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Heidegger-Jahrbuch 4 Heidegger und der Nationalsozialismus I Dokumente VERLAG KARL ALBER A

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Heidegger-Jahrbuch 4

Heidegger und der Nationalsozialismus IDokumente

VERLAG KARL ALBER A

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Heidegger-Jahrbuch

Herausgeber:

Alfred Denker und Holger Zaborowski

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates:

Pierre Aubenque (Paris)Damir Barbaric (Zagreb)Rudolf Bernet (Leuven)Walter Biemel (Aachen)Stephanie Bohlen (Freiburg)Thomas Buchheim (München)Hartmut Buchner † (Grassau-Rottau)Adrian Gabriel Cercel (Bukarest)Chen Xiaowen (Beijing)Paul G. Cobben (Tilburg)Ion Copoeru (Cluj-Napoca)Paola-Ludovika Coriando

(Innsbruck)Jean-François Courtine (Paris)Daniel Dahlstrom (Boston)Françoise Dastur (Nizza)Pascal David (Brest)Jacques Derrida † (Paris)Markus Enders (Freiburg)István M. Fehér (Budapest)Daniel Ferrer

(Mount Pleasant)Günter Figal (Freiburg)Hans-Helmuth Gander (Freiburg)Jean Greisch (Paris)Jean Grondin (Montréal)Arnulf Heidegger (Singen)Burghard Heidegger (Genf)Marion Heinz (Siegen)

Christoph Jamme (Lüneburg)Jin Xiping (Beijing)Shunsuke Kadowaki (Tokyo)David Farrell Krell (Chicago)Rudolf A. Makkreel (Atlanta)Jean-Luc Marion (Paris)Henri Mongis (Tours)Jos de Mul (Rotterdam)Günther Neumann (München)Ryôsuke Ohashi (Kyôto)Theodorus Christiaan Wouter

Oudemans (Leiden)Chan Kook Park (Seoul)Francesc Pereña Blasi (Barcelona)Herman Philipse (Utrecht)Claude Piché (Montréal)Otto Pöggeler (Bochum)Manfred Riedel † (Halle / Saale)John Sallis (Boston)Sun Zhouxing (Shanghai)Jacques Taminiaux (Chestnut Hill)Rainer Thurnher (Innsbruck)Peter Trawny (Wuppertal)Gianni Vattimo (Turin)Jean-Marie Vaysse (Toulouse)Ben Vedder (Nijmegen)Helmuth Vetter (Wien)Franco Volpi † (Padua)Angel Xolocotzi (Mexiko-Stadt)

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Heidegger-Jahrbuch 4

Heideggerund derNationalsozialismus IDokumente

Herausgegeben vonAlfred Denker undHolger Zaborowski

Verlag Karl Alber Freiburg/München

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Bibliografische Information Der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internetüber http://dnb.ddb.de abrufbar.

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei)Printed on acid-free paper

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten – Printed in Germany© Verlag Karl Alber GmbH Freiburg / München 2009www.verlag-alber.deUmschlagmotiv: Heidegger – Portrait um 1933Satz: SatzWeise, FöhrenDruck und Bindung: fgb · freiburger graphische betriebewww.fgb.deISBN 978-3-495-45704-7

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Inhalt

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

I. Dokumente aus der Rektoratszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

II. „Über Wesen und Begriff von Natur, Geschichte und Staat.“Übung aus dem Wintersemester 1933/34 . . . . . . . . . . . . . . . 53

III. Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und dem FreiburgerRomanisten Hugo Friedrich (herausgegeben und kommentiert vonFrank-Rutger Hausmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

IV. Dokumente zur öffentlichen Auseinandersetzung um Leben undWerk Heideggers von 1933–1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

1. Richard Harder, Rezension der Rektoratsrede . . . . . . . . . . 1402. Heinz Ricke, „Die Selbstbehauptung der deutschen

Universität“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1423. Hermann Herrigel, „Die politische Universität“ . . . . . . . . . 1444. Erich Rothacker, „Politische Universität und Deutsche

Universität. Die Doppelaufgabe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 1505. Karl Ballmer, „Aber Herr Heidegger!

Zur Freiburger Rektoratsrede Martin Heideggers“ . . . . . . . 1556. Hans Naumann, „Sorge und Bereitschaft.

(Der Mythos und die Lehre Heideggers)“ . . . . . . . . . . . . 1787. Ernst Krieck, „Germanischer Mythos und Heideggersche

Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1938. Benedetto Croce, „Martin Heidegger – Die Selbstbehauptung

der deutschen Universität. Karl Barth – Theologische Existenzheute!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

9. Hans Barth, „Vom Ursprung des Kunstwerks.Vortrag von Martin Heidegger“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

10. Emil Staiger, „Noch einmal Heidegger“ . . . . . . . . . . . . . 19911. Willi Fr. Könitzer, „Hölderlin und das Wesen der Dichtung.

Eine Entgegnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20212. Bruno Altmann, „Ernüchterung eines Philosophen.

Heidegger macht nicht mehr gerne Pfötchen“ . . . . . . . . . . 20613. Bruno Altmann, „Heidegger und Banse“ . . . . . . . . . . . . . 209

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V. Dokumente zur Entnazifizierung und EmeritierungMartin Heideggers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214

VI. Weitere Dokumente und Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2271. Aus den Tagebüchern von Joseph Sauer (1932–34) . . . . . . . . 2272. Aus dem Briefwechsel Martin Heideggers mit Kurt Bauch

(1933–1939) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2343. Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur

Wiederherstellung des Berufsberamtentums vom 7. April 1933 . 2404. Brief von Wolfgang Aly an Dr. Eugen Fehrle (1933) . . . . . . . 2445. Martin Heideggers Karteikarte aus der Zentralkartei der

NSDAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2456. Brief von Alfred E. Hoche an Joseph Sauer (1933) . . . . . . . . 2457. Brief von Ernst Fuchs an Martin Heidegger (1933) . . . . . . . 2468. Erklärung Freiburger Dekane zum Ruf Martin Heideggers

nach Berlin (1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2509. Brief an Bernhard Rust (1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

10. Heideggers Leistung des Diensteides (1934) . . . . . . . . . . . 25111. Erklärung (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25212. Brief vom Volk an den Ministerialdirektor Vahlen (1936) . . . . 25213. Antwortschreiben vom Reichsministerium (1936) . . . . . . . . 25314. Brief vom Amt für Kunstpflege an die N.-S.-Kulturgemeinde

(1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25415. Brief vom Amt für Kunstpflege an das Amt N.S.D.-

Dozentenbund (1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25416. Brief vom Amt für Kunstpflege an das Sicherheitshauptamt

(1936) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25517. Erklärung Martin Heideggers zur Abstammung von

Elfride Heidegger (1937) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25618. Brief des Ministers des Kultus und Unterrichts (1937) . . . . . 25619. Aktennotiz (1940) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25720. Bitte Martin Heideggers um Lehrbefreiung (1940) . . . . . . . . 25821. Aktennotiz: Heidegger als Herausgeber der „Theologischen

Rundschau“ (1942) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25922. Brief vom Hauptamt Wissenschaft an das Reichsministerium

für Volksaufklärung und Propaganda (1942) . . . . . . . . . . . 25923. Aktenvermerk (1942) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26124. Heideggers Antrag auf Lehrbefreiung (1943) . . . . . . . . . . . 26125. Genehmigung der Lehrbefreiung für Martin Heidegger (1943) . 26226. Paul Jurevics, „Meine Begegnung mit Heidegger und seiner

Philosophie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

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Inhalt

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VII. Dokumente zu Elfride Heidegger: Briefe und ein Aufsatz„Gedanken einer Mutter über höhere Mädchenbildung“ (1935) . . 268

VIII. Zum Verhältnis von Erik Wolf und Martin Heidegger.Ein nicht abgeschickter Brief Erik Wolfs an Karl Barth(herausgegeben und kommentiert von Alexander Hollerbach) . . . 284

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

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Das „deutsche Universitätsrecht“ von Arnold Röttgen gehört nicht in dieseReihe kulturpolitischer Denkschriften, sondern ist geeignet, dieselben wissen-schaftlich zu unterbauen. Es ist eine höchst scharfsinnige und gelehrte juri-stische Untersuchung über die rechtliche Struktur unsrer Universitätsverfassun-gen und die eigentümlichen Überschneidungen von Anstaltscharakter undGenossenschaftscharakter in deren Aufbau. Gerade auch dem Nichtjuristendürfte eine so kenntnisreiche Führung durch die verwickelten Rechtsgrund-lagen der akademischen Selbstverwaltung, der Lehrfreiheit, des Beamtencharak-ters von Universitätslehrern, der Stellung nichtbeamteter Universitätslehrer, derStaatsaufsicht usw. von größter Belehrung sein. Auch wo neue gesetzliche Maß-nahmen diese Rechtsvoraussetzungen aufheben werden, bleibt der Schrift eingroßer dokumentarischer Wert. An diesen Hochschulen ist unsre Wissenschaftzu ihrer vielbeneideten Weltgeltung gelangt.

5. Karl Ballmer, „Aber Herr Heidegger! Zur Freiburger RektoratsredeMartin Heideggers“31

(3) Vorwort.Der Verfasser nachfolgender Schrift betritt die Arena des Geisteskampfes

mit einer Gesinnung, die keine Kompromisse kennt. Es muß ausgesprochenwerden, wie die zur geistigen Führung berufenen Mächte wie Philosophie undTheologie, dem Zeitgeschehen gegenüber völlig versagen. An den Äußerungeneiner repräsentativen Denkerpersönlichkeit wird gezeigt, wie armselig und trotzaller geistreichen Verkleidung nichtssagend ist, was man dem heutigen Men-schen als geistige Hilfe anbietet.

Der Verfasser vertritt zudem einen Standpunkt, vor dem es keine geistigeNeutralität gibt. Jede Seinslehre, jede Erkenntnistheorie, jede Ethik enthält einchristliches oder antichristliches Bekenntnis. Dieses drückt sich nicht aus in ei-nem Mehr oder Weniger von Wohlwollen gegenüber der religiösen Tradition inden bestehenden kirchlichen Bekenntnissen. Die geistige Frontlinie des christli-chen Entweder-Oder geht nicht schön ordentlich der March der Kirchen ent-lang, sondern mitten hindurch. Die konfessionellen Abgrenzungen spielen garkeine Rolle, gemäß den Worten des Evangeliums: Wo zwei auf dem Felde sind,wird der eine angenommen und der andere verworfen. Es ist nicht so, daß die

31 Karl Ballmer, Aber Herr Heidegger! Zur Freiburger Rektoratsrede Martin Heideggers. Miteinem Vorwort von Prof. theol. F. Eymann, Bern, Basel 1933. Die Zahlen in Klammern be-zeichnen die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Karl Ballmer (1891–1958), Schweizer Maler,Schriftsteller und Anthroposoph. Zu Ballmer vgl. u. a. auch Karl Ballmer. 1891–1958. DerMaler, hrsg. vom Aargauer Kunsthaus und der Karl Ballmer-Stiftung, Aarau 1990.

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übrigen Disziplinen vom Entweder-Oder gar nicht berührt würden. Auchdurch sie hindurch geht die Linie.

Denn die Entscheidung liegt nicht an irgendeiner Transzendenz oder einemIdealismus, die man noch einräumen (4) zu können glaubt, sondern am Begriffdes Menschen, durch den man ihn bejaht oder verneint, anfeuert oder ablähmt.Alle Wissenschaften, die Theologie inbegriffen, sind Anthropologie, sind auf derSuche nach dem Wesen des Menschen begriffen, indem sich ihre Ergebnisse letzt-lich auf einen Begriff desselben beziehen. Es wird überall um das Wesen des Men-schen gerungen. So theoretisch auch dieser Kampf verlaufen mag, so werden dochseine Ergebnisse sofort menschliche Wirklichkeit, sobald man sie als solche ernstnimmt. Gefährlich werden sie, wenn sie den MENSCHEN als erkennendes We-sen verneinen und damit die Möglichkeit einer erkennbaren Wahrheit. Denn da-mit ist zugleich die Freiheit als Selbstbestimmung aufgehoben. Ganz derselbeVorgang findet statt, wenn der Einzelne auf eine geoffenbarte Wahrheit verwie-sen wird, die jenseits jeder Erkennbarkeit liegen soll. Die Verneinung des Men-schen ist hier, weil verhüllter, um so gefährlicher. Um diese Positionen wird derKampf immer bewußter geführt werden müssen, und zwar auf der ganzen Frontwissenschaftlicher Urteilsbildung. Der Verfasser dieser Schrift hat sich die Kom-petenz erworben, auf dem Gebiet der Philosophie einen Angriff zu wagen. Mögeseinem Waffengang Beachtung durch würdige Gegner beschieden sein.

