Hahn, Alois und Jacob, Rüdiger - Der Körper als sozialees Bedeutungssystem
Hausarbeit_-_Tschernobyl-Effekt_3
Transcript of Hausarbeit_-_Tschernobyl-Effekt_3
Universität zu Köln
Slavisches Institut
Hauptseminar: Tschernobyl in medialer Perspektive (WS 10/11)
Dozentin: Dr. Jessica Kravets
Ein „Tschernobyl-Effekt“ auch in Osteuropa? -
Unterschiedliche (mediale) Voraussetzungen im Vergleich mit Westeuropa
und ihre Auswirkungen
Christopher Forst
5. Fachsemester
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung 3
1. Tschernobyl als Katalysator für das grüne Bewusstsein in Osteuropa? 6
1.1 Das Bewusstsein für die Gefahren von Atomenergie vor Tschernobyl 7
1.2 Die Phase der „akuten Betroffenheit“ 9
1.3 Die Grüne Bewegung in den Jahren nach Tschernobyl 12
2. Der (andauernde) „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa – eine Illusion? 13
2.1 Unterschiedliche Grundsituationen in West- und Osteuropa 15
2.2 Die Politik als „Gatekeeper“ in Hinblick auf Medien 17
2.3 Gab es einen (andauernden) „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa? 19
3. Fazit 22
Literaturverzeichnis 25
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Einleitung
„Er ist vor 2 Jahren an Krebs gestorben. Er war noch jung. So wie sie. Alles wegen
Tschernobyl. Jetzt erst wird das alles klar.“1 Diese Auskunft, die ein türkischer
Tankwart in der Anfangssequenz des Films „Auf der anderen Seite“ von Fatih Akın
dem Hauptdarsteller über den Sänger Kazim Koyuncu erteilt, zeigt, welche
bedeutsame Rolle Tschernobyl im Bewusstsein der Menschen bis heute einnimmt.2
Unerwartet wird man mit dem Namen des Reaktors konfrontiert und doch erzeugt
bereits die bloße Erwähnung eine besondere Stimmung der Erinnerung an die
schrecklichen Ereignisse im April 1986.
Doch dieser Film hat jene Perspektive, welche allgemein in westlichen Medien
präsent ist. Diese Perspektive ist von einer gewissen Distanz und angemessener
Objektivität geprägt. Zwar waren die radioaktiven Folgen des Unfalls auch in
westlichen Ländern messbar und die mediale Aufmerksamkeit – vor allem
hierzulande – war immens (sogar deutlich ausgeprägter als in Osteuropa), aber
dennoch handelte es sich aus westlicher Sicht um einen „Super-GAU des Ostens“.
Sieben Jahre nach dem „kleinen“ Atomschock für die USA durch den Zwischenfall
in Harrisburg folgte der „große“ Schock für den kommunistischen Erzfeind.
So wird diese Arbeit eine andere Sichtweise auf das Unglück untersuchen, eine
osteuropäische. Die Wirkung Tschernobyls auf das Grüne Bewusstsein in Osteuropa
wird Thema der Arbeit sein. Die Bezeichnung „Osteuropa“ wird, obwohl
wissenschaftlich nicht überall korrekt, durchgehend verwendet werden, da sie die
emotionale und politische Verbundenheit der Staaten jenseits des Eisernen Vorhangs
unterstreicht, welche es sich im vorliegenden Kontext in Erinnerung zu rufen gilt.
Freilich ist dieses Thema vergleichsweise noch recht wenig untersucht worden –
auch weil die Auswirkungen auf das Grüne Bewusstsein augenscheinlich im Westen
viel stärker als im Osten waren. Die Frage nach dem „Warum“ ist dabei scheinbar
leicht zu beantworten. Repression und Gleichschaltung der Medien liegen als
1 Akın, Fatih: Auf der anderen Seite, DVD, 122 min., Hamburg: Corazon International 2008
(Deutschland 2007), 1:25 - 1:39 min. (Kap. 1). 2 Auf die Transliteration des Begriffs „Tschernobyl“ wird im Folgenden verzichtet werden. Ebenso
werden weitere Begriffe nicht korrekt wissenschaftlich transliteriert werden, da diese Transliteration
im Deutschen unüblich erschiene („Kurtschatow-Institut“, „Trud“).
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wichtige Gründe auf der Hand. Vor dem Hintergrund des Hauptseminarthemas wird
vor allem der zweite Aspekt bei der Analyse der Entwicklung des Grünen
Bewusstseins eine Rolle spielen, wobei bereits vorab darauf hinzuweisen ist, dass
bereits die untersuchte Literatur nicht nur als Grundlage, sondern zugleich an einigen
Stellen als Beleg bei der Bearbeitung eines solchen Themas dienen kann.
Die These der Arbeit ist, dass es auch in Osteuropa einen gewissen „Tschernobyl-
Effekt“ gegeben hat. Der Begriff „Tschernobyl-Effekt“ ist ein
sozialwissenschaftlicher Terminus, der besagt, „daß nach dem Auftreten bestimmter
Ereignisse eine oft geradezu explosive Welle von Protesten erfolgt.“3
Es wird versucht werden zu klären, ob es einen solchen Effekt für das grüne
Bewusstsein in Osteuropa tatsächlich gegeben hat und falls ja, ob dieser nur
vorübergehend war. Ziel der Arbeit ist die (zumindest tendenzielle) Verifizierung
oder auch Falsifizierung der aufgestellten These.
Strukturell wird die Arbeit in zwei aufeinander aufbauende Kapitel gegliedert sein.
Zunächst wird beschrieben werden, ob und inwiefern Tschernobyl als Katalysator für
ein grünes Bewusstsein in Osteuropa gedient hat. Während der zweite Teil deutlich
analytischer und kritischer ist, legt der erste Teil die Grundlagen für die
Beantwortung der Frage, ob es in Osteuropa einen „Tschernobyl-Effekt“ gegeben
hat. So wird die historische Entwicklung des grünen Bewusstseins aufgezeigt
werden. Begonnen wird mit der Phase vor Tschernobyl, die einen Vergleichspunkt
liefern soll. Im Folgenden wird die Phase der akuten Betroffenheit erläutert,
abschließend die Jahre nach Tschernobyl. Da die Frage nach der Existenz eines
nachhaltigen „Tschernobyl-Effekts“ erst am Ende der Arbeit geklärt werden soll und
kann, werden hier in erster Linie die organisierten Grünen Bewegungen beschrieben
werden.
Im zweiten Kapitel, das vor allem die Schwierigkeiten bei der Bezeichnung der
Entwicklungen in Osteuropa als „Tschernobyl-Effekt“ analysiert, wird teilweise ein
Rückgriff auf die Erkenntnisse erfolgen, die im ersten Teil der Arbeit gewonnen
werden konnten. Hier wird zunächst die unterschiedliche Grundsituation (in für die
Fragestellungen relevanten Bereichen) im Vergleich mit Westeuropa erläutert.
Darüber hinaus wird die Rolle der Medien und insbesondere die Position der Politik
als „Gatekeeper“ herausgestellt und analysiert werden. In einem dritten Schritt wird
3 Opp, Karl-Dieter / Roehl, Wolfgang: Der Tschernobyl-Effekt, Opladen 1990, S. 27.
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dann versucht werden, sich der Antwort auf die Frage zu nähern, ob es einen
(andauernden) „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa gab.
Im Fazit wird schließlich ein Überblick über die Erkenntnisse der ersten beiden
Kapitel gegeben werden. Es wird versucht werden, diese so zusammenzufassen, dass
es möglich wird, eine Antwort auf die Ausgangsfrage zu geben. Diese wird über das
im letzten Abschnitt des zweiten Kapitels Festgestellte hinausgehen, da sie auch auf
den Untertitel der Arbeit eingehen wird und das insgesamt Erarbeitete zu summieren
versuchen wird.
Die Relevanz der Fragestellung und die Wahl des Themas der Arbeit sind in der
immer noch von westlichen Autoren wenig beleuchteten osteuropäischen Sichtweise
auf die Reaktorkatastrophe begründet, denn auch 25 Jahre nach dem Super-GAU
wird diese in der westlichen Literatur - aber insbesondere auch in den Medien –
deutlich weniger thematisiert als die westeuropäische.
Während die Frage, ob es einen andauernden „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa
gab, tatsächlich offen scheint, ist die grundsätzliche Ausgangslage eindeutig.
