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    Hegels „Lehre vom Wesen“

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    Hegel-Jahrbuch Sonderband

    Herausgegeben von

    Andreas Arndt, Myriam Gerhard und Jure Zovko

    Band 8

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    Hegels„Lehre vom Wesen“

    Herausgegeben von

    Andreas Arndt, Günter Kruck

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    Geördert durch die Katholische Akademie Rabanus Maurus im Haus am Dom in Frankurt am

    Main und durch die Diözese Limburg.

    ISBN 978-3-11-047429-9

    e-ISBN (PDF) 978-3-11-047456-5

    e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047432-9

    ISSN 2199-8167

    Library of Congress Cataloging-in-Publication DataA CIP catalog record or this book has been applied or at the Library o Congress.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek 

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

    Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    über http://dnb.dnb.de abrufar.

    © 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

    Satz: Veit Friemert, Berlin

    Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck♾ Gedruckt au säurereiem Papier

    Printed in Germany

    www.degruyter.com

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    6  Vorwort

    Die Herausgeber danken der Katholischen Akademie Rabanus Maurus dafür,

    dass sie die Tagung in ihr Programm aufgenommen und großzügig finanziert hat;

    besonders danken möchten wir auch für einen namhaften Druckkostenzuschuss

    durch die Katholische Akademie Rabanus Maurus und die Diözese Limburg, derdie Publikation dieses Bandes erst ermöglicht hat.

    Berlin und Frankfurt am Main, im Januar 2016

    Andreas Arndt und Günter Kruck

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    Inhalt

     Vorwort 5

    Anton Friedrich Koch

    Die Mittelstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff 9

    Christian Iber

    Hegels Begriff der Reflexion als Kritikam traditionellen Wesens- und Reflexionsbegriff 21

    Günter KruckHegels Wesenslogik als Logik der Reflexion 35

    Klaus Vieweg

    Hegels sizilianische Verteidigung.Die Beziehung der Wesenslogik zu Metaphysik,Skeptizismus und Transzendentalphilosophie 49

    Friedrike SchickIdentität und Unterschied als Reflexionsbestimmungen des Wesens 61

    Claudia Wirsing

    Die Realität des Grundes.Zur Logik des Grundes in der Wesenslogik 81

    Dietmar H. Heidemann

    „Das Wesen muß erscheinen“.Die Erscheinung in Hegels Wissenschaft der Logik   95

    Jens Halfwassen

    Hegel und die negative Theologie 109

    Holger Hagen

    Die Logik der Wirklichkeit:eine Entwicklung vom Absoluten bis zur Wechselwirkung 129

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    8  Inhalt

    Thomas Hanke

    Das Wesen im Begriff.Über den Zusammenhang von objektiver und

    subjektiver Logik in der Passage „Vom Begriff im allgemeinen“ 159

    Andreas Arndt

    Hegels Wesenslogik und ihre Rezeption und Deutung durch Karl Marx 181

    Zu den Autorinnen und Autoren 195

    Siglenverzeichnis 199

    Personenverzeichnis 201

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    Anton Friedrich Koch

    Die Mittelstellung des Wesens

    zwischen Sein und Begriff 

    1 Unmittelbares und Verneinung in der Seinslogik 

    Um uns die Mittelstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff deutlich zu

    machen, fangen wir mit etwas Handfestem an, zum Beispiel einer mechanischen

    Kaffeemühle. Wir geben (in Gedanken) Kaffeebohnen ein und fangen an zu

    leiern, und unten in einem Kästchen sammelt sich das Kaffeemehl. Nehmen wir

    an, das Mehl ist uns zu grobkörnig und die Mühle ist nicht verstellbar. Also geben

    wir es noch einmal ein und mahlen es ein zweites Mal, damit es feiner wird. Das

    können wir einige Male machen, bis das Mehl entweder fein genug ist oder uns

    die Geduld ausgeht oder bis der Grenznutzen weiteren Mahlens gegen Null ten-

    diert und die Ausgabe sich von der Eingabe kaum noch – oder gar nicht mehr –

    unterscheidet. Wenn sie sich tatsächlich gar nicht mehr unterschiede, hätten wir

    einen Fixpunkt des sukzessiven Mahlprozesses erreicht.Das Beispiel der Kaffeemühle veranschaulicht den logischen Prozess,

    zunächst den des Seins. Natürlich gibt es Disanalogien, auf die noch hingewiesen

    werden muß. Aber achten wir zunächst auf die Analogien. Die Kaffeebohnen sind

    das ursprüngliche Mahlgut, das wir beim Kolonialwarenhändler gekauft haben

    und das dem Mahlprozess als erste und unmittelbare Eingabe vorgegeben ist.

    Ihm entspricht in der Wissenschaft der Logik  (fortan: WdL) das einfache, unmit-

    telbare Sein. Die Mühle mussten wir ebenfalls besorgen, im Haushaltswarenla-

    den, und ihrem Betrieb entspricht in Hegels Logik die Operation der Negation,die Verneinung, die Dieter Henrich vor vielen Jahren zu Recht als Hegels logische

    Grundoperation bezeichnet hat. Dem Kaffeemehl entspricht dann das Ergebnis

    des Verneinens, und dieses Ergebnis können wir, wenn wir wollen, noch einmal

    verneinen und noch einmal usw. usf.

    Aber nun zu den Disanalogien. Ich nenne vier. Erstens: Die Kaffeemühle

    bleibt über die Folge der Mahlvorgänge hinweg konstant. Es gibt ein bisschen

    Verschleiß, das Mahlwerk stumpft mit der Zeit ein wenig ab; aber der Verschleiß

    gehört nicht zur Funktionsweise der Mühle, sondern beeinträchtigt diese. Dieideale Kaffeemühle, jedenfalls vom Standpunkt des Verbrauchers, wäre unver-

    wüstlich. Ebenso unverwüstlich und konstant ist auch die aussagenlogische

    Negation. Wir haben einen Satz „p“ und verneinen ihn: „~p“. Wir verneinen

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    dieses Resultat noch einmal und erhalten eine doppelte Verneinung, die dem

    Ausgangssatz „p“ äquivalent ist; wir verneinen abermals usf. und werden im

    Grunde immer nur zwischen „p“ und „~p“ hin und her geworfen. Nach einer  

    Verneinung kommt nichts Neues mehr zustande. Hingegen wandelt sich in derHegel’schen Logik die Operation der Negation systematisch mit dem, was in

    sie eingegeben und von ihr ausgegeben wird. In der Aussagenlogik vertauscht

    die Negation nur die Wahrheitswerte von Aussageinhalten; aber die verneinten

    Inhalte bleiben weiterhin denkbar und können erwogen und irrtümlich für wahr

    gehalten werden. Die logischen  Inhalte oder Denkbestimmungen jedoch sind

    zunächst ganz einfache, vorpropositionale Gedankeninhalte; sie können nicht

    im aussagenlogischen Sinn falsch sein. Sie zu verneinen, heißt fürs Erste viel-

    mehr, sie zu vernichten. Daher ist das Negieren am Anfang der Hegel’schen Logik(sofern es denn überhaupt von Erfolg gekrönt ist), Vernichten der Eingabe und

    ipso facto Erzeugen einer Ausgabe; später dann Veränderung der Eingabe hin

    zur Ausgabe und wechselseitige Bestimmung von Ein- und Ausgabe; dann auch

    Aufhebung, Idealisierung, Repulsion, Ausschluss (usw. usf.). Schon aus diesem

    Grund übrigens ist die WdL nicht formalisierbar. Ihre Grundoperation passt sich

    dem neuen Operandum jeweils zu geschmeidig an, es gibt keine feste, konstante

    Form, durch die das anfängliche unmittelbare Sein gleichsam hindurchgeleiert

    werden könnte. Die Negation ist hier, anders als in der formalen Aussagen- undPrädikatenlogik, plastisch und wandelbar. Deswegen führt zweimaliges Vernei-

    nen hier nicht einfach zum Ausgangspunkt zurück, während in der Aussagenlo-

    gik „~~p“ mit „p“ äquivalent ist.

    Eine zweite Disanalogie liegt darin, dass die erste und unmittelbare Eingabe

    in den Negationsprozess keine Vielheit von wohlbestimmten Einzeldingen –

    analog den vielen Kaffeebohnen – ist, sondern eine unbestimmte Singularität

    namens „Sein“. In der  Phänomenologie des Geistes beginnen wir, weil wir dem

    endlichen Bewusstsein bei dem Erheben seiner Wahrheitsansprüche zusehen

    wollen, mit der Mannigfaltigkeit von vielen unmittelbaren Einzelheiten in Raum

    und Zeit. In der WdL aber ist von Raum und Zeit abstrahiert; das Unmittelbare,

    mit dem sie anhebt, ist das einfache, unbestimmte, singuläre, reine Sein – eine

    einzige, dicke, alternativlose Kaffeebohne, wenn man so will.

    Eine dritte Disanalogie besteht darin, dass sich das Kaffeemehl nicht von

    selbst wieder in die Mühle eingibt bzw. dass es seine Neueingabe nicht von sich

    aus verlangt. Sondern wir   geben, wenn wir wollen, das Mehl neu ein, weil es

    uns etwa noch zu grob ist, oder aus reinem Spaß an der Freude. Eine Ausgabe

    der Negationsoperation in der WdL verlangt hingegen in der Regel von sich aus,

    erneut in die Negation eingegeben zu werden, weil sie nämlich widerspruchsvoll

    ist und der Widerspruch verneint werden muss. Anders als der Dialetheismus

    (Graham Priest etwa) behauptet, gibt es keine wahren Widersprüche, sondern

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    allenfalls in gewissem Sinn zutreffende; doch das, worauf sie zutreffen, ist dann

    ontologisch instabil, kein gediegenes Sein, sondern ein flüchtiges Werden oder

    ein kernloser Schein oder ein dunkler, brodelnder Grund oder etwas dergleichen.

    Weil es beim Widerspruch nicht bleiben kann, erweist dieser sich als Motor derlogischen Fortbewegung, der zur Neueingabe von erreichten Resultaten in die

    Negationsmühle zwingt. Dadurch wird der logische Negationsprozess am Laufen

    gehalten, entweder bis ein widerspruchsvoller Fixpunkt erreicht wird, also

    eine unbehebbare Antinmomie – dann wäre die WdL bis auf weiteres geschei-

    tert – oder ein widerspruchsfreies Resultat, das nicht mehr verneint zu werden

    braucht. Am besten wäre es, wenn dieses Resultat gleichzeitig ein Fixpunkt wäre,

    so dass seine abermalige Verneinung nichts Neues mehr ergäbe. Wenn das ohne

    Antinomie möglich sein sollte (was aber schwer vorstellbar ist), wäre es der finaleTriumph der WdL.

    Zuletzt eine vierte Disanalogie. An einem gewissen Punkt der seinslogischen

    Entwicklung, spätestens beim Anderen seiner selbst (vielleicht auch schon beim

    in-sich-seienden Etwas) erweist sich die Operation der Negation als zirkulär oder

    regressartig in folgendem Sinn: Sie operiert grundsätzlich nur an solchem, an

    dem sie bereits operiert hat. Das wäre so, als ob das Mahlgut unserer Kaffee-

    mühle immer schon vorgemahlen wäre von eben dieser Mühle. Wir hätten dann

    die Bohnen nicht im Kolonialwarenladen zu kaufen brauchen, sondern sie wärenschon vorgemahlen in der Mühle mitgeliefert worden, und die Mühle wäre beim

    Kauf bereits in Betrieb gewesen (stellen wir uns eine elektrische Kaffeemühle

    mit Batteriebetrieb vor, die im Kreislauf von Eingabe und Ausgabe weitermahlt,

    während wir sie aus dem Laden nach Hause tragen). Natürlich hätte eine solche

    Mühle etwas Wundersames, weil keiner ihrer Mahlgänge der erste gewesen wäre.

