Hendrik de Man - Vermassung Und Kulturverfall

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    HENDRIK DE MANVERMASSUNG UND KULTURVERFALL

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    Vom gleichen Verfasser erschienen m deutscher Sprache:

    Zur Psychologie des Sozialismus, Eugen Diederid1s Verlag, Jena, 1926.Der Kampf um die Arbeitsfreude, Eugen Diederichs Verlag, Jena, 1927.Die sozialistische Idee, Eugen Diederichs Verlag, Jena, 1933.]acques Coeur, der knigliche Kaufmann, A. Francke AG. Verlag, Bern,

    1950.

    Im Frhjahr 1953 soll erscheinen:Gegen den Strom (Memoiren eines europischen Sozialisten), Deutsche

    Verlags-Anstalt, Stuttgart.

    HENDRIK DE MA N

    VERMASSUNG UNDKULTURVERFALL

    EINE DIAGNOSE UNSERER ZEIT

    ZWEITE AUFLAGE

    I '

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    Copyright 1951 by A. Francke AG. Verlag BernAlle Red!te, insbesondere berseczungsrecbte, vorbehalten

    Lizenzausgabe fr Deutschland : Leo Lehnen Verlag GmbH MndJenGedtuckt bei Friedrich Pustet Regensburg, Graphischer Grobetrieb

    VORWORT ZUR ERSTEN AUFLAGEBEIM Schreiben dieses Buches habe ich keine anderen Bcher neben mirliegen gehabt; nur habe ich gelegentlich die eine oder anderefrher geleseneStelle, die mir ins Gedchtnis kam, zur Kontrolle nachgeschlagen. Es warmir eben weniger um das zu tun, was schon anderswo zum gleichenThema gesagt worden ist, als um das, was ich erlebt, beobachtet undworber ich nachgedacht habe. Daher die vielen Stze in der erstenPerson und die Kargheit der Anmerkungen, die ich auf die allernot-wendigsten Quellenhinweise beschrnkt und an den Schlu des Buchesverwiesen habe.

    Der Leser wird vermutlich geneigt sein, aus den Kapiteln, die ichden Kulturverfallserscheinungen der Gegenwart gewidmet habe, zuschlieen, da ich ein Schwarzseher bin. Vielleicht interessiert es ihn zuerfahren, da ich stets bei all meinen Verwandten, Freunden und Be-kannten als unverbesserlicher Optimist gegolten habe. Sollten sich allegeirrt haben? Der Leser, der sich darber aus diesem Buche eine Meinungbilden will, wird sich schon entschlieen mssen, es zu Ende zu lesen.

    Greng am Murtensee, im Sommer 1951.HENDRIK DE MA N

    VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGEDm meisten Rezensionen und Leserbriefe, die mir seit dem Erscheinendieses Buches zu Gesicht gekommen sind, haben die Befrchtung zer-streut, die ich in meinem ersten Vorwort durchblicken lie. Es sieht dem-nach aus, als ob ich mein Ziel, aufzurtteln, ohne zu entmutigen, weit-gehend erreicht htte; und es wre weiter nichts darber zu sagen, wennes nicht doch eine Minderheit von brigens wohlwollenden Lesern gbe,die meinen, zwischen der Schrfe meiner Diagnose und der Gedmpftheitmeiner Prognose bestnde ein Miverhltnis.

    Eigentlich pat das medizinische Bild nicht ganz zur Natur des Gegen-standes. Die Vermassung ist keine Krankheit, fr die es eine Therapiezu entdecken gilt. Sie ist die normale, logische Folge einer allgemeinengesellschaftlichen Entwicklung, die man nicht rckgngig machen knnte,ohne u. a. auf die maschinelle Technik, die industrialisierte Wirtschaft

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    6 VORWORTund die deriwkratische Staatsform zu verzichten. Es handelt sich nichtdarum, einem Patienten die richtige Medizin vorzuschreiben; es gehtdarum, in einem Organismus, von dem wir selber Teilchen sind, denVerfall zu bekmpfen, indem die Krfte, die einen Umschlag derbestehenden Entwicklungsrichtung hervorrufen knnten, als solche erkannt und gefrdert werden. Dabei knnen sich auch die darauf hinzielenden persnlichen Impulse nur durch Massenkrfte hindurili auswirken.

    Es kommt also nicht auf Arznei an, sondern auf Kampf. Die Antwortauf die Frage, was wir tun knnen, liegt letzten Endes auf der Ebeneder Politik - im weitesten und hchsten Sinne dieses Wortes, der vielmehr umfat als Parteienhader und Gesetzgebung, aber auch viel mehrals sogenannte Kulturpolitik. Denn dieses Buch htte seinen Zweck verfehlt, wenn es ihm nicht gelungen wre klarzumachen, da die unmittelbarste Bedrohung unserer Kultur von dem Krieg in Permanenz ausgeht,der seinerseits nur als Produkt der Vermassung (und zwar insbesondereder Massenorganisation, der Massenangst und der Massenpropaganda)verstanden werden kann.

    Das Bild der Prognose ist noch aus einem anderen Grunde unzutreffend. Da ich kein Pessimist bin, liegt letzten Endes daran, da ichjede historische Prognose fr unmglich halte. Zur Begrndung dieserOberzeugung kann man sich Eingehen auf philosophische Probleme ersparen; es gengt der nchterne Hinweis darauf, da es noch keinemHistoriker gelungen ist, richtig vorauszusagen, was nachher geschah. DasMa der Ungewiheit ist heute, wo nur das Unwahrscheinliche wahr-scheinlich ist, grer als je zuvor; eben daraus ergibt sich das Ma unsererFreiheit - und der Hoffnungen, die uns die Vernunft erlaubt.

    Greng am Murtensee, im Sommer 1952.HENDRIK DE MA N

    ERSTES KAPITELUNSERE KULTUR

    DIE Welt ist voller Leute, die erklren, ein dritter Weltkrieg msseauf die Vernichtung unserer Kultur hinauslaufen. Die meisten von ihnenkann man allerdings fast im gleichen Atemzug von einem Krieg zurRettung unserer Kultur reden hren. Da die wenigsten den Widerspruch merken, beweist, wie sehr bei der Masse unserer Zeitgenossendas gefhlsbetonte Schlagwort der deutlichen, vernunftgerechten Er-fassung des Wirklichen entgegensteht. In einer solchen Situation tu tKlrung not; und sie mu von der Frage ausgehen, welche .Begriffehinter den Wrtern und welche Wirklichkeiten hinter den Begriffenstecken.

    Die abstrakten Ausdrcke, die im Arsenal der modernen Propagandaeine Hauptrolle spielen, wie Kultur, Freiheit, Demokratie usw., zeichnen sich dadurch aus, da ihnen die verschiedensten Vorstellungen entsprechen knnen. Gerade das drfte mit ein Grund sein, weshalb sie aufallen Seiten so gern gebraucht werden: ein jeder kann hineinlegen, wasihm am besten gefllt.

    Am verworrensten von allen ist wohl der Begriff Kultur. Das liegtgewi zum Teil daran, da er in einen geisteswissenschaftlichen Bezirkhineingehrt, der die meisten Menschen weniger unmittelbar berhrt alsdie fast tglichen Auseinandersetzungen ber die Staatsordnung oderdie Wirtschaft. Die Vieldeutigkeit des Ausdrucks Kultur liegt aberauch daran, da er sogar im wissenschaftlichen Sprachgebrauch stndigim Fl ieen begriffen ist.

    Noch in der zweiten Hlfte des vorigen Jahrhunderts verstand manunter Kultur etwas ganz anderes als heutzutage. Unsere Grovterdachten dabei an Dinge, die im landlufigen Sinn zur hheren Bildunggehren: Kunst, Wissenschaft, Literatur und allenfalls noch Philosophie.Die Religion wurde kaum dazu gerechnet, weil man sie damals nochziemlich allgemein in eine "absolute" Sphre verlegte, die der kulturgeschichtlichen Entwicklung bergeordnet ist. Ganz bestimmt aber htteman gesagt, da weder die Politik noch die Wirtschaftsordnung insKapitel Kultur hineingehren; denn Staat und Wirtschaft betrachteteman damals als materielle Tatbestnde, die zu den geisteswissenschaft-

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    8 UNSERE KULTURliehen hchstens mittelbare Beziehungen haben. Dagegen gibt es heutekeine Kulturtheorie mehr, die nicht sowohl die Religion wie die Staatsund \Virtschaftsordnung als Teile eines kulturhistorischen Ganzen betrachtet.Diese Erweiterung war die Folge eines Einbruchs, der zunchst vonden Naturwissenschaften herkam und darum die Geisteswissenschaftenzuletzt berhrte.Vom Grundgedanken der biologischen Entwicklung ausgehend, bautedie Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ein gewaltiges System neuer Er-kenntnisse und Hypothesen auf, in welches sich nach und nach die Pa -lontologie, die Vlkerkunde, die Speleologie, die Archologie und diePrhistorie berhaupt einschalteten. Etwas spter lenkte die Vlkerpsychologie die Aufmerksamkeit auf den Jahrtausende alten Werdegangder Sprachen, Religionen und Mythen. Gekrnt wurde diese Entwicklung durch die Tiefenpsychologie, die als Erforschung des Unterbewutseins bis dahin kaum geahnte Verbindungen zwischen unserem Kultur-zustand und dem unserer prhistorischen Vorfahren aufdeckte.

    Da die vorgeschichtlichen Funde vor allem Werkzeuge, Gebrauchsgegenstnde und Waffen umfaten, wurde die Entwicklung derTechnik entsprechend in den Vordergrund gerckt. Diese Betrachtungsweise fand um so eher bei den Geisteswissenschaften Aufnahme, alsdiese - dem Zeitgeist vor der letzten Jahrhundertwende gem - diefortschrittliche Entwicklung der Menschheit fast axiomatisch mit demFortschritt der Technik identifizierten.Whrend unsere Urgroeltern also noch die Entfaltung der Kulturals stets weiter vordringende Suche nach dem Wahren und Schnen auffaten, gewhnte sich schon die nchste Generation daran, von Steinzeit und Bronzezeit zu reden und die Entwicklung de s Pfluges oder derTpferscheibe fr ebenso wid1tig zu halten wie die Malerei der Renaissance oder die Weltanschauung der Enzyklopdisten. In dem Mae,wie man glaubte, den Ursachen (statt wie frher nur den Zielen) nherkommen zu knnen, verschob.sich der Schwerpunkt des kulturhistorischenInteresses. Je primitiver, je interessanter: Die Hhlengemlde von Altamira gingen uns fortan nicht weniger an als die Fresken von Michelangelo, und in den Sitten und Gebruchen der Fidschi-Insulaner suchteman eine Erklrung fr die Hintergrnde unserer eigenen Religionspsychologie.So kam die in der ersten Hlfte dieses Jahrhunderts gereifte Gene-

    UN SERE KULTUR 9ration dazu, die Kultur als ein Ganzes aufzufassen, wozu Technik undWirtschaft, Staat und Religion, Gesellschaftsordnung und Geschftsmoral, Gesundheitspflege und Anstandsregeln ebenso gut gehren wiedie Wissensd1aften und Knste. Diese Entwicklung zur Gesamtschauscheint brigens noch keineswegs zum Abschlu gekommen zu sein,zumal ihre Ergebnisse fr die Mehrheit unserer Zeitgenossen noch nichtzum gelufigen Bildungselement und somit zum allgemeingltigen,sprachbildenden Faktor geworden sind. Die Masse der Zeitungsleserz. B. wird beim Wort Kultur vorzugsweise noch, wie unsere Urgro-vter, an Gegenstnde der hheren Bildung denken. Es braucht ebenZeit, bis neue ideologische Tatbestnde, gewissermaen die gesellschaftliche Leiter Stufe fr Stufe hinuntersteigend, sich aus wissenschaftlichenErkenntnissen in massenpsychologisch wirksame Ideen verwandeln. Diestrgt nicht wenig dazu bei, da der Ausdruck Kultur je nach der Bildungsschicht, der ein Leser angehrt, die verschiedensten Assoziationenerwecken kann.Die Mannigfaltigkeit und die Wandelbarkeit dieser Assoziationenwerden noch vermehrt durch den Umstand, da die Auffassung derKultur wechselt, je nach der Kulturphilosophie, die man darauf fundieren will. So legen die Optimistismen Kulturtheoretiker den Nachdrud\: auf die technische Entwicklung, die sich natrlich am leichtestenals in stndigem Fortschritt begriffen deuten lt; die pessimistischeRichtung dagegen identifiziert die Kultur in erster Linie mit dengeistigen Impulsen, deren Erschlaffung oder Sttigung fr sie das Sterbender Kulturen erklrt.Ahnliehe Unterschiede der Tendenz liegen der T atsache zugrunde,da die Begriffe Kultur und Zivilisation teils als Synonyme, teils alsGegenstze gedeutet werden.

