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Andrea Burgener Woeffray et al. Anwendungs- beispiele zum Verfahren zur Früherken- nung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0–6

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Leseprobe Anwendungsbeispiele zum Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder -FegK 0-6

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Andrea Burgener Woeff ray et al.

Anwendungs-beispielezum Verfahren zur Früherken-nung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0–6

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Andrea Burgener Woeffray, Désirée Mena, Mirjam Mumenthaler, Petra Keller, Brigitte Eisner-Binkert, Cynthia Kasel, Anne Müller, Jeannette Lagler und Gabriela Rickenmann Bosshardt

Anwendungsbeispielezum Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0 – 6

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Impressum

Burgener Woeffray, A.; Mena, D.; Mumenthaler, M.; Keller, P.; Eisner-Binkert, B.; Kasel, C.; Müller, A.; Lagler, J. & Rickenmann Bosshardt, G. (2016): Anwendungsbeispiele zum Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0 – 6. Zürich: Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik.

© Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Zürich, 2016 Alle Rechte vorbehalten Die Verantwortung für die Texte liegt bei den Autorinnen

ISBN 978-3-9524363-4-9

Die Dr. Hedwig Stauffer Stiftung, die Ernst Göhner Stiftung und die Spendenstiftung Bank Vontobel haben diese Publikation mit einem finanziellen Beitrag unterstützt.

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Anwendungsbeispiele zum Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0 – 6

Inhaltsverzeichnis

Andrea Burgener Woeffray: Einleitung ................................................................................................. 7

Andrea Burgener Woeffray: Risiko- und Schutzfaktoren .................................................................. 11

Désirée Mena: Ein klares Bild entsteht ................................................................................................ 12

Mirjam Mumenthaler: Das Kind als Symptomträger seiner familiären Situation ........................... 17

Petra Keller: Wenn der erste Eindruck täuscht ................................................................................... 22

Brigitte Eisner-Binkert: Trotz gutem Netz ............................................................................................ 27

Cynthia Kasel: Veränderungen bewirken ............................................................................................ 33

Anne Müller: Der Knoten ist gelöst ..................................................................................................... 39

Jeannette Lagler: Vergangenheit in der Gegenwart .......................................................................... 43

Gabriela Rickenmann Bosshardt: Ein desolates Bild ......................................................................... 48

Andrea Burgener Woeffray: Schlussfolgerungen .............................................................................. 53

Glossar mit Quellenverzeichnis ........................................................................................................... 55

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Anwendungsbeispiele zum Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0 – 6

Einleitung

Andrea Burgener Woeffray

«Ich habe durch diese Arbeit etliches für meine Arbeit gelernt. Du staunst vielleicht, aber ich habe durch das Schreiben vor allem auch viel über meine persönlichen Haltungen und Werte erfahren. Deshalb bin ich erfreut und dankbar, dass ich die Gelegenheit ange-nommen habe, diesen Beitrag zu schreiben». (Mirjam Mumenthaler)

Das Verfahren zur Früherkennung entwicklungs-gefährdeter Kinder bis sechs Jahre und zur Er-mittlung ihres Unterstützungsbedarfs – FegK 0–6 beruht auf Erkenntnissen der Mannheimer Risikokinderstudie (siehe Glossar). Diese be-deutsame Langzeitstudie hat der Risiko- und Resilienzforschung wesentliche Impulse verlie-hen. Sie hat den engen Zusammenhang zwi-schen Belastungen sowohl aufgrund vorliegen-der Risikofaktoren als auch wegen fehlender Schutzfaktoren aufgezeigt und darauf hinge-wiesen, dass sich derartige Belastungen auf die Entwicklung von Kindern direkt negativ auswir-ken. Damit erhält auch der Begriff der Entwick-lungsgefährdung präzisere Konturen. Entwick-lungsgefährdung wird einerseits definiert über das Vorhandensein einer Risikobelastung, ande-rerseits darüber, dass das Kind bereits mit ers-ten Anzeichen eines auffälligen Entwicklungs-verlaufs Symptomträger seiner Situation wird (siehe Burgener, 2014, S. 19–20) 1.

Das FegK 0–6 faltet diesen engen Zusammen-hang der kindlichen Entwicklung im Kontext von Risiko- und Schutzfaktoren in einem vierstufigen Vorgehen sukessiv auf, an dessen Ende der Un-terstützungsbedarf für das Kind abgeleitet wer-den kann (Abb. 1).

