Himmlers Schweizer Freund

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ZEITPUNKT www.bernerzeitung.ch Zeitung im Espace Mittelland Samstag, 15. August 2009 35 LANDARZT FRITZ THÖNEN, ZWEISIMMEN Fritz Thönen, imposanter Arzt aus Zwei- simmen, hatte Kontakte zur Führung Nazi- deutschlands. Erstmals ausgewertete Do- kumente zeigen nun: Er traf gar SS-Reichs- führer Heinrich Himmler und verhandelte mit ihm über den Freikauf von Juden. Wer sich noch an Thönen erinnert, hält es aber für zu simpel, ihn in die Naziecke zu stellen. In einem Brief aus dem Kriegs- jahr 1943 fand der Zweisimmner Landarzt und Bern-Burger Fritz Thönen lobende Worte für eine der obersten Führungsfiguren der Nationalsozialisten: «Mein Verhältnis zum Reichsführer SS Himmler beruht auf absoluter Anständigkeit und gegenseiti- gem Vertrauen. Der Mann ist ganz anders, als er immer wie- der geschildert wird.» Heinrich Himmler, Führer der Nazi- kampforganisation «Sturm- Staffel» (SS), war Herr über den Vernichtungsapparat, dem Mil- lionen Juden zum Opfer fielen. Nazifreund und Judenretter Dass der Dorfarzt Sympathien für die Nazis hegte, daran erin- nern sich ältere Zweisimmner bis heute. Und zwar so gut, dass sie auf Anfrage darüber ausführ- lich und kritisch oder lieber überhaupt nicht reden wollen. Das erlebte diese Zeitung bei ih- ren ausführlichen Recherchen, die nun erstmals ein umfassen- deres Bild von Thönens Naziver- bindungen liefern. Ein neu auf- gefundener Brief von 1956 (siehe Kasten) sowie Dokumente im Schweizer Bundesarchiv und im deutschen Auswärtigen Amt be- legen, dass der 1962 verstorbene Thönen als einer von wenigen Schweizern mit Himmler und anderen Nazi-Grössen persön- lich befreundet war und mit ih- nen gar über den Freikauf von Juden verhandelte. Thönen wurde 1889 in Wim- mis geboren, ging in Burgdorf aufs Gymnasium und studierte danach Medizin in Bern, Zürich und München. 1918 eröffnete der Spezialist für innere Krank- heiten eine Praxis in Zweisim- men, wo er auch als Spitalarzt tä- tig war. Einige seiner deutschen Studienfreunde wurden Nazis und schickten laut Thönens Akten im Bundesarchiv «erho- lungsbedürftige Kameraden» zu ihm in die Schweiz, da sie wussten, dass er Sympathie für ihre Sache hegte. Im ETH-Archiv für Zeitge- schichte befinden sich Thö- nens Briefe an Rudolf Grob, Pfarrer und Chef der Epilep- sie-Klinik in Zürich. Thö- nen legt darin seine anti- kommunistische Haltung offen und einen festen Glauben, dass nur die «tapferen» deutschen Na- tionalsozialisten auch die Schweiz vor der «roten Gefahr» des Kommunis- mus bewahren könnten. Erstaunlicherweise setzte sich Thönen bei seinen Nazifreunden dennoch für die Freilas- sung von Juden ein. Ein Judenfreund war er des- halb nicht. Noch 1949 verteidigte er vor ei- nem französischen Ge- richt den mit ihm be- freundeten SS-Gene- ral Carl Oberg, welcher wegen seiner Rolle bei der Deportation von 75 000 Juden in die Vernichtungslager «Schlächter von Pa- ris» genannt wurde. Schillernde Figur Der Nazifreund und Judenretter Thönen war eine schillernde Figur. Ein vollständiges Bild dieses radika- len Eidgenossen lässt sich aus den lückenhaften Akten und Zeugenaussagen kaum zeich- nen. Neben dem Glauben an die Rassentheorie und andere men- schenverachtende Haltungen, die aus den Akten hervorgehen, ist bei Thönen auch eine ausge- prägte soziale Ader zu erkennen. Ein pensionierter Lehrer, der nach Kriegsende in Boltigen unterrichtete und Thönen als Schularzt erlebte, erinnert sich an eine «imposante Persönlich- keit». Er beschreibt ihn als «Rübezahl»: breitschultrig und schalkhaft. «Er mochte es, wenn man ihn unterschätzte.» Thö- nens diagnostische Fähigkeiten seien weitherum bekannt gewe- sen. Der Lehrer erinnert sich an ein Handicap des Arztes: Er habe Blut nicht sehen können. Thönen habe eine «eigenwilli- ge Grosszügigkeit» ausgezeich- net. Mit Patienten, die an beson- deren Krankheiten litten, sei er, auch aus medizinischem Inte- resse, zu Spezialisten gereist und habe dann nie ein Honorar verlangt. «Er tat viel Gutes, woll- te aber auch seinen Spass