    Hier haben wir es mit der schlimmsten Ursache der Begriffsverwirrung zu tun, die in der heutigen Welt herrscht, und die beispielsweisedie sinngetreue bersetzung eines deutschen \Verkes ber Kultur insEnglische oder umgekehrt nahezu unmglich macht - es sei denn, daein gewitzigter bersetzer immer wieder in Funoten auf die sonstverborgenen Unterschiede und Nuancen des Ausdrucks hinweist.Das deutsche Philosophische Wrterbuffi z. B. nennt Zivilisation "dieauf die Barbarei folgende Vorstufe der Kultur". Fr Spengler ist sie imwesentlichen die Stufe, zu welcher die untergehenden Kulturen herabsinken. Die Anthropologen, die ihre Ausdrucksweise L. H. Morgan, dem

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    12 UNSERE KULTURgenzia Amerikas eine hauchdnne Oberschicht, die auf die Gestaltungdes Geschmacks der groen Masse nicht einmal einen mittelbaren Einflu ausbt. Der Papierkonsum, der ihrer literarischen Produktion au fdem Binnenmarkt entspricht, bedeutet wahrscheinlich weniger als einProzent des in den Druckereien verbrauchten Papiers. Das, was derDurchschnittsamerikaner an Lesestoff vorgesetzt bekommt - sei esin den Millionenauflagen erlebenden populren magazines oder in denbest sellers der Romanliteratur - steht ausschlielich im Zeichen destotalen Kulturoptimismus. Da s gilt nicht weniger fr die Durchschnittsamerikanerin, die bekanntlich mehr liest als die meisten M n n ~ rund gewhnlich noch mehr auf geistigen Konformism us hlt. Das Er-gebnis ist eine f r europische Begriffe erstaunliche Einstimmigkeit imbetonten Glauben an den "richtigen Weg", den die amerikanischeLebensart darstellt, und an die Zukunft, wohin er fhren mu. DieFolge ist, da es praktisch unmglich ist, f r Ansichten, die irgendwie alsKetzereien am herrschenden Kulturoptimismus aufgefat werden knnen,auer in ganz kleinen, geschlossenen Privatkreisen Gehr zu finden.

    Da ein Buch wie Toynbee's Study of History gerade in Amerikaso viele Leser - oder zum mindesten Kufer - gefunden hat, widerlegt die Macht des Kulturoptimismus als herrschende amerikanischeIdeologie mitnichten. Seine These stellt eben jene angenehme Mischungvon pessimistischer Diagnose mit trostvoller Aussicht auf ein religisverbrgtes happy end dar, die ein gewisser schngeistiger Snobismusvon seiner Lektre verlangt: sie soll kitzeln und zur No t sogar dasGruseln beibringen, aber keine wirklich schmerzhaften oder gefhrlichenSchlge versetzen.

    In Ruland ist es bekanntlich - mutatis mutandis - nicht andersnur da man hier zur Gleichschaltung der ffentlichen Meinung be;viel direktere Mittel verfgt, als die Bedrohung mit Erwerbslosigkeitund gesellschaftlicher .Achtung. Deshalb sind darber in Europa wenigerIllusionen zu zerstreuen als ber Amerika, zumal der Neue Kontinentuns weit ausgiebiger und direkter kulturell beeinflut.

    Im brigen ist der russische Kulturoptimismus etwas anders geartetals der amerikanische. Er hnelt ihm nur insofern, als in beiden "jun-gen" Lndern geglaubt wird, nur die anderen gingen unter, whrendman selber noch am Anfang seiner Entwicklung stehe. Dagegenschliet die russische Auffassung eine auch auf den Alten Kontinentausgedehnte Kulturerneuerung durch eine soziale Revolution nicht

    UNSERE KULTUR 13aus. Getreu dem Marxschen Satz, da die herrschenden Ideen einerEpoche immer nur die Ideen der herrschenden Klassen seien, betrachtendie Kommunisten die Kulturkrise des Abendlandes wie ein Problem,das durch die revolutionre Diktatur des Proletariats gelst werdenknne. Ein anderer Unterschied besteht darin, da die russische "Ge-schlossenheit" mit noch weit massiveren und direkteren Mitteln gesichert wird als die amerikanische. Amerika hat seine Revolution vorbald zwei Jahrhunderten erlebt, Ruland erst seit einem Dritteljahr-hundert. Whrend also Amerika in konservativer Stimmung eine lngsterrungene und gefestigte ideologische Position verteidigt, wirkt in Ru-land dit! Triebkraft einer kaum abgeebbten revolutionren Welle weiter,die noch nicht einmal Zeit gehabt hat, sich ber ganz Asien zu ergieen.Kein Wunder also, da man im russisch-asiatischen Gebiet Morgenluftzu wittern meint, whrend um die "verfallenen Schlsser" des AltenKontinents Abenddmmerung herrscht.

    Die kulturpessimistische Reaktion gegen den naiven Fortschrittsglauben des vorigen Jahrhunderts ist also keineswegs eine universelle Er-scheinung. Nicht nur die amerikanischen und sowjetrussischen Imperiasind von ihr unberhrt, sondern auch die farbigen Vlker Afrikas undAsiens, die gerade unter dem Einflu unserer abendlndischen Kulturzu neuen Zukunftshoffnungen erwed(t worden sind. Sie ist praktischauf Europa - genauer: auf Mittel- und Westeuropa - beschrnkt.Aber nicht einmal auf unserem Kontinent ist der Kulturpessimismusberall gleich vorherrschend, wie er es zum mindesten seit Spenglerim deutschen Sprachgebiet . ist. England ist durch seine koloniale,imperialistische Tradition zu lange mit der fortschreitenden Verbreitung der abendlndischen Kultur ber die sieben Meere hinweg verbunden geblieben, um den Glauben an die Unanfechtbarkeit und Un-sterblichkeit der Kultur des "weien Mannes" ganz verloren zu haben:nicht einmal G. B. Shaw ist es gelungen, diesen Glauben zu erschttern - er ha t in vielen Fllen lediglich die Auguren zum Lchelngebracht. Was die lateinischen Lnder betrifft, so sind sie durch ihreLatinitt selber zu einem groen Teil gegen den extremen Pessimismuseines Spengler immunisiert: Ihre geistigen Eliten fhlen sich zu sehrals Erben Athens und Roms, um sogar die augenflligsten Verfallserscheinungen in den eigenen Lndern ohne betrchtliches Wider-streben als Teil eines allgemeinen "Unterganges des Abendlandes" zudeuten.

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    14 UNSERE KULTURDamit sind nur e1mge flchtige Hinweise gegeben auf die groe

    Mannigfaltigkeit der Schattierungen der "W eltangst", der die nichtweniger groe Mannigfaltigkeit der Kulturtheorien und der Kultur-auffassungen entspricht.

    Kein Wunder also, da unter zehn Menschen, die vom Untergangunserer Kultur reden, selten zw d gefunden werden knnen, die damitdasselbe meinen. Die einen beschwren derart vor dem eigenengeistigen Auge Bilder herauf, die der Geschichte vergangener Kultur-epochen entnommen sind: Man denkt dabei an die Ruinen der Akropolis, an die Trmmer der Maya-Tempel im mittelamerikanischenUrwald, an das "Fellachendasein" im Schatten der Pyramiden, an dieZertrmmerung des rmischen Reiches durch die Barbaren und soweiter. Andere malen sich eine durch die Atombombe verwstete europisch-amerikanische Welt aus, einen leeren Raum fr die Invasion vongelben oder schwarzen Horden, die vielleicht auf dem alten Boden dieFundamente einer neuen Kultur legen werden. Noch andere denkenan ein buchstbliches Ende der Menschenrasse oder gar der Welt alsErgebnis einer Reihe von physikalischen Kettenreaktionen, ausgelstdurch die Atombombe. Dazwischen gibt es allerlei mehr oder wenigervage Bilder, wobei jene Zge in den verschiedensten Zusammensetzungen durcheinandergewrfelt sind.

    Dabei offenbart sich, durch alle Theorien hindurch, der Zwiespaltzwischen zwei grundverschiedenen, aber beim gleichen Namen genannten Auffassungen der Kultur.

    Die eine, die man die unitarische nennen knnte, fat die Kulturals einen die ganze Menschheitsgeschichte umfassenden Gesamtprozeauf. Diese Deutung entspricht beilufig am ehesten dem Sinne desWortes Kultur, der im Gegensatz zur Natur gewollte Formgebungdurch menschliche Ttigkeit (der Bebauung oder Bodenpflege inder Landwirtschaft entsprechend) bedeutet. Die Menschheit wird hier,wie es Blaise Pascal vor drei Jahrhunderten ausdrckte, aufgefat "wieein einziger Mensch, der stets hinzulernt". Diese Auffassung ist ihremWesen nach schon deshalb optimistisch, weil sie einen kumulativenProze voraussetzt, wobei nur positive Mengen addiert werden. Dieandere Auffassung, die wir die pluralistische nennen wollen, beruhtauf der Annahme, da der Gang der Geschichte ein sich stndig wiederholendes Entstehen, Reifen und Sterben von verschiedenen Kulturendarstellt. Diese Annahme liegt fast allen kulturpessimistischen Theorien

    UNSERE KULTUR 15zugrunde, da ein derart repetitiver Proze sich mit dem Glauben an einsinnvolles Ziel kaum vertrgt.

    Wie gro der Abgrund ist, der zwischen den beiden Auffassungenklafft, geht schon daraus hervor, da eine Kultur nach pluralistischerAuffassung sich stets nur ber Zeitrume von einigen Jahrhundertenerstreckt, wovon keiner weiter zurckreicht als fnf oder sechs Jahr-tausende. Die unitarisch aufgefate Kultur dagegen beschrnkt sichnicht auf die sogenannte historische Zeit, sondern sie schliet die ganzeEntwicklung der Menschheit ein, die irgendwelche Spuren hinterlassenhat, alsp auch jene Kulturstufen, die die Anthropologen "wild" oder"barbarisch" nennen. Das ist eine Zeitspanne von mehreren zehntausend Jahren, wovon die geschichtliche Epoche nur einen kleinenBruchteil darstellt.

    Dieser Zwiespalt - den bis jetzt keine einzige Kulturtheorie wirklich berwinden, sondern hchstens nu r verbrmen konnte - stelltdas Grundproblem, das gelst werden mu, wenn man wissen will, wasgemeint ist, wenn man vom Ende "unserer Kultur" spricht.

    Tatschlich pflegen die meisten Menschen, die vom Zeitalter derAtombombe den Selbstmord unserer Kultur erwarten, zwischen unitarischer und pluralistischer Auffassung nicht klar zu unterscheiden.Sie reden zwar alle vom Untergang "unserer Kultur", lassen abergewhnlich die Frage offen, ob das "unser" auf die menschliche Kulturberhaupt oder nur auf ihre abendlndische Phase bezogen werdensoll. Das Problem, das hier zu lsen ist, spitzt sich somit logischerweise auf die Frage zu: Woher kommen und wohin fhren die Ent-widdungstendenzen, die "unsere" abendlndische Kultur mit Unter-gang bedrohen? Gehren sie in einen urschlichen Zusammenhang hinein, der auf die kaum ein Jahrtausend alte abendlndische Kulturphasebeschrnkt ist, oder reichen die Ursachen dieses Geschehens nicht etwaviel weiter zuri.id

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    16 UNSERE KULTURgischen Vergleich historischer Tatbestnde beschrnkt; dafr verlt siesich um so mehr auf die soziologische Untersuchung, die unter der Oberflche der Erscheinungen die tieferen urschlichen Zusammenhnge zuerkennen sucht.

    V ersuchen wir also zunchst herauszufinden, welche Wirklichkeithinter dem Begriff steht, der gemeinhin von Europern und Amerikanern als "unsere Kultur" bezeichnet wird. Den tauglichsten Leitfadenverschaffen dabei die verschiedenen Eigenschaftswrter, die zu ihrerNamensgebung gebraucht werden.

    Wer in der Welt herumgereist und dabei mit farbigen Vlkern inBerhrung gekommen ist (die immerhin den grten Teil ihrerBevlkerung ausmachen), hat feststellen knnen, da unsere Kultur vonauen betrachtet eine scharf umgrenzte, konkrete Wirklichkeit darstellt:Sie ist die des "Weien Mannes". Die Weien selber, die inmittenfarbiger Vlker leben, sehen brigens die Sache nicht anders: Die Trennungslinie zwischen ihrer Kultur und der der Eingeborenen stimmtgenau berein mit dem Unterschied zwischen zwei ganz bestimmtenLebensarten und dieser wiederum mit dem Unterschied zweier Rassenund Hautfarben.

