Heimlicher Transfer von HIV-Medikamenten nach Afrika · individuellen ebene denken, was...

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1 3 FALL UND KOMMENTARE Eine 30-jährige Patientin wird seit Erstdiagnose einer HIV-Infektion in der infektiologi- schen Sprechstunde eines Tertiärkrankenhauses betreut. Die Patientin stammt aus einem afrikanischen Land und ist seit einigen Jahren in Europa. Die HIV-Infektion wurde während ihrer Schwangerschaft im Rahmen der Routine-Untersuchungen festgestellt. Durch einen rechtzeitigen Beginn einer HIV-Therapie während der Schwangerschaft, mittels Kaiser- schnitt als Geburtsmodus sowie einer Post-Expositions-Prophylaxe konnte die Übertragung der Infektion auf das Kind verhindert werden. Wenige Monate nach der Geburt fällt den behandelnden Ärzten auf, dass die Patientin zunehmend depressiv wirkt. Bald zeigen die Laborkontrollen einen Anstieg der HI-Virus- last, was eine ungenügende Therapie-Adhärenz vermuten lässt. Der Patientin wird erklärt, dass eine regelmäßige Medikamenten-Einnahme auch nach der Geburt der Tochter wichtig ist. Eine behandelte HIV-Infektion hat eine gute Prognose, wohingegen eine unregelmäßige Medikamenten-Einnahme die Entwicklung von Resistenzen des Virus begünstigt, was ein komplizierteres Therapie-Regime nötig macht und die Prognose verschlechtert. Die Patien- tin gibt an, die Medikamente häufig vergessen zu haben aufgrund einer belastenden häus- lichen Situation. Sie scheint jedoch die Erklärungen der Ärzte zu verstehen und verspricht, die Medikamente wieder regelmäßig einzunehmen. Ihre Motivation besteht im Wunsch, ihrem Kind ein besseres Leben zu ermöglichen. Ihr eigenes Leben empfindet sie als zerstört durch die Krankheit. Leider verbessert sich im weiteren Verlauf die Virus-Suppression nicht bei weiterhin vermuteter mangelhafter Therapie-Adhärenz. Bei fortbestehender depressiver Verstimmung wird die Diagnose einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion bei mul- tiplen psychosozialen Belastungsfaktoren gestellt und eine antidepressive Therapie begon- nen. Erstmals berichtet die Patientin über ihre familiäre Situation. Sie wuchs als jüngstes Kind mit vier Brüdern auf. Da die Mutter chronisch krank war, musste die Patientin schon früh den Haushalt übernehmen. Sie erfuhr Gewalt durch den alkoholabhängigen Vater und wurde als 11-jähriges Kind von einem Unbekannten vergewaltigt. Die Schule konnte sie nur aufgrund von sexuellen Kontakten mit einem Lehrer beenden. Bei ihrer späteren Arbeit als Pflegefachperson betreute sie viele Patienten, welche an Aids starben. Ihre Heirat mit einem Landsmann bezeichnet sie ursprünglich als Liebesheirat, wobei dieser als Regime-Kritiker politisch verfolgt wurde und nach Europa floh. Seine Flucht hatte Repressalien gegenüber Ethik Med (2012) 24:57–58 DOI 10.1007/s00481-011-0172-6 Heimlicher Transfer von HIV-Medikamenten nach Afrika Online publiziert: 7. Januar 2012 © Springer-Verlag 2011

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eine 30-jährige Patientin wird seit erstdiagnose einer HIV-Infektion in der infektiologi-schen Sprechstunde eines tertiärkrankenhauses betreut. die Patientin stammt aus einem afrikanischen land und ist seit einigen Jahren in europa. die HIV-Infektion wurde während ihrer Schwangerschaft im rahmen der routine-untersuchungen festgestellt. durch einen rechtzeitigen Beginn einer HIV-therapie während der Schwangerschaft, mittels Kaiser-schnitt als Geburtsmodus sowie einer Post-expositions-Prophylaxe konnte die Übertragung der Infektion auf das Kind verhindert werden.