ha- ben», erinnert sich der Lehrer. Die Karambolagen des schlech- ten Autofahrers Thönen wer- den unter älteren Zweisimm- nern noch heute herumgeboten. Der Berner Musiker Jakob Stämpfli, 75, der als Bub öfter im Zweisimmner Kinderheim «Güetli» weilte, beschreibt Thö- nen als «wortkargen und stren- gen Mann». Er vermutet, dass der Arzt bei ihm ein inexistentes Leiden diagnostiziert habe, um das Kinderheim besser auszu- lasten. Stämpfli erinnert sich, dass im Kinderheim von der Pro Juventute geschickte Kinder aus ärmeren Verhältnissen als zweit- klassig behandelt wurden. Ganz anders der Nachwuchs reicher Eltern wie etwa der Enkel des ita- lienischen Diktators Mussolini, der wohl durch Thönens Kon- takte ins Kinderheim gekom- men sei. Wie andere Zeitzeugen sagt Stämpfli, Thönen sei als Nazigauleiter von Bern im Ge- spräch gewesen, was sich in den Akten nicht erhärten lässt. Geistesverwandter Musy Thönen begann sein Kontakt- netz zu den Spitzen der Nazis vor Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 zu knüpfen. Gemäss seinen eigenen Aussagen in Un- terlagen der Bundesanwalt- schaft floh um 1925 Ernst Röhm, der Führer der NS-Kampf- organisation «Sturmabteilung» (SA), aus Deutschland und ver- steckte sich bei ihm in Zweisim- men. Durch ihn lernte der Ber- ner weitere prominente Nazis kennen. Am 30. Dezember 1930 erwiesen Röhm und Himmler gemäss Einvernahmeproto- kollen der Bundesanwaltschaft dem Zweisimmner Arzt sogar die Ehre, mit ihm im Zürcher No- belhotel Baur au Lac zu speisen. Bei Kriegsbeginn lernte Thö- nen im Sommer 1939 in Bad Lenk den 1934 abgetretenen Frei- burger CVP-Bundesrat Jean-Ma- rie Musy (1876–1952) kennen. Auch dieser hegte öffentlich Sympathien für die Nazis. Bei diesem Lenker Treffen, schrieb Thönen im Brief von 1956, habe man die «Judenfrage» bespro- chen, welche Musy beschäftigt habe. Als dieser vernahm, dass Thönen Himmler kenne, soll er ihn um einen Kontakt zum SS- Chef gebeten haben. Lukrativer «Judenhandel» Thönen und Musy sind in einem Zusammenhang zu sehen, der heute unter Forschern unbe- stritten ist: In den 1930er-Jahren war das Hauptziel der SS die Ver- Fortsetzung auf Seite 36 THÖNENS BRIEF VON 1956 Ein Auslöser für obigen Text ist ein neu aufgetauchter Brief Fritz Thönens vom 17. Novem- ber 1956, der in seinen Akten im Bundesarchiv fehlt. Der Zweisimmner Arzt beschreibt darin seine Kooperation mit dem nazifreundlichen alt Bun- desrat Jean-Marie Musy und sein brisantes Treffen mit SS- Führer Heinrich Himmler. Mit der Formel «wir halfen, wo wir nur konnten», versucht Thönen sich selbst und Musy im Schreiben nachträglich als Judenretter mit humanitären Motiven darzustellen. Thönen richtete seinen Brief an einen namentlich nicht ge- nannten «Herrn Professor», der einen Gedenkband für den 1952 gestorbenen Musy plante, in dem offenbar auch ein Bei- trag Thönens vorgesehen war. Eine Kopie des Briefs gelangte zu einer jüdischen Familie. Of- fenbar um zu belegen, dass Thönen kein Nazi, sondern bloss «deutschfreundlich» ge- wesen sei. se treibung der Juden und noch nicht deren Vernichtung. Für dieses Projekt brauchte sie auch die Hilfe wohlgesinnter Auslän- der. «Helfer» wie Musy konnten Geld verdienen mit einem «Ju- denhandel», wie die SS dieses Geschäft nannte. 1944 vermittel- te Musy im Auftrag einer jü- disch-orthodoxen Organisation in der Schweiz den Freikauf von 1200 ungarischen Juden aus dem Konzentrationslager Theresien- stadt. Dafür verhandelte Musy mit Himmler und dessen Ge- heimdienstchef Walter Schellen- berg. Gegen Bezahlung von Lö- segeldern liessen die Nazis die Juden in die Schweiz ausreisen. Die jüdische Organisation be- zahlte überdies Musy für dessen Dienste. Weder Musy noch Thönen können indes als klassische Ju- Himmlers Berner Vertrauter Neues Schlüsseldokument Heinrich Himmler, SS-Führer und Chef der Judenvernichtung. Fritz Thönen reist 1942 als Arzt an die Ostfront. Himmlers Mitleid: Der Chef der SS bedauert in seinem Brief vom 24. 7. 1940 an Fritz Thönen, wie die nazikri- tischen Schweizer den Zwei- simmer Arzt behandeln. Frédéric Gonseth/zvg Key zvg

