Herausforderung Zukunft – Technischer Fortschritt und ... · nik und deren Segnungen zunehmend...

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Herausforderung Zukunft – Technischer Fortschritt und Globalisierung Michael F. Jischa Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen“: So lautete der Titel der GVC/DECHEMA- Jahrestagungen 2006. Im Folgenden soll das Thema in einen größeren Rahmen gestellt werden, bezeichnet als Herausforderung Zukunft. So lautet der Titel meines gleichnamigen Buches mit dem Untertitel Technischer Fortschritt und Globalisierung [1], dem die hier gezeig- ten Bilder und Tabellen entnommen sind. Interessant ist zunächst die Frage, warum und seit wann wir darüber nachdenken. 1 Die Bewusstseinswende der sechziger Jahre Bis vor gut drei Jahrzehnten war der Fort- schrittsglaube überall in der Welt ungebro- chen. Insbesondere die Aufbauphase in unse- rem Land nach dem Zweiten Weltkrieg wurde davon getragen. Die Erde schien über nahezu unerschöpfliche Ressourcen zu verfügen, und die Aufnahmekapazität von Wasser, Luft und Boden für Schadstoffe und Abfälle schien un- begrenzt zu sein. Die Segnungen von Wissen- schaft und Technik verhießen geradezu para- diesische Zustände. Alles schien machbar zu sein, und man glaubte, dass Wohlstand für alle – und damit auch für die Entwicklungsländer – nur eine Frage der Zeit sei. Die Entwicklungsländer und die Länder des ehemals kommunistischen Teils der Welt huldigen nach wie vor uneinge- schränkt dem Fortschrittsglauben, während dieser in der industrialisierten Welt zuneh- mend ins Wanken geriet. Ironischerweise be- durfte es erst des Wohlstands, damit die im Wohlstand lebenden Gesellschaften die Tech- nik und deren Segnungen zunehmend skep- tisch beurteilten. 1969 landeten zwei US-Astro- nauten als erste Menschen auf dem Mond. Dies markierte einerseits einen Höhepunkt der Technikeuphorie. Andererseits wurde über die Fernsehschirme die Botschaft zu uns ge- tragen, dass unser Raumschiff Erde endlich ist und dass wir alle in einem Boot sitzen. In den Wohlstandsgesellschaften der west- lichen Welt wurde in den sechziger Jahren eine Bewusstseinswende sichtbar [2]. Mit dem Kürzel „1968er Bewegung“ bezeichnen wir in unserem Land eine Reihe von ineinander grei- fenden gesellschaftlichen Prozessen, die in hohem Maße von studentischen Aktivitäten getragen wurden. Dazu gehörten Friedens- bewegungen, Frauenbewegungen, massive Proteste gegen die Kernenergie, gegen die Or- dinarienuniversität („unter den Talaren Muff von 1000 Jahren“) und nicht zuletzt gegen die Umweltzerstörungen. Aus den ökologischen Bewegungen ist mit den „Grünen“ eine offen- kundig stabile politische Kraft hervorgegan- gen. Die Bewusstseinswende manifestierte sich in unterschiedlicher Weise. Zum einen wurde 1968 der Club of Rome gegründet. Die Initia- tive hierzu ging von dem Fiat-Manager Aurelio Peccei und dem OECD-Wissenschaftsmanager Alexander King aus. Sie setzten sich zum Ziel, gleich gesinnte Persönlichkeiten aus Wirt- schaft und Politik zu gewinnen, um gemein- sam über die für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Herausforderungen zu disku- tieren. Hierfür prägten sie die Begriffe „World Problematique“ und „World Resolutique“. Ihre erste Analyse war erstaunlich weitsichtig, sie betraf drei Punkte: . die Bedeutung eines holistischen Ansatzes zum Verständnis der miteinander vernetz- ten Weltprobleme, . die Notwendigkeit von langfristig angeleg- ten Problemanalysen und . die Aufforderung „global denken und lokal handeln“. Das bedeutete eine Vorwegnahme des Leit- bildes Nachhaltigkeit. Schon 1962 hatte die amerikanische Bio- login Carson mit ihrem inzwischen zum Kult- Ironischerweise bedurfte es erst des Wohlstands, damit die im Wohl- stand lebenden Gesellschaften die Technik und deren Segnungen zu- nehmend skeptisch beurteilten. Sustainable Development 29 Chemie Ingenieur Technik 2007, 79, No. 1-2 © 2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.cit-journal.de DOI: 10.1002/cite.200600142

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Herausforderung Zukunft –Technischer Fortschritt undGlobalisierungMichael F. Jischa

„Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen“: So lautete der Titel der GVC/DECHEMA-

Jahrestagungen 2006. Im Folgenden soll das Thema in einen größeren Rahmen gestellt

werden, bezeichnet als Herausforderung Zukunft. So lautet der Titel meines gleichnamigen

Buches mit dem Untertitel Technischer Fortschritt und Globalisierung [1], dem die hier gezeig-

ten Bilder und Tabellen entnommen sind. Interessant ist zunächst die Frage, warum und

seit wann wir darüber nachdenken.

1 Die Bewusstseinswende dersechziger Jahre

Bis vor gut drei Jahrzehnten war der Fort-schrittsglaube überall in der Welt ungebro-chen. Insbesondere die Aufbauphase in unse-rem Land nach dem Zweiten Weltkrieg wurdedavon getragen. Die Erde schien über nahezuunerschöpfliche Ressourcen zu verfügen, unddie Aufnahmekapazität von Wasser, Luft undBoden für Schadstoffe und Abfälle schien un-begrenzt zu sein. Die Segnungen von Wissen-schaft und Technik verhießen geradezu para-diesische Zustände.

Alles schien machbar zu sein, und manglaubte, dass Wohlstand für alle – und damitauch für die Entwicklungsländer – nur eineFrage der Zeit sei. Die Entwicklungsländerund die Länder des ehemals kommunistischenTeils der Welt huldigen nach wie vor uneinge-schränkt dem Fortschrittsglauben, währenddieser in der industrialisierten Welt zuneh-mend ins Wanken geriet. Ironischerweise be-durfte es erst des Wohlstands, damit die imWohlstand lebenden Gesellschaften die Tech-nik und deren Segnungen zunehmend skep-tisch beurteilten. 1969 landeten zwei US-Astro-nauten als erste Menschen auf dem Mond.Dies markierte einerseits einen Höhepunktder Technikeuphorie. Andererseits wurde überdie Fernsehschirme die Botschaft zu uns ge-tragen, dass unser Raumschiff Erde endlich istund dass wir alle in einem Boot sitzen.

In den Wohlstandsgesellschaften der west-lichen Welt wurde in den sechziger Jahreneine Bewusstseinswende sichtbar [2]. Mit demKürzel „1968er Bewegung“ bezeichnen wir in

unserem Land eine Reihe von ineinander grei-fenden gesellschaftlichen Prozessen, die inhohem Maße von studentischen Aktivitätengetragen wurden. Dazu gehörten Friedens-bewegungen, Frauenbewegungen, massiveProteste gegen die Kernenergie, gegen die Or-dinarienuniversität („unter den Talaren Muffvon 1000 Jahren“) und nicht zuletzt gegen dieUmweltzerstörungen. Aus den ökologischenBewegungen ist mit den „Grünen“ eine offen-kundig stabile politische Kraft hervorgegan-gen.

Die Bewusstseinswende manifestierte sichin unterschiedlicher Weise. Zum einen wurde1968 der Club of Rome gegründet. Die Initia-tive hierzu ging von dem Fiat-Manager AurelioPeccei und dem OECD-WissenschaftsmanagerAlexander King aus. Sie setzten sich zum Ziel,gleich gesinnte Persönlichkeiten aus Wirt-schaft und Politik zu gewinnen, um gemein-sam über die für die Zukunft der Menschheitentscheidenden Herausforderungen zu disku-tieren. Hierfür prägten sie die Begriffe „WorldProblematique“ und „World Resolutique“. Ihreerste Analyse war erstaunlich weitsichtig, siebetraf drei Punkte:� die Bedeutung eines holistischen Ansatzes

zum Verständnis der miteinander vernetz-ten Weltprobleme,

� die Notwendigkeit von langfristig angeleg-ten Problemanalysen und

� die Aufforderung „global denken und lokalhandeln“.Das bedeutete eine Vorwegnahme des Leit-

bildes Nachhaltigkeit.Schon 1962 hatte die amerikanische Bio-

login Carson mit ihrem inzwischen zum Kult-

Ironischerweisebedurfte es erstdes Wohlstands,damit die im Wohl-stand lebendenGesellschaften dieTechnik und derenSegnungen zu-nehmend skeptischbeurteilten.