Selbstverständlich hat die fehlende Freiheit der Medien in den Staaten jenseits des
Eisernen Vorhangs zu einem Mangel an Aufklärung und auch zu einem geringeren
Bewusstsein für die Schäden durch Radioaktivität geführt. Es hat eine
unterschiedliche Ausgangsposition in Ost- und West gegeben. Der Anspruch der
Arbeit ist es deshalb, gerade nicht bei der Beantwortung dieser explizit evidenten
Punkte stehen zu bleiben, sondern sich vielmehr durch die kontextbezogene Analyse
solcher Elemente der Beantwortung der Ausgangsthese zu nähern.
Die Quellenlage ist letztlich ob der gewählten Methode einer schrittweisen
Annäherung an die Problematik als gut zu bezeichnen. Über die Reaktorkatastrophe
von Tschernobyl ist viel verfasst worden und es hat eine Reihe statistischer
Erhebungen gegeben. Daher dürfte auch ohne ein „Standardwerk“ zum
„Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa eine Arbeit zu diesem Thema problemlos zu
bewältigen sein. Insgesamt sind die untersuchten Quellen selbst auch bereits
interessant im Hinblick auf den Untertitel der Arbeit. Auf etwaige Erkenntnisse, die
sich daraus ergeben, wird im Fazit einzugehen sein. Es ist im Übrigen zu sagen, dass
eine gründliche Überprüfung und Auswahl der Zitate (vor allem auf Grund der
unterschiedlichen Hintergründe der Autoren) unerlässlich ist.
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1. Tschernobyl als Katalysator für das grüne Bewusstsein in Osteuropa?
„All of us live in a world whose future is very much linked to nuclear technology. As
citizens in a democracy, it is our obligation to understand what is involved and to act
upon these issues without self-deception, exaggeration or demagoguery.”4
Diese Botschaft verkündete Dr. Robert Peter Gale seinen Lesern zwei Jahre nach der
Katastrophe von Tschernobyl, bei der er selbst vor Ort im Einsatz gewesen war.
Zwei Jahre zuvor konnte man an der Reaktion vieler Sowjetbürger ablesen, dass sie –
die sie keine Bürger einer Demokratie waren – nicht verstanden, was vorging. So
waren eine Woche nach dem GAU einige Bewohner des nahe gelegenen Kiews in
Interviews vollkommen unbeeindruckt von den Geschehnissen.5
Zu sagen, es habe kein Bewusstsein für die Gefahren von Atomenergie und für
Umwelt im Allgemeinen in der Sowjetunion gegeben, wäre aber falsch. Selbst die
politische Führung verschloss in der Zeit nach Tschernobyl nicht immer die Augen
vor den Sorgen und Interessen der Menschen. So fand z.B. im September 1986 ein
Informationstag statt, den das Kurtschatow-Institut, das führende Moskauer
physikalisch-technische Institut, ausrichtete. Kritische Fragen zur offiziellen
Sowjetdarstellung der Ereignisse im April 1986 waren jedoch nicht erlaubt.6
Die Bevölkerung sah ökologische Probleme und versuchte sie auch teilweise zu
verstehen, die politisch Verantwortlichen jedoch hatten ein Interesse daran, diese
Probleme nicht oder kaum zu thematisieren. Tschernobyl könnte dennoch als
Katalysator gewirkt haben.
Das Bewusstsein für die Gefahren von Atomenergie vor Tschernobyl entsprach nicht
der Stimmung, die wenige Tage nach der Katastrophe vorherrschte. Und mehrere
Indizien sprechen dafür, dass es auch nicht der Stimmung entsprach, die in den
Jahren nach Tschernobyl bei vielen Menschen dominierend war. So brach etwa die
Zeitung „Moskovskie Novosti“ am 10. Januar 1988 das mediale Schweigen, indem
sie eine Auseinandersetzung mit der Atomkraft anstieß (zu der Position der Medien
werden im zweiten Kapitel nähere Untersuchungen angestellt werden).7
4 Gale, Dr. Robert Peter / Hauser, Thomas: Final Warning – The Legacy of Chernobyl, New York
1988, S. 5. 5 vgl. von Prittwitz, Volker: Das Katastrophenparadox – Elemente einer Theorie der Umweltpolitik,
Opladen 1990, S. 22. 6 vgl. Medwedew, Zhores A.: Das Vermächtnis von Tschernobyl, Münster 1991, S. 280.
7 vgl. ebd., S. 278.
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Die erstarkenden Grünen Bewegungen, die oftmals mit den Nationalbewegungen
zum Ende der Sowjetunion einhergingen, fußten ebenfalls auf dem Entsetzen über
die Geschehnisse von Tschernobyl.
Schließlich wurden auf der 19. Parteikonferenz der KPdSU im Juni 1988 sogar von
Funktionären Tatsachen geäußert, die zuvor wohl undenkbar gewesen wären. Fjodor
Morgun etwa stellte dort in einer Rede fest: „Die ökologischen Probleme entstehen
nicht von selbst. Sie sind die Folge unserer Stümperhaftigkeit, Mißwirtschaft und
Verantwortungslosigkeit in technischer und ökologischer Hinsicht.“8
1.1 Das Bewusstsein für die Gefahren von Atomenergie vor Tschernobyl
Zhores Medwedjew gilt als der bedeutendste im Ausland lebende russische
Wissenschaftler auf dem Gebiet der Kernenergie. Ende der siebziger Jahre deckte er
eine der größten Katastrophen der Menschheitsgeschichte auf, deren genauer Ablauf
bis heute nicht endgültig geklärt ist. Im Jahr 1957 explodierte in Majak, im Ural,
wohl eine Atommülldeponie. Eine riesige Fläche wurde radioaktiv versucht. Heraus
kam dies zunächst nicht. Lediglich die Bewohner der Region wussten Bescheid und
diese wurden angehalten, aus militärischen Gründen keine Informationen
weiterzugeben. Da die Gegend recht dünn besiedelt und sehr zentral gelegen war,
schien es leicht, den Vorfall zu verschweigen. In Tschernobyl war dies später anders.
Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte 2007 einen Artikel, in dem beschrieben
wurde, wie die russische Regierung immer noch alles tut, um die Reise in das Gebiet
von Majak zu verhindern und dass für die Einreise spezielle Genehmigungen von
Nöten seien. In diesem Artikel hieß es auch: „Dabei hatte die damalige Sowjetunion
bereits 1989 eingeräumt, dass im Werk Majak bei Osijorsk im Jahr 1957 ein Unfall
geschehen war, der gewaltige Mengen Radioaktivität freigesetzt hatte.“9
Diese Zeilen sind symptomatisch. Die Feststellung „bereits 1989“ sollte eigentlich
Erschrecken ob des späten Eingeständnisses hervorrufen. Stattdessen nimmt der mit
der Situation in der ehemaligen Sowjetunion vertraute Journalist es als
selbstverständlich an, dass es erst zur Zeit von Glasnost (und hier ist zu
8 Weißenburger, Ulrich: Der Umweltschutz in der Sowjetunion: Zwang zum Handeln, in: Schreiber,
Helmut (Hrsg.): Umweltprobleme in Mittel- und Osteuropa, Frankfurt an Main / New York 1989,
S. 193. 9 Haury, Heinz-Jörg: Der Gau in Majak – Ewiges Feuer in der geheimen Stadt, in: Süddeutsche
Zeitung vom 28.9.2007, online unter: http://www.sueddeutsche.de/wissen/der-gau-in-majak-ewiges-
feuer-in-der-geheimen-stadt-1.891321
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unterstreichen, dass dies bedeutet erst nach Tschernobyl) hierzu kam. Noch 1986, im
Jahr von Tschernobyl, antwortete Michail Podgorodnikov, Ökologie-Redakteur der
„Literaturnaja Gazeta“ auf Nachfrage von Sabine Rosenbladt zu dem Unglück von
Majak: „Davon weiß ich nichts“.10
Eine offene Diskussion über Umweltprobleme fand in der Sowjetunion kaum statt.