    Jedoch dieses Merkmal kann, so verlockend es seiner Einfad1heitund Unzweideutigkeit halber wre, nicht als entscheidend betrachtetwerden. Denn erstens gibt es mindestens eine noch lebende nichtabendlndische Kultur weier Menschen: die arabische. Zweitens und vorallem: Vor unserer abendlndischen Kultur ha t es etliche, inzwischenuntergegangene "weie" Kulturen gegeben, wie etwa die griechischeund die rmische. Toynbee meint sogar, da von den 21 Kulturen,die er gelten lt, nicht weniger als 12 von Vlkern weier Rasse"schpferische Beitrge" erhalten haben. Da die meisten dieser Kulturenausgestorben sind, sollte eine gemeinsame Benennuno- schon deshalb alsirrefhrend abgelehnt werden. "'

    Die meisten Historiker haben denn aum, um unsere Kultur von derunserer Vorfahren und Nachbarn zu unterscheiden, ein anderes Eigensmaftswort vorgezogen, und zwar "westlim" oder "abendlndisch". .

    Genau ist der Ausdruck zwar nicht, denn am Ende kommt es aufden geographischen Standort an, was im "Westen" und im "Osten"liegt; und seit dem Entstehen der antiken Unterscheidung zwischenAbend- und Morgenland ha t sich dieser Standpunkt zu sehr verschoben,als da er heute noch exakte Bedeutung beanspruchen knnte. Indessen

    UNSERE KULTUR 17hat in dem Mae, wie der Schwerpunkt der abendlndischen Kulturwestwrts wanderte, aum der allgemeingltige Begriff sich dem neuenSachverhalt nach und nach angepat. Heute wird er in allen Sprachgebieten so ziemlich auf den gleichen Bezirk ausgedehnt, der sich in derHauptsame mit dem von Weien bewohnten Europa und Amerika deckt.

    Einige Historiker haben neuerdings versucht, den Ausdruck"atlantisch" einzubrgern, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daAmerika heute einen nicht weniger wimtigen Teil des Abendlandesdarstellt als Europa. Jedoch dieser Vorschlag stt auf den Einwand,da es sich historisch schwer rechtfertigen lt, eine sich ber einJahrtausend erstreck.ende Entwick.lung blo nach ihrer letzten Phasezu benennen. Es sind noch keine zwei Jahrhunderte verflossen, seitAmerika anfing, eine Rolle zu spielen in einem Werdegang, der sichvorher acht Jahrhunderte lang stlich der atlantismen Ksten Europasund der britismen Inseln abgespielt hatte. Der Ausdruck. atlantisch istdemnam zu sehr auf eine aktuelle Konjunktur zugesmnitten, um dergewordenen und berlieferten Bezeimnung westlim oder abendlndischvorgezogen zu werden.

    Daneben ist das Eigenschaftswort "mristlim" am meisten imGebraum. Dem entsprimt der reale historische Tatbestand, da dieGeburt und die Entfaltung unserer Kultur im Zeimen von religisenImpulsen stehen, die vom Christentum ausgegangen sind. Dennochspremen viele Grnde dagegen, da man die westlime Kultur sozusagen mit der mristlimen Religion identifiziert. Das wOr t Christentumrweck.t die Vorstellung einer moralischen "idealen Forderung", vonJ rcn Erfllung die Geschichte des Abendlandes stets zu weit entfernt

    geblieben ist (in neuerer Zeit sogar mehr und mehr), als da der Benennung "christlich" nicht der unangenehme Beigesmmack einer gewissenTugendheudlclci anhaften wrde.

    Zu diesem E.n wand des Gesmmack.s gesellt sich ein anderer, derobjektiv sd1werer wiegt. Das Christentum ist viel lter als die abendlndische Kultur, ja, ungefhr doppelt so alt. Wenige Historikerlassen die Geschid1te des Abendlandes vor dem Jahre 1000 anfangen,und auch die anderen greifen kaum weiter zurck. als auf das 8. Jahr-hundert. Ob man den gescheiterten Versuch des Karolingerreichesbereits dazu rechnet, ist in diesem Zusammenhang unerheblich; dieFrage ist ebenso akademisch wie die, ob eine Oper eigentlich schon mitdem Vorspiel oder erst mit dem ersten Aufzug anfngt.2 H. de Man, Vermassung

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    18 UNSERE KULTURDas Jahr 1000 ist mit Recht von Oswald Spengler als der Terminbezeichnet worden, der so ziemlich am Hhepunkt, bzw. in der

    Mitte der Ereignisse liegt, die unserer Kultur das eigene Geprgegegeben haben. Dazu gehren in erster Linie und in bunter Reihenfolge: das Ende der groen europischen Vlkerwanderungen, dieGrndung der nationalen Dynastien in Frankreich, Deutschland undEngland, der "Friede von Cluny" nach der "Groen Angst" vor demWeltuntergang, die Grndung der ersten Stadtgemeinden, die Entstehung des Brgertums, der bergang vom (barbarisierten) rmischenund byzantinischen zum romanischen Stil in der Architektur und denverwandten Knsten, der Anfang der Kreuzzge, die mnchischeinnere Kolonisierung Europas, das groe Schisma zwischen orientalischer und westlicher Kirche.

    Das Jahr 1000 stellt brigens auch in der Geschichte des Christentums einen Wendepunkt dar. Vom 11. Jahrhundert an spielte die christliche Religion im Abendland eine ganz andere Rolle als vorher imMorgenland, in Rom und im byzantinischen Reich.Man braucht deswegen das bleibende Element im Christentumnicht zu unterschtzen, wie es etwa fr alle Christen in der HeiligenSchrift und fr die Katholiken auerdem in der Bestndigkeit derRmischen Kirche zum Ausdruck kommt. Je strker der Einflu derReligion auf das weltliche Leben und die Verkrperung des Kultesdurch kirchliche Institutionen, um so unzertrennlicher ist die Religions

    und Kirchengeschichte mit der historischen Entwicklung berhauptverwoben. Dabei macht sich eine gegenseitige Beeinflussung bemerkbar.Einerseits sind kirchliche Institutionen als solche weltlichen Notwendigkeiten unterworfen, wie sie sich aus dem Drang zur Aufrechterhaltung und Erweiterung ihrer Macht ergeben; anderseits wirkendie Lehren der Religion au f die Menschen jeder Epoche anders, jenach ihren gesellschaftlichen und kulturellen Lebensverhltnissen undje nach der Art, wie sie sich mit anderen geistigen Einflssen - etwavon der wissenschaftlichen oder philosophischen Seite her - verquicken.Daraus ergeben sich in der kirchlichen Lehrttigkeit Nachdruckverschiebungen und neue Deutungen, die einer stndigen Erneuerung undWandlung der religisen Weltanschauung gleichkommen.

    Von allen Mutationen, die das Christentum in zwei Jahrtausendendurchgemacht hat, wa r diejenige, die sich um das Jahr 1000 vollzog,die eingreifendste. Sie bedeutete weit mehr als eine bloe Anpassung

    UNSERE KULTUR 19der kirchlichen Politik und Lehre an neue wirtschaftliche, soziale undpolitische Zustnde; dem Glauben selber entsprangen neue geistige undmoralische Impulse, die eher dazu bestimmt waren, neue Verhltnissezu schaffen, als sich alten Verhltnissen anzupassen.

    Diese Impulse entstamm ten nicht der bestehenden Umwelt. Sie warenzehn bis fnfzehn Jahrhunderte frher in zwei Mittelmeerlndern geboren: im palstinischen Geburtsland der christlichen Religion und imgriechischen Geburtsland der rationalen Philosophie. Lange vor derRenaissance- dietrotzihres Namens mehr eine nachbildende Anpassungals eine eigentliche Wiedergeburt wa r - hatte das Hochmittelalter jeneeinzigartige Verbindung von griechischer Weisheit mit christlicherMoral verwirklicht, die unserer gesamten Kultur ihren spezifischenCharakter und ihren ursprnglichen geistigen Antrieb verlieh.

    Das morgenlndische Christentum wa r magisch gewesen, das abendlndische wurde rational, und zwar bereits im 13. Jahrhundert in einemAusma, wovon die Leute, die gern vom "finsteren" Mittelalter reden,keine Ahnung haben.Soziologisch gesprochen hatte das Christentum bis zum 11. Jahrhunder t die versd1iedensten Gestalten angenommen. Es wa r nacheinander

    (und gelegentlich zugleich) die Religion von Sklaven, die zu einemneuen Sinn f r Menschenwrde erwacht waren, von Asketen und Einsiedlern, die einer sndigen Welt entfliehen wollten, von Wunderttern,die einer hheren Psychotherapie den Weg bahnten, von als Heidengeborenen Aristokraten, die sich von einer sinnlosen Existenz abgewandt hatten, und dann und wann auch von gewandten Staatsmnnerno I r Heerfhrern, denen es nur auf bessere Untertanen oder Soldaten:tnl :1111 . Nad1 dem Entstehen der mittelalterlichen Stdte mit ihremBrgertum von selbstndigen, sich selbst regierenden Handwerkern undKaufleuten, erhielt das Christentum ein ganz anderes Gesicht. Die Weltfludlt machte der W cltbejahung Platz, die Mnche verwandelten sichaus Klausnern in Pioniere der inneren Kolonisation. Die Kathedralenwurden gebaut von Menschen, die einer neuen sozialen Schicht angehrten und eine neue Gesellsd1aftsordnung grndeten, mi t einem neuenGefhl der persnlichen Freiheit, einem neuen Glauben an Erlsungdurch Arbeit, einem neuen Vertrauen in kritisches Denken und vernunftmiges Urteilen als Weg zur Wahrheit. Dieses neue Christentum unterschied sich so sehr vom alten, wie die Botschaft der Kathedrale vonAmiens sich von der der Mosaiken von San Vitale in Ravenna unter-2

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    20 UNSERE KULTURscheidet, oder die neu-aristotelische Philosophie des Thomas von Aquinovom geistersehenden Messianismus der Zeitgenossen Christi .

    Die westliche Hlfte Europas ist noch voller Denkmler, die denneuen Glauben des Mittelalters bezeugen: Christus nicht lnger einGott-Knig, sondern ein Gott-Mensch; die jungfruliche Mutter alshchste Verkrperung der sublimierten Liebe; der Teufel und die Hei-ligen als Sinnbilder des neuen gesellschaftlichen Nebeneinander, das demalten hierarchischen Obereinander gefolgt war; das Jngste Gericht -das bevorzugte Thema ber den Westportalen der Kathedralen - alsGleichnis des Primats der auf persnlicher Verantwortung beruhendenSittengebote; die neue Betonung der moralischen Pflicht zur Arbeit beider Deutung von Sndenfall und Erlsung; die Anerkennung von heidnischen Gelehrten und Philosophen als geistige Autoritten, wie inChartres, wo Pythagoras, Euklid und Aristoteles neben den Prophetenund Aposteln abgebildet sind; diese und tausend andere Zeugnisse sindjedem Reisenden durch Westeuropa sichtbar, ohne da er ein einzigesBuch zu lesen braucht, auer dem groen "steinernen Buch" der Kathe-dralen. Wahrhaftig, dieses Christentum ist ebenso sehr Produkt derabendlndischen Kultur, wie es selber dazu beigetragen hat, diese Kulturzu erzeugen; und das ist an sich schon ein gengender Grund, weshalbzwei Jahrtausende Christentum und ein Jahrtausend Abendland sichnicht ganz decken knnen.

    Andere geistige Aspekte unserer Kultur werden von Bezeichnungenwie faustisch, wissenschaftlich, ergokratisch, individualistisch, personalistisch, demokratisch usw. beleuchtet. Sie sind alle zu sehr an einenbesonderen und zeitbedingten Standpunkt gebunden, um sich als ge bruchliche Beiwrter durchsetzen zu knnen; dennoch trgt jedes aufseine Art dazu bei, charakteristische Zge des Ganzen zu enthllen.

    "Faustisch" hat Spengler unsere Kultur genannt, sie von der"apollinischen" des griechisch-rmischen Altertums und von der "ma-gischen" des Islams zu unterscheiden. Sinnvoll ist der Ausdruck nur frden kleinen Teil der Menschheit, der Goethes Faust kennt; und das istauerhalb der deutschsprachigen Lnder eine winzige Minderheit, dennder Faust bleibt (trotz der verdienstlichsten Versuche) recht eigentlichunbersetzbar. Es ist nichtsdestoweniger richtig, da er eine Summa derKultur des Abendlandes darstellt, zusammen mit der treffendsten Symbolik der in ihr wirksamen Krfte . Faust ist ihre Inkarnation, wie esSpengler berzeugend dartut, wegen der Grenzenlosigkeit seines geistigen

    UNSERE KULTUR 21Machttriebes und seines V ollkommenheitsstrebens, wegen seines Dra ngeszur Beherrschung der Natur, wegen der rastlosen Dynamik seiner Lebens- und W eltauffassun g, nicht zuletzt aber auch wegen der Art, wieer von der Zauberwelt der Magie zu r Zauberwelt der Technik bergeht.Insofer n tri fft der Ausdruck faustisch durchaus das Richtige. DieDmonievon Wissenschaft und Technik ist unserer Kultur ureigenes Merkmal.