Sustainable Development 29Chemie Ingenieur Technik 2007, 79, No. 1-2

© 2007 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.cit-journal.de

DOI: 10.1002/cite.200600142

buch der Ökologiebewegung avancierten Band„Der stumme Frühling“ [3] ein aufrüttelndesSignal gesetzt. Zehn Jahre später schockierteder erste Bericht an den Club of Rome „DieGrenzen des Wachstums“ [4] die Öffentlich-keit; das Buch erreichte eine Auflage von über10 Mio. Exemplaren. Knapp zehn Jahredanach wurde der von James Carter, dem da-maligen Präsidenten der USA, initiierte Be-richt „Global 2000“ [5] vorgestellt. Im Jahr1987 erschien der Brundtland-Bericht derWeltkommission für Umwelt und Entwick-lung mit dem Titel „Our Common Future“und kurz darauf die deutsche Version „Unseregemeinsame Zukunft“ [6]. Dieser Bericht hatentscheidend dazu beigetragen, das LeitbildSustainable Development einer größeren Öffent-lichkeit nahe zu bringen. Die Diskussion er-reichte einen vorläufigen Höhepunkt mit derAgenda 21, dem Abschlussdokument der Rio-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992[7].

Die Rio-Konferenz hat die Situation in dras-tischer Weise deutlich gemacht. Gelingt es denEntwicklungsländern, das Wohlstandsmodellder Industrieländer erfolgreich zu kopieren(was sie mit unserer Hilfe mehr oder wenigererfolgreich versuchen), so wäre das der ökolo-gische Kollaps des Planeten Erde. Davon kannman sich leicht überzeugen, wenn man denderzeitigen Verbrauch an Primärenergie undRohstoffen der Industrieländer sowie die da-mit verbundenen Umweltprobleme auf dieEntwicklungsländer hochrechnet. Somit lautetdie schlichte Erkenntnis, dass die Dritte Weltnicht mehr so werden kann, wie die Erste jetztist, und die Erste zwangsläufig nicht mehr sobleiben kann, wie sie noch ist. Kurz formuliert:Das Wohlstandsmodell der Ersten Welt istnicht exportfähig.

Offenbar befinden wir uns „am Ende desBacon’schen Zeitalters“ [8], wobei wir die neu-zeitliche Wissenschaft als die Epoche Baconsbezeichnen. Denn in unserem Verhältnis zurWissenschaft ist eine Selbstverständlichkeit ab-handen gekommen, nämlich die Grundüber-zeugung, dass wissenschaftlicher und techni-scher Fortschritt zugleich und automatischhumanen und sozialen Fortschritt bedeuten.Die wissenschaftlich-technischen Errungen-schaften bewirken neben dem angestrebtenNutzen immer auch Schäden, die als Folge-und Nebenwirkungen die ursprünglichen Ab-sichten konterkarieren.

Der Begriff Nachhaltigkeit ist keine Erfin-dung unserer Tage. Konzeptionell wurde ererstmals im 18. Jahrhundert in Deutschlandunter der Bezeichnung des nachhaltigen Wirt-schaftens eingeführt, als starkes Bevölkerungs-wachstum und zunehmende Nutzung des

Rohstoffes Holz als Energieträger und als Bau-material eine einschreitende Waldpolitik erfor-derlich machten. Als deutsche Rücküberset-zung des Begriffs Sustainable Development hatsich die Kurzform Nachhaltigkeit (= Sustainabi-lity) eingebürgert.

Die Überzeugungskraft des Leitbildes Sus-tainability = Nachhaltigkeit ist offensichtlichgroß. Mindestens ebenso groß scheint jedochdie Unverbindlichkeit dieses Leitbildes zusein, da die verschiedenen gesellschaftlichenund politischen Gruppen jeweils „ihrer“ Säule,also entweder der Wirtschaft, der Umwelt oderder Gesellschaft, eine besonders hohe Prioritätzuerkennen. Zielkonflikte sind vorprogram-miert, politische und gesellschaftliche Ausei-nandersetzungen belegen dies. Als Fazit seifestgehalten: Das Leitbild Nachhaltigkeit istallseits akzeptiert, aber diffus formuliert. Diefällige Umsetzung leidet sowohl an ständigenZielkonflikten als auch an fehlender Operatio-nalisierbarkeit.

Es kann heute nicht mehr darum gehen, wieNachhaltigkeit definiert wird. Entscheidend istdie Frage, wie Nachhaltigkeit in wirtschaft-liches und politisches Handeln umgesetzt wer-den kann, um der Herausforderung Zukunft zubegegnen. Welches sind nun die „traditionel-len“ Faktoren der Herausforderung Zukunft?Der Zusatz traditionell soll andeuten, dassdurch den Prozess der Globalisierung neueProblemfelder hinzugekommen sind, auf diespäter eingegangen wird.

2 Zentrale Faktoren derHerausforderung Zukunft

Zu den traditionellen Faktoren der Herausfor-derung Zukunft zählen die Bevölkerungs-, dieVersorgungs- und die Entsorgungsfalle. Mit demBegriff Falle soll die Dramatik verdeutlichtwerden. In Abb. 1 sind wesentliche Elementeder drei Fallen dargestellt.

Bevölkerungsfalle: Die Weltbevölkerung istzunächst sehr langsam gewachsen. Schätzun-gen ergeben für die Zeit um 10 000 v. Chr.etwa 5 Mio. Menschen. Von Christi Geburt andauerte es 1600 Jahre, bis die Bevölkerungs-zahl von 250 auf 500 Mio. zunahm, sich alsoverdoppelte. In der Folgezeit nahm die Ver-dopplungszeit deutlich ab. 1830 lebten 1 Mrd.Menschen, 2 Mrd. waren es 1930, 4 Mrd. 1974und 6 Mrd. waren 1999 erreicht.

Anhand konkreter Daten aus dem Weltbe-völkerungsbericht 2004 [10] werden regionaleUnterschiede deutlich. Dazu werden in Tab. 1dargestellt: Die Bevölkerungszahlen 2004sowie 2050 (mittlere Prognose) in Millionen,sowie die für den Zeitraum 2000 bis 2005

Gelingt es den Ent-wicklungsländern,das Wohlstandsmo-dell der Industrie-länder erfolgreichzu kopieren, sowäre das der ökolo-gische Kollaps desPlaneten Erde. DasWohlstandsmodellder Ersten Welt istnicht exportfähig.

Die wissenschaft-lich-technischenErrungenschaftenbewirken nebendem angestrebtenNutzen immer auchSchäden, die alsFolge- und Neben-wirkungen dieursprünglichenAbsichten konter-karieren.

Das Leitbild Nach-haltigkeit ist allseitsakzeptiert, aberdiffus formuliert.Die fällige Umset-zung leidet sowohlan ständigen Ziel-konflikten als auchan fehlender Opera-tionalisierbarkeit.

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prognostizierten Wachstumsraten r und Ge-burtenraten b in Prozent. Nach diesen Zahlenwird die Weltbevölkerung von etwa 6,4 im Jahr2004 bis 2050 auf etwa 8,9 Mrd. Menschen an-wachsen, also um 40 %. Der letzte Weltbe-völkerungsbericht von 2005 geht für das Jahr2050 von 9,1 statt von 8,9 Mrd. aus.

In der oberen Hälfte der Tabelle ist die Welt-bevölkerung in zwei Regionen unterteilt. Die„More Developed Regions“ (MDR) werdenauch als Industrieländer und die „Less Develo-ped Regions“ (LDR) als Entwicklungsländerbezeichnet. Danach wird in den nächstenknapp 50 Jahren der Anteil der Bevölkerungder derzeitigen Industrieländer von 18,9 auf13,7 % abnehmen und korrespondierend dazuder Anteil der Bevölkerung der derzeitigenEntwicklungsländer von 81,1 auf 86,3 % zu-nehmen. Dieses Verhältnis lag 1990 bei 23 zu77, es betrug 1970 etwa 30 zu 70, es lag 1900bei 35 zu 65 und 1750 bei 25 zu 75. In diesenZahlen spiegelt sich der Modernisierungspro-zess wider, der im 19. Jahrhundert zu demaußerordentlich starken Bevölkerungszuwachsin den heutigen Industrieländern geführt hat.Während schon seit einigen Jahren die Bevöl-kerung in den Industrieländern stagniert,findet der Bevölkerungszuwachs der Welt nun-mehr ausschließlich in den Ländern der Drit-ten Welt statt.