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Fritz Thönen, imposanter Arzt aus Zweisimmen, hatte Kontakte zur Führung NS-Deutschlands. Erstmals ausgewertete Dokumente zeigen nun: Er traf gar SS-Reichsführer Heinrich Himmler und verhandelte mit ihm über den Freikauf von Juden.

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ZEITPUNKTwww.bernerzeitung.ch

Zeitung im Espace Mittelland

Samstag, 15. August 2009 35

L A N D A R Z T F R I T Z T H Ö N E N , Z W E I S I M M E N

Fritz Thönen, imposanter Arzt aus Zwei-simmen, hatte Kontakte zur Führung Nazi-deutschlands. Erstmals ausgewertete Do-kumente zeigen nun: Er traf gar SS-Reichs-führer Heinrich Himmler und verhandeltemit ihm über den Freikauf von Juden. Wersich noch an Thönen erinnert, hält es aberfür zu simpel, ihn in die Naziecke zu stellen.In einem Brief aus dem Kriegs-jahr 1943 fand der ZweisimmnerLandarzt und Bern-Burger FritzThönen lobende Worte für eineder obersten Führungsfigurender Nationalsozialisten: «MeinVerhältnis zum Reichsführer SSHimmler beruht auf absoluterAnständigkeit und gegenseiti-gem Vertrauen. Der Mann istganz anders, als er immer wie-der geschildert wird.» HeinrichHimmler, Führer der Nazi-kampforganisation «Sturm-Staffel» (SS), war Herr über denVernichtungsapparat, dem Mil-lionen Juden zum Opfer fielen.

Nazifreund und JudenretterDass der Dorfarzt Sympathienfür die Nazis hegte, daran erin-nern sich ältere Zweisimmnerbis heute. Und zwar so gut, dasssie auf Anfrage darüber ausführ-lich und kritisch oder lieberüberhaupt nicht reden wollen.Das erlebte diese Zeitung bei ih-ren ausführlichen Recherchen,die nun erstmals ein umfassen-deres Bild von Thönens Naziver-bindungen liefern. Ein neu auf-gefundener Brief von 1956 (sieheKasten) sowie Dokumente imSchweizer Bundesarchiv und imdeutschen Auswärtigen Amt be-legen, dass der 1962 verstorbeneThönen als einer von wenigenSchweizern mit Himmler undanderen Nazi-Grössen persön-lich befreundet war und mit ih-nen gar über den Freikauf vonJuden verhandelte.

