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1 Heinrich Wilhelm von Gerstenberg Ugolino Eine Tragödie in fünf Aufzügen Vorbericht Die Geschichte dieses Drama ist aus dem Dante bekannt. Ugolino, Graf von Gherardesca, und seine drei Söhne sind die Personen. Die Zeit der Vorstellung eine stürmische Nacht. Die Szene ein schwach erleuchtetes Zimmer im Turm. Erster Aufzug ANSELMO. Hilf dem armen Gaddo, mein Vater! Sein Anblick dringt mir ans Herz. UGOLINO. Guten Mut, mein wackrer Anselmo. – Armer Gaddo! GADDO. Ach, mein Vater! ANSELMO. Ich dachte nicht, daß es so böse Menschen auf der Welt geben könnte. Warum hat der Turmwärter dem armen Gaddo nichts zu essen gebracht? Ein tückischer Mann, der Turmwärter! UGOLINO. Er kann krank sein; es kann ihn ein Unglück betroffen haben. Er ist unschuldig an unserm Hunger. ANSELMO. Hungert dich denn auch, mein Vater? UGOLINO. Dich nicht, mein Lieber? ANSELMO. Mich dünkt, daß mich weniger hungern würde, wenn der arme Gaddo zu essen hätte. Ich kann sein eingefallnes bleiches Gesicht nicht ohne Schmerz ansehen. Umarmt Gaddo. UGOLINO. Armer Gaddo! GADDO. Sei nicht traurig, mein Vater. ANSELMO. Sieh, mein Vater, ich bin nicht traurig. Trocknet sich die Augen ab. Ich bin nur müde.

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Heinrich Wilhelm von Gerstenberg

Ugolino Eine Tragödie in fünf Aufzügen

Vorbericht

Die Geschichte dieses Drama ist aus dem Dante bekannt. Ugolino, Graf

von Gherardesca, und seine drei Söhne sind die Personen.

Die Zeit der Vorstellung eine stürmische Nacht.

Die Szene ein schwach erleuchtetes Zimmer im Turm.

Erster Aufzug

ANSELMO. Hilf dem armen Gaddo, mein Vater! Sein Anblick dringt mir

ans Herz.

UGOLINO. Guten Mut, mein wackrer Anselmo. – Armer Gaddo!

GADDO. Ach, mein Vater!

ANSELMO. Ich dachte nicht, daß es so böse Menschen auf der Welt

geben könnte. Warum hat der Turmwärter dem armen Gaddo

nichts zu essen gebracht? Ein tückischer Mann, der

Turmwärter!

UGOLINO. Er kann krank sein; es kann ihn ein Unglück betroffen haben.

Er ist unschuldig an unserm Hunger.

ANSELMO. Hungert dich denn auch, mein Vater?

UGOLINO. Dich nicht, mein Lieber?

ANSELMO. Mich dünkt, daß mich weniger hungern würde, wenn der

arme Gaddo zu essen hätte. Ich kann sein eingefallnes

bleiches Gesicht nicht ohne Schmerz ansehen. Umarmt

Gaddo.

UGOLINO. Armer Gaddo!

GADDO. Sei nicht traurig, mein Vater.

ANSELMO. Sieh, mein Vater, ich bin nicht traurig. Trocknet sich die

Augen ab. Ich bin nur müde.

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UGOLINO. Und müßt ihr meine Tröster sein? Ha! es ist bitter.

ANSELMO. Du sagtest, dem Turmwärter sei ein Unglück begegnet. Ist

denn niemand, der ihm den Liebesdienst tun könne, statt

seiner zu kommen? Es ist doch unbillig, daß Gaddo nicht

essen soll. Kein Weib, keine Tochter, kein Blutsfreund?

UGOLINO. Ich hoffe, mein Anselmo, daß jemand für ihn kommen werde.

ANSELMO. Die Bedauernswürdigen haben unsrer vielleicht über dem

Unglück des Mannes vergessen.

UGOLINO. So ist's.

ANSELMO. Ich bedaure sie von Herzen.

UGOLINO. Gott wird dich wieder bedauern, mein Geliebter.

ANSELMO. Und den kranken Gaddo.

UGOLINO. Uns alle.

ANSELMO. Dich? Und ein Gott müßt es nur sein, der dich bedauerte.

Von der Welt braucht ein so großer Mann, wie du, nicht

bedauert zu werden. Meine Mutter hat mir oft gesagt, daß du

ein sehr großer Mann bist; jedermann sagt es. Wenn ich ein

Mann wäre, ich will nicht träumen, ein großer Mann: denn

was habe ich, ich Pflanze! getan, daß ich ein Mann sein

könnte, wie du? aber wenn ich ein Mann wäre, niemand sollte

mich bedauern.

UGOLINO. Wie das?

ANSELMO. Doch itzt besinne ich mich: ich müßte auch ein freier Mann

sein; nicht im finstern Turm eingesperrt sitzen; frei müßt ich

sein; frei meine Hand (sie würde dann Nerve haben); frei

dieser Arm – ha!

UGOLINO. Du schweigst? du glühst? Rede weiter, mein Sohn Anselmo.

ANSELMO. Mein Vater! Seinen Arm um seinen Vater schlingend. Großer

Mann! schäme dich meiner nicht, daß ich erröte! Ah,

Gherardesca, nenne mich noch einmal deinen Sohn Anselmo!

UGOLINO. Mein geliebter, mein edler Sohn Anselmo! Mein männlicher

Sohn Anselmo!

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ANSELMO auf und ab gehend. Ich bin nur dreizehn Jahre alt: aber

Ugolino Gherardesca hat mich seinen Sohn genannt.

Männlicher Sohn ist zu viel: aber genug, Gherardesca hat mich

seinen Sohn genannt! Zittre du, o du, den ich itzt denke, zittre

vor dem Sohne Gherardescas, wenn er ein Mann sein wird!

UGOLINO. Welch großer Gedanke drängt sich, und keimt auf in deiner

zarten Seele? Bewundernswürdig!

ANSELMO. Ein Sprung vom Turme, sagte Francesco, ist ein kühner

Gedanke: allein ein kühner Gedanke, setzte er hinzu, ist ein

angenehmer Gedanke. Es ist wahr; je höher ich mir den Turm

denke, desto höher erhebt sich meine Seele.

UGOLINO. Nun?

ANSELMO. Wie ärgert's mich, daß Francesco mir darin zuvorkommen

mußte!

UGOLINO. Was schwärmst du, Knabe? Worin zuvorkommen?

ANSELMO. Das zu denken! ach! – In jedem entzückenden gefahrvollen

Gedanken läßt er mich hinter sich. Du würdest mich nicht so

mit der Miene Knabe nennen: würdest du? Es schmerzt mich,

mein Vater!

UGOLINO. Ruggieri, laß deinen Grimm diesen Weg nehmen! Auf sein

Herz zeigend. Feind meiner Seele, laß ihn diesen Weg nehmen!

ANSELMO erschrocken. Wen nanntest du? Ah, mein Vater!

GADDO. Ruggieri? O sieh, sieh, mein Vater! Hält ihm seinen Nacken hin.

so hat er mich geschlagen!

UGOLINO. Traurig! jammervoll! wie sie in meiner Seele wütet! o diese

Erinnerung!

GADDO. Er schlug mich! So hob er seine Hand auf! – Dann schlug er

mich. Weder mein Vater, noch meine Mutter haben mich

geschlagen. Meine Mutter wollte mich in ihrem Busen

verbergen; und der eiserne Erzbischof traf auch sie.

UGOLINO. Und wo war ich bei dieser schändlichen grausamen Szene?

Ah, Barbar! das ist es! das schmerzt! Daß deine Büttel mich

unter der schwärzesten aller Nächte (verbannt sei sie auf ewig

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aus meinem Gedächtnisse!) niederdrücken mußten, daß ich

nicht um mich her schauen, nicht in dem gerechten Zorne

meiner Seele mich erheben, dich nicht zwischen meine

ausgestreckten Hände fassen, dir nicht das verruchte Herz aus

dem Leibe drücken konnte! Doch du tatst wohl, daß du den

Bären aus seiner Höhle entferntest, und Dank sei deiner

Weisheit! Beruhigt euch, meine Kinder! Wie ist's, Gaddo?

GADDO. Sage mir, mein Vater, warum ward dieses Fenster so klein

gemacht?

ANSELMO. Daß man nicht durchschlüpfe, Gaddo.

GADDO. Ein glücklicher Einfall! Man hat vorausgesehn, daß der

Erzbischof versuchen würde, zu uns zu kommen, und darum

hat man das Fenster so klein gemacht. Ein guter Einfall! Ich

wunderte mich schon, daß er uns so lange in Ruhe gelassen

hat.

ANSELMO. Wollte Gott, er käme!

GADDO. Pfui, Anselmo!

ANSELMO. Ich sage noch einmal, wollte Gott, er käme.

GADDO. Das Blut starrt mir in den Adern, du böser Anselmo.

ANSELMO. Aber wohl zu verstehn, durch dies kleine Fenster: den Kopf

voran, und die übrige Schlange strotzte draußen im Freien,

und könnte sich nicht nachwinden! und ich stünde hinter ihm

an der Wand! ungesehn! Hei, Gaddo!

Umarmt Gaddo.

GADDO. Mutwilliger! Er würde seine Büttel mit sich bringen.

ANSELMO. Die möchten wieder heimkehren. Ich wünsche keinem

Menschen Arges, als ihm.

GADDO. Hat er dich auch geschlagen?

ANSELMO. Was Schlimmers, Gaddo. Er hat mich gehöhnt.

GADDO. Gehöhnt?

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ANSELMO. Er hob mich auf seine verhaßten Arme, als wäre ich ein

Säugling, setzte mir sein Barett auf den Kopf, und nannte mich

Prinz von Pisa.

GADDO. Prinz von Pisa? Was ist das?

ANSELMO. Merkst du denn nicht, daß er unsers großen Vaters spotten

wollte?

GADDO. So scheint's. Und du?

ANSELMO. Ich zitterte. »Bischof!« stammelte ich, »Bischof! warum? wie?

für was diese Krönung? Ich mache keine Ansprüche darauf,

Bischof. Ich lege das Diadema – zu deinen Füßen.« – Weg flog

das Barett.

GADDO. Gut war's, daß du das Barett nicht behieltest. Wer weiß, es

könnt ihn gereut haben; und so hätt er dich auch geschlagen.

UGOLINO. Ihr Kinder macht mich lächeln. Wie, mein kleiner Freund, du

warfst ihm das Barett vor die Füße? Was sagte der Mann da?

ANSELMO. Seine plumpen Augen schwollen ihm ganz dick im Kopf auf,

recht so, wie ich's an der Kröte gesehen habe, die Francesco

mit dem Wurf einer Orange traf. Er preßte mich fest an sich,

kniff blaue Mäler in meinen Arm, biß die Lippen zusammen,

und ließ sie dann hangen, sprach kein Wörtchen, nahm das

Barett langsam vom Boden auf. Traun, er kam mir so hölzern

vor, daß ich ihn im Bücken von mir stieß, und mit einem

Schwünge seinen Armen entsprang.

GADDO. Was für boshafte Menschen es gibt! Er kniff dich doch, ob du

ihm gleich das Barett zurückgabst!

ANSELMO. Nun fand er die Sprache. Er rief seinen Sbirren, mich den

Buben (so schalt seine Wut) meinem Vater (ich verschweige

den Namen seiner Vergiftung: was über seine Zunge geht, wird

ein Greuel) –

UGOLINO. Er hat keine andre Waffen.

ANSELMO. – nachzuschleppen, mich aus dem Drachenneste hinweg in

den Turmkerker zu schleppen. »Ich danke dir«, antwortete ich

mit einer Verbeugung, »ein Drachennest ward diese Wohnung

erst, da du sie mit deiner Brut betratst.« Ich wollte mehr sagen:

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die Sklaven aber bebten, wie Totengeribbe, mit mir davon.

Nun bin ich hier; drum sei nicht traurig, mein Vater.

UGOLINO. Ach, Anselmo, du süßer Knabe, kannst du –

ANSELMO. Du wendest deine teuren Augen von mir weg, mein Vater?

UGOLINO. Kannst du – und du, mein sanfter Gaddo – könnt ihr mir

vergeben, meine Kinder?

ANSELMO zu Gaddo. Unser Vater ist wunderbar bewegt. Wie er mir die

Hand drückt!

UGOLINO. Nur dies noch. – Ihr Unschuldigen, vergebt mir!

GADDO. Ach! er zürnt, unser Vater. Was mag er meinen?

ANSELMO. Er riß sich mit Gewalt von uns los. Er wollte noch etwas

sagen; ich sah's; er zwang die Sprache zurück in seine

männliche Brust; eine hohle dumpfigte Sprache, wie eines

Schluchzenden –

GADDO weinend. Ah!

ANSELMO. Fürchterlich!

GADDO. Erblasse nicht so, Anselmo! Du erschreckst mich nur mehr.

ANSELMO. Er wendet sich zu uns. Holdseliger Vater! wie er uns

anlächelt!

UGOLINO setzt sich. Komm her, mein Gaddo – wenn die Entkräftung dir

noch so viel Schritte erlaubt – geliebtes Kind – Hebt ihn auf

seinen Schoß.

GADDO. Ich? ich sollte entkräftet sein? Seines Vaters Hände küssend.

ANSELMO. Nein, Vater, belebende Kraft geht von deinem Antlitze aus;

das ist gewiß.

UGOLINO. Wie alt bist du, Gaddo? weißt du's?

GADDO. Zwölf Jahre, wo mir recht ist.

ANSELMO. Einfältiger Gaddo! kaum sechs.

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UGOLINO. Laß ihn, Anselmo. Jammer und Elend haben seinen kleinen

Lebenslauf schnell beflügelt. Er zählt besser als du glaubst.

ANSELMO. Wie, mein Vater? Ich selbst bin wenig über zwölf Jahre alt. Ich

müßte doch drum wissen.

UGOLINO. Wahr ist's. Deine reifern Tage haben viel Freude gekannt. O

du liebesvolle Genügsamkeit! Du hassest Ruggieri, sagst du?

sprich nicht, daß du ihn hassest.

ANSELMO. Ihn? Er ist mir ein Grauen! dir nicht, Gaddo? Hassest du ihn

nicht? Sprich.

GADDO. Ich fürcht ihn, Anselmo. Daß ich ihn hasse, kann ich nicht

sagen. Ich weiß nicht, was das ist.

UGOLINO. Gaddo liebt mich.

ANSELMO. Nicht mehr, als ich dich liebe; nicht mehr als ich

deinetwegen Ruggieri hasse!

UGOLINO. Meinetwegen?

ANSELMO. Deinetwegen: deiner zerstörten Glückseligkeit wegen, du

Befreier von Pisa! laß mich dich dies erstemal mit diesem

Namen nennen, großer Mann! Aber auch meiner Mutter

wegen; ihrer vielen Tränen wegen! Aber auch Gaddos wegen!

sollt ich den Feind deiner Ehre, den Urheber deines

Verderbens nicht hassen? Mein Vater, so müßt ich mich selbst

hassen; vergib mir.

UGOLINO. Nicht weiter! nicht weiter grausamer junger Mensch. Du bis

schwerer zu ertragen, als ein unruhiges Gewissen.

ANSELMO. Mein Vater!

UGOLINO. Geh!

ANSELMO. Den Urheber –

UGOLINO. Geh, sag ich, entfleuch!

ANSELMO. Vergib mir. Den Störer deiner Ruhe –

UGOLINO. Verstumme! Zittre!

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ANSELMO. Den Herrschsüchtigen –

UGOLINO. Zittre; du hassest mich! Der Urheber eures Verderbens, der

Störer eurer Ruhe, der Herrschsüchtige, der Verräter, der bin

ich! Genug, Schmerzenssohn! Du hast nicht verdient, was du

für mich leiden mußt.

ANSELMO zu Gaddo. Neue Wolken gehn in unsers Vaters Augen auf. Ich

für ihn leiden? Ach, mit Wonne! mit Wonne! wenn nur er dann

nicht litte! Nicht wahr, Gaddo, du wolltest auch für unsern

Vater leiden? wolltest du?

GADDO. O ja! viel lieber, als ihn so traurig sehn.