Wenige monate nach der Geburt fällt den behandelnden Ärzten auf, dass die Patientin zunehmend depressiv wirkt. Bald zeigen die laborkontrollen einen anstieg der HI-Virus-last, was eine ungenügende therapie-adhärenz vermuten lässt. der Patientin wird erklärt, dass eine regelmäßige medikamenten-einnahme auch nach der Geburt der tochter wichtig ist. eine behandelte HIV-Infektion hat eine gute Prognose, wohingegen eine unregelmäßige medikamenten-einnahme die entwicklung von resistenzen des Virus begünstigt, was ein komplizierteres therapie-regime nötig macht und die Prognose verschlechtert. die Patien-tin gibt an, die Medikamente häufig vergessen zu haben aufgrund einer belastenden häus-lichen Situation. Sie scheint jedoch die erklärungen der Ärzte zu verstehen und verspricht, die medikamente wieder regelmäßig einzunehmen. Ihre motivation besteht im Wunsch, ihrem Kind ein besseres Leben zu ermöglichen. Ihr eigenes Leben empfindet sie als zerstört durch die Krankheit.

leider verbessert sich im weiteren Verlauf die Virus-Suppression nicht bei weiterhin vermuteter mangelhafter therapie-adhärenz. Bei fortbestehender depressiver Verstimmung wird die diagnose einer anpassungsstörung mit längerer depressiver reaktion bei mul-tiplen psychosozialen Belastungsfaktoren gestellt und eine antidepressive therapie begon-nen. erstmals berichtet die Patientin über ihre familiäre Situation. Sie wuchs als jüngstes Kind mit vier Brüdern auf. da die mutter chronisch krank war, musste die Patientin schon früh den Haushalt übernehmen. Sie erfuhr Gewalt durch den alkoholabhängigen Vater und wurde als 11-jähriges Kind von einem unbekannten vergewaltigt. die Schule konnte sie nur aufgrund von sexuellen Kontakten mit einem lehrer beenden. Bei ihrer späteren arbeit als Pflegefachperson betreute sie viele Patienten, welche an Aids starben. Ihre Heirat mit einem landsmann bezeichnet sie ursprünglich als liebesheirat, wobei dieser als regime-Kritiker politisch verfolgt wurde und nach Europa floh. Seine Flucht hatte Repressalien gegenüber

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Heimlicher Transfer von HIV-Medikamenten nach Afrika

online publiziert: 7. Januar 2012© Springer-Verlag 2011

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der Patientin zur Folge, was auch sie zur Flucht veranlasste. die übrigen Familienmitglieder blieben in afrika, wobei einer der Brüder wegen der Flucht seiner Schwester ins Gefäng-nis kam. ein weiterer Bruder ist schwer krank. die Patientin leidet unter einem schlechten Gewissen gegenüber ihrer Herkunftsfamilie und macht sich vor allem große Sorgen um den kranken Bruder. Ihre aktuelle Situation in Europa ist belastet durch finanzielle Sorgen und häusliche Gewalt seitens des Ehemanns. Auch der Ehemann ist HIV-infiziert, lässt sich jedoch nicht behandeln. Sie sind beide als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskon-vention anerkannt.

Im weiteren Verlauf lässt sich unter engmaschigen Kontrollen mit ausführlichen Gesprä-chen langsam ein therapie-ansprechen als ausdruck einer verbesserten therapie-adhärenz verzeichnen. Zu einer resistenzbildung ist es bisher nicht gekommen. anlässlich einer regu-lären Kontrolle versichert die Patientin erneut eine regelmäßige medikamenten-einnahme. es fällt jedoch auf, dass sie früher als erwartet ein neues rezept für ihre medikamente anfor-dert. obwohl das letzte rezept zum medikamenten-Bezug für drei monate berechtigte, sind die medikamente bereits nach einem monat ausgegangen. In einem längeren Gespräch schildert die Patientin den Grund: Sie hat seit der Geburt des Kindes wiederholt einen teil ihrer HIV-medikamente ihrem HIV-positiven sowie an tuberkulose erkrankten Bruder nach afrika geschickt, da sich dieser eine therapie nicht leisten kann. Seit der unterstützung durch die Schwester geht es ihm deutlich besser, zur Überraschung des dort behandelnden arztes, was die Patientin unbedingt weiterhin ermöglichen will. die hiesigen Ärzte machen auf die Gefahr der resistenzentwicklung sowohl bei der Patientin als auch beim Bruder auf-merksam und auf die tatsache, dass die Krankenkasse nicht die therapie für zwei Personen bezahlen wird. die Patientin ist verzweifelt und hebt hervor, dass ihr Bruder ohne ihre Hilfe sterben werde und dass sie nicht anders handeln könne als ihm zu helfen.