    Die Mühle und ihr endogenes Mahlgut wären ebenso ewig wie die natürlichen

    Arten in der aristotelischen Metaphysik: Der Mensch zeugt (und gebiert) einen

    Menschen, und das von Ewigkeit her. Ebenso mahlt diese Mühle ihren Kaffee

    von Ewigkeit her, und in diesem Sinn ist die Negation, und zwar schon innerhalb

    der Seinslogik, zirkulär oder selbstbezüglich, wenn auch dabei außerdem noch

    bezogen auf etwas Anderes, das zu ihr gehört und ihr doch vorgegeben ist, das

    Sein.

    Aber diese Zirkularität schon der seinslogischen Negation ist eine Entde-

    ckung, die wir innerhalb der Seinslogik machen. Ganz zu Beginn des Unter-

    nehmens mussten Hegel und wir als die zuständigen Hintergrundtheoretiker in

    äußerer Reflexion für das erste Unmittelbare sorgen, also doch zunächst in den

    Kolonialwarenladen gehen: damit wir hinterher entdecken konnten, dass dies

    nicht nötig gewesen wäre. Am Anfang konnten wir das noch nicht wissen. Gehen

    wir also noch einmal zurück auf „Anfang“ und lassen uns Zeit. Wir stehen im

    großen Laden der Welt, betrachten die bunte Szenerie des Mannigfaltigen und

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    abstrahieren von all ihren kategorialen und empirischen Bestimmungen, weil wir

    rein denken oder wenigstens dem reinen Denken zusehen wollen. Etwas anders

    gesagt: Wir abstrahieren von allen Unterschieden zwischen möglichen Wahr-

    heitsansprüchen, die wir erheben könnten, und postulieren als unbestimmtesund neutrales Residuum einen gemeinsamen minimalen Kern aller möglichen

    Wahrheitsansprüche, den wir mit Wittgenstein die Eine logische Konstante 

    nennen können oder mit Hegel einfacher das reine Sein. Das war unser Einkauf

    beim Kolonialwarenhändler; mit dem reinen Sein also ziehen wir aus dem Laden

    von dannen.

    Jetzt müssen wir noch die Mühle besorgen, im Haushaltswarenladen. Haus-

    haltswarenläden gibt es viele, am Main und auch am Nile. Wir betreten den erst-

    besten: die gewöhnliche Aussagenlogik. Aus ihr holen wir uns als die alternativ-lose einstellige Wahrheitsoperation die Negation. Zu Hause müssen wir sie noch

    ein wenig umbauen, weil wir keine Aussagen (oder Propositionen) verneinen

    wollen, sondern fürs Erste das reine Sein, das eine Art Hybridbildung zwischen

    Propositionen und Gegenständen darstellt. Ich nenne solche Hybridbildungen

    Ur-Sachverhalte. Das reine Sein ist unser vorerst einziger und alternativloser

    Ursachverhalt.

    Ihn also geben wir nun in die Verneinungsmühle ein, und die Mühle liefert

    uns ächzend das Werden, eine Mischung von Sein und Negativität; ächzend, weilsich das Sein per definitionem nicht effektiv verneinen und vernichten lässt,

    sondern am Ende wie ein Stehaufmännchen wieder da ist. Wie und warum genau

    das so ist, tut im gegenwärtigen Zusammenhang nichts zur Sache, denn ich will

    nicht über das Sein und das Werden sprechen, sondern über die Mittelstellung

    des Wesens. Ich erwähne daher nur kurz, ohne Argument, dass das Werden, weil

    es inkohärent ist, sofort noch einmal in die Verneinungsmühle einzugeben ist,

    woraufhin diese im zweiten Mahlgang das  Dasein  liefert, das beinahe genauso

    aussieht wie das reine Sein, aber de facto schon bestimmt ist, nämlich als das

    ruhige Negativ des explosiven Werdens.

    Als Nächstes machen wir dann die erwähnte Entdeckung des In-sich-Seins

    des Daseins. Auch das berühre ich nur ganz kurz. Das Werden ist der logische

    Urknall, mit dem die Evolution des logischen Raumes beginnt. Dessen erster halb-

    wegs ruhiger und stabiler Zustand ist das Dasein. Dem reinen Denken, dem wir in

    der WdL zusehen, muss das Dasein als ein Erstes und Unmittelbares vorkommen,

    denn der logische Urknall des Werdens liegt vernichtet und zusammengesun-

    ken, jedenfalls unkenntlich, hinter ihm. Daher müssen wir in unserer äußeren

    Reflexion (unserer Hintergrundtheorie) das Werden zu der Grenze zwischen der

    logischen Historie und der logischen Prähistorie in der Evolutionsgeschichte des

    logischen Raumes erklären: Das reine Sein (und auch das reine Nichts) liegen

    jenseits dieser Grenze und können vom Denken nicht erfasst, sondern nur ange-

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      Die Mittelstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff 13

    zielt, nur „gemeint“ werden. Und eben deswegen müssen wir nun sagen, dass die

    Mühle der Verneinung immer schon am Laufen gewesen ist. Das unmittelbare

    Mahlgut tritt auf in Gestalt des Daseins, näher betrachtet in Gestalt des  Daseien-

    den oder Etwas, das „in sich“ ist, weil es – durch den Mahlprozess der Negativitäthindurch – ewig aus sich selber herkommt.

    Das zu mahlende Mahlgut ist nun also das Dasein und das gemahlene Mehl

    ist ebenfalls das Dasein. Im Mahlprozess bzw. in der Verneinung bricht der Unter-

    schied am Dasein jeweils kurz auf (als die Differenz von  Realität  und  Negation,

    sagt Hegel), wird aber sogleich wieder aufgehoben in dem in-sich-seienden

    Etwas. Die Kaffeemühle und das Mahlgut, die Verneinung und das Unmittel-

    bare, sind eben nur im Doppelpack zu haben, und die Mühle läuft immer schon,

    wenn man sie kauft. Im Nachhinein müssen wir unser Bild von zwei Einkäufen inzwei Läden korrigieren. Es war ein Doppeleinkauf in ein und demselben Laden:

    eine laufende Kaffeemühle mit immer schon vorgemahlenem Mahlgut. Dieser

    Eindruck verstärkt sich sofort noch im weiteren Verlauf der Logik des Daseins,

    wenn Hegel von dem Gedanken des Etwas zu dem des  Anderen und dann dem

    des Anderen seiner selbst  übergeht. Irgendwie ist das unmittelbare Sein zwar am

    Kreislauf des Mahlens (d. h. des Verneinens) beteiligt; aber man weiß und sieht

    schon gar nicht mehr recht, wie genau. Das ist der charakteristische Stand des

    Unmittelbaren und der Vermittlung (des Seins und der Negation) in der Seinslo-gik.

    2 Die Wesenslogik als Mittleres

    Dieser Stand ändert sich beim Übergang in die Wesenslogik. Unmittelbar vorher,

    am Ende der Seinslogik, kommen wir bei dem stehenden Selbstwiderspruch des

    ewigen Seins an, den wir nicht mehr dadurch auflösen können, dass wir ihn alsWerden interpretieren. Er vergeht nicht; er ist . Das Sein versinkt in absoluter

    Indifferenz (wie Hegel sich ausdrückt).

    Der Dialetheismus – zur Erinnerung – ist die These, vertreten und getauft

    von Graham Priest, dass es wahre Widersprüche gibt. Tatsächlich kommt es im

    Verlauf der WdL immer wieder zu Situationen, in denen ein Widerspruch sich als

    Inhalt des reinen Denkens unausweichlich aufdrängt. Aber das sind dann jeweils

    logische Grenzsituationen, bei denen es nicht bleiben kann. Immer muß dann

    irgendetwas unternommen werden, um den Widerspruch zu beheben, als wievorläufig auch immer sich die Behebungsmaßnahme dann erweisen mag. Eine

    typisch seinslogische Maßnahme war es, den Widerspruch als Ausdruck eines

    Werdens oder Umschlagens zu deuten. In dem Augenblick, wenn der Torwart den

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    14  Anton Friedrich Koch

    Ball fängt oder, noch präziser, wenn der Ball mit der Handschuhoberfläche des

    Torwarts zusammentrifft, berührt er sie noch nicht und auch schon. Das Nichtwi-

    derspruchsprinzip gilt für das Sein, das Der-Fall-Sein: Es kann nicht der Fall sein,

    dass der Torwart den Ball berührt und zugleich auch nicht berührt. Und dochgibt es diesen Augenblick des Werdens oder Umschlagens, in dem beide Seiten

    der Kontradiktion zutreffen. Also diagnostizieren wir hier kein Sein, sondern ein

    flüchtiges Werden und lassen dieses Werden als einen infinitesimalen Grenz-

    fall gelten, in dem das Nichtwiderspruchsprinzip außer Kraft gesetzt – nicht ist ,

    sondern vorübergehend – wird.

    Dieser Schachzug ist uns beim Übergang von der Seins- zur Wesenslogik

    aber verwehrt, weil der Endwiderspruch der Seinslogik sich a) wie das Andere

    seiner selbst schon selber verneint und weil er b) im Kontrast zum Anderenseiner selbst kein Fall von Veränderung, also nicht vorübergehend oder infini-

    tesimal, sondern vielmehr ewig ist. Dennoch will das reine Denken weiter- und

    aus dem seinslogischen Endwiderspruch freikommen. Da nicht mehr auf Werden

    erkannt werden kann, erkennen wir in unserer Hintergrundlogik nun auf reinen,

    absoluten Schein. Im absoluten Schein tritt sich das Denken gleichsam selber

    in den Weg, sieht nur noch sich selber und dringt nicht mehr durch zu seinem

    Gegenstand. Das Rundumfenster, das dem Denken den Blick auf den Gegenstand

    ermöglichen sollte, wird zum Rundumspiegel. Das Denken kreist inkonsistent insich, reflektiert nur sich selbst an den Spiegelwänden und ist vom intendierten

    Sein abgeschnitten. Es muss seinen Wahrheitsanspruch preisgeben, unmittelbar

    auf das gediegene Sein bezogen zu sein, aber es erhebt nun den bescheidene-

    ren Wahrheitsanspruch, dass hinter dem Spiegel und vorerst noch verborgen der

    wahre Gegenstand wartet. Zwar hat sich das unmittelbare Sein als Schein, als

    leere zirkuläre Negation, leere Reflexion erwiesen; aber in diesem Nichtigen ist

    es immerhin aufgehoben und ist seine Gültigkeit durchgestrichen. Das Sein ward

    Schein und ipso facto Zeichen, griechisch sêma – ein Zeichen für das noch völlig

    unbekannte Negativ des Seins oder Scheins, das wir vorweg schon einmal das

    Wesen nennen können, obwohl wir es noch gar nicht kennen. Hier, am Anfang

    der Wesenslogik, stehen wir also, nebenbei gesagt, auch am Anfang der philoso-

    phischen Semantik, was Hegel aber nicht näher ausführt, weil zu seiner Zeit noch

    niemand auf den Gedanken verfallen war, die Erste Philosophie könnte reine,

    apriorische Semantik sein. (Der frühe Wittgenstein, Dummett und Tugendhat

    haben es später, Freges neue Logik vor Augen, mit diesem Gedanken versucht

    und sind alle insofern gescheitert, als die Erste Philosophie jedenfalls nicht aus-

    schließlich Semantik sein kann.)