Dennoch machte man sich in den Führungsetagen vereinzelt Gedanken, die auch
nach außen drangen. Die Parteizeitung „Kommunist“ veröffentlichte etwa 1979, kurz
nach dem Unfall von Harrisburg, einen Artikel, der vor den Risiken durch
Atomenergie warnte. Hier ging es insbesondere um die Frage der Standortwahl für
neue Atomkraftwerke. Eine vom Präsidenten der Akademie der Wissenschaften
angeführte und von der Führung wohl favorisierte Gruppe empfahl den europäischen
Teil der Sowjetunion, da Kernkraft sicher sei und ein solcher Standort einen
wirtschaftlichen Vorteil mit sich bringe. Akademiemitglied Dollezhal, Autor des
Kommunist-Artikels, plädierte hingegen für die Ansiedelung in strukturschwachen
Regionen, etwa Sibirien. Diese Argumentation führte nicht Sicherheitsbedenken,
sondern ökologische an.11
Charles Ziegler erwähnt auch Briefe in der Trud, der
Gewerkschaftszeitung, in denen Sowjetbürger ihre Bedenken über die Risiken
äußerten.12
1975 hatte Nobelpreisträger Pjotr Kapiza sogar auf einer Veranstaltung der
Akademie der Wissenschaften ein Plädoyer gegen den weiteren Bau von
Atomkraftwerken gehalten.13
Auf wissenschaftlicher Ebene existierte also durchaus
ein Bewusstsein und es wurde eine – wenngleich eingeschränkte – Debatte geführt.
Ab 1980 änderte sich dies jedoch. „Die wichtigste wissenschaftliche Zeitschrift auf
dem Gebiet der Kernenergie, Atomnaya Energiya, deren Veröffentlichungspolitik
streng kontrolliert wurde, lehnte jeden Artikel ab, der sich mit Sicherheitsproblemen
befaßte.“, schreibt etwa Medwedew.14
Um ein mögliches grünes Bewusstsein in Osteuropa (wobei vorliegend ob der
herausragenden Stellung des sowjetischen Atomprogramms bislang aus Platzgründen
nur auf die Sowjetunion Bezug genommen wurde) zu erforschen, scheint es
10
Rosenbladt, Sabine: Der Osten ist grün? – Ökoreportagen aus der DDR, Sowjetunion,
Tschechoslowakei, Polen, Ungarn, Hamburg u.a. 1986, S. 172. 11
vgl. Medwedew, Zhores A., Das Vermächtnis von Tschernobyl, S. 274-275.
(Medwedew verweist auf den Originalartikel: N. Dollezhal und Y. Koryakin, „Yadernaya
energetika. Dostizheniya i problemy“, Kommunist 14 (1979), S. 19-28.) 12
vgl. Ziegler, Charles E.: Umweltschutz in der Sowjetunion, in: Schreiber, Helmut (Hrsg.):
Umweltprobleme in Mittel- und Osteuropa, Frankfurt am Main / New York, 1989, S. 102. 13
vgl. Rosenbladt, Sabine: Der Osten ist grün?, S. 170. 14
Medwedew, Zhores A.: Das Vermächtnis von Tschernobyl, S. 277.
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unabdingbar, die Ebene der Wissenschaftler und Politiker zu betrachten. Grund
hierfür ist hauptsächlich die fast vollständig fehlende Konfrontation der Bevölkerung
mit dem Thema. Wie oben erwähnt, gab es zwar vereinzelt Leserbriefe, doch zeigte
die Gleichschaltung der Medien Erfolg, sodass es grüne Bewegungen oder gar
einzelne Umweltaktivisten oder organisierte Parteien nahezu nicht gab – zumindest
existierten sie in der Öffentlichkeit nicht. Über ein wirkliches „Bewusstsein im
Denken“, das man z.B. wie in Westeuropa über statistische Erhebungen ermitteln
könnte, lässt sich ebenfalls nichts Zuverlässiges aussagen.
Es finden sich jedoch immerhin einzelne Beispiele für kleinere Bewegungen. In
Litauen gab es erfolglose Proteste gegen den Bau des Atomkraftwerks Ignalina. In
der DDR stellte sich die Evangelische Kirche offen gegen Kernenergie und auch der
heute noch diskutierte Standort Gorleben traf schon damals auf Ablehnung.15
In
Estland formierte sich wohl eine Bewegung gegen eine angebliche Atommülldeponie
bei Tallin.16
Diese Beispiele sind aber lediglich vereinzelt anzutreffen. Im Großen
und Ganzen war das Bewusstsein für die Folgen von Atomenergie wie auch für den
Umweltschutz im Allgemeinen nur spärlich vorhanden, was die Begrenztheit dieser
Auswahl bereits nahelegt. Viele Osteuropäer vertrauten in diesen Fragen ihrer
Führung. Ein gezielt schwacher Informationsfluss über Umweltprobleme war
offensichtlich einer der Gründe hierfür.
1.2 Die Phase der „akuten Betroffenheit“
Tschernobyl machte nicht nur in Westeuropa betroffen. Obgleich das so war,
realisierte man jedoch zunächst in Osteuropa die Ausmaße der Katastrophe nicht.
Nicht nur die Kiewer Bürger waren unbeeindruckt von den Geschehnissen. Da von
der politischen Ebene nur wenige Signale einer akuten Gefahr für die Bevölkerung
entsendet wurden, fehlte es an Aufklärung über die richtigen Verhaltensweisen. Der
Verkauf verstrahlter Lebensmittel wurde in der Sowjetunion und anderen
Ostblockstaaten beispielsweise nicht sofort eingestellt.
Ein Eingeständnis der wahren Gefahren war von politischer Seite nicht zu erkennen
und die Schwere der Folgeschäden wurde nicht eingestanden. Auch nach der
Reaktorkatastrophe hielt die UdSSR unter Führung von Gorbatschow im 12.
Fünfjahresplan am Ausbau der Kernenergie fest. Immerhin legte der Fünfjahresplan
15
vgl. Rosenbladt, Sabine: Der Osten ist grün?, S. 172. 16
vgl. Ziegler, Charles E.: Umweltschutz in der Sowjetunion, S. 102.
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neue Sicherheitsstandards fest und es wurde ein neues Ministerium für Atomenergie
geschaffen – ein unterschwelliges Eingeständnis des Versagens der alten Systeme.17
Aber trotz der fehlenden Informationen und der einseitigen Beeinflussung wurden in
mehreren osteuropäischen Ländern in den ersten Monaten nach dem Unglück auch
Stimmen laut, die ein Umdenken im umweltpolitischen Bereich forderten. Sabine
Rosenbladt führt vier Demonstrationen als Beleg hierfür an. Zwei von ihnen sind
besonders beachtlich. So wurden Anfang Juni in Moskau 14 Aktivisten, die
Unterschriften für eine Änderung des sowjetischen Nuklearprogramms sammeln
wollten, festgenommen. In Krakau demonstrierten etwa zur selben Zeit gar 2000
Menschen gegen Atompolitik.18
Außerhalb der Sowjetunion regten sich zu dieser Zeit auch auf politischer Ebene
erste kritische Stimmen. Erich Honecker erklärte etwa, während in der DDR die
wohl lautesten Proteste gegen die staatliche Atompolitik laut wurden, die sich auch
in einem Papier mit dem Titel ‚Tschernobyl wirkt überall„ niederschlugen, einer
schwedischen Zeitung, für die DDR sei der Ausstieg aus der Kernenergie möglich.19
Henrik Bischof hat die Proteste in verschiedenen osteuropäischen Ländern bereits
ausführlich aufgezeigt und die Ereignisse kompakt zusammengefasst, wobei er sich
stärker auf die politischen Entscheidungen konzentriert hat, als explizit das
Aufbegehren der Bevölkerung in den Vordergrund zu stellen. An dieser Stelle sind
exemplarisch drei Länder und die dortigen Geschehnisse hervorzuheben und die
Gründe dafür, dass ein solches Aufbegehren stattgefunden hat oder eben nicht,
welche durch Henrik Bischofs Darlegungen deutlich werden.
In Polen (und der DDR) waren die Proteste am stärksten. So wandten sich etwa 3000
Einwohner von Bialystok in einem Brief an das polnische Parlament und forderten
einen Baustopp für das Atomkraftwerk in Zarnowiec. Im Zentrum der Proteste stand
die Forderung nach schärferen Sicherheitsvorkehrungen. Die polnische
Umweltschutzbewegung war keinesfalls mehrheitlich gegen Kernenergie eingestellt,
sondern gespalten. Als Grund führt Bischof die Angst vor der hohen Verschmutzung
durch traditionelle Kraftwerke an.20
17
vgl. Bischof, Henrik: Nach Tschernobyl – Stand und Perspektiven der Atomenergiepolitik
kommunistischer Länder , Bonn 1986, S. 10. 18
vgl. Rosenbladt, Sabine: Der Osten ist grün?, S. 172. 19
vgl. ebd., S. 173. 20
Vgl. Bischof, Henrik: Nach Tschernobyl, S. 21.