Zollikofen, im August 1933.F. Eymann, Prof. theol.32

(5) Im Jahre 1933.Kraft seines philosophischen Führertums offenbarte Martin Heidegger als

Rektor einer deutschen Universität im Frühjahr 1933:Die Aufgabe der Wissenschaft sei nicht, Wissen zu verbreiten. Aufgabe der

Wissenschaft sei nicht das Wissen, sondern das Fragen. Das geistige Brot, wel-ches die Wissenschaft dem Volke zu spenden habe, sei als ein höchstes und letz-tes ein Fragen, ein standhaft heroisches Aushalten im Fragen. – –

Wer unbefangenerweise bisher der Meinung war, Wissenschaft sei Wissen,schlechterdings Wissen – und Frage um der Antwort willen da, wer „Verantwor-tung“ im ethischen und politischen Sinne aus dem Besitz der Antwort herleite-te –, wird sich unter der Zucht der Meister der Philosophie solche populäreMeinung abgewöhnen müssen.

Hamburg 24, im Juli 1933.Karl Ballmer.

32 Friedrich Eymann (1887–1954) war Theologe, Pfarrer, Anthroposoph und Professor für Ethikan der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bern.

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(7) Martin Heidegger, der berühmte deutsche Philosoph, schlug vor kurzem denBerliner Lehrstuhl (den Lehrstuhl Hegels sozusagen) aus, zugunsten seines Ver-bleibens an der badisch-Freiburgischen Universität. Bei der Übernahme desRektorates dieser Universität im Frühling des gegenwärtigen Sturmjahres 1933hielt Herr Heidegger eine formvollendete akademische Rede, durch die er ausder Vollmacht seines Amtes der gegenwärtigen deutschen Universität ihren Sinnund ihre Sendung erteilt33:

„Die deutsche Universität gilt uns als die hohe Schule, die aus Wissenschaftund durch Wissenschaft die Führer und Hüter des Schicksals des deutschenVolkes in die Erziehung und Zucht nimmt.“34

Herr Heidegger, indem er Adolf Hitler „in Erziehung und Zucht“ nimmt,vollzieht damit eine Leistung, vor der andere in Bescheidenheit zurücktreten.Herr Heidegger ist mithin ein Sonderfall in der deutschen Gegenwarts-geschichte.

Wer ist der außerordentliche Mann, der es sich leisten kann, „aus Wissen-schaft“ einen exzessiven Optimismus zu nähren? Wissenschaft? Gehört nichtunter den Segnungen unserer gegenwärtigen Kultur „die Wissenschaft“ zu denfragenswertesten Aenigmatia? Spricht es sich nicht herum vom „Zusammen-bruch der Wissenschaft“? – (8)

Man unterscheidet heute grundsätzlich zwei Arten von Wissenschaft. Dieeine Art baut aus der Erkenntnis der Naturgesetze Maschinen, Kanonen,Schlachtschiffe, Tanks usw. Man nennt diese Richtung Agnostizismus, weil sie,nachdem sie das Reich der Technik als eine zweite Natur aufgebaut hat, vordieser Natur steht wie der rohe Wilde vor seiner – ebenfalls dämonengeladenenNatur. Die Agnostiker, d.h. der Neger und der Mensch des Reiches der Technik,versuchen die Dämonen durch Zauberei zu beschwören: der Neger auf seineWeise und der Europäer durch Konferenzen.

Die zweite Art von Wissenschaft lebt und gedeiht aus dem Vertrauen, daßder Kopf des Menschen für die Natur, d.h. für den Haushalt der Welt, ebensowichtig ist wie die Blüte für die Pflanze, weil die Natur ohne diesen Menschen-kopf ebensowenig ein Ganzes ist wie die Pflanze ohne die Blüte. Der Menschdieser zweiten Art von Wissenschaft nennt es seine Freiheit, wenn er anerkennt,daß die Natur nach notwendigen Gesetzen handelt. Sofern er im Haushalt derNatur der Kopf ist, nimmt er seine Freiheit als Freiheit zur Verantwortung, d.h.er statuiert Ziele des Naturwirkens, weil die Natur dies von selbst nicht tunkann und weil sie es nur durch ihren natürlichen Kopf tun kann, der eben derKopf des Menschen ist. Der Mensch dieser zweiten Art von Wissenschaft hält esz.B. nicht für zweckmäßig, das Reich der Technik oder der „Wirtschaft“ durch

33 Hier findet sich in Ballmers Text die folgende Fußnote: „Die Selbstbehauptung der deutschenUniversität, Wilh. Gottl. Korn Verlag, Breslau. 7.“

34 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108.

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Zauberei zu beschwören. Er hält es für gefährlich, diese Reiche ihrem automati-schen Eigenablauf zu überlassen. Da er selbst der Schöpfer dieser Reiche ist,nimmt er es als seine Verantwortlichkeit, (9) auch in diesem Reiche seinen Kopfgeltend zu machen. Die Tätigkeit des Kopfes bezeichnet man mit dem schlich-ten Worte „erkennen“, das seinem Sprachsinne nach früher soviel wie natur-haftes Zeugen bedeutete.

Die wissenschaftliche Rechtfertigung und Erkenntnistheorie der ersten Artvon Wissenschaft, des Agnostizismus also, verdanken wir dem deutschen Phi-losophen Immanuel Kant. Kant hat den strengen erkenntnistheoretischenNachweis geliefert, daß wir Maschinen zu bauen und an die Dämonen zu „glau-ben“ vermögen. Martin Heidegger, der gegenwärtig führende deutsche Philo-soph, beansprucht ausdrücklich, das Erbe Kants in der Gegenwart zu verwalten.Seine Methode ist die Methode Kants, doch waren Kant durch seine Zeit undEpoche andere Aufgaben gestellt als dem heutigen deutschen Philosophen. Hat-te Kant z.B. die Residuen des christlichen Glaubens zu „retten“, so versuchtsich Heidegger in der Gegenwart an der Aufgabe, den Heroismus der deutschenJugend zu fundieren.

Die Philosophen lieben es im allgemeinen nicht, wenn man die Esoterikihres Fachs in die natürliche Menschensprache übersetzt. Man weiß auch, daßsolche Transposition nicht leicht ist. Aber manchmal ist es fruchtbar, weil da-durch die übertriebene Ehrfurcht der Uneingeweihten vor einer geheimnisvollenfremden Welt auf das natürliche Maß reduziert wird. Ich werde deswegen ver-suchen, den Inhalt der Philosophie Heideggers, deretwegen er der am meistenberühmte deutsche Philosoph der Gegenwart ist, in natürlicher Menschenspra-che auszudrücken. Hierzu scheint ein Vergleich der modernen Weltanschauung(10) Heideggers mit der traditionellen Weltanschauung des christlichen Men-schen zweckmäßig.

Heidegger geht von der aktuellen Frage aus: Was ist der Mensch? – Wennder Mensch des christlichen Mittelalters an die Beantwortung dieser Frage trat,dann stellte er erst die Vorfrage: Was ist die Welt? oder Was ist Gott? Früher warman der Auffassung, daß der Zugang zum eigensten Selbst des Menschen ebenüber Gott, der die ganze Welt geschaffen hat, führen müsse. Das wurde in derNeuzeit anders. Da auch im Mittelalter Gott wesentlich als ein denkendes We-sen vorgestellt wurde, ergab sich für die Philosophen, die Denker von Beruf, dieFrage: wieviel das Denken Gottes mit dem Denken des Menschen zu tun habe.Die Radikalen unter den Philosophen scheuten nicht vor der Behauptung zu-rück, daß Gott noch keinen einzigen Gedanken gedacht habe, den nicht zuvorein wirklicher Mensch gedacht hätte. Als die Philosophie durch die „Aufklä-rung“ auf diesem Standpunkte angekommen war, begann Immanuel Kant seinGeschäft. Durch langjähriges angestrengtes Nachdenken fand er heraus, daßnicht zwingend auszumachen sei, ob außer dem Denkinhalte des menschlichenKopfes eine wirkliche Welt sei, ob das, was eine ältere Menschheit unter Welt

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und Gott verstanden, Traum oder Wirklichkeit sei. Kant lehrte zwar, der den-kende Mensch sei der Gesetzgeber der Natur, aber er meinte das so, daß derMensch sich vorkommen könne, „als ob“ sein Vorhandensein nicht völliggleichgültig sei für den Naturprozeß, weil der Mensch sich zu seinen Zweckendes Naturwirkens bemächtigen kann. Man benannte dazumal die WeltansichtKants mit dem Worte (11) „Subjektivismus“, womit ausgedrückt werden sollte,daß wir die Wirklichkeit nur in der problematischen Form kennen, in der sieauftritt als subjektive Vorstellung in unserem Kopfe. Das Wort Subjektivismusist heutzutage außer Mode gekommen. Der Kantianer Heidegger z.B. ge-braucht diesen Ausdruck nicht mehr. Aus den besonderen Bedürfnissen der ge-genwärtigen Zeit frägt Heidegger nicht nach der Bedeutung und nach dem Sinndes altmodischen „Subjektivismus“, wenn er nach dem „Sinn des Menschenfrägt. Er nimmt zwar den Subjektivismus als selbstverständliches Resultat derKantischen Philosophie zur Voraussetzung seines Philosophierens. Und nunargumentiert er also: Von Gott her können wir heutzutage nicht die Antwortauf die Frage „Was ist der Mensch?“ erwarten. Also fragen wir vom Menschenaus. Wenn Heidegger nun frägt „Was ist der Sinn der Welt“, so muß er natürlichin seiner Antwort berücksichtigen, daß er ja von der Welt nur die Vorstellungendes menschlichen Kopfes kennt.

Aber immerhin, eine Antwort ist dennoch möglich. Und so antwortet dennHeidegger ganz konsequent: der Sinn der Welt ist der Mensch – unter glück-licher Vermeidung des Kantischen Begriffes des „Subjektivismus“. Der Menschist der Sinn der Welt! Durch glückliche Umgehung der mit dem Begriffe „Sub-jektivismus“ gegebenen Klippe wird aus der „Welt“ Heideggers beinahe eo ipsoetwas Objektives. –

Daß in einem gewissen Sinne der Mensch der „Sinn“ der Welt ist, ist ja auchdie Lehre des Christentums, wobei allerdings die christliche Religion unter demMenschen (12) den Mensch gewordenen Gott, d.h. den Schöpfer der Welt ver-steht.

Man kann nun fragen, um welchen Preis Heidegger zu dem Resultate seinerberühmten Philosophie komme. Und da wird der in die esoterischen Geheim-nisse der Philosophie Eingeweihte sagen müssen: Heidegger bezahlt sein Resul-tat mit dem endgültigen Tod der Philosophie, die schon von Kant auf dem Ster-bebette verlassen wurde. Der Kaufpreis ist nicht wohlfeil, aber der Inhalt derWeltanschauung Heideggers um so interessanter.

Heidegger hält sich persönlich für denjenigen Denker, der zum ersten Malseit Aristoteles in der Menschheitsgeschichte wieder als Philosoph auftritt. Esgibt sachkundige Kritiker, die anderer Meinung sind. Ein solcher schreibt z.B.:„Heideggers Buch („Sein und Zeit“) tritt mit dem Anspruch auf, das Seinspro-blem als Grundproblem der Philosophie über jenen toten Punkt hinwegbringenzu können, an dem es seit Aristoteles steckengeblieben sei, beansprucht also dievöllige Umwälzung einer über 2000 Jahre alten philosophischen Tradition zu

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sein. Es ist aber in Wahrheit nur die Synthese aller heute lebendigen Tendenzender Philosophie – also das direkte Gegenteil eines revolutionären Anfangs: einkonsequentes Zu-Ende-Denken gegebener Voraussetzungen.“ (MaximilianBeck, Philosophische Hefte, 1928, 1.)35

Es ist in der Tat richtig, daß die Bedeutung Heideggers nicht darauf beruht,daß er eigene Gedanken hätte, sondern darauf, daß er gewisse vorhandene Ge-danken in einer radikalen Art zu Ende denkt. Die Philosophie Heideggers ent-hält nichts, was nicht als ausgebildetes (13) Motiv bei Dilthey, Bergson undKierkegaard, um nur diese drei Denker zu nennen, vorhanden wäre. Wehe,wenn etwa schon in den „Voraussetzungen“, die Heidegger zu Ende denkt, dieSchwindsucht der Philosophie säße.