ANSELMO. Und worüber so traurig? sind wir nicht hier bei dem besten

Manne? Du auf seinem Schoße, ich in seinen Arm gelehnt?

Wenn jemand sich zu beklagen hat, so ist's unsre Mutter –

GADDO. Der der Mann mit dem traurigen Namen so unfreundlich

begegnete –

ANSELMO. Recht, daß er sie allein im Palaste zurückließ. Hier hätt er sie

herschicken sollen; und wir wären eine Welt der Freude

füreinander gewesen. Dies einzige ist's, glaube mir, Gaddo,

denn was könnt es sonst sein? was unsern Vater so traurig

macht. Husch! da kömmt Francesco. Läuft ihm entgegen. O

mein anmutiger Bruder! immer so heiter! so emporwallend!

Dein Kommen ist mir erwünschter, als der jugendliche

Morgen. Aber unser Vater ist traurig.

FRANCESCO leise zu Anselmo. Freue dich Anselmo: der Entwurf ist reif;

und er soll ausgeführt werden.

ANSELMO. Ist irgendein Beinbruch oder Armbruch oder so was damit

verbunden?

FRANCESCO. Nein, das ist eben das Schlimme, daß die Sache so gar

leicht ist. Nicht die mindeste Gefahr, auf mein Wort.

ANSELMO. Erkläre dich.

FRANCESCO. Du hast die Öffnung gesehn –

ANSELMO. Was? die Öffnung in der Spitze des Turms? Du schwärmst

Francesco!

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FRANCESCO. Haha! schwindelt dir so früh?

ANSELMO. Die Öffnung, sagst du, oben an der Spitze des Turms! Geh

doch! geh! dieser Gedanke ist so erhaben, daß ich ihn dir nicht

nachdenken kann: um desto mehr aber bewundre ich ihn.

FRANCESCO. Schmeichler!

ANSELMO. Ganz wider meine Absicht. Überdem getraut ich mir kaum,

ein Bein hindurchzubringen.

FRANCESCO. Nicht gestritten! Ich sage dir Bübchen, die Öffnung ist so

groß, daß sie beide durchschlüpfen, Kopf und Arme

hintendrein.

ANSELMO. Und wie hast du das gemacht?

FRANCESCO. Wie macht man's? Erst hab ich einen Stein gelöst, dann

wieder einen, dann noch einen, und abermals einen gelöst:

genug, Schwätzer, wenn du mir nicht glaubst, komm und sieh.

ANSELMO. Dann springst du von oben mit einem Sprunge aufs Pflaster

herunter! Patsch! war's nicht so?

FRANCESCO. Nicht völlig so. Mit Absätzen spring ich, wie das

Eichhörnchen vom Ahornbaum. Du hast's ja wohl gesehen.

ANSELMO. Ich springe doch mit, Lieber? Nun du mir davon sprichst,

wird's mir ja ganz warm im Kopfe. Nicht? ich springe doch mit,

Francesco?

FRANCESCO. Nicht doch! Du schreitest mit aller Gemächlichkeit zur

Turmtüre hinaus. Was ist begreiflicher, als daß ich die

Turmtüre öffne, wenn ich unten bin? Doch dies muß seine Zeit

haben. Soviel verspreche ich, ehe der Morgen kömmt, seid ihr

frei, frei, wie euch Gott erschaffen hat; oder ich heiße nicht

Francesco.

GADDO horchend. Ach lieber Gott! dann wird gegessen werden!

ANSELMO traurig. Und ich soll unten wie ein armseliger Tropf, zur

Turmtüre hinausschreiten? was sag ich schreiten? schleichen!

Eher soll man mich bei den Haaren hinausschleppen! Merke

dir's, Stolzer, ich springe!

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FRANCESCO. Tor, wird unser Vater nicht auch hinausschreiten?

GADDO der seines Vaters Schoß verläßt, und Anselmo am Rock zupft.

Sprich, daß du schreiten willst! Was ist daran gelegen? Geht's

doch hinauswärts!

UGOLINO auffahrend. Was habt ihr Kinder?

FRANCESCO. Mein Vater, es findet sich im Turm eine Öffnung – eine

Öffnung – von der ich dein Urteil wissen möchte.

UGOLINO. Der heftige Sturm, der über uns im Gewölke kracht, und die

Spitze schüttelt, hat vermutlich die Mauer zerrissen. Ist der Riß

so tief, daß man auf die Gasse sehen kann? Es würde mir ein

neuer schöner Anblick sein, auch außer diesen Wänden

Menschen, das Bild Gottes, zu erblicken; sowenig die in Pisa es

um mich verdient haben.

FRANCESCO. O Himmel! einen Riß nennst du's, mein Vater? Komm,

komm, du sollst Wunder sehn.

UGOLINO. Ha! ist's mehr, als ein bloßer Riß?

FRANCESCO. Einen Schlund nenn es, mein Vater; wofern man das einen

Schlund nennen kann, was den Leib eines Menschen

durchläßt –

UGOLINO. Was sagst du, Jüngling? Du treibst mir das Herz an den Hals

hinauf! Ha! geschwind laß mich sehn.

FRANCESCO winkt Anselmo. Gib acht, Bübchen, unser Vater wird's nicht

nur verstatten: er wird mich drum bitten.

UGOLINO. Hurtig! hurtig!

Geht mit Francesco ab.

ANSELMO. Bemerktest du den Übermut unsers Bruders? O Gaddo, es ist

ein unerträglicher Gedanke!

GADDO. Ein unerträglich süßer Gedanke! Nun kann ich's kaum

abwarten.

ANSELMO. Er der Erretter des Gherardesca? Wie wird's des Übermütigen

Herz aufschwellen, wenn unsere Mutter mit dem Finger

hinzeigt, sprechend: »Seht, dies ist mein Erstgeborner, der

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seinen Vater, und seine beiden Brüder befreite!« Von uns aber

sagt man kein Wörtchen!

GADDO. Wenn unsere Mutter das spricht, so wird mir's so lieb sein, als

spräche sie es von mir: warum? es gebührt ihm so!

ANSELMO. Allerdings. Aber hätt ich nicht machen können, daß es mir

auch so gebührte?

GADDO. Schäme dich, Anselmo. Du liebst Francesco nicht, wenn du ihn

nicht loben hören magst.

ANSELMO. O Gaddo, ich lieb ihn gewiß mehr, als du: denn ich möcht

ihm gleich sein.

Ugolino und Francesco kommen zurück.

UGOLINO schnell auf und ab gehend. Wenn diese Öffnung so tief unten

wäre, als sie hoch oben ist! –

FRANCESCO. Glaube nicht, mein Vater, daß sie zu hoch oben ist. Du

wirst die Zinnen draußen an der Mauer bemerkt haben.

UGOLINO. Gram und Alter haben mich schwerfällig gemacht. O

Ruggieri! Verworfner! nur einmal dich so unter meiner Hand

zu wissen! so dein Schlangenhaar zu ergreifen! so dein Leben

an die Spitze meines Fußes zu heften! so dir die höllische Seele

aus dem Leibe zu treten!

FRANCESCO. Königlicher Anblick! was wollt ich drum geben!

ANSELMO. Der Zorn schwellt ihm die Lippen!

UGOLINO. Gib mir Geduld! Gott im Himmel! Gib mir Geduld! Wartet

hier, meine Kinder. Ich komme gleich zu euch.

Geht ab.

FRANCESCO. Er wird die Öffnung näher untersuchen wollen. Wenn er

sich nur nicht im edlen Grimm seines Herzens auf das

Ungeheuer herabstürzt, gleich dem erhabnen Vogel, der sich

ins Steintal wirft, wo er einen Drachen erblickte.

ANSELMO. Fürchte das nicht, Francesco. So aufgebracht unser Vater

wider Ruggieri ist, so ist er's doch noch mehr wider sich selbst.

Mir zwar ein Rätsel.

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FRANCESCO. O es ist ein großer, ein wunderbar großer Geist, der in

diesem Manne, unserm Vater, wohnt! Er schmälert seine

Verdienste, um sein Schicksal zu rechtfertigen.

ANSELMO. Sie schmälern, die kein Sterblicher zu schmälern wagt? Sie

selbst schmälern? Wie kann er's?

FRANCESCO. Pisa seufzte unter dem Joche eines Tyrannen. Gherardesca

stand auf, und rächte die Seufzende.

ANSELMO. War es nicht edel? war es nicht göttlich?

FRANCESCO. Was war es nicht! Aber nun blies ihm Ruggieri, schon lange

sein heimlicher Neider, nun blies ihm der Gesandte des

Abgrundes, der, um sichrer zu verschlingen, im priesterlichen

Mantel der Religion umherschleicht, der blies ihm den

Gedanken ein, Pisas Wohl erfordre einen Beherrscher,

niemand habe ein höheres Recht auf Pisas Diadema, als

Gherardesca. Gherardesca wagte den kühnen Schritt, den er

sich nie verzeihen wird; und Gherardesca ward unglücklich.

ANSELMO. Wußte der Heimtückische ihn so zu verwickeln. Ist das die

Welt? Nun, bei der heiligen Mutter Gottes, ich verabscheue sie!

FRANCESCO. Die Gualandi, die Sismondi, die Lanfranchi, die

Buondelmonti, die Cavicciulli, alle seine Freunde und

Bewundrer, sie alle verließen ihn. Noch mehr: sie schwuren

seinen Fall. So fiel Gherardesca.

ANSELMO. Durch seine Freunde! O es ist unerhört! es ist unerhört!

Francesco, wir sind Gherardescas Söhne!

FRANCESCO. Und ehe der Morgen kömmt, Gherardescas freie Söhne!

ANSELMO. Gib mir deine Hand, Francesco! Bei dieser brüderlichen

Hand! gehüllt ins Dunkel dieser schauernden

Mitternachtstunde! schwör ich! und so möge lautes

Hohngelächter mir auf der Ferse folgen, wenn ich vergebens

schwöre! ich will den Namen Gherardesca rächen! rächen!

rächen!

FRANCESCO. Gaddo weint? warum weint mein Gaddo?

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GADDO. Ja wohl, eine schauernde Mitternachtstunde! Muß ich so was

von meinem Bruder Anselmo hören! Geht weg von mir; ihr

macht mich fürchten.

UGOLINO tritt an die Szene. Ich wollte dir nur sagen, Francesco, daß du

nicht weiter daran denkst. Gherardesca soll nicht flüchten, als

wär er ein Bandit. Überdem ist der Sprung unmöglich; und

unten lauern Kundschafter. Geht ab.

FRANCESCO bestürzt. Eine Donnerstimme!

ANSELMO. Glück zu. Dir verbot es unser Vater: aber ich darf den Sprung

wagen, und ich will. Lebe wohl, guter Francesco. Denke du der

Donnerstimme nach: unterdes steh ich draußen an der

Turmtüre.

FRANCESCO. Kundschafter in dieser Totenstunde? In diesem Sturme,

der die Erde aus ihren Angeln zu reißen droht? »Wozu

Kundschafter?

ANSELMO. Sie sind nicht dumm!

FRANCESCO. Nein, mein Vater, flüchten soll Gherardesca nicht, als wär

er ein Bandit! Noch haben wir Freunde! Dank sei es der

Vorsicht! Die Häuser der Ruccellai, der Cerrettieri, und der

Cavalcanti sind noch alle auf unsrer Seite. Hast du nicht selbst

vor zwei Tagen, in dem Briefe an meine Mutter, den der

Turmwärter zu bestellen übernahm, diese mächtigen Häuser

aufgeboten? Und soll der Befreier von Pisa hier im

abscheulichen Turmkerker umkommen? Nein, nein, mein

Vater, meine Gegenwart ist unentbehrlich, und Francesco soll

dich retten. Nenn ihn ungehorsam, vermessen, wie du willst;

Francesco soll dich retten!

ANSELMO. Gib dir keine Mühe: er hat der Söhne mehr.

FRANCESCO. Komm, Anselmo, du magst mich zurechtweisen, wenn ich

an der Mauer herabklimme.

ANSELMO. Und ich soll das Nachsehn behalten? soll ich?

FRANCESCO. Du bist ein Geck. Die Sache ist zu ernsthaft, um ein

Wortspiel daraus zu machen. Erinnere du dich deines

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Schwurs, mir überlasse den Sprung: so sind wir beide

Gherardesca!

Gehen ab. Gaddo legt sich auf den Boden nieder.

Zweiter Aufzug

ANSELMO läuft zu Gaddo hin. Schläfst du? Daß der Wind mich nur nicht

überhole! Hei, beim Sankt Stephan, ich bin flüchtiger, als ein

junges Reh! Läuft. Hi! hi! hi! o daß ich recht auslachen dürfte!

Schläft er denn immer? Läuft wieder zu Gaddo hin. O mir! wie

es so wohltut! hüpfen möcht ich, ja hüpfen, wie ein Lamm der

Herde! Hüpft und läuft fort. Gaddo erwacht.

GADDO. Wie ist mir? Ich bin gespeist und getränkt, und vergesse das

Gratias! Knieend. Dank sei dir, heilige Mutter Gottes, für Speise

und Trank! Du hast wohl an mir getan, Madonna: denn

deinem armen Knaben hungerte sehr. Laß dir das Gebet

meiner Einfalt gefallen, und gib mir noch etwas drüber! Dank

sei dir auch, heilige Jungfrau, für die Speisung meines lieben

Vaters, und meines lieben Bruders Francesco, und meines

lieben Bruders Anselmo. Ich danke dir. Du hast viel Gutes

getan uns allen.

ANSELMO kömmt zurück. Der anmutige Knabe betet. Was mag er beten?

Ich will ihn nicht stören.

GADDO. Du störst mich nicht, Anselmo: ich hatte das Gratias vergessen.

ANSELMO. So weißt du sie denn schon, die fröhliche Neuigkeit?

GADDO. Wie sollt ich sie nicht wissen?

ANSELMO. Du hast uns belauscht, Schalk. War's nicht ein köstlicher

Anblick? eine bezaubernde Augenweide?

GADDO. Eine bezaubernde Mundsweide!

ANSELMO. Auch das, Gaddo. Eins folgt aus dem andern. Doch wünscht

ich, daß du davon nicht zu viel erwähntest.

GADDO. Wie das?

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ANSELMO. Unter uns gesagt, meine Eßbegierde ist nie unruhiger

gewesen.

GADDO. Ich konnt es merken. Du fielst grausam über die Schüsseln her.

ANSELMO. Ich fiel nicht, Gaddo, sondern ich möchte fallen.

GADDO. Dich hungert schon wieder? Eine seltsame Eßbegierde!

ANSELMO. Das ist lustig!

GADDO. Ungemein!

ANSELMO. Ha, ha, ha!

GADDO. Hi, hi, hi!

ANSELMO. Immer lustiger. Du bist leichter zu sättigen, als ich, Gaddo.

GADDO. Ich bin zufrieden, Anselmo; ich habe mein Teil genossen.

Sich über den Mund streichelnd.

ANSELMO. Wenn's aufs Genießen ankömmt, so ist eine gute Aussicht

mir bei weitem nicht zureichend.

GADDO. Ich denke, ich denke, Anselmo, du bliebst bei der guten

Aussicht nicht stehen. Hi, hi, hi!

ANSELMO ernsthaft. Ich blieb? Wovon redest du, Gaddo?

GADDO. Nein, wenn du mir von Aussichten sprichst, Anselmo, als ob du

nur ein Zuschauer gewesen wärst, da ich doch das Gegenteil

weiß!

ANSELMO. Wahrlich, Gaddo, nun versteh ich dich nicht.

GADDO. Wie? du möchtest mich wohl überreden, du wärst so mäßig

gewesen. –

ANSELMO. Weil sie schlecht war, deine Mahlzeit: nicht so?

GADDO. Ah, sie ging doch mit. Der Smerlen und des Geflügels viel! An

Gebacknem kein Mangel! Zuckerbrot und Früchte von allerlei

Art. Ich kann mich nicht rühmen, daß diese Augen je eine

besser besetzte Tafel gesehn hätten.

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ANSELMO. Vermutlich auch der süßen Weine nicht wenig?

GADDO. Freilich nicht. Aber du weißt, daß ich keinen Wein genieße.