    Natrlid1 hat es zu allen Zeiten Leute gegeben, die das Gebiet desErkannten zu erweitern sumten; es wa r ihnen jedoch dabei um eineganz andere Art von Wissen - und von Weisheit - zu tun als uns.Die abendlndische Wissenschaft ging sd1on ihre eigenen, grundstzlichneuen Wege, lange bevor irgend jemand daran dachte, .sie zu tem-nischen Erfindunge n zu verwenden. Unsere Kultur war sechs oder siebenJahrhunderte alt, bevor sie in bezug auf die Technik der Produktionoder des Verkehrs die Grenze berschritt, die schon lange vorher etwain China, Griechenland und Rom erreicht worden war, und die zu rgleichen Zeit die arabische Kultur kennzeichnete.

    De r abendlndischen Wissenschaft wa r es von vornherein um eineganz andere Art der Wahrheitsudle zu tun. Zum ersten Male in derGeschichte drehte man jeder magischen, mythologischen oder mystismenOffenbarung den Rcken. Was wir Wissensmaft nennen, ist ta tschlid1eine besondere und neue Art der Erkenntnis. Denn sie geht von der An-nahme aus, da alles Weltgeschehen von Gesetzen bestimmt wird, dieals Wirkung von Ursachen (und nicht wie frher als Verwirklichungvon Zielen) zu begreifen sind. Diese urschlime Denkweise ist zwarh. rakteristisch f r alles mechanische Denken, wurde aber schon mehrls in halbes Jahrtausend vor dem sogenannten Zeitalter der Erfindun

    g n R b t und gepflegt. Die wissenschaftliche Denkart beeinflute sogard ie religis n Anschauungen: Es konnte nur Menschen des Abendlandeseinfa llen, das estchen Gottes mit Vernunftschlssen beweisen und dabeierhrten zu wollen, da die Art, wie Er die Welt regiert, mit den vonder Wissenschaf t cntdedt ten und von der Philosophie ergrndeten Gese tzen bereinstimmt.

    Im Mittelalter und nom ein paar Jahrhunderte darber hinauswurde die neue Denkmethode fast nur auf theologische und philosophische Fragen angewand t. Inzwischen sammelte und htete man dastheoretische und praktisd1e Wi ssensmaterial, das von den griechischenGeometern Arithmetikern, den rmischen Ingenieuren und (nimtam wenigsten) von den arabischen Algebraikern vermittelt worden wa r.

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    22 UNSERE KULTURDie Entwicklung, die im Mittelalter von dem optimistischen Glaubenausgegangen war, da dem beobachtenden, logisch denkenden und kri-tischen Geist das Verstndnis der Welt zugnglich sei, vollzog sich ohneUnterbruch. Das wissenschaftliche Denken, das von der Sptrenaissanceund besonders vom 17. Jahrhundert an ber die sogenannten exaktenund Naturwissenschaften zu r modernen Technik fhrte, war nur dieFortsetzung des seither in der Theologie zur Scholastik erstarrten mittelalterlichen Frhrationalismus.

    Ebenso neuartig wie diese Entfaltung der Wissenschaft wa r die derspter darauf aufgebauten Technik. Gewi, es ha t zu allen ZeitenErfinder von stets verbesserten Werkzeugen und Hilfsmitteln der Pro-duktion gegeben. Sonst htte ma n nicht schon vor Jahrtausenden Pflge,Rder, Websthle, Wassermhlen und dergleichen gekannt. Archimedes,die Chinesen, die Araber usw. beweisen, da der Drang zur Erfindungvon mechanischen Einrichtungen zu arbeitstechnischen oder kriegerischenZwecken keineswegs auf das Abendland beschrnkt ist. Nur ist er hiereiner neuen Bahn gefolgt, die eine lange Entwicklung der exakten Wissenschaft voraussetzt und auf ganz andere Ziele zustrebt; neu ist daherauch, im Endergebnis, die Anwendung von mechanisch erzeugter Trieb-kraft wie Dampf oder Elektrizitt, an Stelle der Muskelkraft von Menschen und Tieren.

    Da es dahin kommen konnte, setzte mehr voraus als das Strebennach neuer Erkenntnis. Oberall dort, wo im Mittelalter das Handwerksich mit Hilfe von mechanischen Produktionsmethoden zur Industrieunternehmung htte entwickeln knnen, wurde diese Tendenz durchentsprechende Verbote unterdrckt. Vor kaum mehr als vierhundertJahren trug Lionardo da Vinci in sein Tagebuch ein, da er eine Flugmaschine erfunden, sich jedoch entschlossen habe, es niemandem zusagen. Das Zeitalter der Dampfmaschine, deren Erfindung die industrielleRevolution einleitete, ist knapp zwei Jahrhunderte alt. Vorher mutenallerlei Hindernisse aus dem Wege gerumt werden. Das besorgten (vom15. und 16. Jahrhundert an) die Ausdehnung des Oberseeverkehrs, derVerfall des Zunftwesens, der Zusammenbruch der theokratischen undder feudalen Gesellschaftsordnung, die politische Emanzipation desBrgertums, die Befreiung des Kapitals vom Zinsverbot usw. Erst alses dadurch mglich wurde, Maschinen als Mittel zur Erzeugung vonKapitalgewinn zu gebrauchen, diente die Wissenschaft der Technik unddie Technik der Geldwirtschaft.

    UNSERE KULTUR 23Sofern diese Entwicklung von Anfang an in erster Linie das Werk

    des Brgertums war, wre man berechtigt, unsere Kultur als brgerlichzu bezeichnen. Der wissenschaftlichen Verwendbarkeit dieser Benennungsteht freilich entgegen, da das Brgertum selber im Laufe dieser neunoder zehn Jahrhunderte tiefgreifende Wandlungen durchgemacht hat, diedie Benennung zum flieenden Begriff machen. Es kommt hinzu, da siein den sozialen Auseinandersetzungen der neueren Zeit eine vielfachherabsetzende Nebenbedeutung erhalten hat, die einer objektiven Er-fassung entgegensteht. Diese Erwgung fllt um so mehr ins Gewicht,als im politischen Sprachgebrauch die Ausdrcke brgerlich und kapitalistisch of t flschlicherweise gleichgestellt werden.Der Name "Brger", dem franzsisch bourgeois, englisch burgher undburgess und italienisch borghese entsprechen, bezeichnete vom 11. Jahr-hundert an die Stadtbewohner, die von feudalen Fesseln frei und daherzur rtlichen und beruflichen Selbstregierung berechtigt waren. DiesesBrgertum bestand zunchst fast nur aus Handwerkern und Kaufleuten,umfate aber mit der Zeit auch Verwaltungsbeamte, Angehrige dergeistigen Berufe und Leute, die in verschiedener Eigenschaft am Handelund Verkehr beteiligt waren. Nach dem Ende des Mittelalters kam einekleine, aber schnell wachsende Minderheit von Bankiers, Geldverleihern,Maklern, Oberseehndlern, Grokaufleuten und anderen Besitzern vonzinsbringendem Kapital hinzu. Diese waren, soziologisch betrachtet, dieVorfahren der Kapitalisten der zwei letzten Jahrhunderte, ebenso wiedie mittelalterlichen Brger als die soziologischen Ahnen der englischenmirldle classes und neuerdings der amerikanischen business class geltenknn n.

    Nnd1 th11 das europische Brgertum sechs- oder siebenhundert Jahrelang mit den benachbarten Gesellschaftsschichten (den adligen Grund-besitzern, d n Klc1ikern, den Bauern, den besitzlosen Lohnarbeitern, denmonarchischen I re isen usw.) manchen Strau ausgefochten hatte, eroberte es die politische Macht in einer Reihe von Revolutionen, die zuerstd ie Niederlande im 16., England im 17. und Frankreich im 18. Jahr-hundert erschtterten. Diese Revolutionen, die die parlamentarische Demokratie einfhrten und die vom Brgertum erfochtenen Freiheiten derArbeit, der Berufswahl, des Handels und des Profits zur allgemeinenFreiheit erweiterten, ermglichten die industrielle Revoluti on und damitdie nahezu universelle Einfhrung des kapitalistischen Wirtschaftssystems.

    Der Aufstieg des Brgertums und die Entfaltung des Kapitalismus

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    24 UNSERE KULTURsind also eng miteinander und berhaupt mi t der Geschichte der abendlndischen Kultur verwoben. Man hat es hier sogar mit ausschlielichenMerkmalen dieser Kultur zu tun, denn es hat nie zuvor eine Gesellschaftsordnung gegeben, worin die wirtschaftliche Ttigkeit auf fr eiemWettbewerb und dem uneingeschrnkten Spiel des Gewinnmotivsberuhte.

    Der Ausdruck kapitalistisch pat also nur insofern nicht zur Kennzeichnung unserer abendlndischen Kultur, als er sich blo auf ihrejngste, kaum zwei Jahrhunderte umfassende Entwicklungsphase anwenden lt.

    Das gleiche lt sich von Benennungen wie mechanisch oder industriellsagen. Dafr beziehen sich Ausdrcke wie ergokratisch, p e r s o n a l i ~ t i s c hoder demokratisch auf dauerhaftere Merkmale. Ihre Schwche ist nur,da sie sich auf Teilaspekte beschrnken. Diese kommen dennoch demWesentlichen nahe genug, um einige Aufmerksamkeit zu verdienen.

    Das namentlich in Amerika ziemlich of t gebrauchte Beiwort ergokratisch will zum Ausdruck bringen, da unsere Kultur auf der Verehrung der Arbeit beruht. Tatschlich unterscheidet sie sich darin vonallen anderen Kulturen. Das kann man auch ohne historische Kenntnisse in der Gegenwart berall dort feststellen, wo abendlndischeWeie mit farbigen Vlkern in Berhrung treten. Genau so, wie dieEuroper und Amerikaner die Eingeborenen fr unheilbar faul halten,betrachten diese umgekehrt die Weien als von der Arbeitswut geplagteHalbverrckte; womit natrlich nichts anderes bewiesen ist, als daverschiedene Kulturen verschiedene Wertmastbe haben.

    Natrlich setzt jede Kultur, ganz gleich von welcher Rasse und unterwelchem Klima, ein gewisses Ma von Arbeit voraus; die des Abendlandes ist aber darin einzigartig, da sie aus dieser Notwendigkeit eineTugend gemacht hat. Es ist gewi kein Zufall, da gerade die Verkndigung der im Sndenfall fundierten moralischen Pflicht zur Arbeiteine der Hauptfunktionen der Missionare in den Vorpostengebieten desWeien Mannes ist. Es kommt hinzu, da wir zuletzt die menschlicheArbeit so an die der Maschinen gekettet und die Wertung ihres Ertragesso mit dem Lohnsystem verflochten haben, da produktive Arbeit fruns der Mastab aller Werte und Geld der Ausdruck dieser Werte geworden ist. Infolgedessen ist unsere Kultur die einzige, die, ohne Rcksicht auf die "Gaben Gottes" und die Schnheit der "nutzlosen Gebrden", die Arbeit zum Lebenszweck und die efficiency zum Kriterium

    UNSERE KULTUR 25des Lebenserfolges gemacht hat. Dadurch erhielt sogar die zeitliche Dimension einen neuen soziologischen Sinn, indem Zeit fr uns als verlorenoder praktisch wertlos gilt, wenn sie nicht der Arbeit und dem Geldverdienen dient. Nur im Abendland schtzt man die Zeit, weil "ZeitGeld ist".

    Wesentlich neu und arteigen ist auch die Rolle, die der Mensch als"Person" oder "Individuum" in unserer Kultur spielt. Deren Personalismus hngt brigens eng mit der Ergokratie zusammen. Beide Zgefinden ihre ursprngliche religise Begrnd1:1ng in der christlichen Auffassung- die in keiner anderen Religion ihr Gegenstck hat - da jederMensch fr das, was er tut, selber und allein einstehen mu und insofernsein Schicksal in Hnden hat. Denn darauf luft doch die christlicheLehre hinaus, da alle Menschen mit einer unsterblichen Seele geborenwerden, denselben gottgewollten Gesetzen unterstehen und dieselbe gttliche Gerechtigkeit und Gnade erhoffen drfen. Die abendlndische Kultur ist denn auch die einzige, die ein soziales und politisches Systemhervorgebrad:J.t hat, worin allen Menschen ohne Rcksicht auf ihre Geburt, wenn nicht die gleiche materielle Chance, so doch das gleiche Rechtgewhrt wird, durch ihr eigenes Handeln ihr eigenes Schicksal zu gestalten. Dieses System ist zwar nicht berall in gleichem Mae verwirklicht worden, aber seine Verwirklichung wird berall erstrebt, und zwarum so mehr, je strker die rein abendlndischen Einflsse sich durchzusetzen vermgen - also am meisten in Amerika und den anderen"jungen" Lndern, wo es weniger vererbte Hindernisse zu berwinden gibt.