Eine Unterteilung der Entwicklungsländerwurde 1971 von den Vereinten Nationen vor-genommen. Aus der Gruppe der Länder derDritten Welt (LDR) wurden die ärmsten Län-der abgegrenzt, die teilweise auch als VierteWelt bezeichnet werden. Diese Abgrenzungstützt sich auf drei Indikatoren: Bruttoinlands-produkt pro Kopf, Anteil der industriellen Pro-duktion am Bruttoinlandsprodukt und Alpha-betisierungsrate. Diese Ländergruppe ist inTab. 1 mit „Least Developed Regions“ (LLDR)gemeint, und deren Anteil an der Weltbevölke-rung wird von 11,5 auf 18,7 % bis 2050 anstei-gen.

In der unteren Hälfte der Tabelle sind unsvertraute Regionen aufgeführt. Europa ist dereinzige Erdteil, dessen Bevölkerung nicht nurin relativen, sondern auch in absoluten Zahlenin den nächsten 50 Jahren deutlich abnehmenwird, der relative Anteil an der Weltbevölke-rung geht von 11,4 auf 7,1 % zurück. Der rela-tive Anteil Amerikas wird mit 8,6 % gleichbleiben und derjenige Asiens geringfügig zu-rückgehen, von 60,7 auf 58,5 %. Afrika wirdderjenige Kontinent sein, dessen Anteil an derWeltbevölkerung deutlich zunehmen wird, von13,6 auf 20 %.

Versorgungs- und Entsorgungsfalle: Die Res-sourcenfrage sei auf die Diskussion des Wel-tenergieverbrauchs beschränkt, der in Abb. 2

gemeinsamen mit der Entwicklung der Welt-bevölkerung seit der industriellen Revolutiondargestellt ist.

Während die Weltbevölkerung von 1900 bis2000 von 1,65 auf gut 6 Mrd. „nur“ um das gut3,5-fache angewachsen ist, ist der Primärener-gieverbrauch in dem gleichen Zeitraum umfast das 13-fache gewachsen! Er betrug 1900etwa 1 Mrd. t SKE, im Jahr 2000 lag er beiknapp 13 Mrd. t SKE.

Für den Vergleich der Heizwerte von Ener-gieträgern werden neben der Steinkohlenein-heit SKE als Vergleichsmaß auch die Rohölein-heit RÖE und die physikalische EnergieeinheitJoule verwendet. Dabei entsprechen 1 kg SKE

Abbildung 1. Zentrale Faktoren der Herausforderung Zukunft [1, 9].

Bev. 2004 in Mio. Bev. 2050 in Mio. r in %2000 – 2005

b in %2000 – 2005

Welt total 6378 8919 1,2 2,69

MDR 1206 (18,9 %) 1220 (13,7 %) 0,2 1,56

LDR 5172 (81,1 %) 7699 (86,3 %) 1,5 2,92

LLDR 736 (11,5 %) 1675 (18,7 %) 2,4 5,13

Europa 726 (11,4 %) 632 (7,1 %) –0,1 1,38

Amerika 551 (8,6 %) 768 (8,6 %) 1,3 2,55

Afrika 869 (13,6 %) 1803 (20 %) 2,2 4,91

Asien 3871 (60,7 %) 5222 (58,5 %) 1,4 2,53

Tabelle 1. Demografische Indikatoren 2004 und 2050, mittlere Prognose nach [10].

Abbildung 2. Weltbevölke-rung und Weltenergiever-brauch seit der industriellenRevolution [1, 9].

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= 0,7 kg RÖE = 29,309 MJ. Es wird angenom-men, dass der Weltenergieverbrauch in 20 Jah-ren um 50 % höher sein wird als heute, alsobei etwa 20 Mrd. t SKE liegen wird. Ergänzenddazu ist in Abb. 3 die Energiegeschichte derMenschheit dargestellt.

Bis zur industriellen Revolution lebte dieMenschheit in einer ersten solaren Zivilisa-tion. Als Energie standen die menschliche unddie tierische Arbeitskraft, das Feuer durch Ver-brennen von Holz und Biomasse sowie Wind-und Wasserkraft zur Verfügung. In groß-technischem Maßstab wird Kohle seit Beginnder industriellen Revolution, also seit gut 200Jahren genutzt. Mit dem zweiten großen fossi-len Primärenergieträger, dem Erdöl, begannvor gut 100 Jahren der Aufstieg zweier Indus-triezweige, die maßgeblich an unserem heuti-gen Wohlstand beteiligt sind: Automobilindus-trie und Großchemie. Erdgas trägt als dritterfossiler Primärenergieträger erst seit gut 50 Jah-ren, zeitgleich mit der Nutzung der Kernener-gie, zum Energieangebot bei. Auf die drei ge-nannten fossilen Primärenergieträger entfallenderzeit knapp 90 % und auf die Kernenergie gut5 % der Weltenergieversorgung. Die restlichen5 % werden im Wesentlichen durch Wasserkraftgedeckt. Wind- und Sonnenenergie spielenheute noch eine untergeordnete Rolle.

Seit Beginn der industriellen Revolution ver-halten wir uns nicht wie ein seriöser Kauf-mann, der von den Zinsen seines Kapitals lebt.In geologischen Zeiträumen hat die Erde Son-nenenergie in Form von Kohle, Erdöl und Erd-gas akkumuliert. Die Menschheit wird zumVerfeuern der gesamten Vorräte nur wenigeJahrhunderte oder gar Jahrzehnte benötigen.

Ohne an dieser Stelle auf genaue Definitio-nen von Ressourcen, wahrscheinlichen undsicheren Reserven einerseits sowie auf stati-sche und dynamische Reichweiten anderer-seits einzugehen, sei kurz gesagt: Kohle, Erdölund Erdgas stehen nur noch für einen Zeit-raum zur Verfügung, der etwa der bisherigenNutzungsdauer entspricht. Es ist daher berech-tigt, das erst gut 200 Jahre währende fossileZeitalter als Wimpernschlag in der Zivilisa-tionsgeschichte zu bezeichnen. Die Frage wirdsein, ob die Menschheit nach der langen ers-ten solaren Zivilisation, unterbrochen durcheine sich dem Ende zuneigende fossile Ener-giephase, in eine zweite intelligente solareZivilisation einsteigen wird, oder ob sie einenmassiven Ausbau der Kernenergie, die eineBrütertechnologie sein müsste, betreiben wird.

In der Diagnose sind sich alle Experten ei-nig: Die Welt befindet sich in einem Übergangvon dem heutigen Energiesystem, basierendauf den fossilen Primärenergieträgern Kohle,Erdöl und Erdgas, hin zu einem neuen Welt-energiesystem. Wie dieses aussehen könnte,darüber gehen die Meinungen auseinander,was vor allem die zukünftige Rolle der Kern-energie betrifft.

In Abb. 4 ist unser heutiges Energiesystemdargestellt. Wir gewinnen Kohle, Erdöl undErdgas sowie Uran aus der Erde, der Umwelt.Über entsprechende Aufbereitungs- undWandlungsprozesse wird daraus Sekundär-energie für die verschiedenen Verwendungs-zwecke. Anschließend werden die Rest- unddie Schadstoffe (hierzu zählen Abwässer, Ab-luft, Staub, Aschen, Abwärme) nach einer ge-eigneten Weiterbehandlung wieder in die Um-welt (in Boden, Luft und Wasser) abgegeben.Es handelt sich um ein offenes System, daskeine Zukunft haben kann, mit einem Versor-gungsproblem auf der Inputseite und einemEntsorgungsproblem auf der Outputseite. Da-mit wird deutlich, dass unser derzeitiges Ener-giesystem sowohl aus Versorgungs- als auch ausEntsorgungsgründen nicht zukunftsfähig ist.

Viele Gründe sprechen dafür, dass wir, wiein Abb. 3 angedeutet, in eine zweite solareZivilisation einsteigen werden. Hierfür stehenviele Optionen offen – zum einen die Um-wandlung von Sonnenenergie in elektrischenStrom mittels solarthermischer Kraftwerkeund (als Insellösungen) durch Fotovoltaik.