ANSELMO. Ich hätte doch geglaubt. Wie, Gaddo, sollst du deinen ältern

Bruder necken?

GADDO. Was gibt's hier zu necken? als ob du es nicht wüßtest!

ANSELMO. Du sprichst also im Ernst?

GADDO. Man kann nicht ernsthafter.

ANSELMO. Beim Himmel, so bist du der seltsamste Gaddo auf Erden.

GADDO. Und du der Ungenügsamste unter den Anselmos. Eine solche

Tafel schlecht zu nennen!

ANSELMO. Und wo hast du diese köstliche Tafel ausgefunden?

GADDO. Wie, im Hause unsers Vaters. Sind wir nicht im Hause unsers

Vaters?

ANSELMO. Du träumst, Gaddo. Sieh dich um. Ist dies ein Zimmer im

Hause unsers Vaters?

GADDO. Das ist sonderbar. Aber ich will sterben, wenn ich weiß, wie ich

nun schon wieder hieher gekommen bin.

ANSELMO. Du bist nicht vom Fleck gekommen, Gaddo. Du hast

geschlafen. Besinne dich. Du hast geträumt.

GADDO. Geträumt? Possen! Fühl ich's denn etwa nicht, daß ich satt bin?

Und vor kurzem hungerte mich noch so sehr!

ANSELMO. Recht so habe ich von Leuten gehört, die aus Hunger

geträumt hatten, sie äßen, und beim Erwachen hungerte sie

nicht. Ich wünsche dir Glück zu deinem Traum; auch zweifle

ich keines weges an der guten Vorbedeutung. Wenn du nicht

gegessen hast, Gaddo, so bist du doch auf dem Wege zu essen.

Du weißt, daß es Francesco gelungen ist, uns vielleicht noch in

dieser Nacht zu befreien.

GADDO. Ich? ich weiß kein Wort davon.

ANSELMO. Du sagtest mir eben itzt, daß du es wüßtest.

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GADDO. Sagte ich's? Ja, so ist's offenbar, daß ich nur geträumt habe. Ich

dummer Gaddo! Fast möcht ich weinen.

ANSELMO. Warum weinen? Hörst du denn nicht, kleiner Träumer, daß

du noch in dieser Nacht essen sollst?

GADDO. Ist der Turmwärter wieder da? Der gute Turmwärter! Wo ist er?

Ich sehe ihn nicht.

ANSELMO. Nicht der Turmwärter, sondern Francesco, bringt Speise und

Trank, und Freiheit und Freude.

GADDO. Wenn's nur gebracht wird! Zwar von Francescos Hand wird es

mir noch besser schmecken. Ich liebe Francesco sehr.

ANSELMO. Du haftest noch überall an der Schüssel. Francesco bringt

nicht bloß Speise, sondern Freiheit.

GADDO. Was geht mich Freiheit an! Hab ich doch zu essen!

ANSELMO. Welch ein Gedanke! Gehn dich die aromatischen

Blumenfelder, geht dich die Villa Gherardesca, geht dich der

neue Himmel, die neue Sonne, die neue Erde nichts an?

GADDO. Nichts, Anselmo; ich esse.

ANSELMO. Unersättlicher! du issest? – Nichts die luftige Grotte? Nichts

die weißschäumende Zisterne? Nichts die kristallnen

Forellbäche?

GADDO. Ah! die Forellbäche!

ANSELMO. Nichts der gesangvolle Park, der stillere See, die jähen Ufer,

vom Getön der Gondeln hallend, das Scherzen der

vorüberhüpfenden Rudel, der brausende Auerhahn, die

zirpenden Weinvögel, Heidelerchen, und Ortolane, der Fasan,

die Turteltaube vor dir her, und unter dir die leichte Sardelle,

die Alose, der Goldfisch, die schmelzende Lamprete –

GADDO hält ihm den Mund zu. Sprich nicht mehr davon, Anselmo; du

hast mich ganz.

ANSELMO. O Gaddo! mein Gaddo! mein geliebter Gaddo! stelle dir die

Wonne, das Entzücken vor!

GADDO. Ach! so lebhaft!

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ANSELMO. Wir baden unter dem blumigten Abhange im Silberquell;

sieh! die langen Aale schweben im Schatten der Weinrebe; und

nun schlüpfen sie dahin! schneller schlüpfen sie dahin, als der

Schilfpfeil von der Darmsenne!

GADDO. Laß mich! laß mich!

ANSELMO. Was gibt's?

GADDO. Ich will ihnen nachschwimmen. Ich will sie einholen.

ANSELMO. Hab ich dich, Schalk? Gut! unsre Mutter kömmt. Die edle

Mutter!

GADDO. Die freundliche Mutter!

ANSELMO. »Anselmo!« ruft sie. »Gaddo!« ruft sie. Halb zitternd.

GADDO. Warum zittert sie?

ANSELMO. In ebendiesem Bade zog unsern Bruder Francesco ein

zuckender Krampf unters Wasser bis zur Tiefe. Sie warf ihm

einen Kastanienast nach; sonst war er verloren.

GADDO. Die gütige Mutter! Sie liebt uns auch, Anselmo.

ANSELMO. Allerdings; eben darum zittert sie. Wir pflücken purpurne

Waldblumen jenseits am Ufer, und binden ihr einen Kranz,

von Zypressenlaub umwunden. Lächelnd nimmt sie den

Kranz, und drückt ihn mir auf die Stirne.

GADDO. Nein, mir.

ANSELMO. Nicht doch, Gaddo; ich habe ihn ja geflochten.

GADDO. Und ich die Blumen gesammelt.

ANSELMO. Gut! wir wollen ihrer zwei machen. Aus Freude sing ich ihr

ein Frühlingslied in die Laute.

GADDO. Und ich zeichne ihr einen dritten bessern Kranz von

Amaranthen, Anemonröschen, Tausendschön, und

Stockrosen.

ANSELMO. Weg mit den Stockrosen!

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GADDO. Weg mit den Stockrosen? Ich sage dir, es gehört Kunst dazu,

eine Stockrose zu malen.

ANSELMO. Und ich sage dir, weg mit den Stockrosen! Stockrosen in

einen Kranz? Unser Vater macht sich unterdessen zum Herrn

von Pisa. Er versteht sich aufs Herrschen.

GADDO. Ja, und es ist süß, kann ich dir sagen, von unserm Vater

beherrscht zu werden. »Geh nicht dorthin«, spricht er, »du

fällst; tritt nicht gegen die Flamme, Gaddo, sie brennt.« Unter

uns, man geht am sichersten, wenn man ihm gehorcht.

ANSELMO. Da schenkt er uns dann irgendein Ländchen von einer nicht

geringen Strecke in die Länge und in die Breite, um Federvieh

und Kaninchen zu unterhalten.

GADDO. Sind auch Wälder dabei?

ANSELMO. Ohne Zweifel. Die aber behalt ich für mich, der Rehe wegen.

Du weißt, daß ich ein Liebhaber von Rehen bin.

GADDO. Und ich von Nestern. Ich eigne mir die Nester darin zu.

ANSELMO. In meinem Holze?

GADDO. Mein oder dein: im Holze.

ANSELMO. Es ist wider die Ordnung, Gaddo. In mein Holz mußt du mir

nicht kommen.

GADDO. Ich nicht in dein Holz kommen?

ANSELMO. Nein, Gaddo, keinen Fuß breit, außer wenn ich dir's erlaube.

GADDO. Wer will mir's wehren? Ich gehe hinein.

ANSELMO. Ich laß es einhegen.

GADDO. Ich steige über.

ANSELMO. Über mein Gehege?

GADDO. Über dein Gehege.

ANSELMO erhitzt. Was? über mein Gehege wolltest du steigen?

GADDO. Ohne Umstände.

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ANSELMO. Eher will ich unter Heiden und Sarazenen wohnen, als diese

Ungerechtigkeit dulden.

GADDO bewegt. Anselmo!

ANSELMO. Reize mich nicht. Ich bin zornig.

GADDO. Anselmo!

ANSELMO. Laß mich.

GADDO. Nimm die Nester denn nur: ich mag sie nicht.

ANSELMO. Wie? die Nester?

GADDO. Nein, Anselmo, es tut mir leid, daß du die Wälder bloß

meinetwegen einhegen sollst. Ich bin ein Liebhaber von

Nestern: aber ich liebe dich mehr, Anselmo.

ANSELMO. Großmütiger Gaddo! Wie du mich rührst, Gaddo! Du

schenktest mir die Nester; ich aber verbot dir, in mein Holz zu

kommen. Nein, Gaddo, behalt die Nester, nimm die Rehe

dazu, nimm die Wälder –

GADDO. Du beschämst mich, Anselmo! Ferne sei es von mir –

ANSELMO. Ich bitte, ich flehe, ich beschwöre dich!

GADDO. Niemals, niemals –

ANSELMO. O du brüderliche Zärtlichkeit!

Fällt ihm um den Hals und weint: sie weinen beide.

UGOLINO tritt auf. Ja wohl brüderliche Zärtlichkeit! Welch ein holder

Anblick! O ihr teuren Zartfühlenden beide! ihr weint?

GADDO. Lauter Freude!

UGOLINO. Du warst doch vorher nicht eben freudig.

GADDO. Aber itzt bin ich's, mein Vater: denn nun Francesco

entsprungen ist, haben wir ja Essen die Fülle. Haben wir nicht?

ANSELMO. Pisch!

UGOLINO. Francesco entsprungen! Was sagst du, Gaddo?

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ANSELMO zupft Gaddo, und droht ihm. Hm!

UGOLINO. Unmöglich! Wo ist Francesco?

GADDO. Mum!

UGOLINO. Antworte du mir Anselmo. Wo ist Francesco?

ANSELMO. Um Vergebung, mein Vater – ich will gleich wieder hier sein.

UGOLINO. Rufe mir Francesco augenblicklich her. Du zögerst?

ANSELMO. Mein Vater, Francesco – ist vom Turm gesprungen.

UGOLINO. Was? was? vom Turm gesprungen? vom Turm wäre er

gesprungen? Unglücklicher! er ist zerschmettert! er ist Staub!

ANSELMO. Dafür ist gesorgt. Ich bin mehr Staub als er: laß mich dir das

sagen, mein Vater er lebt, wie unsereiner, und besser. Er gab

mir das Zeichen mit den drei Steinwürfen. Ich höre sie noch

von den Dachziegeln rollen. Ein so musikalisches Rollen als

ich eins in meinem Leben gehört habe. Ich will dir's auf der

Laute machen. O mein Vater, deine Söhne sind klüger, als sich

zu zerschmettern.

GADDO. Mach's nur nicht auf der Laute. Mich dünkt, ich höre das Rollen

schon so.

UGOLINO. Ich hatt es dem Ungehorsamen verboten –

ANSELMO. Daran zu denken, mein Vater: darum tat er es rasch.

UGOLINO. Du mißfällst mir. Du bist zu kühn.

ANSELMO kleinlaut. Ach nein! nein! mein Vater! Francesco ist kühner.

Mit diesem Worte hast du alle meine Aufwallungen versenkt.

Ich kühn?

UGOLINO. Was soll ich sagen? Erstaunen und Bewunderung! Aber wie

konnt er? Von dieser Höhe, sagst du? Es war unsinnig! Und

doch scheint's mir edel! Nicht wahr, Anselmo, du halfst

deinem Bruder?

ANSELMO. Erst küsse mich, mein Vater, daß ich Herz fasse, dir's zu

sagen.

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UGOLINO. Aber verschweige mir nichts.

ANSELMO. Bei diesem Kuß! es war ein edler Sprung! Freilich! ich war

dabei; ich behielt das Nachsehn. Zwar wenn ich neidisch wäre,

so gäbe ich vor, der Sturm habe das Beste dabei getan. Es ist

wahr, fast schien es, als ob der Wirbelwind die Turmspitze

ganz seinetwegen so tief gegen die Erde neigte. Oder vielmehr,

damit ich ihm nicht Unrecht tue, Francesco schien den Orkan,

wie der Autor es von der Gelegenheit sagt, an der Stirn zu

fassen, und die Turmspitze hinter sich zu spornen, und auf

dem Rücken des Windes davonzureiten.

GADDO. O Geschwätz!

ANSELMO. Kurz, mein Vater, um dich nicht zu lange aufzuhalten,

Francesco umarmte mich, und empfahl sich Gott –

UGOLINO. Nach Art aller Unbesonnenen, die erst der Vorsehung trotzen,

dann ihren Beistand auffordern.

ANSELMO. Ein schwachdämmerndes Licht aus einem der nächsten

Häuser half ihm die erste, dann die zweite, dann die letzte

Zinne, dann den anstoßenden Giebel erreichen –

GADDO. Dröhnt's mir doch bis in die Fußsohlen hinunter!

ANSELMO. Und da ich ihn bald darauf ins Finstre verlor, klirrten Sterne

dreimal vom Dach. Ich wiederhol es mein Vater, ich kenne

keine lieblichere Melodie, als die mir diese drei Steine

machten.

GADDO. Sie klirrten! Ein gutes lebhaftes Wort das! Ich weiß kaum, ob

ich's dem Rollen nicht vorziehe.

UGOLINO. Wann geschah dies alles?

ANSELMO. Gleich, da du ihm das Denken untersagtest. Wer weiß, ist er

nicht gar schon an der Turmtüre! O ich muß geschwind

hinabgucken.

Geht hurtig ab.

UGOLINO indem er sich die Hände reibt. Ein großer Schritt! Welch ein

Jüngling! Hat der Brief an mein Weib gewirkt, und fangen den

allzu kühnen jungen Menschen die schleichenden Hunde nur

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nicht auf, so läßt sich was hoffen, Gherardesca! Ha, Ruggieri!

zwei Tage lang ließest du diese Unschuldigen hungern!

Ungeheur, das die Hölle von sich ausgespieen hat! Komm's

über dein Haupt, Verruchter! Diese zwei Tage sollst du mit

einer Ewigkeit büßen!

GADDO. Küsse mich auch, mein Vater!

UGOLINO ihn küssend. Frisch, mein Gaddo! Du bist ein starker Knabe!

GADDO. Kein Wunder! ich träumte einen so nahrhaften Traum! Ach! daß

ich ihn wieder träumen könnte! Itzt hungert mich mehr als

zuvor!

ANSELMO keuchend. Sind sie noch nicht da? ich glaubte sie hier zu

finden. Will wieder abgehen.

UGOLINO. Was ist's?

ANSELMO. Lang sah ich, mit langgestrecktem Halse, durch die Öffnung.

Mir war! ich kann dir nicht sagen, mein Vater, wie mir war! Ich

dachte, Francesco riefe mir, und ich müßte ihm nach. Da

kam's mir plötzlich vor, als säh ich den jungen Antonio

Cerrettieri, nebst vielen andern, mit Axten und Hebebäumen

längs der Gasse heraufkommen, immer näher, immer näher.

Da bückte ich mich mit halbem Leibe vorüber, sah aber immer

weniger, immer weniger; und zuletzt sah ich gar nichts mehr.

Da hofft ich, sie wären im Turm, und glaubte, sie hier zu

finden. Unten müssen sie doch schon sein.

Will abgehen.

UGOLINO. Wohin?

ANSELMO. Gehst du mit, Gaddo? Wir müssen den jungen Antonio an

der Tür empfangen.

GADDO. Wäre nur die Menge von Stufen nicht! Überdem bin ich eben

itzt einigermaßen kraftlos.

UGOLINO. Bleibt hier, ihr Kinder. Ich will selbst gehn.

Geht ab.

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ANSELMO hebt Gaddo in die Höhe. Heida, Gaddo! ich bin trunken von

übermäßiger Freude! Du auch?

GADDO. Heida! Wenn ich nur erst zu essen hätte!

ANSELMO. Es will nicht recht fort mit dir. Wie nun? Du hängst mir wie

Blei am Arme!

GADDO mit schwacher Stimme. Heida! Mir wird sehr übel!

ANSELMO. Soll ich dich hinlegen?

GADDO. Tu es.

ANSELMO. Du bist kränker, als du gestehn willst.

GADDO. O mein Herz! Heftig. Mein Herz!

UGOLINO tritt auf. Du hast dich geirrt. Ich höre nichts, als das Geheul

der Winde und das Geklatsch des Regens.