    Der Personalismus, der allen Menschen den gleichen moralischen Wertund die gleiche Wrde zuerkennt, und die Ergokratie, die ihr persnliches

    S c h i d ~ s a l von ihrer eigenen Ttigkeit abhngig macht, haben die gleichenWurzeln wie die Demokratie, die allen Menschen die gleiche Mglichkeitzugesteht, auf Gesetz und Regierung Einflu auszuben.

    Auch fr diese Auffassung, die von der Grndung der ersten Stadtgemeinden bis zur heutigen Zeit nicht aufgehrt hat, als zielsetzend zuwirken, gibt es in der Geschichte der Kulturen keinen Przedenzfall.Die Demokratie der griechischen Stadtrepubliken kann hchstens alsembryonales Vorstadium - das noch dazu mit einer Totgeburt endeteangesprochen werden; denn erstens galt die Selbstregierung hier nur freine kleine, bevorrechtete Minderheit', und zweitens stellte sie blo einevorbergehende Phase in einer Entwicklung dar, deren kultureller Hhe-

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    26 UNSERE KULTURpunkt teils frher, teils spter erreicht wurde. Dagegen ist das, was z. B.die franzsische - und noch ausgesprochener die amerikanische - Revolution des 18. Jahrhunderts erstrebte, und was seither das ganze Abendland auf verschiedenen Wegen weiter zu erreichen sucht, schon als bloeZielsetzung etwas noch nie Dagewesenes.

    Dieser flchtige Oberblick aus Anla einer Benennungsfrage hat alsogengt, eine Reihe von Merkmalen festzustellen, die unsere Kultur vonallen frheren und anderen Kulturen unterscheiden. Es hat den Anschein,als ob bereits dadurch der repetitive Charakter der Kulturen nach pluralistischer Auffassung einigermaen in Frage gestellt wrde; denn eineKultur, die so viel Neues und Arteigenes bringt, lt sich schwer einerReihe einordnen, von der man sich mit dem Prediger Salomo sagen mu:"Was ist's, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird ... Esist alles ganz eitel, es ist alles ganz eitel." (Prediger 1, 9 und 2.)

    Ob dieser Eindruck nherer Prfung standhlt, wird noch zu untersuchen sein. Voreilige Schlsse sind hier schon deshalb zu v e r m e i d e ~ ,weil die pluralistische und repetitive Theorie nicht leugnet, da jedeKultur etwas anderes und insofern auch etwas Neues darstellt; sie behauptet nur, da sie alle auf die gleiche Art ihrem Verfall und ihremTode entgegengehen - und gerade unter diesem Gesichtspunkt wird derWerdegang unserer abendlndischen Kultur noch zu behandeln sein.Aber ganz abgesehen davon, was dabei in bezug auf das unmittelbareWohin herauskommen mag, lt sich schon eine allgemeine Feststellungin vorlufig grobem Umri machen: Die "repetitive" Schlufolgerung,es sei "alles eitel", weil alles nur stndige Wiederholung sei, steht undfllt mit der Annahme, da jedes Eigene und Neue, das eine neue Kulturbringt, dazu verurteilt ist, zusammen mit ihr von der Bildflche undins Nichts zu verschwinden. Darum haben sich die konsequentesten V ertreter der repetitiven Theorie, wie Spengler, so viel Mhe gegeben, dieBedeutung der Verbindungs- und bertragungsmglichkeiten von einerKultur zur anderen zu verkleinern. Sollte diese Annahme sich als falscherweisen und sollte im Gegenteil eine Vererbung von Kultur zu Kulturmglich, ja eine Absonderung durch unbersteigbare zeitliche oder rumliche Grenzen knftighin nicht mehr gut denkbar sein, dann wre freilich der repetitiven Auffassung die Grundlage entzogen.

    ZWEITES KAPITELKULTUR IN DE R EINZAHLUN D IN DER MEHRZAHL

    DE R Stammvater aller pluralistischen und repet1t1ven Kulturtheorienist der Neapolitaner Giovanni Battista Vico. In seiner 1725 erschienenen Scienza Nuova findet man alle ihre Grundgedanken auseinandergesetzt: Der Lauf der Geschichte ist, wie der des Naturgeschehens, vongottgewollten Gesetzen bestimmt; diese Gesetze sind erkennbar, weil jede"Nation" eine hnliche Entwicklung durchmacht; jede dieser Entwicklungen verluft "zyklisch" und fhrt zu ihrem Ausgangspunkt zurck;einen Fortschritt gibt es nur, sofern die Menschen zu einem hheren Bewptsein der sie regierenden Gesetze gelangen.

    Vico fand zu seinen Lebzeiten bekanntlich wenig Beachtung undwurde erst ein Jahrhundert spter "entdeckt". Jedoch bald nach ihmwurde die vergleichende Methode (fr die er das Material hauptschlichim klassischen Altertum gefunden hatte) auf den gleichen Gegenstandvon einem berhmten F r a n ~ o s e n und einem kaum weniger berhmtenEnglnder angewandt.

    Im Jahre 1734 schrieb Montesquieu sein Buch De la Grandeur et laDecadence des Romains und 1776 folgte Gibbon mit seinem Declineand Fall of the Roman Empire. Seither haben Millionen von Schlernund Studenten aller Lnder im Geschichtsunterricht und im Examen mitvergleichenden Betrachtungen ber Kulturverfallserscheinungen in verschiedenen Epochen ihre Fhigkeit zum tieferen Verstndnis historischerZusammenhnge beweisen mssen.

    Es ve rdient Beachtung, da sowohl. Vico wie Montesquieu und (obwohl etwas weniger ausgesprochen) Gibbon ihrem eigenen Zeitalterkritisch gegenberstanden. Im Grunde kam es ihnen darauf an - auchdort, wo es nur zwischen den Zeilen zu lesen war -, ihre Leser zu V ergleichen mit der Gegenwart anzuregen und zu der Schlufolgerung zufhren, da auch das zeitgenssische Regime vom Untergang bedrohtoder doch zu radikalem Wandel gentigt sei; und damit war nicht blodas politische System gemeint, sondern die Gesellschaftsordnung berhaupt, mit Inbegriff der herrschenden Anschauungen, Oberzeugungenund Sitten.

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    28 KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHLDa Vico von "Nationen" redete, whrend Montesquieu und Gibbon"Reiche" behandelten, ist unerheblich gegenber der Tatsache, da hierim Grunde der gleiche Gegenstand behandelt wird wie bei den spterenTheoretikern des zyklischen Geschichtsverlaufs - d. h. die Kulturen - ,und nach der seihen Methode - d. h. der vergleichenden.Diese Methode wird von den pluralistischen Kulturtheoretikern ineinem doppelten, ja im Grunde zwiespltigen Sinne angewandt: erstens,um herauszufinden, was eine Kultur von den anderen unterscheidet,also ihre Eigenart; zweitens, um festzustellen, was sie mit den anderen gemeinsam hat, nmlich die gleiche zyklische Aufeinanderfolge ihrerEntwicklungsphasen. Whrend es sich bei der ersten Aufgabe um Prospektion in die Tiefe haJ;idelt, ohne welche die Wesensart irgendeinesOrganismus nicht erkannt werden kann, richtet sich bei der zweiten Aufgabe die Aufmerksamkeit eher auf die hnlichkeiten der Form - in gelehrter Sprache auf morphologische Analogien. Diese Prozedur liegt um

    so nher, als die Kulturen nach Toynbee den individuellen Organismeneiner Gattung, nach Spengler sogar Pflanzen, gleichgestellt werd en.In der Verwendung der morphologischen Analogien liegt der methodelogisch schwache Punkt der pluralistischen Lehren, die gerade aufdiesem Gebiet neben etlichen interessanten, anregenden und vielfachglnzenden Betrachtungen viel Fragwrdiges oder gar Unhaltbareszut age gefrdert haben.Die morphologische Betrachtungsweise hat fr den Historiker einenbesonderen Reiz, der leicht gefhrlich werden kann. Wer z. B. "entdeckt", da (um ein Spenglersches Beispiel zu whlen) Buddha, Sokratesund Rousseau "Zeitgenossen" sind, d. h. in entsprechenden Phasen verschiedener Kulturen als "Wortfhrer anbrechender Zivilisation" hn

    liche Rollen gespielt haben, erhlt das erhebende Gefhl, da er in eineviel tiefere Region der Erkenntnis eindringt, als wenn er jeweils einedieser drei Gestalten im Rahmen ihrer eigenen Umwelt betrachtenwrde. Jetzt hat er es nicht mehr mit bloen Kausalzusammenhngenzu tun, wie sie zwischen Umwelt und Mensch vorliegen mgen, sondernes ist der tiefere Sinn der historischen Erscheinung berhaupt, der sichzu enthllen scheint: Man meint die Gesetze selber zu erfassen, wonachsich alles historische Geschehen richtet, und wodurch dieses Geschehenfr uns erst eigentlich sinnvoll wird. Dieser "Abstieg zu den Mttern"vermittelt natrlich einen besonders erhabenen Geistesgenu. Die Verlockung ist denn auch so stark, da schon mancher den Weg dahin abgekrzt hat, indem er fehlende Glieder in der Kette der Analogien durch

    KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHL 29wunschgefrbte Deutungen von unvollkommen bekannten Tatsachenoder gar durch bloe Hypothesen ersetzte.

    Der Vorgang wird dadurch erleichtert, da es heutzutage keinenHistoriker gibt, von dem man erwarten oder verlangen knnte, da erin allen Teilen und Epochen der Weltgeschichte gleich gut Bescheid wei.Auch in dieser Beziehung ist die Zeit des enzyklopdischen Wissens vor bei. Jeder hat sein Spezialgebiet und kann sich glcklich schtzen, wenner so viel davon versteht, da er die dort gewonnenen Erkenntnisse benutzen kann, um sich das Verstndnis der groen Zusammenhnge auchauf benachbarten Gebieten zu erleichtern. Nur ist er hier dann nichtmehr Spezialist, sondern nur noch Dilettant. Er kann unmglich alle denanderen Spezialisten zugnglichen Tatsachen kennen, er mu wohl oderbel auswhlen. Und natrlich wird er zunchst jene beachten, die ihnam meisten interessieren, weil sie ihm in den Kram passen - d. h.,weniger grob ausgedrckt, weil sie seine auf seinem Spezialgebiet gewonnenen Einsichten zu besttigen und zu erweitern scheinen. Darausergibt sich die Gefahr, der schon so mancher Analogienschlu erlegen ist,nmlich, da er nur mit einem Bein auf festem, mit dem anderen aberauf unsicherem Boden steht und daher bse hinkt.Als Beispiel sei hier nur der rezenteste Vertreter der pluralistischenSchule, Arnold T oynbee, angefhrt. Ich fh le mich dabei um so unbefangener, als ich ihn mit groem Gewinn gelesen habe, sein ausgedehntesWissen bewundere, und in sehr wesentlichen Punkten fr seine Meinun_:gen - z. B. fr seine universalistische, humane, liberale und pazifistischeGesinnung - Sympathie empfinde. Nun: Toynbee ist von Haus ausOrientalist und berichtet in einer Vorrede, da er sich bis in ein relativvor gercktes Lebensalter nur mit der Frhgeschichte verschwundenerKulturen des Nahen Ostens beschftigt habe. Aktuelle Ereignisse - undzwar der erste Weltkrieg- veranlaten ihn dann pltzlich, sich auch frdie neuere Zeit, und speziell fr die Gegenwart zu interessieren, von derer allerdings bis dahin nicht viel mehr wute, als der Durchschnittsz eitgenosse aus der Zeitung erfahren kann. Natrlich hat er daraufhin nochandere Quellen aufgesucht, aber ebenso natrlich ist er auf manchemGebiet beim Wissen des Zeitungslesers geblieben. So lassen sich wohl dieerstaunlichen Lcken erklren, die sich z. B. darin offenbaren, da dieserVertreter der modernsten Kulturuntergangstheorie den wichtigsten Philosophen des Kulturnihilismus, Nietzsche, und den wichtigsten psychologischen Analytiker des "Unbehagens in der Kultur", Freud, ignoriert.