Abbildung 3. Energiegeschichte der Menschheit [1, 9], in Anlehnung an Hubbert(s. C.-J. Winter, Die Energie der Zukunft heißt Sonnenenergie, Droemer Knaur,München 1993).

Abbildung 4. Heutige Energieversorgung [1, 9, 11].

Es ist berechtigt,das erst gut200 Jahre währendefossile Zeitalter alsWimpernschlag inder Zivilisationsge-schichte zu bezeich-nen.

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Hinzu kommt die vielfältige indirekte Nut-zung der Sonnenenergie in Form von Wind,Laufwasser und insbesondere Biomasse.

Neue Problemfelder sind durch den Prozessder Globalisierung deutlich geworden. Er wur-de durch die enorme Beschleunigung destechnischen Fortschritts in den Informations-technologien ausgelöst.

3 Technischer Fortschritt undGlobalisierung

Aus philosophischer Sicht beschreiben zweiAussagen unsere heutige Situation plastisch:

Wir leben in einer Zeit der „Gegenwarts-schrumpfung“ [12]. Denn wenn wir wie LübbeGegenwart als die Zeitdauer konstanter Le-bens- und Arbeitsverhältnisse definieren, dannnimmt der Aufenthalt in der Gegenwart stän-dig ab. Als eine Folge der unglaublichenDynamik des technischen Wandels rückt dieunbekannte Zukunft ständig näher an dieGegenwart heran. Gleichzeitig wächst in derGesellschaft die Sehnsucht nach dem Dauer-haften, dem Beständigen. Der Handel mitAntiquitäten, Oldtimern und Repliken blüht,weil diese das Dauerhafte symbolisieren.

Zugleich gilt eine für Entscheidungsträger,ob in Wirtschaft oder Politik, ernüchterndeErkenntnis, die kurz das „Popper-Theorem“genannt werden kann [13]: Wir können immermehr wissen, und wir wissen auch immermehr. Aber eines werden wir niemals wissenkönnen, nämlich was wir morgen wissen wer-den, denn sonst wüssten wir es bereits heute.

Das bedeutet, dass wir zugleich immer klü-ger und immer blinder werden. Mit fortschrei-tender Entwicklung der modernen Gesell-schaft nimmt die Prognostizierbarkeit ihrerEntwicklung ständig ab. Niemals zuvor in derGeschichte gab es eine Zeit, in der die Gesell-schaft so wenig über ihre nahe Zukunftgewusst hat wie heute. Gleichzeitig wächst dieZahl der Innovationen ständig, die unsereLebenssituation strukturell und meist irrever-sibel verändert.

Technische Innovationen haben stets Aus-wirkungen auf die Gesellschaft gehabt. VieleAuswirkungen waren und sind zunächst kaumwahrnehmbar, da sie schleichend die Gesell-schaft durchdringen. Von entscheidender Be-deutung sind radikale Innovationen, die zumassiven Veränderungen gesellschaftlicherStrukturen führen können. In der Geschichtehat sich die Menschheit stets dynamisch ent-wickelt, ein Prozess, der als Zivilisationsdyna-mik bezeichnet werden kann. Diese ist bislangdurch zwei fundamentale Revolutionen ge-prägt worden, die zu gewaltigen Steigerungen

der Produktivität und zu massiven Verände-rungen der Gesellschaft geführt haben: dieneolithische Revolution sowie die wissenschaft-liche und industrielle Revolution. Wir erlebenderzeit den Beginn einer neuen Epoche derMenschheitsgeschichte, die digitale Revolution,und befinden uns im Übergang von der Indus-triegesellschaft in die Informationsgesell-schaft.

Abb. 5 zeigt diese Entwicklung in qualita-tiver Form, in Anlehnung an ein internesPapier von P. Johnston, Europäische Kommis-sion, mit dem Titel „Technology driving Change:Perspectives for a Global Information Society“.Auf der horizontalen Achse ist die zentraleQuelle (die „Ressource“) der jeweiligen Gesell-schaftstypen aufgetragen. Sie kann auch alseine Zeitachse interpretiert werden, denn dieÜbergänge erfolgten in zeitlicher Abfolge. Aufder vertikalen Achse ist die Wertschöpfungaufgetragen, in heutiger Terminologie alsBruttoinlandsprodukt (BIP) in der EinheitEuro pro Kopf (capita) und Jahr.

Die Abbildung beschreibt den starkenAnstieg der Wertschöpfung (der Produktivität)bei den drei revolutionären Übergängen, vonder Jagd- zur Agrargesellschaft, von der Agrar-zur Industriegesellschaft und von der Indust-rie- zur Informationsgesellschaft. Die Begriffein Klammern geben die vorherrschende gesell-schaftliche Struktur wieder, wobei aus Grün-den der Prägnanz und Übersichtlichkeit dieenglischen Begriffe verwendet werden. Siesind bis auf das Wort Tribal (von tribe =Stamm) mit den deutschen Begriffen iden-tisch. Die Bezeichnung Global bedeutet nicht,dass die Informationsgesellschaft aus denNationalstaaten einen Globalstaat machenwird, sondern es soll angedeutet werden, dassdie Informationsgesellschaft globale Struktu-ren erzwingt. Der Begriff Informationsgesell-schaft wurde gewählt, weil hierzu das häufigverwendete englische Pendant InformationSociety existiert. Es wird sich herausstellen, obdieser Begriff Bestand haben wird. AlternativeBezeichnungen lauten Dienstleistungs-, Ser-

Abbildung 5. Technischer Wandel als Motor für gesellschaft-liche Veränderungen [1], in Anlehnung an Johnston (Europä-ische Kommission).

Mit fortschreitenderEntwicklung dermodernen Gesell-schaft nimmt diePrognostizierbarkeitihrer Entwicklungständig ab. Niemalszuvor in der Ge-schichte gab es eineZeit, in der die Ge-sellschaft so wenigüber ihre naheZukunft gewussthat wie heute.

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vice-, Wissens-, Wissenschafts- oder auch Wis-senstechnologiegesellschaft.

Ein Beleg dafür, dass die digitale Revolutionzu einer neuen Epoche in der Zivilisations-geschichte führt, ist die Berufswelt. Sie ist eintypischer Indikator für gesellschaftliche Um-brüche. Vor der neolithischen Revolution be-stand die vorherrschende Tätigkeit im Sam-meln und Jagen. In der Agrargesellschaft lagdas Schwergewicht der Beschäftigung in derLandwirtschaft, im Ackerbau und in der Vieh-zucht. Beim Übergang von der Agrar- indie Industriegesellschaft verschob sich derSchwerpunkt der Tätigkeit von der landwirt-schaftlichen Produktion hin zur industriellenFertigung.

Abb. 6 zeigt die Veränderungen in der Be-rufswelt in Deutschland seit 1882, der Blüte-

zeit der industriellen Revolution, entnommender Broschüre „Maßarbeit statt Massenware,Deutschland im globalen Strukturwandel“ desInstituts der deutschen Wirtschaft (IW). DieAbbildung zeigt zum einen, wie sich der relati-ve Anteil der Erwerbstätigen in den drei Berei-chen Landwirtschaft, Industrie und Dienstleis-tungen in den letzten 120 Jahren verschobenhat, und zum anderen, welcher Anteil derWertschöpfung in diesen drei Bereichen seit1970, dem Beginn der Digitalisierung der In-formationstechnologien, erbracht wurde.

Vor der industriellen Revolution haben um1750 mehr als 80 % der Erwerbstätigen in derLandwirtschaft gearbeitet. Ihr Anteil ist von43,4 (1882) auf 2,5 % (2003) zurückgegangen.Durch einen massiven Einsatz von Materialund insbesondere Energie ist die Nahrungs-

Abbildung 6. Veränderungenin der Berufswelt in Deutsch-land [1], aus Deutscher Insti-tuts-Verlag, 2004.

Ein Beleg dafür,dass die digitaleRevolution zu einerneuen Epoche inder Zivilisationsge-schichte führt, istdie Berufswelt.Sie ist ein typischerIndikator für ge-sellschaftliche Um-brüche.