1 Burgener Woeffray, A. (2014). Entwicklungsgefährdung früh erkennen. Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder von 0–6 Jahren: FegK 0–6. Handbuch. Bern: Edition SZH/CSPS.

Teil A: VorabklärungDieser Teil des Verfahrens stellt sicher, dass die Eltern – ausgehend von einer vorliegenden Besorgnis über die Entwicklung ihres Kindes – ihre Zustimmung zum Verfahren geben. Es wird ebenfalls abgeklärt, ob die Verständigung mit dem Kind oder der erwachsenen Person, die in das Verfahren einbezogen werden soll, problem-los ist, oder ob sie aufgrund von sprachlichen Schwierigkeiten (etwa bei fremdsprachigen Kindern/Personen) oder inhaltlichen Verständi-gungsschwierigkeiten erschwert resp. unmög-lich ist. Zeigt die Vorabklärung, dass eine sprach-lich-inhaltliche Kommunikation nicht möglich ist, wird man auf andere Vorgehensweisen zu-rückgreifen müssen, um die Situation eines Kin-des und seiner Familie einzuschätzen. In vielen Fällen kann eine kulturelle Übersetzerin bzw. ein kultureller Übersetzer beigezogen werden, die/der sich als gesprächsteilnehmende Person an einem «Trialog» beteiligt und Fachpersonen und Eltern unterstützt.

Teil B: Erfassung des EntwicklungsstandesMit diesem Teil soll festgestellt werden, wo das Kind in seiner Entwicklung steht. Anhand selbst gewählter Tests und Verfahren, die aber test-theoretischen Ansprüchen genügen, soll der Entwicklungsstand in den Bereichen Kognition, Motorik und sozial-emotionales Verhalten erho-ben werden. Das Verfahren schenkt der gren-zwertigen Entwicklung im Bereich zwischen – 2 ⁄3 und –1 ½ Standardabweichungen (SD) unter der Norm besondere Aufmerksamkeit. Die Mannhei-mer Risikokinderstudie sieht einen engen Zu-sammenhang zwischen diesen grenzwertigen Resultaten einer Entwicklungsabklärung und

Teil A

Vorabklärung

Teil B Teil C

Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren

Erfassung des Entwick-lungsstandes

Teil D

Beurteilung des Unter-stützungsbedarfs sowie Empfehlung von kind- und/oder umfeldorien-tierter(n) Mass nahme(n)

Abb. 1: Schritte im Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder – FegK 0–6

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einer vorliegenden Risikobelastung (siehe Bur-gener, 2014, S. 21) (Abb. 2).

Teil C: Einschätzung der Risiko- und SchutzfaktorenIn einem unstrukturiert-strukturierten offenen Gespräch mit den Eltern resp. engen Bezugs-personen des Kindes wird die Risikobelastung beurteilt, die neben vorhandenden Risiko- auch die fehlenden Schutzfaktoren umfasst. Sie wird in einer «persönlichen Landkarte von Risiko- und Schutzfaktoren» abgebildet. Dieser Ansatz

Entwicklungsbereiche Verwendeter Test/Ergebnis Bewertung des Ergebnisses

auffällig grenz wertig unauf fällig

Kognition(u. a. mentale Funktionen, Lernen und Wissensan-wen dung sowie allgemeine Leistungsanforderungen)

:(Test) (Ergebnis)

❏ Die Ergebnisse wurden über-nommen und sind datiert vom

Motorik(u. a. Körperposition, -lage, Bewegung, Koordination, Grob- und Feinmotorik)

:(Test) (Ergebnis)

❏ Die Ergebnisse wurden über-nommen und sind datiert vom

Sozialverhalten(u. a. interpersonelle Inter-aktionen und Beziehungen)

:(Test) (Ergebnis)

❏ Die Ergebnisse wurden über-nommen und sind datiert vom

kindorientiert

4 personale Risiko faktoren

11 psychosoziale Risikofaktoren

4 personale Schutzfaktoren

7 psychosoziale Schutzfaktoren

Verminderung der Auswirkungen

von Risikofaktoren

Stärkung vonSchutzfaktoren

umfeldorientiert

Abb. 2: Bewertung der Ergebnisse der Entwicklungsabklärung in den Bereichen Kognition, Motorik und sozial- emotionales Verhalten

Abb. 3: Persönliche Landkarte als inhaltliches Bezugssystem von personalen und psychosozialen Risiko- und Schutzfaktoren

schliesst nicht nur eine Problemanalyse auf per-sonaler und Umweltseite in die Diagnostik mit ein, sondern fragt auch nach Ressourcen, über die eine Person und ihre Umwelt verfügen. Er erlaubt ein «Denken im Kreuz» und schafft da-mit ein inhaltliches Bezugssystem von Belastun-gen resp. Ressourcen einerseits, die sich ande-rerseits jeweils in personale bzw. psychosoziale Faktoren aufgliedern (Abb. 3).

