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Herbert Obinger Emmerich Talos Sozialstaat Osterreich zwischen Kontinuitat und Umbau

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Herbert Obinger • Emmerich Talos

Sozialstaat Osterreich zwischen Kontinuitat und Umbau

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Forschung Politik

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Herbert Obinger • Emmerich Tales

Sozialstaat Osterreich zwischen Kontinuitat und Umbau Eine Bilanz der OVP/FPO/BZO-Koalition

III VSVERLAG FUR SOZIALWISSENSCHAFTEN

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1. Auflage September 2006

Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag fiJr Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Monika Mulhausen / Bettina Endres

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Umschlaggestaltung: KunkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v, Meppel Gedruckt auf saurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands

ISBN-10 3-531-14756-0 ISBN-13 978-3-531-14756-7

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Inhalt

Einleitung 9

Theorien wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung 13

1.1 Entstehung und Expansion des Wohlfahrtsstaates 13 1.2 Sozialstaatsriickbau 17

Politische Rahmenbedingungen und Programmatik der Wende 23

2.1 Neue politische Krafteverhaltnisse 23 2.2 Programmatische Morphologic der Wende 25

2.2.1 Das Wirtschaftsprogramm: „Ein guter Tag beginnt mit einem sanierten Budget" 26

2.2.2 Sozialpolitik neu: „neuer Ansatz" und „ treffsicherer" Umbau .. 28 2.3 Institutionelle Reformchancen 34

2.3.1 Bundesprasident 36 2.3.2 Verfassungsgerichtshof 37 2.3.3 Foderalismus und Bikameralismus 39 2.3.4 Direkte Demokratie 43 2.3.5 Die EU als kooperativer Vetospieler 44 2.3.6 Parteipolitische Vetospieler und Parteienwettbewerb 45 2.3.7 Informelle Vetopunkte 47 2.3.8 Zusammenfassung 49

Sozialstaat Osterreich: Historische Entwicklung und internationaler Vergleich 51

3.1 Entwicklung des osterreichischen Sozialstaates 51 3.2 Profil des osterreichischen Sozialstaates 55 3.3 Ausgestaltung der Sozialpolitikbereiche 58

3.3.1 Sozialversicherung , 58 3.3.2 Arbeitsrecht 63 3.3.3 Aktive Arbeitsmarktpolitik 64 3.3.4 Familienrelevante Leistungen 64

3.4 Bestimmungsfaktoren der sozialstaatlichen Entwicklxmg 65

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3.5 Der osterreichische Sozialstaat im intemationalen Vergleich .... 67 3.5.1 Sozialausgabenund-struktur 68 3.5.2 Finanzierung des Wohlfahrtsstaates 74

3.6 Okonomische und demografische Rahmenbedingungen 76

Sozialpolitische MaBnahmen der OVP/FPO/BZO-Regierung 81

4.1 Anderungen in der Organisation 81 4.2 Pensionsversicherung 85

4.2.1 Rahmen-und Ausgangsbedingungen 85 4.2.2 Pensionsreform 2003 89 4.2.3 „Betriebliche Mitarbeitervorsorge" 91 4.2.4 Pramiengefbrderte Zukunftsvorsorge als dritte Saule 93 4.2.5 AUgemeines Pensionsgesetz: Pensionsharmonisierung 94 4.2.6 Resumee 98

4.3 Gesundheitspolitik 101 4.3.1 Rahmen-und Ausgangsbedingungen 102 4.3.2 Blau-schwarze Optionen: Regierungs-und Wahlprogramme .. 105 4.3.3 MaBnahmen der OVP/FPO-Regierung 108 4.3.4 Resumee 120

4.4 Arbeitsmarktpolitik 124 4.4.1 Arbeitslosenversicherung: Optionen und MaBnahmen 124 4.4.2 Aktive Arbeitsmarktpolitik: Optionen und MaBnahmen 131 4.4.3 Resumee 143

4.5 Arbeitsrecht 146 4.5.1 Schwarz-blaue Optionen 146 4.5.2 MaBnahmen 147 4.5.3 Resumee 155

4.6 Familienpolitik 157 4.6.1 Ausgangs-und Rahmenbedingungen 157 4.6.2 Politische Optionen der schwarz-blauen Koalition 161 4.6.3 MaBnahmen 162 4.6.4 Resumee 173

4.7 Gleichbehandlungspolitik 177 4.7.1 Ausgangssituation und Rahmenbedingungen 177 4.7.2 MaBnahmen 178 4.7.3 Resumee 184

4.8 Armutspolitik 186 4.8.1 Armut in Osterreich: Ursachen und Lizidenz 186 4.8.2 Schwarz-blaue Optionen 189

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4.8.3 MaBnahmen 191

4.8.4 Resumee 199

5 Bilanz: Neu regieren mit neuen Inhalten? 201

5.1 Veranderungen im politischen Entscheidungsprozess 201 5.1.1 Zur Tradition der Verhandlungsdemokratie 201 5.1.2 Zasuren im Entscheidungsmuster 206

5.2 Sozialpolitische Veranderungen 214 5.2.1 Kontext der Wende 214 5.2.2 Sozialpolitische Bilanz 216 5.2.3 Bestimmungsfaktoren der Wende 222 5.2.4 Vermachtnis der Wende 225

6 Tabellenverzeichnis 227

7 Abbildungsverzeichnis 227

8 Abkiirzungsverzeichnis 231

9 Literatur 233

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£inleitung

Die Nationalratswahlen im Herbst 1999 haben die politische Landschaft Oster-reichs nachhaltig verandert. Anstelle des fur die Nachkriegszeit typischen Duo-pols bestehend aus Sozialdemokraten (SPO) und christdemokratischer Osterrei-chischer Volkspartei (OVP) gingen aus diesen Wahlen drei annahemd gleich Starke Parteien hervor. Starkste Partei mit einem Stimmenanteil von 33,2 % wurde die Sozialdemokratische Partei, dahinter lagen gleichauf mit 26,9% die Freilieitliche Partei (FPO) und die Osterreichische Volkspartei, wobei die Frei-heitlichen mit 415 Stimmen Vorsprung die OVP auf den dritten Platz verweisen konnten. GemaB den traditionellen Gepflogenheiten betraute Bundesprasident Klestil nach Abschluss bilateraler Sondierungsgesprache zwischen den Parteien den sozialdemokratischen Bundeskanzler Viktor Klima als Vertreter der stim-menstarksten Partei mit der Regierungsbildung. Fiir die Sozialdemokraten bilde-te eine Neuauflage der seit 1986 regierenden GroBen Koalition aus SPO und OVP die einzige strategische Koalitionsoption, da Rot-Grtin iiber keine parla-mentarische Mehrheit verfugte und fur die Parteispitze eine gemeinsame Regie-rung mit Jorg Haiders Freiheitlichen nicht in Frage kam. Nach dem Scheitem langwieriger Koalitionsgesprache erzielten die OVP und die Freiheitliche Partei binnen kurzer Zeit eine Koalitionsvereinbarung. Im Februar 2000 wurde die neue OVP/FPO-Koalition unter Bundeskanzler Wolfgang Schtissel vereidigt. Nach 30 Jahren ununterbrochener Regierungstatigkeit und Kanzlerschaft befan-den sich die Sozialdemokraten erstmals wieder in Opposition.