    Der absolute Schein, dem wir in dieser Weise zu Beginn der Wesenslogik

    begegnen, ist zirkuläre und zugleich reine, nicht mit Unmittelbarkeit kontami-

    nierte Negativität. Auch das Andere seiner selbst war zirkuläre Negativität, aber

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      Die Mittelstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff 15

    nicht rein, sondern mit unmittelbarem Sein behaftet. Denken wir an die wun-

    dersame Kaffeemühle, die immer schon in Betrieb ist und immer schon etwas

    mahlt – immer schon Etwas (großgeschrieben) mahlt, und dies in der Weise,

    dass das mit sich identische Etwas, das frisch gemahlen aus der Mühle kommt,aus dem Anderen seiner selbst hervorgeht. Jetzt im Falle des Scheins entpuppen

    sich das zu mahlende Mahlgut und das gemahlene Ergebnis als durch und durch

    nichtig. Die Mühle läuft ohne Unmittelbares, also ganz im Leerlauf, und liefert

    doch ein Resultat, eben den Schein. Statt des mit sich identischen Etwas liefert

    die Verneinungsoperation nun die leere Reflexionsbestimmung der Identität rein

    für sich, ohne ein unmittelbares Etwas, an dem sie aufträte. Und an die Stelle des

    Anderen seiner selbst tritt die Reflexionsbestimmung der Nichtidentität, d. h. des

    Unterschiedes, rein für sich und ohne Beimischung von Unmittelbarkeit.Beim Übergang vom Sein zum Wesen musste wie auch früher schon des Öfteren

    in der Seinslogik ein Grenzfall gefunden werden, für den wir den Dialetheismus

    behaupten dürfen, d. h. für den wir behaupten dürfen, dass ein wahrer oder doch

    irgendwie zutreffender Widerspruch vorliegt, also eine Situation, in der ein Satz

    der Form „p und ~p“ wahr ist. Wenn diese Konjunktion wahr ist, müssen beide

    Konjunkte wahr sein. Wenn aber das eine von ihnen wahr ist, zum Beispiel „p“,

    ist das andere, „~p“, falsch. Und ebenso umgekehrt. Also ist ein Widerspruch,

    wenn er in einer Grenzfallsituation einmal zutrifft, zugleich auch in seinen beidenTeilen unzutreffend. Mit einem Wort: Ein wahrer Widerspruch ist ipso facto auch

    ein falscher.

    Der erste Grenzfall eines wahren Widerspruchs war in der WdL der des

    Werdens. Da dieser Widerspruch als solcher zugleich falsch war, musste das

    Werden zugunsten seines Negativs, des Daseins, verschwinden. Der neue Grenz-

    fall am Übergang vom Sein zum Wesen ist der Schein. Auch hier müssen Wahr-

    heit und Falschheit wieder beide im Spiel sein. Und so kennen wir es auch von

    den gewöhnlichen Fällen, in denen uns etwas der Fall zu sein scheint, was in

    Wahrheit nicht der Fall ist. Nehmen wir eine weiße Wand, die im Blaulicht blau

    aussieht. Darin, dass sie uns blau zu sein scheint, sind wir unfehlbar; das kann

    nicht falsch sein. Aber wenn wir nun meinen, die Wand sei wirklich blau, so

    glauben wir etwas Falsches und wurden vom bloßen Schein getäuscht. Anders

    als das Werden aber will der Schein nicht verschwinden, selbst dann nicht, wenn

    wir ihn durchschauen. Auch wenn wir wissen, dass die betreffende Wand weiß

    ist, sieht sie im Blaulicht weiterhin blau aus.

    Ähnlich ist es bei dem absoluten Schein zu Beginn der Wesenslogik. Das

    Denken tritt sich, wie gesagt, selbst in den Weg, sein Fenster nach draußen wird

    zum Spiegel, und es reflektiert sich leer in sich selbst. Auch wenn es im nächsten

    Schritt sich in voraussetzender Reflexion ein Wesen voraussetzt, von dem es

    abhängig sei, so erreicht es dieses Wesen damit aber keineswegs; seine Reflexion

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    in sich bleibt dem unbekannten und vorausgesetzten Wesen äußerlich. Im

    weiteren Fortgang der Wesenslogik wird diese voraussetzende und dann äußere

    Reflexion freilich doch noch zur bestimmenden Reflexion, d. h. einer Reflexion,

    die ihren Gegenstand erreicht und bestimmt, und diese bestimmende Reflexionist ein wahres Wunderding und ein Zauberkniff. Ich werde gleich etwas zu ihr

    sagen, weil sie für die Wesenslogik im Methodischen so zentral ist. Aber zuvor

    noch ein Wort über unsere Kaffeemühle und das Kaffeemehl, das sie immer schon

    mahlt. Auch in dieser Rücksicht gibt es Neues und Wundersames zu vermelden.

    Die WdL ist das Versprechen einer streng voraussetzungslosen Theorie.

    Daher musste an ihrem Anfang ein Gedankeninhalt gefunden werden, der voll-

    kommen neutral und alternativlos ist und in jedem beliebigen Gedanken mitge-

    dacht wird, den also auch der wildeste Skeptiker nicht in Abrede stellen kann.Dieses schlechthin Unwegdenkbare war das reine Sein. Mit ihm zu beginnen,

    war die minimale, denkbar schwächste Voraussetzung, aber eine Vorausset-

    zung für das reine Denken eben doch noch, nämlich etwas Unmittelbares, dem

    Denken Gegebenes. In der Seinslogik war insofern das Ideal der strengen Vor-

    aussetzungslosigkeit noch nicht vollständig verwirklicht, sondern wir mussten

    für das reine Denken aus unserer Hintergrundtheorie das unmittelbare Sein und

    die Operation der Negation mitbringen, und sei es auch im Doppelpack auf einen

    Schlag. Sonst wäre das reine Denken nicht in Gang gekommen. Diese beiden the-oretischen Investitionen mochten so alternativlos sein, wie nur irgend möglich;

    dennoch waren es Investitionen, Vorgaben, äußere Mitbringsel. Eine von ihnen

    sind wir nun im Nachhinein, nämlich im Übergang zur Wesenslogik, losgewor-

    den. Was wir als Unmittelbares mitbrachten, hat sich als Erzeugnis der Opera-

    tion der Negation erwiesen. Es ist keine Investition mehr, sondern ein Profit, ein

    Produkt der Theoriebildung.

    Das ergibt ein neues Bild unserer Kaffeemühle. Wir brauchen kein Mahlgut

    zu kaufen, weder separat beim Kolonialwarenhändler noch auch vorgemahlen,

    immer schon, in der laufenden Mühle; sondern die Mühle läuft leer und erzeugt

    im Leerlauf ihr Mahlgut: den nichtigen Schein, der sich in der Folge einteilen lässt

    in die Reflexionsbestimmungen der Identität und des Unterschiedes und hinter

    dem das Wesen als seine wahre Quelle der Entdeckung harrt. Die Operation der

    Negation erweist sich so in ihrer Zirkularität als generativ und autark. Sie sorgt

    für sich selber und gibt sich ein Operandum, an dem sie operieren, das sie negie-

    ren kann.

    Nun zu dem anderen, schon angekündigten Punkt: dem Wunder der bestim-

    menden Reflexion. Auch sie ist, wie die gerade betrachtete autarke Negation, ein

    Charakteristikum des Wesens und verdient auch daher unsere besondere Auf-

    merksamkeit (da ja die Mittelstellung des Wesens unser Thema ist). Wir müssen

    ein wenig weiter ausholen, um sie angemessen würdigen zu können.

  • 8/16/2019 (Hegel-Jahrbuch Sonderband 8) Andreas Arndt, Günter Kruck-Hegels „Lehre Vom Wesen“-Walter de Gruyter (2016)

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      Die Mittelstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff 17

    In der Seinslogik kam das reine Denken mit seinem Gegenstand, dem Sein

    in den Gestalten wechselnder logischer Ursachverhalte, zusammen. Die soge-

    nannten Qualia in der heutigen Philosophie des Mentalen sind dafür ein lehrrei-

    ches Beispiel. Man stellt sich unter den Qualia so etwas vor wie die Hume’schenSinneseindrücke, und in jedem dieser Eindrücke geht das empfindende Subjekt

    völlig auf, verliert sich in ihm in einer völligen Subjekt-Objekt-Indifferenz, aus der

    Hume denn auch weder die Objektivität noch die Subjektivität, weder die Sub-

    stanz und ihre Kausalität noch das Selbst wiederherzustellen vermochte. Wenn

    man mit Qualia anfängt und Empirist bleibt, gibt es nachher keine Substanz,

    keine Ursache, kein Selbst mehr. Im ersten Abschnitt der Seinslogik haben wir

    natürlich nicht mit vielen sinnlichen Qualia, sondern mit dem einen und einzigen

    logischen Quale zu tun, dem bestimmten Dasein oder der Qualität als solcher, inder alle relevanten Differenzen (von Substanz und Akzidens, Subjekt und Objekt)

    noch ganz unkennntlich sind. Das reine Denken des Daseins bzw. der Qualität ist

    versenkt in seinen Gegenstand und ganz eins mit ihm.

    Im ersten Abschnitt der Wesenslogik hingegen haben wir statt dessen den

    Schein. Nur mit ihm ist das reine Denken nunmehr eins. Aber der Schein ist

    gerade nicht der intendierte Gegenstand des Denkens; dieser ist vielmehr das

    unbekannte Wesen hinter der Spiegelfassade des Scheins. Ganz von ferne noch

    beginnt sich hier die Subjekt-Objekt-Dualität abzuzeichnen. Das Denken ist ininkonsistenten Schein verwickelt, der in seiner Haltlosigkeit aus sich hinausweist

    auf das Wesen, das er nicht ist (sondern als dessen bloßes Scheinen in sich er sich

    erweisen wird). Das Denken setzt sich dieses unbekannte Wesen als seinen inten-

    dierten, aber noch unerreichten Gegenstand voraus, setzt ihn als nicht gesetzt,

    als unabhängig von seinem Setzen bestehend, und wird in Beziehung auf ihn

    zur äußeren Reflexion. Wie aber soll die äußere Reflexion ihr Vorausgesetztes je

    erreichen und es je bestimmen können?