ANSELMO traurig. Ach! warum mußt ich mich irren! Sie werden doch

nun bald kommen? Werden sie nicht, mein Vater? Sieh, Gaddo

ist kränker.

UGOLINO mit einem Seufzer. Ich denke, mir ist nicht viel besser! Sieht

schüchtern nach Gaddo hin. Anselmo, singe mir das Lied in die

Laute, das deine Mutter dich jüngst an ihrem letzten

Geburtstage lehrte.

ANSELMO singt.

Stillen Geists will ich dir flehen! Weisheit, blick aus deinen Höhen, Blicke sanft auf mich herab! Leite mich im finstern Tale, Quell des Lichts! mit deinem Strahle! Sende mir dein Licht herab! Um und um von Nacht umflossen, Ach! von Schauern übergossen, Wall ich bebend an mein Grab! Leite mich im finstern Tale, Quell des Lichts! mit deinem Strahle! Blicke mild auf mich herab!

UGOLINO. Ich danke dir, mein Sohn. Ich wollte dich bitten, es noch

einmal zu singen: aber ich bin diesmal zu weich. Geht auf

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einige Augenblicke heraus, meine Kinder. Er weint heftig.

Doch nein, bleibt. Diese Silbertropfen waren willkommen, ihr

Geliebten. Es gibt Augenblicke, da die Natur in einer Art von

tauber Fühllosigkeit hinsinkt: es ist nicht Erkrankung; es ist

nicht Schmerz: sonst empfände sie; Beklemmung ist

Traurigkeit, und ich wollte nicht, daß ihr mich für traurig

hieltet. »Schwere« ist das Wort, ihr Kinder: ein mittler Zustand

zwischen Freude ohne Namen, und – Ernst ohne Namen. Wie

nun? Die Wolke ist noch einmal reif. Weint wieder. Weint

nicht, ihr sanften mitfühlenden Herzen, weint nicht! Die Natur

bedarf einer Erquickung. Weint nicht! Ich hoffe dieser

herabrollende Tau ist der Bote eines goldnen Morgens. Die

Natur bedarf einer Erquickung. Sie scheint einen süßen Schlaf

einzuladen; er ist mir willkommen.

GADDO. Segne mich, mein Vater! Schon wird mir bänger.

UGOLINO. Gott der Allmächtige segne dich! Gott der Allmächtige segne

euch beide! Harrt nicht des Menschen Hülfe, ihr Lieben;

vertraut Gott: sein heiliger Wille geschehe! Im Abgehen. Noch

einmal, ihr Unschuldigen, vergebt mir! Geht ab.

ANSELMO. Du schweigst, Gaddo?

GADDO. Was kann ich sagen? Bete für mich. Ich entschlummre.

ANSELMO. Ich will zur Turmspitze hinaufgehen, wo Francesco sich Gott

empfohl, und da für dich beten! Küßt Gaddo und geht langsam

ab.

Dritter Aufzug

Gaddo in einer Ecke des Zimmers schlafend. Einige Männer tragen zween Särge über das Theater, die sie Gaddo

gegenüber hinstellen, daß nur der vorderste gesehn wird. Gaddo erwacht und betrachtet ihn mit vieler Aufmerksamkeit.

GADDO. Dieser große Kasten sieht natürlich aus, wie ein Totenkasten.

Wenn ich den Kasten betrachte, richtet sich mein Haar ganz

langsam in die Höhe; weh mir! und ein Fieber klappert in

meinen Zähnen! Holla! spricht hier niemand, als der kranke

Gaddo? Es wird ein starkes Pochen im vordersten Sarge gehört.

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Ach, heilige Jungfrau! was ist das? Eine dumpfigte Stimme ruft

»Gaddo! Gaddo!« Hilf mir, mein Vater! Mein Vater! Anselmo!

UGOLINO ohne die Särge zu sehn. Was ist dir, Gaddo?

GADDO. O mir! Die Gebeine haben sich geregt! rufen: »Gaddo! Gaddo!«

ANSELMO im Hereinlaufen. Wartet, wartet, ihr Männer. Nehmt mich und

Gaddo auch mit. Wir sind Francescos Brüder. Stößt auf den

Sarg. Ah!

UGOLINO sieht sich nach Anselmo um. Welch ein Traum ist dies? Ein

Sarg? Pochen im Sarg. Ugolino tritt zurück. Nun, beim

wunderbaren Gott! das ist seltsam! Die Stimme ruft »Hülfe!«

Der Deckel dieses Sarges ist nicht befestigt. Er hebt den Deckel

auf, und fährt zurück. Ha!

FRANCESCO steigt heraus. Nachdem sie einander lange mit Erstaunen

betrachtet haben, fällt Francesco seinem Vater zu Füßen.

FRANCESCO. Der Blinde lehnte sich wider den Sehenden auf. Ich bin

bestraft, mein Vater.

UGOLINO. Ich erwartete nicht, dich so wiederzusehen. Wo bist du

gewesen?

FRANCESCO. Wollte Gott, ich dürfte nicht sagen, im Hause

Gherardescas.

UGOLINO. Du erfandst einen Sprung vom Turme; Ruggieri eine neue

Art, dich wieder herzubringen: wer unter euch beiden ist der

sinnreichste, mich zu quälen?

FRANCESCO. Dies ist so strenge – so erstaunlich strenge, mein Vater –

UGOLINO. Du warst frei. Die Kühnheit deiner Unternehmung ließ mich

hoffen, daß der Ausgang weniger schimpflich sein würde. In

einen Sarg rafft man Gherardescas Erstgebornen; und er

vergißt seiner Hände – Doch ich tue dir Unrecht, du brauchtest

sie zum Pochen im Sarge.

FRANCESCO. Ich erdulde deine Streiche ohne Murren.

UGOLINO. Murren, Knabe? Wer bist du? Ha?

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FRANCESCO. Dein Sohn mein Vater; ein zwanzigjähriger Jüngling; nie

bisher von dir verachtet; und ich wage hinzuzusetzen, noch

itzt deiner Verachtung nicht würdig.

UGOLINO. Redseliger! Der Hülflose, der in diesem Kasten wimmerte,

sollte bescheidner sprechen. Ich habe keine Geduld mit dir.

Geh zurück, wo du hergekommen bist.

FRANCESCO. Und bald! meine Sprache soll dich nicht lange beleidigen.

Ah! kann Gherardesca ungerecht gegen seinen Francesco

sein? Anselmo, er muß nicht wissen, wie ungerecht er ist.

ANSELMO. Francesco, ich hatte alle meine besten Hoffnungen auf dich

gesetzt, und du nennst unsern Vater ungerecht? Ach Gaddo!

wir sind betrogen! wir sind betrogen!

Ringt die Hände.

GADDO. Gib mir Speise, Francesco, oder ich sterbe!

ANSELMO. Speise her! Speise! Francesco! Ich bin standhaft gewesen,

weil ich auf deine Zusage baute. Aber nun kann ich's nicht

länger aushalten, Gott ist mein Zeuge!

UGOLINO. O es dringt tief in die Seele! Unglücklicher! was hast du

gemacht!

ANSELMO. Gaddo wird dich vor Gottes Richterstuhl verklagen, wenn du

ihn hier verschmachten lässest.

GADDO. Ach ich Verlaßner! soll ich denn Hungers sterben?

FRANCESCO. Es ist grausam! o es ist grausam! Der Gott, den ihr zum

Zeugen wider euren Bruder anruft, er weiß es, daß ich

unschuldig bin.

ANSELMO. Was kümmert mich deine Unschuld? Solltest du

zurückkommen, ohne einen Bissen Brot für deine hungernden

Brüder mitzubringen, du?

GADDO. Er weint, Anselmo. Vielleicht ist er unschuldig. Gott vergebe

ihm, daß er uns betrogen hat!

ANSELMO. Sprich wenigstens, teurer Francesco! sprich daß der

Turmwärter noch einmal, nur einmal! kommen wird! Du hast

Empfindung, mein Bruder: ach, bei allen Heiligen im Himmel!

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sprich, daß du den Turmwärter zu deinen armen Brüdern

hergewiesen hast!

FRANCESCO. Nichts, nichts darf ich sagen! Wenn der große Erbarmer

nicht einen Engel vom Himmel herabschickt, euch Speise zu

bringen, ach so – so –

UGOLINO. Daß ein Todesengel vom Himmel herabsteige, deine Zunge

zu lähmen, der du meine fürchterlichen Ahndungen zur

Wahrheit machst! Verstumme, verstumme auf ewig!

FRANCESCO. Warum fluchst du mir, mein Vater? Was ich dir zu erzählen

hatte, würde warme Tränen hervorlocken: darum verschwieg

ich's; und stille sei mein Geheimnis, wie das Grab.

UGOLINO. Komm seitwärts. Was hattest du mir zu erzählen?

FRANCESCO. Nichts.

UGOLINO. Seit wann bin ich dir der Schwache, dem du sein Unglück

verbergen müßtest?

FRANCESCO. Du bist Mensch, Gemahl und Vater.

UGOLINO. Ha! du hast deine Mutter gesehn? Hurtig! sie ist doch sicher?

FRANCESCO. Ihr Friede ist unzerstörbar.

UGOLINO. Das ist mehr, als das Los einer Sterblichen. Sprich deutlicher.

Deine weggewandte Augen, diese Glut auf deiner Stirne sind

treuere Erzähler, als deine Lippen. Du ängstigst mich.

FRANCESCO. Frage mich nicht, Vater.

UGOLINO. Keine Geheimnisse, junger Mensch!

Anselmo schreit erschrocken.

UGOLINO. Schon wieder? was nun, Anselmo?

ANSELMO. Ach! Sieh! sieh! mein Vater!

UGOLINO. Wo? was?

ANSELMO. Wenn mich kein Gesicht täuscht, so steht hier noch ein Sarg.

FRANCESCO. Anblick des Entsetzens! den Sarg kenn ich!

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UGOLINO tritt herzu. Lebt's in diesem Sarge auch? Will den Deckel

abschieben; Francesco hält ihm den Arm.

FRANCESCO. Tu es nicht, mein bester, mein teurer Vater!

UGOLINO. Nicht? nicht?

FRANCESCO. Um Gottes willen! Ich will dir alles erzählen.

UGOLINO reißt sich von ihm los, und schiebt den Deckel ab. Mein Weib!

o Himmel und Erde!

FRANCESCO. Warum zerschmetterte ich mir nicht das Gehirn? Warum

zerstiebten die Sturmwinde den Spreu nicht? Warum ward ich

geboren? Reißt sich die Haare aus.

Anselmo wirft sich bei Gaddo auf den Boden hin, und verhüllt sich das Gesicht.

UGOLINO. Sie schweigt. Bleich ist ihr schöner Mund. Kalt der Schnee

ihrer Brust.

FRANCESCO. Kann ich's, muß ich's überleben?

UGOLINO. Ach nein! nein! du bist nicht tot! Beim Himmel! ich will's nicht

glauben! Er faßt Francesco vor die Brust. Verderben ergreife

dich, du Todesbote! Warum ließest du mich nicht zweifelhaft?

Warum brachtest du diese unseligste Gewißheit vor meine

Augen? Warum kamst du, wie das Grab gerüstet, meine

goldnen Träume zu verscheuchen?

FRANCESCO. Dein Raub – und des Todes – zerreiße mich vollends.

UGOLINO. Nicht einsam stand ich da, und schaute von meinem Turme

herab. Ich war stolz: denn ich hoffte. Ein lieblicher Betrug.

Verderben ergreife dich, du Todesbote!

Schüttelt ihn heftig.

FRANCESCO. Vollende dein Werk; du hast mich dem Verderben gezeugt.

UGOLINO zum Sarge gehend. Und ist sie tot? O Gianetta! bist du tot? Tot?

tot?

FRANCESCO. Rede du zu unserm Vater, Anselmo. Rede zu ihm.

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UGOLINO. Was hier? Mein Bild an ihrem Herzen? Ach! sie war lauter

Liebe und erhabne Gütigkeit! Sie vergab mir mit dem letzten

stillen Seufzer ihres Busens. Es ist feucht, dies Bild; feucht von

ihrem Sterbekuß. Er küßt das Bild. Und küßte meine Gianetta

ihren Ugolino in der richterlichen Stunde? Wie freundlich war

das! wie ganz Gianetta! Ihr Tod muß sanft gewesen sein, mein

lieber Francesco.

FRANCESCO. Ihr Tod war ein sanfter Tod.

UGOLINO. Gott sei gelobt! Ihr Tod war ein sanfter Tod. Ich danke dir,

Francesco. Sie küßte ihren Ugolino in der Stunde ihres sanften

Todes. Aber sieh her, Francesco. Dies Bild gleicht deinem

Vater nicht recht. Das Auge ist zu hell, die Backe zu rot und

voll. Ihr seid die Abdrücke dieses Bildes; aber keine Wange

unter diesen Wangen ist rot und voll. Ihr seid blaß und hohl,

wie die Geister der Mitternachtstunde. Ihr gleicht diesem

Ugolino, nicht dem. Ah! ich muß hieher sehen.

FRANCESCO. Wir sind vergnügt, mein Vater, wenn du zu uns redest.

UGOLINO. Daß sie mein Bild an ihrem Herzen trug; daß sie sich ihres

Ugolino nicht schämte, mein Sohn, als sie vor ihre Schwester-

Engel hintrat; daß sie mit ihrem Sterbekusse meine Flecken

abwusch: ach liebes Kind! wie erheitert mich das! wie gütig,

wie herablassend war es! Aber sie hat mich immer geliebt.

Kein pisanisches Mädchen hat zärter geliebt. Sie war die

liebreichste ihres Geschlechts.

FRANCESCO. Und hier diese diamantne Haarnadel, mein Vater, mit der

sie nur an dem Jahresfeste ihrer Vermählung ihr duftendes

Haar zu schmücken pflegte –

UGOLINO. Es ist mein Angebinde. Geschmückt wie eine Braut entschlief

meine Gianetta. Sie lud mich ein: hier liegt ein Brief an ihrem

keuschen Busen. Nie ist ein Liebesbrief geschrieben worden,

wie dieser. Ha! es ist meine Hand! Der letzte Brief, den ich aus

diesem elenden Aufenthalte an sie schrieb!

Er will den Brief nehmen; Francesco springt zu, und zerreißt ihn.

FRANCESCO. Du mußt den Brief nicht sehn, mein Vater –

UGOLINO. Den Brief?

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FRANCESCO. Er ist furchtbar, wie der Tod! Die Natter hat ihn getränkt.

UGOLINO. Mein Brief?

FRANCESCO. Tod ist sein Hauch.

UGOLINO. Mein Brief?

FRANCESCO. Er fiel durch die Treulosigkeit des Turmwärters in

Ruggieris Hände: du weißt genug.

UGOLINO. Richter im Himmel! –

FRANCESCO. Nie hat die Hölle einen giftigern Aspik an des Arno

versengten Strand ausgeworfen, als der Gherardescas Worte

zur Pest machte.

UGOLINO. O ich erliege! Mein Brief?

FRANCESCO. Sie trank die Züge deiner werten Hand in sich – ah

Getäuschte! Sie drückte den geliebten verrätrischen vergifteten

Brief an ihr Herz –

UGOLINO. Widerrufe, Francesco.

FRANCESCO. Ungefürchtet wirkte die verborgne Natter fort; in jede

Nerve, in jede kleinste Blutader, in jeden liebevollesten ihrer

Blicke sandte Ruggieri seinen Tod, und mit dem

trübentfliehenden Tage, früher als der Abend sich neigte, eilte

ihr Geist zum Himmel auf.

UGOLINO. Widerrufe, junger Mensch; widerrufe deine Verleumdungen.

Mein Brief, sagst du? – Wehe mir! dem Gedanken erlieg ich!

FRANCESCO. Ich habe dir noch zu wenig gesagt. Daß ein Blitz Gottes

den Verruchten in den untersten Pfuhl der Vergiftung

hinunterschleudre! hinunter! wo scheußliche Dünste

siebenfachen Tod brüten; wo das Antlitz der Natur von

Volkanen und Pestilenzen versehrt ist! daß sein Leib verdorre,

wie eine Otterhaut, und eine Gewissensangst nach der andern

seine Seel ergreife! Ach mein Vater! mein Vater!