Es ist nicht wahr, daß durch Heidegger die deutsche Philosophie repräsen-tiert ist. Heidegger hat als der Repräsentant der einen von zwei gegenwärtigenHauptströmungen zu gelten. Heidegger vertritt die Strömung, die aus der fran-zösischen Philosophie des Descartes heraufkommt. Descartes hatte aus einerKampfstellung gegen die mittelalterliche Scholastik, deren Zeit abgelaufen war,das Sein und Wesen der Welt nicht mehr auf dem Umwege über den Gott derReligion erfragt, sondern aus der Eigenkraft des menschlichen „Ich denke“ Fra-ge und Antwort konstituiert. Über Leibniz, Spinoza und Kant mündet dieseStrömung im 18. Jahrhundert in die deutsche Philosophie ein. Hier aber, aufdeutschem Boden, sind noch andere Motive des Philosophierens wirksam, dieaus der deutschen Mystik des Mittelalters und aus Jacob Böhme stammen. Sowurde in Hegel, Fichte und Schelling der Cartesianismus etwas völlig Neues.In dem Denkermut Hegels wirkt nicht so sehr der rationalistische Zweifel, alsdie Überzeugung und das Vertrauen, der Erbe und Sachwalter zu sein jenes Ur-sprungs der Philosophie im Griechentum, auf den Hegel in seiner Philosophiehinweist. In seiner Berliner Antrittsrede weist Hegel auf den griechischen Phi-losophen Anaxagoras, der als erster den Gedanken gefaßt habe, daß der Nus, derVerstand, die Welt regiere. Hegel sagte: „Aristoteles sagt von Anaxagoras, er seiwie ein Nüchterner unter Trunkenen erschienen. Von (14) Anaxagoras hat So-krates diesen Gedanken aufgenommen, und er ist zunächst in die Philosophie,mit Ausnahme Epikurs, der dem Zufall alle Ereignisse zuschrieb, der herrschen-de geworden.“ Als den Verwalter dieses philosophischen Urgedankens betrach-tet sich Hegel, wenn er den deutschen Studenten des Jahres 1822 von seinemBerliner Katheder über Welt-Geschichte spricht: „Der einzige Gedanke, dendie Philosophie mitbringt, ist aber der einfache Gedanke der Vernunft, daß dieVernunft die Welt beherrsche, daß es also auch in der Weltgeschichte vernünftigzugegangen sei.“ Hegel ist nicht so naiv, zu denken, daß just jene Männer, die –nach Treitschke – Geschichte machen, in ihrer subjektiven Vernünftigkeit die

35 Vgl. Maximilian Beck, „Referat und Kritik von Martin Heidegger: ‚Sein und Zeit‘ (Halle1927)“, in: Philosophische Hefte 1 (1928), 5–44.

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Träger und Offenbarer der Weltvernunft seien, denn Hegel ist doch im GrundeTheologe und Metaphysiker und daher ist für ihn das eigentliche Subjekt derVernünftigkeit in Gott zu suchen, der die einzelnen Menschen unter der „Listder Idee“ hält, d.h. sie wähnen läßt, sie seien die Täter dort, wo in Wahrheit derWeltgeist handelt und sich ihrer als Mittel bedient. Nicht die wirklichen Einzel-menschen sind für Hegel die tätigen Subjekte des geschichtlichen Geschehens,sondern die Staaten und Völkerindividuen. Daher denn für Hegel auch der Ur-sprung der Sittlichkeit des Einzelnen in seinem Verhältnis zum Staat liegt. Wenndiese Hegelsche Philosophie Theologie ist, so ist das bestimmt nicht christlicheTheologie, denn das Christentum verbittet es sich, daß ein mystisches Schemen„Staat“ an die Stelle des Schöpfergottes praktiziert werde. Hegels Philosophieder Geschichte war somit, und ist es in ihren Konsequenzen bis zur heutigenStunde, die (15) Hybris des philosophischen Gedankens innerhalb der christ-lichen Kultur. Die deutsche Philosophie nach Hegel konnte sich die Aufgabestellen, die sich die großen Ahnen der Philosophie – ein Thomas von Aquin,ein Leibniz – gestellt hatten: sie konnte versuchen, die Kultur der christlichenReligion zu versöhnen mit dem philosophischen Gedanken (einen schwächli-chen Versuch in dieser Richtung machte bekanntlich Schleiermacher), oder siekonnte Hegel samt seinem aus dem Griechentum genährten Erkenntnisvertrau-en – zum alten Eisen werfen. Zu dem letzteren entschloß sich neben vielen An-deren auch Martin Heidegger.

Die zweite Strömung gegenwärtiger deutscher Philosophie gründet sich be-wußt auf den Aufbruch spezifisch deutscher Wissenschaftsgesinnung in Nico-laus Cusanus, der in sich die Mystik Meister Eckhardts mit naturwissenschaft-licher Forschergesinnung verbindet und der zugleich unter der Tradition jenerSelbstzucht des menschlichen Gedankens steht, die man – zeitweilig mit miß-verstehendem Akzent – als Scholastik bezeichnet. Diese Strömung nun lebtnicht aus dem fragenden Zweifel der westlichen überspitzten Ratio, sie lebt ausdem Vertrauen in die Kraft des Gedankens, dem sie zutraut, daß er mit derWirklichkeit zu leben vermag. Daß auch diese Strömung ihre zeitbedingte Auf-gabe in der Hinorientierung des Gedankens auf das System der Naturwissen-schaft sehen muß, hindert nicht, daß sie es ist, die den modernen Menschen ingesunder Weise an die Problematik einer alt gewordenen Religion heranführt.Aus der inneren Erkraftung des Denkens gewinnt sie Fragestellungen, die ausder von Hegel bewirkten Krisis (16) herausführen können. Sie stößt notwendigauf die Frage, ob dem Menschen von dem Gotte der christlichen Religion die„Gnade“ zugemessen sei, als Ich der Ausdruck und die Offenbarung der gött-lichen Vernünftigkeit zu sein. Im Gegensatz zur protestantischen Religion rech-net bekanntlich der Katholizismus mit dieser Möglichkeit, er setzt der Erkennt-nis zwar Schranken, die durch den Entwicklungsstand der Menschheit gesetztsind, aber er setzt keine apodiktische und prinzipielle Schranke. Dies war Kantvorbehalten, als er die Aufgabe versäumte, die Immanenz der göttlichen Ver-

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nunft im Menschen zu erfragen. Die Repräsentanten dieser Strömung, die ausdem Vertrauen in die Kraft des Gedankens lebt, bezeichnet man gewöhnlich als„Marburger Schule“. Hermann Cohen und Paul Natorp sind deswegen die be-rufenen Vermittler zwischen der Denkwelt eines Thomas von Aquino und einerkünftigen echten Philosophie, die sich an keinen Mystizismus und Irrationalis-mus verkauft, weil sie begriffen, daß vorübergehend grundsätzlich auf „Meta-physik“ zu verzichten sei. Sie etablierten ihre Philosophie bewußt als Interims-zustand der fortschreitenden philosophischen Entwicklung und begnügten sichvorerst damit, in einem resoluten Zurückgehen auf den Ursprung des Denkensund Erkennens das Erkenntnisinstrument zu bereiten, sich nun nicht mehr bloßauf den Anstoß von der sinnlichen Außenseite der Welt her in Bewegung setzt,sondern geradezu alles Gegebensein in die Verantwortlichkeit des erstarktenEigendenkens hereinnimmt. Daß sich diese Läuterung in der Auseinanderset-zung mit den „Grundlagen der exakten Wissenschaften“ vollzog, macht diese(17) Strömung zur zeitgemäßen und macht sie besonders wertvoll. Der bedeu-tendste gegenwärtige Repräsentant der Marburger Schule – und philosophischeGegenspieler Heideggers ist Ernst Cassirer, der auf seinen Hamburger Lehr-stuhl vorübergehend aus Gesundheitsrücksichten verzichtet hat.

Als bei den Internationalen Hochschulkursen in Davos 1929 die Univer-sitätslehrer Cassirer und Heidegger in einer an die Zeiten der Scholastik gemah-nenden öffentlichen Disputation sich entgegentraten, da wollte man in den bei-den Philosophen die Repräsentanten zweier verschiedener Zeitalter sehen: inHeidegger die Verkörperung der drängenden Jugend, in Cassirer den Ausdruckfür eine im Abgrunde versinkende vergangene Epoche. Diese Auffassung istfalsch. Der Gegensatz Heidegger-Cassirer ist der innere Widerspruch dieser un-serer eigenen Epoche und Gegenwart, ist als dieser Widerspruch der Ausdruckfür die zu lösende Aufgabe, das „Reich des Geistes“ (Cassirer) und die Welt desexistenziell daseienden Menschen (Heidegger) in ihrer gegenseitigen Durch-dringung philosophisch aufzudecken. Dieser Widerspruch der Gegenwart istletzten Endes der Widerspruch, der so alt ist wie die Philosophie selbst. Alsimmanenter Widerspruch nährte er durch die Jahrhunderte den Streit der Schu-len. Jetzt tritt er in zeitrepräsentativer neuer Gestalt auf als der Widerspruchzwischen Anthropologismus und Geistphilosophie. Das Hoffnungsreich derspezifischen Gegenwartssituation liegt darin, daß durch sie das Idealismuspro-blem nachdrücklicher als je auf seine historische Wurzel hinorientiert wird. DieAufdeckung des geschichtlichen (18) Ursprungs einer Problematik kann einewichtige Vorbedingung sein für deren Auflösung. Die Problematik des Idealis-mus gründet in der griechischen Antike, und war dort getragen von einem Den-ken (Aristoteles), das nicht daran zweifelte, daß die Dinge immerhin zu erken-nen seien, wie sie „an sich“ sind. In Griechenland hatte die Auffassung desAnaxagoras Schule gemacht. Und in der Folgezeit ergab sich als die Zentralfragealles Idealismus diese: ob die Vollkommenheit des Nus zugleich die Vollkom-

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menheit der existenziellen menschlichen Vernunft sei. Damit war von jeher dieexistenzielle Vernunft auf den Weg ihrer Selbstbelebung, Selbstvervollkomm-nung und Selbsterhöhung gewiesen. Die geschichtlichen Tatsachen lehren, daßdas Erkenntnisproblem nie ein anderes war, daß die Philosophie im Grundeauch dann ihren Rahmen nicht verließ, wenn sie die Frage nach der Vollkom-menheit der menschlichen Vernunft unter dem Einfluß der Theologie und Reli-gion als Gottesproblem behandelte. Es ist noch keinem Philosophen eingefallen,in Gottes Gedanken etwas anderes zu suchen – als des Philosophen Gedanken.Und das mit Recht. Die Ursprungsproblematik des Idealismus enthält also alsKernfrage die Frage nach dem Verhältnis des Geistes der Welt zum Geist desMenschen.

Zwei Mächte arbeiten an der Verdunkelung des Idealismusproblems: dieOhnmacht der Problemverkümmerung und die Großmacht der Reaktion. Diemoderne Problemverkümmerung entsteht aus der Abwendung von der AufgabeHegels. Dieser stellt den Weltgeist als „Ich“ dar. Doch anstatt zu untersuchen,inwiefern das Ich des Weltgeistes „Mensch“ ist, konkreter Mensch, behandeltder (19) Idealismus Hegels den Geist als die bloß logisch (statt menschlich) ge-sehene Substanz von Natur und Geschichte. Man müßte einsehen lernen, daßdie „Logik“ des Aristoteles, die noch immer verbindlich gilt, aus demMenschenentwickelt ist. Der Mensch ist der mit Sprache begabte Versteher der Natur.Aber der griechische Mensch des Aristoteles ist jedenfalls ein anderer als wir esheute selbst sind. Der Grieche ist möglicherweise ein relativ zu uns unent-wickelter Mensch, wenn man auf die Bewußtseinshaltung sieht. Möglicherweisemüßten wir aus dem Verständnis unseres Menschseins zu erweiterten Regeln der„Logik“ kommen. Auf dieses Problem war – negativ – Fritz Mauthner gestoßen,als er sich über alle Logik und über alle philosophischen Ansprüche des Den-kens deswegen lustig machte, weil ja alles Denken doch nur Sprechen sei und esdaher im Ernste statt Philosophie höchstens noch das – allerdings geistvolle –„Wörterbuch der Philosophie“ geben solle. Mauthner zog nicht in Erwägung,daß die logischen Gesetze eines Denkens, das nicht aristotelisch am Gängelban-de der dem Denken von außen gegebenen Natur einhergeht, sondern sich derwirklichen Natur möglicherweise aus seiner Eigenkraft bemächtigt, jedenfallsandere sein müßten als die hergebrachten „Denkgesetze“, in denen Mauthnernur lauter Grammatik erkennt. – Die gegenwärtige anthropologische Gegen-bewegung gegen Hegel hätte die Aufgabe gehabt, zu fragen, wie weit die Befug-nisse desjenigen Denkers – in der Erkenntnis der Natur und der Geschichte –reichen, der sich zum Herrn der Ideen gemacht hat, jener „Ideen“, die Platon inein außermenschliches Jenseits verlegte und (20) damit den christlichen Philoso-phen ein willkommenes Musterbild lieferte dafür, wie man es – nicht machensoll. Statt dessen begnügt sich die gegenwärtige Philosophie der Existenz mitder Preisgabe des Herren- und Weltstandpunktes des Ich zugunsten eines Stand-ortes in den Niederungen des alleralltäglichsten Philisteriums. Man sehe sich

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den autochthonen Wörterschatz der Heideggerschen Philosophie auf diese Be-hauptung hin an: die Standardausdrücke dieser Philosophie lauten „Man“ stattIch, „Gerede“ anstatt Begriff, „öffentliches Gerede“, „öffentliche Meinung“,„Sorge“, „Angst“ usw. Schon in so etwas könnte ein Fingerzeig auf Problem-verderbnis liegen.