Dieser Machtwechsel wurde von erheblichen nationalen und intemationa-len Turbulenzen begleitet. Die steineme Miene des Bundesprasidenten bei der Vereidigung des Kabinetts, Demonstrationen sowie die erstmalige Verhangung von Sanktionen der EU gegentiber einem Mitgliedsland verdeutlichen die hohe politische Brisanz dieses Machtwechsels. Im osterreichischen Sprachgebrauch hat sich fur diese Verschiebung im parteipolitischen Krafteparallelogramm der Begriff „Wende" etabliert. Tatsachlich ist die neue Regierung mit dem An-spruch angetreten, einen politischen Kurswechsel in Osterreich herbeizufiihren. Insbesondere gait dies fur die Wirtschafts- und Sozialpolitik. Inwieweit diesem Machtwechsel auch ein Politikwechsel folgte, soil in diesem Band fur die Sozi­alpolitik untersucht werden. Gleichzeitig stellt dieses Buch einen Versuch dar.

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eine Bilanz der von den Regierungen Schiissel I und II beschlossenen Reformen in wohlfahrtsstaatlichen Kembereichen vorzunehmen.

Unser Hauptbefimd lautet, dass dieser Machtwechsel sowohl in program-matischer Hinsicht als auch auf Ebene der politischen Entscheidungsprozesse und der realisierten MaBnahmen zu einem Bruch mit den fur die Nachkriegszeit charakteristischen Politik- und Entscheidungsmustem und damit in der Tat zu einer politischen Wende gefflhrt hat. Abzulesen ist dieser PoHtikwechsel nicht nur an der Prioritatenverschiebung in der Wirtschafts- und SozialpoHtik in Rich-tung angebotsorientierter neoUberaler Ideen, sondem auch an der Zurtickdran-gung der Sozialpartnerverbande aus dem poHtischen Entscheidungsprozess. Das Handlungstempo wurde massiv erhoht, Gesetze wurden vor allem in der An-fangszeit verstarkt als Initiativantrage im Parlament eingebracht und damit einer Begutachtung durch die Spitzenverbande von Arbeit und Kapital entzogen. Die paritatische Einbindung in und Mitgestaltung von politischen Entscheidungs-prozessen blieb auf wenige Ausnahmefalle beschrankt. Die im Jahr 2000 vom damaligen OVP-Klubobmann und spateren Nationab-atsprasidenten Andreas Khol in einer ORF-Pressestunde gepragte Devise „Speed kills" wurde zum Leitmotiv fur das neue Regieren. Hinsichtlich der realisierten sozialpolitischen MaBnahmen manifestierte sich diese Wende in Gestalt von teils massiven Ein-schnitten in das wohlfahrtsstaatliche Leistungsspektrum sowie in der strukturel-len Neujustierung zentraler Sicherungssysteme wie der Rentenversicherung. Dieser Kurswechsel wurde von zum Teil heftigen innenpolitischen Konflikten begleitet. Der Zusammenbruch der Regierung Schiissel I im Herbst 2002 ist hierfur ebenso ein Beleg wie ein fiir Osterreich xmtypischer Massenstreik im Ju-ni 2003 und die Spaltung der FPO im Jahr 2005.

In Deutschland woirden die sozial- und wirtschaftspolitischen Reformen der Regierung Schussel mit groBer Aufinerksamkeit verfolgt und seitens der Uni-onsparteien mit groBem Lob bedacht. Auch Qualitatsmedien wie die FAZ oder DIE ZEIT richteten verstarkt den Blick zum siidostlichen Nachbam, wo - so die mediale Wahmehmung - der Reformprozess im Vergleich zur reformstauge-plagten Bundesrepublik schneller und umfassender voran schreiten wiirde. Die­ser Stimmungsumschvnmg in der deutschen Presse ist insofem bemerkenswert, als diese noch vor kurzer Zeit haufig die politische Unbeweglichkeit im Nach-barland, die verkrusteten und von Proporz durchzogenen politischen Strukturen sowie den aufgeblahten, mit k.u.k. Folkloreelementen angereicherten offentli-chen Sektor kritisiert hatten. Was ist seit dem Jahr 2000 also passiert?

Dieser Band will den vielschichtigen Politikwechsel nicht nur empirisch dokumentieren und rekonstruieren, sondem auch theoriegeleitet erklaren. Zu

' Der STERN (Heft 24, 9.6. 2005) titelte sogar: „Osterreich, das bessere Deutschland? '

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diesem Zweck werden die politischen Ordnungsvorstellungen der zentralen Ak-teure, ihre Machtressourcen, der institutionell abgesteckte Handlungskorridor und der sozio-okonomische Problemdruck in den Blick genommen, die Interak-tionen zwischen diesen Faktoren beleuchtet und ihre Auswirkimgen auf Staats-tatigkeit untersucht.

Die Abschatzung der Reichweite der Wende bedarf zusatzlich eines Refe-renzpunktes. Diese Kontrastfolie bildet das System sozialer Sicherung in den spaten 1990er Jahren, welches bis dahin, abgesehen von der Einfuhrung des Bundespflegegeldes 1993, weder grofiere strukturelle Veranderungen noch ei-nen radikalen Riickbau erfuhr, wenngleich seit Mitte der 1980er Jahre Konsoli-dierungsmaBnahmen implementiert und sozialstaatliche Leistungen einge-schrankt wurden (vgl. TalosAVorister 1994, 1998).

Aus diesem Anspruch, die Wende in ihrer Vielschichtigkeit theoriegeleitet zu analysieren, resultiert auch der Aufbau dieses Buches. Wir beginnen mit ei-nem Uberblick tiber das Theorieangebot zu den Bestimmungsfaktoren von Sozi-alpolitik im so genannten „silbemen Zeitalter" des Wohlfahrtsstaates (Taylor-Gooby 2002). Kapitel 2 skizziert die seit dem Jahr 2000 bestehenden neuen po­litischen Krafteverhaltnisse und die daraus resultierenden Veranderungen im Parteienwettbewerb, rekonstruiert die in den Regierungsprogrammen grundge-legte sozialpolitische Ziel- und StoBrichtung der schwarz-blauen Koalition und beleuchtet schlieBlich, inwieweit das institutionelle Reformfenster fur den anvi-sierten Politikwechsel offen stand. Daran anschlieBend wird die sozial- und wirtschaftspolitische Ausgangssituation in den Blick genommen. Ausgehend von einem kurzen historischen Abriss zur Genese des osterreichischen Sozial-staates, nimmt Kapitel 3 neben einem Uberblick tiber die strukturelle Architek-tur auch eine Internationale Einbettung des osterreichischen Wohlfahrtsstaates vor, um den Status quo ex ante zu rekonstruieren. SchlieBlich skizziert dieses Kapitel auch die makrookonomische Performanz im intemationalen Vergleich, um den sozio-okonomischen Problem- und Reformdruck abzubilden. Kapitel 4 nimmt dann die Reformtatigkeit und die ihr zu Grunde liegenden politischen Entscheidungsprozesse in sieben sozialpolitischen Feldem in den Blick, wah-rend das abschlieBende Kapitel die in den letzten sechs Jahren erfolgten Veran­derungen auf Ebene der politischen Entscheidungsprozesse und jener der reali-sierten sozialpolitischen MaBnahmen bilanziert.