Thönen wurde 1889 in Wim-mis geboren, ging in Burgdorfaufs Gymnasium und studiertedanach Medizin in Bern, Zürichund München. 1918 eröffneteder Spezialist für innere Krank-heiten eine Praxis in Zweisim-men, wo er auch als Spitalarzt tä-tig war. Einige seiner deutschenStudienfreunde wurden Nazisund schickten laut ThönensAkten im Bundesarchiv «erho-lungsbedürftige Kameraden» zu

ihm in die Schweiz, da siewussten, dass er Sympathiefür ihre Sache hegte.

Im ETH-Archiv für Zeitge-schichte befinden sich Thö-nens Briefe an Rudolf Grob,Pfarrer und Chef der Epilep-sie-Klinik in Zürich. Thö-nen legt darin seine anti-kommunistische Haltungoffen und einen festenGlauben, dass nur die«tapferen» deutschen Na-tionalsozialisten auch dieSchweiz vor der «rotenGefahr» des Kommunis-mus bewahren könnten.

Erstaunlicherweisesetzte sich Thönen beiseinen Nazifreundendennoch für die Freilas-sung von Juden ein. EinJudenfreund war er des-halb nicht. Noch 1949verteidigte er vor ei-nem französischen Ge-richt den mit ihm be-freundeten SS-Gene-ral Carl Oberg, welcherwegen seiner Rolle beider Deportation von75 000 Juden in dieVernichtungslager«Schlächter von Pa-ris» genannt wurde.

Schillernde FigurDer Nazifreund undJudenretter Thönenwar eine schillernde Figur. Einvollständiges Bild dieses radika-len Eidgenossen lässt sich ausden lückenhaften Akten undZeugenaussagen kaum zeich-nen. Neben dem Glauben an dieRassentheorie und andere men-schenverachtende Haltungen,die aus den Akten hervorgehen,ist bei Thönen auch eine ausge-prägte soziale Ader zu erkennen.

Ein pensionierter Lehrer, dernach Kriegsende in Boltigenunterrichtete und Thönen alsSchularzt erlebte, erinnert sichan eine «imposante Persönlich-

keit». Er beschreibt ihn als«Rübezahl»: breitschultrig undschalkhaft. «Er mochte es, wennman ihn unterschätzte.» Thö-nens diagnostische Fähigkeitenseien weitherum bekannt gewe-sen. Der Lehrer erinnert sich anein Handicap des Arztes: Er habeBlut nicht sehen können.

Thönen habe eine «eigenwilli-ge Grosszügigkeit» ausgezeich-net. Mit Patienten, die an beson-deren Krankheiten litten, sei er,auch aus medizinischem Inte-resse, zu Spezialisten gereistund habe dann nie ein Honorarverlangt. «Er tat viel Gutes, woll-te aber auch seinen Spass ha-ben», erinnert sich der Lehrer.Die Karambolagen des schlech-

ten Autofahrers Thönen wer-den unter älteren Zweisimm-nern noch heute herumgeboten.

Der Berner Musiker JakobStämpfli, 75, der als Bub öfterim Zweisimmner Kinderheim«Güetli» weilte, beschreibt Thö-nen als «wortkargen und stren-gen Mann». Er vermutet, dassder Arzt bei ihm ein inexistentesLeiden diagnostiziert habe, umdas Kinderheim besser auszu-lasten. Stämpfli erinnert sich,dass im Kinderheim von der ProJuventute geschickte Kinder ausärmeren Verhältnissen als zweit-klassig behandelt wurden. Ganzanders der Nachwuchs reicherEltern wie etwa der Enkel des ita-lienischen Diktators Mussolini,der wohl durch Thönens Kon-takte ins Kinderheim gekom-men sei. Wie andere Zeitzeugensagt Stämpfli, Thönen sei alsNazigauleiter von Bern im Ge-spräch gewesen, was sich in denAkten nicht erhärten lässt.