    Der gleiche Umstand erklrt auch die Fehler, die ihm bei der Beur-

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    30 KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHLteilung neuerer Tatbestnde unterlaufen sind. Um nur ein kleines, abercharakteristisches Beispiel zu nennen: Toynbee schickt einer Errteruncr

    "'ber den Kommunismus die Bemerkung voran, da er seinen Namenvon der Pariser "Commune" (Mrz-Mai 1871) ableitet. Tatschlichaber war der Ausdruck "Kommunismus" schon in der westeuropischenpolitischen Literatur der Vierzigerjahre des 19. Jahrhunderts gang undgbe, und das Kommunistische Manifest von Marx und Engels - vielleicht das wichtigste politische Dokument jenes Jahrhunder ts - erschienbekanntlich 1848. Dieser Mangel an Vertrautheit mi t den Tatsachenhindert freilich Toynbee nicht daran, dem heutigen Marxismus und K ommunismus eine erkleckliche Anzahl Seiten zu widmen. Da ich mich zufllig mit diesen Dingen ziemlich lange und intensiv beschftigt habe,fllt es mir nicht schwer, zwischen den faktisch richtigen und falschenBehauptungen Toynbees zu diesem Thema zu unterscheiden. Schade istblo, da jeder Leser nur auf einem Gebiet wirklich Spezialist und daherzu einer solchen Kontrolle imstande sein kann. Ich reagiere dabei natrlich so, wie jemand, der Zeuge irgendeines Straenvorfalls gewesen istund am Tage darauf in der Zeitung einen groenteils irrigen Berichtdarber liest: Er fragt sich, wie es denn um die Zuverlssigkeit derBerichte ber weit entferntere Vorgnge stehen mag. Diese Neigung zurSkepsis wird noch verstrkt, wenn man von Sachverstndigen erfhrt,wie beraus karg im Grunde das wirklich zuverlssige Tatsachenmaterialist, das den Historiographen von lngst verschwundenen Kulturen, wieetwa der minoischen oder sumerischen, zur Verfgung steht.

    Nu n - der erfahrene Fachmann hat gewhnlich die Fhigkeit entwickelt, auch auerhalb der Grenzen seines Spezialgebietes einigermaenzwischen Tatsachen, Deutungen und Hypothesen empfindungsmig zuunterscheiden. Er wei auch, welches Ausma der Unterschied zwischenSchein und Wirklichkeit erreichen kann, wenn man sich zu sehr auf denSchein verlt. Diese Versuchung ist besonders stark, wenn es auf Ana-logien der Form, d. h. der ueren Erscheinung, ankommt. Die Wirk-lichkeit ha t viele Seitenflchen, die je nach dem Standort des Beobachtersin anderer Beleuchtung erscheinen. Unter bestimmten Verhltnissen magder Spaziergnger in einer Wolke, in einem Felskopf oder in einer altenWeide ein menschliches Profil sehen, das ein paar hundert Meter weiterschon ein ganz anderes Aussehen gewonnen hat. Und wie leicht ist es,bei der Behandlung von Epochen, wovon die Fachleute recht wenig unddie meisten Menschen so gut wie nichts wissen, das groe Publikum mitAnalogien zu verblffen! Es lt sich durch hnlichkeiten der Form am

    KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHL 31ehesten frappieren, erstens weil sie als uere Erscheinungen ohne besondere Anstrengung zu sehen sind, und zweitens weil es auf diesembequemen Wege zum unmittelbaren Verstndnis tiefer innerer Zusammenhnge zu gelangen meint. Die Folge ist, da die morphologisch-analogische Methode, so fruchtbar sie auch in gewissen Punkten gewesen seinmag, auch die Verantwortung trgt fr die Verbreitung von allerleiModetheorien, die eher in die Kategorie der geistreichen Gesprchsthemata fr Dilettanten als in die der wissenschaftlich erwiesenen Wahr-heiten hineinpassen.Gewi verdanken wir dieser Methode auch Einsichten, die zu demWertvol lsten gehren, das seit den ersten V ersuchen der Menschen, Geschichte anders denn als eine Reihe von anekdotischen, erbaulichen oderdramatischen Erzhlungen zu betrachten, zutage gefrdert worden ist.Zu diesen bleibenden positiven Errungenschaften gehrt in erster Liniedie Erkenntnis, da es in der Kulturgeschichte - ja in der Geschichteberhaupt - keine geradlinig fortschreitende Entwicklung gibt, sonderneine wellenhnliche Bewegung, wobei gewachsene Gebilde immer wiederzugrundegehen, um neuen Platz zu machen. Da diese Gebilde, die vonVico Nationen und von Montesquieu und Gibbon Reiche genanntwurden, seither als Kulturen erkannt worden sind, ist ebenfalls als Zuwachs unseres Wissens zu werten.

    Es ist zwar schade, da die Vieldeutigkeit des Ausdruckes hier allzuzahlreichen Miverstndnissen T r und To r ffnet, und vielleicht wreeine besondere Bezeichnung, wie Kulturzyklus, vorzuziehen gewesen .Aber was den Grund der Sache betrifft, so mu man (besonders seitSpengler, und ohne da man deshalb seine bertreibungen mitzumachenbraud1t) folgende Stze als erwiesen gelten lassen: 1. Diese Gebilde habeneinen eigenen Lebenslauf, der analog dem der Organismen von der Geburt ber Reifen und Altern zum Tode fhrt; 2. sie sind Kulturen indem Sinne, da ihr innerer Zusammenhang auf der Wirkung von eigenenpsychischen Antrieben beruht, analog der "Beseelung" von Lebewesen;3. ebensogut, wie sie sich gegenseitig beinflussen und befruchten knnen,knnen sie unabhngig voneinander entstehen und zugrundegehen.Man kann das indessen alles gelten lassen, ohne deswegen den Sd1luzu ziehen, da es sich bei alledem um die ewige Wiederholung eines imGrunde gleichgearteten Verlaufs handelt. Denn dieser Schlufolgerungstehen folgende Tatsachen entgegen, die hier vor jeder nheren Begrndung zunchst nur thesenhaft aufgezhlt werden sollen:

    1. Trotz aller hnlichkeiten mit Lebewesen sind die Kulturen keines-

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    32 KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHLwegs so deutlich voneinander getrennt wie die Individuen einer gleichenbiologischen Gattung.

    2. Trotz allem, was sie voneinander unterscheidet, ordnen sie sich einin den Gesamtverlauf der Kulturentwicklung im unitarischen Sinne, derseinerseits beruht auf der biologischen Affinitt der Menschheit berhauptund auf der bertragbarkeit von Kulturgut.3. Da jede Kultur fr sich etwas Eigenes darstellt, schliet dieHypothese einer ewigen Wiederholung eher aus, als die einer stufenartigen Entwicklung der Gesamtreihe in einer bestimmten Richtung.4. Die Sonderheit der Kulturen und ihre Beziehungslosigkeit untereinander - die Voraussetzung, womit die repetitive Deutung steht undfllt - gilt nur fr einen Teil des erkennbaren Geschichtsverlaufes,keinesfalls aber fr die zur Zeit vorhandenen Kulturen.

    5. Da unsere abendlndische Kultur die erste ist, deren Ausstrahlungsgebiet sich auf die ganze Welt ausdehnt, schafft in bezug auf die Sonderheit und Beziehunglosigkeit eine prinzipell neue Lage.6. Dasselbe gilt fr das beispiellos beschleunigte Tempo gewisser Ent-wicklungsverlufe, die der heutigen Phase unserer abendlndischen Kul

    tur eigen sind - eine Beschleunigung, der auch fr die unitarische Kultur-entwicklung eine neuartige Bedeutung beizumessen sein drfte.7. Unter den zur Zeit im Abendland feststellbaren Erscheinungen, diesowohl als Verfallssymptome wie als mgliche Keime einer Kultur-erneuerung gedeutet werden knnen, sind etliche, wofr es in vergleichbaren Epochen frherer Kulturen keine Vorbilder gibt. Davon sollenhier vorderhand nur drei mit den Stichwrtern "Vermassung", "Mechanisierung" und "Geschichtsbewutsein" charakterisiert werden.Was den ersten dieser sieben Punkte betrifft, so ergeben sich bei derLektre der Standardwerke der repetitiven Theorie zwei Feststellungen,die den nachdenklichen Leser stutzig machen sollten. Zum ersten: Wasunter "Kulturen" zu verstehen ist, ist undeutlich und widerspruchsvoll.Zum zweiten: ber die Zahl dieser Kulturen ist man sich auch nicht an-nhernd einig.Gobineau zhlt 10 Kulturen, Spengler 8, Toynbee 21, wovon 10zweifelhafte Flle darstellen, und unter Ausschaltung von 5 "abgestoppten" und 4 "totgeborenen". Bei nherem Zusehen ergibt sich, da dieseMeinungsunterschiede zwischen den drei Haupttheoretikern wenigerdarauf beruhen, da sie ber mehr oder weniger ausgedehntes Tat sachenmaterial verfgten, als darauf, da sie bei der Beurteilung, was eineKultur sei, verschiedene Mastbe anlegten; und jedem dieser Mastbe

    KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHL 33entsprach eine andere Geschichtsphilosophie. Mit anderen Worten, einjeder legt die Geschichte auf ein anderes Prokrustesbett, das ihr eineandere Haltung aufzwingt. Wre eine derartige Ungewiheit ber dieZahl der frheren oder noch vorhandenen Kulturen denkbar, wenn siewirklich Organismen gleich wren? Lebewesen, seien es nun Bume ineinem Obstgarten oder Menschen in einem Zimmer, sind sonst leichtgenug zu zhlen, wenn ihrer nicht mehr als ein paar Dutzend sind,auer wenn die Sicht so schlecht ist, da sich nicht einmal ihre Artzugehrigkeit feststellen lt; und dann lt man das Philosophieren imDunkeln besser sein.

    Ein weiterer Grund zur Skepsis liegt in der Erkenntnis, da vonden in ungewisser Anzahl feststellbaren abgestorbenen Kulturen nichtmehr als vier oder fnf genug Material ber ihren Entwicklungsganghinterlassen haben, um daraus irgendwelche allgemeine Schlsse ableitenzu knnen. Tatschlich wurden die repetitiven Theorien denn auch ausder vergleichenden Betrachtung von ganz wenigen Kulturen herausentwickelt und in die anderen hineinprojiziert-was natrlich um so leichterfiel, je weniger bekannte Tatsachen den vorgebrachten Deutungen widersprachen.Indes die heikelste und verfnglichste Frage betrifft die Beziehungslosigkeit oder Verwandtschaft zwischen Kulturen. Im Gegensatz zuSpengler, der sie zu umgehen sucht, stellt Toynbee sie ganz klar, aberleider ohne sie zu lsen. Er unterscheidet zwischen Kulturen, die eine"Verwandtschaft" oder "Angliederung" aufweisen, und solchen, die "beziehungslos" geblieben sind. Es liee sich vielleicht darber streiten, obdiese "Beziehungslosigkeit" wirklich so absolut ist, wie es etwa Spenglerund Toynbee wahrhaben mchten. Gewi, es ist als ziemlich sicher anzunehmen, da z. B. zwischen der minoischen und der Maya-Kulturkeine Beziehungen bestanden haben, wenigstens nicht in dem Sinne, dadie eine die andere htte beeinflussen knnen. Es sind aber andere Artenvon Beziehungen denkbar, die sie nichtsdestoweniger als Teile einesGanzen erscheinen lassen knnen.Zunchst in biologisd1er Hinsicht: Wir wissen so gut wie nichts vonder Art, wie die Mensd1enrassen entstanden sind und sich differenzierthaben, vermgen also auch nicht zu beurteilen, inwiefern Kulturerscheinungen in geographisd1 weit auseinander liegenden Gebieten biologische Folgen gezeitigt haben, die sich auf die Menschheit insgesamtauswirken konnten. Vielleicht ist die heutigeErdbevlkerung, die ja keinebeziehungslosen Kulturen mehr kennt, als der vorbestimmte Brennpunkt3 H . de Man, Vermassung

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    34 KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHLzu betrachten, der all diese Auswirkungen in sich vereinigt. Die Ethnographen haben schon lange gelernt, die Entwicklung der Werkzeuge undder Waffen als Gesamtproze zu sehen und auf den anderen Gesamtproze der biologischen Entwicklung zu beziehen; von diesem Gesichtspunkt aus ist am Ende kein Beitrag, und wenn er zeitlich oder rumlichvon noch so weit her stammt, ganz verlorengegangen. Die Vlkerpsychologie, insbesondere ihre modernen Zweige, die sich um die Erforsd1Ungder vererbten unterbewuten Tatbestnde bemhen, sieht die Dingenicht anders. Fr eine Darstellung der Mythen der Menschheit, wie sieJ. G. Frazer in seinem "Goldenen Zweig" unternommen hat, gibtkeine beziehungslosen K ulturen. Ebensowenig gibt es sie, wenn man m1tC. G. Jung ein kollektives Artgedchtnis gelten lt, denn hierbeiwerden von vornherein ganz andere Formen der bertragung vorausgesetzt, als die kulturelle Beeinflussung durch die Mitteilung von Bewu seinsinhal en.Ein fundamentaler Einwand gegen die These von den beziehungslosenKulturen ergibt sich zudem aus der Frage: Ist denn nicht die b l o ~ eTatsache, da wir um ihre Existenz wissen, eine Beziehung zwischenihnen und uns? Un d ist denn diese Beziehung kein gengender Grund,den Gedanken an eine bloe Wiederholung hnlicher Verlufe aufzugeben?