Wahrend der Arbeiten fur diesen Band haben wir vielfaltige Unterstutzung und Hilfestellungen erfahren. Fiir Daten, Hinweise und Kritik geht unser Dank an Martin Bauer, Marcel Fink, Thomas Geiblinger, Klaus Hochrainer, Andreas Mayrbaurl, Josef Probst und Erik Tiirk. Gitta Klein, Niki Graf und Janis Vossiek haben uns tatkraftig bei der Daten- und Literaturrecherche sowie bei Korrektur-

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und Formatierungsarbeiten unterstiitzt. Unser Dank geht schlieClich an die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die einen Teil der Druckkosten iibemom-men hat.

Soweit im Folgenden Bezeichnungen flir den soziookonomischen oder in-stitutionellen Status von Personen nur in mannlicher Form angefuhrt sind, be-ziehen sie sich auf Manner und Frauen in gleicher Weise.

Wien und Bremen, Juli 2006

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1 Theorien wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung

Zur Erklarung von Entstehung, Reichweite, Konfiguration imd Funktion des Wohlfahrtsstaates und seiner im intemationalen Vergleich unterschiedlichen Expansionsdynamik existiert eine Vielzahl an Theorien (vgl. als Uberblick Flora et al. 1977; Cameron 1978; Alber 1982; Schmidt 1982, 2000; Skocpol/Amenta 1986; Lessenich 2000; Huber/Stephens 2001; Siegel 2002; Myles/Quadagno 2002). Diese Theoriestrange lassen sich zu vier Schulen, namlich funktionalisti-schen, konflikttheoretischen, institutionellen sowie intemationalen Ansatzen verdichten. Diese Theorieschulen stehen nicht nur in einer der Reihenfolge der Auflistung entsprechenden chronologischen Hierarchie zueinander, sondem weisen in sich eine betrachtliche Vielfalt auf, die in diesem Abschnitt nur ver-kiirzt dargestellt werden kann. Gemeinsam ist ihnen, dass sie mit Ausnahme ei-nes jimgeren intemationalen Theorieansatzes, der die Veranderungen in der in­temationalen politischen Okonomie als fundamentale Bedrohung des Sozialstaa-tes ortet, in erster Linie die Genese und Entfaltung des Wohlfahrtsstaates zum Gegenstand haben und damit nicht explizit zur Erklarung kontraktiver Sozialpo-litik formuliert wurden.

1.1 Entstehung und Expansion des Wohlfahrtsstaates

Der alteste Theorieansatz sieht die Entstehung des Wohlfahrtsstaates als Reakti-on auf die im spaten 19. Jahrhundert einsetzenden tiefgreifenden okonomischen, gesellschaftlichen und politischen Umwalzungen. Eine erste Variante riickt vor allem den sozio-okonomischen Strukturwandel und den daraus resultierenden Problemdmck als Triebkrafte staatlicher Sozialpolitik in den Mittelpunkt. Pha-nomene wie die Entfeudalisierung, Industrialisierung, Urbanisierung und Be-volkerungswachstum fuhrten gleichermaBen zur Erosion und Uberlastung der traditionellen familialen, kirchlichen, kommunalen und bemfsgenossenschaftli-chen Sicherungssysteme und erzeugten neben neuen Risiken ein soziales Vaku-um, welches durch sozialpolitische hitervention des Staates gefiillt werden musste (Wagner 1911). Gleichzeitig stellte der okonomische Aufschwung erst die Ressourcen fur die staatlich organisierte Bearbeitung der neuen sozialen Be-

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darfslagen bereit (Zollner 1963; Wilensky 1975). Iversen/Cusack (2000) haben diesen Ansatz wiederbelebt, indem sie die jiingere Expansion des Wohlfahrts-staates als funktionale Reaktion auf Deindustrialisierungsprozesse und den da-durch ausgelosten sozialpolitischen Kompensationsbedarf interpretieren. Eine zweite, makrosoziologische Theorievariante (Flora et al. 1977; Alber 1982) be-trachtet den Wohlfahrtsstaat als Ergebnis eines breit gefacherten Modernisie-rungsprozesses, der neben der Industrialisierung samt ihren Folgeerscheinimgen auch die Ausdifferenzierung des Nationalstaates, Sakularisierung und Demokra-tisierung als Antriebkrafte wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung umfasst und damit ungleich politiksensibler ist als ein rein sozio-okonomischer Funktionalismus.

Die konflikttheoretischen Theoriestromungen rucken die politischen Ausei-nandersetzungen zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Leitbildem und Ordnungsvorstellungen in den Mittelpunkt der Erklarung. Umfang und konkrete Ausgestaltung wohlfahrtsstaatlicher Intervention resultieren aus den auBerpar-lamentarischen Machtverhaltnissen von Arbeit und Kapital, der parteipoliti-schen Farbung der Regierung sowie den Legitimationsstrategien der politischen Eliten, welche die Sozialpolitik zur Generierung von Massenloyalitat instrumen-talisieren. Damit zerfallt diese Schule in eine klassensoziologische, eine partei-endifferenztheoretische sowie eine elitentheoretische Richtung. Die Machtres-sourcen der Arbeiterbewegung stehen im Mittelpunkt der insbesondere in Skan-dinavien beheimateten klassensoziologischen Theorieschule (Korpi 1980; Esping-Andersen 1990). Zentral steht ein klassenbezogener Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital, der entlang der gesellschaftlichen Macht- und Krafteverteilungen entschieden wird. Der Wohlfahrtsstaat ist dabei Ergebnis ei-ner mit Hilfe bzw. innerhalb der demokratischen Institutionen bewerkstelligten politischen Ausbalancierung der asymmetrischen Machtrelationen zwischen Ar­beit und Kapital in der zentralen Konfliktarena des Arbeitsmarktes. Klassen-tibergreifende Koalitionen zwischen industriellen und agrarischen Lohnarbeitem begunstigen dabei die Etablierung eines universalistisch-egalitaren Sozialstaats sozialdemokratischer Pragung. Die Vertreter der Parteiendifferenzthese (Schmidt 1982; Castles 1982) legen den Fokus hingegen auf die parlamentari-schen Krafteverhaltnisse imd die parteipolitische Zusammensetzung der Exeku-tive. Linksparteien begegnen der Nachfrage ihrer Anhangerschaft nach sozial-staatlicher Absicherung mit umfangreichen Sozialprogrammen, wahrend rechte Parteien diese im Interesse ihrer Klientel einzudammen versuchen. Diese fiir frtihe Arbeiten typische Links-Rechts-Dichotomie wurde jedoch dahingehend verfeinert, dass auch der sozialpolitischen Tradition christdemokratischer Par­teien verstarkt Rechnung getragen wurde. Im Unterschied zu sakular konserva-tiven Parteien werden christdemokratische Parteien wegen ihrer Nahe zur katho-lischen Soziallehre ebenfalls als Sozialstaatsparteien eingestuft, wenngleich sich

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ihre sozialpolitischen Ordnungsvorstellungen zum Teil erheblich von jenen der politischen Linken abheben (Wilensky 1981; van Kersbergen 1995).