Grundlage dieser Einschätzung bildet eben-falls die Mannheimer Risikokinderstudie. Die 26 Items sind mit eindeutigen Beurteilungskriterien

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und erklärenden Erläuterungen versehen, die wo möglich und erforderlich theoretisch resp. em-pirisch abgestützt sind. Ein derart operationali-sierter Gesprächsleitfaden erlaubt nicht nur eine umfassende, nachvollziehbare Einschätzung der Risikobelastung des Kindes und seiner Familie, sondern auch einen interdisziplinären Dialog. Im Rahmen der Erhebung von Risiko- und Schutz-faktoren wird den gesprächsführenden Perso-nen auch Mut gemacht, schwierige Themen, die «eh im Raum stehen», zu erfragen und damit – weil sie thematisiert werden – mit Blick auf die Entwicklung des Kindes und den Kontext der Fa-milie neue Perspektiven zu öffnen.

Teil D: Beurteilung des Unter-stützungsbedarfs: Synthese und MassnahmenempfehlungDie Ergebnisse der Entwicklungsabklärung wer-den in Verbindung gebracht mit der Risikobelas-tung. Es wird nach Wechselwirkungen zwischen den einzelnen vorhandenen Risikofaktoren und nach fehlenden Schutzfaktoren gefragt, aber auch danach, wie sich einzelne Faktoren bzw. ihre Kumulation auf die Entwicklung des Kindes auswirken. Auf der Grundlage dieser Synthese kann abgeleitet werden, ob ein Unterstützungs-bedarf vorliegt (Abb. 4).

Art und Schwerpunkt der unterstützenden Massnahme kann danach bestimmt und aus dem differenzierten Angebot an allgemeinen und spezialisierten Hilfen wohnortsnah ausge-wählt werden.

Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Unterstützungsbedarf im Sinne selektiver Prävention

Entwicklungsabweichung Entwicklungsgefährdung Kinder in Risikosituationen

– 2 SD – 1½ SD – 2 ⁄3 SD

– 2 SD – 1½ SD – 1 SD

Entwicklungsabweichung Entwicklungs-verzögerung

Entwicklung im Normbereich

Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Unterstützungs- bedarf im

Sinne indizierter Prävention

Kein Unter stützungsbedarf

mit

Ris

iko

bel

astu

ng

oh

ne

Ris

iko

bel

astu

ng

Mittelwert

In den acht nachfolgenden Beispielen wird auf-gezeigt, wie das gesamte Verfahren, teilweise auch nur der Gesprächsleitfaden, angewendet werden kann. Die Eltern haben ihr Einverständnis zur Publikation gegeben. Die Beispiele wurden anonymisiert, lediglich der Kanton wurde wie-dergegeben, um damit auf die ortsspezifischen Disparitäten in den Beispielen aufmerksam zu machen. In den jeweiligen Anwendungsbeispie-len sind Nummern zu finden. Diese verweisen darauf, dass die Autorinnen die Texte jeweils auf die gleiche Art strukturiert haben: (1) Beschrei-bung des Kindes, der Familie und des Auftrages, (2) Besondere Fragestellung und weshalb das Verfahren eingesetzt wurde, (3) Beschreibung der Herangehensweise, der Durchführung, der Ergebnisse, (4) Schlussfolgerungen, (5) Aussa-gen zum fachlich-persönlichen Gewinn, der aus der Arbeit mit dem Verfahren resultierte.

Im Anschluss an diese Anwendungsbeispiele werden allgemeine und spezifische Schlussfol-gerungen gezogen. Damit wird die Aufmerksam-keit auf die Vielfältigkeit des FegK 0–6 gelenkt. Ein Glossar mit spezifischen Begriffen, die in den einzelnen Texten verwendet werden, rundet die Publikation ab.