    Die Wesenslogik insgesamt ist die Theorie darüber, wie es geht. Im ersten

    Abschnitt bleibt sie ganz auf der Seite des Scheins, der Reflexion des Denkens

    in sich. Die Reflexion in anderes, die dabei natürlich auch vorkommt, bewegt

    sich hier ebenfalls in der Binnensphäre des Scheins: Dem Denken steht nicht die

    Sache, sondern der einen Reflexionsbestimmung, Identität , steht die korrelative

    Reflexionsbestimmung, Unterschied, gegenüber; die Sache, das eigentlich Reale

    oder wie immer man es nennen will, ist ganz aus dem Blick geraten. Die Binnen-

    reflexion des Scheins ist bislang nur setzend, noch nicht voraussetzend, noch

    nicht äußerlich in Beziehung auf ein Vorausgesetztes und erst recht noch nicht

    bestimmend. Doch die wohlartikulierte Binnensphäre des Scheins spitzt sich zu

    zum Gegensatz  und weiter zum Widerspruch und geht schließlich in der Refle-

    xionsbestimmung des Widerspruchs zu Grunde (wie Hegel sich ausdrückt); sie

    verliert dabei erstens ihre interne Gliederung und sinkt zweitens in den unbe-

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    18  Anton Friedrich Koch

    kannten, abgründigen Fundus, der bisher nur ein Vorausgesetztes war. Das reine

    Denken kommt nun also, zu Grunde gehend, in eben jenem Grund an, der die

    Inkonsistenz des Widerspruchs auffängt und ins Produktive wendet, indem er in

    der Folge die Existenz aus sich freisetzt.Der zweite Abschnitt der Wesenslogik untersucht dann die freigesetzte

    Existenz in ihrem Verhältnis zur Essenz, zunächst als Verhältnis von Ding und

    Eigenschaften, dann von erscheinender und wesentlicher Welt und schließlich

    als das gesetzte und wesentliche Verhältnis: von Ganzem und Teilen, Kraft und

    Äußerung, Innerem und Äußerem. Hier nun ist die Reflexion, die das Denken

    vorantreibt, voraussetzend und versucht, ihr Anderes zu erreichen, zu dem sie im

    Verhältnis steht. Am Ende erreicht sie es tatsächlich und wird ipso facto bestim-

    mend, nämlich in der „Einheit des Wesens und der Existenz oder des Innerenund des Äußeren“ ( Enzyklopädie § 142), die im dritten Abschnitt der Wesenslogik

    unter der Überschrift „Wirklichkeit“ behandelt wird.

    Bestimmend wird die vormals äußere Reflexion, sobald sie ihren Gegen-

    stand endlich nicht mehr nur anzielt, sondern wirklich erreicht. Was es damit

    auf sich hat und inwiefern dieses Erreichen und Bestimmen höchst wundersam

    ist, möchte ich nicht an Hegel, sondern an Kant erläutern (den Hegel in diesem

    Punkt weit unter Wert zu interpretieren und kritisieren beliebt). Kants kopernika-

    nische Wende besteht nach meiner Überzeugung nicht darin, dass er lehrte, wirrichteten die Objekte nach unseren Verstandesbegriffen aus. Vielmehr beweist er

    in der transzendentalen Deduktion umgekehrt, dass unsere Verstandesbegriffe

    objektiv gültig sind, was ja heißen muss, dass die Objekte selber sich ohne unser

    Zutun immer schon nach ihnen gerichtet haben. Unsere subjektiven Verstandes-

    begriffe sind immer schon ihre  objektiven kategorialen Bestimmungen. Freilich

    können wir, wie Hume gezeigt hat, die kategorialen Bestimmungen nicht rezeptiv

    erkennen; sie werden uns nicht gegeben. Also können wir sie überhaupt nicht

    erkennen, hatte Hume geschlossen. Kant aber ist weniger defätistisch. Was wir

    nicht rezeptiv von den Dingen empfangen, müssen wir spontan auf die Dinge pro-

    jizieren, aber nicht als etwas den Dingen Fremdes, sondern als deren eigene kate-

    goriale Struktur. Unsere spontane Projektion der Logik auf die Dinge ist insofern

    eine konservative, keine erfinderische oder revisionäre Projektion.

    Mein Lieblingsbeispiel für eine konservative Projektion ist das Lesen. Ein

    Nichtleser und eine Leserin stehen vor einer Inschrift, und beide sehen dasselbe.

    Aber die Leserin projiziert spontan und unwillkürlich einen sprachlichen Sinn

    in das, was sie sieht, der Nichtleser nicht. So projizieren Sprecher spontan und

    unwillkürlich eine kategoriale Struktur in die Dinge, rein indem sie über die

    Dinge reden; Nichtsprecher tun das nicht. Was die Leserin in den Text projiziert,

    ist objektiv in ihm vorhanden: Sie liest genau das, was dort geschrieben steht.

    Ebenso projizieren auch Sprecher genau die kategoriale Struktur in die Dinge, die

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      Die Mittelstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff 19

    objektiv in ihnen liegt, die man aber nicht rezeptiv in sinnlicher Wahrnehmung

    an ihnen erkennen kann.

    Wie genau Kant beweist, dass die konservative Projektion der Logik auf die

    Welt möglich und verlässlich ist, braucht uns hier nicht zu interessieren. Raumund Zeit spielen eine zentrale Rolle im Beweis: Was in die Existenz tritt, tritt in

    Raum und Zeit, die ihrerseits notwendig kategorial vorstrukturiert sind. Aber wie

    gesagt, das ist ein anderes Thema. Worauf es gegenwärtig ankommt, ist folgen-

    des: Kants konservative Projektion ist ein Beispiel (vielleicht das Beispiel par

    excellence) der bestimmenden Reflexion. Die bestimmende Reflexion bleibt ganz

    bei sich und erreicht dennoch ihr vorausgesetztes Anderes, das insofern aufhört,

    vorausgesetztes Anderes zu sein, und sich mit der Reflexion zu derjenigen Einheit

    zusammenschließt, die Hegel die Wirklichkeit  nennt.Die wesenslogische Negation, um zu ihr zurückzukehren, hat kein erstes

    Unmittelbares, an dem sie operiert, sondern zehrt in Autarkie sich gleichsam

    selber auf und verwandelt sich dabei in Wirklichkeit. Das entspricht einer leer-

    laufenden Kaffeemühle, die dennoch eine Ausgabe liefert, weil sie sich allmäh-

    lich selber mahlend verzehrt und neu ausgibt. So entsteht aus reiner Negativität

    substantielles Sein. Wir kaufen eine Kaffeemühle ohne Kaffee, setzen sie in Gang

    und am Ende haben wir Kaffeemehl und keine Mühle mehr oder vielmehr eine

    Mühle aus lauter Kaffeemehl. Dieses faktische Sich-selbst-Zermahlen und Sich-selbst-Ermahlen der Mühle, das Sich-selbst-Verzehren und Sich-neu-aus-sich

    selbst-Aufbauen der Negation ist in der Begriffslogik dann eigens gesetzt. Die Mit-

    telstellung des Wesens zwischen Sein und Begriff besteht also eben darin, dass

    im Wesen auch noch die Unmittelbarkeit der Vermittlungsoperation als solcher

    abgebaut und in reine Selbstvermittlung umgeformt wird.

    Mit anderen Worten, am Ende der Wesenslogik ist der Schein der Gegeben-

    heit und Undurchsichtigkeit der Negation abgearbeitet und durchschaut. Im

    Übergang zur Begriffslogik erweist sich die Negation als nicht nur autark oder

    autonom, sondern auch als absolut, nämlich als ganz und gar durch sich selbst

    vermittelt. Die Mühle „er-mahlt“ nicht nur ihr Mahlgut, sondern „er-mahlt“ auch

    sich selbst. Nicht nur der Gang zum Kolonialwarenhändler, sondern auch der

    zum Haushaltswarenhändler war in gewissem Sinn überflüssig.

    Dies ist nun, gemessen am Programm einer streng voraussetzungslosen

    Theorie, wirklich ein hocherfreuliches Ergebnis. Denn es erweist sich ja nun

    auch die zweite Investition, die wir anfangs tätigen mussten, als theoretischer

    Profit, und das Versprechen der Voraussetzungslosigkeit wird damit zur Gänze

    eingelöst. Wir gingen aus von beliebigen Wahrheitsansprüchen bzw. von der

    Aussage als dem sprachlichen Ort der Wahrheitsansprüche und taten so, als ver-

    stünden wir, was Wahrheitsansprüche sind. Durch Abstraktion schufen wir den

    gemeinsamen Kern aller Aussagen und machten ihn zum singulären logischen

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    20  Anton Friedrich Koch

    Ursachverhalt, genannt das reine Sein. Wir wussten aber gar nicht, was wir da in

    die Hand genommen hatten. Das Wenige, was wir wussten, reichte gerade nur

    aus, um fortzufahren, nämlich die allersimpelste Wahrheitsoperation, die Nega-

    tion, ins Spiel zu bringen. Kurz, unser Vorverständnis der voraussetzungslosenTheorie begann bei der Aussage und bei der aussagenlogischen Negation und

    führte uns in die WdL hinein. Jetzt, in der Begriffslogik, hat sich die Richtung

    des Verstehens umgekehrt. Das, was Hegel den Begriff  nennt, entspricht der sich

    selbst ermahlenden Kaffeemühle, und dieser Begriff liefert uns das Verständnis

    der logischen Grundoperation, aus der wir am Ende auch die aussagenlogische

    Negation verstehen müssen.

    Im Begriff sind Gesetztsein und An-und-für-sich-Sein, wie Hegel erklärt,

    identisch geworden. Das Stadium der Reflexion und des Setzens, welches daswesenslogische Stadium war, ist überwunden. Der Begriff oder der Logos, d. h.

    das Prinzip der Propositionalität, ist diejenige Relation, die zwischen sich und

    sich besteht, oder diejenige Operation, die sich zur Eingabe und zur Ausgabe

    hat, eben die Kaffeemühle, die sich selbst ermahlt und zermahlt. Nun ist das

    Denken wieder ganz bei seinem Gegenstand, der es selber ist, nachdem es in

    der Wesenslogik vom Gegenstand zunächst völlig getrennt und bei sich nur als

    bei dem absoluten Schein war, daraufhin sich seinen Gegenstand nur voraus-

    setzte und äußerlich auf ihn reflektierte und zuletzt ihn in einer konservativenProjektion bestimmte. Diese bestimmende Reflexion war schon beinahe das Mit-

    sich-Zusammengehen des Denkens mit sich als seinem Gegenstand; aber erst im

    Begriff ist dieses Zusammengehen nun gesetzt und zugleich das Programm der

    voraussetzungslosen Theorie vollständig eingelöst. Das unmittelbare Sein des

    Anfangs verstehen wir jetzt als die äußerste Schwundstufe des in sich wohlarti-

    kulierten Begriffs, und die Negation, die wir aus der Aussagenlogik übernehmen

    und dem Sein anpassen mussten, verstehen wir ebenfalls aus dem und als den

    Begriff, als seine interne Artikulation nämlich.

    Es gibt den dummen Spruch von der Sünde ohne Reue; aber etwas ganz

    Ähnliches soll hier nun tatsächlich erreicht sein: eine Negation ohne harte Anti-

    nomie. Wir brauchen die Negation, wie schon Parmenides sah, als Prinzip der

    Bestimmung, der Gliederung, der Vielheit und der Prozessualität. Aber der Preis

    der Negation ist die harte Antinomie; deswegen verbannte Parmenides sie aus

    dem logischen Raum. Im Begriff aber verspricht uns Hegel die durchsichtige und

    freie Negation: nur noch Gliederung ohne Antinomie. Se non è vero, è ben trovato.

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    Christian Iber

    Hegels Begriff der Reflexion als

    Kritik am traditionellen Wesens- undReflexionsbegriff 

    In meinem Beitrag¹  möchte ich das Spezifische von Hegels Reflexionsbegriff

    in fünf Schritten beleuchten. In einem ersten Schritt wird eine Skizze des

    Reflexionsbegriffs in Hegels Wesenslogik entworfen. In einem zweiten Schritt

    wird Hegels Begriff der Reflexion als objektive logische Struktur im Kontrast

    zur subjektiven Reflexion des Bewusstseins und des Verstandes dargestellt,

    womit zugleich der ontologische, reflexionsunabhängige Wesensbegriff einer

    Kritik unterzogen wird. Aus Hegels neuem Konzept der Reflexion ergibt sich

    drittens eine radikale Umdeutung des fehlerhaften Zirkels in der traditionellen

    Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins. In einem vierten Schritt wird ein

    Blick auf Hegels früheren Reflexionsbegriff als trennendes Verstandesdenken

    geworfen, von dem sich Hegels späterer Reflexionsbegriff abhebt. Schließlich

    wird fünftens Hegels Reflexionslogik als Kritik der ontologischen Fundierung der

    Reflexion bei Schelling vorgestellt. Hegels Reflexionsbegriff erweist sich dadurch

    als Kritik der traditionellen ontologischen Metaphysik und als Fundierung einerMetaphysik absoluter Relationalität, die die bloße Relativität des modernen Ver-

    standesdenkens überwindet.