Er umfaßt seines Vaters Kniee ängstlich.

UGOLINO. Ich errate. Deine starren Blicke in wilder Verwirrung, dein

straubigtes Haar, deine schlotternden Kniee, die aschgraue

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Verzweiflung deines Angesichts, jeder Ton, jede Bewegung

lehrt mich, daß noch eine Nachricht ist, vor der die

Menschlichkeit zurückbebt. Verbirg sie, mein Sohn, verbirg sie

diesen Schwachen. Und du, Francesco, sei standhaft.

FRANCESCO. Mein Kelch ist geleert. Wie glücklich, wenn deine und

meiner Brüder Leiden mir in die Grube folgten! Könnt ich sie

mit dir teilen, mein Vater, so wär ich beneidenswürdig!

UGOLINO. Du bist ein edler Jüngling. Vergib mir, ich kannte deinen Wert

nie bis itzt.

ANSELMO greift Gaddo wild an. Wir sind betrogen!

GADDO. Ist's denn meine Schuld?

UGOLINO. Dieser Knabe ist heftig, wie ein Mann.

Anselmo geht ab.

Rede, Francesco. Komm her. Erst laß uns diesen Sarg

verschließen. Ruhe wohl, heiliger Staub, bald will ich deiner

würdiger sein. Genug. Nun rede.

FRANCESCO. Ah, Gherardesca! Du hast der Schritte noch viele bis ans

Ziel! und schwere!

UGOLINO. Gherardesca soll sie tun. Sei nicht traurig. Wie weiter?

FRANCESCO. Was kann ich? was darf ich sagen?

UGOLINO. Ist das Todesurteil über dich und deine Brüder gesprochen?

FRANCESCO. Du wirst fallen, wie der Stamm einer Eiche, alle deine Äste

um dich her gebreitet.

UGOLINO. Ist es über dich und deine Brüder gesprochen?

FRANCESCO. Gesprochen über alle! Vollzogen an mir!

UGOLINO. Wie meinst du das?

FRANCESCO. Ich bin zu glücklich. Ich habe meinen Kelch geleert.

UGOLINO. Man hat dir einen Giftbecher gereicht?

FRANCESCO. Ich habe ihn geleert.

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UGOLINO mit starken Schritten, auf und ab gehend. Es gibt mancherlei

Todesarten, mein Sohn. Kein Geschöpf ist sinnreicher,

Todesarten zu erfinden, als der Mensch. Ich will dir nur eine

nennen. Der Erzfeind hätte seine Freude daran finden können,

mir ein Glied nach dem andern absägen zu lassen, erst die

Gelenke an den Zehen, dann die Füße, dann die Beine, dann

die Schenkel; so stünde ich Torso da: und nun setzte man mir

das zackigte Eisen an die Finger, die Hände, die Arme, eins

nach dem andern, mit Ruhezeiten, daß der Zeitvertreib nicht

zu kurz dauerte; ganz zuletzt zerstieße man mir, nicht aus

Mitleid! das wunde Herz, bis ich in meinem Blute erläge, das

mit viel Schweiß herabränne, aber nicht mit Tränen! Wie

könnt ich weinen? Man sollte denken, dieser Tod sei schon

unterhaltend genug: allein der Erzfeind hat's besser überlegt.

Hier würde ich an meinem eignen Fleische leiden: eine

Kleinigkeit! Ich soll in meinen Kindern langsam sterben, eine

volle Weide an eurer Marter nehmen, und dann fallen! Mein

Weib mußte erst fallen, durch die Worte meiner Liebe fallen,

in diesem Sarge hergeschickt werden, du ihr Vorläufer, dem

Tode geopfert, aber später zum Grabe reif! O es ist der Hölle so

würdig! Doch ich will nicht murren! Aber warum mußten diese

Unschuldigen leiden? Warum du? warum mein Weib? warum

durch den großen Verführer? womit hatt ich ihn beleidigt?

Pisa konnte mich strafen, um Pisa hatt ich's verdient: aber

womit um ihn? Ich hielt ihn für meinen Freund; ich hätt ihn

lieben können; allein sein teuflisches Herz enthüllte sich mir

zu bald. O schändliche Eifersucht über einen dreimal

schändlichern Gegenstand! Fürchtete er, daß ich Ruggieri sein

könnte, wenn ich Ruggieris Macht hätte? Heimtückischer

zähneblöckender Neid! Erstgeborner der Hölle! und

Erstgefallner! Aber warum mußt ich durch den großen Neider

fallen? warum er nicht? warum reichte die Vorsehung ihm,

unter allen Verworfensten der Schöpfung nur ihm – nur ihm –

nur ihm – o es verwundet jeden Gedanken meiner Seele! –

warum nur ihm ihre Geißel?

FRANCESCO. Um das Maß seiner Verdammnis ganz vollzufüllen.

UGOLINO. Ist es denn wahr, himmlischer Vater! Doch nein! nein! ich will

nicht murren! Rechtfertige du die Wege der Vorsicht.

FRANCESCO. Innerhalb einer Stunde hoff ich's zu können.

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UGOLINO. Innerhalb einer Stunde! Glücklicher Francesco! Ich sollte

mich dieser Stunde freuen. Wie konnte Ruggieri den

menschlichen Gedanken fassen, deinen Tod zu

beschleunigen? Es ist wundervoll, ich gesteh es.

FRANCESCO. Bist du stark genug, meine traurige Erzählung zu hören?

UGOLINO. Ich glaube, daß ich sie hören kann.

FRANCESCO. Im Taumel meiner Wonne, Pisas Pflaster noch einmal zu

betreten, floh ich augenblicklich dem Palaste meiner Mutter

zu. Alle Wände hallten von der Wehklage ihrer Frauen. Ich

blieb nicht lange im Zweifel. Blind vom Schrecken stürzte ich

vor der Schwelle nieder. Als ich erwachte, sah ich das Zimmer

voll hagerer hohnblickender Gesichter; Ruggieri war nicht

unter ihnen. Ich wollt entspringen, da ich mich umringt sah:

allein ich war von ihren Riechwassern, wie sie sie nannten

schwindlicht und krank. Man riß mir die Kleider auf; man bot

mir einen Becher mit kühlem Getränke dar; ich trank; meine

Geister waren verwirrt. Neue Ohnmachten überfielen mich,

und da ich endlich die Augen öffnete, herrschte stille Nacht

um mich her, ich fühlte mich schweben, in einem engen

Raume, und atmete schwerer: wo ich aber war, konnt ich nicht

erkennen. Lange vernahm ich nur ein undeutliches Geräusch

in meinen Ohren: zuletzt eine Stimme. O diese Stimme! Noch

zittre ich. Sie hatte mich versteinert, daß ich den Gebrauch

meiner Sinne verlor, bis ich, wie im Traume Gaddo reden

hörte.

UGOLINO. Was sagte diese Stimme?

FRANCESCO. Verlange nicht, es zu erfahren.

UGOLINO. Da ich das Ärgste weiß?

FRANCESCO. Wahr ist's. »Ich erwarte euch hier unten«, zischelte sie.

»Ich will den Turmschlüssel selbst in den Arno werfen. Was

droben ist, gehört der Verwesung: kein lebendiger Mensch soll

diese Stufen nach uns betreten. Es müssen noch

Schlupfwinkel im Turm sein«, sprach sie lauter; »verwahrt sie:

denn der Turm ist von dieser Stund an verflucht! ein

Gebeinhaus!« –

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UGOLINO. Und verflucht die Stimme, die diese Unmenschlichkeit

aussprach! O Pisa! Schandfleck der Erde! geschieht das in

deinen Mauren? Ich will der unerhörten Bosheit itzt nicht

weiter nachsinnen. Es könnte die Weisheit selbst wahnsinnig

machen. Geht gedankenvoll. Sollen meine armen Kinder zu

meinen Füßen verhungern? Verhungern? Hast du jemals dies

greuliche Wort: »Verhungern!« recht überdacht, Francesco?

FRANCESCO. Sprich es nicht aus, mein Vater!

UGOLINO. Selbst Verhungern zu milde! Verhungern sehn! Meine Kinder

verhungern sehn! Und dann verhungern! Das ist das große

Gericht! Und bin ich! ich Gherardesca! ich der Sieger! ich, der

ich einen Fürsten zu ehren schien, wenn ich ihn meiner

Rechten an meiner Tafel würdigte! bin ich be stimmt den Tod

des Hungers zu sterben? Doch stille! Ich will, ich will des

Schändlichsten, o dieses Schändlichsten Frevelstücke nicht

nachsinnen! Aber ach! wie bedaure ich dich, mein Francesco!

FRANCESCO. Mich?

UGOLINO. Dich. Hast du mir alles erzählt?

FRANCESCO. Alles, alles.

UGOLINO. Keinen kleinsten Umstand verschwiegen?

FRANCESCO. Keinen. Verlaß dich drauf.

UGOLINO. Überlege es wohl.

FRANCESCO. Keinen, keinen, mein Vater; nicht den mindesten.

UGOLINO. So bedaure ich dich! Bei allem, was heilig ist, ich bedaure

dich!

FRANCESCO. Du setzest mich in Verwundrung.

UGOLINO. Was für Grund hattest du, zu hoffen, daß der Becher, den

man dir reichte, ein Giftbecher sei?

FRANCESCO. Er kam von Ruggieri. Was konnt er sonst sein?

UGOLINO. Siehst du? Du trautest Ruggieri Menschlichkeit und Gefühl

zu. Nein, nein, mein Sohn, es war ein Erquicktrank; ich kenn

ihn besser.

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FRANCESCO. Ha! wenn dem so wäre! ich dürfte mit meinem Vater ganz

ausdulden! gewürdigt sein, ihn zu trösten und zu ermuntern!

die Stütze seines reifern Elends! der Teilnehmer seiner Leiden!

Ach ich wäre beneidenswürdig! Ich kann's nicht glauben!

UGOLINO. Francesco, was du mir itzt sagst, ist der empfindlichste

Vorwurf, den mir je ein Sterblicher gemacht hat.

FRANCESCO. Ich zittre.

UGOLINO. Wie sehr hab ich dich verkannt! Dein Herz ist ein erhabnes

Herz, Francesco! Ich bewundre dich. Ich betrachte dich mit

Entzücken.

FRANCESCO. Nur dein Herz ist erhaben, mein Vater. Ich bin

eigennützig. Doch wage ich nicht, es zu hoffen. Mein Leben

neigt sich; ich fühl es zu sehr.

UGOLINO. Überreste deiner Ohnmacht – Du warst in einen Sarg gepreßt.

FRANCESCO. Gesegnet, gesegnet seist du mir, bester Vater! Du machst

mich noch einmal glücklich!

UGOLINO. Laß uns diese Unterredung abbrechen, du große Seele; sie

rührt mich zu sehr.

FRANCESCO. Wollen wir jenen Sarg nicht entfernen, der itzt meine

Augen nur ärgert? Ich hoff ihn noch lange nicht zu bewohnen.

UGOLINO. Ich bin's zufrieden.

Sie tragen Francescos Sarg ab.

Vierter Aufzug

UGOLINO. Bin ich endlich allein? Er schiebt den Sargdeckel ab. Hier war

ich König! Hier war ich Freund und Vater! Hier war ich

angebetet! Ich heischte mehr. Ich wollte Sklaven im Staub

meines Fußtritts sehen; und so verlor ich alles, was das

parteiische Verhängnis mir geben konnte. Wenn ich mir itzt

das goldne Gepränge, die Trophäen, den Stolz meiner

kriegerischen Tage zurückerkaufen könnte, ach mit Entzücken

gäb ich sie alle die geprahlten Nichtswürdigkeiten, um ein

dankbares Lächeln ihrer errötenden Wangen, um einen

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belohnenden Blick ihrer Augen, um einen Ton ihrer Lippen,

um einen Seufzer der Freude aus ihrer Brust. Ach Ugolino, du

warst glücklich! Kein Sterblicher war glücklicher! Und du

hättest glücklich vollenden können! Da sitzt der Stachel! Ich

bin der Mörder meiner Gianetta! Wider mich hebt sie ihr

bleiches Antlitz zum Himmel! Auf ihren Ugolino ruft ihr

unwilliger Schatten den Richter herab! Liebenswürdiger Geist!

liebenswürdig in deinem Unmut! Ist dein Antlitz ganz ernst?

Ah! dein Antlitz ist ernst! Einst hab ich dich gesehn, meine

Gianetta; liebevoll und schüchtern sankst du in meine Arme.

Ruggieri Ubaldini trat heran; das Gewand des Heuchlers

rauschte lauter; sein bleifarbigtes wässerigtes Angesicht tobte

vom Sturm seiner Seele; er wälzte seine adrigten Augen weit

hervor; Tücke und Verderben lauschten nicht mehr im

Schleier der Nacht! Du aber lagst furchtsam atmend an

meinem Halse. Da erhob sich mein Herz! Da erkannte

Ruggieri noch einmal Gherardesca, den Mann! Da waren

deine Blicke mild, wie der Morgentau; und deine süßen

Lippen, deine Nektarlippen, deine Wonnelippen Er küßt sie.

nannten Pisas Befreier deinen Erretter! Nun bin ich gebeugt,

meine Liebe! Mein Haar ist nun grau, und mein Bart ist

fürchterlich, wie eines Gefangnen. Doch der große Morgen

wird ja kommen! schrecklich, dunkelrot und schwül von

Gewittern wird er ja kommen! In seinem schwarzen Strahle

will ich erlöschen! In seiner gebärenden Wolke soll, wie Feuer

vom Himmel, mein Geist über Pisa stehn! Dann erzittre ein

Elender! aber nur einer. Feuer und Rache! ist meine Gianetta

gefallen! Steht tiefsinnig. Mit Gift hingerichtet haben sie meine

Gianetta? Gift sogen sie aus den Worten meiner Liebe? ah! aus

den Worten meiner Liebe? Einsame Erde! ich traure! Was? mit

Gift hingerichtet haben sie meine Gianetta? Geht

stillschweigend. Gern möcht ich die Stimme des Abgrundes

vergessen! o daß ich sie nie gehört hätte! Ein Gebeinhaus der

Verhungernden! Ein Gebeinhaus der Verhungernden! Denn

der Turm ist von dieser Stund an verflucht! ein Gebeinhaus der

Verhungernden! Ha! wie er wütet, der Gedanke! wie er sich in

mir umkehrt! Ich kann ihn nicht ausdenken! und mag nicht! O

pfui! pfui! Brandmal für die Menschlichkeit! ewiges Brandmal!

Ich kann mich deiner nicht erwehren; du Wohnhaus des

Schreckens! nicht mehr Kerker meiner Erniedrigung! Gruft!

Gruft der Gebeine Gherardescas! Gruft meiner Auferstehung!

aber erst meiner Verwesung! ah! nicht nur meiner!

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Fürchterlich! hier hinsinken! hier mit dem Tode ringen!

einsam! von keiner freundschaftlichen Hand unterstützt! ganz

einsam! mein Weib, meine Kinder rings um mich gesammelt!

dennoch ganz einsam! jeder Sinn voll ihrer Verwesung!

fürchterlicher als einsam! Tod, wie keiner dich starb, o du bist

fürchterlich! Ich will nicht, ich will dich nicht denken! Er sieht

Gaddo. Doch zwingt mich dieser Anblick. Ach daß ich Vater

und Mensch sein muß! Steh auf, armer Gaddo! Du antwortest

nicht?

GADDO. Ich bin gelähmt.

UGOLINO. Aha, war das die Ursache?

GADDO. Hilf mir, mein Vater!

UGOLINO. So!

GADDO. Lächle, trauter Vater, und hilf deinem Gaddo!

UGOLINO. So!

GADDO. Gott segne dich!

UGOLINO hebt ihn auf seinen Schoß. Wo schmerzt es dich, mein Gaddo?

Sage mir's, armes Kind.

GADDO ihn sehr beweglich ansehend. Du wirst mich nicht Hungers

sterben lassen, mein Vater!

UGOLINO. Wo sitzt deine Krankheit?

GADDO. Im Herzen, im Magen, im Kopf: ich kann's dir nicht sagen. O

mich ekelt!

UGOLINO. Ich habe dich nicht schreien gehört.

GADDO. Oh! der Hirnschädel wäre mir geborsten.