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Es wäre sicher möglich, z.B. die DDR als weiteres Beispiel für etwaige Proteste
heranzuziehen, was Bischof auch tut. Zwei weitere Beispiele, Ungarn und Rumänien
erscheinen aber im vorliegenden Kontext beachtenswerter, verdeutlichen sie doch
eine Haltung, die wohl für den Großteil der Länder Osteuropas gilt. Generell ist hier
eine differenzierte Betrachtung von Nöten. Es gab Proteste in einigen Ländern und
allein dies ist durchaus beachtenswert. Jedoch blieben die Proteste (zumindest
außerhalb der DDR und Polens) in einem relativ kleinen Rahmen. In der Mehrzahl
der Länder gab es keine oder kaum beachtete Proteste.
Da man sich ob der einseitigen Medienberichterstattung nicht über den Umfang der
Gefahren durch Kernenergie im Allgemeinen und Tschernobyl im Speziellen
bewusst war, hatten wohl oftmals andere Interessen eine höhere Präferenz für die
Bevölkerung. Weder in Ungarn noch in Rumänien gab es Proteste, in Rumänien
nicht einmal eine Umweltschutzbewegung. Die Gründe dafür waren sehr
unterschiedlich und doch von derselben Denkweise geprägt. Die akute Betroffenheit
von Tschernobyl schaffte es nicht, wichtiger zu erscheinen, als die alltäglichen
Probleme in den beiden Ländern. In Ungarn waren die Umweltschützer bereits damit
beschäftigt, den Bau des Wasserkraftwerks Nagymaros zu verhindern und somit neue
Atomkraftwerke sogar zu fordern. In Rumänien gab es ein für das mangelnde
Umweltbewusstsein in sozialistischen Staaten typischerweise ursächliches Problem.
Der ständige Energiemangel erlaubte es den Rumänen nicht, sich über die
Umweltverträglichkeit von Energiequellen Gedanken zu machen. Sie waren schlicht
froh, wenn es überhaupt Elektrizität gab.21
Schon Lenin hob schließlich die
Bedeutung der Elektrifizierung für das Gelingen des Sozialismus hervor und
entfachte damit ein jahrzehntelanges Wettlaufen um das Gelingen der vollständigen
Elektrifizierung, wobei dieses Ziel jedoch bis zum Zerfall des Ostblocks nie erreicht
wurde.
Ein Plädoyer von Valeri A. Legasov, Vizedirektor des Kurtschatow-Instituts, für die
Fortführung des Atomprogramms klang wie ein Zitat Lenins: „Ein Abschalten der
Reaktoren würde bedeuten, dass wir weniger Energie hätten und daß wir zu einer
primitiven Lebensweise zurückkehren müssten.“22
Nach einem echten Umdenken hörte sich dies auch so kurz nach Tschernobyl – das
Zitat stammt wie die Werke von Bischof und Rosenbladt aus dem Jahr 1986 – nicht
an.
21
vgl. ebd., S. 24. 22
Rosenbladt, Sabine: Der Osten ist grün?, S. 167-168.
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1.3 Die Grüne Bewegung in den Jahren nach Tschernobyl
Nicht weniger als 17 weißrussische Vereine und Stiftungen, die sich mit Tschernobyl
beschäftigten, zählte Savčenko 1995. Darunter z. B. das „Belarus committee of the
‚Children of Chernobyl„ oder die „Japanese-Belarus society Chernobyl-
Khiroshima“.23
Letztere deutet auf die Rolle der internationalen Mittlerposition, die
solche Verbände oftmals einnahmen. Die Liste Savčenkos erhebt im Übrigen keinen
Anspruch auf Vollständigkeit. Darüber hinaus gab es in der Ukraine und Russland
ebenfalls eine Vielzahl von Verbänden.
Besonders bemerkenswert scheint die Entwicklung in der Ukraine. Hier entstand
nach Tschernobyl eine beachtliche Umweltbewegung. So wurde von Schriftstellern
das internationale ‚Tschernobyl-Forum„ gegründet, das als Diskussionsplattform und
Vernetzungsmöglichkeit für Atomkraftgegner dienen sollte.24
Die grüne Partei
‚Partija Zelenykh Ukrainy„ (PZU) war später sogar zweimal an der Regierung
beteiligt, bevor sie sich 2002 selbst diskreditierte, als sie den Ex-Präsidenten Kuchma
nach dessen Niederlage weiter unterstützte.25
In der Ukraine fand auch die erste große Selbstkorrektur der Sowjets in Sachen
Atompolitik statt. Der neue Vorsitzende der Akademie der Wissenschaften,
Velikhov, und eine von ihm geleitete Expertenkommission kamen zu dem Schluss,
dass ein fast fertiges AKW auf der Krim auf Grund drohender Erdbeben zu unsicher
sei. Die Kommission ging mit ihren Bedenken an die Öffentlichkeit und sorgte für
tatsächlich für die Aussetzung des Projekts. Das war ein bis dato einmaliger Vorgang
in der UdSSR und obwohl sicher politische Gedankenspiele den Hauptausschlag für
die Entscheidung gaben war es auch Ausdruck eines neuen Bewusstseins für die
Gefahren von Kernenergie.
Glasnost‟ und Perestrojka führten zweifelsohne zu einer Verbesserung des
Informationsflusses. Und durch den Zugang zu neuen Informationen über die
Gefahren durchTschernobyl und die Umweltsituation in Osteuropa generell fanden
auch grüne Bewegungen größeren Zulauf als zuvor.
23
vgl. Savčenko, V.K.: The Ecology of the Chernobyl Catastrophe – Scientific Outlines of an
International Programme of Collaborative Research, in: Jeffers, J.N.R. (edit.): Man and the
Biosphere Series, Vol. 16, Paris 1995, S. 141. 24
vgl. Medwedew, Zhores A.: Das Vermächtnis von Tschernobyl, S. 274. 25
vgl. Blum, Michael: Ein Kessel Buntes in Osteuropa, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Die
Grünen in Europa – Ein Handbuch, Münster 2004, S. 137.
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Zwischen 1988 und 1990 gründeten sich u.a. in Estland, Lettland, Litauen und
Georgien grüne Parteien, die teilweise in den Jahren nach ihrer Gründung sogar
vorübergehend an der Regierung beteiligt waren. Speziell in den baltischen Staaten
(u.a. in Litauen gegen Ignalina) richteten sich die Parteien und die dahinter stehenden
Bewegungen in ihrer Anfangszeit vor allem gegen geplante AKWs und Endlager.
Die verschiedenen Parteien hatten jedoch gemeinsam, dass sie stärker noch als die
ukrainische PZU später nahezu bedeutungslos wurden.26
Das Zusammentreffen von Nationalbewegungen und grünen Bewegungen in dieser
Zeit ist unübersehbar. Bereits an Savčenkos Liste last sich dies beispielsweise
ablesen. Sowohl für die weißrussische Volksfront, als auch für die ukrainische
Volksfront spielten ökologische Themen eine wichtige Rolle. Vor diesem
Hintergrund ist es spannend zu beobachten, dass in den Jahren, als die nationale
Identität an Bedeutung verlor, da sie selbstverständlich geworden war, also etwa ab
Mitte der 90er Jahre, auch die grünen Bewegungen an Zuspruch verloren. Astrid
Sahm fast dies treffend zusammen:
Mit der politischen Machtübernahme und dem Erreichen der nationalstaatlichen
Unabhängigkeit treten für die Nationalbewegung (sofern sie sich nicht bereits gespalten hat,
vgl. Kapitel 1.1), jedoch soziale, wirtschaftliche u.a. Probleme in den Vordergrund, und ihre
Hauptanstrengungen gelten der Sicherung der Eigenstaatlichkeit.27
Die Einheit von Nationalbewegung und Umweltbewegung wurde so schließlich
vielerorts letzterer in den 90er Jahren zum Verhängnis. Die neuen Regierungen
machten ihre eigenen Errungenschaften im ökologischen Bereich oftmals wieder zu
Nichte und die Bevölkerung widmete sich wieder verstärkt ihren sozialen Problemen.