Die institutionelle Theorieschule stellt eine relativ junge Stromimg im wohlfahrtsstaatlichen Theoriekanon dar, die ihrerseits wieder in verschiedene Ansatze zerfallt. Gemeinsam ist ihnen, dass Institutionen Aktionsradius, Hand-lungsstrategien und Praferenzen politischer Akteure pragen, Akteurskonstellati-onen und ihre Interaktionsformen konfigurieren und dadurch Politikergebnisse beeinflussen. Folglich riicken Staats-, Demokratie- und Verbandestrukturen so-wie die bereits etablierten Sozialstaatsstrukturen in den Mittelpunkt des Interes-ses. Ein Forschungsstrang legt das Augenmerk auf die horizontale und vertikale Fragmentierung von politischen Systemen, die administrativen Kapazitaten und die fiskalische Ressourcenausstattung des Staates (Skocpol/Amenta 1986). Demnach ist der Ausbau des Wohlfahrtsstaates in politischen Systemen mit vie-len institutionellen „Vetopunkten" schwerer durchzusetzen als in Landem, wo der Handlungsspielraum von Regierung und Parlament nicht durch zahh-eiche Vetospieler begrenzt wird (Immergut 1992). Als Bremsklotze wohlfahrtsstaatli-cher Expansion wurden etwa der Foderalismus (Wilensky 1975; Cameron 1978; Pierson 1995; Castles 1999; Obinger et al. 2005) oder die Direktdemokratie (Wagschal/Obinger 2000; Moser/Obinger 2006) identifiziert.

Neben der Verfassimgsordnung werden die Demokratie- und Verban­destrukturen bzw. die Interaktionsformen zwischen Verbanden imd der Regie-rung kausal mit dem Wohlfahrtsstaat in Verbindung gebracht. Korporatistische Systeme der Interessenvermittlung haben durch Einbindung der Verbande in den politischen Entscheidungsprozess, durch Tauschprozesse und Interessenab-gleich zwischen den Interessenorganisationen und der Regierung die Ausdiffe-renzierung des Wohlfahrtsstaates eher begunstigt als Systeme mit konfliktiven Arbeitsbeziehungen. Haufig wurde diese Form der Interessenvermittlung durch konkordanzdemokratische Politikmuster gespiegelt. Insbesondere in Landem mit institutionalisierten Kooperationsbeziehungen zwischen einer Linksregie-rung und den Gewerkschaften konnten makrookonomische Stabilisierungserfol-ge erzielt und gleichzeitig der Ausbau des Wohlfahrtsstaates weit vorangetrie-ben werden (Cameron 1978, 1984; Garrett 1998; Tabs 2005b).

Ein dritter institutioneller Theoriestrang verweist auf die Riickkoppelungs-effekte von institutionellen Strukturen auf politische Reformchancen. Sind wohlfahrtsstaatliche Sicherungssysteme erst einmal etabliert, erweisen sich die­se Strukturen als reformtrage. Im Mittelpunkt steht also die durch das histori-sche Politikerbe angelegte Pfadabhangigkeit der Sozialpolitik. Pfadabhangigkeit meint dabei, dass die Umrustungskosten auf politische Altemativlosungen im Zeitverlauf anwachsen, da historische Erstentscheidungen Politikoptionen kana-

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lisieren und institutionelle Tragheitsmomente die Freiheitsgrade der Politik in spateren Phasen eines sequenziellen Entscheidungsprozesses verringem (Pier-son 2000,2004). Umgelegt auf den Wohlfahrtsstaat bedeutet dies, dass die friihe strukturelle Konfiguration des Wohlfahrtsstaates maBgeblich seine weitere Ent-wicklungsrichtung, Expansionsdynamik und Reformierbarkeit bestimmt.

In mehreren Spielarten entfaltet sich auch jene Theorieschule, die in den in­ter- und transnationalen Beziehungen maCgebliche Bestimmungsfaktoren nati-onalstaatlich organisierter Sozialpolitik verortet. Sozialpolitik wird nicht nur rein „nationalstaatlich" determiniert, sondem ist aus den Wechselwirkungen zwischen „innen" und „au6en", d.h. aus den okonomischen und politischen In-terdependenzen zwischen Nationen heraus zu erklaren. So begreift die Kompen-sationsthese wohlfahrtsstaatliche Intervention als Reaktion auf die hohe auBen-wirtschaftliche Verwundbarkeit kleiner offener Volkswirtschaften zur Abfede-rung weltmarktinduzierter Schwankungen (Cameron 1978; Katzenstein 1985). Die Effizienzthese sieht hingegen gerade in der fortschreitenden Marktintegrati-on und dem dadurch ausgelosten Steuer- und Standortwettbewerb eine Bedro-hung fur hohe Sozialstandards (Tanzi 2002, kritisch: Garrett 1998; Swank 2002). Politische Systemkonkurrenz wird ebenso als Triebkraft wohlfahrtsstaat-licher Intervention namhaft gemacht, wie auch die Tatigkeit intemationaler Or-ganisationen wie der ILO (Usui 1994; Senti 1998) oder der OECD (Arminge-on/Beyeler 2004). Zu dieser Schule zahlt schlieBlich noch eine Forschungsrich-tung, welche die Effekte supranationaler Sozial- und Wirtschaftspolitik auf den nationalen Wohlfahrtsstaat, wie sie jiingst in Form der positiven und negativen Integration in Europa verstarkt in Erscheinung getreten sind, in den Blick nimmt (Leibfried/Pierson 1995; Falkner 1998; Scharpf 1999; Leibfried 2005; Falkner et al. 2005).

Obwohl vordergrimdig als konkurrierende Ansatze erscheinend, erweisen sich alle bislang skizzierten Theoriestrange bei genauerer Betrachtung als kom-plementar und wechselseitig anschlussfahig (Schmidt 2000). So miissen die aus der Veranderung in der intemationalen politischen Okonomie resultierenden Herausforderungen innenpolitisch bearbeitet werden, Zahl und Starke von Par-teien hangen von gesellschaftlichen Cleavage-Strukturen sowie den Institutio-nen des Wahlrechts ab, wahrend der Handlungsspiebaum von Regierungen durch die Verfassimgsordnung, das Politikerbe der Vergangenheit oder durch sozio-okonomische Problemlagen abgesteckt wird (Schmidt 1996). Kurzum: Erst die Zusammenschau und Verkntipfimg dieser Theorien gibt ein Analyseras-ter in die Hand, welches dem facettenreichen Bild wohlfahrtsstaatlicher Politik bzw. der Vielfalt wohlfahrtsstaatlicher Ensembles Rechnung tragt.

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1.2 Sozialstaatsriickbau

Die empirische Tragfahigkeit dieser Theorieschulen wird allerdings von einigen Autoren angezweifelt, wenn es um die Erklarung von Konsolidierung und Rtickbau des Sozialstaates geht. Die scharfste Kritik stammt von Paul Pierson (1994, 1996, 1998, 2001). Demnach wiirden die auf Genese und Expansion des Wohlfahrtsstaates (,old politics of the welfare state') zugeschnittenen Theorien nicht in der Lage sein, wohlfahrtsstaatliche Politik in Zeiten „permanenter Austeritat" (Pierson 1998) zu erklaren. Der Wohlfahrtsstaat habe sich trotz der Schwachung von Linksparteien, einer rucklaufigen Gewerkschaftsbindung und Globalisierung als erstaunlich resistent erwiesen und selbst in konservativ re-gierten Landem sei ein massiver Rtickbau des Wohlfahrtsstaates ausgeblieben. Sozialstaatliche Politik in harten Zeiten - so die zentrale These von Pierson - ist demnach kein Spiegelbild jener Faktoren, die den Ausbau des Wohlfahrtsstaates vorangetrieben haben (Pierson 1994: 29).