Die andere Verdunkelung der traditionellen Problematik des Idealismus be-steht in der Forderung, daß die Philosophie von Gnaden der Offenbarungsreli-gion bestehen soll. Diesen Standpunkt vertrat beim Internationalen Hochschul-kurs in Davos 1929 der Pater Przywara S.J. Er benutzte mit Geschick denGegensatz Heidegger-Cassirer als Relief, indem er offenbarte: „Wo das Problemder Erfassung des Daseins (Existenz) methodisch gesichtet ward, brach undbricht durch das philosophische Problem das Gesicht des religiös-Theologi-schen. Wenn Philosophie in dieses Letzte einstößt, entsteht im Tiefsten die Wahlzwischen drei Richtungen der Religiösität: den Menschen in eine göttliche Idea-lität hinein zu vergessen (Antike und neuzeitlicher Idealismus); den Menschenin seiner Endlichkeit (Heideggers ephemere Philosophie macht aus dem Chris-tenmenschen einen in die absolute Endlichkeit eingespannten Menschen) he-roischtragisch zu beschließen (neuere Existenzphilosophie); die Demut derKreatürlichkeit (21) zu begründen in der Adoratio Divinae Majestatis (die Lö-sung katholischer Philosophie). (Vergl. Davoser Revue Nr. 7, 1929.) Nein! meinverehrter Herr S. J. Ihre Rechnung geht nicht ganz auf. Sie sind nicht befugt, dieLösung der „katholischen Philosophie“ in Anspruch zu nehmen. Wenn Sie ge-sagt hätten: die „Lösung der katholischen Kirche“, dann fiele das außer Diskus-sion, aber da Sie schon von katholischer Philosophie sprechen, so müssen Siedaran erinnert werden, daß ein Thomas von Aquino unseres Wissens ein katho-lischer Philosoph war und daß er – anderer Meinung ist. Deswegen hat er sich –als Häretiker aufs beste verdächtigt – gegen die Kirche durchzusetzen gehabt.Thomas von Aquino läßt ausdrücklich die Möglichkeit des Wirkens der Gnadein der menschlichen Erkenntnis zu und rechnet mit der Vervollkommnung derErkenntnisfähigkeit. Lebte Thomas heute unter uns, er würde Nietzsche vielnäher stehen als irgendeiner nicht aktuellen Adoration. Denn Nietzsche hatteverkündet: Gott ist tot! und keinem gegenwärtigen Denker winkt die Gnade,wenn er sie um einen geringeren Preis haben möchte als um die Anerkenntnisdes Nietzscheschen Satzes. „Gott ist tot!“, innerhalb der Problematik des Idea-lismus heißt das ja nichts anderes als: Dein Denken, Mensch, ist tot! Sieh’ zu, obdu auferstehst!

Der Jesuit verkauft die Philosophie an die Reaktion. Heidegger erhandeltum den Preis der rationellen Philosophie seinen Daseins-Mystizismus, der eineMetaphysik des Menschen bedeuten soll. Herr Heidegger machte, besorgt umden Sinn des Menschen, die Entdeckung, daß (22) die Alltäglichkeiten, die dieLeute der Hintergasse sich in der „Sorge“ ihres „Daseins“ erzählen, an Inhaltviel reicher sind als die Dinge, um die sich die rationelle Wissenschaft bemüht.

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Diese Einsicht des Herrn Heidegger mußte um so eindrucksvoller sein, je arm-seliger der Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis im Verlaufe des Zeitaltersdes Kantianismus geworden war, je obstinater sich die Schulphilosophie derAnregung Goethes verschloß. Der Mensch der Hintergasse ist nicht allein inder Welt, die lieben Nachbarn sind keine erratischen Blöcke: sie sind seine „Mit-Menschen“, ihr Sein ist des je andern „Mit-Sein“. Der Mensch der Hintergassehat den Vorzug, daß die ganze Welt „umwillen“ seiner da ist. Die ganze Hinter-gasse und alles was noch darüber hinaus ist bis zu den Kanonen und Flugzeugenist „zuhandenes Zeug“, hat seinen Sinn ausdrücklich vom Menschen der Hin-tergasse, der zum Musterbild für den Menschen überhaupt wird. Alles ist ent-weder nichts oder es ist „Vorhandenheit“ für den hintergäßlerischen Mittel-punkt der Welt. Dem Bauer ist der Wald „Gehölz“, dem Förster ist der Wald„Forstgebiet“, dem Jäger „Jagdgehege“, dem Wanderer „kühler Waldschatten“,dem Verfolgten „Unterschlupf“, dem Dichter „Waldesweben“, „Harzesduft“,dem Maler „ein Stück Landschaft“ und so fort. Alles ist alles Mögliche. Wo wäreda noch Ordnung und Zurechtfinden in der Welt, wenn jetzt nicht die famoseKantische Subjektivität einspränge, die allem den „je eigenen Sinn“ erteilt. MeinNachbar sagt mir: „Dort steht die Frau Bürgermeisterin!“ Worauf ich: „Mit-nichten, mein Lieber, das ist eine Vogelscheuche!“ Denn ich bin etwas schwach-sichtig. Mein Urteil (23) ist nicht etwa eine subjektive Täuschung, nein, das istdie objektive philosophische Wahrheit, denn die gegenständliche Welt ist „um-willen“ meiner da.

In der Hintergasse lebe ich mit meinen „Mit-Menschen“ in einer Welt des„ursprünglichen sinnhaltigen Verstehens“. Ich bin nicht allein, ich bin ursprüng-lich nicht ein äußerer Zuschauer der Welt, ich bin in der Welt, ich bin „verste-hend“ in der Welt – der Hintergasse. Mit meinen Nachbarn von links und rechtsund von gegenüber bilde ich beim Klönen ein gewichtiges „man“, und daß ichaußerdem ein „Ich“ bin, daran erinnert mich der Leichenzug, der in der Neben-gasse vorbeizieht, denn mein Ich – als meine Freiheit – besteht darin, daß ichweiß, daß es mit dem Tode aus ist. Ein Christ bin ich nicht, aber dort, wo derperfekte Christ die „Sünde“ sitzen hat, dort habe ich die „Angst“ sitzen. Nebender „Sorge“ um das liebe tägliche Brot ist die „Angst“ im innersten Kern meinesWesenseins die Substanz, die mich zusammenhält. Gäbe es nicht diese Welt der„Angst“ mit dem „ursprünglichen Verstehen“ im „öffentlichen Gerede“ unsereshintergäßlerischen „man“: wo sollte dann die Politik herkommen!? So leben dieMenschen der Hintergasse in ihrer „zuhandenen“ und „ursprünglich erschlos-senen“ Welt, die ihre Welt-Geschichte ist, denn der Mensch der MetaphysikHeideggers ist der „geschichtliche Mensch“. Mein Heroismus als geschicht-licher Mensch besteht darin, daß ich nicht nur substanzielle „Angst“ bin, son-dern daß ich es auch weiß, was ich bin.

Solches ursprünglich verstehende In-der-Welt- und Mitmensch-Sein ist dievon Heidegger eigens entdeckte neue (24) Erkenntnisart, die als eine besondere

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Erkenntnisart neben die bisher in der Philosophiegeschichte aufgetretenen Er-kenntnisarten hinzutritt. Die wissenschaftliche Erkenntnisart ist nichts weiterals ein intellektualistisch verdorbener und im ganzen heruntergekommenerSproß dieser ursprünglich verstehenden Erkenntnisart Heideggers. Ihren Bluts-verwandten hat diese Erkenntnisart in der Philosophie Bergsons. Während aberBergson schon durch die laxe Handhabung seiner verschwimmenden und ver-schillernden Begriffe den Bankerott der rationellen Philosophie dokumentiert,versteht es Heidegger, durch eine scheinbegriffliche Artistik einer eigens erfun-denen Sprache seiner Metaphysik den Charakter einer bedeutenden Philosophiezu geben.

Ein legitimierter Kritiker schrieb zum Ganzen der Metaphysik Heideggers:„Schlüssel, Anfang und Ende aller Erkenntnis ist der Mensch, dem alles nicht-menschliche Sein in der durchschnittlichen Alltäglichkeit begegnet nur als„zuhandenes Zeug“ – nur umwillen des menschlichen Daseins. Eine radikalereAusformung des neuzeitlichen weltverwüstenden imperialistischen Menschen-größenwahns ist gar nicht möglich. Und diese Einstellung ist der eigentlich letz-te Grund, auf dem Heideggers anthropologische Seinsmetaphysik überhaupterst möglich wird – und nicht seine theoretischen Begründungen.“ (MaximilianBeck, Philosoph. Hefte 1, 1928.)

Der Philosoph Heidegger nimmt also die Führer und Hüter des Schicksalsdes deutschen Volkes in Zucht, nachdem schon Plato gefordert hatte, daß dieKönige bei den Philosophen in die Schule zu gehen haben. (25) Ich könnte mirKönige denken, die ihre Untertanen nicht unbedingt für Hintergäßler halten.

In seiner Rektoratsrede stellt Heidegger im Zusammenhang mit dem „poli-tischen“ Begriff der Universität seinen Begriff der Wissenschaft zur Schau undebenso seinen Begriff des Geistes. Diesen beiden Fundamentalbegriffen schen-ken wir ein wenig Aufmerksamkeit.

Heidegger wirft die Frage auf, ob Wissenschaft überhaupt noch notwendigist oder ob wir sie „einem raschen Ende zutreiben lassen“36 sollen. „Daß Wis-senschaft überhaupt sein soll, ist niemals unbedingt notwendig.“37 – – Herr Hei-degger müßte eigentlich wissen, daß im Schulsack jedes deutschen Gymnasias-ten eine schlichte Überzeugung mitgetragen wird. Sie lautet: Es konnte für dengeliebten Griechen nicht Problem sein, in unserem modernen Sinne nach Frei-heit zu fragen. Wir suchen Freiheit und Selbstverantwortung als sittliches Ideal.Der Grieche fühlte sich als sittliches Wesen eingebettet in die Natur, seine Sitt-lichkeit bestand in der Erkenntnis des Menschen als eines Naturwesens. Erstdurch das Christentum wurde das Sittliche eine „übernatürliche“ Aufgabe, undaus der Freiheit des Christenmenschen, der das Gesetz der Natur nicht aufhebt,sondern erfüllt – und sich zugleich zur Natur distanziert, erwuchs das moderne

36 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108.37 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108.

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Freiheitsproblem, das nicht Freiheit von …, sondern Freiheit zur Verantwor-tung meint. Herr Heidegger steht mit einem Fuß im Griechentum, wo der Ur-sprung der gegenwärtigen Philosophie anhebt. „Nur dann, wenn wir uns wiederunter die Macht des Anfangs unseres geistig-geschichtlichen Daseins stellen,kann Wissenschaft wahrhaft bestehen. (26) Dieser Anfang ist der Aufbruch dergriechischen Philosophie.“38 Das lassen wir gelten. Aber wir lassen nicht gelten,wenn jetzt Heidegger haarscharf an unserem Problem, am Problem der Freiheit,vorbeitrampelt. „Daß Wissenschaft überhaupt sein soll, ist niemals unbedingtnotwendig.“39 Was soll das? Auch wir sind der Meinung, daß Wissenschaft nicht„notwendig“ sein kann, und wir sind außerdem der Meinung, daß Wissenschaft,wenn immer sie überhaupt ist, nur unsere Freiheitstat ist. Was geht es Natur an,ob ich Wissenschaft treibe oder nicht? Ihre notwendigen Gesetze wirken ohnemeine Assistenz. Ob das selbstbewußte Ich die Natur erkennt oder nicht er-kennt, das ist seine Angelegenheit. Und wenn das Ich seine Angelegenheit rechtversteht, wird es seine erkennende und sittliche Freiheit darin suchen, die Not-wendigkeiten der Naturgesetze anzuerkennen, ja sie sogar in seine eigenstenVerantwortlichkeiten mit hereinzunehmen – nachdem wir als moderne Men-schen erkannt haben, daß niemand dem Hereinwirken der Natur in die Men-schenwelt (der „Wirtschaft“ z.B.) einen Sinn erteilt, wenn nicht der Menschselber es tut. Wir bauen Maschinen nach Maßgabe der ewigen Gesetze der Na-tur, die Maschinenwelt steht als fremde Wirkensmacht im Eigengesetz ihres vonuns nicht beherrschten Ablaufes uns feindselig gegenüber. Wir werden entwederdie Chance unserer Freiheit wahrnehmen, dieser modernen Natur-Dämonie un-sere Verantwortung einprägen – und leben, oder wir werden unsere Chancenicht wahrnehmen – und untergehen. Wir werden zu Verrätern an unserer Frei-heit, wenn wir die Trivialität dulden, daß nach dem Beweis (27) der „Notwen-digkeit“ der Wissenschaft gefragt werde. Wissenschaft ihrem Wesen nach istFreiheitstat. Die Wissenschaft sei „niemals unbedingt notwendig“ – das klingtnach schlechter Theologie, die bewies oder noch immer beweist, daß es „nichtunbedingt notwendig“ war, daß Gott die Welt erschaffen hat.

Heideggers Wissenschafts-Gesinnung entspricht es, den Wissenschaft trei-benden Menschen in einer Art gepanzerter Abwehrstellung gegen eine feind-selige „Welt“ zu sehen. Der Mensch stehe „gegen“ das Sein, meint Heidegger.„In der griechischen Philosophie steht der abendländische Mensch aus einemVolkstum kraft seiner Sprache erstmals auf gegen das Seiende im Ganzen und

38 Vgl. Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108. Inder Rektoratsrede heißt es: „Nur dann, wenn wir uns wieder unter die Macht des Anfangsunseres geistig-geschichtlichen Daseins stellen. Dieser Anfang ist der Aufbruch der grie-chischen Philosophie.“

39 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108.