Geistesverwandter MusyThönen begann sein Kontakt-netz zu den Spitzen der Nazisvor Hitlers Machtergreifung imJanuar 1933 zu knüpfen. Gemässseinen eigenen Aussagen in Un-terlagen der Bundesanwalt-schaft floh um 1925 Ernst Röhm,

der Führer der NS-Kampf-organisation «Sturmabteilung»(SA), aus Deutschland und ver-steckte sich bei ihm in Zweisim-men. Durch ihn lernte der Ber-ner weitere prominente Naziskennen. Am 30. Dezember 1930erwiesen Röhm und Himmlergemäss Einvernahmeproto-kollen der Bundesanwaltschaftdem Zweisimmner Arzt sogardie Ehre, mit ihm im Zürcher No-belhotel Baur au Lac zu speisen.

Bei Kriegsbeginn lernte Thö-nen im Sommer 1939 in BadLenk den 1934 abgetretenen Frei-burger CVP-Bundesrat Jean-Ma-rie Musy (1876–1952) kennen.Auch dieser hegte öffentlichSympathien für die Nazis. Beidiesem Lenker Treffen, schriebThönen im Brief von 1956, habeman die «Judenfrage» bespro-chen, welche Musy beschäftigthabe. Als dieser vernahm, dassThönen Himmler kenne, soll erihn um einen Kontakt zum SS-Chef gebeten haben.

Lukrativer «Judenhandel»Thönen und Musy sind in einemZusammenhang zu sehen, derheute unter Forschern unbe-stritten ist: In den 1930er-Jahrenwar das Hauptziel der SS die Ver- Fortsetzung auf Seite 36

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Ein Auslöser für obigen Text istein neu aufgetauchter BriefFritz Thönens vom 17. Novem-ber 1956, der in seinen Aktenim Bundesarchiv fehlt. DerZweisimmner Arzt beschreibtdarin seine Kooperation mitdem nazifreundlichen alt Bun-desrat Jean-Marie Musy undsein brisantes Treffen mit SS-Führer Heinrich Himmler. Mitder Formel «wir halfen, wowir nur konnten», versuchtThönen sich selbst und Musyim Schreiben nachträglich als

Judenretter mit humanitärenMotiven darzustellen.Thönen richtete seinen Briefan einen namentlich nicht ge-nannten «Herrn Professor», dereinen Gedenkband für den1952 gestorbenen Musy plante,in dem offenbar auch ein Bei-trag Thönens vorgesehen war.Eine Kopie des Briefs gelangtezu einer jüdischen Familie. Of-fenbar um zu belegen, dassThönen kein Nazi, sondernbloss «deutschfreundlich» ge-wesen sei. se

treibung der Juden und nochnicht deren Vernichtung. Fürdieses Projekt brauchte sie auchdie Hilfe wohlgesinnter Auslän-der. «Helfer» wie Musy konntenGeld verdienen mit einem «Ju-denhandel», wie die SS diesesGeschäft nannte. 1944 vermittel-te Musy im Auftrag einer jü-disch-orthodoxen Organisationin der Schweiz den Freikauf von1200 ungarischen Juden aus demKonzentrationslager Theresien-stadt. Dafür verhandelte Musymit Himmler und dessen Ge-heimdienstchef Walter Schellen-berg. Gegen Bezahlung von Lö-segeldern liessen die Nazis dieJuden in die Schweiz ausreisen.Die jüdische Organisation be-zahlte überdies Musy für dessenDienste.

Weder Musy noch Thönenkönnen indes als klassische Ju-

Himmlers Berner Vertrauter

Neues Schlüsseldokument

Heinrich Himmler, SS-Führerund Chef der Judenvernichtung.

Fritz Thönen reist1942 als Arzt an die Ostfront.

Himmlers Mitleid: Der Chefder SS bedauert in seinemBrief vom 24. 7. 1940 anFritz Thönen, wie die nazikri-tischen Schweizer den Zwei-simmer Arzt behandeln.