Der Hauptgrund fur die Immunitat des Wohlfahrtsstaates gegenuber radika-len Ruckbaubestrebungen ist eine neue Politiklogik, eine ,new politics of the welfare state', die sich grundlegend vom politischen Handlungskalkul der politi-schen Eliten im goldenen Zeitalter des Wohlfahrtsstaates unterscheidet. Beide Handlungslogiken stehen mit der Popularitat des Wohlfahrtsstaates in unmittel-barem Zusammenhang. Wahrend mit der Verteilung von Sozialleistungen im so genannten goldenen Zeitalter des Wohlfahrtstaates Massenloyalitat generiert bzw. - in Piersons Terminologie - ,credit claiming' betrieben wurde, pragen gegenwartig Strategien der ,blame avoidance' (Weaver 1986) das Kalkul der politischeii Eliten, was tiefgreifende Einschnitte in das soziale Netz unwahr-scheinlich machen wtirde. Mehrere Faktoren spielen hier zusammen. Zuallererst woUen Politiker Wahlen gewinnen. Politiker sind zwar nach Pierson durchaus policyorientiert, um aber spezifische politische Ziele realisieren zu konnen, mussen zunachst Machtbastionen erobert bzw. verteidigt werden. Dir Handeln orientiert sich daher an kurzfristigen Zielen. Ein Sozialstaatsruckbau steht einem Wahlerfolg jedoch aus mehreren Griinden im Wege. Zum einen verursacht re-striktive Sozialpolitik in der Gegenwart konzentrierte Kosten, stiftet aber nur ei­nen diffusen ktinftigen Nutzen. Zum anderen besteht ein psychologischer ,nega-tivity-bias' in dem Sinne, dass Wahler Leistungskiirzungen stark negativ wahr-nehmen und daher dazu tendieren, restriktive Sozialpolitik an der Wahlume zu bestrafen. Diese Sanktionierung wird insofem begtinstigt, als im Zuge der Ex­pansion des Wohlfahrtsstaates zahlenmaUig starke wohlfahrtsstaatliche Kliente-le entstanden sind, gegen die Wahlen nicht gewonnen werden konnen. Der Wohlfahrtsstaat ist auBerst popular und reprasentiert heute den Status quo (Pier-

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son 1996: 174), der von gut organisierten iind zahlenmaBig starken Interessen-gruppen verteidigt wird. Knapp die Halfte der wahlberechtigten Bevolkenmg bestreitet heute ihren Lebensunterhalt zumindest partiell mit Sozialleistungen. Uberdies ist der Wohlfahrtsstaat ein bedeutender Arbeitgeber. Politiker versu-chen daher aus wahlstrategischen Grunden, die Kosten fiir restriktive politische Reformen imd den politischen Widerstand dagegen zu minimieren, indem sie entweder auf einschneidende MaBnahmen verzichten oder Strategien der ,blame avoidance' wahlen, um die politische Verantwortung fur unpopulare MaBnah-men auf Dritte abzuwalzen oder zu kaschieren. Beispielsweise kann die Sicht-barkeit von Leistungskiirzungen verschleiert werden, indem komplexe und da-mit fiir den Wahler schwer durchschaubare Reformen auf den Weg gebracht werden. Der Widerstand gegen Riickbau kann dadurch entscharft werden, dass hauptsachlich schlecht organisierte oder kunftige Empfangergruppen in das Vi-sier restriktiver Sozialpolitik geraten, wahrend gut organisierte Klientele kom-pensiert werden (Pierson 1994: 19-24). Radikale Reformen scheitem zudem an einer ,institutional stickiness', induziert durch die Tragheitsmomente der beste-henden Institutionen des Wohlfahrtsstaates und/oder die institutionellen Veto-punkte innerhalb des politischen Systems (Pierson 1998: 552-553).

Anstelle eines massiven Riickbaus ist die gegenwartige Sozialpolitik viel-mehr durch eine Neujustierung und Modemisierung der wohlfahrtsstaatlichen Programme gepragt:

„In most countries, there is little sign that the basic contours of social policy face a fundamental political challenge. The contemporary politics of the welfare state cen­ters on the renegotiation, restructuring, and modemization of the terms of this social contract rather than its dismantling" (Pierson 1998: 540).

Dieser Umbau der sozialen Sicherungssysteme ist dabei nicht primar auf globa-lisierungsbedingte Anpassungszwange zurtickzufuhren, sondem stellt in erster Linie eine Reaktion auf postindustrielle Herausforderungen wie Deindustriali-sierung, demografische Verwerfimgen sowie die Reifimg sozialer Sicherungs­systeme dar. Diese endogenen Probleme unterscheiden sich jedoch regimespezi-fisch m ihrem AusmaB und werden in Abhangigkeit der bestehenden Sozial-staatskonfigurationen unterschiedlich und inkrementell (Pierson 1998: 554) be-arbeitet.^ Die Gefahr der elektoralen Abstrafimg restriktiver Sozialpolitik be-

Pierson (1996) skizziert allerdings auch Bedingungen, unter denen weitreichende Reformen moglich sind. Diese sind dann wahrscheinlich, wenn eine starke Regierung das mit Einschnit-ten in das soziale Netz verbundene Wahlrisiko bewusst in Kauf nimmt oder ein hinreichend groBer, z.B. durch einen exogenen Schock induzierter Problemdruck besteht, der ein Handeln zwingend erforderlich macht.

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gunstigt schlieUlich akkordierte Reformen, die sich auf breite Mehrheiten sttit-zen konnen:

„In practice, the political vulnerability of those seeking to modify popular social welfare programs is such that they will often seek relatively broad consensus on re­form rather than a ,minimum winning coalition'" (Pierson 1998: 555).

Aus dieser Synopse w ird deutlich, dass nach Pierson grundlegende Hypothesen der klassischen Sozialstaatstheorien ins Leere laufen, w enn es um die Erklarung wohlfahrtsstaatlicher Politik im ,silbemen Zeitalter des Wohlfahrtsstaates' (Tay-lor-Gooby 2002) geht. So fiihren die Machterhaltintentionen der politischen Eli-ten zvy^angslaufig dazu, dass Parteiendifferenzen eingeebnet werden. Selbst die mit aggressiver neoliberaler Rhetorik angetretenen sakular-konservativen Regie-rungen Thatcher und Reagan konnten laut Pierson jenseits einer Oberflachen-kosmetik kaum substantielle Konsolidierungserfolge realisieren. Einige New Politics-Autoren gehen sogar noch w^eiter und postulieren die Umkehrung der alten Parteiendifferenzthese, indem Linksparteien hohere Reformchancen einge-raumt werden als ihren biirgerlichen Konkurrenten (Ross 1997, 2000). Als ge-wissermaBen natiirliche Verbiindete des Wohlfahrtsstaates gelten Linksparteien deninach als unverdachtige Kandidaten flir eine Demontage des Sozialstaates und konnen daher analog zu einer ,Nixon goes to China'-Logik Konsolidie­rungserfolge leichter realisieren.