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begreift es als das Seiende.“40 Ist das wahr? Warum „gegen“ die Welt? Warumsollte das griechische Volkstum eine Rebellion gegen das Seiende sein? Warumsollte ich nicht empfinden und sagen: das Seiende, das Göttliche schuf sich imgriechischen Volkstum seine eigenste Ganzheit und Offenbarung. Können wirdenn Ganzheit in einem nur äußerlich quantitativen Sinne suchen wollen. Ganz-heit im höheren Sinne kann doch nur von qualitativer Art, kann nur inhaltlicheFülle sein. Wenn Gott im jüdischen Volke sich eine Ganzheit besonderer Artgeschaffen hat, wenn das jüdische Volk in einem bestimmten Sinne das aus-erwählte Volk Gottes war, warum sollte dann nicht das griechische Volk in ei-nem bestimmten andern Sinn ebenso das auserwählte Volk Gottes sein? Hatnicht die deutsche Klassik die Griechen in diesem Sinne gesehen? Ganzheit gibtes nur immer als bedeutende Repräsentation. Goethe ist das „Ganze“ des deut-schen Volkes, weil er repräsentativ (28) ist. Die abendländische Wissenschaft hatdeswegen Bankerott gemacht, weil sie solchen Fundamentaleinsichten nichtRechnung trug, weil sie leere formale Allgemeinheiten und Quantitäten setzte,wo nur höchste Qualitäten zur Frage stehen.

Nun ist es doch gerade der Philosoph Heidegger, der eine wirklich bedeut-same geistesgeschichtliche Entdeckung gemacht hat in bezug auf den qualitati-ven Charakter des „Seins“ bei den griechischen Philosophen. Ich rechne dieseEntdeckung Heideggers zum eigentlich Bedeutenden seiner Philosophie über-haupt. Im §44 von Sein und Zeit legt er dar, daß die Griechen ein inhaltlichesKriterium dafür hatten, was sie als systematische Wahrheit ihrer Naturerkennt-nis bezeichneten.41 Dieses Wahrheitskriterium der griechischen Philosophie hatsich bis ins Mittelalter hinein bewährt. Blicken wir in die Gegenwart, so findenwir ebensoviele philosophische Wahrheit als es Professuren gibt, wozu neues-tens noch hinzukommt, daß der moderne Wahrheitsautarkismus zu dem radika-len Hilfsmittel greift, für den engeren Landesbereich einer Philosophie eine jeeigene Sprache zu erfinden, wodurch die Philosophiestudenten des je nächst-besten deutschen Universitätsstädtchens prinzipiell zu Ausländern werden,und den eingeborenen Autarkisten die Chance des philosophischen Landesver-rates frei gegeben ist. Wer nicht gerade als Fachmann darauf verfallen sollte, eineSeite Heidegger lesen zu wollen, möchte leicht sein blaues Wunder erleben. –Nichts ist der Wissenschaft der Gegenwart so fremd, wie eine verpflichtendeIdee von Wahrheit, an der sich die Forschungsarbeit ausrichten könnte. Da un-sere (29) moderne Naturwissenschaft schon den Gegenstand der Naturwissen-schaft als ein unbestimmtes – irgendwie aus Materie und Mathematik gemixtes

40 Vgl. Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108. Inder Rektoratsrede heißt es: „Dieser Anfang ist der Anfang der griechischen Philosophie. Darinsteht der abendländische Mensch aus einem Volkstum kraft seiner Sprache erstmals auf gegendas Seiende im Ganzen und begreift es als das Seiende, das es ist.“

41 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann (GA 2),Frankfurt am Main 1977, 290 f.

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Etwas zwischen Feuernebel und Wärmetod erträumt, so kann auch die wissen-schaftliche Wahrheit, die sich auf dieses Etwas richtet oder dasselbe gar konsti-tuieren soll, nichts besonders Inhaltreiches sein. Anders war es im Griechentum.Heidegger zeigt in vortrefflicher Analyse, daß es nicht die Aufgabe des grie-chischen Philosophen war, im Sinne Kants aus seinem Bewußtsein heraus dieWahrheit zu „erzeugen“. Wahrheit im griechischen Sinne habe nicht die Struk-tur einer Übereinstimmung zwischen Erkennen und Gegenstand im Sinne einerAngleichung eines Seienden (Subjekt) an etwas anderes (Objekt). Die Wahrheitwird nicht logisch konstruiert, sondern aus dem lebendigen Erkennen wird erstnachträglich die „Logik“ abgeleitet. Die Wahrheit in der griechischen Philoso-phie wird ausgesprochen durch die Gewahrung und Anerkennung, daß dieWirklichkeit ein Sein ist. Das hatte philosophisch den doppelten Sinn: erstensdaß das einem Dinge zuerteilte Prädikat des Seins ein bloßes Meinen und Wäh-nen ausschließt, zweitens daß das an einem Dinge festgestellte Sein, welchesidentisch ist mit dem eigentlichen Inhalt des Dinges, das ideelle Wesen des Din-ges zu einem „Allgemeinen“ macht, denn nur Allgemeines geht in die Erkennt-nis ein, und das Prädikat des Seins ist eben der Ausdruck dafür, daß ein Glied derWirklichkeit in den gedanklichen Einheitszusammenhang der Welt aufgenom-men ist. Die gedankliche Einheit der Welt aber ist die allgemeine, d.h. die allenMenschen gemeinsame Wahrheit. Ob die Wissenschaft ein Kriterium (30) derWahrheit besitzt, ist keine Luxusfrage esoterischer Philosophie, sondern ist „so-ziale Frage“. Für den Griechen ist die Erkenntnis und Anerkenntnis des Sein-seins oder Wahrseins eines Dinges oder Vorganges der Natur die Anerkenntniseines Objektiven, das in seiner Ganzheit mit der objektiven „Welt“ identisch ist.Das Sein wird durch den griechischen Denker an der Wirklichkeit entdeckt.Wahrheit heißt darum a-letheia, was Heidegger einleuchtend als Unverhülltheit,Unverdecktheit deutet. Wahrheit im griechischen Sinne ist das ent-deckte Sein.

Diese Entdeckung Heideggers wäre eine originäre Entdeckung, wenn nichtvor schon längerer Zeit ein anderer deutscher Philosoph zu dieser Entdeckung,die also bereits da sein mußte, auch noch die intimere psychologische Begrün-dung gegeben hätte. In seiner zweibändigen Philosophiegeschichte (Rätsel derPhilosophie) macht Steiner im Jahre 1914 auf den intimeren Charakter des grie-chischen Gedankenlebens aufmerksam. Was Steiner hier sagt, scheint ganz auseinem erlebten Verständnis der Erkenntnisart Goethes hervorzugehen. Im SinneGoethes ist es jedenfalls, das Denken des Menschen nicht wie eine Apparaturvon logischen und kategoriellen Gesetzlichkeiten zu sehen, sondern wie einStück Natur selbst. Goethe verstand das Denken ganz ähnlich wie er die Sinnes-tätigkeit des Menschen verstand: wie die Sinne Organ der Auffassung der Sin-neserscheinungen sind (wobei Goethe noch nicht die Fritz MauthnerscheSchrulle der „Zufallssinne“ zu berücksichtigen brauchte, weil ihn sein gesunderWeltsinn davor bewahrte), so ist das DenkenOrgan der Auffassung der „Ideen“.Dabei ist es nicht Goethes Meinung, (31) daß diese Ideen etwas anderes seien als

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seine eigenen Gedanken, aber er sah, schaute gewissermaßen seine Gedanken alsobjektive Glieder im Weltgeschehen. Deswegen ist Goethe der entschiedensteGegenpol des Kantischen Subjektivismus, trotz aller Umdeutungsversuchedurch Simmel und andere. Der Goetheanismus Steiners hatte im Jahre 1914 überdas griechische Denken das folgende zu sagen: „Nun aber erlebt der Griecheden Gedanken in einer anderen Art als der gegenwärtige Mensch. Das ist eineTatsache, die leicht außer acht gelassen werden kann. Doch ergibt sie sich füreine echte Einsicht in das griechische Denken. Der Grieche empfindet den Ge-danken, wie man gegenwärtig eine Wahrnehmung empfindet, wie man „rot“oder „gelb“ empfindet. Wie man jetzt eine Farbe oder Tonwahrnehmung einem„Dinge“ zuschreibt, so schaute der Grieche den Gedanken in und an der Welt.Deshalb bleibt der Gedanke in dieser Zeit noch das Band, das die Seele mit derWelt verbindet.“

Das heißt denn doch – gegenüber Heidegger –: der Grieche war nicht da-rauf aus, in aller Welt einen „Gegner“ zu entdecken, er lebte und erlebte ausnatürlichem Vertrauen (das Gegenteil von „Angst“) seine Harmonie mit derWelt, sein Eingebettetsein in die Welt. Davon weiß der moderne Grieche Goe-the etwas, wenn er sein eigenes Verdienst gern an die „Gott-Natur“ abtritt. Hei-degger dagegen kann der Welt nur als eines „Gegners“ ansichtig werden. Hei-deggers abendländischer Mensch stellt sich als Grieche „erstmals gegen dasSeiende im Ganzen“.42

So wäre denn dieser Heideggersche Mensch ein Rebell? Das wäre er viel-leicht, wenn er nach der Lehre (32) Heideggers nicht ausgerechnet aus einemStoffe bestünde, den Heidegger mit dem ganz eindeutigen Worte „Angst“ be-zeichnet. Die „Angst“ sagt dem Menschen entscheidend im Angesicht des To-des, daß er ein „Sein“ ist; in der philosophischen Kunstsprache Heideggersnennt man das „die Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Er-schlossenheit des Daseins“. (Sein und Zeit, §40.)43

Herr Heidegger beruft sich weiterhin auf die griechische Philosophie alsden Ursprung und Aufbruch unserer gegenwärtigen Wissenschaft und sagt:„Alle Wissenschaft ist Philosophie, mag sie es wissen oder nicht. Alle Wissen-schaft bleibt jenem (griechischen) Anfang der Philosophie verhaftet. Aus ihmschöpft sie die Kraft ihres Wesens, gesetzt, daß sie diesem Anfang überhauptnoch gewachsen bleibt.“44

Auch hier habe ich eine Restriktion zu machen. Blicken wir einmal aufPlato. Es wurde schon gesagt, daß dieser Philosoph (der Lehrer des Aristoteles)

42 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 109.43 Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit (GA 2), 244.44 Vgl. Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 108. In

der Rektoratsrede heißt es: „Alle Wissenschaft ist Philosophie, mag sie es wissen und wollen –oder nicht. Alle Wissenschaft bleibt jenem Anfang der Philosophie verhaftet. Aus ihm schöpftsie die Kraft ihres Wesens, gesetzt, daß sie diesem Anfang überhaupt noch gewachsen bleibt.“

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der christlichen Philosophie des Augustinus und des ganzen Mittelalters einewillkommene Handhabe lieferte mit seiner Lehre von der „Idee“, die er nichtaus dem Menschen heraus zu verstehen sucht, sondern die er in eine eigenserfundene transzendente Welt versetzt. Diese eine Tatsache könnte genügen,um sich daran zu erinnern, daß die wissenschaftliche Philosophie als Systematikkeineswegs ihr eigener Ursprung ist, sondern ganz eindeutig ihre Herkunft ausder Theologie kundgibt. (Und ist denn etwa die Motivationskraft der Theologiefür die Philosophie Heideggers eine so ganz unbekannte Sache? Was wäre dieseHeideggersche Philosophie ohne die – Theologie Kierkegaards!?) (33) Bis inunsere unmittelbare Gegenwart herein hat die systematische Philosophie dannund dadurch Großes geleistet, daß sie sich ihres Zusammenhanges mit der Theo-logie bewußt war. Ein Eduard von Hartmann z.B. ist deswegen unter Professo-ren ein echter Philosoph von Weltformat, weil er – vollverantwortlich für einegegebene historische Situation der Tradition – das Weltproblem als Gottespro-blem behandelt. Er ist der letzte Idealist, der den Heimweg der erträumten„Weltvernunft“ in das wirkliche Ich noch nicht gefunden hat, der letzte, der dieüberlieferte Gottesvorstellung dadurch glaubt retten zu können, daß er aus dempersönlichen Gott des Christentums eine pantheistisch-unpersönliche Urwe-senheit der Natur und des Geistes macht, die zwar immer noch allwissend undallweise – aber nebenher „unbewußt“ ist. Solche Tragödie der Philosophie istDramatik echten heldischen Wagemutes, ist ihrer Substanz nach gewiß nicht„Angst“. Das Schicksal der gegenwärtigen protestantischen Theologie ist unent-rinnbar dem Schicksal des philosophischen Idealismus verhaftet. Wenn die ge-genwärtigen Theologen des Protestantismus dies einzusehen sich entschließen,werden sie ihre dialektischen Eiertänze satt haben.