    1 Skizze des Reflexionsbegriffs in

    Hegels Wesenslogik 

    Das Wesen ist der Nachfolgerbegriff des Seins. Indem das Sein am Ende der

    Seinslogik in der Kategorie der absoluten Indifferenz an die Grenze der Expli-

    kation seiner Bestimmungen (Qualität, Quantität und Maß) kommt und damit

    zugleich an die Grenze seiner Selbstexplikation stößt, macht es eine neue univer-

     Bei der vorliegenden Abhandlung handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines Ab-

    schnitts meiner Dissertation:  Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beidenersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik , Berlin/New York 1990, 131–141. Der Artikel ist auch auf

    Portugiesisch erschienen: Christian Iber, „O conceito de reflexão de Hegel como crítica aos con-

    ceitos de essência e de reflexão tradicionais“, in: Revista Opinião Filosófica, Porto Alegre, v. 05;

    n°. 01 (2014), 7–23.

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    22  Christian Iber

    sale Erklärungsform von Bestimmungen notwendig, die den Mangel der Erklä-

    rungsform des Seins überwindet. Das Wesen ist das Erklärungsprinzip solcher

    Bestimmungen, die sich wechselseitig auseinander erklären. Die Wesenslogik

    untersucht diese Bestimmungen deshalb als zweistellige Relationsbegriffe (Iden-tität-Unterschied, Positives-Negatives. Grund-Begründetes, Ding-Eigenschaft,

    Ganzes-Teile, Inneres-Äußeres, Ursache-Wirkung etc.).

    Aufgabe des ersten Kapitels der Wesenslogik ist es einen Wesensbegriff zu

    entwickeln, der aus sich selbst heraus entwicklungsfähig ist. Erst als Reflexion

    ist das Wesen das „ An-und-Fürsichseyn“ (GW 11, 242) oder eine für sich autonome

    logische Struktur, der die Bewegungsweise der „Selbstbewegung“ (GW 11, 249)

    zugeschrieben wird. Die Reflexion ist der Titel des dritten Abschnitts C des ersten

    Kapitels der Wesenslogik.Das erste Kapitel der Wesenslogik ist der Versuch, sich mit Argumenten auf

    den Standpunkt der absoluten Reflexion als einer objektiven logischen Struktur

    zu stellen. Die absolute Reflexion stellt die unhintergehbare Erklärungsform alles

    Wirklichen dar, die die Erklärungsform des Seins, die nur für regionale Bereiche

    der Wirklichkeit (Qualität, Quantität und Maß) zuständig ist, überwindet.

    Die Reflexion ist die Zirkelbewegung von Nichts zu Nichts, welche dadurch

    zu sich zurückkehrt (vgl. GW 11, 249). In dieser Kreisbewegung steckenzubleiben,

    wäre jedoch der „Kollaps“² des gesamten logischen Prozesses. Doch enthält siein ihr selbst die Notwendigkeit ihrer Fortbestimmung, denn sie ist als eine Bewe-

    gung zu verstehen, die sich als Bewegung selbst aufhebt und so Bestimmtheit

    konstituiert. Es ist das ihr selbst eigene Bewegungsgesetz, von sich selbst zu abs-

    trahieren und sich selbst als ein Sein vorauszusetzen. Daraus ergibt sich mit Not-

    wendigkeit eine Erweiterung des Reflexionsbegriffs.

    In einem Vorspann zu Abschnitt „C.  Die Reflexion“ des ersten Kapitels der

    Wesenslogik gibt Hegel – wie üblich – einen Überblick über die zu erwartende

    logische Entwicklung. Die Reflexion entfaltet sich als „setzende“, „äußerliche“

    und „bestimmende Reflexion“:

    „Diese reine absolute Reflexion, welche die Bewegung von Nichts zu Nichts ist, bestimmt

    sich selbst weiter. Sie ist erstlich setzende  Reflexion; sie macht zweytens den Anfang  von dem

    vorausgesetzten Unmittelbaren, und ist so äusserliche Reflexion. Drittens aber hebt sie diese

    Voraussetzung auf, und indem sie in dem Aufheben der Voraussetzung zugleich vorausset-

    zend ist, ist sie bestimmende Reflexion.“ (GW 11, 250)

      Vgl. Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion“, in: D. Henrich, Hegel im Kontext , Frankfurt

    am Main 1971, 116; ebenso Dieter Henrich, „Hegels Logik der Reflexion. Neue Fassung“, in:  He-

     gel-Studien, Beiheft 18, Bonn 1978, 270; und im Anschluss an Henrich: Michael Theunissen, Sein

    und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik , Frankfurt am Main 1978, 325 f.

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      Hegels Begriff der Reflexion 23

    Wie sich in der Durchführung der Reflexionslogik zeigt, ist dieser Dreischritt tat-

    sächlich in groben Zügen richtig, doch wird er in eine wesentlich komplexere Ent-

    wicklung eingebaut:

    1. Als setzende Reflexion (Abschnitt C.1) entwickelt sich die Reflexion zurEinheit von Setzen und Voraussetzen.

    2. Die Verdoppelung der Reflexion – dies, dass sich die Reflexion im Aufheben

    ihrer selbst selbst voraussetzt – bildet nicht nur die Voraussetzung für den

    Übergang zur bestimmenden Reflexion, sondern ist konstitutive Bedingung

    schon für die äußere Reflexion (Abschnitt C. 2). Schon im Abschnitt über die

    setzende Reflexion kommt es also zur Selbstaufhebung und zur Verdoppe-

    lung der Reflexion.

    3. Erst die Identifikation der Reflexion und ihrer Voraussetzung, die selbst einFall von Reflexion ist, durch die Reflexion selbst, führt zur bestimmenden

    Reflexion (Abschnitt C. 3).

    Diese Mangelhaftigkeit der Vorankündigung ist insofern nicht gravierend, als

    Hegel auf solche Überblicke keinen gesteigerten Wert legt: An mehreren Stellen

    der Logik hat er sie als äußerliche Reflexion und nicht zur Sache gehörig abgetan

    (vgl. GW 11, 25 f.).³ 

    2 Reflexion als objektive logische Struktur 

    Traditionell wird Reflexion als Tätigkeit des Bewusstseins, des reflektierenden

    Verstandes oder als mentale Tätigkeit eines vorausgesetzten Subjekts gefasst.

    Hegels Reflexionsbegriff dagegen deckt sich weder mit der Reflexion des Bewusst-

    seins noch mit der des Verstandes. Seine Darstellung gilt dem Begriff der Refle-

    xion als solchem:

    „Es ist aber hier nicht, weder von der Reflexion des Bewußtseyns, noch von der bestimm-

    tern Reflexion des Verstandes, die das Besondere und Allgemeine zu ihren Bestimmungen

    hat, sondern von der Reflexion überhaupt die Rede.“ (GW 11, 254)

     Zur Logik von setzender, äußerer und bestimmter Reflexion, vgl. Christian Iber 1990, a. a. O.

    (Anm. 1), 142–218. Vgl. auch Gerhard M. Wölfle, Die Wesenslogik in Hegels Wissenschaft der Logik.

    Versuch einer Rekonstruktion und Kritik unter besonderer Berücksichtigung der philosophischen

    Tradition, Stuttgart/Bad Cannstatt 1994, 123–131.

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    24  Christian Iber

    Dieses Programm ergibt sich aus der systematischen Stellung und der Natur von

    Hegels Wissenschaft der Logik : Die Logik ist Darstellung des „reinen Denkens“

    (GW 11, 30), das sich vom „Gegensatze des Bewußtseyns“ (GW 11, 31) frei gemacht

    hat. Die Kategorien treten hier nicht mehr als Eigenschaften des Bewusstseinsoder als Funktionen des Selbstbewusstseins auf wie bei Kant und Fichte, sondern

    bilden die „Momente des objektiven Denkens“. Der Begriff des Logischen ist für

    Hegel das „Element“ (GW 11, 30), in welchem die Denkbestimmungen an und für

    sich betrachtet werden. Als solche bilden sie eine eigene Dimension von Wirklich-

    keit, die sowohl von der weltlichen Realität als auch von der Realität des subjek-

    tiven Bewusstseins unterschieden ist, doch so, dass in ihnen zugleich alle Wirk-

    lichkeit, sei es die des subjektiven Bewusstseins oder die der objektiven Welt, in

    ihren Formverhältnissen vorgebildet ist. Das Logische ist daher „die allgemeineWeise, in der alle besonderen aufgehoben und eingehüllt sind.“ (GW 12, 237)

    Hegel entwickelt in der Wissenschaft der Logik   erstmals einen Reflexions-

    begriff, der die immanente Bewegung des objektiven Denkens darstellt und so

    die ‚eigene Reflexion des Begriffs‘ bezeichnet. Damit setzt die Logik einen radi-

    kalen „Bedeutungswandel von Reflexion“ voraus. Was ist das spezifisch Neue

    des Reflexionsbegriffs in Hegels Logik? Das Neue an Hegels Reflexionsbegriffs

    ist durch drei Momente gekennzeichnet: 1. Die Reflexion tritt als eine gegenüber

    dem Bewusstsein verselbständigte „objektive logische Struktur“ auf. 2. Mit derAblösung der Reflexion vom reflektierenden Subjekt wird diese zur objektiven

    Bewegung der Denkbestimmungen. Die Entwicklung der Denkbestimmungen

    durch ihre eigene Reflexion erfolgt ohne Rückbezug auf ein denkendes Subjekt.

    3. Die Darstellung der Kategorienbewegung in der Wissenschaft der Logik  beruht

    auf der logischen Bewegung der „absoluten Reflexion“, welche sich als systema-

    tische Einheit von setzender, äußerer und bestimmender Reflexion darstellt.

      Walter Jaeschke, „Äußerliche und immanente Reflexion“, in: Hegel-Studien 13 (1978), 86.

     Ebd., 95.

     Alexander Schubert, Der Strukturgedanke in Hegels „Wissenschaft der Logik“ , Königstein 1985,

    66.