Nicht vergessen werden darf jedoch, dass die „Errungenschaften“ ohnehin nie
annähernd an diejenigen westeuropäischer Bewegungen und Parteien
herangekommen waren.
2. Der (andauernde) „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa – eine Illusion?
Grüne Parteien haben es im Osten schwer. Das gilt sogar für den Osten Deutschlands
und daran hat auch Tschernobyl nichts ändern können. Ein grünes Bewusstsein aber
ist nicht an der Oberfläche zu untersuchen. Bewusstsein definiert sich nicht nur über
26
vgl. Blum, Michael: Ein Kessel Buntes in Osteuropa, S. 132-134. 27
Sahm, Astrid: Die weißrussische Nationalbewegung nach der Katastrophe von Tschernobyl (1986-
1991), in: Jahn, Egbert (Hrsg.): Studien zu Konflikt und Kooperation im Osten, Bd. 1, Münster u.a.
1994, S. 11.
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Outcomes wie z.B. die Stärke von Parteien oder die Anzahl von
Umweltschutzorganisationen. Es definiert sich vielmehr über Sensibilisierungsgrad
und persönliche Hemmschwellen. Wissenschaftlich ist dies sehr schwer zu erfassen.
Zuverlässige Erhebungen gibt es für Osteuropa kaum. Deshalb muss versucht
werden, Handlungen zu deuten und die dahinterstehenden Einstellungen
einzuordnen.
Die Fakten sind eindeutig. Sechs Monate nach Tschernobyl gab es 374 Reaktoren auf
der Welt, 2009 waren es 438.28
Dennoch hat sich unzweifelhaft zumindest im
westlichen Europa, wo eine Vielzahl dieser Reaktoren steht, etwas getan, die
Menschen in Westeuropa haben ein gewisses Bewusstsein für die Gefahren von
Atomenergie im Speziellen und für Ökologie im Allgemeinen entwickelt. Fakten
sind also in diesem Kontext nicht alles.
„If nothing else, Chernobyl has forced us to contemplate these issues, to
acknowledge that modern technology is a potent force, and that when something
goes wrong, it‟s an international event, not a national one.”29
Als Dr. Robert Peter
Gale diese Worte schrieb, war vielen Osteuropäern dies nicht klar. Der
Klassenkampf hatte dafür gesorgt, dass man die Katastrophe von Harrisburg 1979 als
Folge der kapitalistischen Wirtschaft, die aus kommunistischer Sicht auf Ausbeutung
und nicht auf Arbeiter- oder Umweltschutz gründete, abtat. Tschernobyl wurde als
Rückschritt für den Kommunismus empfunden, oftmals jedoch nicht als ein Ereignis,
dass die Gefahr durch Kernenergie international werden lies. Dieser logische
Schluss, den der Amerikaner Gale zog, war eben nur aus westlicher Sicht die
Konsequenz der Geschehnisse.
Dennoch gab es nach Tschernobyl – wie oben bereits aufgezeigt – ein Erstarken der
grünen Bewegung in Osteuropa. Zumindest von einem kurzfristigen Effekt
Tschernobyls (ob dieser als „Tschernobyl-Effekt“ zu bezeichnen ist, wird an anderer
Stelle erörtert werden) ist auszugehen. Es stellt sich die Frage, ob dieser vor dem
Hintergrund des Endes des Ost-West-Konflikts zumindest auf der
Bewusstseinsebene andauern konnte oder ob das Schicksal der grünen Parteien Mitte
der 90er Jahre einherging mit dem Ende des Effekts. Entscheidend zur Beantwortung
28
vgl. zu 1986: Gale, Dr. Robert Peter / Hauser, Thomas: Final Warning, S. 184 und zu 2009: Schulz,
Stefan: Fragwürdiges Energiekonzept – Regierung trickst bei AKW-Jahreszahlen, in: Der Spiegel,
Nr. 36 vom 6. September 2010, online unter:
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,158,715901,00.html 29
Gale, Dr. Robert Peter / Hauser, Thomas: Final Warning, S. 181.
- 15 -
dieser Frage sind die Auswirkungen der unterschiedlichen Grundsituationen in
West- und Osteuropa und der Schlüsselrolle der Politik als Gatekeeper.
2.1 Unterschiedliche Grundsituationen in West- und Osteuropa
Deutschland kann nicht als Beispiel für ganz Westeuropa gelten. Das
Umweltbewusstsein in Deutschland war traditionell stärker ausgeprägt als anderswo.
In Frankreich steht noch heute eine Vielzahl von Reaktoren, in Italien wurde gerade
eine Kooperation mit Frankreich vereinbart. Deutschland hat aber eine
Leuchtturmfunktion. Die Entwicklungen, die in der Mehrzahl der westeuropäischen
Staaten mindestens in Ansätzen zu sehen waren, waren in Deutschland stets äußerst
stark ausgeprägt. Deshalb kann im Folgenden Deutschland als Beispiel dienen, da
eine Detailanalyse den Rahmen der Arbeit übersteigen würde, obgleich man nicht
von einer gleichen Entwicklung in anderen westeuropäischen Staaten ausgehen kann.
Die Debatte um die Kernenergie scheint ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Die
Demonstrationen in Gorleben und Grohnde gegen die Errichtung der dort geplanten
Kernkraftwerke haben offenbar den bisherigen Gipfelpunkt der Auseinandersetzung
gebildet.30
So urteilte Klaus-Peter Möller 1979, im Jahr von Harrisburg. Abgesehen davon, dass
diese Einschätzung falsch war – sie war keinesfalls absolut abwegig. Bereits im Jahre
1963 hatten sogar einzelne CSU-Bundestagsabgeordnete „Schluss mit der atomaren
Verseuchung“ gefordert.31
Die Debatte hatte also in Deutschland schon eine lange
Geschichte hinter sich. Aber Möller ging davon aus, dass das Ende der Debatte auch
das Ende der Umweltbewegung bedeuten sollte – nicht etwa ihren Sieg. Dass die
Bemühungen bis dato nämlich recht halbherzig und erfolglos waren, beschreibt
Erhard Eppler anschaulich bezüglich der Situation im Deutschen Bundestag in den
sechziger Jahren: „Im Deutschen Bundestag gab es einen einzigen Abgeordneten,
der seine Zweifel anmeldete, den Atomphysiker Professor Karl Bechert, den sein
Kollege Pascual Jordan ohne jedes Risiko dem Spott des Hauses preisgeben
konnte.“32
30
Möller, Klaus-Peter: Kernenergie und ihre Alternativen – Zu den Argumenten in der Energiepolitik,
in: Pies, Eberhard (Hrsg.): Überleben wir die Zukunft?, 1. Aufl., Stuttgart 1979, S.106. 31
vgl. von Prittwitz, Volker: Das Katastrophenparadox, S.21 (von Prittwitz bezieht sich hier auf einen
Artikel aus „Die Zeit“ vom 23.8.1963). 32
Eppler, Erhard: Ende der Akzeptanz, in: Traube, Klaus u.a.: Nach dem Super-Gau, Hamburg 1986,
S. 163.
- 16 -
Der „Tschernobyl-Effekt“, dessen Vorläufer (auch wenn die Entwicklung in den
Jahren vor 1986 nicht unter diesen wissenschaftlichen Begriff zu fassen ist, da das
auslösende Ereignis, die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, noch gar nicht
eingetreten war) schon mit Harrisburg und in den Jahren danach zu beobachten
waren, gab dem Erwachen des grünen Bewusstseins in Deutschland und Westeuropa
einen neuen Schub. Die DDR, als „westlichster sozialistischer Staat“, war ebenfalls
hiervon betroffen. Nicht nur, dass man, wie oben beschrieben, in der Phase nach
Tschernobyl eine der größten Umweltschutzbewegungen in Osteuropa aufzuweisen
hatte, durch die Nähe zur Bundesrepublik war man bereits vorher Vorreiter in puncto
Schutz vor den Gefahren von Kernenergie gewesen. Bereits 1983 gab es einen ersten
Austausch zwischen DDR und Bundesrepublik.33
Statistische Erhebungen, die sich für Osteuropa ob fehlender Objektivität nur schwer
heranziehen lassen, gibt es bezüglich des Umweltbewusstseins in der Bundesrepublik
durchaus. So wurde bereits 1982 die Zunahme der Wahrscheinlichkeit eines
Atomunfalls in einer Erhebung des Internationalen Instituts für Umwelt und
Gesellschaft in Berlin mit der Bewertung 5.0 versehen, was als recht hoch zu
bezeichnen ist. Das Statement „Wir brauchen Kernenergie“ fand hingegen nur einen
Zuspruch von 4.8.34
Hier ist zudem insbesondere bemerkenswert, dass bezüglich
dieses Statements eine klar fallende Tendenz zu beobachten ist.