Ein Plato läßt sich aus dem Ursprung der Philosophie im Griechentumebensowenig wegeskamotieren, wie ein Hegel aus der Geistesproblematik unse-rer gegenwärtigen Epoche. Wir begegnen doch wie natürlich dem PhilosophenPlato selbst in der Rektoratsrede des Herrn Heidegger. Was ist es denn anderesals eine Reminiszenz an Platons „Staat“ mit seinem Nährstand, Wehrstand undLehrstand, (34) wenn der Rektor der Freiburgischen Universität im Frühlingdes Sturmjahres 1933 seine Studenten moralisch verpflichtet auf „Arbeits-dienst“, „Wehrdienst“, „Wissensdienst“? Aber Plato ist auch der Philosoph, andem sich die entscheidenden Wendungen und Neuorientierungen in der Phi-losophie der Gegenwart abheben müssen. Was an unserer Kultur fragwürdiggeworden ist, z.B. alle Staatsmystizismen, sei es Hegelscher oder sozialistisch-marxistischer Prägung, stammt zuletzt aus Plato, und Plato tut auch heute nochseine Dienste, wenn es gilt, die „übersinnliche Welt“ – also in Wahrheit des re-präsentativen Menschen Innenwelt – in den Dienst von Kirchen und Sekten zubemühen.

Über Plato sagt ein radikaler Philosoph der Gegenwart Entscheidendes:„Die große Täuschung des Menschen über sich selbst hat einer der größten Phi-

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losophen aller Zeiten in ein kühnes, wundersames System gebracht. Dieser Phi-losoph ist Plato. … Alles, was Plato als Ideenwelt jenseits der Dinge vorhandenglaubt, ist menschliche Innenwelt. Der Inhalt des menschlichen Geistes aus demMenschen herausgerissen und als eine Welt für sich vorgestellt, als höhere, jen-seitige Welt: das ist platonische Philosophie. Ich gebe Ralph Waldo EmersonRecht, wenn er (Repräsentanten der Menschheit) sagt: ‚[…] Aus Plato kommenalle Dinge, die noch heute geschrieben und unter denkenden Menschen verhan-delt werden.‘ Den letzteren Satz möchte ich etwas genauer in folgender Formaussprechen. Wie Plato über das Verhältnis des menschlichen Geistes zur Weltempfunden hat, so empfindet auch heute die überwiegende Mehrheit der Men-schen. (35) Sie empfindet, daß der Inhalt des menschlichen Geistes, das mensch-liche Fühlen, Wollen und Denken auf der Stufenleiter der Erscheinungen obenzu stehen kommt, aber sie weiß mit diesem geistigen Inhalt nur etwas anzufan-gen, wenn er außerhalb des Menschen, als göttliches oder irgendein andereshöheres Wesen, notwendige Naturordnung, moralische Weltordnung – undwie der Mensch sonst das, was er selbst hervorbringt, genannt hat – vorhandengedacht wird.“

Rudolf Steiner schrieb diese Sätze über Plato im Jahre 1899, und der Ver-fasser dieser Schrift glaubt es sich für sein Teil schenken zu können, aus solchenSätzen einen ganz überflüssigen „Widerspruch“ zur Anthroposophie Steiners zukonstruieren. Vielleicht allerdings hat sich besagte Anthroposophie allererstnoch zu bewähren im Kampf gegen die menschenverderbenden Philo-Sophis-men unserer Gegenwart.

Stellen wir uns vor, was die vertrauend verehrende Weltoffenheit Goetheszu dem folgenden Satze der Heideggerschen Rektoratsrede sagen müßte: „Wis-senschaft ist das fragende Standhalten inmitten des sich ständig verbergendenSeienden im Ganzen.“45 Könnte es nicht an der zeitgenössischen Gepanzertheitdes Philosophen liegen, daß der Geist der Natur sich resigniert in Distanz hält?Der Goetheanismus behauptet es zum mindesten: „Es liegt im Wesen der Seele,beim ersten Anblick der Dinge etwas auszulöschen, das zu ihrer Wirklichkeitgehört. Daher sind sie für die Sinne so, wie sie nicht in Wirklichkeit sind (Wirk-lichkeit gleich erschlossene Wahrheit), sondern so, wie die Seele sie gestaltet.(Dabei könnte die Seele nun stehen (36) bleiben, könnte ihre subjektive Gestal-tungsweise als „ursprüngliches Verstehen“ ausgeben, – oder aber die Seele kannsich aus Goetheschem Vertrauen bemühen, das Erkenntnislicht anzustecken.)Aber ihr (der Dinge) Schein oder ihre bloße Erscheinung beruht darauf, daßdie Seele ihnen erst weggenommen hat, was zu ihnen gehört. Indem der Menschnicht bei dem ersten Anschauen der Dinge verbleibt, fügt er im Erkennen das zuihnen hinzu, was ihre volle Wirklichkeit erst offenbart. Nicht durch das Erken-nen fügt die Seele etwas zu den Dingen hinzu, was ihnen gegenüber ein unwirk-

45 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 110.

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liches Element wäre, sondern vor dem Erkennen (im bloßen Anglotzen) hat sieden Dingen genommen, was zu ihrer wahren Wirklichkeit gehört.“ (Steiner, DieRätsel der Philosophie.) Das ist Goetheanistische Erkenntnishaltung. Die Dingesind dem „Menschen im Herzen“. Der Mensch ist kein Zuschauer des Welt-geschehens, er ist auch nicht ein bloßes In-der-Welt- Sein, sondern der Menschist als Erkennender das vorzüglichste Organ der Ganzheit der Welt, weil Naturnur im Menschen-Innern zu sich selbst heimkommen kann.

Da reden sie heute von der Feindschaft des Geistes gegen die Seele. Da ichunter Geist nichts anderes verstehen kann als den Geist eines wirklichen Men-schen, kann ich mir solches Gerede nur deuten, wenn ich argumentiere: Je nach-dem,wer einer ist, wird es verständlich erscheinen, ob seinGeist der Widersacherder Seele ist oder das Gegenteil. Die Philosophen sollten sich nicht anmaßen,ihre eigensten „Komplexe“ zu Weltangelegenheiten aufzubauschen. (37)

Was ist nach Heidegger der allerletzte Sinn von „Wissenschaft“ im Rahmender politischen Universität? Unmißverständlich offenbart sich die geistige Füh-rerschaft des Freiburger Rektors in unmißverständlicher Auskunft auf unsereFrage:

„Wollen wir dieses Wesen der Wissenschaft, dann muß die Lehrerschaft derUniversität wirklich vorrücken in den äußersten Posten der Gefahr der ständi-gen Weltungewißheit.“46 „… wenn es wahr ist, was der leidenschaftlich Gottsuchende letzte deutsche Philosoph, Friedrich Nietzsche sagte: ‚Gott ist tot‘ –,wenn wir Ernst machen müssen mit dieser Verlassenheit des heutigen Menscheninmitten des Seienden, wie steht es dann mit der Wissenschaft? Dann wandeltsich das anfänglich bewundernde Ausharren der Griechen vor dem Seiendenzum völlig ungedeckten Ausgesetztsein in das Verborgene und Ungewisse, d. i.Fragwürdige. Das Fragen ist dann nicht mehr nur die überwindbare Vorstufezur Antwort als dem Wissen, sondern das Fragen wird selbst die höchste Gestaltdes Wissens.“47

– – – –Ob wir es uns – unter der Zucht der Meister der Philosophie – abgewöhnen

müssen, zu wähnen, daß Wissenschaft vom Wissen lebt, daß das Fragen umwil-len der Antwort ist?

Unter dem „völlig ungedeckten Ausgesetztsein in das Ungewisse und Frag-würdige“ dieser hohen philosophischen Wissenschaft glaube ich verstehen zusollen, daß (38) solche Wissenschaft unter der drohenden Gefahr desjenigensteht, was man den gesunden Menschenwitz nennt. Dem Heideggerschen Wis-senschaftsbegriff entspricht notwendig sein Begriff des Geistes.

„Wollen wir das Wesen der Wissenschaft im Sinne des fragenden, ungedeck-ten Standhaltens inmitten der Ungewißheit des Seienden im Ganzen, dann

46 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 112.47 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 111.

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schafft dieser Wesenswille unserem Volke seine Welt der innersten und äußers-ten Gefahr, d.h. seine wahrhaft geistige Welt.“48 Das scheint etwas optimistisch.Geht es in der Wirklichkeit von jeher so zu, daß man das, was man will, auchschon hat? Seit wann ist denn Wollen ein „Schaffen“? Heidegger meint: dasWesen der Wissenschaft ist identisch mit einem Fragen; will ich dieses Fragen,dann habe ich die „geistige Welt“. Vielen Nichtesoterikern wird diese Art vonLogik nicht liegen.

Heidegger gibt seiner Definition der „geistigen Welt“ einen leichten politi-schen Akzent. Das war nicht nötig, denn der Eingeweihte weiß ohnehin, daßwir es hier mit der Schulstube der deutschen Bildung zu tun haben. Das Stich-wort dieser Universitätsbildung heißt Dilthey.

Dilthey ist der Entdecker des „geschichtlichen Menschen“, der so etwas wieein vornehmerer Zwillingsbruder des Haeckelschen „natürlichen Menschen“ist. Über die Wissenschaft um die Jahrhundertwende hatte sich die Landplagedes Historismus gelegt. Viel wurde seit Nietzsche gegen die Gefahren der his-torisierenden Betrachtungsart geschrieben. Unter Historismus versteht man dieAufklärung eines gegenwärtigen Phänomens aus einem vergangenen. Der nüch-terne Sinn des gesunden Menschen (39) weiß, daß es derlei prinzipiell nichtgeben kann. Der Historismus ist eine ganz unproduktive Wissenschaftsrich-tung. An der echten Naturwissenschaft ist zu lernen, wie man Vergangenesnachträglich gedanklich durchdringen kann. Als die Geologie die vulkanisti-schen Spekulationen überwunden hatte, ging sie dazu über, die gegenwärtigenFormationen der Erdbildung zu studieren und daraus auf die Vergangenheit inberechtigten Grenzen Schlüsse zu ziehen. Ein Analoges finden wir bei Haeckel:Er untersucht am menschlichen Embryo die gegenwärtigen Formbildungen desnatürlichen Menschen, findet in der Abfolge der Formstadien eine Parallele zuder Entwicklungsreihe der Tierheit aus primitiven zu höheren Stufen undspricht diese Beobachtung als biogenetisches „Gesetz“ aus. In den sogenanntenGeisteswissenschaften, die dort anfangen, wo Haeckel aufhört (Haeckel hat fürdie spezifisch geistig-seelische Innenwelt des Menschen kein Interesse), kann esgrundsätzlich nicht anders zugehen. Eine bedeutende geschichtliche Persönlich-keit – der Vergangenheit wird derjenige „verstehen“, der selbst aktuell ein rei-ches und bedeutendes Innenleben führt. Echte geschichtliche Tradition gibt esnur im schöpferischen Akte der Gegenwart. Seit dem 20. Jahrhundert stellt sichdie Universitätsphilosophie die neu gesehene Aufgabe – der Fragwürdigkeitendes Historismus mehr oder weniger deutlich bewußt – den Menschen als Han-delnden innerhalb der „geschichtlichen Welt“ ebenso zu verstehen, wie den indie Natur hineingestellten natürlichen Menschen. Man strebte nach Methodenund nach Kategorien, den geschichtlich handelnden Menschen innerhalb des

48 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 111f.

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Kulturprozesses (40) der menschlichen „Gesellschaft“ „wissenschaftlich“ zu er-fassen. In diesen Bestrebungen nimmt Dilthey die Führerstellung ein.