      Vgl. ebd. 69. Die meisten Interpretationen der Logik der Reflexion fassen Reflexion bei Hegel

    vornehmlich im traditionellen subjektiven Sinn als Darstellung des Verhältnisses des Ich zu sich

    selbst und zu seinem Gegenstand. Nach Henrich entfaltet die Reflexion die Grundstruktur des

    Ich = Ich (Henrich, „Hegels Logik der Reflexion“, a. a. O., Anm. 2, 134). Wetzel sieht die Reflexion

    als Akt der Selbsterzeugung und Selbstvergegenständlichung des subjektiven Denkens an. Er

    spricht daher von sich setzender und sich voraussetzender Reflexion (Manfred Wetzel, Reflexionund Bestimmtheit in Hegels Wissenschaft der Logik , Hamburg 1971, 50–60). Ebenso sieht Reisin-

    ger in Hegels Begriff der Reflexion die reflexive Struktur des Ich (Peter Reisinger, „Reflexion und

    Ichbegriff“, in: Hegel-Studien 6 (1971), 231–265). Vgl. in diesem Sinne auch Robert Pippin, Hegel’s

     Idealism: The Satisfactions of Self-Consciousness, Cambridge 1989, 201. Allein Schubert bildet

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      Hegels Begriff der Reflexion 25

    Hegels Begriff der Reflexion beruht also auf der Abstraktion vom Bewusst-

    sein. Die Ablösung des Reflexionsbegriffs vom reflektierenden Subjekt erlaubt

    es Hegel den Begriff der Reflexion mit dem des Absoluten zu identifizieren. Vor-

    aussetzung dafür ist, dass der mentale Akt ‚Reflexion‘ auf den logischen Sinnder „Reflexion überhaupt“ zurückgeführt ist. Hegels Begriff der Reflexion (und

    nebenbei bemerkt auch der der Subjektivität) ist emphatisch antisubjektivistisch

    und antipsychologisch. Der Begriff der „Reflexion überhaupt“ impliziert wei-

    terhin die Entdeckung einer sich in allen Kategorien durchhaltenden logischen

    Struktur, die die Funktion des Denkens als solchem ist. Es ist dies nach Hegel

    der Gedanken der selbstbezüglichen Negativität. Allgemein ist daher der logische

    Begriff der Reflexion als Verhältnis von Selbstbeziehung und Negation bestimmt.

    Die Entdeckung des die interne Bewegung der Kategorien allein tragendenGedankens der „Reflexion überhaupt“ führt zu einer generellen Ausweitung

    des elementaren Begriffs der logischen Reflexion. Nachdem die Fundierung des

    logischen Prozesses in der Wissenschaft der Logik   in unserer äußeren Reflexion

    entfällt und alle Kategorien in ihrer eigenen Reflexion betrachtet werden, die

    gesamte Bewegung des Begriffs also auf die Bewegungsweise der Reflexion über-

    haupt zurückgeführt ist, gewinnt der Reflexionsbegriff generelle Bedeutung für

    die Logik, so dass er als solcher gerechtfertigt werden muss.

    Der Anfang der Wesenslogik ist nun der Ort, an dem der Reflexionsbegriffals solcher zur Darstellung kommt. In einem ersten Schritt wird gezeigt, dass

    die Reflexion als Grund der logisch-kategorialen Bestimmtheit dem Begriff des

    Wesens nicht äußerlich ist. Damit wird zugleich der Begriff des Wesens der tradi-

    tionellen Ontologie überwunden, der zufolge das Wesen das substantielle, refle-

    xionsunabhängige wahre Sein ist. In einem zweiten Schritt wird der Reflexions-

    begriff als formales Objekt entfaltet. Die Logik entwickelt die Formverhältnisse

    des Begriffs der Reflexion als solchen. In einer solchen Betrachtung versammelt

    sich nach Hegels Auffassung die innere Logizität alles dessen, was mit der „Refle-

    xion überhaupt“ zusammenhängt. Es wird also die bestimmende logische Struk-

    tur der kategorialen Bewegung als solcher untersucht.

    hier eine Ausnahme. Er fasst Hegels Reflexionsbegriff als „objektive logische Struktur“ (Alexan-

    der Schubert, Der Strukturgedanke in Hegels Wissenschaft der Logik , a. a. O., Anm. 6, 66). Wenige

    neuere Interpretationen folgen dieser Einsicht. Vgl. Stephen Houlgate, „Essence, Reflexion and

    Immediacy in Hegel’s Science of Logic“, in:  A Companion to Hegel, hg. v. Stephen Houlgate u.

    Michael Baur, Oxford 2011, 142. Bei der spekulativ-dialektischen Darstellung des Reflexionsbegriffs verwendet Hegel formale

    Begriffe wie z. B. Setzen und Voraussetzen, Negativität und Unmittelbarkeit usw. Sie sollen die

    Gedankenschrittfolge der formalen Verhältnisse, in denen sich der Reflexionsbegriff entwickelt,

    erklären. Sie müssen sich selbst aus dem logischen Bereich rechtfertigen, auf den sie angewen-

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    26  Christian Iber

    In den seinslogischen Kategorien ist die im Reflexionsbegriff gedachte Ver-

    mittlung nur an sich, noch nicht gesetzt . Erst in der Wesenslogik wird die eigene

    Reflexion des Begriffs als Reflexion thematisch. Die hier zum Thema gemachte

    „Reflexion überhaupt“ hat nun keineswegs „logisch-ontologischen Sinn“ und„substantiale“ Bedeutung, wie Jaeschke meint. Im Gegenteil: Erst nach der Auf-

    hebung aller positiven Bestimmtheitsverhältnisse der ontologischen Kategorien

    des Seins in die absolute Negativität des Wesens tritt die Reflexion für sich hervor.

    Der spezifische Hegelsche Begriff der Reflexion konstituiert sich also im Rahmen

    eines ontologiekritischen Begriffs des Wesens als absoluter Negativität.

    Die „Reflexion“ steht deshalb im Zentrum der Wissenschaft der Logik , weil sie

    als Bewegung von Nichts zu Nichts die zentrale Funktion des Kategoriensystems

    darstellt. Sie ist die reine Bewegungsform des Denkens als solchem. In der Logikder Reflexion wird also die Bewegungsweise der Reflexion als solcher und damit

    der Gesamtzusammenhang der Logik thematisch gemacht. Die Reflexion ist die

    systematische Konstitution der Denkbestimmungen als Denkbestimmungen, die

    Bewegung des Übergehens der Denkbestimmungen ineinander und schließlich

    die Herstellung ihres systematischen Zusammenhangs untereinander. Ihre logi-

    sche Struktur bezeichnet Hegel als selbstbezügliche Negativität. Was im spekula-

    tiv-dialektischen Reflexionsbegriff also zur Debatte steht, ist demnach durchaus

    die Reflexion des Bewusstseins, die Beziehung eines reflektierenden Subjekts aufeinen Gegenstand und auf sich selbst, aber als reines Verhältnis von Unmittel-

    barkeit und Vermittlung im Rahmen von setzender, äußerer und bestimmender

    Reflexion. Das traditionell zugrunde gelegte Verständnis von Reflexion tritt dabei

    nur insofern in den Blick, als es kritisch auf den Prozess der absoluten Reflexion

    zurückgeführt wird (vgl. die „Anmerkung“ zur äußeren Reflexion GW 11, 254 f.).

    det werden. Hegels Kunst der formalen Begriffsbildung zeigt sich auch an den eigenartigen for-

    malen sprachlichen Mitteln, mit denen er die Sequenz der Begriffe aufbaut. Er will mit den ein-

    fachsten und formalsten sprachlichen Mitteln der Darstellung auskommen. Nur so scheint ihm

    gewährleistet, ohne weitere inhaltliche Daten oder Prämissen von außen hereinzubringen, denlogischen Zusammenhang der Denkbestimmung durchsichtig zu machen. Auch wenn Hegel in

    die eigentliche logische Darstellung öfter außerlogische Begriffe und Beispiele anführt, haben

    diese nur erläuternden, nicht argumentativen Charakter.

     W. Jaeschke, „Äußerliche und immanente Reflexion“, a. a. O. (Anm. 4), 111 u. 116.

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      Hegels Begriff der Reflexion 27

    3 Hegels Umdeutung des fehlerhaften Zirkels

    der traditionellen Reflexionstheorie des

    Selbstbewusstseins

    In der Tradition der Reflexionsphilosophie ist Reflexion immer als Funktion des

    Selbstbewusstseins, als wissende Selbstbeziehung des Ich oder des Subjekts

    begriffen worden. Hegel begreift sie als objektive Bewegungsform des reinen

    Denkens. Mit diesem Kunstgriff gelingt Hegel, womit Fichte sich sein Leben lang

    abgemüht hatte, die Überwindung der Aporien der klassischen Reflexionstheorie

    des Selbstbewusstseins. Nach dieser kommt die wissende Selbstbeziehung des

    Subjekts dadurch zustande, dass dieses sich durch Rückwendung auf sich selbstzum Gegenstand seiner selbst macht.¹ Da nun aber das Subjekt, auf das sich

    die Reflexion zwecks Selbstvergewisserung zurückwendet, bereits ein sich wis-

    sendes Ich sein muss, um sich auf sich zurückwenden zu können, gerät diese

    Theorie in den fehlerhaften Zirkel, in einer petitio principii das sich wissende Ich

    vorauszusetzen, das durch die Reflexion allererst zustande kommen soll. Kant

    hat diesen fehlerhaften Zirkel benannt¹¹, Fichte hat ihn mit Hilfe der Theorie der

    absoluten Tathandlung des Ich zu überwinden versucht¹², Hegel hat ihn in die

    prozessuale Zirkularität des Wesens spekulativ-dialektisch aufgehoben.Hegel nimmt den „verzweifelten Zirkel“¹³  Kants einfach positiv und denkt

    ihn zugleich radikal um. Günther spricht in diesem Zusammenhang von einer

    „unglaublich kühnen Wendung seines Denkens“¹:

    „Sonderbar ist der Gedanke – wenn es anders ein Gedanke genannt werden kann, – daß

    Ich mich des Ich schon bedienen  müsse, um von Ich zu urtheilen; das Ich, das sich des

    Selbstbewußtseyns als eines Mittels bedient , um zu urtheilen, diß ist wohl ein  x , von dem

    man, so wie vom Verhältnisse solchen Bedienens, nicht den geringsten Begriff haben kann.

    Aber lächerlich ist es wohl, diese Natur des Selbstbewußtseyns, daß Ich sich selbst denkt,daß Ich nicht gedacht werden kann, ohne daß es Ich ist, welches denkt, – eine Unbequem-

    lichkeit  und als etwas fehlerhaftes, einen Cirkel zu nennen; – ein Verhältniß, wodurch sich

    im unmittelbaren empirischen Selbstbewußtseyn, die absolute, ewige Natur desselben

      Vgl. Dieter Henrich, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, in: Subjektivität und Metaphysik. Fest-

    schrift für Wolfgang Cramer , hg. v. D. Henrich u. Hans Wagner, Frankfurt am Main 1966, 192.

      Kant, KrV B 404, A 346.

     Johann Gottlieb Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797), in: Fichtes Werke,hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Bd. 1, Berlin 1971, 458 f.

     Gotthard Günter, Grundzüge einer neuen Theorie des Denkens in Hegels Logik , Hamburg 1978,

    128.

     Ebd., 129

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    28  Christian Iber

    und des Begriffes offenbart, deßwegen offenbart, weil das Selbstbewußtseyn eben der

    daseyende, also empirisch  wahrnehmbare, reine  Begriff , die absolute Beziehung auf sich

    selbst ist, welche als trennendes Urtheil sich zum Gegenstande macht und allein diß ist,

    sich dadurch zum Cirkel zu machen.“ (GW 12, 194)

    Ironisch bemerkt Hegel: „Ein Stein hat jene Unbequemlichkeit  nicht“ (GW 12, 194).

    Hegel begreift das Selbstbewusstsein als die zirkuläre Bewegung des Denkens

    seiner selbst, indem er den Reflexionszirkel zugleich radikal uminterpretiert. Der

    Mangel der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins gründet ihm zufolge nicht

    darin, das Selbstbewusstsein als Zirkel zu begreifen, sondern in dem Bemühen

    es mittels Reflexion zu begründen, aber zugleich als unbedingtes zugrundelie-

    gendes Subjekt vorauszusetzen und so für seine Begründung durch Reflexion in

    einem fehlerhaften Zirkel bereits in Anspruch zu nehmen.Nach Hegel gehört die Zirkularität zum Wesen des Denkens als solchem und

    daher auch zur Natur des Ich. Seine Kritik richtet sich daher auch nicht gegen die

    Zirkularität als solche, sondern nur gegen die Fehlerhaftigkeit des Zirkels, „wie sie

    sich in der traditionellen Konzeption einstellt, indem diese das Subjekt als eine

    absolute Voraussetzung fixiert  und es eben nicht in die Bewegtheit des Ganzen

    integriert“.¹ Hegel löst  das zugrundeliegende Subjekt in die zirkuläre Bewegung

    des Denkens auf . Er entreißt die Reflexion dem ihr vermeintlich zugrunde lie-

    genden Subjekt und fasst sie als objektive Bewegungsform des Denkens auf, inwelcher sich das Subjekt allererst konstituiert, statt Konstitutionsbedingung zu

    sein.