    Fr die richtige Beantwortung dieser Frage ist ein Umstand wesentlich, den Toynbee registriert hat, aber offenbar ohne seine volle. r a ~ -weite einzusehen. Er vermerkt nmlich, da "in der Alten Welt se1t dre1,und in der Neuen (soweit uns bekannt ist) seit zwei Jahrtausenden keinebeziehungslosen Kulturen mehr aufgetreten sind". Ist das nicht ein grundstzlicher, wesenhafter Unterschied zwischenzwei Epochen? Da knnte man ruhig eine noch weit grere Zahl vonvergangenen, uns unbekannten und fr uns auf immerdar unerkennbaren, also insofern wirklich beziehungslosen Kulturen gelten lassen;das wrde nichts an der Tatsache ndern, da sie am biologischen, technologischen und psychologischen Proze der Entwicklung von Rassen,W erkzeugen, Waffen, Mythen und Sprachen e i n ~ n A n t e ~ l g e h ~ b t ha?en.Da dieser Anteil fr uns nicht mehr erkennbar 1st, entmmmt ihm mchtsvon seiner Wirklichkeit und Wirksamkeit. Der Christ erhebt ja auchkeinen Anspruch darauf, all seine Vorfahren seit Adam und Eva zukennen, und ebensowenig wei der Agnostiker, wie sich die Menschenrassen seit dem Pithekanthropus (oder wie dieser hypothetische Ahneheien mag) im einzelnen entwickelt haben. Dennoch steht fest, da

    KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHL 35es eine solche E n t ~ i c k l u n g gegeben haben mu, und da die Kenntnisihres vorlufigen Endpunktes und einiger frherer Phasen es uns ermglicht, vernnftigerweise einen Sinn in sie hineinzulegen.

    Wir knnen dies tun, trotzdem es in der Reihenfolge der Kulturenwie in der der menschlichen Organismen eine unbersehbare Anzahl vonLebenslufen gegeben hat, von denen keine Spur zu uns gelangt ist. Solt Toynbee neben seinen 9 mehr oder weniger im Keim erstickten oderunvollendeten Kulturen "ungefhr 650 primitive Gesellschaften" gelten,die sich nicht zu Kulturen entwickelt und daher in deren "Angliederung"keine Rolle gespielt haben. Mag sein; aber warum soll es denri nicht,wie l.n der Natur (dieser groen Verschwenderin!) und in der biologischen Entwicklung berhaupt, in der Geschichte der Menschheit abgestorbene Triebe, Fehl- oder Totgeburt en, "Sackgassen" oder, wie esToynbee andeutet, "milungene Experimente" geben?Diese Annahme verleiht erst der Tatsache, da seit zwei bis dreiJahrtausenden die "Beziehungslosigkeit" aufgehrt hat, ihre volle Bedeutung. Die Kulturen, die sich vom alten Agypten bis zum heutigenEuropa im Mittelmeerbecken entwickelt haben, sind offenbar viel engermiteinander verwandt als irgendwelche andere, von denen noch Oberreste, Spuren oder Zeugnisse vorhanden sind. Besonders die Beziehungenzwischen griechischer und rmischer Antike, und zwischen dieser Antikeund dem Abendl-and, sind so eng, da die gleichen Historiker, die jedeKultur fr einen eigenen Organismus halten, sich nicht einig darbersind, wo hier die Grenzen gezogen werden sollen. Das mag den jngstenvon ihnen, Toynbee, veranlat haben, auf jede konkrete Beschreibungihrer Wesensart (wie sie Spengler noch unternommen hatte) zu verzichten - denn es ist unmglich zu beschreiben, was V erwandte von einanderunterscheidet, ohne beim Ziehen der Grenzlinien die Aufmerksamkeitauch auf das zu lenken, was sie miteinander verbindet.

    Statt der glnzenden Charakteristik, die immerhin noch einen Haupt-reiz des Spenglersehen Werkes bildet, begngt sich Toynbee darum mitder nchternen pragmatischen Definition: Eine Kultur ist "an intelligiblefield of study" - in wortgetreuer bersetzung "ein verstndliches Untersuchungsfeld", aber wohl am besten verdeutscht als "ein als sinnvollerfabarer Zusammenhang"; Man mag von dieser Definition halten, wasman will; ich fr mein Teil meine, da ihr (trotz aller ,;wissenschaftlichen" Nchternheit) die Haupteigenschaften einer wissenschaftlichenBegriffsbestimmung, nmlich die Klarheit und Unzweideutigkeit, fehlen.Wenn unter einem verstndlichen Untersuchungsfeld irgendein voll-3''

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    38 KULTUR IN DER EINZAHL UND IN DER MEHRZAHLdie groen Fragen der Geschichtsphilosophie, wie sie sich uns heutestellen, knne nicht mehr die Wissenschaft, sondern nur noch die Theologie geben.Sie meinen damit zumeist, da die tauglichste Geschichtsdeutung immernoch die ist, die die Geschichte der Menschheit unter dem Gesichtswinkelder Schpfung, der Prophetie, der Erfllung, des Gerichts und der Erlsung betraChtet. Vielleicht haben sie damit recht; aber auch hier sollteman sich hten, das Buch der Geschichte zu- und das der Apokalypse aufzuschlagen, bevor man die Mglichkeiten der wissenschaftlichen Analysebis zuletzt erschpft hat.

    Nachdem die analogische Methode ihre Grenze tatschlich erreicht zuhaben scheint, drften darber hinausgehende Ergebnisse am ehestenvon der kultursoziologischen Methode zu erwarten sein. Dabei sollen jeneErscheinungen in den Vordergrund gerckt werden, die als grundstzlichneue Merkmale unserer abendlndischen Kultur in ihrer jngsten Phaseanzusprechen sind: die Vermassung, die Weltwirtschaft, die Mechanisierung, das Geschichtsbewutsein.

    DRITTES KAPITELMASSE UND VERMASSUNG

    DxE aus dem 18. Jahrhundert stammende Auffassung, da der Untergang des rmischen Reiches ein fr allemal die Schablone fr die V erfallssymptome einer Kultur abgibt, spukt immer noch in vielen Kpfenherum. Die w ~ c h t i g s t e n Quellen, worauf man sich dabei zu berufenpflegt, sind die Werke von lateinischen Schriftstellern, die, sei es auspolitischen, sei es aus moralischen Grnden, an den herrschenden Zustnden ihrer Epoche Kritik bten. Darin findet sich immer wieder die(allem Anschein nach berechtigte, wenn auch gelegentlich etwas tendenzis zugespitzte) Anklage gegen eine Entartung, als deren schlimmsteA.uerung die allgemeine Verweichlichung anzuprangern sei.

    Die Betonung der nachlassenden Lebenskraft kennzeichnet auch dieAnschauungen, die um die letzte Jahrhundertwende die "Dekadenz"zum Modewort machten. Die damit bezeichnete Erscheinung war imwesentlichen auf die Grostdte des europischen Festlandes begrenzt,obzwar es auch in London und- in viel geringerem Ausma- in NewYork kleine Kreise von Bohemiens gab, denen es nicht mifiel, als dekadent zu gelten. Das Eigentmliche an diesem fin de siecle war nmlich,da der Anspruch einer kleinen, migen Oberschicht auf verfeinerteBildung und auserlesenen sthetischen Geschmack sich gern als Bekenntnis zur decadence uerte. Es war die Zeit der Schlagworte l'art pourl'art und Ia culture de l'exquis. Es gehrte damals in Paris, Wien undBerlin zum guten Ton, eben jenen Mangel an Robustheit und Vitalittzur Schau zu tragen, dem die klassische Geschichtsschreibung die Schuldam Verfall Roms und der antiken Kulturen berhaupt zuschrieb. Dasewige Krankenlager eines Proust gehrte ebenso dazu wie die geschlechtliche V erweiblichung und die Manieri erthe it eines Oscar Wilde, dererklrte, sein einziger Freiluftsport bestehe darin, da er gelegentlich aufder Terrasse eines Pariser Cafes Domino spiele.

    Der erste Weltkrieg madlte dieser Epoche ein Ende. Indes finden sichsogar bei Spengler noch Spuren der um 1900 gangbaren analogischenAuffassung des Kulturverfalls als "Dekadenz". Sie verraten sich inseinem fundamentalen Satz: "Jede Kultur durchluft die Altersstufendes einzelnen Menschen; jede hat ihre Kindheit, ihre Jugend, ihre Mnn-

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    42 MASSE UND VERMASSUNGschaft ist, em Stand, welcher die Auflsung aller Stnde ist - eineSphre, welche mit einem Wort der vllige Verlust des Menschen ist,also nur durch die vllige Wiedergewinnung des Menschen sich selbstgewinnen kann. Diese Auflsung der Gesellschaft als ein besondererStand ist das Proletariat. - Wenn das Proletariat die Auflsung derbisherigen Weltordnung verkndet, so spricht es nur das Geheimnisseines eigenen Daseins aus, denn es ist die faktische Auflsung dieserWeltordnung."1

    Hier liegt die Wurzel der charakteristischen Ambivalenz der Gefhle,die das Wort Masse im marxistischen Sprachgebrauch erweckt: Je "entmenschlichter" das Schicksal der Massen, um so erhabener und glorreicherdie ihr zugedachte menschheitsbefreiende und welterneuernde Mission.Diese erklrt den Nimbus, der seit einem Jahrhundert in der marxistischen Literatur den Begriff der Masse umstrahlt. Einen besonderenGlanz erhielt dieser Nimbus zu Anfang dieses Jahrhunderts, als radikaleMarxisten, die spter als theoretische Bahnbrecher des Kommunismusanerkannt wurden, die Massenverherrlichung auf die Spitze trieben.

    Diese Erscheinung hing zusammen mit der Tatsache, da in den An-fangsphasen der russischen Revolution die damals noch unorganisierteproletarische Masse in spontanen Demonstrationen und Streiks eine ausschlaggebende Rolle spielte. Daraus ergaben sich Vergleiche mit derPassivitt, die die radikalen Marxisten damals schon der in den Gewerkschaften und in den sozialdemokratischen Parteien Mittel- und Westeuropas organisierten Arbeiterschaft vorwarfen. Bei der von Marxistenwie Rosa Luxemburg und Henriette Roland Holst gebten Verherrlichung des Massenstreiks wurden der Masse als solcher sogar Tugendenzugeschrieben, die weit ber die des organisierten Proletariats hinausgingen; und es verdient Beachtung, da gerade Frauen bei dieser Heroi-sierung eine Hauptrolle spielten. Es ist bezeichnend fr jene Epoche, daeine der verbreitetsten kommunistischen Zeitschriften den Namen theMasses bzw. the New Masses whlte. Dietrotzkistischenund leninistischenTheoretiker unterbauten diese neue Terminologie mit einer soziologischenLehre, die den bis dahin gangbaren Begriff des Proletariats erheblicherweiterte. Neben der eigentlichen Industriearbeiterschaft sollten dieMassen fortan auch den grten Teil der Bauernschaft, das Stehkragen-proletariat, den "Fnften Stand" der dauernd Arbeitslosen und denproletarisierten Mittelstand umfassen.Whrend man auf dieser Seite zu einem erweite rten Begriff der V er

    massung als Proletarisierung der groen Mehrheit des Volkes vordrngte,

    MASSE UND VERMASSUNG 43wandten "brgerliche" Gelehrte der psychologischen Seite des PhnomensMasse ihre Aufmersamkeit zu. Besonders seit der Jahrhundertwendehuften sich die Studien, die auf dem Gedanken beruhten, da dieMassen sich anders verhalten als die einzelnen Menschen, die sie bilden.Besonders Italiener (wie Vilfredo Pareto) nahmen daran teil, danebenauch der Franzose Gustave Le Bon mit seinem damals aufsehenerregenden Buch La Psychologie des Foules und etwas spter der Spanier Ortegay Gasset mit seiner ebenfalls viel besprochenen La Rebellion de lasMasas. Ursprnglich wurde dabei die Masse vielfach als Menge aufgefat, d. h. als physisches Konglomerat einer groen Anzahl von Menschen, wie sie inVersammlungen, bei Straenauflufen, Demonstrationenoder Aufstnden vorkommt. Nach und nach aber entwickelte sich derBegriff einer Masse, die nicht auf physischer Zusammenballung, sondernauf soziologischer Schicksalsgemeinschaft und auf der Identitt derpsychologischen Einwirkungen und Reaktionen beruht. Am weitestendrfte Ortega y Gasset in dieser Richtung gegangen sein, indem ersagte, der Ausdruck Masse bezeichne nicht eine gesellschaftliche Unter- Hschicht, sondern ein V erhalt en, das viel eher dem gelufigen Begriff desDurchschnittsmenschen entspreche, im Gegensatz .zur "Elite" oder zurAristokratie im weitesten Sinne des Wortes.2

    Es lt sich also sowohl auf soziologischer wie auf psychologischerSeite eine Tendenz feststellen, bis zu einem gewissen Grade zu der ursprnglichen Auffassung einer nicht in die Gesellschaftshierarchie eingebauten und nicht persnlich differenzierten Masse zurckzukehren.