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dieser Fall berührt zutiefst, indem er ein für menschen in Westeuropa beinahe unvorstell-bares lebensschicksal schildert.

es geht um die bestmögliche Behandlung einer Patientin, die nicht – wie anfangs ver-mutet – bezüglich ihrer langzeit-HIV-therapie „incompliant“ ist, sondern einen teil der für sie verschriebenen antiretroviralen medikamente zu ihrem Bruder nach afrika schickt, der an aids erkrankt ist. nach aussagen der Patientin geht es dem Bruder dadurch besser. die behandelnden Ärzte erläutern der Patientin die Konsequenzen ihres Handelns. Wenn sowohl die Patientin als auch der Bruder zu wenig der HIV-medikamente erhalten, könnten sich bei beiden Virusresistenzen entwickeln, die ein komplexeres therapieregime erforder-lich machen. Wenn die Ärzte dem Wunsch der Patientin folgen und die doppelte dosis an medikamenten verschreiben, würde dies die Krankenkasse zudem über kurz oder lang bemerken. Wie es scheint, wird die Patientin jedoch trotzdem weiterhin medikamente zu ihrem Bruder schicken – und zwar unabhängig davon, ob sie die für sie notwendige einfache medikamentendosis oder die doppelte dosis erhält. Verschreiben die Ärzte die doppelte dosis, wird die Patientin vermutlich eine für sie ausreichende Behandlung erhalten und zudem wird sich vermutlich der Gesundheitszustand des Bruders der Patientin weiterhin verbessern. die Krankenkasse würde dann aber die medikamente für zwei statt für einen Patienten bezahlen, wobei der eine Patient nicht mitglied der Krankenkasse ist.

Doch auch wenn dies nicht auffiele (was auf die Dauer unwahrscheinlich ist), erscheint diese lösung problematisch. es werden Gelder der Solidargemeinschaft für einen Patienten verwendet, der dieser Solidargemeinschaft nicht angehört. Zunächst bestehen also direkte Hilfspflichten nur der im Lande versicherten Patientin gegenüber. Man könnte argumentie-ren, dass die Patientin eigenverantwortlich entscheiden kann und die behandelnden Ärzte für einen entstehenden Schaden nicht verantwortlich sind, da die Patientin aufgeklärt wurde

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Kommentar I zum Fall: „Heimlicher Transfer von HIV-Medikamenten nach Afrika“

Tanja Krones · Christine Angelika Rüegg · Huldrych Fritz Günthard · Annette Rid · Verina Wild

PD Dr. med. Dipl. Soz T. Krones () · Dr. med. C. A. Rüegg · Prof. Dr. med. H. F. Günthard · Dr. med. A. Rid · Dr. med. V. WildUniversitätsspital Zürich, DERM C 18, Gloriastrasse 31, 8091 Zürich, SchweizE-Mail: [email protected]

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und sie die Problematik verstanden hat. man kann auf dieser Basis überlegen, die medika-mente nur für einige wenige Tage mitzugeben und/oder eine Abgabe der Medikation unter aufsicht zu veranlassen. letzteres ist jedoch nur eine hypothetische möglichkeit, da die Patientin nicht drogenabhängig oder psychisch krank ist, und erscheint zudem kontrapro-duktiv. diese option würde der Fürsorge und dem Wunsch, der Patientin nicht zu schaden, wenig entsprechen und das Vertrauensverhältnis eventuell so belasten, dass sich die Patien-tin der Behandlung entzieht.

doch es existiert darüber hinaus eine weitere ebene, die wir auch aus individueller Per-spektive als moralisch problematisch empfinden können: Es bestehen globale Ungerechtig-keiten in Bezug auf die Verteilung von Gütern und den Zugang zu Gesundheitsleistungen. dadurch, dass die Ärztinnen und Ärzte nun von dem Bruder Kenntnis haben, erhält die Ungerechtigkeit ein Gesicht und sie könnten sich durch die „rule of rescue“ verpflichtet fühlen zu helfen (nach AR Jonsen). Diese als starke menschliche Neigung bezeichnete „rule of rescue“ besagt, dass wir uns identifizierbaren Menschen gegenüber stärker verpflichtet fühlen als den „nameless faces“, daher dem Bruder der Patientin eventuell mehr als den vielen anderen menschen, die ebenfalls weltweit an aids sterben.