Hinweise zu den verwendeten Abklärungsinst-rumenten und Tests sind im Glossar zu finden. Im Text sind einzelne Risikofaktoren (RF) und Schutzfaktoren (SF) fett gedruckt. Es handelt sich in diesem Fall um Faktoren, die im Anwen-dungsbeispiel als relevant erhoben wurden. Die jeweiligen Nummern (z. B. SF1, RF20) entspre-

Abb. 4: Synthese von Entwicklungabklärung und Risikobelastung und davon abgeleiteter Unterstützungsbedarf

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chen den Risiko- und Schutzfaktoren des Ge-sprächsleitfadens. Sie sind im nächsten Kapitel in tabellarischer Übersicht zusammengefasst.

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Risiko- und Schutzfaktoren

Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren

Übertragung der Ergebnisse aus dem GesprächsleitfadenEin Eintrag (❏) erfolgt nur, falls ein Risiko- oder Schutzfaktor festgestellt wurde.

Hinweis: Die grösseren Kästchen weisen auf eine doppelte Gewichtung der Faktoren hin. Schutzfaktoren 20 (Bindung) und 21 (Beziehung zu einer Bezugsperson) sind in ihrer Verbindung besonders gewichtete Faktoren.

Vorhandene Risikofaktoren

Personale Risikofaktoren

Nr.

❏ Schwangerschaft 1

❏❏

Geburt ≤ 37. SSW und Geburtsgewicht ≤ 1500 g

Geburt ≤ 37. SSW und Geburtsgewicht ≥ 1500 g

2a

2b

❏ Gesundheitszustand in der Neugeborenenzeit

3

❏ Atmung und Sauerstoff -versorgung nach der Geburt

4

Vorhandene Risikofaktoren

Psychosoziale Risikofaktoren

Nr.

❏ Psychisches Befinden der Eltern

5

❏ Kinderwunsch 6

❏ Zeitpunkt der Elternschaft 7

❏ Familienkonstellation 8

❏ Ausbildung der Eltern 9

❏ Ereignisse aus der eigenen familiären Vergangenheit

10

❏ Einflüsse auf das heutige Familienleben

11

❏ Wohnsituation 12

❏ Unterstützung 13

❏ Stresserleben 14

❏ Partnerschaft 15

Nr. Personale Schutzfaktoren

Vorhandene Schutzfaktoren

16 Geschlecht des Kindes ❏

17 Intelligenz ❏

18 Sozialverhalten – soziale Kompetenz

19 Temperament ❏

Nr. Psychosoziale Schutzfaktoren

Vorhandene Schutzfaktoren

20 Bindung zum Kind ❏

21 Beziehung zu einer weiteren Bezugsperson

22 Freude im Kontakt und Spiel mit anderen Kindern

23 Bewältigungsstrategien ❏

24 Erziehungsklima ❏

25 Familiärer Zusammenhalt ❏

26 Soziales Netzwerk ❏

aus: Burgener Woeffray, A. (2014). Entwicklungsgefährdung früh erkennen. Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder von 0–6 Jahren: FegK 0–6. Protokollblatt. Bern: Edition SZH/CSPS.

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Ein klares Bild entsteht

Désirée Mena

1

Ardan ist vier Jahre alt und ein aufgeweckter, in-teressierter Junge. Er lebt mit seinen Eltern als Einzelkind in einer kleinen, zentral gelegenen Zweizimmerwohnung in einer Stadt im Kanton Zürich.