Aus der Sicht Paul Piersons (1994) ist auch der Effekt von Staatsstrukturen auf restriktive Sozialpolitik unbestimmt. Territorial fragmentierte politische SySterne eroffiien zwar die Moglichkeit fiir die nationalen Eliten, den ,schwar-zen Peter' auf nachrangige Gebietskorperschaften abzuwalzen, gleichzeitig smd die vielen Vetopunkte in Bundesstaaten potenzielle Andockpunkte ftir Interes-sengruppen zur Verteidigung des Status quo. Demgegeniiber stellen unitarische und zentralisierte politische Systeme zwar einen hohen Handlungsspieh-aum fiir die Regierung zur Verfugung, gleichzeitig ist es hier aber fiir die Wahlerschaft moglich, aufgrund der hohen Machtkonzentration die politisch Verantwortli-chen fiir unpopulare MaUnahmen zu identifizieren und elektoral abzustrafen. SchlieBlich stellt die Logik der Schuldvermeidung auch einen innenpolitischen Puffer gegen unmittelbare globalisierungsbedingte Anpassungs- oder Riickbau-zwange dar, so dass eine aus dem intemationalen Kapital- und Standortwettbe-werb resultierende Negativspirale unwahrscheinlich ist.

Piersons Irreversibilitatsthese (Siegel 2002) blieb jedoch nicht unwider-sprochen. Viele Sozialstaatsforscher betonen die ungebrochene Relevanz der al­ten Theorieschulen, derm „eine Theorie, die das Wachstum des Wohlfahrtsstaa-

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tes zu erklaren versucht, sollte auch in der Lage sein, seinen Riickbau oder Nie-dergang zu verstehen" (Esping-Andersen 1990: 32, U.d.A.). Der wohl gewich-tigste empirische Einwand gegen die New Politics-These stammt von fuhrenden Reprasentanten der Machtressourcenschule (Korpi 2003; Korpi/Palme 2003). Korpi und Palme (2003) verweisen darauf, dass die Piersonsche These von der Riickbauresistenz des Wohlfahrtsstaates einer Fehlspezifizierung der abhangi-gen Variable und einem zu starken Analysefokus auf nationale Sozialausgaben geschuldet ist (Korpi/Palme 2003: 426). Da die Aufwendungen fur soziale Si-cherheit in den allermeisten OECD-Demokratien in den letzten beiden Jahrzehn-ten weiter angewachsen sind (Castles 2004) und auch auf der Finanzierungsseite eher Konstanz als Wandel das Bild pragt (Navarro et al. 2004), untersttitzen ag-gregierte Daten zumindest auf den ersten Blick die These einer ungebrochenen Persistenz des Wohlfahrtsstaates. Analysen zu den Bestimmungsfaktoren der Entwicklungsdynamik der Sozialleistungsquote enthtillen zudem im Einklang mit der New Politics-These ein Abschmelzen von Parteiendifferenzen und iden-tifizieren demografische Faktoren, Catch-up und Arbeitslosigkeit als zentrale Schubgrolien der jUngeren Sozialausgabenentwicklung (Huber/Stephens 2001; Castles 2001; Kittel/Obinger 2003).

Sozialausgaben sind fur sich allein genommen allerdings kaum ein geeig-neter Indikator zur Messung von Sozialstaatsausbau bzw. Sozialstaatsrttckbau (Castles 1993). Ein Anstieg der Sozialleistungsquote impliziert namlich keines-wegs die Absenz von wohlfahrtsstaatlichen Konsolidierungs- und AbbaumaiJ-nahmen. Zum einen kann es sein, dass durch Leistungseinschnitte der Ausga-benanstieg eingebremst wurde, so dass dieser mit einer Politik der non-decisions noch viel starker ausgefallen ware. Zum anderen spiegelt die Sozialleistungs­quote nicht Veranderungen bei der Zahl der Leistungsempfanger wider (Hay 2005: 199). Ein im Vergleich zum Sozialbudget iiberproportional starker Zu-wachs von Leistungsempfangem bedeutet, dass annahemd gleich viele Mittel auf mehr Personen verteilt werden mussen, was fast zwangslaufig Leistungsre-duktionen impliziert. SchlieBlich wird die Sozialleistungsquote auch durch Ver­anderungen im Nenner, dem Bruttoinlandsprodukt, maBgeblich beeinflusst.

Korpi/Palme (2003) fokussieren daher auf die Entwicklung der verbrieften sozialen Rechte, wie sie anhand von Lohnersatzraten gemessen werden konnen. Deren Entwicklung in der OECD-Welt im Zeitraum zwischen 1975 und 1995 widerspricht zentralen Befunden von Paul Pierson. Denmach hat in den meisten Landem ein Sozialstaatsriickbau stattgefimden. In den untersuchten Bereichen (Arbeitslosenunterstutzung, Krankengeld und Geldleistungen bei Unfall) zeigen sich neben zum Teil dramatischen Einschnitten allerdings auch erhebliche nati­onale Unterschiede in der Ruckbauintensitat (vgl. auch Montanari/Palme 2004). In GroBbritannien - einem Land, ftir das Pierson (1994) kaum einen maBgebli-

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chen Riickbau identifiziert - wurden beispielsweise die Geldleistungen dieser Programme unter das Niveau der 1930er Jahre zuruckgefuhrt (Korpi/Palme 2003: 433). Die empirische Analyse der Entwicklung der Lohnersatzraten im in-temationalen Vergleich bestatigt insgesamt die ungebrochene empirische Trag-fahigkeit der klassischen Sozialstaatstheorien: Der Sozialstaat wurde in jenen Landem zuruckgestutzt, wo die politische Linke schwach ist, okonomischer Problemdruck in Gestalt eines hohen Haushaltsdefizits bestand, hohe Arbeitslo-sigkeit herrschte und die Verfassung permissiv ist. Hinzu kommen der Sozial-staatstyp und das Ausgangsniveau der Sozialleistungen als relevante Erkla-rungsfaktoren fur landerspezifische Unterschiede. Diesbezuglich deuten die Be-fimde darauf bin, dass die kontinentalen Sozialversicherungssysteme bislang am starksten von Kiirzungen verschont blieben, wahrend in liberalen Wohlfahrts-staaten die umfassendsten Einschnitte implementiert wurden. Dazu passt auch, dass weitreichende Kiirzungen dort vorgenommen wurden, wo das Ausgangsni­veau der Sozialleistungen vergleichsweise gering war. Letzteres legt nahe, dass restriktive Sozialpolitik zu einem nicht unwesentlichen Teil ideologischen Mo-tiven und damit der Verteilung politischer Machtressourcen geschuldet ist (Kor­pi/Palme 2003). Allen/Scruggs (2004) und Swank (2005) kommen mit einem al-temativen Datensatz zur Entwicklung der Lohnersatzraten in OECD-Kemlandem zu weitgehend gleichlautenden Befimden, die insgesamt ein-drucksvoU die empirische Tragfahigkeit der Old Politics-These untermauem.