UGOLINO. Deine Augen sind blau und geschwollen.

GADDO. Sie wollen nicht weinen!

UGOLINO. Gewiß, gewiß, es ist sehr bitter!

GADDO. Liebt meine Mutter mich noch?

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UGOLINO. Sie liebt dich immer: wir lieben dich beide.

GADDO. Hah! wenn dem so wäre! Es ist unglaublich.

UGOLINO. Warum unglaublich, mein Gaddo? Sprich! Ich bin dein

liebender Vater.

GADDO. Sie hat mich an ihrem Busen genährt: itzt läßt sie mich

verschmachten. Doch sie kann mich verschmachten lassen,

und doch lieben: denn du liebst mich, mein Vater; sagtest du

nicht so?

UGOLINO küßt seine Augen. Habe Mitleid, Strafengel! o schone! schone!

GADDO seufzt. Ach!

UGOLINO. O nein! nein! lieber rede! daß Gott im Himmel dich höre!

rede; strafe deinen Vater; girre nach deiner Mutter, Verlorner!

Ärmster! nur laß mich dich süßes Kind nie wieder seufzen

hören!

FRANCESCO eilig. Es müssen Leute im Turm sein: ich hörte Fußtritte.

UGOLINO bestürzt. Wie? Was? Legt Gaddo hin.

ANSELMO langsam. Du wolltest vermutlich die Männer im Turm sehen.

Es sind dieselben, die ich vorher bat, mich und Gaddo

mitzunehmen: Männer ohne Herz. Sie schlichen fort, da sie

mich wahrnahmen, als fürchteten sie mich. Sie sind nicht

mehr da.

FRANCESCO. Horch! horch!

ANSELMO. Auch die Öffnung ist nicht mehr. St! St!

FRANCESCO erblaßt. Die Turmtüre! Ha!

Man hört sie stark zuschlagen.

ANSELMO. Sie wird verschlossen. Ein sehr langes und schreckenvolles

Stillschweigen: worauf Anselmo seinen Bruder leise anstößt. Du

siehst den Geist an der Mauer, Francesco! Nein, sieh nicht dort

hin; sieh unsern Vater. Erstarrt? Versteinert? Bleich war das

Antlitz unsers Vaters; aber sieh, Francesco, itzt ist's

schrecklich. Weh mir! ihm ins rote, ins unbewegliche Auge zu

sehn, schaudert mich! Ach mein Vater! Küßt seine Hand. Und

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auch du, Francesco? Du schweigst? seufzest? auch du,

Francesco? und schluchzest? Mein Vater! Küßt seine Hand

noch einmal, sieht auf, und erschrickt. Auf dich wirft er einen

schnell zurückgezognen Blick, und auf mich, und auf Gaddo!

Blut strömt vom gewaltigen Biß seiner Lippen! Seine

Gesichtsmuskeln stehn aufwärts gedrängt und starr! Mein

Vater! Wirft sich ihm zu Füßen.

FRANCESCO. Sei ruhig, Anselmo, ich bitte dich!

Er richtet ihn auf.

ANSELMO mit Heftigkeit. Mein Vater! mein Vater! Ugolino geht ab. Mein

Vater! Mit den Füßen stampfend. Mein Vater! Ängstlich

schreiend.

FRANCESCO. Was ängstigt dich, mein Anselmo? Was schreckt dich,

Lieber? ach! laß unsern Vater nichts von dieser Heftigkeit sehn!

sei gelassen! sei ruhig!

ANSELMO. Gut, Mann! entferne dich nur! aber schnell! schnell aus

meinen Augen! wenn dein Leben dir lieb ist, Mann!

FRANCESCO. Ich darf ihn itzt nicht verlassen, nein. Und mein Vater! o

ewige Vorsicht!

ANSELMO. Ich irrte mich. Dieser da ist keiner von ihnen. Sieht sich

furchtsam nach allen Seiten um. Ach! Indem er die Hände ringt.

Nun ist es gewiß. Weggeführt haben die Priestersklaven das

Opfer! und die Reihe wird an mich kommen: aber desto

besser.

FRANCESCO. Gib dich zufrieden, Anselmo. Kennst du mich nicht?

ANSELMO. Dich?

Mißt ihn mit den Augen.

FRANCESCO. Kennst du mich?

ANSELMO. Ha! ha! ha! Wie sollt ich dich nicht kennen. Du bist ja Er, der

aus dem Abgrunde heraufkam. Ich sah dich aus deiner Grotte

steigen: eine Grotte, wie ich mir keine wünsche, schmal und

eckigt. Hatte sie keinen giftigen Einwohner, als dich?

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FRANCESCO. Er redet vom Sarge, und seine Geister scheinen sich zu

sammeln. Beruhige dich, Anselmo; ich bin dein Bruder

Francesco, und ich lebe.

ANSELMO. Wohl dir, daß du lebst! Draußen, ach weh! drohn die

Gefahren! man kann dir nicht schuld geben, daß du ihnen

nicht zeitig genug ausgewichen seist. Willkommen,

Turmspringer! Sicherheit ist die Blume des Lebens.

FRANCESCO. Ich vergebe dir den Spott. Turmspringer nennst du mich?

Wollte Gott, ich hätte den unseligen Sprung nicht gewagt! Alles

wäre gut gewesen! Keins unter euch hätte viel gehofft, noch

viel gefürchtet! Wie wund muß euer Gefühl sein! Wie sehr

vergrößert sich meine Übereilung! Vergib mir, mein Bruder, o

vergib mir! die Absicht war nicht unedel.

GADDO ruft. Francesco!

ANSELMO. Gut! sei gerichtet nach deinen Taten!

Er geht auf und ab, bald schnell, bald langsam.

GADDO. Francesco!

FRANCESCO. Was verlangt mein Gaddo?

GADDO. Sei mein Fürsprecher, Francesco. Ich bin dir auch gut.

FRANCESCO. Bei wem, du geliebter Gaddo? Sprich.

GADDO. Bin ich dein geliebter Gaddo? Ich frage nicht umsonst.

FRANCESCO. Ja! Gott weiß es!

GADDO. Ach! Jedermann liebt mich, und ich liebe jedermann, und doch

hilft mir keiner. Hilf du mir, geliebter Francesco. Vertritt mich

bei Anselmo; du giltst viel bei ihm.

FRANCESCO. Worin, Gaddo, worin soll ich dich vertreten?

GADDO. Erst bitt ich dich, mir eine Zechine zu leihen.

FRANCESCO. Eine Zechine? wozu die?

GADDO. Ich habe viele Zechinen unter meinen Sparpfennigen: sie sollen

alle dein sein. Ich bitte dich nur um eine.

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FRANCESCO. Hier hast du sie, Gaddo.

GADDO. Nimm diese Zechine, und überrede Anselmchen, daß er mir ein

einziges Ei aus den vielen Nestern gebe, die er mir kurz vorher

schenken wollte: sollt's auch nur so viel sein, als ein

Hänflingei.

FRANCESCO. Du sprichts mir Rätsel.

GADDO. Ich will die Auerhähne gerne entbehren, die uns dein Sprung

vom Turme verschafft hat: itzt brauche ich nur ein einziges

Hänflingei. Tu es Francesco, aber bitte ihn höflich, daß er dir's

nicht abschlage.

FRANCESCO. Schöne Folgen des Sprungs vom Turme! Ich war nicht

allein ein Tor; ich war auch ungehorsam: allein, o Himmel! die

Strafe ist hart! Vergib auch du mir, mein Gaddo! Und doch mit

welcher Stirne kann ich's wünschen?

GADDO. Ein Ei würde mich retten! Ein Hänflingei! Bedenke, Francesco!

Kannst du mir ein Hänflingei versagen? O lieber Gott! Gib mir

die Zechine zurück: ich will Anselmo selbst bitten. Ich wollt

ihm zu Füßen fallen, wenn ich könnte: allein ich kann mich

nicht regen. Francesco gibt ihm die Zechine, und geht mit

aufgehobnen Augen ab. Anselmo! großmütiger Anselmo! mein

Bruder!

ANSELMO auffahrend. So ist's recht! Laßt die Hörner tönen am

hallenden Fels!

GADDO sanft bittend. Anselmo! mein Bruder Anselmo!

ANSELMO rauh. Wer ruft? Hei! wer ruft denn da? wer ruft? wer ruft?

GADDO erschrocken. Ich wenigstens bin hier der Rufende nicht!

ANSELMO. Du da auf dem Stroh, ich habe zu tun!

GADDO streckt die Hände aus, und legt sich seitwärts.

ANSELMO. Hinweg! Er pfeift. Hinweg! in meinem Kopf sollst du mir nicht

spinnen! Pfeift wieder. Hinweg ich verbanne dich auf ewig aus

meinem Kopf! Macht eine Bewegung mit der Hand. Nun, wie

steht's, ihr im silbernen Gewande, unsterbliche Töchter des

hohen Oceanus! haben wir das Wild? Mit diesen Nägeln will

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ich's zerreißen; mit diesem Gebiß will ich's zermalmen; so, so,

so will ich das Wonneblut trinken! Schnaubend stürzt der

Tiger vom Abhang; sie haben ihm seinen Raub entwandt;

springt zischend hoch auf, wittert in den Wind, zerstiebt mit

langgestreckter Klaue den Fußtritt des Schnellen im glutroten

Sand, Grimm knirscht in seinen Zähnen, Hunger sprüht heiß

im Aug: umsonst, Tiger, am Bart des Jägers glänzt's! Ich will

mich an diesen Abhang setzen. Durch diese Felsritze kann ich

die Tigerkatzen über mir, und von die ser Höhe die Marder

unter mir spähen. So will ich euch den Fang ablauschen, ihr

Räuber! Meine Hühnchen nisteten am Sumpf, wo der Marder

mit gesenkten Ohren hinabschleicht. Weg sind sie! Stoßt ins

Horn, Müßige! stoßt ins Horn! stoßt ins Horn!

Singt.

Der muntre Jagdzug schwebet In blauer Luft! Roß, Hund, und Jäger drängt sich Daher, dem Himmel nah!

Hab ich den Dieb? Langöhrigter! laß deine Stimme hören! Er

billt. Ho! ho! ho! Dieb siehst du den Pudel nicht?

GADDO. Was ist das?

ANSELMO. Sei gegrüßt, Endymion. Wir haben gute Weile. Kannst du

einen Wettgesang singen?

GADDO. Ich singe wenig, Anselmo.

ANSELMO. Was schadet's? Wir wollen einen Wettgesang singen.

GADDO. Ich kann kaum reden, Anselmo; und sollte singen?

ANSELMO. Singe, Träger, oder bei jenem hinhangenden Monde! ich

zerstoße dich mit dem Felsbruche!

GADDO. Wie, Anselmo, du weißt, daß ich nicht singen kann.

ANSELMO. Singe!

GADDO. Ich singen?

ANSELMO. Singe!

GADDO. Ich, der ich weinen möchte, wenn ich könnte?

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ANSELMO. Singe weinend! Singe!

GADDO. Nun denn, Anselmo, ich will singen: aber mein Hals ist roh und

heiser. Schenke mir, wenn ich bitten darf, ein kleines

Hänflingei, oder ein Zeisigei, wie es dir am nächsten zur Hand

ist, um meine Stimme zu bereiten.

ANSELMO beiseite. Was gilt's, dies ist der Marder, der mir die Eier

austrinkt! Durch seine Larve hindurch erkenn ich den

tückischen Heuchler! Er ist's! bei meinem Leben! Ich will ihn

ausfragen.

GADDO. Aber schenke mir's bald, Lieber: meine Stimm ist vertrocknet.

ANSELMO. Gut! gut! du möchtest also ein Hänflingei haben?

GADDO. Ich will's nicht leugnen.

ANSELMO. Oder ein Zeisigei?

GADDO. Ach ja!

ANSELMO. Hem! wäre dir nicht mit einem Hühnerei gedient?

GADDO. Das wäre zu viele Güte.

ANSELMO. Ei ja, nimm ein Hühnerei.

GADDO. Ich danke.

ANSELMO. Es ist ein frisches Ei, eins von den besten, die ich in meinem

Stall habe. He?

GADDO. Weil es von deiner Hand kömmt, will ich's nicht ausschlagen.

ANSELMO. Ich dacht es. Faßt ihn an die Kehle. Räuber, bekenne mir, wie

lange hast du diesen heillosen Frevel verübt?

GADDO. O mir!

ANSELMO. Wie viele Eier hast du mir ausgetrunken? Sieh, dein Leben ist

in meiner Hand. Bekenne, wie viel?

GADDO. Ah! du wirst mich nicht umbringen, Anselmo?

ANSELMO. Ich, Marder! ich! ich! umbringen, Marder! dich, Marder! gib

acht, Marder!

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GADDO. Hülfe! Hülfe!

FRANCESCO springt zu und befreit Gaddo. Entsetzlich! Anselmo schlägt

seinen Bruder Gaddo?

GADDO. Ah! ah!

FRANCESCO. Seinen kranken, gelähmten, verschmachtenden Bruder

schlägt Anselmo?

Anselmo gibt Francesco unvermutet einen Stoß, um sich loszureißen.

GADDO. Halt ihn! ach halt ihn!

FRANCESCO. Eine eiserne Hand!

GADDO. Nach mir sieht er hin. Trauter Francesco, halt ihn!

FRANCESCO. Ein Luchs blickt nicht wilder. Der Apfel quer, flammigt der

Stern. Und es ist Tücke darin. Wie kann Tücke in ein Auge

kommen, wo das Herz so gut, so brüderlich gut ist? O mein

Anselmo! Er schweigt hartnäckigt.

GADDO. Ich aber sollte singen!

FRANCESCO. Unser Vater wird gleich hier sein. Er muß dich nicht sehn.

Ich beschwöre dich, Anselmo, laß mich dich entfernen, daß

unser Vater dich itzt nicht sehe. Es würd ihn töten!

GADDO. Schone seiner, Francesco. Ein Marder hatt ihn wider mich

aufgebracht; ich weiß selbst nicht, wie. Ah! nun schaut er

schon wieder um sich!

FRANCESCO. Er erschrickt. Es dämmert in seinem Auge. O Anselmo! wo

bist du gewesen, Anselmo?

GADDO. Das ging ihm ans Herz!

FRANCESCO. Eine mildere Röte umzieht seinen Blick. Seine Wangen

glühn. Er schmilzt, er schmilzt wirklich. Fürchte dich nicht,

mein Bruder Anselmo. Sein Auge weinet. Gottlob! da stürzt die

Träne! da stürzt die Träne!

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ANSELMO. Ach Heerscharen des Himmels! Welcher Segenvolleste unter

euch stellt sich zwischen mein Herz und die umspannende

Kralle?

FRANCESCO. Erbärmlicher Anblick!

ANSELMO. Läuft die Natur im Kreise vor mir herum? Wohin, mein

Bruder?

FRANCESCO. Dir schwindelt, armer Anselmo. Es ist alles unbeweglich

um dich her. Unser Vater kömmt. Um Gottes willen, teuerster

Anselmo, mäßige dich itzt, da unser Vater kömmt!

ANSELMO. Wie könnt er kommen? Er lebt ja nicht mehr!

UGOLINO sehr freundlich. Ihr guten Kinder!

ANSELMO fällt ihm um den Hals und schluchzt.

UGOLINO ihn küssend. So lieb ich euch, meine Kinder. Euch in dieser

reizenden Vertraulichkeit beisammen sehn, ist Erquickung

zum Leben! Warum stutzt mein Anselmo? betrachtet mich so

aufmerksam?

FRANCESCO. Das Vergnügen, mein Vater, dich so heiter zu finden –

UGOLINO. Wir wollen recht heiter sein, meine Kinder. Es ist eine heitre

Stunde. Er nimmt einen Stuhl und setzt sich. Setze dich neben

mich, Francesco, und du, Anselmo. Will Gaddo auf seines

Vaters Schoß sitzen?

GADDO. Ob ich will? Bewegt sich, um hinzukommen.

Francesco bringt ihn seinem Vater.

UGOLINO. Wir haben viel fröhliche Tage gelebt, meine Söhne. Wollen

wir nachrechnen? Es wird uns schwerfallen, sie alle

zusammenzurechnen.