Vor vier Jahren flüchtete die Familie aus der Tür-kei in die Schweiz. Hier erhielt sie politisches Asyl. Zwei Monate nach der Ankunft der Fami-lie wurde Ardan geboren. In der ersten Zeit lebte die Familie in einer Asylunterkunft. Spielange-bote und gezielte Anregungen waren dort nur in geringem Ausmass vorhanden. Da die Eltern die deutsche Sprache noch nicht beherrschten, konnten sie Beratungsangebote nicht in An-spruch nehmen. Sie waren in Erziehungsfra-gen auf sich alleine gestellt. Als Ardan im drit-ten Lebensjahr war, fiel den Eltern auf, dass ihr Sohn seine Sprache nicht angemessen entwi-ckelte. Anlässlich von Kontrolluntersuchungen beim Kinderarzt brachte die Mutter ihre Sorgen um die Sprachentwicklung ihres Kindes an. Der Arzt stellte jedoch keine Auffälligkeiten fest. Die Mutter fühlte sich nicht ernst genommen und wechselte den Kinderarzt, der die Familie an eine logopädische Praxis verwies, welche im Frühbereich tätig war. Nach einer logopädischen Abklärung wurde für Ardan, der nun drei Jahre alt war, logopädische Förderung beantragt, die in der Folge zwei Mal wöchentlich stattfand. Dort zeigte er ein intensives Erkundungsverhal-ten. Nach einem Jahr Logopädie konnten kleine Fortschritte in der Sprachentwicklung festge-stellt werden. Ardan begann, über seinen Blick Kontakt aufzunehmen und die Zeigegeste ein-zusetzen. Im Spiel konnten in erster Linie funk-tionale Spielhandlungen beobachtet werden. Insgesamt nahm die Logopädin Ardans Verhal-ten als eher kleinkindlich wahr. Er folgte noch stark seinen Impulsen und war ablenkbar, so dass die Kommunikation bei alltäglichen Hand-lungen erschwert war. Deshalb wies die Logo-pädin in der Standortbestimmung dringend da-rauf hin, dass weitere Abklärungen zu Ardans allgemeiner Entwicklung vorgenommen werden müssten. So wurde er mit vier Jahren über die Fachstelle Sonderpädagogik des Kantons Zürich (siehe Glossar) für eine Entwicklungs- und Um-

feldabklärung der Heilpädagogischen Früherzie-hung (siehe Glossar) zugewiesen.

2

Im Rahmen der Abklärung fand vorerst ein Erst-gespräch mit der Mutter statt. Sie brachte ihre grosse Sorge um Ardans Sprachentwicklung erneut zum Ausdruck. Er spreche in der Mut-tersprache Türkisch wenige Worte und scheine wenig zu verstehen. Da Ardan im Spiel grosses Interesse an Spielmaterial zeigte und sich mit diesem intensiv auseinandersetzte, kam die Ver-mutung auf, dass er aufgrund der Lebenssitua-tion der Familie wenige entwicklungsfördernde Erfahrungen machen konnte. Gestützt auf bei-läufige Aussagen der Mutter während des Erst-gesprächs wurde eine Risikosituation im fami-liären Umfeld als mögliche Ursache für Ardans Verhalten angedacht. Deshalb sollten auch die Umweltfaktoren genauer betrachtet werden, die für Ardan und seine Familie eine Rolle spielten. So wurde mit der Mutter kurzfristig ein weite-rer Termin für die Durchführung des FegK 0–6 vereinbart.

3

Nach dem Erstgespräch wurden die Tests SON-R 2 ½-7 (siehe Glossar) und M-ABC 2 (siehe Glos-sar) durchgeführt. Ardans Ergebnisse lagen in beiden Testungen deutlich unter dem Normbe-reich. Im SON-R 2½–7 erreichte er einen IQ von 50. In der Testung M-ABC 2 lag der Gesamtwert zwei Standardabweichungen unter dem Norm-bereich (Abb. 5).

Zudem wurde Ardan im freien Spiel und in der Kindertagesstätte (KiTa) (siehe Glossar) beob-achtet. Im freien Spiel setzte er sich intensiv mit Knete auseinander und spielte ausdauernd mit der Brio-Eisenbahn, wobei er einfache symbo-lische Handlungen ausübte. In der KiTa spielte er mit anderen Kindern Lego. Dabei handelte es sich um ein Parallelspiel. In der geführten Se-quenz verfolgte Ardan aufmerksam die Lieder und ahmte die entsprechenden Gesten nach. Anhand der durchgeführten Tests und Beob-achtungen kann festgehalten werden, dass Ar-dan ein homogenes Entwicklungsprofil mit einer Entwicklungsverzögerung von einem Jahr zeigt.

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Das FegK 0–6 wurde mit der Mutter durchge-führt. Das Gespräch dauerte fünfundvierzig Mi-nuten und fand bei der Familie zu Hause statt. Da die Mutter Deutschkurse besucht hatte, wurde zum Übersetzen niemand hinzugezogen. Die Kommunikation erfolgte über Schlüsselwörter, Mimik und Gestik. Die Fragen wurden anhand des Gesprächsleitfadens der Reihe nach durch-gegangen.