Frédéric Gonseth/zvg

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SCHACH

Problem Nr. 533H. Hermanson (1954)

Weiss zieht und setzt in2 Zügen mattFragen an: Thomas Wälti, Berner Zei-tung BZ, Schach, Postfach 5434, 3001Bern; Fax 031 330 36 31; E-Mail:[email protected] Lösung des Problems erscheint inder nächsten Ausgabe.

Lösung Problem Nr. 532 mit

immer die richtige Lösung:

1. Td8! und Schwarz kann das Mattnicht verhindern. 1. ...Kd3 2. Sc5 matt.

Die schönste aller Frauen –zum Glück meine Verlobte –ist in Verwandtenkreisen da-für bekannt, dass sie denbesten Tarte Tatin der Weltmacht. Sie schickte mich inder Vergangenheit schondes Öftern eigens zu diesemZweck Äpfel kaufen.«Boskop und Gravensteinereignen sich am besten . . . »,gibt sie mir auch heute mitauf den Weg zum kleinenSupermarkt rechts über denfrisch geteerten Parkplatzhinter der Kirche, die aus-sieht wie ein umgestülptes,weiss bemaltes Wikinger-schiff, neben dem Spielplatz,dessen Rasen nie gemähtwird, zwischen den beidenLampengeschäften.Die Früchte- und Gemüse-auslage ist gross; es hat rote,gelbe und grüne Äpfel. Dameinem Isländisch noch derletzte Schliff fehlt und dieIsländer allem und jedem ei-nen eigenen Namen geben,kann ich die Apfelsortennicht erraten und nehmeden Dictionnaire zu Hilfe.Die roten Äpfel sind über-setzt mit «rote Äpfel» ange-schrieben, die gelben mit«gelbe Äpfel», und bei dengrünen steht «grüne Äpfel»auf dem Schild. Eine gewisseinhaltliche Logik ist den Is-ländern bei der Anwendungihrer eigenen Sprache nichtabzusprechen. Da Blau nichtangetreten ist, wähle ichGelb.Auf dem Heimweg schaueich im «Indian Mango» –dem besten indischen Res-taurant ausserhalb Indiens –vorbei, trinke einen Tee mitMr. Devendra Kumar, demindischen Botschafter, fragenach dem Gang der indi-schen Wirtschaft – es gehtihr gut; seit die Isländer keinGeld mehr haben, machenselbst die nicht mehr Ferienin Europa, sondern fliegengleich nach Goa – und lassemir Kochtipps für vegeta-rische Gerichte geben. Ichkenne in Reykjavík noch kei-nen einzigen Isländer, dafürsämtliche Inder.Da die schönste aller Frauenzu Hause auf die Äpfel war-tet, stehe ich auf, und derBotschafter sagt wie immer:«I will call you.» Wenn De-vendra Kumar jemandenmag, dann sagt er beim Ver-abschieden: «I will call you.»Er hat noch nie angerufen.Aber wenn man schon dieIsländer nicht versteht, wiesoll man dann die Inder ver-stehen, die hier wohnen?

Andreas Thiel

Andreas Thiel ([email protected]) ist Satiriker in Reyk-javík und in Zürich.

MONGOLISCHEEISENBAHN

Reykjavík fürAnfänger

denretter bezeichnet werden.Thönen gab laut den Akten deserwähnten Oberg-Prozesses von1949 in seiner Zeugenaussageselber zu, dass er «die Judennicht besonders liebe». Hinzukommt, dass sowohl der Zwei-simmner Arzt wie auch der altBundesrat 1940 der bald daraufverbotenen pronazistischen Na-tionalen Bewegung der Schweiz(NBS) angehörten. Dies zeigenNBS-Akten der Bundesanwalt-schaft.

Empfang bei HimmlerObwohl Musys Aktion von 1944von der Geschichtsforschungdurchleuchtet wurde, war bisherunbekannt, dass Fritz Thönendabei hinter den Kulissen agier-te und im Voraus bei den Nazi-spitzen das Terrain ebnete. Mu-sy sprach im Januar 1941 selberbei Himmler in Berlin vor, wur-de gemäss Thönen aber schroffabgewiesen.