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mittelproduktion in unserem Land so hoch,dass dieser geringe Anteil unserer Erwerbstäti-gen eine Eigenversorgung unseres Landes er-möglichen würde. Die Abnahme der landwirt-schaftlichen Tätigkeit korrespondierte in derBlütezeit der Industriegesellschaft mit einerallerdings schwächeren Zunahme der indust-riellen Beschäftigung. Deren Anteil lag zwi-schen 1920 und 1970 bei knapp 50 %. Seitetwa 1970 nimmt letzterer Anteil deutlich ab.

Dieser Abfall wurde seit jener Zeit durcheine steile Zunahme im Dienstleistungssektoraufgefangen – einem sehr heterogenen Sektor.Darunter fallen einerseits traditionelle Tätig-keiten, z. B. aus dem Bildungsbereich sowieaus den sozialen, pflegerischen und medizini-schen Bereichen, die wegen der Überalterungunserer Gesellschaft angewachsen sind. Weitergehören die Bereiche Verwaltung, Polizei undMilitär dazu. In jüngerer Zeit neu hinzu-gekommen ist ein deutlicher Anteil in den Be-reichen Touristik und Sport, charakteristischfür unsere „Freizeitgesellschaft“. Die entschei-dende Zunahme rührt jedoch von dem Ein-stieg in die Informationsgesellschaft her, diezu neuen Tätigkeitsfeldern, den „symbolanaly-tischen Diensten“ geführt hat, wie Reich [14]sie nennt. Abb. 6 enthält eine weitere bemer-kenswerte Botschaft: In dem durch neue Tätig-keitsfelder stark angewachsenen und veränder-ten „dritten“ Sektor der Erwerbstätigkeit liegtder Anteil der Wertschöpfung deutlich überdem Anteil der Beschäftigten. In den traditio-nellen Bereichen Landwirtschaft und Industrieliegt der Anteil der Wertschöpfung darunter.

Trotz aller Definitions- und Abgrenzungs-probleme ist die zentrale Botschaft unstrittigund eindeutig: Unser realer und durch Wer-bung erzeugter vermeintlicher Bedarf an land-wirtschaftlichen und industriell erzeugtenProdukten kann von einem geringen Prozent-satz unserer Erwerbstätigen vollständig ge-deckt werden. Ob der dritte Sektor, als Infor-mations-, Dienstleistungs- oder Service-Sektorbezeichnet, den starken Rückgang in der land-wirtschaftlichen und industriellen Produkti-onstätigkeit auch nur annähernd auffangenkann, erscheint mehr als fraglich.

Was folgt daraus, wenn der Einzelne nachwie vor seinen Wert innerhalb der Gesellschaftdurch seine Tätigkeit definiert? Es gibt seiteinigen Jahren Berufsfelder neuer Art, die eszuvor in der Gesellschaft kaum gegeben hat.Sie können als „dissipative“ oder „parasitäre“Tätigkeiten bezeichnet werden, deren Haupt-zweck darin besteht, an dem zu viel erzeugtenWohlstand zu partizipieren. Beispiele sindGolf-, Reit-, Ski-, Segel- und Surflehrer; Ani-mateure und Personal in Ferienclubs undHotels einschließlich des Flugpersonals in der

florierenden Tourismus- und Freizeitbranche;Stars und Sternchen in der Show-, Musik-,Kunst-, Sport-, Funk- und Fernsehszene; So-zialpädagogen und Psychologen, staatlicheoder halbstaatliche Umverteiler in den FeldernArbeit, Soziales und Gesundheit; Analysten so-wie Konflikt- und Kommunikationsberaterund vieles mehr. Die „Erlebnisgesellschaft“[15] schafft sich offenbar ihre eigenen spezifi-schen Tätigkeitsfelder. Ein Indikator dafür,dass wir in der „Freizeitgesellschaft“ angekom-men sind, ist der Individualverkehr. Mehr alsdie Hälfte aller mit dem Auto zurückgelegtenPersonenkilometer ist durch Freizeit undFerien bedingt, hat also mit der beruflichenTätigkeit nichts zu tun.

Auf diesen Wegen partizipieren die dissipa-tiven Tätigkeiten nicht nur an dem Wohlstand,sie erzeugen durch neue Tätigkeitsfeldergleichzeitig neuen Wohlstand. Es ist offenbarein Geheimnis des Kapitalismus, dass er nichtnur Wandel selbst erzeugt, sondern gleich-zeitig Mechanismen zur Lösung der neuentstandenen Probleme findet. Ob diese Me-chanismen etwas mit Nachhaltigkeit zu tunhaben, ist eine andere Frage.

Erst die Digitalisierung der Informations-technologien hat jenen Prozess in Ganggesetzt, der seit den 1990er Jahren als Global-isierung bezeichnet wird. Globalisierung istdas Verdichtungssymbol der heutigen Zeitschlechthin. Globalisierung ist ebenso un-scharf wie der Begriff Nachhaltigkeit, aberweitaus emotionsgeladener. Kaum ein anderesVerdichtungssymbol wird mit derart unter-schiedlichen Deutungsmustern belegt wie dieGlobalisierung. Bedeutet Globalisierung einbesseres Leben für alle, ein besseres Leben fürwenige, den „Terror der Ökonomie“ [16], denAbschied vom sozialen Konsens, den endgülti-gen Triumph oder die Selbstzerstörung des Ka-pitalismus oder gar den Untergang des Abend-landes? Laufen wir mit unseren politischenund sozialen Systemen in eine „Globalisie-rungsfalle“ [17], in eine neue Zivilisationsfalle?Ist Globalisierung Chance oder Bedrohung,schicksalhaft und unvermeidbar oder gestalt-bar, nur ein ökonomisches Phänomen, nureine Neuauflage der Standortdebatte oder letzt-lich ein Synonym für die eigentliche Frage: Wiewerden und wie wollen wir morgen leben?

Für alle Äußerungen lassen sich Belege inder stark angewachsenen Literatur zum The-ma Globalisierung finden. Angesichts desMegathemas Globalisierung, das in vielfältigerWeise unsere Arbeits- und Lebenswelt verän-dern wird und schon verändert hat, ist es nichtverwunderlich, dass sich hierzu neben Ökono-men auch Vertreter anderer Disziplinen wieder Soziologie, Politologie, Philosophie und

In dem durch neueTätigkeitsfelderstark angewach-senen und verän-derten „dritten“Sektor der Erwerbs-tätigkeit liegt derAnteil der Wert-schöpfung deutlichüber dem Anteilder Beschäftigten.

Erst die Digitali-sierung der Infor-mationstechnolo-gien hat jenen Pro-zess in Gang ge-setzt, der seit den1990er Jahren alsGlobalisierungbezeichnet wird.

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Theologie sowie verschiedene gesellschaftlicheGruppierungen aus dem Kreis der NGOs(Non-Governmental Organizations, z. B. attac)äußern.

Eine Zusammenstellung einschlägigerLiteratur ist in [1] zu finden. Aufgrund derdivergierenden Auslegungen und unter-schiedlichen Deutungsmuster verlangt dieBehandlung dieses Themas eine besondereSensibilität. Daher habe ich mich jeweils anmir charakteristisch erscheinenden Darstel-lungen orientiert. Das sind die „Geschichte derGlobalisierung“ [18], einer abgewogenen undneutralen Beschreibung aus historischer Sicht.Bei der Fragestellung „Was ist Globalisie-rung?“ [19] erfolgte eine Anlehnung an einesozialwissenschaftliche Analyse. Sozialwissen-schaftler haben die Globalisierung vor denHistorikern thematisiert, und sie neigen zukraftvollen Formulierungen. Danach folgteeine philosophische Betrachtung zu dem Prob-lem „Demokratie im Zeitalter der Globalisie-rung“ [20]. Für die Behandlung der „Facettender Globalisierung“ [21] und der Frage „Glo-balisierung gestalten“ [22] stand die ökonomi-sche Sichtweise im Vordergrund. Bei derBesprechung der kritischen Literatur (der Glo-balisierungsgegner) und der weniger kriti-schen Literatur (der Globalisierungsbefürwor-ter) lag mir daran deutlich zu machen, worindie Autoren übereinstimmen (in den Fakten,teilweise auch in den Folgen) und dass dieAntworten auf die Frage nach der Gestaltungvon Globalisierung in extremer Weise ausein-ander klaffen. Von zentraler Bedeutung istdabei die Frage, wer die handelnden Akteuresind und welchen Handlungsspielraum siehaben. Darauf werde ich am Schluss des Bei-trages eingehen, s. Abb. 7.