    Merkwrdigerweise ergibt sich aus diesen Elementen eine synthetischeAuffassung, die st.'arke .Ahnlichkeiten aufweist mit der Verwendung desBegriffs Masse in der Physik und in den exakten Wissenschaften berhaupt; und ebenso merkwrdigerweise stimmt diese Deutung mit demursprnglichen lateinischen Sinn des Wortes weitgehend berein. DerAusdruck Masse ha t zwar auch in der Physik, besonders in der neuerenelektro-magnetischen Physik, verschiedene Bedeutungen; allen gemeinsamist indes die Vorstellung des rein Mengenmigen und Undifferenzierten, des Mangels an Eigenbewegung, des Bestimmtseins durch uereKrfte, denen die Masse "Widerstand" oder "Objekt" ist.

    Auch soziologisch betrach tet erscheint die Masse wie die Summe einerAnzahl von nicht differenzierten Komponenten, ohne andere Eigenschaften als die, die sich aus ihrer Gre, ihrem Gewicht oder anderen numerisch fabaren Merkmalen ergeben. Das wesentliche Kennzeichen einerderart aufgefaten sozialen Masse ist demnach, negativ a u s g e d r d ~ t , der

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    44 MASSE UND VERMASSUNGMangel an individueller Differenzierung, an Initiative, Originalittund Bewutsein. Die Masse ist Quantitt ohne Qualitt. Sie ist imHegeischen Sinne nicht Subjekt, sondern Objekt: Auch wenn sie glaubtzu schieben, wird sie noch geschoben. Auer in den seltenen Fllen, wosie als physische Menge auftritt, erscheinen die biologischen Individuen,die sie zusammenstellen, wie bloe statistische Einheiten, die sich inZahlen auflsen. Sie ist nicht schpferisch, sondern nur empfnglich; sieagiert nicht, sie reagiert nur.

    Der so definierte Begriff der Masse stimmt mit dem berein, was alsder dauernde und wesenhafte, von vorbergehenden Zeiteinflssen unberhrte Kern der im Sprachgebrauch verankerten Anschauungen zutagetritt. Er stellt berdies den besten Schlssel dar zum Verstndnis dessozialpsychologischen Phnomens der Vermassung, das zu den aufflligsten Erscheinungen unserer Kulturepoche gehrt.

    Der Ausdruck Vermassung, der brigens nur in der deutschen Sprachevon der lateinischen Wurzel abgeleitet werden kann, ist nicht schn -ebensowenig wie die Wirklichkeit, die er bezeichnet. Er macht jedochdeutlich, was gemeint ist: Ein Zustand, in dem das gesellschaftliche undhistorische Geschehen vom V erha lten der Massen bestimmt wird.

    Unter Masse ist hier weit mehr zu verstehen als eine Menge odereine bestimmte gesellschaftliche Schicht. Da das entscheidende Merkmalein nicht selbstbestimmtes, sondern reaktives Verhalten ist, gehrt jederMensch zu einer Masse, sofern er zusammen mit andern Gegenstand vonEinwi rkung en ist, die sein V erhal ten bestimmen. Die Kufer einer Ware,die bei ihrer Auswahl dem Einflu der Reklame unterliegen oder ausgesellschaftlichem Konformismus der Mode oder dem Beispiel einer sozialen Oberschicht folgen, bilden eine Masse, auch wenn sie den verschiedensten Klassen angehren und nichts voneinander wissen. Dasselbe giltvon den Menschen, die etwa durch Presse und Radio in gleicher propa-gandistischer Richtung bearbeitet werden, auch wenn sie sonst in keinerleiHinsicht eine soziale Gemeinschaft bilden. Die Mitglieder der Oberschichten, die in einer dieser Beziehungen konform reagieren, gehren zueiner Masse, whrend ein einfacher Arbeiter oder Bauer, der auf dementsprechenden Gebiet selbstndig denkt, nicht dazu gehrt. Ein jeder vonuns ist in dem Grade Massenmensch, wie sein soziales Verhalten aufirgendeinem Sondergebiet durch Masseneinwirkungen bestimmt wird.Auch der Wissenschaftler, der in seinem eigenen Fach originell undschpferisch denkt, ist Objekt der Vermassung, wenn er als Kufer einesMarkenartikels bewut oder unbewut der suggestiven Wirkung einer

    MASSE UND VERMASSUNG 45Massenreklame erliegt, oder wenn er am Radio die gleiche Darstellungdes \"1eltgeschehens zu hren bekommt wie Millionen anderer Menschen,oder wenn er als homo politicus irgendeiner Propaganda zum Opferfllt, die zu seinem Wissensgebiet zu wenig Beziehungen hat, als da ersich hier auf sein kritisches Urteilsvermgen verlassen knnte.

    Insofern ist es angezeigt, von den Massen im Plural zu sprechen, wennman das gesellschaftliche Ganze im Auge hat. Genau genommen, entspricht jeder besonderen Art von Einwirkung eine besondere Masse.Jedod1 die Grenzlinien berschneiden sich so, da es einen geometrischenOr t gibt, wo man den Menschen, der jeder Form der Vermassung unterliegt, als totalen Massenmenschen ansprechen kann, und wo demnach"die Masse" liegt. Das ist nicht blo eine theoretische Spekulation. Inden meisten "vorgeschrittenen" Lndern befindet sich weitaus der grteTeil der Bevlkerung in einem Zustand, der nur in unerheblichen Punk-ten von diesem totalen Typ abweicht. Die Unterschiede hngen mehrmit dem Geschlecht und mit dem Alter zusammen als mit der sozialenStellung oder gar mit dem Bildungsgrad. Die Frauen z. B. richten sichin der Regel mehr nach der Mode als die Mnner, und die Sportbegeisterung, wie sie sich nicht nur in der aktiven Bettigung, sondern auchim supporting und im Wetten bettigt, ist unter der jngeren Generationverbreiteter als unter der lteren. Von diesen Schattierungen abgesehen,gibt es nur in einer Minderheit von Fllen nennenswerte Abweichungenvom Typ des Massenmenschen, dessen Verhalten als Konsument durchMode und Reklame, als Staatsbrger durch Propaganda, und als sozialesWesen berhaupt durch Nachahmung von gesellschaftlichen Vorbildernbestimmt ist.

    Schon hieraus geht hervor, da Vermassung und Proletarisierung,obwohl es zwischen beiden Erscheinungen manmerlei Beziehungen gibt,keineswegs dasselbe sind. Einen konkreten Beweis dafr liefert Nord-amerika, wo die Vermassung noch weiter vorgeschritten ist als in Europa,die Mehrheit der Bevlkerung jedoch nicht zum Proletariat gerechnetwerden kann. Dafr sieht man hier am deutlichsten, da die Masse technologisch aus der Med1anisierung, konomisch aus der Standardisierung,soziologisch aus der Anhufung und politisch aus der Demokratie entsteht.

    Es wre falsch, die \Yfirkung der Mechanisierung so aufzufassen, alsob es sich hierbei nur um das Verhltnis zwischen Arbeiter und Maschinehandelte. Es steht viel mehr auf dem Spiel. Das, was der junge Marxdie Entmenschlichung der Arbeit genannt hat, ist nicht der Maschineallein zuzuschreiben. Es gibt sogar viele Flle, wo die Maschine die

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    46 MASSE UN D VERMASSUNGArbeit auf eine hhere Stufe der Qualifiziertheit gehoben hat. Gewi,die Arbeit am laufenden Band in einer Automobilfabrik ist eintnig undgeistttend im Vergleich mit der eines mittelalterlichen Handwerkers;dabei soll ma n aber nicht vergessen, da lange nicht alle Arbeiter dervorindustriellen Zeit herrliche Demiurgen waren, und da heute langenicht alle Fabrikarbeit entseelt und entmenschlicht ist.Es hat zu allen Zeiten Arbeitsaufgaben gegeben, die mit geistloserPlackerei, eintniger Wiederholung und physischer beranstrengungverbunden waren. Viele Arbeiten dieser Kategorie sind gerade durch dieEinfhrung von Maschinen hher qualifiziert worden: der Hafen- undder Walzwerkarbeiter sind nicht entwrdigt, weil Hebekrane dieschwersten Lasten von ihren Schultern genommen haben, so da vonihren Muskeln weniger und von ihrem Hirn mehr verlangt wird. DieArbeit des Bauern, der landwirtschaftliche Maschinen benutzt, ist abwechslungsreicher und erfordert mehr Intelligenz als die seiner Vorfahren. Die Hausfrau oder Nherin, die eine moderne Nhmaschinegebraucht, erspart sich damit eine Menge langweiliger Arbeit; der Lokomotivfhrer steht sowohl als homo /aber wie als homo sapiens hochber seinem Vorgnger, dem Postkutscher; und der Maschinenmeister,dem eine Rotationspresse oder eine andere voll automatisierte Maschineanvertraut ist, ist weniger ihr Sklave als ihr Herr, denn sie verrichtetdie ganze schwere Arbeit unter seiner Fhrung und seiner Kontrolle.3Dennoch ist das Schlagwort von der Entmenschlichung der Arbeitim Maschinenzeitalter nicht sinnlos. Sehr im Gegenteil: Es ist damitviel mehr gemeint, als da die Maschine den Arbeiter, der sie bedient,cutqualifiziert htte. Gerade wenn wir den in diesem Zusammenhangso of t angefhrten mittelalterlichen Handwerker als Vergleichsmastabnehmen, fallen noch ganz andere Unterschiede auf als die Verdrngungder Hand- durch Maschinenarbeit. Der Handwerker stellte allein undselbstndig ein fertiges Produkt her; der moderne Arbeiter dagegen beschrnkt sich in der Regel auf eine Teilverrichtung, was seiner Anstrengung einen wesentlichen Teil ihres schpferischen Sinnes nimmt. Eskommt hinzu, da diese Teilverrichtung in vielen Fllen so oft wiederholt werden mu, da sie Langeweile und Abstumpfung verursacht. Alldiese Erscheinungen gehren jedoch zum Wesen der Arbeitsteilung, dieviel lter ist als der Gebrauch von Maschinen. Zwei Jahrhunderte sindbereits vergangen, seit Adam Smith in seiner klassischen Analyse derStecknadelfabrikation die Arbeitsteilung beschrieb, die dem Handwerklange vor der Einfhrung der Dampfmaschine das Totenglckchen

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    MASSE UND VERMASSUNG 47lutete. Die Bergarbeiter jener Zeit, die endlose Leitern erklettern unddurch Drehen von Handkurbeln die Kohle in Krben heraufziehen muten, litten mehr unter der Schinderei repetitiver Ftonarbeit als ihre Nachfolger seit der Einfhrung maschineller Aufzge.

    berdies war es die Regel, da der Handwerker seine Werkstatt unds ~ i n e y.'erkzeug.e besa, die Rohstoffe kaufte und das vollendete Erzeugms semer Arbeit dem Verbraucher verkaufte. All dies verlieh ihm einewirtschaftliche Unabhngigkeit, wie sie dem Lohnarbeiter, der am Besitzder Produktionsmittel und am Absatz der Produkte keinen Anteil hatvllig fehlt. Ferner arbeitete der Handwerker gewhnlich mit e i n e ~oder zwei Gesellen oder Lehrlingen zusammen, die oft in seiner Familielebten und damit rechnen konntent da auch sie eines Tages Meisterwerden wrden; die meisten Lohnarbeiter dagegen unterstehen ihrLeben lang eine