Bereits vor Tschernobyl hat es also in Westeuropa eine Tendenz, die der des
„Tschernobyl-Effekts“ in Ansätzen ähnelte, gegeben. In Osteuropa ist hiervon, wie
oben aufgezeigt, nicht oder nur in viel schwächerer Form auszugehen. Die
Grundvoraussetzungen waren somit unterschiedlich. In Deutschland ging man Ende
der 70er Jahre vereinzelt gar bereits vom Ende der Debatte aus (da sie zuvor nicht
mit genug Nachdruck geführt wurde, was sich dann jedoch änderte), in Osteuropa
stand man zur selben Zeit erst am Anfang der Reflexion über die Gefahren von
Atomenergie. Parallele Entwicklungen lassen sich auch beim allgemein
vorherrschenden grünen Bewusstsein vermuten.
33
vgl. Melzer, Manfred: Zum nuklearen Umweltschutz in der DDR, in: Redaktion Deutschland
Archiv (Hrsg.): Umweltprobleme und Umweltbewusstsein in der DDR, Köln 1985, S. 91. 34
vgl. Kessel, Hans: Stand und Veränderung des Umweltbewußtseins in der Bundesrepublik
Deutschland, England und den Vereinigten Staaten (Bericht aus einem laufenden
Forschungsprojekt), in: Papiere aus dem Internationalen Institut für Umwelt und Gesellschaft des
Wissenschaftszentrums Berlin, Berlin 1983, S. 16 (Kessel bezieht sich auf eine Erhebung zum
Umweltbewußtsein im internationalen Vergleich, Erhebungswelle 1982 des Internationalen Instituts
für Umwelt und Gesellschaft, Berlin).
- 17 -
2.2 Die Politik als „Gatekeeper“ im Hinblick auf Medien
In den Sozialwissenschaften ist die Bezeichnung der Rolle der Politik als
„Gatekeeper“ im Hinblick auf Medien geläufig. Man unterscheidet z.B. zwischen
Agenda-Setting, Agenda-Building, Framing und Priming. Auf verschiedene Arten
kann also Politik bestimmen, was in den Medien läuft oder wie es präsentiert und
letztlich rezipiert wird.
In einem sozialistischen Staat wie der UdSSR wird diese Verknüpfung besonders
deutlich. Bei der Katastrophe von Tschernobyl war sie mitentscheidend für das
Ausmaß der falschen Entscheidungen, die aus mangelnden oder gezielt falschen
Informationen resultierten. Auch das grüne Bewusstsein in Osteuropa, das sich im
Anschluss an Tschernobyl entwickeln konnte, ist so beeinflusst worden.
Henrik Bischof hat sich intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie die Medien
die Katastrophe von Tschernobyl in verschiedenen osteuropäischen Ländern
präsentiert haben. Hier sind insbesondere drei Beispiele und ihre Interpretation von
hoher Relevanz für dieses Kapitel.
In der Tschechoslowakei ist demzufolge wenig berichtet worden. Vieles wurde als
westliche Propaganda abgetan.35
Als Verbündeter der UdSSR hatte die Politik ein
großes Interesse an einer Vertuschung der Katastrophe. Als „Gatekeeper“ wirkte sie
demnach insbesondere in ihren eigenen Pressemeldungen aktiv auf die Vertuschung
des Ausmaßes der Katastrophe hin.
Polen hatte neben der DDR wie aufgezeigt die stärkste Umweltbewegung. Grund
hierfür war auch die direkte, geographisch bedingte, Betroffenheit von der
Katastrophe. Dementsprechend diente den polnischen Machthabern eine offene
Informationspolitik auch zur Sicherung der eigenen Position – etwas anderes hätte
die verhältnismäßig umweltbewusste Bevölkerung nicht akzeptiert. Folgerichtig
schreibt Bischof: „Die polnische Regierung und die Medien haben die Bevölkerung
über die Radioaktivität im Wasser, im Boden und in der Luft sowie die
Kontaminierung von Milch und anderen Lebensmitteln laufend informiert.“36
Bulgarien schließlich war im Westen ob seiner eigenen AKWs gefürchtet.
Dementsprechend schlecht war der Informationsfluss nach der Tschernobyl-
Katastrophe. Statt aufzuklären, wurde, noch stärker als in Tschechien, vertuscht. Man
35
vgl. Bischof, Henrik: Nach Tschernobyl, S. 18. 36
vgl. ebd., S. 20.
- 18 -
griff zudem den Westen wegen seiner angeblichen Propaganda gegen die UdSSR
an.37
Diese Beispiele zusammengenommen ergibt sich ein klares Bild der Politik als
Gatekeeper im Hinblick auf Medien. Gerade in den Ostblockstaaten, die nicht über
freie Medien verfügten, konnte die Politik die Entwicklung eines grünen
Bewusstseins gezielt unterdrücken wo sie dies wollte und sich hierzu im Stande
fühlte. Eine Tabuisierung der Gefahren durch Tschernobyl und durch Atomenergie
im Allgemeinen fand auch langfristig gesehen statt. Erst kurz vor dem Fall des
Eisernen Vorhangs besserte sich die Lage. 1988 gab es in der Ukraine, Weißrussland
und Litauen eine Debatte über AKWs wie es sie vorher nicht gegeben hatte.38
In das
gleiche Jahr fallen u.a. Veröffentlichungen der „Literaturnaya Gazeta“ über die
Fehler der Reaktormodelle von Tschernobyl.39
Durch die auch dann noch weiter betriebene Vertuschung durch die von der Politik
beeinflussten Medien ist von einer langfristigen negativen Wirkung auf die
Entwicklung eines grünen Bewusstseins in Osteuropa auf Grund der Wahrnehmung
der Rolle als „Gatekeeper“ durch die Politik auszugehen.
Das Phänomen der Beschwichtigung traf man auch anderswo als in Osteuropa an.
Der deutsche Innenminister Friedrich Zimmermann etwa sagte drei Tage nach dem
Super-GAU von Tschernobyl in der Tagesschau auf die Frage, ob er eine
Gefährdung der Bevölkerung der Bundesrepublik ausschließen könne: „Ja, absolut;
denn eine Gefährdung besteht nur in einem Umkreis von 30 bis 50 Kilometer um
den Reaktor herum.“40
Karina Junghanns veranlassten derlei Aussagen sogar zu
einem ausführlichen Vergleich der Berichterstattung von ARD und SAT 1.
Nichtsdestotrotz war das Ausmaß der Filterung dessen, was über osteuropäische
Medienkanäle zu empfangen war, größer, als das Ausmaß im Westen. Diese
Erkenntnis zieht sich durch die gesamte Arbeit und auch das Seminar hat sie bereits
geliefert. Eine ausführliche Untersuchung des Phänomens würde eine weitere Arbeit
erfordern. Wegen dieser Tatsache ist es hier bedeutsam, sich vor Augen zu halten,
dass die Politik im Hinblick auf Medien als „Gatekeeper“ wirkt und gewirkt hat und
dass hier ein Kontext zu einem möglichen osteuropäischen „Tschernobyl-Effekt“
ersichtlich ist.
37
vgl. ebd., S.25. 38
vgl. Medwedew, Zhores A., Das Vermächtnis von Tschernobyl, S. 79. 39
vgl. ebd., S. 279. 40
Junghanns, Karina: Die Berichterstattung von ARD und SAT 1 über das Reaktorunglück von
Tschernobyl – Ein Medienvergleich, Heidelberg 1989, S. 137.