In diesem Fall wird uns die global bestehende ungerechtigkeit jedoch nicht nur sehr direkt offenbar, sie ist auch mit den direkten Hilfspflichten für die Patientin verknüpft. Wir ahnen aufgrund der sozialen und Beziehungssituation, dass die Patientin auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit weiter medikamente zu ihrem Bruder schicken wird. man mag aus den angaben des Falls zudem spekulieren, dass die traumatische lebensgeschichte der Patien-tin zu einem Selbstbild geführt hat, nicht viel wert zu sein und sich aufopfern zu müssen. Weiter mag die tatsache, dass die Patientin früher selbst aids-Kranke behandelt hat, die in Afrika häufig schnell sterben, dazu führen, dass sie weniger Glauben an die Effektivität der medikamente hat, als diese real für sie selbst haben können. dies lässt an verschiedene Interventionsmöglichkeiten (Patientenbildung, Aufarbeitung der Traumata etc.) auf der individuellen ebene denken, was möglicherweise die Situation verbessert. das dilemma, dass die Patientin ihrem Bruder auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit weiter helfen wollen wird, ist damit nicht gelöst.

darüber hinaus heißt es in der Genfer deklaration des Weltärztebundes, dass jeder arzt nicht nur der Gesundheit des Kranken sondern auch der Humanität insgesamt verpflich-tet sei. Dieser bislang wenig diskutierte, über direkte Verpflichtungen eigenen Patienten gegenüber hinausgehende Impetus des Genfer Gelöbnisses, der auch menschen in anderen Ländern einschließt, macht aus indirekten Hilfspflichten gegenüber „der Menschheit“ ein den arzt direkt bindendes moralisches Prinzip. damit berührt dieser Fall den noch jungen Bereich der „Global ethics“ [3]: Wie viel schulden wir als Individuum oder insgesamt als Gesellschaft denjenigen, die nicht in unserem land leben, denen wir uns aber als men-schen verbunden fühlen (können)? Das Spektrum der Auffassungen reicht von liberalen ansichten, dass wir „denen überhaupt nichts schulden“, da wir an der entstehung ihres leidens nicht beteiligt sind [2], bis zu Vertretern des „Cosmopolitanism“ (z. B. [1, 4]), die direkte moralische Pflichten jedes Menschen gegenüber jedem anderen Menschen der Welt als gegeben oder zumindest konstruierbar ansehen.

Die Ärztinnen und Ärzte können sich also sowohl im Sinne der direkten Hilfspflichten für die Patientin als auch im Sinne der indirekten Hilfspflichten gegenüber der Menschheit moralisch verpflichtet fühlen, mehr zu tun als lediglich der Patientin ihre Einzeldosis zu verschreiben. es ist jedoch schwer vertretbar, für die dosis des Bruders die gesetzlichen Krankenkassen zu belasten. das Budget der humanitären Hilfe wäre hierfür geeigneter. So könnte dieser Fall anlass geben, sich für einen Hilfsfonds am Krankenhaus einzusetzen, der soziale Härtefälle innerhalb und sogar außerhalb der eigenen Staatsgrenzen abdeckt. mit

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derartigen strukturellen lösungen wäre auch dem umstand rechnung getragen, dass nicht nur dem einzelnen Bruder geholfen würde, sondern in vergleichbaren Fällen auch andere davon profitieren könnten.

das gebotene ausmaß von engagement über die eigenen Staatsgrenzen hinaus ist auch aus der debatte um „Global ethics“ heraus nicht klar bestimm- oder einforderbar. Ärztinnen und Ärzte, die sich dem kosmopolitischen Impetus des Genfer Gelöbnisses tugendethisch verpflichtet sehen, werden jedoch eher diesen Weg gehen, der in einer Welt zunehmender Globalisierung und globaler ungerechtigkeit als Vorbild dienen kann.