    Hegels Reflexionsbegriff hebt somit den falschen Zirkel der traditionellen

    Reflexionsphilosophie in einem doppelten Sinne auf: Er beseitigt seine Fehler-

    haftigkeit, indem er ihn als prozessuale Zirkularität , als Bewegung von Nichts zu

    Nichts begreift. Dabei zeigt sich, dass jener falsche Zirkel der Reflexionsphilo-

    sophie seine Fehlerhaftigkeit keineswegs der Zirkularität als solcher verdankt,

    sondern im Gegenteil der Tatsache, dass die Zirkularität nicht als Prozess begrif-

    fen wird, indem die Momente des zirkulären Reflexionsprozesses gegeneinander

    fixiert und verselbständigt werden.

    Die „absolute Reflexion“ ist eine substratlose Bewegung und bedarf keines

    zugrundeliegenden Subjekts wie in der traditionellen Metaphysik und Transzen-

    dentalphilosophie. Die in sich gegenläufige Bewegung der Reflexion, die in der

    Seinslogik ansetzt und in der Wesenslogik zur Darstellung kommt, ist also, weit

    entfernt ein absolutes Ich Fichtescher Machart zu sein, die Bewegung, die „das

    Subjekt in den Zusammenhang der Denkbestimmungen auflöst“¹ und damit als

     A. Schubert, Der Strukturgedanke in Hegels Wissenschaft der Logik , a. a. O. (Anm. 6), 71.

     Michael Theunissen, Sein und Schein, a. a. O. (Anm. 2), 52.

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      Hegels Begriff der Reflexion 29

    Subjekt allererst konstituiert. Die Voraussetzung eines absoluten Subjekts als

    Konstitutionsbedingung aller Bewegung in der traditionellen Metaphysik und

    Transzendentalphilosophie wird somit als Schein entlarvt.

    Hegel setzt mit seiner Theorie der Reflexion die Einsicht Fichtes in die Tatum, dass die Schwierigkeiten der Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins auf

    dem Subjekt-Objekt-Modell des Bewusstseins beruhen. Fichte konnte jedoch zu

    einer endgültigen Überwindung der Reflexionstheorie nicht kommen¹, weil er

    seine Theorie der absoluten Tathandlung, die er zu ihrer Überwindung konzi-

    piert, ebenfalls nur im Rahmen des vorausgesetzten, unaufgehobenen Gegensat-

    zes von Ich und Nicht-Ich formuliert. Wie Henrich zeigt, scheitert Fichte letztlich

    daran, dass er am Grundbegriff des „Ich“ als identifizierender Selbstbeziehung

    festgehalten hat, „weil er daran glaubte, auf die Abhängigkeit des Selbst alleinvon sich und auf seine Beschreibung als autosuffiziente Tätigkeit keinesfalls ver-

    zichten zu können“.¹

    Hegel geht es darum, die Reflexionstheorie aus den Aporien des unreflektiert

    vorausgesetzten Gegensatzes von Ich und Nicht-Ich zu befreien, indem er ihn auf

    die absolute Reflexion zurückführt und als äußere Reflexion rekonstruiert. Die

    Auflösung der Aporien der Reflexionsphilosophie besteht nach Hegel also darin,

    dass das Absolute weder als subjektives Subjekt-Objekt wie beim frühen Fichte

    noch als objektives Subjekt-Objekt wie beim naturphilosophischen Schellingbegriffen wird, sondern als absolute Reflexion, die Subjekt und Objekt als nega-

    tive Momente der selbstbezüglichen Negativität im Rahmen der äußeren Refle-

    xion konstituiert.

    4 Hegels Reflexionsbegriff in seinen früheren

    Konzeptionen der Logik Jaeschke hat eine „Skizze der systematischen Geschichte des Reflexionsbegriffs

    in Hegels Logik-Entwürfen“¹ gegeben, die den in Hegels Begriff der Reflexion in

    der Wissenschaft der Logik  enthaltenen Bruch mit seinen früheren Konzeptionen

    der Reflexion zur Darstellung bringt. Der Begriff der absoluten Reflexion in der

     Vgl. Dieter Henrich, „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, a. a. O. (Anm. 10). Dieter Henrich, „Selbstbewusstsein. Kritische Einleitung in eine Theorie“, in:  Hermeneutik

    und Dialektik . Festschrift für Hans-Georg Gadamer, Bd. 1, hg. v. R. Bubner, K. Cramer und R.

    Wiehl, Tübingen 1970, 280 f.

     W. Jaeschke, „Äußerliche und immanente Reflexion“, a. a. O. (Anm. 4), 85.

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    30  Christian Iber

    Logik steht am Ende eines fundamentalen Bedeutungswandels des Reflexions-

    begriffs gegenüber Hegels früheren Logik-Entwürfen. Zunächst übernimmt Hegel

    den Begriff der Reflexion aus der Tradition und stellt ihm kontrastierend den

    Begriff der Spekulation als Einheit von Reflexion und Anschauung gegenüber.² Erst in der Wissenschaft der Logik  wird die Reflexion als absolute frei von jeder

    Anschauung zur Bewegungsform des spekulativ-dialektischen Denkens selbst.

    Mit dem Begriff der absoluten Reflexion hat sich Hegel weit von demjenigen

    Sinn der Reflexion entfernt, wonach Reflexion wesentlich auf trennendes Ver-

    standesdenken bezogen ist. Nach Hegels früher Konzeption von Logik und Dia-

    lektik²¹ tritt die Reflexion als auf die Endlichkeit der Verstandesbestimmungen

    fixiertes Denken auf. Die Logik hatte nach dieser Konzeption die Aufgabe, die

    endlichen Verstandesbestimmungen systematisch aufzustellen und in ihremGeltungsanspruch zu vernichten, damit die Wahrheit als das Absolute an ihr

    selbst zum Vorschein kommen kann. Begriff und Form des Absoluten mussten

    einem endlichen Verstandesdenken allererst abgerungen werden. Das Absolute

    selbst war nur einer die bloße trennende Reflexion transzendierenden „trans-

    zendentalen Anschauung“²² begreiflich. So war die Reflexion untergeordnetes,

    aber zugleich notwendiges Moment der spekulativen Erkenntnis des Absoluten,

    welche auf diese Weise „eine Art Synthese aus Reflexion und Anschauung“²³ 

    bildete. Die Reflexion war Vehikel einer Logik, die nur als unabdingbare, syste-matische Einleitung in die eigentliche Philosophie des Absoluten, die Metaphy-

    sik, diente.

    Später hat Hegel die Trennung von Logik und Metaphysik aufgehoben. Die

    spekulativ-dialektische Logik ist an sich selbst schon die eigentliche Metaphysik.

    Diese neue Systemkonzeption hat Konsequenzen für den Reflexionsbegriff. In der

    Wissenschaft der Logik  umfasst der Begriff der Reflexion nicht nur die Trennung

    und Fixierung endlicher Korrelate einerseits und die Aufhebung dieser Tren-

    nung und Fixierung andererseits, sondern auch noch diejenige reine Relation,

      Vgl. Klaus Düsing, „Spekulation und Reflexion“, in: Hegel-Studien 5 (1969), 95–128. Zur Ana-

    lyse der Entwicklung des Reflexionsbegriffs in Hegels Denken, vgl. Soon-Jeon Kang,  Reflexion

    und Widerspruch. Eine entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchung des Hegel-

    schen Begriffs des Widerspruchs, Bonn 1999.

     Vgl. Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwick-

    lungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik , Bonn 1976,

    75 ff.  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Phi-

    losophie (1801), in: GW 4, 27 ff.

      Thomas Kesselring,  Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im Lichte der geneti-

    schen Erkenntnistheorie und der formalen Logik , Frankfurt am Main 1984, 70.

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      Hegels Begriff der Reflexion 31

    in die alle Bestimmtheit zurück- und aus der alle Bestimmtheit hervorgeht. Erst

    der Begriff der absoluten Reflexion macht verständlich, inwiefern die endlichen

    Relate Momente eines absoluten Vermittlungszusammenhangs sind, welcher

    selbst als  Beziehung von Beziehung und Bezogenen  zu begreifen ist. Mit demBegriff der absoluten Reflexion als „reine[r] Beziehung , ohne Bezogene“ (GW 11,

    292) wird auch der Begriff einer transzendentalen Anschauung, auf die die Refle-

    xion als ihren vereinheitlichenden Grund angewiesen ist, hinfällig. Damit setzt

    sich Hegel in einen scharfen Gegensatz zu Schellings Theorie des Absoluten in

    der Identitätsphilosophie.

    5 Hegels Kritik der ontologischen Fundierung derReflexion bei Schelling 

    Schelling geht in der Identitätsphilosophie von einem prärelationalen, ontolo-

    gisch fundierten Absoluten aus, der absoluten Identität, die über aller Relatio-

    nalität liegt. Das Absolute ist nicht Produkt und Resultat der Selbstaufhebung

    der Opposition von Subjekt und Objekt. Mit dieser Annahme wäre für Schelling

    erstens der Gegensatz von Subjekt und Objekt der Ausgangspunkt und zweitenswürde das Absolute von einer Negation abhängig, von der Negation der Diffe-

    renz. Das Sein des Absoluten kann sich jedoch nicht auf ein Nicht-Sein gründen,

    sonst höbe sich das Absolute selbst auf.

    Das Absolute Schellings ist kein Produkt des „synthetisierenden Denkens“,

    kein „bloßes Gedankending“, sondern reine „Position“.² Das Absolute ist nur

    einfaches Eins, „keine Duplicität, nichts Zwiefaches“² und als solches nur der

    intellektuellen Anschauung zugänglich. Die Reflexion ist Trennung; sie erzeugt

    das Widerspiel von einem Reflektierenden und einem Reflektierten. In der Welt

    der Reflexion erscheint als getrennt, was in der absoluten Identität ewig Eins ist.

    Unterscheiden ist auch für Schelling negieren. Jedes der beiden Korrelate ist das

    Nichtsein des anderen. Was sie an Sein haben, haben sie durch das Nichtsein

    ihres Korrelats. Sie sind zwei „relative Negationen“², die ihres „Seins“ beraubt

    sind. Und „Sein“ kann nicht das Produkt der Beziehung eines Nichtseienden auf

      Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, „System der gesammten Philosophie und der Naturphi-losophie insbesondere (1804)“, in: F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, hg. v. K.F.A. Schelling,

    Stuttgart und Augsburg 1856–1861, Abt. I, Bd. 6, 163.

      Ebd.

     Ebd., 185.