FRANCESCO. Das war ein schöner fröhlicher Tag, da Anselmo geboren

ward. Ich erinnere mich's recht genau. Ich war damals sieben

Jahre alt.

UGOLINO. Ein schöner Tag; du hast recht, Francesco. Ganz Pisa nahm

daran teil. Die Freudenfeier und die festlichen Tänze dauerten

drei Tage, und darüber.

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GADDO. Da wird was Rechts geschmaust sein, mein Vater! War ich auch

dabei?

FRANCESCO. Du warst noch nicht geboren, Gaddo.

GADDO. Schade!

UGOLINO. Wie so still, Anselmo?

ANSELMO nachdem er ihn starr angesehn hat. So bist du's denn wirklich?

Nun Blickt zum Himmel. ich danke dir!

FRANCESCO. Anselmo wähnte, daß dir nicht wohl sei. Auch das war ein

schöner Tag, mein Vater, da die Mütter, Jungfrauen und

Jünglinge dir nach dem großen Siege vor die Stadt

entgegenkamen.

UGOLINO. Ganz recht. Ihr Zuruf im Klange der Klappererze und

Trompeten machte mir warm. Aber ich wollte, daß ihr mir

auch einige von euren fröhlichen Tagen herrechnetet.

ANSELMO. War das nicht ein schöner und ein fröhlicher Tag, ihr Brüder,

da mich Ruggieri meinem Vater nachschickte? und –

FRANCESCO. Und da wir, auf dem goldnen Kahne, unsrer Mutter

entgegensegelten, als die dankbaren Pisaner sie im Triumphe

den Arno hinaufführten bis zur Villa Gherardesca.

UGOLINO. Du warst auch zugegen, Gaddo: was sagst du dazu?

GADDO. Mir wird ganz trübe vor den Augen!

UGOLINO. Genug, meine Kinder; wir haben alle viel fröhliche Tage

gelebt. Zu bedauern ist's, daß dies Leben nicht immer

fortwährt. Man ist auf der Welt so glücklich.

GADDO seufzend. Ach ja! das Leben ist so was Süßes!

FRANCESCO. Das dächt ich nicht, mein Vater. Wenn man beim Tausch

verlöre, da ließ ich's gelten. So aber gewinnt man ja in jeder

Absicht.

UGOLINO. Du hast's getroffen, Francesco. Das menschliche Leben ist

zwar sehr glücklich; aber das höhere Leben nach dem Tode ist

doch viel glücklicher: es hat keine Abwandlungen, es ist ein

höheres Leben. Ach! von Vaterhuld floß das Herz unsers

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Schöpfers, da er Menschen schuf. Er setzte sie in einen

irdischen Garten, und bereitete ihnen den Übergang in einen

Garten des Himmels.

FRANCESCO. Mir fällt dabei das Sterbelied unsers Schutzheiligen, Sankt

Stephans, ein, wie ich's ein mal von einer sehr angenehmen

Stimme gehört habe.

UGOLINO. Sing es.

FRANCESCO singt.

Ich soll den Lichtquell trinken Am himmlischen Gestad! Ach! wo das Lied der Sterne strömt, Am himmlischen Gestad, Da strömt ihr Silberstrom Unsterblichkeit! Ihn soll ich schaun! Gedank! Unauszudenkender Gedank! Ach! ich verstumme dir!

UGOLINO. Du hast's gut gesungen. Beiseite. Herunter, mein Herz! So weit

war's wohlgetan, Ugolino!

ANSELMO steht vom Stuhl auf. O Licht! Licht! o Salamis, heiliger

Vaterlandsboden! Herd meiner Väter! und du, ruhmvolles

Athen! und du, mit mir auferzognes Geschlecht! ihr Quellen,

ihr Flüsse, ihr trojanischen Felder! euch ruf ich! seid mir

gesegnet, o ihr meine Pflegerinnen! Dies letzte Wort ruft Ajax

euch zu: das übrige will ich im Elysium den Schatten erzählen.

UGOLINO. Was sagst du?

FRANCESCO. Er hat die Rolle des Ajax Telamonius im Augustinerkloster

gespielt. Dies ist nichts, als eine plötzliche Regung seines

Herzens.

UGOLINO. Gut; ich verlasse euch, meine Kinder. Der Morgen naht

heran, und keins von euch hat noch den balsamischen Schlaf

genossen. Schlaft nun wohl, ihr Geliebten. Legt Gaddo wieder

hin. Wenn wir uns wiedersehn, so – Geht eilig ab.

ANSELMO. Schläfert dich?

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FRANCESCO. Freilich! aber ohne meines Vaters Segen will ich nicht

einschlummern! O mein Schlaf wird ein herzerquickender

Schlaf sein!

ANSELMO. Mein Vater soll mich auch segnen.

Gehn ab.

GADDO. Mich hat er gesegnet. Dennoch könnt ich itzt nicht

einschlummern.

Fünfter Aufzug

ANSELMO. Ich bin voller Erwartung.

FRANCESCO. Er sprach die Worte »Es ist ein Gott, meine Kinder!« mit

großer väterlicher Gemütsbewegung aus; er konnte keinen

Ton mehr vollenden. O mein Anselmo, du weißt nicht, warum

ich unsern Vater so schnell verließ.

ANSELMO. Noch warum du mir winktest, dir zu folgen.

FRANCESCO. Umarme mich, mein Bruder! daß ich dich fest an mein

Herz drücke, Geliebter! Du bist doch nun völlig wieder

Anselmo?

ANSELMO. Ich bin mild, wie der Honig vom Hymettus.

FRANCESCO. Ruggieri hat mir Gift gegeben, und ich werde sterben.

Mein Vater wähnte, ich hätte mich betrogen; ich wähnt es

selbst. Mein Vater soll mich nicht sterben sehen. Mein Vater

hat mich zum letzten Male gesehen. Du erblassest? Was ist dir,

mein Werter?

ANSELMO. Cithäron fällt, die erhabne Pallene zittert, und Tempe welkt!

FRANCESCO. Noch immer diese hochfliegenden Phantomen! Ach! wie

quälst du mich, mein Anselmo!

ANSELMO. Sprich es noch einmal aus, das geliebte tonvolle Wort. Wie

war's? Sterben?

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FRANCESCO. In dieser Stunde. Daß ich euch itzt schon zurücklassen

soll, meinen niedergebeugten Vater, dich, mein Anselmo,

dich, mein Gaddo, Indem er Gaddo mitleidig ansieht. das, das

tut mir weh. Doch, ihr Armen, ich gehe nicht lange voraus.

ANSELMO. Ha!

FRANCESCO. Anselmo, ich will dir etwas ins Ohr sagen, ehe ich sterbe.

Ich fürchte unsers Vaters Stillschweigen. Er ist arm an Worten,

schwer beladen mit Jammer, schwerer, als ein Mensch es vor

ihm gewesen ist. Kann er seine Seele bis ans Ende behaupten,

so ist er der größte Sterbliche der Erden, wie er der größte in

Pisa war. Aber seine Leiden sind zu vielfach. Deswegen hab ich

gewünscht, ihn zu überleben, mein Bruder, um der Stab seines

sinkenden Alters zu sein. Du bist ein Knabe von starker Seele,

Anselmo; ja du bist mehr, als ein Knabe! Weine nicht, Liebster.

Doch weine nur. Ich verstehe den ganzen Sinn dieser Zähre.

ANSELMO. Wie schwach ich mir itzt vorkomme, du Goldzüngiger!

FRANCESCO. Ein Wort sagte unser Vater: es gellt noch in meinen Ohren.

»Ach, Herr, bewahre mich vor Verzweiflung!« So sagte unser

Vater! So sagte Gherardesca! Er nannte sich den von Gott

Verlassenen. Entsetzen fuhr durch meine Seele: aber ich hielt

mich, daß ich nicht ausschrie. Bete für unsern Vater, Anselmo!

Indem er ihm die Hand drückt. Ich wollte dich auffordern –

Nun vergeß ich, wozu ich dich auffordern wollte. Die Rede

eines Sterbenden –

ANSELMO. Sprich nicht eines Sterbenden, ehrwürdiger Jüngling! Wie,

Lichtheller, du wirst mich nicht in diesem engen Turme, von

der Welt, und aller menschlichen Hülfe abgesondert, mit

Gaddo allein lassen? Überdem ist mein Kopf zerstört. Ich

schaudre, zurück, ich schaudre, vorwärts zu schauen.

FRANCESCO. Recht so, das war's, wozu ich dich auffodern wollte. Laß

Ruggieri nicht über die Seele eines Gherardesca triumphieren!

Sei stärker, als deine Jahre. Tritt mit Anstand in die Laufbahn.

Wache über deine Vernunft! Ruggieri allein sei der Tobende,

aber auch der Zähnklappernde! Er, der itzt jauchzt, sei der

Winselnde, der Kriechende, das Insekt! Stirb du deines

Namens würdig, Anselmo. Stirb, daß ich dich an jenem Ufer

umarmen könne, wie ich dich hier umarme. Gut! das Zittern

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deines Antlitzes verspricht viel! Dein stolzes Herz steigt

sichtbar in deinen Mienen empor! Du bist mein Bruder!

ANSELMO fällt ihm in die Arme. Ach!

FRANCESCO. Meine Bitte hat ihre Deutung, Geliebter. Auch deines

Vaters wegen wünsch ich dich standhaft. Kränk ihn nicht

durch vergeblichen Kummer: er hat der Leiden genug. Laß

mich keine Fehlbitte tun; gib mir deine Hand darauf. Itzt sterb

ich vergnügt. Ohne heilige Fürbitten zwar der Knechte Gottes!

Keine Träne fließt um mich in seinen Tempeln. Kein Edler im

unedlen Pisa trägt meinen wandernden Geist auf den Flügeln

seiner Andacht zum Himmel. Aber wo ihr seid, will ich sein.

Auf dieser Grabinsel soll mein Geist verweilen, auf dieser

schwanken Spitze hingeheftet ruhn, mit dem Winde

Freudigkeit des Todes auf euch niederlispeln, bis ihr verklärt

seid, wie ich.

ANSELMO entschlossen. Da hast du meine Hand, Kind der himmlischen

Grazie, Erstgeborner des großen Gherardesca! Nimm sie,

nimm sie zum zweiten Male. Er soll kriechen! er soll winseln!

Ich bin eingedenk meines Schwurs, des Erstlinggelübdes; und

ich will's halten.

FRANCESCO. Ah! deine Geister sind im Aufruhr! Sammle sie, geliebter

teurer Anselmo!

ANSELMO. Rache! Rache!

FRANCESCO. Es gibt nur eine. Verzeih ihm.

ANSELMO. Wenn das Schwert meiner männlichen Hand ihn nicht

erreichen kann, so treff ihn das Gebet meiner Seele in der

Todesstunde! –

FRANCESCO. Das Gebet ihrer Großmut und herablassenden Huld. So

rächen die Beleidigten im Himmel.

ANSELMO. O du! – ich kann deine Glorie nicht ertragen. Aber es sei, wie

du gebietest.

FRANCESCO. Ich fühl's, ich muß eilen. Nimm mein Bruder, nimm

meinen Abschiedskuß. Ich sollte Gaddo umarmen – Seltsam!

meine Füße wollen mich nicht hintragen.

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Lehnt sich auf Anselmo.

ANSELMO. Siehst du? ich bin stark, Francesco.

FRANCESCO. Er schlummert.

ANSELMO. Mächtig pocht das Herz des Knaben, wie meins pocht. Wie

kann es pochen?

FRANCESCO. Schon ist's seiner Wohnung zu groß. So ist deins. Freue

dich. Die Gekerkerten sind am Ziele ihrer Freiheit.

ANSELMO. Wenn dies Schlummer ist, so ist's ein angstvoller.

FRANCESCO. Die Stunde wird kommen. Fahre wohl, Unschuld! Für dich

darf ich nicht beten? Macht das Kreuz über ihn. Laß uns eilen.

Itzt! itzt! Ich will am Sarge meiner Mutter sterben. Gute Nacht!

Erde! du Stiefmütterliche! Er legt sich in einiger Entfernung, mit

Bedacht, an die Seite des Sargs. Anselmo hält ihn in seinen

Armen. Gute Nacht! Hier will ich besser ruhn. Itzt verlaß mich!

Indem er Anselmo mit der Hand winkt, wegzugehen.

ANSELMO. Nicht also! Ich habe noch nie einen Sterbenden gesehen.

Nach einer kurzen Pause. Ist das Sterben? Betracht es wohl,

Anselmo! Ist das Sterben? Gott sei mir gnädig!

FRANCESCO. Er hat mich ergriffen – Gott! Gott!

ANSELMO. Erbarmer! Erbarmer! Erbarmer! Noch windet der Wurm sich?

Noch? Noch? Wehe mir! Sterben ist grauenvoll!

FRANCESCO streckt den Arm gegen Anselmo aus, und stirbt.

ANSELMO schlägt sich vor die Brust, und entfernt sich schnell. Er ist

dahin! mit ihm meine Entschlossenheit. Sterben ist grauenvoll!

Geboren werden ist auch grauenvoll! Dies Rätsel ist mir zu

fein. Er betrachtet den Leichnam. Wer nennt den Tod ein

Geribbe? Ich hab ihn gesehn: sein Fleisch ist Sehne, seine

Knochen sind gegoßnes Erz. Ein vollblütiger breitschultrigter

Mann. Francesco rang mit ihm, es ist wahr: aber Francesco ist

der Kraftvolleste der krotonischen Jugend. Francesco hat

einen Stier an den Hörnern zu Boden gestürzt: allein dem

erhabnen Fremdling erlag Francesco. Ich bewundre den Bau

seiner Glieder. Wenn dieser Jüngling in der Schlacht gefallen

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wäre: welch ein Mahl für die Adler! Hier ist liebliche Speise!

Hier ist Vorrat! Jupiter ist parteiisch. Den Raubvögeln gibt er

im Überfluß; Menschen darben. Husch! warum nenn ich ihn

parteiisch? Sorgt er nicht für mich, wie für die jungen Raben?

Ladet er mich nicht ein? Nein! hier widersteht etwas! In

meinen Herzen empört sich's, und ruft: Iß nicht Anselmo, iß

nicht von diesem Fleische. Ein guter Rat! dies Fleisch könnte

mir schaden; es ist vergiftet. Hieher winkt der Versorger. Ein

offner Sarg, der einen weiblichen Körper voll himmlischer

Schönheit für mich aufbewahrt! Soll ich? Glück! soll ich? Ich

folge dir, Glück! Meine Zähne knirschen! Der Wolf ist in mir!

Ha! verwünscht will ich sein, wenn ich dieser Weibsbrust

schone!

Indem er sich über den Sarg erhebt, fällt der Deckel.

UGOLINO. Tiger! in deiner Mutter Busen wolltest du deine Zähne

setzen? Du greinst? Du bist deiner Mutter Sohn nicht, du

Ungeheuer!

ANSELMO. Woher dieser Starke? Der Tod kann er nicht sein: er ist hager

und bärtig.

UGOLINO. Wenn Ruggieri dies sähe! dies hörte!

ANSELMO. Er droht mir!

UGOLINO. Der Mensch ist Mensch; mehr nicht, Herrscher im Himmel!

deine Lasten sind zu schwer! Was hab ich nicht erlitten! Könnt

ich, wie das morgenländische Weib, eine Marmorsäule

dastehn, so wollt ich zurückschaun! O nun beb, Erde! nun

brüllt, Sturmwinde! nun wimmre, Natur! wimmre, Gebärerin!

wimmre! wimmre! die Stunde deines Kreißens ist eine große

Stunde!

ANSELMO. Dies Weib war meine Mutter!

UGOLINO. Dies Weib war deine Mutter, du mit dem dreifachen Rachen!

ANSELMO indem er sich mit geballter Faust vor die Stirne schlägt. Dies

Weib war meine Mutter!

UGOLINO. Gorgo! was hast du getan!

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ANSELMO. Hunger! Hunger! Ach er wütet in meinem Eingeweide! er

wütet in meinem Gehirne!

UGOLINO. Du Greuel meiner Augen! der du wie ein bösartiger Krebs

deiner Mutter Busen zernagst!

ANSELMO. Unmenschlich! o unmenschlich!