Die Items aus Anamnese und Erfassung des Ent-wicklungsstandes konnten aufgrund der Test-resultate bereits vor dem Gespräch ausgefüllt werden. Ardan ist ein Junge (SF16) und weist im SON-R 2½–7 einen IQ von unter 115 auf (SF17). Beim Besuch der KiTa konnten seine Sozialkom-petenzen beurteilt werden. Er zeigt Freude und Interesse an anderen Kindern, besitzt jedoch keine besonders hohe Sozialkompetenz (SF18).

Als Erstes wurden mit der Mutter Themen rund um Schwangerschaft und Geburt angespro-chen. Während der Schwangerschaft erlebte die Mutter keine gesundheitlichen Schwierigkei-ten oder Komplikationen (RF1). Ardan wurde ter-mingerecht geboren und sein Geburtsgewicht

entsprach der Norm (RF2). Sein Gesundheitszu-stand in der Neugeborenenzeit war komplikati-onslos (RF3). Auch die Atmung und Sauerstoff-versorgung waren nach der Geburt unauffällig (RF4). Die Mutter litt nicht unter einer durch die Geburt ausgelösten psychischen Störung und keiner der beiden Elternteile ist derzeit we-gen einer psychischen Störung in Behandlung (RF5). Die Mutter erzählte, dass sie und ihr Mann nach Ardans Geburt viele Fragen in Bezug auf die Säuglingspflege gehabt hätten. Durch die Sprachbarriere seien sie jedoch auf sich alleine gestellt gewesen und hätten keine Hilfe hinzu-ziehen können. So badeten sie beispielsweise ihren Sohn in den ersten zwei Wochen nicht, da sie Angst hatten, dass sie etwas falsch machen könnten. Die Schwangerschaft war von den El-tern geplant, Ardan ist ein Wunschkind (RF6). Zum Zeitpunkt der Elternschaft waren die Eltern 34 Jahre alt und seit sechs Jahren verheiratet (RF7). Ardan ist ein Einzelkind (RF8).

Als Nächstes wurde über Themen rund um das Kind gesprochen. Die Mutter beschrieb Ardans Temperament als schwierig (SF19). Er zeigt eine sehr geringe Frustrationstoleranz, seine Ge-

Abb. 5: Resultate der Entwicklungsabklärung von Ardan

B: Erfassung des Entwicklungsstandes

Entwicklungsbereiche Verwendeter Test/Ergebnis Bewertung des Ergebnisses

auffällig grenz wertig unauf fällig

Kognition(u. a. mentale Funktionen, Lernen und Wissensan-wen dung sowie allgemeine Leistungsanforderungen)

:(Test) (Ergebnis)

❏ Die Ergebnisse wurden über-nommen und sind datiert vom

Motorik(u. a. Körperposition, -lage, Bewegung, Koordination, Grob- und Feinmotorik)

:(Test) (Ergebnis)

❏ Die Ergebnisse wurden über-nommen und sind datiert vom

Sozialverhalten(u. a. interpersonelle Inter-aktionen und Beziehungen)

:(Test) (Ergebnis)

❏ Die Ergebnisse wurden über-nommen und sind datiert vom

SON-R 50

M-ABC 2 –2 SD

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hemmtheit ist schwankend und seine Aktivität ist enorm hoch. Er kann zwar an einem Spiel dranbleiben, ist aber auch oft ablenkbar. Seine sensorische Empfindlichkeit und Rhythmizität in der Säuglingszeit schätzt die Mutter als unauf-fällig ein. Die Mutter scheint sich feinfühlig zu verhalten (SF20). Es gelingt ihr, die Signale ih-res Kindes wahrzunehmen und ihren emotiona-len Ausdruck angemessen anzupassen. Die ein-zigen Personen, zu denen Ardan ausserhalb der Familie Kontakt hat, sind die Kinder und die Er-wachsenen in der KiTa (SF21). Die Mutter schätzt die Beziehung jedoch noch nicht als stabil und vertrauensvoll ein, da ihr Sohn die KiTa erst seit kurzer Zeit besucht. Dort tritt er zu Gleichaltri-gen in eine Beziehung. Dieser Kontakt ist regel-mässig und es kann beobachtet werden, dass Ardan Freude und Interesse am Spiel mit ande-ren Kindern hat (SF22).