Eine weitgehende Übereinstimmung zeigtdie Antwort auf die Frage, was das spezifischNeue an der Globalisierung ist. Von Globalisie-rung wird erst nach der weltweiten Totalver-netzung in Echtzeit gesprochen, denn erst dieDigitalisierung der Informationstechnologienhat zu einer Raum-Zeit-Verdichtung geführt.Dieser Prozess setzte etwa 1970 ein, wie Abb. 6erkennen lässt. Es erfolgte dann ein steilerAnstieg der Beschäftigtenzahlen und der Brut-towertschöpfung im Dienstleistungssektor, an-getrieben durch die digitalen Informations-technologien. Der Prozess der Globalisierungist durch wesentlich mehr Faktoren geprägt alsfrühere Entwicklungsstadien. Es ist die Wirt-schaft, die diesen Prozess antreibt, der das ge-samte soziale und institutionelle Gefüge in derGesellschaft betrifft. Globalisierung bedeuteteine neue Art des Wandels, eine „veränderte“Veränderung. Das hat zu einem Umschlag vonQuantität in Qualität geführt.

Stellvertretend für die große Schar der Glo-balisierungsgegner soll an dieser Stelle auf dieDarstellung „Die Globalisierungsfalle“ mitdem bezeichnenden Untertitel „Der Angriffauf Demokratie und Wohlstand“ der Spiegel-Redakteure Martin und Schumann [17] einge-gangen werden. Das Buch stand lange Zeit aufden Bestsellerlisten (nicht nur des Spiegels),es ist eher im Stil eines Pamphlets als einersachlichen Analyse geschrieben. Damit weichtes von den oben angeführten weitgehend neut-ralen Darstellungen ab. Der Zusatz weitge-hend soll bedeuten, dass eine analytische, eherdiagnostisch geprägte Beschreibung des Phä-nomens Globalisierung stets neutraler gehal-ten werden kann als der Versuch einer Thera-pie.

Die Zusammenzufassung eines Pamphletsist immer schwieriger als die einer sachlichenAnalyse. Deshalb beschränke ich mich hierauf eine Auswahl pointierter Aussagen, welchedie Autoren gleichwohl belegen. Am Beginnsteht die (Horror-)Vision einer „20:80-Gesell-schaft“, diskutiert von der „Machtelite derWelt“ im Herbst 1995 in San Francisco. DieEinschätzung lautete, dass im 21. Jahrhundert20 % der arbeitsfähigen Bevölkerung ausrei-chen würden, um die Weltwirtschaft inSchwung zu halten. Mehr Arbeitskraft wirdnicht gebraucht. Die restlichen 80 % werden(als Produzenten) in Zukunft nicht mehr be-nötigt. Das Problem besteht darin, sie bei Launezu halten, mit einer Mischung aus Entertain-ment und Ernährung (am Busen, englisch tits),kurz „tittytainment“ genannt. Das gab es schonim alten Rom und hieß seinerzeit „Brot undSpiele“. Die Industriegesellschaft wird das glei-che Schicksal erleiden wie die Agrargesell-schaft. Nur ein geringer Anteil der Beschäftig-ten wird ausreichen, alle erforderlichenProdukte, bei einem hohen Einsatz an Ener-gie, Material und somit Kapital, herzustellen.

Die pessimistische Prognose lautet, dassdie Informationsgesellschaft auch nicht an-nähernd so viele neue Jobs bereitstellen wird,um den Stellenabbau im industriellen Bereichkompensieren zu können. Das Ergebnis wirdeine neue Gesellschaftsordnung sein, reicheLänder ohne einen nennenswerten Mittel-stand. Die Börsenkurse und die Konzernge-winne steigen, während Löhne und Gehältersinken. Parallel damit wachsen die Defizite deröffentlichen Haushalte. Das Industriezeitaltermit seinem Massenwohlstand wird in derMenschheitsgeschichte nicht von Dauer sein.Der „Turbo-Kapitalismus“ [23] scheint sichunaufhaltsam durchzusetzen. Er zerstört dieGrundlagen seiner eigenen Existenz, denfunktionsfähigen Staat und demokratischeStabilität. Die bisherigen Wohlstandsländer

Die Industriegesell-schaft wird das glei-che Schicksal erlei-den wie die Agrar-gesellschaft. Nur eingeringer Anteil derBeschäftigten wirdausreichen, alleerforderlichen Pro-dukte, bei einemhohen Einsatz anEnergie, Materialund somit Kapital,herzustellen.

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verzehren die soziale Substanz ihres Zusam-menhalts noch schneller als ihre ökologischeSubstanz.

In Ergänzung zu den Darstellungen vonMartin und Schumann sei auf die in Tab. 1dargestellte Entwicklung der Bevölkerung hin-gewiesen. Europa ist der einzige Kontinent,dessen Bevölkerung nicht nur relativ, sondernauch absolut abnehmen wird. Die gleiche Aus-sage gilt für Japan und Russland und in naherZukunft gleichfalls für China. Das stellt unse-re Gesellschaft vor völlig neue Herausforde-rungen. Wie wir darauf reagieren können, hatMiegel kürzlich in dem Buch „Epochenwende“[24] dargelegt: „In dieser historischen Situationwird von den Europäern nichts Geringereserwartetet als eine verallgemeinerungsfähigeAntwort auf die Frage: Welchen Weg könnenund sollen Völker einschlagen, die an Zahlabnehmen und stark altern, die ein mehr oderminder hohes Versorgungsniveau erreichthaben und deren sozialer Zusammenhaltschwach geworden ist? Bisher hatte dieMenschheit keinen Grund, sich mit dieserFrage zu befassen. Die Europäer betrifft sie alsErste. Deshalb stellen sie mit ihren AntwortenWeichen weit über das 21. Jahrhundert hinaus.Wieder sind sie es, die – wenn sie ihrer neuenRolle gerecht werden – eine globale Entwick-lung einleiten. Vielleicht gehört auch das zuden Ironien der Geschichte.“

4 Globale Problemfelder

Durch den Prozess der Globalisierung sindneue Herausforderungen zu den traditionellenFaktoren der Herausforderung Zukunft, derBevölkerungs-, der Versorgungs- und der Entsor-gungsfalle (s. Abb. 1) hinzugekommen. Andieser Stelle wählen wir zur Benennung derWeltprobleme eine an dem Leitbild Nachhal-tigkeit orientierte Einteilung. Die drei Faktorender Weltprobleme betreffen die ökologische,die soziokulturelle und die ökonomische Säuledes Leitbildes Nachhaltigkeit.

Das erste globale Problem betrifft die „Um-welt“, sie ist in weiten Teilen ein öffentlichesGut. Dazu gehören die Ozeane mit ihremFischbestand und das Wasser im Allgemeinen,die Luft, die Wälder und der Boden. Bei öffent-lichen Gütern gilt die „Tragödie der Allmende“(The Tragedy of the Commons), wie Hardin es1968 in einem Artikel in Science genannt hat.Die Allmende war im Mittelalter ein gemein-sames Weideland für die Bewohner eines Dor-fes. Es durfte nicht übernutzt werden, alsowurde jedem Bewohner gestattet, eine be-grenzte Anzahl von Schafen darauf zu weiden.Wenn ein Bauer ein Schaf mehr als die ande-

ren auf die Weide bringt, so verschafft er sichdadurch einen Vorteil, aber den Nachteil tra-gen alle gemeinsam. Denn jedes zusätzlicheTier trägt zur Überweidung bei.

Darin liegt die Tragödie der Allmende. JederNutzer hat den Anreiz, ein zusätzliches Schafnach dem anderen auf die Weide zu bringen.Das geht so lange gut, bis das Land überweidetist, sodass sich die Schafhaltung nicht mehrlohnt. Die Dorfgemeinschaft hat nicht er-kannt, dass das individuelle Interesse des Ein-zelnen zum Konflikt mit den Interessen derGemeinschaft führt. Die Dorfgemeinschaft hatversäumt, die Allmende im Sinne eines über-geordneten Interesses zu verwalten. Die ent-scheidenden globalen Umweltprobleme hän-gen mit eben diesem Versagen zusammen.Dazu gehören der anthropogene Treibhaus-effekt und damit die Erwärmung der Atmo-sphäre und das Ansteigen des Meeresspiegels,die Verschmutzung der Umwelt, die Über-fischung der Weltmeere, das Abholzen derWälder und die Brandrodung, die zuneh-mende Wasserknappheit sowie das Artenster-ben und der Verlust an Biodiversität.