Dieser Philosoph ist der Erfinder des „geschichtlichen Menschen“, und der„geschichtliche Mensch“ Diltheys ist nicht etwa ein „Einzelmensch“, weil er alssolcher zugleich bloß „natürlicher Mensch“ wäre. Was ist also der „geschicht-liche Mensch“? Er ist eine professorale Willkürkonstruktion. Dilthey begehtden verhängnisvollen Fehler, nicht zu wissen, daß im repräsentativen natürli-chen Einzelmenschen das Urbild des wirklichen geschichtlichen Menschen zusuchen ist. Goethe ist dadurch ein „geschichtlicher Mensch“, weil er in be-stimmter Weise die Geschichte seines ganzen Volkes repräsentiert. Erst allmäh-lich kommen die Philosophen in der Gegenwart (z. B. Ernst Cassirer) auf denGedanken einer Logik der Repräsentation. Vorerst bewegt sich die Philosophiein willkürlichen Begriffskonstruktionen. Dilthey hat als erster jene Theorie des„Verstehens“ ausgebildet, zu der Heidegger schlechterdings auch nicht dasAtom eines eigenen Gedankens hinzufügte, als er Dilthey zur Grundlage seinerPhilosophie machte. Die Welt, in der der „geschichtliche Mensch“ für den „ver-stehenden“ Philosophen auftritt, ist nicht die wirkliche natürliche Welt, sonderndie Welt der „menschlichen Gesellschaft“ und ist bei Dilthey und Heideggergenau besehen die idealistisch verdünnte „Welt“ des Marxismus. Innerhalb deridealistischen menschlichen Gesellschaft stehen das Verständnis meiner selbstund anderer in gegenseitiger Abhängigkeit. Ich verstehe den Andern aus denErlebnismöglichkeiten meines eigenen (41) Ich, das Verstehen ist ein Wieder-finden des Ich im Du. Wenn Dilthey die historische Objektivierung der Inhalte,die den Individuen der „geschichtlichen Welt“ – faktisch oder „möglicherweise“– gemeinsam sind, als „objektiven Geist“ bezeichnet, so ist dieser „objektiveGeist“ deswegen eine abgründige Illusion, weil sein „geschichtlicher Mensch“ja gar kein wirklicher „Einzelmensch“ ist, sondern ein professorales Abstrak-tum. Die Inhalte des objektiven Geistes sind ganz und gar keine „möglicher-weisen“ Inhalte, sondern sind die Inhalte der repräsentativen großen Geister.Von objektivem Geist kann mit Sinn und Verstand nur gesprochen werden alsvom konkreten Geist von konkreten wirklichen Einzelmenschen repräsentati-ver Artung: Die Möglichkeit des Christentums als einer „geschichtlichen“ Reli-gion beruht ganz darauf, daß ein universell repräsentativer Geist in dem Men-schen Jesus von Nazareth von der Jordantaufe bis zum Kreuzestod lebte. DieserGeist (des Gottes Christus) erhebt den Anspruch, repräsentativ zu sein für alleswirkliche Menschsein im geistigen Sinne. Wir kennen von diesem universellenGeist nur erst dasjenige, was er für die Ethik der Menschen bedeutet, wir kennennoch nicht dasjenige, was dieser Geist bedeuten kann, wenn er durch einenwirklichen Menschen zum Gesetzgeber des Erkennens wird. Die Krisis desChristentums und der Philosophie bewegt sich in dieser Spannung zwischenethischem „Glauben“ und echtem Erkennen und Wissen. Träte ein menschheits-repräsentativer Erkenner unter uns auf, so wären wir vor die Frage gestellt, ob

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wir die Innenwelt eines solchen Repräsentativen als „objektiven Geist“, als„geistige Welt“ anzusprechen (42) haben. Zu solchen Überlegungen ist dieSchulphilosophie bisher nicht vorgestoßen.

Es blieb Dilthey nur noch der Schritt zu tun übrig: aus den Höhen desGeistes in die Niederungen des „praktischen Lebens“ herunterzusteigen. Ermeint nämlich, das „Verstehen“ anderer Menschen erwachse zuerst aus den „In-teressen“ (wiederum ein Motiv Heideggers) des praktischen Lebens. Diesespraktische Leben ist heute deswegen eminent unpraktisch, weil es den Geistanstatt aus dem repräsentativen Geist überragender wirklicher Menschen ausdem „verstehenden“ Tun von „geschichtlichen Menschen“ herleitet, welche„geschichtlichen Menschen“ – im Westen und Osten – beinahe Staatsmännerwären, wenn Dilthey ihnen das nicht verunmöglichen würde, weil sie doch als„geschichtliche Menschen“ keine wirklichen „Einzelmenschen“ sein können.

Aus dieser Philosophie des Professors Dilthey fällt einiges Licht auf denGeistbegriff seines Schülers Heidegger. Man muß der Behauptung Diltheysund Heideggers, das Verstehen anderer Menschen erwachse allererst aus denpraktischen „Interessen“, das denkwürdige Tun Goethes als Erkenntnis- undLebenspraktikers entgegenhalten, von dem das geisteswissenschaftliche metho-dische Prinzip herstammt, aus der innigsten Anteilnahme an dem vollen Reich-tum der Natur- und Menschenwelt – interesselos zu verstehen, das geläuterteSelbst des Erkennenden in seiner Fülle zum Organ zu machen, durch das dieFülle der Gotteswelt sich selbst ausspricht. Diese Gesinnung hat ihren mattenAbglanz in der politischen Phrase, die den Gemeinnutzen vor den Eigennutzenstellt. (43)

Von einer „Weltvernunft“, durch die sich im Repräsentativen die Welt selbstausspricht, will Heidegger nichts wissen. „Denn ‚Geist‘ ist weder leerer Scharf-sinn, noch das unverbindliche Spiel des Witzes, noch das uferlose Treiben ver-standesmäßiger Zergliederung, noch gar die Weltvernunft, […].“49Hier hat sichHerr Heidegger etwas gar zu kleinformatige Äußerungsweisen des Geistes alsGegner seines „Geistes“ auserwählt. Herr Heidegger würde uns imponieren,wenn er eindeutig erklärte, daß vor allem der Christus-Geist, als sittlicher undals erkennender Geist, von ihm radikal abgelehnt wird. Zu meiner nicht gerin-gen Verwunderung finde ich aber in der ganzen Rektoratsrede das Christentumüberhaupt nicht erwähnt. Wenn schon das Christentum nicht unter die Belangeder Zuchtmeister des deutschen Volkes fällt, dann darf zum mindesten daranerinnert werden, was maßgebliche Führer ihrerseits als ihre Stellungnahmezum Christentum kund getan haben.

Ich zitiere nach Wilhelm Stapel „Sechs Kapitel über Nationalsozialismusund Christentum“: „Daß Hitler sein katholisches Christentum ernst nimmt, istaus seinem Buche ‚Mein Kampf‘ und aus vielen sonstigen Äußerungen bekannt.

49 Martin Heidegger, „Die Selbstbehauptung der deutschen Universität“ (GA 16), 112.

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[…] Lassen wir die persönlichen Bekenntnisse der Führer dahingestellt, undhalten wir uns an das Parteiprogramm. […] Es heißt da, Punkt 24: ,Die Parteials solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich kon-fessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden.‘“

Wenn also Herr Heidegger Adolf Hitler in Zucht zu nehmen beabsichtigt,so wird er dem Führer des deutschen (44) Volkes allererst sein Christentumabzugewöhnen haben.

Ich habe nicht die Absicht, mich zum Apologeten „des“ Christentums zumachen. Ich habe ziemlich ausgebildete Vorstellungen über das, was man öffent-lich die Krisis des Christentums nennt. Mag manches endgültig stürzen, wasseinen legitimen Ort längst auf dem Kehrichthaufen der Geistesgeschichte hat.Aber dies eine weiß ich: als ein bedeutender Mann im Geiste wird die Zukunftnur denjenigen anerkennen, der mit dem Neuen, was er bringt, das Vergangenenicht zerstört, sondern in seinem positiven Kern verklärt und erhöht; der dasGesetz nicht zerbricht, sondern erfüllt.

Die Theologen, unter Führung Wilhelm Stapels, diskutieren gegenwärtigdas Gesetz, den „Nomos“ – nicht des jüdischen, sondern des deutschen Volkes.Sie treiben Historismus, diese Theologen. Sie haben noch nicht begriffen, daßdas „Gesetz“ des Alten Testaments nur darum eine Weltfrage wurde, weil es derMutterboden der Christusoffenbarung ist: Sie wollen nicht wahrhaben, daß dieTaten der geistigen Welt nicht ein für alle Male abgeschlossen sind. Sie diskredi-tieren die deutsche Volkheit der Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, wenn sie nichtin Erwägung zu ziehen vermögen, in welchem konkreten Sinne das deutscheVolk das „auserwählte Volk“ Gottes sein möge, d.h. was als Christentum derZukunft der Welt nur aus der besonderen Substanz des deutschen Volksgeisteserwachsen könne.

Ich sehe das Fundament eines künftigen Christentums gegeben in dem Mutdes deutschen Philosophen, der die (45) folgenden Sätze und Gedanken auf-stellt, durch die der den Christus-Impuls in das Tun und Handeln des erkennen-den Geistes vortreibt. Mag man über die Meinung lächeln, daß „Erkenntnis-theorie“ mit Christentum etwas zu tun haben soll. Es ist dennoch wahr, daßjedenfalls das Schicksal der spezifisch deutschen Theologie des Protestantismusauf das innigste mit dem Schicksal der deutschen Philosophie verwachsen ist. Esist berechtigt, auf die folgenden Sätze die Frage zu richten, in welchem Sinne sierepräsentativ sind.

„Die Dinge und Vorgänge würden mir aus sich selbst nie das geben, was ichdurch meine denkende Betrachtung über sie gewinne. Aus sich selbst geben siemir eben das, was ich ohne diese Betrachtung besitze. Ich entnehme dasjenigeaus mir selbst, was ich in den Dingen als deren tiefstes Wesen sehe. Die Gedan-ken, die ich mir über die Dinge mache, produziere ich aus meinem Innern he-raus. Sie gehören trotzdem zu den Dingen. Das Wesen der Dinge kommt miralso nicht aus ihnen, sondern aus mir zu. Mein Inhalt ist ihr Wesen. Ich käme

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gar nicht dazu, zu fragen, was das Wesen der Dinge ist, wenn ich nicht in miretwas vorfände, was ich als dieses Wesen bezeichne, als dasjenige, was zu ihnengehört, was sie mir aber nicht aus sich geben, sondern was ich nur aus mir neh-men kann. – Im Erkenntnisprozeß entnehme ich aus mir das Wesen der Dinge,ich habe also das Wesen der Welt in mir. Folglich habe ich auch mein eigenesWesen in mir. Bei den andern Dingen erscheint mir zweierlei: ein Vorgang ohnedas Wesen und das Wesen durch mich. Bei mir selbst sind Vorgang und Wesenidentisch. Das (46) Wesen der ganzen übrigen Welt schöpfe ich aus mir, undmein eigenes Wesen schöpfe ich auch aus mir.“ (Rudolf Steiner, 1899)

Herr Heidegger brauchte nicht besorgt zu sein, daß wir mit diesem Be-kenntnis des deutschen Geistes, indem wir es interpretieren als christliche Er-kenntnistheorie, nicht „wirklich vorrücken in den äußersten Posten der Ge-fahr“. –

– – –Ein repräsentativer deutscher Philosoph des Jahres 1933, Rektor einer deut-

schen Universität, erhebt in feierlicher Rede den Anspruch, die geistigen Belan-ge des deutschen Volkes zu vertreten, sofern dieses Volk auf „Wissenschaft“ hin-orientiert ist.

Diese feierliche Rede verzichtet auf ein Wort zum Christentum.– – –Ich dekretiere, – vielmehr nicht ich dekretiere, sondern eine objektive Not-

Wendigkeit dekretiert: Die erklärten offenen Feinde des Christentums von Lu-dendorff bis zu den Bolschewisten sind eine Gottesgabe, gemessen an der ge-tarnten Feindschaft gegen den Geist und damit gegen das Christus-Prinzip,wie sie die Substanz der „Philosophie“ Heideggers bildet.

6. Hans Naumann, „Sorge und Bereitschaft.(Der Mythos und die Lehre Heideggers)“50

Die folgenden Darlegungen haben ihre Berechtigung gewiß nur dann, wennman die grundsätzlichen geistigen Grenzen zwischen Philosophie, Dichtungund Mythos leugnet. Ich glaube, daß der Geschichtsschreiber der „menschlichenIdeen überhaupt“ leichter als die drei hier berührten Einzelwissenschaftler ge-neigt sein wird, die philosophische, die dichterische und die mythische Denkartweithin einander gleichzusetzen und in ihnen drei engverwandte Formen des

50 In: Hans Naumann, Germanischer Schicksalsglaube, Jena 1934, 68–88. Hans Naumann (1908–1951) war Germanist, Volkskundler und überzeugter Nationalsozialist. 1934 war er u.a. Rek-tor der Universität Bonn. Vgl. zu Naumann Thomas Schirrmacher, „Der göttliche Volkstums-begriff“ und der „Glaube an Deutschlands Größe und heilige Sendung“. Hans Naumann alsVolkskundler und Germanist unter dem Nationalsozialismus, 2 Bände, Bonn 1992.

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„Heiß ist der Reichtum. Denn es fehlenAn Gesang, der löset den Geist.“

Diesen Gesang gab er uns. Und wir wissen. Und wir wissen, wenn wir heutesolchen Gesang vernehmen, ist uns die Dichtung geschenkt, in deren Macht-bereich wir uns (nach Heideggers eigenem Wort) geben wollen. Sie ist das Werkder Dichter, die mitten unter uns stehen und von Taten singen wie Hölderlin:

„Manche helfenDem Himmel. Diese siehetDer Dichter. Gut ist es, an andern sichZu halten. Denn keiner trägt das Leben

allein.“

Der Dichter steht mitten im Volk: da beginnt für uns die Deutung vom Wesender Dichtung. Und die Sprache ist ihm das herrlichste Werkzeugs seines Berufs,aber eben Werkzeug und nicht Ziel.

Dr. Willi Fr. Könitzer.

12. Bruno Altmann, „Ernüchterung eines Philosophen.Heidegger macht nicht mehr gerne Pfötchen“74

Schon vor der Machtergreifung Hitlers hatten die Nationalsozialisten Mar-tin Heidegger zu ihrem offiziellen Philosophen erhoben. Aeusserlich biogra-phisch war das geradezu kurios. Er kam her von der „Marburger Schule“ unterHermann Cohen. Im weiteren Entwicklungsgang schloss er sich Ernst Cassireran und ein dritter Jude, Edmund Husserl, gewann massgebenden Einfluss aufseine philosophischen Ueberzeugungen. Dann folgte der Sprung zur Metaphy-sik. Cohen, Cassirer, Husserl waren damit verabschiedet. Aber nun erlegte sichHeidegger eine grössere Abhängigkeit auf als vorher. Henri Bergson wurde seinMeister. Was Heidegger sagt oder sagen will, steht viel eindrucksvoller formu-liert in den Büchern des französischen Philosophen.

