und die beiden im Österreichischen Jahrbuch für Soziologie 1970 bzw. 1974 erschienenen Bibliogra­phien von Robert Rehberger verzeichneten für den Zeitraum 1960 bis 1974 1155 Titel.

Obwohl wir das Aufnahmekriterium enger definierten als die beiden Vorläufer (z.B. keine Aufnahme in Österreich erschienener Übersetzungen und Neuauflagen so­wie keine graue Literatur, da letztere an der Sozialwissenschaftlichen Informations­stelle der Universitätsbibliothek der Wirtschaftsuniversität Wien erfaßt wird), haben wir für das Dezennium 1975 - 1985 mehr als 3000 Titel gemeldet erhalten bzw. selbst erfaßt. Diese Menge wirft mehrere Probleme auf: Einerseits erlauben es unsere Res­sourcen nicht, die eingetroffenen Angaben bibliographisch zu überprüfen, den Erfas­sungsgrad zu erhöhen oder die Notation zu vereinheitlichen, was wegen der unter­schiedlichen Form, in der uns die Veröffentlichungsverzeichnisse zugingen, geboten wäre. Zum anderen ist die Menge von Titeln in herkömmlicher Form kaum publizier­bar. Eine Drucklegung der Bibliographie ist daher nicht vorgesehen!

Interessenten erhalten die maschinenlesbare Datei daher auf Diskette. Auf geson­derten Wunsch können wir in Einzelfällen Ausdrucke herstellen.

Technische Hinweise: Es handelt sich dabei um Textdateien, weIche mit dem Pro­grammpaket dBASE bearbeitet werden können. Die 5 1I4"-Disketten sind in einer Dichte von 360 KB beschrieben.

Ad 11. Materialiensammlungen

Die Materialiensammlung besteht aus Fotokopien diverser Akten aus verschiede­nen Archiven (u.a. Österreichisches Staatsarchiv / Allgemeines Verwaltungsarchiv, Archiv der Universität Wien, Universitäts-Archiv Graz, Wiener Stadt- und Landesbi­bliothek / Handschriftensammlung, Universitäts-Bibliothek Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Landesgericht für Strafsachen Wien, Bundespolizeidirektion Wien). Sie umfaßt nunmehr 1814 Fotokopien von 135 Dokumenten zu 58 Personen und 2 Ver­einen. Die folgende Personen- und Vereinsliste beinhaltet nun jene Namen, unter de­nen die Materialien archiviert wurden. Daß natürlich bei einzelnen Akten andere Per­sonen vertreten sein können - so finden sich beispielsweise im Personalakt "Gehlen" auch Dokumente zu Gunther Ipsen - liegt in der Natur von Archiven.

Wilhelm (Friedrich Otto) Andreae (1888 - 1962); Jakob Baxa (1895 - 1979); Hans Bayer (1903 - 1965); Edmund Bematzik (1854 - 1919), Ernst Blaschke (1856 - 1926); Otto Brun-

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Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich 285

ner (1898-1982); Egon Brunswik (1903-1955); Charlotte BUhler, geborene Mala­chowski (1893-1974); Kar1 BUhler (1879-1963); Alfons Dopsch (1868-1953); Hugo Forcher (1869-1930); Siegmund Freud (1856-1939); Arnold Gehlen (1904-1976); Heinrich Gomperz (1873 -1942); Ignaz Gruber, Freiherr von Menniger (1842 -1919); (Saul) Kar! Granberg (1861-1940); (Gustav) Adolf GUnther (1881-1958); Ludwik Gumplowicz (1838-1909), beigefügt Franciska Goldman, verehelichte Gumplowicz (1845 - 1909), Maksymilian Ernest Gumplowicz (1864 -1897), (Ignacy) (Wladyslaw Gumplowicz (1869 - 1942; Gottfried (bis 1919) vonHabeler (geb. 1900); Ludwig Moritz Hanmann (1865-1924); Friedrich August (bis 1919) von Hayek (geb. 1899); Walter Heinrich (1888-1963); Dietrich von Hildebrand (1889-1977); Kar! Theodor von lnama-Sternegg (1843-1908); Marie Jahoda, verehelichte Lazarsfeld, verehelichte Albu (geb. 19(7); Wilhelm Jerusalem (1854-1923); Franz Ritter von Juraschek (1849-1910); Felix Kaufmann (1895-1949); Hans Kelsen (1881-1973); Felix Klezl, (bis 1919) Freiherr von Norberg (1885 -1972); August Maria Knoll (1900-1963); Alexander Mahr (1896-1972); Viktor Mataja (1857 -1934); Adolf Heinrich Menzel (1857 -1938); Johannes Meßner (1891 - 1984); Ernst Mischler (1857 -1912); Ludwig (bis 1919) Edler von Mises (1881-1973); Oskar Morgenstern (1802-1977); Josef Nadler (1884-1963); Erna Patzelt (1894 - 1986); Alfred Peters (1888 - ?); Alfred Francis Pfibram (1859-1942); Karl [>fibram (1877 -1973); Hermann Roeder (1898-1978); Johannes Sau­ter (1891 -?); Walter Schiff (1866 - 1950); Josef Alois Schumpeter (1893 -1950); Eugen Peter Schwiedland (1863 - 1937); Ignaz Seipel (1878 - 1950); Isidor Singer (1857 - 1927); Othmar Spann (1878 - 1950); beigefügt (Erika Reinisch, verehelichte Spann) Erika Spann-Rheinisch (1880-1967); Maximilian Sternberg (1863-1934); Ludwig Telekj (1872 - 1957); Erich Vögelin (1901 - 1985); Emanuel Hugo Vogel (1875 -1946); Friedrich (bis 1919) Freiherr von Wieser (1851-1926); Franz Zi!.ek (1876-1938); Soziologische Gesellschaft (Graz); Österreichische Gesellschaft für Soziologie (Wien).