Literatur

1. Brock G (2009) Global justice. A cosmopolitan account. Oxford University Press, Oxford2. Narveson J (2003) We don’t owe them a thing! A tough-minded but soft-hearted view of aid to the faraway

needy. Monist 86:419–4333. Pogge T, Horton K (Hrsg) (2008) Global ethics: seminal essays. Paragon House, St Paul4. Young IM (2006) Responsibility and global justice: a social connection model. Soc Philos Policy

23(1):102–130

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das recht auf Zugang zu guter Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall ist in den wirt-schaftlichen, sozialen und kulturellen menschenrechten enthalten, deren völkerrechtliche ausformulierung durch den un Social Covenant 1966 erfolgte (seit 1976 in Kraft) und von inzwischen 160 Ländern ratifiziert wurde.

die nichtrealisierung dieses rechts hat vielfältige strukturelle Gründe: mangelhafte öffentliche Finanzierung allgemein zugänglicher Gesundheitsdienste, die deshalb unzurei-chend mit engagiertem Personal und Sachmitteln ausgestattet sind; diskriminierung gegen-über marginalisierten, ausgegrenzten sozialen oder ethnischen Gruppen; hohe direkte Kos-ten für Patienten im Krankheitsfall, die für arme eine massive Barriere darstellen oder gar mitwirken an der Verarmungsspirale (die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass jährlich bis zu 100 Mio. Menschen durch sog. „katastrophische Krankheitskosten“ in die Armut abgleiten).

Die (groß)familiären Verpflichtungen zur gegenseitigen Unterstützung in Krankheitsfäl-len sind oft die einzigen realen solidarischen Sicherungen und dementsprechend gemein-schaftlich und individuell stark moralisch verpflichtend. Sie bieten bei überschaubaren, epi-sodischen Krankheitsfällen einen wichtigen Schutz, sind aber bei teuren und chronischen Gesundheitsproblemen (z. B. größere Operationen, Diabetes, Karzinome, HIV/AIDS) rasch überfordert. Denn diese informellen „Versichertenkollektive“, die füreinander eintreten, sind zu klein, um hohe Kosten dauerhaft auf viele Schultern umzuverteilen.

der moralisch-ethische druck, der auch auf Familienmitgliedern lastet, die im ausland leben, sich an solchen Kosten zu beteiligen, kann dabei enorm werden, besonders für jene, die im vermeintlich „reichen“ Westen angekommen sind und als besonders wohlhabend angesehen werden, unabhängig von ihren tatsächlichen finanziellen Ressourcen.

Im vorliegenden Fall wird dieses Dilemma in aller Schärfe deutlich: Die (Selbst-)Ver-pflichtung zur Hilfe für den eigenen Bruder, dessen HIV-Infektion im Heimatland nicht behandelt werden kann aufgrund fehlender medikamente oder zu hoher Kosten, bringt die

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Kommentar II zum Fall: „Heimlicher Transfer von HIV-Medikamenten nach Afrika“

Andreas Wulf

Dr. med. A. Wulf ()medico international, Burgstr. 106, 60389 Frankfurt/Main, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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Patientin dazu, ihre eigene medikation mit ihm zu teilen – mit fatalen Folgen für ihre eigene Gesundheit (und vermutlich auf längere Sicht auch für die des Bruders), da eine unregel-mäßige und zu geringe einnahme der medikamente zu unzureichender unterdrückung der Virusvermehrung führt. Zusätzlich entsteht dadurch ein stark erhöhtes Risiko einer Resis-tenzentwicklung der HI-Viren, die dann ggf. Therapieänderungen hin zu komplexeren und aufwendigeren Kombinationen von Reservemedikamenten erforderlich machen wird.

darüber hinaus steht die Patientin nicht nur zwischen ihren eigenen Gesundheitsinteres-sen und denen ihres Bruders, sondern auch noch in der Verantwortung für ihre kleine toch-ter, deren unbeschwertes aufwachsen durch die Krankheit und den drohenden vorzeitigen Tod der Mutter stark eingeschränkt wird.

auch die behandelnden Ärzte stehen in einem ethischen dilemma – sollten sie eine „Doppelversorgung“ für diese Patientin akzeptieren und entsprechend mehr antiretrovirale Medikamente rezeptieren, damit der Bruder im Heimatland informell mitversorgt werden kann, begehen sie streng gesehen einen Betrug an der Kranken- oder Sozialkasse, die für die teuren medikamente aufkommt, auch wenn man ein solches Vorgehen zur Sicherung der therapietreue der Patientin und damit der Wirksamkeit der therapie spontan moralisch rechtfertigen mag.

auf der individuellen ebene ist dieses ethische dilemma nicht lösbar – erst wenn die sozialen rechte aller menschen auf gute Gesundheitsversorgung als (globale) kollektive Verantwortung oder „common good“ anerkannt werden und entsprechend strukturelle Bedingungen geschaffen werden, solche rechte auch in konkreter Form institutionalisier-ter „sozialer Infrastruktur“ wie etwa einer kostenlosen öffentlichen Gesundheitsversorgung realisierbar zu machen, wird ein Ausweg sichtbar.