Das zweite globale Problem betrifft die„Weltgesellschaft“, die Frage nach der „Solida-rität“ Fremden und Fernen gegenüber. Bereits1784 hatte Kant den Begriff „Weltbürgergesell-schaft“ geprägt, der im Zeitalter der Globalisie-rung Realität geworden ist. Zu dem Problem-feld „Solidarität“ gehören der Kampf gegen dieArmut, gegen mangelnde Bildung, gegen In-fektionskrankheiten, gegen Terrorismus alswesentlichen Beitrag zur Friedenssicherung,gegen die ökonomische und die digitale Spal-tung der Welt sowie die Probleme der inter-und intragenerationellen Gerechtigkeit.

Das dritte globale Problem betrifft die Welt-wirtschaft, genauer die Frage nach den Regelnfür wirtschaftliches Handeln. Zu ihnen gehö-ren Rahmenbedingungen und Rechtssetzungebenso wie Infrastrukturen und informelleStrukturen. Regeln betreffen das Welthandels-recht, internationale Finanzarchitekturen (z. B.Tobin Tax), die Vermeidung von Öko- und So-zialdumping, den internationalen Wettbewerbsowie vergleichbare Steuersysteme.

Im Hinblick auf denkbare Maßnahmen sindgenerelle Schwierigkeiten offenkundig. DasProblemfeld Umwelt lädt stets zum Trittbrett-fahren ein. Es entspricht wirtschaftlicher Lo-gik, die Gewinne eines Unternehmens zuprivatisieren (zu internalisieren) und die Kos-ten zu sozialisieren (zu externalisieren). Dabeimüsste es genau umgekehrt sein. Die externenökologischen und sozialen Kosten müssteninternalisiert werden, die Preise müssten dieökologische und soziale Wahrheit sagen. DasProblemfeld Solidarität bedeutet, dass zu der

Durch den Prozessder Globalisierungsind neue Heraus-forderungen zuden traditionellenFaktoren derHerausforderungZukunft, derBevölkerungs-,der Versorgungs-und der Entsor-gungsfalle hin-zugekommen.

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uns geläufigen Nächstenliebe eine räumlicheund zeitliche „Fernstenliebe“ hinzukommenmuss. Bislang galten Identität und Loyalitätallein in dem Nationalstaat, der durch die Glo-balisierung einem Erosionsprozess ausgesetztist. Wie soll diese Loyalität auf die Weltgesell-schaft übertragen werden?

Beim Problemfeld Regeln sind die Schwie-rigkeiten mindestens genauso groß. Denn dieglobal agierenden Unternehmen ziehen Vor-teile daraus, die Rahmenbedingungen in deneinzelnen Ländern bezüglich Rechtsvorschrif-ten, Genehmigungsverfahren und Steuern zuihrem Vorteil zu nutzen und gegeneinanderauszuspielen. Wie sollten sie an einheitlichenRahmenbedingungen interessiert sein?

Wer sind eigentlich die handelnden Akteu-re? Diese Frage führt zu Strukturen und Mus-tern, die als Global-Governance-Architekturbezeichnet wird (s. Abb. 7). Die Abbildunglehnt sich an eine Darstellung in [25] an, inder neun Akteursgruppen aufgeführt sind.Zur besseren Übersichtlichkeit haben wirdiese in sechs Akteursgruppen zusammenge-fasst. Sie sollen kurz diskutiert werden, umihren Einfluss und Handlungsspielräumedeutlich zu machen.

Entscheidende internationale Organisationensind erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstan-den, und sie haben ständig an Einfluss gewon-nen. Das gilt in besonderer Weise für die UN,

aber auch für die Weltbank, den Internationa-len Währungsfonds IMF und die Welthandels-organisation WTO. Auch entscheidende undheute besonders machtvolle internationaleNichtregierungsorganisationen (NGOs) sindnach dem Zweiten Weltkrieg und insbesonde-re durch die Bewusstseinswende der sechzigerJahre entstanden. In ihnen artikuliert und or-ganisiert sich die Zivilgesellschaft, die Welt-gesellschaft. Von den NGO-Akteuren sind injüngerer Zeit die mit Abstand stärksten Im-pulse für eine „bessere Welt“ ausgegangen. Eswird spannend sein zu erleben, welche Grup-pierungen sich noch bilden werden und wel-chen Einfluss sie auf weltpolitischer Ebenenoch erlangen werden. Demokratietheore-tische und kritische Bemerkungen zu ihrermangelnden demokratischen Legitimationsind wenig überzeugend, wenn die NGOs inden Augen der Öffentlichkeit eine sehr vielhöhere Glaubwürdigkeit und damit faktischeLegitimation genießen als Regierungsorgani-sationen.

Die Europäische Union ist gleichfalls einKind des Zweiten Weltkriegs. Sie ist das Para-debeispiel für eine erfolgreiche supranationaleOrganisation. Die Zukunft wird zeigen, ob die-ses Modell auch auf andere relativ lockere undrein wirtschaftliche Verbünde übertragbar seinwird. Es ist ein historisch einmaliger Vorgang,dass Nationalstaaten freiwillig Kompetenzenbezüglich Gesetzgebungen und bestimmterPolitikfelder nach und nach an die supranatio-nale Instanz EU abgegeben haben und mög-licherweise weiter abgeben werden. Der Sog,den die EU in der Vergangenheit auf (nochNicht-)Mitglieder ausgeübt hat, scheint unge-brochen zu sein. Das spricht für das Erfolgs-modell, birgt jedoch auch die Gefahr einerwirtschaftlichen, sozialpolitischen und kultu-rellen Überdehnung. Dies belegen die Diskus-sionen über einen möglichen Beitritt der Tür-kei.

Zwischenstaatliche Politikbereiche (Regime)sind solche, die sich weder internationalennoch supranationalen Organisationen direktzuordnen lassen. Sie sind jedoch gleichwohl inverschiedener Weise mit ihnen verzahnt. So istsowohl das Montreal- als auch das Kyoto-Proto-koll ein Resultat von UN-Konferenzen. Ebensowurde von der UN gemeinsam mit der Weltor-ganisation für Meteorologie die Zwischenstaat-liche Kommission für KlimaveränderungenIPCC (Intergovernmental Panel on ClimateChange) ins Leben gerufen, die sich regel-mäßig zu Fragen des Klimawandels äußert.

Ergänzt wird die Akteursvielfalt durch zweiweitere Partner. Mit Private Governance werdenprivatwirtschaftliche Aktivitäten bezeichnet,die häufig unterschätzt werden. So hat die

Die EuropäischeUnion ist ist dasParadebeispiel füreine erfolgreichesupranationaleOrganisation.

Abbildung 7. Akteursvielfalt in einer Global-Governance-Archi-tektur [1], in Anlehnung an [25].

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Normung schon weit vor der Globalisierungden weltweiten Handel enorm erleichtert undweltweite Technik nicht nur sicherer, sondernüberhaupt erst möglich gemacht. Russlandhatte bei der Einführung seiner Eisenbahneine andere Spurweite als die Länder des euro-päischen Kontinents gewählt, um sich damitbesser vor einer europäischen Invasion schüt-zen zu können. Eine solche Strategie wäreheute angesichts der weltumspannendenInformations- und Kommunikationstechnikenvollends ruinös. Weltweite Systeme bedingeneine weltweit gültige Normung. Alle haltensich daran, weil es für alle von Vorteil ist. Aufglobaler Ebene wird die internationale Nor-mung von der ISO (International Organizationfor Standardization) betrieben.

Gleichfalls zu diesem Bereich gehört die In-ternationale Handelskammer ICC (Internatio-nal Chamber of Commerce). Sie ist die einzigeweltumspannende Organisation des privatenUnternehmertums aller Wirtschaftszweige.Zu ihren Zielen gehören die Förderung derliberalen Weltwirtschaftsordnung durch freienund fairen Wettbewerb, das Erarbeiten vonRichtlinien zur Harmonisierung der Handels-praktiken, die Schlichtung internationalerStreitigkeiten und die Vertretung gegenüberinternationalen Organisationen wie der UN.Auf seiner zweiten Weltkonferenz für Umwelt-management, die 1991, ein Jahr vor der Rio-Konferenz stattfand, verkündete der ICC eineBusiness Charta for Sustainable Development,die maßgeblich von dem Brundtland-Bericht„Unsere gemeinsame Zukunft“ [6] geprägtworden ist. Die Agenda 21, das Abschluss-dokument der Rio-Konferenz für Umwelt undEntwicklung 1992, nimmt direkten Bezug aufdie Charta.