Ueber Heideggers Entwicklung sind viele Witze gerissen worden: denschlechtesten hat er selbst gemacht, als er nach allem Nationalsozialist wurde.Ein ausdrückliches Bekenntnis zum Dritten Reich hat er vor 1933 eigentlich nieabgelegt. Er sprach sich aber, meistens in dunkler Bildersprache und mit orakel-

74 In: Neuer Vorwärts, 1938, Nr. 256 (15. Mai 1938), Beilage, 3. Altmann hat zusammen mit PaulKampffmeyer das Buch Vor dem Sozialistengesetz. Krisenjahre des Obrigkeitsstaates (Berlin1928) verfaßt. Der Neue Vorwärts war die zunächst in Prag, dann in Paris erscheinende Exil-zeitschrift der Sozialdemokraten, die den Anfang 1933 in Deutschland verbotenen Vorwärtsfortsetzte.

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haften Andeutungen, zugunsten des totalen Staates in der Hand des allmächti-gen Führers aus. Er war ganz dafür, Kunst, Wissenschaft, Religion auf Staats-zwecke abzustellen und den Staats-, respektive Führerkult zum Hauptinhaltder Religion zu machen. Er ging mit den Rassisten mit, ohne für die NordikerTheorie à la Stapel-Günther75 Glauben aufzubringen. Es sah da immer so aus,als ob er kein gutes Gewissen hatte, die Rasse seiner jüdischen Lehrer in dieUnterklasse des Menschentums zu verweisen. Man hielt also Heidegger mit gu-ten Gründen für einen Nationalsozialisten und er selbst schien sehr erfreut zusein, als ihn Goebbels einmal, 1932 schon, parteioffiziell zum repräsentativenPhilosophen des Dritten Reiches ernannte.

Anerkennung verpflichtet. Nach Hitlers Machtübernahme gebärdete ersich offen nationalsozialistisch. Er hielt viele Reden über Führer, Führer-Eig-nung, Führer-„Ethos“. Dabei prägte er einmal das Wort, dass die HegelscheStaatsidee ihre vollendete Ausprägung in Hitler-Deutschland gefunden und da-mit „eine Platonische Idee an sich in der Wirklichkeit“ geworden sei.

Aber auch Heideggers Enthusiasmus hielt nicht an. Seit mehr als einem Jahrpassierte es ihm öfters, dass er bei der Studentenbegrüssung die vorgeschriebene„Heil-Hitler“-Formel unterliess. Absicht? Fehlleistung im psychoanalytischenSinne, d.h. Unachtsamkeit aus verdrängter Gesinnung des Uebelwollens? DieFreiburger Studenten stellten mit grossem Vergnügen fest, dass Heidegger auchnicht mehr gern „Pfötchen mache“. Ein grosser Teil der akademischen Jugend,die einstige Avantgarde des Nationalsozialismus, steht heute in Opposition. DasDritte Reich hat sie böse enttäuscht. Von ihm erwartete sie die Wiederherstel-lung der alten Burschenherrlichkeit und der traditionellen Vorrechte im Staats-dienst. Sie musste erleben, dass gerade das Hitlersystem damit Schluss machte.Die Ersetzung der akademischen Freiheit durch Arbeitslager, Gemeinschafts-lager, militärischen Dienst hat die Studentenschaft, insbesondere die in Corps-und Burschenschaften organisierte, erst recht gegen den Nationalsozialismusaufgebracht. „Passt auf, der Heidegger läuft ihnen auch noch davon!“

Im Sommer 1937 hielt er Seminarübungen in Anknüpfung an ThomasHobbes Werk „Leviathan“. Was sollte das bedeuten?76 Leviathan, das ist derallmächtige, in alle privaten Sphären eindringende Staat und Hobbes legt demRepräsentanten dieses Staates, dem absoluten Fürsten, geradezu die Pflicht auf,die Angelegenheiten des privaten Lebens möglichst vollzählig in den Staatsraum

75 Wilhelm Stapel (1882–1954) war völkischer Schriftsteller und Autor von u.a. Antisemitismus(Hamburg 1920). Hans F. K. Günther (1891–1968) war deutscher Eugeniker und Rassefor-scher und gehörte zu den Vordenkern des nationalsozialistischen Rassismus. Ab 1930 war erHerausgeber der Zeitschrift Rasse. Monatschrift der Nordischen Bewegung. Ab 1935 war erProfessor für Rassenkunde, Völkerbiologie und Ländliche Soziologie in Berlin; von 1940 bis1945 war er Professor in Freiburg.

76 Von einer Seminarübung Heideggers zu Thomas Hobbes’ Leviathan ist bislang nichts be-kannt. Es könnte sich um eine Privatseminar gehandelt haben.

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einzubeziehen, um sie in seinem Interesse zu regeln. Wollte Heidegger für seinnachlässiges „Pfötchen machen“ Busse tun? Wollte er zeigen, dass er noch im-mer vor Begeisterung für Hitler und Goebbels bersten kann? Durchaus nicht.Er benutzte die Hobbes’sche Schrift, um die Verfehltheit der totalitären Staats-kompetenzen und ihren vandalisierenden Einfluss auf die menschliche Ge-sittung darzulegen. Der sonst ziemlich pathetische und zur Schulmeisterei nei-gende Mann wurde dabei manchmal witzig. Wenn Hobbes dem absolutenMonarchen das Recht einräumt, seinen Untertanen Religion oder Religions-losigkeit vorzuschreiben, so gab ihm Heidegger auch noch das Recht, sie aufSpinoza und Einstein einzuexerzieren. Jawohl, der verruchte Name Einstein fielim akademischen Seminar und die meisten Studenten quittierten mit Beifalls-getrampel. Wenn Hobbes seinem absoluten Fürsten gestattete, Grundsätze derLogik abzuändern und die Abänderung als neues Dogma gewaltsam einzufüh-ren, so empfahl Heidegger ihm noch, den Untertanen zu befehlen, dass sie ihreNasen auf dem Rücken tragen. Der ehemalige Verfechter des Staatsabsolutismuswar also nach vierjähriger Hitlerkur dahintergekommen, dass durch das Total-system theoretisch und praktisch jeder Wahnwitz ermöglicht wird. Es war ihmzum Bewusstsein gekommen, dass die Einbeziehung von Wissenschaft, Kunst,Weltanschauung in die Staatsraison höchst unsittlichen Zwecken dienen könne,besonders wenn die Betreuer des Staatsabsolutismus abenteuernde, ungebildeteRessortleiter sind.

Heidegger wählte noch einen anderen Trick.Gegen Ende 1933 ist eine Broschüre des Leipziger Universitätsprofessors

Theodor Litt unter dem Titel „Die Geisteswissenschaften im nationalsozialisti-schen Staat“ erschienen (Verlag Quelle und Meyer, Leipzig).77 Dort wird gründ-lich abgerechnet mit dem Unterfangen, gewisse Doktrinen wie Rassehochwer-tigkeit der einen Menschengruppe, Minderwertigkeit der anderen dogmatischals Forschungsprinzip zu Grunde zu legen und so zu verfahren, als ob alle Ge-schichte, alle Kulturaktionen nur Ausstrahlungen von Rasseenergien wären.Wer es tue, der mache aus der Geschichte ein fatalistisches Puppentheater mitgenau zugewiesenen Rollen, der mache die historischen Ereignisse zu ganz ne-bensächlichen Angelegenheiten, da sie ja nur dazu da seien, um das eine, daswichtig ist, die Rassequalität positiven oder negativen Vorzeichens, zu bekun-den. Wer solchen Forderungen nachkomme, der bringe ein ganz unangebrachtesPrinzip in die Untersuchung hinein und sei ein Charlatan, kein ernster Forscher.Ausgerechnet diese Broschüre hat Heidegger den Studenten als eine Art kriti-schen Nachwortes zum „Leviathan“ zu lesen empfohlen. Nun ging die Jagd auf

77 Der vollständige Titel dieser Schrift lautet: „Die Stellung der Geisteswissenschaften im Natio-nalsozialismus“. Sie erschien als Einzelschrift und in Die Erziehung 8 (1934), Heft 12. Vgl. zuLitt und seiner Kritik am Nationalsozialismus auch Wolfgang Matthias Schwiedrzik, Lieberwill ich Steine klopfen … Der Philosoph und Pädagoge Theodor Litt in Leipzig 1933–1947,Leipzig 1997.

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die Littsche Schrift los. Im Buchhandel darf sie nicht mehr bezogen werden.Zwei Exemplare waren in der Universitätsbibliothek, hunderte wollten sie ha-ben. Wer die Broschüre erwischte, zeigt sie stolz, wer sie noch nicht hatte, wur-de neidisch. „Jawohl, der Heidegger hat auch gründlich die Nase plein [sic!].“

Man zieht Parallelen mit anderen, mit Richard Strauss, mit Planck.78 Siewollten sich dem Dritten Reich zur Verfügung stellen, sich vielleicht gar hofie-ren lassen und immer müssen sie die Erfahrung machen, dass man nicht einmalden modus vivendi mit ihren Führern finden kann, wenn man den Ansprucherhebt, Gelehrter, Künstler und sittlicher Mensch zu bleiben.

Bruno Altmann.

13. Bruno Altmann, „Heidegger und Banse“79

Der Nationalsozialismus hat, vor und nach der Machtergreifung, eine wah-re Jagd auf die berühmten Künstler, Gelehrten, Intellektuellen veranstaltet. Siesollten ihn mit Werk und Autorität vom Verdacht der Bildungsfeindschaft be-freien. Tatsächlich liefen ihm nach und nach Renommiergrössen aus allen Win-keln zu. Lenard vertrat die Physik; Bier die Medizin; Heidegger und Nicolai [sc.Hartmann] die Philosophie; Richard Strauss die Musik; Banse die Geographie;Spann die Soziologie; Benn die Dichtung.80 Einige von ihnen, wie Heidegger

78 Altmann bezieht sich hier darauf, dass vor allem in den Jahren umittelbar nach der national-sozialistischen Machtergreifung der Komponist Richard Strauss (1864–1949) und der Physikerund Nobelpreisträger Max Planck (1958–1947) dem Nationalsozialismus nicht ohne ein ge-wisses Wohlwollen gegenüberstanden und sich auch politisch instrumentalisieren ließen, dannaber eine zunehmend ambivalent bis kritisch zu nennende Haltung entwickelten. So warStrauss u.a. von 1933–35 Präsident der Reichsmusikkammer; Planck spielte als Präsident derKaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegenüber den neuen Machthabern eine nicht unproblematischeRolle.

79 In: Die neue Weltbühne 34 (1938), 930–934. Die neue Weltbühne war eine zunächst in Prag,dann in Paris erscheinenende politisch links und antifaschistisch orientierte Exilzeitschrift, inder die 1933 verbotene Die Weltbühne eine Fortsetzung fand.

80 Der Physiker Philipp Lenard (1862–1947) hatte 1905 den Nobelpreis erhalten. Lenard warAntisemit, stand bereits sei den 1920er Jahren in Beziehung zur NSDAP und entwickelte u.a.eine „arische Physik“. Nicolai Hartmann (1882–1950) war ab 1920 Professor für Philosophiean der Universität Marburg. Dort lernte er Martin Heidegger kennen. 1925 wechselte er nachKöln und 1931 wurde er Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Berlin. Dernationalsozialistischen Ideologie stand er distanziert gegenüber. August Bier (1861–1949) warbis 1932 Professor für Chirurgie gewesen und stand ebenfalls schon vor 1933 dem National-sozialismus nahe. Ewald Banse (1883–1953) war ein Geograph und Schriftsteller, der u.a. dieExpansionspolitik des Nationalsozialismus theoretisch untermauerte. Othmar Spann (1878–1950) war Ökonom und Soziologe, der ab den 1920er Jahren dem Nationalsozialismus nahestand, aber ab Mitte der 1930er Jahre seitens der Nationalsozialisten zunehmend kritisch be-trachtet wurde. 1938 war er für einige Monate im Konzentrationslager Dachau. GottfriedBenn (1886–1956) war Arzt und Dichter, der kurzzeitig den Nationalsozialismus unterstützte,dann aber zunehmend zum Gegenstand der nationalsozialistischen Kritik wurde.

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heute Nacht schon reise. Ich werde Sie aber von meiner Rückkehr sofort be-nachrichtigen.

Heil Hitler!Ihr sehr ergebener

Aly

5. Martin Heideggers Karteikarte aus der Zentralkartei der NSDAP69

6. Brief von Alfred E. Hoche an Joseph Sauer (1933)70

Der Direktor der psychiatrischen u. Nervenklinik der Bad. Universität FreiburgFreiburg i. Br., 19. Mai 1933

Vertraulich.

69 Das Original befindet sich im Bundesarchiv Berlin (Personenbezogene Unterlagen des ehema-ligen Berlin Document Center; NSDAP-Mitgliederkarteikarten).

70 Das Original befindet sich im Universitätsarchiv der Universität Freiburg (UAF NachlassSauer C67/1485). Vgl. zu Hoche S. 230 und zu Sauer S. 27.

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