Im Brief von 1956 berichteteThönen, wie er 1942 – im Rah-men der zweiten Schweizer Ärz-temission an die Ostfront inRussland – kurz vor Ostern ei-nen Abstecher nach Berlinmachte. Dort traf er im Führer-hauptquartier Himmler unddessen Stellvertreter ReinhardHeydrich. Wichtiges Thema derzweitägigen Zusammenkunftwar offenbar ein grosser Plan fürdie Auswanderung von Judenaus dem deutschen Reich.

Kurz nach der Wannsee-Kon-ferenz vom Januar 1942 also, anwelcher die «Endlösung der Ju-denfrage» – die industrielle Ver-nichtung der Juden – beschlos-sen worden war, traf sich die SS-Spitze mit dem Berner Sympa-thisanten, um die Emigrationvon Millionen von Juden zu dis-kutieren.

Dass Thönen sein Treffen mitHimmler nicht erfunden hat, be-zeugen Dokumente im Bundes-archiv und ein falsch geschriebe-ner Eintrag in Himmlers Dienst-kalender, der in Buchform publi-ziert ist. Am 2. und 3. April 1942ist dort der Besuch eines «Dr.Thoerner» vermerkt.

Eine Figur in Himmlers SpielWie kamen die SS-Grössen dazu,1942 einen Berner Landarzt extranach Berlin zu holen? Es ging of-fenbar um ein besonders wich-tiges «Judenprojekt». Thönenkönnte eine Rolle in einem teuf-lischen Spiel Himmlers zuge-dacht worden sein. Viele Histori-

ker sind der Meinung, dass dieSS-Führung nach der verlorenenSchlacht bei Stalingrad von 1943einen Sonderfrieden mit den Al-liierten anstrebte. Um diese Ge-spräche voranzutreiben, wurdenJuden als Druckmittel einge-setzt. Die SS drohte den Alliier-ten, die Juden mit industriellenMethoden auszulöschen, wennkeine Verhandlungen und Löse-geldzahlungen erfolgten.

Um zu signalisieren, dass dieErpressung wie auch das Ver-sprechen des Freikaufs ernst ge-meint waren, wurde nach Thö-nens Besuch die Freilassungeiniger Juden beschlossen. Thö-nen behauptete später – am Pro-zess gegen Carl Oberg und imBrief von 1956 – auf wenig glaub-würdige Weise, er habe sich beiHimmler aus humanitären Be-weggründen für Juden einge-setzt und die Interessen derSchweiz verteidigt.

Himmlers SonderfriedenDie Theorie, dass die SS diesenErpressungsplan noch vor Sta-lingrad 1943 einsetzte, wirddurch Bundesarchivsakten desSchweizer Geheimdienstmannsund früheren Berliner NZZ-Kor-respondenten Johann Meyer be-kräftigt. Dieser berichtete Ende1942: «Himmler sei damit be-schäftigt, Anschluss an dieführenden Oppositionellen inDeutschland und im Ausland zusuchen. Himmler sei zu diesemZwecke in Lissabon und in derSchweiz (Luzern) gewesen. InLuzern habe er einen gewissenErfolg gehabt. Himmler scheinedie Absicht zu haben, im gekom-menen Augenblick Hitler zu be-seitigen, um das Reich in or-dentliche Verhältnisse zurück-zuführen, mit Hilfe einer neuenund umgebauten SS.» Meyer er-wähnt auch die «heftige Reak-tion von England und USA aufden sog. Judenhandel».

Thönen war als Vermittler fürHimmler besonders gut geeig-net, weil der Zweisimmner Arztnicht nur dessen Vertrauen ge-noss, sondern auch über lang-jährige gute Beziehungen zumbritischen Minister LeopoldAmery verfügte, wie dies ausseinem Briefwechsel mit demZürcher Pfarrer Rudolf Grob her-vorgeht.

1939 setzte sich Thönen beiAmery für die Freilassung zweierdeutscher Bergsteiger ein, diezusammen mit Pfarrer GrobsBruder auf einer Himalaja-Expe-dition waren und in englischeGefangenschaft gerieten. Thö-

nens Magd berichtete gar übereinen Besuch des britischen Mi-nisters in Zweisimmen.