Der letzte Bereich kann mit Club-Governancebezeichnet werden. Damit sind Zusammen-schlüsse einzelner Staaten gemeint, die einganz spezifisches gemeinsames Interesse ver-bindet. Sie bilden entweder einen Club derReichen wie die G 8 oder der Armen wie die„Gruppe der 77“, einen Club der Industrielän-der wie die OECD oder einen der Erdöl för-dernden Länder wie die OPEC. Sowohl zu denletzteren wie auch zu allen anderen Akteurs-gruppen in Abb. 7 wurden nur einige wenigeAkteure aufgeführt und beschrieben. Für de-taillierte Informationen bieten sich regelmäßigerscheinende Lexika und Handbücher an. DieAkteure wurden unter dem Aspekt der Lö-sungsmacht und der Lösungskompetenz imHinblick auf die Weltprobleme ausgewählt.

Folgende Frage drängt sich auf. Wo bleibendie Nationalstaaten, insbesondere die derzeiteinzige Supermacht USA? Handeln die Natio-nalstaaten etwa nur noch im Rahmen einer

oder mehrerer Akteursgruppen? Das ist in derTat in zunehmendem Maße der Fall.

Abschließend sei betont, dass das Thema„Verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen“nur einen – wenngleich wesentlichen – Teil-aspekt der Herausforderung Zukunft darstellt.Dies soll anhand der in Abb. 8 dargestelltenNachhaltigkeitsmatrix diskutiert werden. Diedrei Achsen der Matrix symbolisieren die dreiSäulen des Leitbildes Nachhaltigkeit. Dabeisteht die Achse (3) für die ökologische Säule,die Achse (1) für die soziale Säule und die Ach-se (2) für die ökonomische Säule.

An dieser Stelle soll nur auf die Achse (2)eingegangen werden: die Frage nach den Stra-tegien. Es ist ein empirischer Befund, dasseine Verbesserung der Ressourceneffizienz inder Vergangenheit stets durch eine gleichzeiti-ge Zunahme der Ansprüche und damit desVerbrauchs kompensiert, oft gar überkompen-siert worden ist. Dies wird als Bumerang-Effekt bezeichnet, für den sich zahlreiche Bei-spiele finden lassen. Niemals zuvor wurde soviel Papier verbraucht, obwohl die Informa-tionstechnologien ein papierloses Büro ermög-lichen würden. Die Erhöhung der Transport-geschwindigkeiten auf der Schiene, der Straßeund in der Luft hat nicht zu einer Zeiterspar-nis geführt, sondern dazu, dass wir in der glei-chen Zeit größere Distanzen zurücklegen. Dieständige Verbesserung der Wirkungsgrade vonOtto- und Dieselmotoren hat zu immer niedri-geren spezifischen Verbräuchen geführt. DerFlottenverbrauch ist jedoch nicht gesunken, dadie Fahrzeuge schwerer und leistungsstärkerwurden.

Somit kann eine Verbesserung der Ressour-ceneffizienz – auch um einen Faktor zehn –nicht die alleinige Antwort sein. Sie mussdurch eine Suffizienzstrategie ergänzt werden,für die es zwei Ansatzpunkte gibt: zum einen

Abbildung 8. Nachhaltigkeitsmatrix [1, 9, 26].

Es ist ein empiri-scher Befund, dasseine Verbesserungder Ressourcen-effizienz in derVergangenheit stetsdurch eine gleich-zeitige Zunahmeder Ansprücheund damit desVerbrauchs kom-pensiert, oft garüberkompensiertworden ist. Dieswird als Bumerang-Effekt bezeichnet.

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eine fiskalische Verteuerung des Produktions-faktors Ressourcen bei gleichzeitiger Entlas-tung des Produktionsfaktors Arbeit. Zum an-deren wird ein anderes Verständnis vonGemeinwohl und Eigennutz erforderlich sein.Die Effizienzstrategie ist eine notwendige Vor-aussetzung dafür, dem Leitbild Nachhaltigkeitnahe zu kommen. Aber notwendig und hin-reichend ist erst die Verbindung von Effizienz-strategien mit Suffizienzstrategien.

Für die vor uns liegenden Probleme ist nichtweniger, sondern mehr Technik nötig. Die ent-scheidende Frage lautet, welche technischenLösungen in Richtung zu mehr Nachhaltigkeitführen können. Dazu muss eine ganzheitlicheBewertung erfolgen, zu der die Disziplin Tech-nikbewertung den entscheidenden Beitrag leis-ten kann. Ich unterstütze die Forderung desVDI vehement, das Fach Technikbewertung inLehre und Forschung an den Hochschulen zuverankern. Ingenieure haben Technik schonimmer bewertet, wobei bislang nur zwei Krite-rien den Ausschlag gegeben haben: die techni-sche Bewertung im Hinblick auf Funktio-nalität, Sicherheit und Qualität sowie die(betriebs-)wirtschaftliche Bewertung. Das Leit-bild Nachhaltigkeit verlangt mehr. TechnischeLösungen müssen zusätzlich umwelt- undsozialverträglich sein. Nachhaltigkeit bedeutetZukunftsverträglichkeit. Das Konzept Technik-bewertung kann das entscheidende Instru-ment sein, um das diffuse Leitbild Nachhaltig-keit zu operationalisieren [26, 27].

Wie können wir in der Jugend (wieder) Be-geisterung für diese Themen wecken? Wiekönnen wir deutlich machen, welch spannen-de und faszinierende Aufgaben die angehen-den Ingenieure und Naturwissenschaftler er-warten? Der Aufbruch ins All, 1961 von JohnF. Kennedy als „mission to the planet moon“verkündet, hatte seinerzeit eine gewaltige Be-

geisterung für Technik entfacht und bewun-dernswerte technische Leistungen ermöglicht.Der Herausforderung Zukunft kann nur miteiner „mission to the planet earth“ begegnetwerden. Damit sollte es gelingen, bei derJugend (erneut) Begeisterung für die Technikund die Naturwissenschaften zu entfachen.Diese Begeisterung muss im Studium vermit-telt werden. Und die Botschaft muss lauten:„Wir brauchen künftig Ingenieure mit mehrWeitblick“ [28].

Eingegangen am 23. November 2006

Prof. (em.) Dr. Ing. M. F. Jischa([email protected]),Institut für Technische Mechanik,TU Clausthal, A.-Roemer-Straße 2a,D-38678 Clausthal-Zellerfeld, Germany.

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[16] V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, PaulZsolnay, Wien 1997.

Michael F. Jischa, geboren 1937 in Ham-burg, lernte, forschte und lehrte an denUniversitäten Karlsruhe, Berlin (TU),Bochum, Essen und Clausthal in denBereichen Strömungsmechanik, Thermo-dynamik, Mechanik, Systemtechnik undTechnikbewertung. 2002 wurde er emeri-tiert. Er ist Präsident der Deutschen Gesell-schaft Club of Rome sowie Mitglied desKuratoriums der Hanns-Lilje-Stiftung, derBereichsvertretung Gesellschaft und Tech-nik im VDI, des Programmbeirats Nachhal-tigkeit und Technik im Forschungszentrum

Karlsruhe und des Wissenschaftlichen Beirats der Clausthaler Umwelt-technik-Institut GmbH.

Für die vor uns lie-genden Problemeist nicht weniger,sondern mehr Tech-nik nötig. Die ent-scheidende Fragelautet, welche tech-nischen Lösungenin Richtung zu mehrNachhaltigkeit füh-ren können.

Das Konzept Tech-nikbewertung kanndas entscheidendeInstrument sein, umdas diffuse LeitbildNachhaltigkeit zuoperationalisieren.

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[21] Facetten der Globalisierung (Ed: U. Steger),Springer, Berlin 1999.

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[28] M. F. Jischa, Standpunkt: Wir brauchen künftigIngenieure mit mehr Weitblick, VDI-Nachrichten1999, Nr. 46 (19. Nov.), 2.

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