Unsere - bereits an anderer Stelle (Talos 2004: 214; 2005a: 74; Obinger 2004: 45) entwickelte - These fugt sich nahtlos in diese neueren Befimde des in-temationalen Vergleichs ein. Sie lautet, dass die rezente sozialpolitische Ent­wicklung in Osterreich in hohem MaBe mit dem klassischen Theoriekanon der vergleichenden Staatstatigkeits- bzw. Wohlfahrtsstaatsforschung erklart werden kann. Die letzten Jahre sind durch einschneidende Veranderungen in der staatli-chen Sozialpolitik charakterisiert. Diese Veranderungen umfassen einen sub-stantiellen Um- und Riickbau von elementaren Programmen des Sozialstaates, der weder mit Begriffen wie ,welfare state resilience' noch mit 'recalibration' hinreichend beschrieben werden kann. Dieser Kurswechsel ist auch nicht eine Reaktion auf einen ungewohnlich hohen sozio-okonomischen Problemdruck, zumal die vergleichsweise giinstige Entwicklung der meisten makrookonomi-schen Performanzindikatoren diese Vermutung nicht stutzt. Die Wende ist viel-mehr primar politischen Faktoren, namlich veranderten politischen Kraftever-haltnissen und einem neuen Stil des Regierens, geschuldet und wurde dariiber hinaus durch eine permissive Verfassungsordnung wesentlich erleichtert. Der neue Regierungsstil zeichnet sich durch die bislang ungewohnt starke Instru-mentalisierung des Mehrheitsentscheids sowie die damit verbundene weitge-

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hende Ausschaltung der Arbeitnehmerverbande aus dem politischen Entschei-dimgsprozess aus und widerspricht damit in geradezu frappierender Weise Paul Piersons Hypothese, wonach ,blame avoidance' die zentrale Handlungsmaxime und konsensuale Reformpolitik das typische sozialpolitische Entscheidungsmus-ter der politischen Eliten in Zeiten permanenter Austeritat darstellen. Ungeach-tet dessen finden wir allerdings auch MaBnahmen, die im Sinne Paul Piersons fijr einen Umbau (^restructuring') der Sozialsysteme sprechen und mit denen versucht wurde, neuen Bedarfssituationen und Risiken in postindustriellen Ge-sellschaften durch eine Modemisierung der Programme Rechnung zu tragen.

Um dies zu illustrieren, werden in den nachsten beiden Kapiteln zunachst die Veranderungen im politischen Krafteparallelogramm sowie die okonomi-schen, sozialpolitischen und institutionellen Ausgangs- und Rahmenbedingun-gen am Vorabend des Machtwechsels nachgezeichnet, ehe im Anschluss daran die sozialpolitischen MaBnahmen der Regierungen Schussel I und II eingehend analysiert werden.

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Politische Rahmenbedingungen und Programmatik der Wende

2.1 Neue politische Krafteverhaltnisse

Die Nationalratswahlen vom 3. Oktober 1999 brachten den beiden GroBparteien SPO und OVP herbe Verluste. Die SPO blieb zwar mit 33,2% der Stimmen starkste Partei, musste jedoch im Vergleich zur Nationalratswahl 1995 Verluste in Hohe von fast ftinf Prozentpunkten hinnehmen und erzielte das schlechteste Wahlergebnis in der Nachlo'iegszeit. Ausgehend von einem historischen Tiefstand von 28,3% der Stimmen bei den Wahlen 1995, verlor die OVP 1999 nochmals an Wahlergunst und erreichte nur noch 26,9% der Stimmen. Die Volkspartei wurde dabei von der FPO iiberfliigelt, die zwar ebenfalls auf einen Stimmenanteil von 26,9% kam, mit 415 Stimmen Vorsprung und einem Zu-wachs von knapp funf Prozentpunkten jedoch den zweiten Platz eroberte. Neben der FPO zahlten die Griinen, die ihren Stimmenanteil von 4,8 auf 7,4% ausbau-en konnten, zu den Gewinnem der Wahl. Das Liberale Forum, das sich 1993 von der FPO abgespalten hatte, scheiterte 1999 hingegen an der 4-Prozent-Hiirde und ist seither nicht mehr im Nationalrat vertreten.

Angesichts dieses Kraftepatts schlug die Stunde des Bundesprasidenten. Thomas Klestil hatte 1992 das Amt mit dem Anspruch angetreten, die RoUe des Bundesprasidenten aktiv auszuflillen. Mit seinem Wahlkampfslogan „Macht braucht KontroUe" versuchte sich der von der OVP nominierte Spitzendiplomat Klestil von dem in erster Linie auf Reprasentationsaufgaben reduzierten Amts-verstandnis seiner Vorganger zu losen. Abgesehen von einigen von ihm abge-lehnten Personalentscheidungen und Versuchen, traditionell dem Kanzler vor-behaltene auBenpolitische Reprasentationsaufgaben an sich zu ziehen, gelang es Klestil in seiner ersten Amtszeit allerdings nicht, diesen Anspruch zu erfuUen. 1999 befand sich Klestil hingegen in seiner zweiten und damit letzten Amtszeit und konnte daher frei von strategischen Wiederwahltiberlegungen agieren. Ent-gegen der politischen Konvention erteilte Thomas Klestil nach den National­ratswahlen 1999 dem Vertreter der stimmenstarksten Partei, Bundeskanzler Vik­tor Klima (SPO), zunachst keinen Auftrag zur Regierungsbildung, sondem ver-

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pflichtete die Parteien zu bilateralen Sondierungsgesprachen. Gleichzeitig gab er den Parteien inhaltliche Reformvorgaben in Form eines Punktekatalogs fur die Sondierungsgesprache mit auf den Weg (Khol 2001: 87). Da die SPO eine Koa-lition mit der von Jorg Haider gefiihrten FPO ausschloss und die OVP zunachst auf Basis eines Wahlversprechens den Beschluss fasste, in die Opposition zu gehen, gab es keine Koalitionskonstellation, die eine parlamentarische Mehrheit auf sich vereinigt hatte. Erst als die OVP den angekiindigten Gang in die Oppo­sition widerrief und die Sondierungsgesprache beendet waren, erteilte Bundes-prasident Klestil Bundeskanzler Viktor Klima den Auftrag zur Regierungsbil-dung, wobei Klestil seine Praferenzen zugunsten einer Fortfiihrung der GroBen Koalition nicht verhehlte. Nach dem Scheitem der Verhandlungen zwischen SPO und OVP im Januar 2000 lotete Bundeskanzler Viktor Klima Moglichkei-ten zur Bildung einer Minderheitsregierung aus. Da nur die Griinen eine punk-tuelle Unterstutzung einer Minderheitsregierung signalisierten, war diese Vari-ante praktisch aussichtslos. In der Folge entwickelte sich innenpoHtisch eine Ei-gendynamik, die anschlieCend auch auBenpolitische Verwerftingen nach sich zog. Mit dem Scheitem einer Neuauflage der GroBen Koalition begannen Ende Januar 2000 auch formelle Koalitionsverhandlungen zwischen OVP und FPO, die binnen weniger Tage zum Abschluss gebracht wurden. Die sich abzeichnen-de Regierungsbeteiligung der rechtspopulistischen FPO fuhrte zu einmaligen Sanktionsdrohungen (und spater auch MaBnahmen) seitens der 14 EU-Partnerlander. Zum Zweck der Schadensbegrenzung hinsichtlich der Reputation Osterreichs im Ausland griff Klestil aktiv in die Regierungsbildung ein. Er ver-langte zum einen von Wolfgang Schiissel und Jorg Haider die Unterzeichnung einer von ihm mitgestalteten Praambel zum Regierungsabkommen, welche nicht nur ein Bekenntnis zur pluralitaren Demokratie und den Menschenrechten, zur Westintegration, zur Sozialpartnerschaft und zum Sozialstaat beinhaltete, son-dem auch ein Eingestandnis der nationalsozialistischen Vergangenheit Oster­reichs ablegte. Zum anderen nahm Klestil Einfluss auf die Ministerliste, indem er zwei FPO-Kandidaten (Thomas Prinzhom und Hilmar Kabas) wegen xe-nophober AuBerungen ablehnte. SchlieBlich auBerte der Bundesprasident passiv seinen Protest, indem er keinen formellen Regierungsauftrag erteilte und die Vereidigung des neuen Kabinetts am 4. Februar 2000 mit einer deutlich erkenn-baren mimischen Aversion vomahm.