- 19 -
2.3 Gab es einen (andauernden) „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa?
„Viele Anzeichen deuten darauf hin, daß allgegenwärtiger Problemdruck die zum
erfolgreichen Handeln verfügbare Zeit als endlich erscheinen läßt – das bekannte ‚5
vor 12-Syndrom„.“41
Dieses Verständnis birgt im Kontext der Arbeit Gefahren. Nicht nur die direkte
Konfrontation mit der Katastrophe von Tschernobyl, sondern auch die langfristigen
Effekte sind nämlich von Interesse. Die Aussage von Katrin Gillwald greift deshalb
zu kurz, wenn man das Phänomen des „Tschernobyl-Effekts“ für Osteuropa
analysieren und bewerten möchte.
Karl Dieter Opps These vom „Tschernobyl-Effekt“ ist anhand Deutschlands
erarbeitet worden. Die Entwicklung der deutschen Grünen in den 90er Jahren hat
eine langfristige Bewusstseinsveränderung gezeigt. Auch die Meinungsumfragen in
Deutschland haben ein neues grünes Bewusstsein nahegelegt. Wenn sogar ein CDU-
Landesvorsitzender wie Kurt Biedenkopf 1988 den Ausstieg aus der Atomenergie für
möglich hielt, so war dies eine mittelfristige Folge von Tschernobyl, die mit
Gillwalds Worten nicht zu erklären ist.42
Auch die heutigen Positionen von CDU und
FDP unterstreichen dies.
Umfragen des Instituts für Demoskopie in Allensbach legen die Vermutung nahe, daß ein
Abschwächungseffekt der Wirkung von Tschernobyl zu beobachten ist: es scheint, daß die
Einstellung zur Nutzung der Kernenergie positiver wird, allerdings ist diese Veränderung nur
geringfügig.43
Karl Dieter Opp hat den „Tschernobyl-Effekt“ mit dieser Feststellung als abgestuft
und differenziert zu betrachten dargelegt. Nicht nur die (angebliche) Abschwächung
in Westdeutschland, sondern auch z.B. die international unterschiedliche Ausprägung
des Effekts zeigt die Wichtigkeit der Differenzierung. In Frankreich kam es etwa
nicht zu derart starken Protesten wie in der BRD, was vielfältige Gründe haben kann,
so beispielsweise die vielen französischen AKWs und die Abhängigkeit der
Franzosen von der Atomenergie.
41
Gillwald, Katrin: Tschernobyl als Tag X – Reflektionen über Umweltwissenschaft und
Umweltpolitik, Berlin (West), 1986, S. 16. 42
vgl. Sterzel, Dieter: Ist ein Ausstieg aus der Kernenergie juristisch möglich?, abgedruckt in: Knigge,
Volkhard (Hrsg.): Fragen nach Tschernobyl, erschienen in: Informationen zur wissenschaftlichen
Weiterbildung, Nr. 25, Oldenburg 1988, S. 49. 43
Opp, Karl Dieter / Roehl, Wolfgang: Der Tschernobyl Effekt, S. 43.
- 20 -
Die Behauptung, der „Tschernobyl-Effekt“ sei abgeschwächt worden, scheint im
Übrigen – soweit dies überhaupt messbar ist – nicht richtig. So halbierte sich einer
Langzeitstudie zur Folge die Zahl derer, die kaum über ökologische Einstellung
verfügen, zwischen 1985 und 1994.44
Opp stellte seine Behauptung 1990 auf, als die
Entwicklung noch keinesfalls auf ihrem Scheitelpunkt angelangt war. Bis heute ist
eine Zunahme ökologischen Bewusstseins spürbar und die Positionen aller Parteien
sind immer weiter in Richtung eines Ausstiegs aus der Kernenergie gerückt, sofern
dieser nicht ohnehin Anliegen der Parteien war.
Wichtig ist Opps Erkenntnis, dass der „Tschernobyl-Effekt“ nicht als abrupte
Reaktion, sondern als Prozess zu verstehen ist.45
Diese Einschätzung des
Sozialwissenschaftlers stärkt die Möglichkeit eines Effekts in Osteuropa. Die
Analyse der Situation in der Phase der akuten Betroffenheit im Kontext der Analyse
des Erstarkens von grünen Bewegungen in den Folgejahren legt nahe, dass in
Osteuropa genau ein solcher verzögerter Effekt zutreffend sein könnte.
Gegen einen „Tschernobyl-Effekt“ in Osteuropa spricht wohl die „gefühlte
Protestbewegung“. Während in Deutschland 93% der Menschen 1987 der Meinung
waren, die Bevölkerung stehe Protesten gegen Atomkraft nun positiver gegenüber,
lässt sich ähnliches für die Sowjetunion und ihre Nachbarstaaten nicht vermuten.46
Freilich liegen keine vergleichbaren Erhebungen vor, dennoch war die Mehrzahl der
Sowjetbürger wohl zu abhängig von den Medien, um ein anderes Gefühl zu erlangen.
Ob der Evidenz der Tatsache und der Eklatanz der Unterschiede in Ost und West ist
es nicht nötig, an dieser Stelle über etwaige Ausmaße zu spekulieren. Interessant ist
aber eine Allensbach-Studie, die (in Bezug auf Deutschland) offenbarte, dass mehr
Menschen „dem Fernsehen“ bezüglich der Tschernobylthematik Glauben schenkten,
als „den Experten“.47
In Ländern, in denen Medien nicht frei berichten konnten, hat
dies selbstverständlich große Auswirkungen gehabt.
Während in der Konsequenz von Tschernobyl 1986 in Deutschland das
Bundesumweltministerium entstand, hielt die Sowjetunion an ihren Atomplänen fest.
Zwar bemühte man sich zunehmend darum, Sicherheitsstandards anzuheben und der
44
vgl. Meffert, Heribert u.a.: Umweltbewusstsein der Bevölkerung in der Bundesrepublik
Deutschland – empirische Ergebnisse einer Langzeitstudie, in: Meffert, Heribert u.a. (Hrsg.),
Arbeitspapiere der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Marketing und Unternehmensführung e.V.,
Nr. 179, Münster 2005, S. 13 ff.. 45
vgl. Opp, Karl Dieter / Roehl, Wolfgang: Der Tschernobyl Effekt, S. 43. 46
vgl. Opp, Karl Dieter / Roehl, Wolfgang: Der Tschernobyl Effekt, S. 46 (Tabelle II.3: Die Wirkung
von Tschernobyl aus Sicht der Befragten). 47
vgl. Junghanns, Karina: Die Berichterstattung von ARD und SAT 1, S. 149.
- 21 -
Angst ihre Grundlagen – zumindest nach außen hin – zu entziehen, doch beschäftigte
sich die Führung nicht mit dem Ausstieg aus der Kernenergie. Auch auf
wissenschaftlicher Ebene ist dieser Gedanke allenfalls sehr vereinzelt und äußerst
vorsichtig formuliert worden.
Entscheidender Maßstab für einen wirklichen „Tschernobyl-Effekt“ ist aber, wie
bereits festgestellt worden ist, das Bewusstsein der Bevölkerung. Erneut kann hier
Deutschland als Vergleichspunkt herangezogen werden, da anhand Deutschlands der
„Tschernobyl-Effekt“ ausgearbeitet worden ist. Dort war die Forderung nach einem
Atomausstieg nach Tschernobyl weit verbreitet und während 1981 nur 30% gegen
den weiteren Ausbau der Kernkraftwerke waren, waren es im Juli 1986 einer
EMNID-Umfrage zur Folge 66%. Andere Quellen sprechen sogar von annähernd
70% Ausstiegsbefürwortern.48
In Osteuropa hat es keine vollkommen einheitliche Entwicklung gegeben – ebenso
wenig wie in Westeuropa, wo Deutschland stets als eines der Extrembeispiele für ein
besonders hohes grünes Bewusstsein zu sehen ist (im Gegensatz zu etwa Frankreich,
das nicht nur über besonders viele Atomkraftwerke verfügt, sondern dessen Medien
auch besonders spärlich über die Vorkommnisse in Tschernobyl berichtet haben).49
In Polen ist z.B. ein stärkeres Bewusstsein entstanden, als in der Sowjetunion oder
gar in Rumänien oder Bulgarien.