Diese Materialien können vorerst - bis zur endgültigen Klärung der urheber­rechtlichen Fragen - nur bedingt öffentlich zugänglich gemacht werden.

Ad III. Sondersammlung "Österreichische GeseUschaft für Soziologie"

Die Akten der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie liegen nach deren Sichtung und Ordnung als geschlossener Bestand im AGSÖ und sollen integrierter Be­standteil desselben werden. Eine Vervollständigung - vor allem der frühen Vorstand­sperioden der ÖGS - ist geplant.

Ad IV. Interviewsammlung

Die Bedeutung (auto)biographischer Quellen für die Geschichte der Soziologie ist heute wohl allgemein anerkannt. Wegen der geringen Zahl schriftlich niedergelegter Erinnerungen bestand von Beginn der Tätigkeit des AGSÖ an die Absicht, Zeitzeugen der Wissenschaft zu befragen und eine Oral History Sammlung anzulegen. Bislang wurden mit folgenden Personen Interviews geführt:

Hans Bach, geb. 1911, Studium in Wien, Spann-Schüler, ab 1966 als Professor für Agrarsoziologie an der Universität Linz; Kurt Baier, geb. 1917, Studium in Wien, emi-

Page 284: Hans-Joachim Dahms (Auth.), Heinz-Jürgen Dahme, Carsten Klingemann, Michael Neumann, Karl-Siegbert Rehberg, Ilja Srubar (Eds.) Jahrbuch Für Soziologiegeschichte 1990 1990

286 Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich

grierte als Student 1938 nach England, später Australien, wo er Philosophie studierte und bis zu seiner Übersiedlung in die USA als Professor lehrte, ab 1962 in Pittsburgh zählt Baier zu den führenden Moralphilosophen der Gegenwart; Bert F. Hoselitz. geb. 1913, Studium und Doktorat in Wien. emigrierte 1938 zuerst nach England, später in die USA, wo er seine Studien in Chicago fortsetzte; dort seit 1946 Professor, Experte für wirtschaftliche Entwicklung und kulturellen Wandel; Marie Jahoda. geb. 1907, Studium bei Bühler in Wien, Mitarbeiterin und später Leiterin der Wirtschaftspsycho­logischen Forschungsstelle, Co-Autorin von "Die Arbeitslosen von Marienthai", wurde 1937 ausgebürgert, emigrierte nach England, später in die USA und 1957 Rück­kehr nach England, wo sie zuletzt als Professor für Sozialpsychologie an der Universi­tät Sussex lehrte; Friedrich Katz. geb. 1927, emigrierte mit seinen Eltern 1933 nach Frankreich, später nach Mexiko, Rückkehr nach Österreich 1949, Ausbildung an der Humboldt-Universität in Berlin (DDR), verließ Österreich 1972 und lehrt heute als So­zialhistoriker in Chicago; Leo Kofler, geb. 1907, arbeitete als Angestellter in Wien und besuchte Vorlesungen von Max Adler, emigrierte 1938 in die Schweiz, wo er als Auto­didakt sein erstes Buch veröffentlichte, später Professor in der SBZ / DDR, die er 1952 verließ, zuletzt Professor in Bochum; Lotte Schenk-Danzinger, geb. 1905, Studium und Doktorat bei Charlotte Bühler, deren Forschungsassistentin sie in den 30er Jahren war, Mitarbeiterin bei der Erhebung in Marienthal, zeitweilig in London, später Dozentur in Insbruck und Graz; Gertrud Uilgner, geb. 1907, Studium und Doktorat in Wien, Mit­arbeiterin der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle, emigrierte 1936 nach England, wo sie Sozialpsychologie studierte und Feldforschungen unternahm, Rück­kehr nach Österreich 1946; Hans Zeisel. geb. 1905, Studium in Wien, Rechtsanwalt, Freund und Mitarbeiter von Lazarsfeld, Co-Autor von "Die Arbeitslosen von Marient­hal", emigrierte 1938 in die USA, wo er ab 1953 in Chicago Professor für Rechts- und Sozialwissenschaften wurde.

Die Interwievs liegen auf Tonband und in maschinenlesbaren Transkripten vor. Ihre Zugänglichkeit ist im Einzelfall unterschiedlich geregelt - wird auf Anfrage gerne mitgeteilt.

Außerdem ist eine Kooperation mit dem Projekt "Erzählende Geschichte" des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes, Wien, vereinbart, die dazu führen wird, daß das AGSÖ Transkripte dort archivierter Interviews erhält.

Ad V. - VII. Nachlaßsammlung; Ikonographie. Bibliothek österreichischer Soziologie

Nachlässe wurden dem AGSÖ bislang nur in Aussicht gestellt. Die Ikonographie und die Bibliothek österreichischer Soziologie sind nur in Ansätzen vorhanden.

Anschrift: Archiv zur Geschichte der Soziologie in Österreich Mariengasse 24/11 A-8020 Graz