Der Bundesregierung Schiissel I gehorten 18 Mitglieder an. Die OVP stell-te neben dem Bundeskanzler sechs Minister und zwei Staatssekretare, die Frei-heitlichem stellten mit Susanne Riess-Passer die Vizekanzlerin, funf Minister

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sowie ebenfalls zwei Staatssekretare. Ein Minister war parteilos^. Neuer Fi-nanzminister wurde der Freiheitliche Karl-Heinz Grasser. Auch das Sozialres-sort ging an die FPO imd wurde zunachst mit Elisabeth Sickl imd damit erstmals in der Zweiten Republik nicht mehr mit einer gewerkschaftsnahen Personlich-keit besetzt. Die Arbeitsmarkt- und Arbeitsrechtskompetenzen wurden aller-dings aus dem Sozialministerium ausgelagert und in das von Martin Bartenstein (OVP) geleitete Wirtschaftsministerium tiberfuhrt.

Die neue Bundesregierung verfugte im Nationalrat iiber 104 der 183 Man­date und auch im Bundesrat besaCen die Koalitionsparteien Anfang 2000 eine breite Mehrheit. SchlieBlich stellten OVP und FPO auf Bundeslanderebene sie-ben der neun Landhauptmanner bzw. -frauen, wenngleich die Sozialdemokraten in den meisten Landem an der Regierung beteiligt waren. Dessen ungeachtet fand sich die SPO auf Bundesebene nach 30-jahriger Regierungsbeteiligung und Kanzlerschaft erstmals auf den Oppositionsbanken wieder. Daran hat die auf-grund der Turbulenzen innerhalb der FPO vorgezogene Nationalratswahl im Jahr 2002 nichts verandert. Das Ergebnis der Wahl brachte eine merkbare Ver-schiebxmg der Krafteverhaltnisse innerhalb der 2003 emeuerten Koalition von OVP und FPO. Die OVP vergroBerte ihren Stimmenanteil von 26,9% (1999) auf 42,3% (vgl. Fallend 2006a), wahrend die FPO erdrutschartig von 26,9% auf 10% reduziert wurde. Die wachsende Instabilitat der FPO (vgl. Luther 2006) und die enormen Stimmenverluste bei Bundes- und Landtagswahlen fuhrten nicht zuletzt zum innerparteilichen Bruch und schlieBlich zur Abspaltung des „Bundnis Zukunft Osterreich" (BZO) von der FPO im Jahr 2005. Seither bildet das BZO den Regierungspartner der OVP in der nunmehrigen schwarz-orangen Koalition;

2.2 Programmatische Morphologie der Wende

Die neue Koalition aus OVP und FPO ist mit einem ehrgeizigen und klar biir-gerlich gepragten Arbeitsprogramm angetreten, das auf einen Paradigmenwech-sel in der Sozial- und Wirtschaftspolitik abzielte. Die wichtigsten programmati-schen Dokumente der Wende sind das Regierungsprogramm „Zukunft im Her-zen Europas. Osterreich neu regieren" vom 3. Februar 2000 (im Folgenden: Re­gierungsprogramm 2000) und das Programm der Regierung Schtissel II vom 28. Februar 2003 (im Folgenden: Regierungsprogramm 2003). Die Veranderungs-

^ Justizminister Dieter Bohmdorfer war offiziell zwar parteilos, fungierte aber bis zu seinem Regierungseintritt als Rechtsanwalt von Jorg Haider und wurde auch von der FPO nominiert. Faktisch war das Kabinett damit paritatisch besetzt.

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perspektiven imd Politikoptionen der neuen Regierung lassen sich uberdies an-hand von Regierungserklarungen, Budgetreden des Finanzministers sowie par-lamentarischen Debattenbeitragen rekonstruieren.

Fiir das Verstandnis imd die Verortung der schwarz-blauen Sozialpolitik ist es allerdings essentiell, neben der sozialpolitischen Reformagenda auch einen Blick auf die wirtschaftspolitische Programmatik der Regierung Schussel zu werfen, da aus der Neujustierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik mittelbare und unmittelbare Konsequenzen fur die Sozialpolitik resultierten.

2.2.1 Das Wirtschaftsprogramm: „ Ein guter Tag beginnt mit einem sanierten Budget"^

Das wirtschafts- und finanzpolitische Programm der OVP/FPO-Regierung besafi einen klar angebotsorientierten Zuschnitt und war laut Finanzminister Karl-Heinz Grasser ,yA.usdruck eines grundlegenden Paradigmenwechsels". Zentrale Punkte umfassten die Zuruckdrangung des Staates auf Kemflinktionen und die Entfesselung der Marktkrafte: „Wir stehen" - so der Finanzminister in seiner Budgetrede am 18. Oktober 2000 - „fur eine liberale und faire Marktwirtschaft" und „sehen die Losung vieler Probleme unseres Landes daher in weniger staatli-chem Dirigismus und mehr marktwirtschaftlichen und privaten Initiativen, in weniger Einschrankung der Freiheit durch ein unglaubliches AusmalJ an Gebo-ten und Ferboten und mehr Eigenverantwortung und Selbstbestimmung im Sinn einer offenen und demokratischen Gesellschaft" (Sten. Prot. d. NR, XXI. GP, 40. Sitzung: 17, Hervorhebung im Original). Bundeskanzler Schussel forderte in seiner Regierungserklarung vom 9. Februar 2000 „[m]ehr Freiheit - statt staatli-cher Gangelung! Mehr Eigenverantwortung - statt Bevormundung von oben! Mehr Anerkennung der individuellen Leistung - statt Gleichmacherei!" (Sten. Prot. d. NR, XXI. GP, 9. Sitzung: 13). Das vom Finanzminister formulierte wirtschaftspolitische Ziel bestand darin, „einen falsch verstandenen Keynesia-nismus, der in Form des Austrokeynesianismus als Vorwand fiir eine gewaltige Staatsverschuldung gedient hat, zu beenden und das Land wieder von den Schulden zu befi-eien". [D]ie Wirtschaft boomt, aber der Staat ist ein Sanie-rungsfall" (Sten. Prot. d. NR, XXI. GP, 40. Sitzung: 18, 19). „Neu regieren" -so Bundeskanzler Schiissel in seiner Regierungserklarung - „heiBt: Konsequen-te Wettbewerbs- und Standortpolitik zu betreiben" (Sten. Prot. NR, XXI. GP, 9. Sitzung: 20).

Finanzminister Karl-Heinz Grasser in seiner Budgetrede vor dem Nationalrat am 18. Oktober 2000 (Sten. Prot. d. NR, XXL GP, 40. Sitzung: 29).

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