Ein solcher Paradigmenwechsel im Umgang mit scheinbar „naturwüchsig“ begrenzten ressourcen für Gesundheitsversorgung in armen ländern, die solche ethischen dilemmata auf die Schultern von Gesundheitsprofessionellen, Planern und angehörigen lud, gelang exemplarisch rund um die Milleniumswende 2000/2001: Die Option einer AIDS-Behand-lung mit ihren damals über 10.000 USD Jahresmedikamentenkosten pro Patient war weit außerhalb des konventionell denkbaren für Gesundheitssysteme besonders in Subsahara-Afrika, in denen pro Einwohner und Jahr mitunter weniger als 10 USD (und fast immer weniger als 50 USD) öffentlich verfügbar waren und bis heute sind.

Erst mit einem massiven öffentlichen Einsatz von Menschen mit HIV und AIDS sowohl aus ländern des Südens wie aus dem norden gelang es, die reichen Staaten zu einer substan-tiellen Erhöhung internationaler Mittel für Gesundheitsfinanzierung der armen und von den wichtigsten Infektionskrankheiten bedrohten Länder zu bewegen und dies bis heute fortzu-setzen. Exemplarisch hierfür (aber nicht alleine) steht der Globale Fonds zur Bekämpfung von HIV/AIDS, TB und Malaria, dessen Mittel inzwischen viele Millionen Behandlungen und Präventionsanstrengungen gegen diese drei Krankheiten und auch gewisse gesundheits-systemstärkende Maßnahmen finanzieren.

Dass es möglich war, in den von AIDS hauptbetroffenen Ländern des südlichen und öst-lichen afrika die Zahl der behandelten Patienten in öffentlichen Gesundheitsprogrammen in den letzten 10 Jahren von nahezu Null auf inzwischen 3,9 Mio. zu bringen und damit ihr Überleben zu sichern, (die drastische Kostensenkung der medikamentenkosten durch qualifizierte indische Generikahersteller ermöglichte diese Zahlen) stellt eine faktische Glo-balisierung des menschenrechts auf Gesundheit dar, das gemäß traditionellem Verständnis der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen menschenrechte nur ein anspruch von Staats-bürgern gegenüber ihren Regierungen war.

Die Debatte globaler Verantwortung für existentielle Sicherungen wie Gesundheitsver-sorgung hat dadurch einen neuen Schub bekommen und mit dem Konzept eines „Global

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Kommentar II zum Fall: „Heimlicher Transfer von HIV-Medikamenten nach Afrika“

Framework for Global Health“ der Joint Action and Learning Initiative on National and Global Responsibilities auch einen konkreten Diskussionsbeitrag, der auch in den Jahres-gesundheitsbericht 2010 der WHO eingegangen ist.

nur mit solchen strukturellen Veränderungen lässt sich perspektivisch das ethische dilemma der Patientin zwischen ihrer eigenen und der Gesundheit des Bruders ebenso wie jenes der Ärzte zwischen den Fürsorgepflichten gegenüber ihrer Patientin und der For-derung nach korrekter und sparsamer Mittelverwendung auflösen – in eine gemeinsame Sicherung für alle menschen, unabhängig von ihrem aufenthaltsort und staatsbürgerlicher Zugehörigkeit.

daher gilt es, solche moralischen Probleme nicht allein auf individueller ebene lösen zu wollen – etwa indem die Ärzte der Patientin möglichst unauffällig mehr medikamente ver-schreiben und ihr damit stillschweigend die mitversorgung des Bruders ermöglicht wird –, sondern es gilt genau dieses Dilemma politisch zu skandalisieren: Indem Mediziner(innen) nicht nur individuell ihre Patienten behandeln, sondern aus der konkreten erfahrung eine öffentliche lösung wie oben skizziert einfordern und damit den engen Zusammenhang einer guten individuellen medizin und Strukturen öffentlicher Gesundheit wieder herstellen, der allzu leicht in der klinischen Alltagspraxis verloren geht.

literatur beim Verfasser