Festhalten lässt sich aber folgende Entwicklung: In der akuten Phase nach
Tschernobyl haben sich ob geringer Medienberichterstattung lediglich vereinzelt, wie
in Moskau und Krakau, Demonstranten zusammengefunden, um gegen die
Atomenergie zu protestieren. Auch gab es in dieser Phase vereinzelte politische
Stimmen – vor allem aus der DDR und Polen – die sich kritisch äußerten. In den
kommenden Jahren entstanden jedoch durchaus einige Umweltbewegungen, die in
vielen Ländern mit den Nationalbewegungen einhergingen. Ein mittelfristiger Effekt,
der als Prozess in der Phase nach Tschernobyl einsetzte, ist, wenngleich in viel
schwächerer Form als in Westeuropa, auszumachen. In den 90er Jahren sind auf
politischer Bühne viele Entwicklungen wieder rückgängig gemacht worden. Größere
Protestbewegungen, wie die baltischen Proteste gegen Ignalina, hat es kaum noch
gegeben. Im Zuge der Öffnung nach Westen ist allerdings der Sicherheitsstandard in
48
vgl. (zu der EMNID-Umfrage) Opp, Karl Dieter / Roehl, Wolfgang: Der Tschernobyl Effekt, S. 37,
Tabelle II.1: Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen zur Atomenergie sowie Grieshammer, Rainer:
Umweltengel – Umweltteufel, 1. Aufl., Freiburg 1986, S. 59. 49
vgl. zur französischen Medienberichterstattung Vester, Frederic: Bilanz einer Verwirrung, München
1987, S. 200.
- 22 -
osteuropäischen AKWs gestiegen. In diesem Bereich hat das
Verantwortungsbewusstsein der Politik zu genommen. Tschernobyl wird sicher auch
in Osteuropa stets ein Begriff bleiben. Immernoch sind die Sterblichkeitsraten in der
Ukraine, Weißrussland und Russland in Folge des Unglücks extrem hoch. Vor
diesem Hintergrund ist es überraschend und auf die genannten Umstände
zurückzuführen, dass das Bewusstsein nur so gering angestiegen ist. Aber dennoch:
Es hat sich ein anderer Umgang mit der Kernenergie entwickelt. Es hat einen
„Tschernobyl-Effekt“ gegeben, auch einen langfristigen. Hieran hat die
Machtübernahme und die hiermit verbundene neue Politik der Nationalbewegungen
nichts ändern können. Der Effekt war aber um ein vielfaches schwächer als in
Westeuropa.
3. Fazit
Die Diversifizierung des Osteuropabegriffs hat sich als wesentlich für diese Arbeit
herausgestellt. Während zunächst von einem relativ einheitlichen Osteuropa, dem
„Raum jenseits des Eisernen Vorhangs“, ausgegangen worden war, muss nun
konstatiert werden, dass diese Vereinheitlichung nicht korrekt war. Die
Entwicklungen in Polen und der DDR waren eindeutig andere als die in Tschechien
und Rumänien. Deshalb ist es nicht auszuschließen, dass es einen „Tschernobyl-
Effekt“ in einigen Ländern nicht oder noch schwächer, als im Großraum Osteuropa
gegeben hat.
Die emotionale Verbundenheit mit den Opfern von Tschernobyl, aber auch die
daraus resultierende Angst, hätten eigentlich für eine besonders starke Betroffenheit
und ein besonders starkes erwachendes grünes Bewusstsein in Osteuropa sorgen
müssen. Die mangelnde Berichterstattung durch die Medien, die von Politikern
kontrolliert wurden, die selbst ebenfalls in besonderem Maße betroffen und daher
umso mehr um ihren Machterhalt und die Vertuschung der Ausmaße der Katastrophe
bemüht waren, hat die Auswirkungen der emotionalen Verbundenheit jedoch im
Keim ersticken lassen. Die medialen Voraussetzungen in Osteuropa waren andere als
in Westeuropa. Dies ist zwar keine Überraschung, jedoch hat die Analyse in ihrem
Verlauf nicht nur immer deutlicher die Unterdrückungsmechanismen der
osteuropäischen Presse im Hinblick auf Berichte über Kernenergie entlarvt, sondern
es sind auch klare Verbindungen zwischen der Ausgeprägtheit des
- 23 -
Medienkontrollapparats und der Sensibilisierung für die Folgen von Tschernobyl
erkennbar geworden. So ist gerade in Polen, wo Politik und Medien keine mit der
Sowjetunion vergleichbare Vertuschung betrieben haben, ein bemerkenswertes
Bewusstsein für die Gefahren von Kernenergie und für den Umweltschutz im
Allgemeinen entstanden. Es hat also hier nicht nur zwischen West- und Osteuropa
Unterschiede gegeben, sondern auch innerhalb Osteuropas. Wo sich die Politik als
Gatekeeper aktiv gegen freie Berichte über das Unglück gestemmt hat, hat dies die
Auswirkung gehabt, dass die Bevölkerung mangels Informationen nur ein extrem
schwaches grünes Bewusstsein in den Folgejahren entwickelt hat. Diese Kultur der
Desinformation hat es in den betroffenen Ländern (z.B. der Sowjetunion) schon
immer und nicht erst in Folge von Tschernobyl gegeben. Sie ist also nicht die
Reaktion, sondern ein Merkmal der Grundsituation in diesen Ländern gewesen. Sie
kann damit auch in Zukunft als eine mögliche Erklärung für das Nicht-Entstehen
eines „Tschernobyl-Effekts“ dienen: Dort, wo es keine freien Medien gibt, ist das
Entstehen eines solchen Effekts (insbesondere eines stark ausgeprägten Effekts)
unwahrscheinlicher.
Charles Ziegler hat konstatiert: „Durch die Unterschiede in der gesellschaftlichen
Organisation, der politischen Tradition und Kultur, kann es eine ‚grüne„, den
Verhältnissen in Westeuropa vergleichbare Bewegung in der Sowjetunion nicht
geben.“50
Diese Einschätzung ist als zutreffend zu bewerten. Die Lücke im
Bewusstsein, die die Zeit des Kommunismus in Osteuropa verursacht hat, konnte
auch nach dem Fall des Eisernen Vorhangs nicht geschlossen werden. Auch die
neuen Regierungen taten sich in den meisten Ländern nicht durch eine besonders
engagierte Umweltpolitik hervor. Ein „Tschernobyl-Effekt“ konnte so nur in
Ansätzen registriert werden. Handelt es sich hierbei, wie oben beschrieben, nach Opp
um „oft geradezu explosive Welle von Protesten“, so war in Osteuropa allenfalls ein
leichtes Ansteigen des Protestpegels zu erkennen, die Rechtfertigung der
Bezeichnung dieses Ansteigens als „Tschernobyl-Effekt“ wird vom Verfasser
dennoch bejaht. Dies ist damit zu rechtfertigen, dass der Pegel in Folge von
Tschernobyl stieg und zudem ein sprunghafter Anstieg (z.B. 1988) nach
Veröffentlichungen, die im Kontext von Tschernobyl standen, zu verzeichnen war.
Die Krakauer Proteste haben für Polen zudem das Niveau einer Welle erkennen
lassen, die Proteste in der DDR bewegten sich in ähnlichen Größenordnungen.
50
Ziegler, Charles E.: Umweltschutz in der Sowjetunion, S. 102.
- 24 -
Die untersuchten Quellen sind zum Großteil deutsch oder in Deutschland erschienen.
Hier hat sich widergespiegelt, was sich auch im inhaltlichen Teil der Arbeit gezeigt
hat: Wohl nirgendwo stieß Tschernobyl auf ein solches Interesse wie in Deutschland.
Russische Statistiken zu einem grünen Bewusstsein in Russland sucht man bis heute
zu vergebens.
Nur durch den Verzicht auf bestimmte Produkte nach dem Unglück von Tschernobyl
ist jeder Deutsche im Schnitt um ein Viertel weniger mit Radioaktivität in Kontakt
gekommen.51
Mediale Aufklärung und daraus resultierendes Bewusstsein hätten auch
in Osteuropa die enormen Ausmaße der Katastrophe zumindest etwas lindern
können.
51
vgl. Junghanns, Karina: Die Berichterstattung von ARD und SAT 1, S. 150.
- 25 -
Literaturverzeichnis
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2. Internetquellen
Haury, Heinz-Jörg: Der Gau in Majak – Ewiges Feuer in der geheimen Stadt, in:
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http://www.sueddeutsche.de/wissen/der-gau-in-majak-ewiges-feuer-in-der-
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3. Filmquellen
Akın, Fatih: Auf der anderen Seite, DVD, 122 min., Hamburg: Corazon International
2008 (Deutschland 2007).
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