Auch die Fragen zu Themen rund um die fami-liäre Situation beantwortete die Mutter mit Of-fenheit. In der Türkei erreichte die Mutter einen Universitätsabschluss, der Vater hat keine Be-rufsausbildung (RF9). Nun arbeitet er im Gast-ronomiebereich und die Mutter ist als Hausfrau tätig. Gerne würde die Mutter wie in der Türkei als Journalistin tätig sein. In der Schweiz gibt es jedoch für sie keine Möglichkeiten, ihren Be-ruf weiter auszuüben. Ihre Tätigkeit als Journa-listin war auch der Grund, weshalb sie und ihr Mann aus der Türkei flüchten mussten und in der Schweiz politisches Asyl erhielten (RF11). Die Flucht veränderte einerseits das Umfeld der Fa-milie wesentlich, andererseits verringerte sich dadurch ihr Einkommen enorm. Diese Verände-rungen werden von der Mutter seit vier Jahren als extrem belastend wahrgenommen (RF14). So können sie sich die KiTa-Kosten nicht leis-ten und sind auf finanzielle Unterstützung ange-wiesen. Die bisherigen KiTa-Rechnungen konn-ten sie nicht begleichen. Die Mutter bedauert sehr, dass sie als Eltern aufgrund der finanziel-len Möglichkeiten ihrem Kind wenig bieten kön-nen. Für Spielsachen steht ihnen wenig Geld zur Verfügung. Hingegen ist sie der Meinung, dass der KiTa-Besuch für Ardan sehr bereichernd und entwicklungsfördernd ist. Es macht sie traurig, dass sie die dadurch entstandenen Kosten nicht bezahlen können. Die Wohnung ist kleiner als 50 Quadratmeter und wird von der Mutter als eng und zu klein wahrgenommen (RF12). Die Familie hat keinen Freundeskreis. Die Mutter fühlt sich wohl mit ihrer kleinen Familie (RF10), vermisst aber manchmal ihre Eltern und Geschwister, die

in der Türkei leben. Auf einer Skala von 0 bis 10, auf der sie den Grad ihrer Einsamkeit bewerten soll, gibt die Mutter eine 3 an (RF13). Sie fühlt sich von Fachstellen und dem Sozialamt wenig unterstützt. Ihr ausserfamiliäres Netzwerk ist sehr klein (SF26). Mit 3 Punkten bewertet sie ih-ren Alltag auf einer Skala von 0 bis 10 als stress-belastet, zumal sie auch durch die finanziellen Sorgen sehr gestresst ist (RF14). Mit einem Lä-cheln im Gesicht beschreibt die Mutter, dass sie sich in ihrer Partnerschaft sehr wohl fühle (RF15). In ihrer schwierigen Situation bemüht sich die Mutter bei entsprechenden Fachstellen um Unterstützung. Sie vereinbart Termine, um ihre Fragen und Sorgen ansprechen zu können. Dennoch möchte sie nicht immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein und nimmt dann teil-weise mögliche Unterstützung nicht in Anspruch (SF23). Aufgrund der sprachlichen Möglichkei-ten wurde die Frage zum Erziehungsklima weg-gelassen (SF24). Anhand der bisherigen Beob-achtungen wurde das Erziehungsklima nicht als Schutzfaktor eingeschätzt. Die Eltern sind sehr um Ardans Wohlergehen bemüht. Es scheint ih-nen wichtig zu sein, dass er zufrieden und glück-lich ist. Sie setzen ihm wenig Grenzen und sind wenig konsequent. Der familiäre Zusammenhalt wird von der Mutter mit 7 (von 10) Punkten be-wertet (SF25). Die Mutter erzählt, dass sie die gemeinsame freie Zeit zu Dritt sehr geniessen würden. Ihren Möglichkeiten entsprechend wür-den sie gemeinsam kleine Ausflüge und Spazier-gänge unternehmen. Mit ihrem Mann könne sie offen über alle ihre Sorgen reden und es werde gemeinsam nach Lösungen gesucht. Sie emp-findet diesen familiären Zusammenhalt als stär-kend.

4

Werden die Ergebnisse zusammenfassend in den Protokollbogen eingetragen, wird ersicht-lich, dass auf der Ebene des Kindes keine Risiko- und auch keine Schutzfaktoren vorhanden sind. Die psychosozialen Risikofaktoren überwiegen die bestehenden Schutzfaktoren, was auch in Anbetracht der Tatsache, dass die Familie sehr auf sich gestellt ist, als Risikobelastung einge-schätzt werden muss (Abb. 6).

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