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    ein anderes Nichtseiendes sein. Wenn Sein ist, so ist es nicht aus Reflexion. Diese

    wird „in aller Ewigkeit in diesem Cirkel begriffen sein werden, innerhalb dessen

    ein Nichts durch die Relation zu einem anderen Nichts Realität bekommt“.² Aber

    aus diesem Zirkel des Nichts kann nach Schelling kein Sein entstehen. Nun ist  aber Sein, also kann es nicht in Reflexion fundiert sein. Daraus ergibt sich für

    Schelling die weitergehende Folgerung: Das Sein, das nicht aus der Reflexion

    stammen kann, ist zugleich das Sein der Reflexion. Die Reflexion, die sich nicht

    auf das Sein gründete, wäre nicht. “Diese Einsicht in die Abhängigkeit der Refle-

    xion vom Sein, das nicht Reflexion ist, bringt jene zuerst auf den allein ihr ange-

    messenen Begriff“.²  Manfred Frank bezeichnet die ontologische Fundierung

    der Reflexion bei Schelling in Anlehnung an Sartre als „ontologischen Beweis

    der Reflexion“.² Der späte Schelling wirft Hegels Logik vor, sie leide an „einemunendlichen Mangel an Sein“.³

    Der Minimalkonsens zwischen Schelling und Hegel besteht darin, dass das

    Absolute die immanente Selbstnegation der endlichen Relate erfordert. Während

    aber nach Hegel das Absolute mit der Selbstnegation der Relate zusammenfällt,

    ist nach Schelling das Absolute etwas, dessen Sein zur Selbstnegation des End-

    lichen hinzukommen muss. Nach Hegel bedeutet die Selbstnegation der Relate

    nicht, wie dies Frank annimmt, dass im Absoluten alle Relationalität entfällt. Für

    ihn ist Relationalität nicht wie für Schelling nur das Seinsgesetz des Endlichen.Im Gegenteil: Mit der Selbstnegation der endlichen Relate hebt sich für Hegel

    die faktische Verstandeskorrelation fixer Relate einerseits und fixer Relationen

    andererseits in ein in sich bewegtes System absoluter Relationalität auf und ist

    nunmehr aus diesem zu interpretieren. Hegels Begriff der absoluten Reflexion als

    reiner Beziehung ohne Bezogene, als absoluter Relationalität, ist Kritik des ver-

    standesmäßigen Denkens, in welchem die realen Momente fixe Relate in ebenso

    fixen Relationen bilden. Sein Begriff des Absoluten ergibt sich aus einer Trans-

      Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, „Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie

    (1802)“, in: F. W. J. Schelling, Sämmtliche Werke, a. a. O. (Anm. 24), Abt. 1, Bd. 4, 358.

     Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein, Frankfurt am Main 1975, 121.

      Ebd., 111. Zu Schellings Kritik an der Reflexion vgl. insbesondere dessen „Ideen zu einer Phi-

    losophie der Natur als Einleitung in das Studium dieser Wissenschaft“, in: F. W. J. Schelling,

    Sämmtliche Werke, a. a. O. (Anm. 24), Abt. 1, Bd. 21–343: „Die bloße Reflexion also ist eine Geis-

    teskrankheit des Menschen“ (ebd., 13).

      F. W. J. Schelling, Grundlegung der positiven Philosophie. Münchner Vorlesung WS 1832/33und SS 1833, hg. v. Horst Fuhrmans, Torino 1972, 439. Eine systematische Skizze von Schellings

    Gegenposition zu Hegel entwirft Manfred Frank in: „Identität der Identität und der Nichtidenti-

    tät. Schellings Weg zum ‚absoluten Identitätssystem‘“, in:  Hegel und die Moderne. Zweiter Teil.

    Hegel-Jahrbuch 2013, Berlin 2013, 233–253.

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      Hegels Begriff der Reflexion 33

    formation der ontologisch fundierten Verstandesrelativität in absolute Relatio-

    nalität, der kein Sein zugrunde liegt. Der Begriff der Relation fällt also bei Hegel

    im Absoluten nicht völlig weg wie bei Schelling, er nimmt nur einen anderen

    Sinn an: Das ontologisch fundierte fixe Relationssystem des Verstandes wird zueinem in sich bewegten Relationssystem der Vernunft, das die fixen Verstandes-

    bestimmungen verflüssigt und in einen systematischen Zusammenhang bringt,

    indem es sie als Bestimmungen konstituiert, statt sie als unmittelbar gegebene

    zu nehmen.³¹

    Während sich nach Hegel das Absolute als absolute Relationalität aus der

    Selbstnegation der endlichen Relate ergibt, ist nach Schelling der Gedanke des

    Absoluten an ein aller Relationalität enthobenes Sein gebunden. Während bei

    Hegel das Absolute sein Sein in der Sichselbstgleichheit der absoluten Negativitäthat, hat es bei Schelling sein Sein jenseits aller Negativität. Mit dieser ontologi-

    schen Fundierung des Absoluten wiederholt Schelling nach Hegel aber bloß die

    Abstraktionen des ontologisch fundierten Verstandes, der allen Bestimmungen

    ein seiendes Substrat, letztlich das absolut seiende Substrat zugrunde legt.

    Fassen wir zusammen: Mit dem Begriff der absoluten Reflexion als einer objekti-

    ven logischen Struktur beansprucht Hegel die unhintergehbare Erklärungsform

    alles Wirklichen entwickelt zu haben. Die Wesenslogik überwindet die Erklä-rungsform des Seins, die nur für regionale Bereiche der Wirklichkeit (Qualität,

    Quantität und Maß) zuständig ist, indem sie die relationalen Kategorien thema-

    tisiert (Identität-Unterschied, Positives-Negatives, Grund-Begründetes, Ganzes-

    Teile, Ding-Eigenschaft, Inneres-Äußeres, Ursache-Wirkung etc.), durch die das

    Wirkliche erklärt wird. Dies ist das Projekt der Wesenslogik. Dabei unterzieht

    sie mangelhafte Erklärungsformen einer fundamentalen Kritik. Insofern ist die

     Diese Gegenkonzeption zur Schellings Theorie des Absoluten hat Hegel bereits in der  Phä-

    nomenologie des Geistes  formuliert: „Die Gedanken werden flüssig, indem das reine Denken,

    diese innere Unmittelbarkeit , sich als Moment erkennt oder indem die reine Gewißheit seiner

    selbst von sich abstrahirt; – nicht sich wegläßt, auf die Seite setzt, sondern das  Fixe ihres Sich-

    selbstsetzens aufgibt, sowohl das Fixe des reinen Conkreten, welches Ich selbst im Gegensatze

    gegen unterschiedenen Inhalt ist, – als das Fixe von Unterschiedenen, die im Elemente des rei-

    nen Denkens gesetzt an jener Unbedingtheit des Ich Antheil haben. Durch diese Bewegung wer-

    den die reinen Gedanken  Begriffe, und sind erst, was sie in Wahrheit sind, Selbstbewegungen,

    Kreise, das, was ihre Substanz ist, geistige Wesenheiten.“ (GW 9, 28) Unschwer ist hier Hegelsdamaliger Fichteanismus zu erkennen. Die Verflüssigung der fixen Gedanken im Reflexionszu-

    sammenhang des reinen Denkens, die den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich aufhebt, dependiert

    noch von einem zugrundeliegenden unbedingten Ich. Was Hegel hier die Unbedingtheit des Ich

    nennt, bezeichnet er später als absolute Reflexion.

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    34  Christian Iber

    Wesenslogik Kritik der Kategorien Verstandesmetaphysik und der Wissenschaf-

    ten überhaupt (vgl. Enz. § 114 Anm., GW 20, 145).

    Wie die moderne Subjektphilosophie über einen nur unzureichenden Refle-

    xionsbegriff verfügt, so hat die traditionelle Ontologie nach Hegel einen defizi-tären Wesensbegriff. Die traditionelle Ontologie fasst das Wesen als substantiel-

    les, reflexionsunabhängiges wahres Sein und die moderne Subjektphilosophie

    die Reflexion als nur subjektive Denktätigkeit. Indem Hegel das Wesen selbst als

    Reflexion fasst, entontologisiert er den Wesensbegriff und entsubjektiviert er den

    Reflexionsbegriff.

    Hegels Reflexionsbegriff stellt einen radikalen „epistemologischen Bruch“³² 

    innerhalb des traditionellen Reflexionsbegriffs dar. Er ist jedoch seinerseits nicht

    in einem ontologisch fundierten Absoluten verankert wie bei Schelling, sondernselbst das Absolute. Das Wesen als Reflexion ist als die in ihrer Negativität das

    Sein auflösende Struktur fundamentale Kritik aller traditionellen Ontologie,

    namentlich des platonischen Wesensbegriffs und des Seienden als Seienden

    des Aristoteles. Obgleich Hegel sich bisweilen affirmativ auf Platons Ideenlehre

    und Aristoteles` Nousphilosophie bezieht, ist seine Philosophie als Produkt des

    modernen Reflexionszeitalters nicht Restauration der antiken Ontologie, wie dies

    immer wieder behauptet wird, sondern deren Reformulierung im Rahmen einer

    kritischen Selbstreflexion der modernen Reflexionsphilosophie.Nach Hegel ist der Begriff der absoluten Reflexion die Beziehung als solche,

    die reine, substratlose Beziehung. Die Beziehung, die nur als reine Beziehung

    ist, impliziert stets einen Rückbezug. Sie ist nur als Reflexion denkbar, die sich

    zugleich als Beziehung von Beziehung und Bezogenen konstituiert, als in sich

    bewegtes System absoluter Relationalität. Dieser Gedanke der absoluten Vermitt-

    lung als einer wechselseitigen Bestimmtheit von Relation und Relaten in einer

    absoluten Relation – nach Schubert der Gedanke „des logischen Strukturzusam-

    menhangs überhaupt“³³  – begründet Hegels Wesenslogik als eine Metaphysik

    absoluter Relationalität, die die bloße Relativität des modernen Verstandesden-

    kens überwindet.

     A. Schubert, Der Strukturgedanke in Hegels Wissenschaft der Logik , a. a. O. (Anm. 6), 75.

     Ebd., 118.

  • 8/16/2019 (Hegel-Jahrbuch Sonderband 8) Andreas Arndt, Günter Kruck-Hegels „Lehre Vom Wesen“-Walter de Gruyter (2016)

    36/203

    Günter Kruck

    Hegels Wesenslogik als Logik der Reflexion

    Bevor man in einem Beitrag das Thema ‚Hegels Wesenslogik als Logik der Refle-

    xion‘ behandeln kann, ist es notwendig, den ersten Satz des zweiten Buches der

    Logik als der Lehre vom Wesen verständlich zu machen. Wenn Hegel nämlich

    die Wesenslogik als Logik der Reflexion in ihrer näheren Bestimmung zu begrei-

    fen versucht, dann setzt dies voraus, dass verstanden wird, wie sich Seins- und

    Wesenslogik überhaupt und grundsätzlich zueinander verhalten, wie dies durch

    den ersten Satz des zweiten Buches der Logik auch angezeigt wird. Dieser Satz

    lautet: „Die Wahrheit  des Seyns ist das Wesen.“ (GW 11, 241)

    Erst also wenn erklärt ist, wie der erste Satz und damit der Anspruch der

    Wesenslogik im Verhältnis zu der ihr vorausgehenden Seinslogik im Allgemeinen

    zu verstehen ist, kann der sich daran anschließende erste Abschnitt des zweiten

    Buches, der die Überschrift „Das Wesen als Reflexion in ihm selbst“ trägt, im

    Besonderen erläutert werden.

    Hegel selbst schreibt zur Erläuterung des Satzes „Die Wahrheit  des Seyns ist

    das Wesen“ (GW 11, 241) unmittelbar im Anschluss dazu das Folgende:

    „Das Seyn ist das Unmittelbare. Indem das Wissen das Wahre erkennen will, was das Seyn