UGOLINO. Wenn der Sohn mit dem Gebiß einer Hyäne am Fleisch zehrt,

das ihn gebar: o ihr Elemente! so sei der Krieg allgemein!

Sulfurisches Feuer zersprenge den Schoß der Mutter Erde! der

Abend verschlinge den Morgen! die Nacht den Tag! ewiger

chaotischer stinkender Nebel die heilige Quelle des Lichts!

Hebe dich weg von mir, Abart! Du triefst von dem Blute deiner

Mutter! sei unstet und flüchtig! Die Rache zeichnet dich aus!

ANSELMO wirft sich auf Francescos Leichnam. Verbirg du mich dem

Grimme meines Vaters, brüderlicher Busen! Bei den Toten will

ich Schutz suchen: denn ach! die Lebenden sind furchtbar!

UGOLINO indem er Francescos Leichnam sieht. Sie ist da, die feierliche

Stunde! die mächtige! die prüfende! sie ist da! Nun,

Gherardesca! Nun, wenn du ein Mann bist! Die entscheidende

feierliche Stunde ist da! Wann ward dieser erste Ast vom

Stamme gerissen? Das Schrecken hat den unglücklichen

Knaben getötet. Warum zürnt ich? O Himmel! Er wußte wohl

nicht, was er tat. Anselmo! mein Sohn Anselmo! Du ängstigest

mich! Sohn des Entsetzens! ach! bist du der dritte dieser

Leichname?

ANSELMO seines Vaters Knie umfassend. Sei milde! schone! schone!

UGOLINO ihn aufrichtend. Betrübe mich nie wieder so!

ANSELMO. Nie! oder du magst mich zertreten, wie einen Skorpion. Ein

reißendes Tier billt in meinem Eingeweide! ich will mit ihm

kämpfen! kämpfen will ich mit dem reißenden Tiere! Aber ach!

mein Vater! warum muß Gaddo hungern? Dich hungert nicht,

sagtest du: warum soll dein Gaddo hungern? Betrachte Gaddo,

mein Vater!

UGOLINO. Kann ich den Hülflosen sehn, den ich nicht zu retten weiß?

Lieber will ich diesen Entbundnen sehn!

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ANSELMO. Dieser Entbundne ist Francesco.

UGOLINO. Und diese im Sarge ist deine Mutter. Zweene sind hier

Leichname der Toten: drei tappen noch an ihrer Grabstätte.

Francesco verließ mich schnell.

ANSELMO. Er starb in meinem Arme.

UGOLINO. Der Großmütige! Ich sollt ihn nicht sterben sehn! warum sah

ich ihn gestorben! Hier ist keine Erquickung! Nirgend ein

Winkel, der mir nicht einen Gegenstand des Grauens darbeut.

So weit die Schöpfung reicht, ist kein Ort, von dem der

Erschaffende seinen Blick abwandte, als der Ort der ewigen

Finsternis, und dieser!

ANSELMO. O sieh! sieh! mein Vater! Gaddo bewegt sich herwärts. Was ist

dem Kinde?

UGOLINO. Daß ich mit Blindheit geschlagen wäre! mein Auge nichts

sähe! mein Ohr nichts hörte! Sind alle Leiden der Erde in eine

einzige Stunde zusammengedrängt?

GADDO kriecht zu seinem Vater hin, dessen Zipfel er faßt. Nur ein

Brosämchen, mein Vater! nur eins! oder ich sterbe zu deinen

Füßen!

UGOLINO zitternd. O Gott!

GADDO. Ach, Anselmo! hilf mir meinen Vater erbitten! Der Tod sitzt auf

meinen Lippen: warum soll ich Hungers sterben?

ANSELMO den andern Zipfel anfassend, und gleichfalls knieend. Um

deiner Liebe willen! laß Gaddo nicht Hungers sterben!

GADDO. Schier verschmacht ich! bin doch nicht vaterlos, noch

mutterlos! Gib mir, daß dein Vater im Himmel dir's

wiedergebe!

ANSELMO. Da dich selbst nicht hungert, o Versorger! gib Gaddo von

deinem Vorrate! Laß den Wolf hungern. Der Wolf mag

hungern. Laß den schändlichen Anselmo hungern. Der

schändliche Anselmo mag hungern. Aber o du mit der finstern

Stirne! warum dieses fromme, sanftmütige, schweigende

Lamm?

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GADDO. Schon ein halber Bissen wird mir das Leben retten! ja die Hälfte

eines halben Bissens wird mich retten!

ANSELMO. Als der Mangel ferne von uns war, strömten die Schätze des

Gottes wie ein Sommerregen herab! herab auf den gierigen

Adler! herab auf das idäische ambrosiaduftende Kind!

GADDO indem er kraftlos zurücksinkt. Hier will ich mein Leben

ausschmachten! hier auf dieser Stelle! Den Trost soll man mir

doch nicht nehmen, daß ich zu meines Vaters Füßen sterbe.

Mit gebrochner Stimme. Gott segn' ihn!

UGOLINO. Mark und Bein kann es nicht aushalten!

Er sinkt bei seinen Kindern zu Boden.

ANSELMO. Jenseits, wo sie am Styx schweben, ist die Aussicht. So pflegte

unsre teure Mutter zu sagen. Jenseits ist die Aussicht!

GADDO. Engel Gottes! der du mich hier abfordern wirst, laß ein

Blümchen unter meines Vaters Füßen aufblühen! Mit

schwächrer Stimme. ein geknicktes kleines Blümchen! Küßt

seines Vaters Füße. So blühe mein Leichnam!

ANSELMO. Getrost, schöner Sterbender! Das Leben ist der Tränen nicht

wert! Was sagte unsre Mutter Ops? Sicherheit blüht nicht unter

der Sense des Göttervaters! Jenseits ist die Aussicht!

UGOLINO. Ihr Mütter der Kinder und Säuglinge! ihr Weiber mit

zartfühlenden Herzen! Menschengeschlecht! heult zum Mond

auf! heult zu ihm auf, der höher, als der Mond, ist! zu ihm, der

eure Wehklage hören kann! Klagt's dem Allwissenden, daß

dies Los ein Los der Kinder und Säuglinge ist! Und du, blasse

Bewohnerin dieses Sarges! Kniet vor den Sarg hin. Heilige

unter den Heiligen! Verklärte am Thron! wenn du auf mich

herabsiehst! durchschaue die Leiden deines Ugolino!

ANSELMO. Armer neugeborner Unglücklicher! umsonst! der Alte hat

seine Zähne gewetzt, und du mußt sterben!

UGOLINO. Wenn er stirbt; wenn der Unschuldige stirbt! für eure

Verbrechen stirbt! Hungers, Hungers! stirbt: o Ugolino! o

Ruggieri! wo ist eine Verdammnis, die euch Grausamen, euch

wider diese duldende Unschuld Verschwornen! nicht gebührt?

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ANSELMO. Mit Verwünschungen spricht er das Todeslos über dich aus!

Aber deine gebrochenen weißschimmernden Augen reden

eine Sprache! und wohl mir! daß ich sie verstehe!

UGOLINO nimmt Gaddo in seine Arme. Ich lasse dich nicht, Engel! nicht

aus meinem Arme sollst du mir entschlüpfen! Ringender! willst

du die Hölle auf deinen Vater herabrufen?

ANSELMO. So! reiß ihm das Herz aus dem Leibe! Frisch! Nun hast du's!

Dies Zucken kenn ich. Fahre wohl, schöner Knabe, fahre wohl!

UGOLINO. Verderben komm über mein Haupt!

Läßt Gaddo fallen, und tritt zurück.

ANSELMO. Frisch! du Vater deiner Kinder! wohltätiger Saturnus! diesen

hast du gewiß! Aber warum scheu? warum bleich und mit

entstelltem Antlitze? warum wendest du deine gelben Blicke?

warum nagst du deine Hände? Will er sein Fleisch von seinem

Gebein abnagen, seinen Hunger zu stillen? Sieht er mich denn

nicht? Ich bin ja der einzige Übriggebliebne? Ich kann ihm

nicht entschlüpfen, und ich will nicht! Er nagt an seinem

Fleisch! Beim Styx! große Schweißtropfen fallen von der Stirn

auf die zernagten Hände Saturns, des Niedergebeugten! Kann

er mich nicht abmähen? Warum säumt er? Oder soll ich mein

Fleisch ihm darbieten? So will's die kindliche Pflicht! Ich soll

mein Fleisch ihm darbieten! Ich fühle mich von Mitleiden und

Erbarmen durchdrungen, diesen Alten so ungewöhnlich

hungern zu sehn. Ich weiß auch, was Hunger ist! Nein, ich

kann's nicht ausstehn! Er hängt sich an seines Vaters Arm.

Mich! mich! mich verzehre, du eisgrauer Alter! Sieh, dein

einziger Zurückgebliebner lebt! Mir laß das Verdienst, deinen

Hunger zu stillen!

UGOLINO in einer Art von Betäubung. Ruggieri! Ruggieri! Ruggieri!

ANSELMO. Schwer liegt die Hand des Schreckenden an meinem Nacken!

Gott der Götter! du, den ich in der Angst meines Todes – Es ist

Ugolino!

Er sträubt sich im Arme seines Vaters.

UGOLINO. Oh! hab ich dich so in meinen Armen! Schuppigtes

Ungeheuer! hab ich dich endlich in meinen Armen! Nun

winde dich, Hyder! umflicht meine Schenkel! umflicht meine

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Arme! Gherardesca soll mit männlicher und mit nervigter

Faust auf dich treffen! Schuppigtes vielköpfigtes Ungeheuer!

Siehst du? ha! siehst du? ha! siehst du?

ANSELMO flieht.

UGOLINO streckt den Arm nach ihm aus und schlägt ihn zu Boden. Also

treffe dich –

ANSELMO jammert in seinem Blute.

UGOLINO. Der Sterbenden Geschrei! der Kinder Wehklag im

Leichengefild! das Gewinsel der Weiber und ihrer Säuglinge! o

Sieger Ugolino! Alles wieder still! Kein Hauch mehr in der Luft!

Keine Kühlung um meine Schläfe! und mir ist besser! Doch

meine Augen sind mit Blindheit geschlagen! Wo find ich

meine Laute?

Nachdem er einige Griffe auf der Laute getan, wird eine sanfte traurige Musik gehört.

Ist's Ruggieri, der Leichenbestatter? Diese Harmonien

schweben nah um den Hungerturm. Oder seid ihr's, ihr

wenigen Rechtschaffnen, die ihr unter Ugolinos martervollem

Kerker weinet?

Die Musik fährt fort.

Francesco ist am Gift gestorben, sagst du? was ist's mehr? Wär er vom

Schwert, vom Dolch, vom Beil gestorben, würd er weniger tot

sein? Lern es, mein Sohn, Vergiften, Ermorden, Hinrichten ist

ein heiliges Vergnügen: es ist ein bischöfliches Vergnügen! Wie

ist das? Bin ich hier allein? Wer dieser Jüngling an der blutigen

Mauer?

Anselmo schreit, da sein Vater sich ihm nähert. Dieser fährt voll Entsetzen zurück.

Verflucht sei das Weib, das mich gebar! Verflucht die

Wehemutter, die das Wort aussprach: »Der Knabe lebt.«

ANSELMO. Nur verzehre mich nicht, du hungernder Vater! nur mich

Lebenden nicht!

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UGOLINO. Und hab ich – O Furchtbarster in deiner Rache! Hier liege,

Mörder! Er wirft sich heftig neben Anselmo hin. Hier weihe dich

der Erde auf ewig!

Er spreitet seine Arme über den Boden aus. Die Musik fährt fort.

Anselmo! Wehklagend. einst mein Anselmo! einst Freude und

Labsal meiner Augen! Dein Vater ist's, der dich ins frühe Grab

sandte. Die Klage des Mörders eilt von einer Leiche zur

andern. Fluch ihm! Sie wird's ewig!

ANSELMO. Dich, Hungertod, werd ich nicht sterben. Heil ihm!

UGOLINO. Auf mich rausche daher! Hungertod daher! Ich bin müde und

lebenssatt! Hier sollst du den morschen Gebeinbau finden.

Hier zerstieb er, bis die Gerichtsposaune diesen Staub, und

diesen, und diesen, und diesen erweckt! Hier vermisch er sich

mit der Verwesung der Unschuldigen, die hier, hier, und hier,

und hier um mich her zerstreut liegen! Und Pestilenz,

Pestilenz, du Verwesungsluft der Gherardescas! sei jedem

Pisaner, der dich eintrinkt! Mit diesem Vermächtnis –

ANSELMO indem sich die Musik entfernt.

Wonnegesang! Wonnegesang! Ist am Ziel denn nicht Vollendung?1 Nicht im Tale des Tods Wonnegesang?

UGOLINO. Ich hebe meine Augen zu Gott auf! Meine zerrißne Seele ist

geheilt. Mit diesem Vermächtnis – mit diesem Vermächtnis –

Himmel und Erde! eines Verhungernden! langsam, langsam,

unter jeder Gewissensangst! Was? Tage- und nächtelang

angestarrt von jenen weitoffnen Augen deiner Erschlagnen

und auch Verhungerten? was? Nein! nein! nein! bei allen

Schauern des Abgrundes! nein! Ich will es nicht aushalten!

beim allmächtigen Gott! ich will nicht! Er hebt sich gählings,

wie um gegen die Mauer zu rennen. Du im Himmel! Fährt aber

plötzlich zurück. Ha! Mit zum Himmel gehobnen Augen. Mein

Herr und mein Richter! Ha, Ugolino! noch lebst du! noch –

lebst du! klein zwar nun, und nun dir verächtlich, und nun

1 Aus einer Strophe von Klopstock.

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unwürdig des Prüfungstodes! Aber ich lebe! Schwur ich's? bei

dem allmächtigen Gott schwur ich's? O Schwur, wie ihn nie

die Verzweiflung geschworen hat! Drei Tage dieser

Dämmrung, Ugolino! drei Nächte dieser Dämmrung! Diese

Felslast auf meinem Herzen? sie nicht abwälzen? Ja, es ist

schwer! Oder Jahrtausende jenseits in der Finsternis der

Finsternisse? Jahrtausendelang an allen Wänden aller Felsen

meine Stirne zerschmettern? Wehe mir! in jeder schamvollen

Erinnerung meiner unsterblichen Seele sterben? und wieder

leben? und wieder sterben? Ach! es ist graunvoll!

Jahrtausendelang in der schwarzen Flamme des Reinigers?

und neue Jahrtausende lang? und vielleicht eine Ewigkeit lang,

hinzitternd vor dem furchtbaren Antlitze des Rächers? Und

wie würde der mitverdammte Pisaner die Zähne blöcken! Wie

würde der Mitverdammte die Zähne blöcken! Vergib mir!

vergib mir, o mein Richter und Erbarmer! vergib mir! Sind

nicht meine armen unschuldigen Kinder gefallen? Armer

Gaddo! da wand er sich! da umher liegen die Leichname!

armer Francesco! und meine Gianetta! meine Gianetta! und –

und – Mit erstickter Stimme. Sie murrten nicht! So hingebeugt

der Verwesung! So sie! Kein Murren in ihrer Seele! Ah! was

wär's, wenn sich der Verbrecher empörte!

Er weint bitterlich, und verhüllt sich das Haupt. Die Musik wird klagender.

Eine unmännliche Träne! In edler Stellung. Kannst du die

Bande der sieben Sterne zusammenbinden? Oder das Band

des Orion auflösen? Kannst du den Morgenstern

hervorbringen zu seiner Zeit? Oder den Wagen am Himmel

über seine Kinder führen? Weißt du, wie der Himmel zu

regieren ist? Oder kannst du ihn meistern auf Erden?

Die Musik endigt erhaben.

Ich will meine Lenden gürten, wie ein Mann. Ich hebe mein

Auge zu Gott auf. Meine zerrißne Seele ist geheilt. Mit dir,

Hand in Hand, du Nahverklärter! Anselmo umfassend. Und

dann seid mir gepriesen, die ihr diesen Leib der Verwesung

hinwarft! Ganz nahe bin ich am Ziel!

In: Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte in zwei Bänden. Ausgewählt

und mit einem Nachwort versehen von Heinz Nicolai, München: Winkler, 1971