Unter DauerbeobachtungFür seine Haltung zahlte Thö-nen in der fast geschlossen anti-nazistisch gesinnten Schweizeinen Preis. Sein Dossier bei derBundesanwaltschaft zeigt, dasser unter Dauerbeobachtungstand. Sein Telefon wurde abge-hört. Regelmässig wurde er vonder Schweizer Militärjustiz ein-vernommen. Zu einem Prozesswegen Hochverrats kam es abernicht, auch wenn es im Bundes-archiv Hinweise gibt, dass derArzt antischweizerische Infor-mationen an die Nazis gelieferthatte.

Himmler brachte Thönen seinMitgefühl in einem Brief (sieheNachdruck vordere Seite) zumAusdruck, in dem er ihm am24. Juli 1940 schrieb: «Ich kannmir gut vorstellen, dass Sie esbei den Schwierigkeiten, die Ih-nen die ‹freundlichen› SchweizerVolksgenossen gemacht haben,nicht schön und leicht gehabthaben.» Thönen hatte offenbarAngst, den Brief des SS-Chefsbei sich aufzubewahren, undübergab ihn der deutschen Bot-schaft, weshalb sich dieser heu-te im Archiv des deutschen Aus-wärtigen Amts befindet.

Wessel-Lied in ZweisimmenBesorgte Bürger störten sich anAuftritten des mit Nazispitzenverkehrende Thönen. Das Ge-rücht machte 1938 die Runde,dass wegen Thönen in der Kin-derabteilung des BezirksspitalsZweisimmen das nazistischeHorst-Wessel-Lied gesungenwerde. Der Berner Professor Lud-wig musste sich aber wegen derVerbreitung dieser Behauptungbei Thönen entschuldigen. Die

bei Thönen 1938/1939 als Köchinbeschäftigte Kathrin Sturzen-egger sagte laut Akten der Bun-desanwaltschaft aus, dass derArzt nationalsozialistische Lie-der gesungen habe. So das«Horst-Wessel»-Lied oder«Deutschland über alles». Stur-zenegger behauptete überdies,an den Loggia-Wänden hättenPorträts von Hitler, Himmlerund Röhm gehangen.

Thönens WirtshausstreitAm 20. November 1939 wurdeThönen von einem Militärge-richt der öffentlichen Beschimp-fung für schuldig erklärt, began-gen am Freitag, 27. Oktober 1939,im Gasthaus «Bären» in Zwei-simmen. Im Restaurant entfach-te er eine heftige Diskussion,nachdem ein Gast Hitler dieHauptschuld am Kriegsaus-bruch gegeben hatte. Der Arztgriff nicht nur den Gast, sondernauch drei anwesende Soldatenim Aktivdienst an, die der glei-chen Meinung waren und fürHitler nichts übrig hatten.

Der aufgebrachte Thönen be-schimpfte die Soldaten, sie sei-en «schöne Vaterlandsverteidi-ger» und doch nur «Vaterlands-vertäfeler». Dafür bekam er dreiTage scharfen Arrest.

«Arzt kam vor Nazifreund»Heute sagt der Boltiger Lehrer,die politische Ausrichtung Thö-nens sei ihm nach dem Kriegnicht weiter aufgefallen. DerArzt sei eine «unabhängige Fi-gur» gewesen. Der 1958 geboreneMatthias Kurt, Touristiker an derLenk und parteiloser Grossrat,weiss aus Erzählungen seinerGrosseltern, dass Thönen pola-risierte, Freundschaften aberdennoch bewahrte, weil er Poli-tisches und Privates trennenkonnte.

Für Kurt ist rückblickend klar:«Thönen war als Arzt ein Ori-ginal und Spitzenklasse.» Wasman von Thönen in Zweisim-men bis heute halte, bringt Kurtauf eine kurze Formel: «Der Arztkam vor dem Nazifreund.»

Shraga Elam

Der Autor: Shraga Elam ([email protected]) ist israelischer Journalist inZürich.Mitarbeit: Stefan von Bergen, «Zeit-punkt»-Leiter.

Das Bild von Fritz Thönen auf der vorde-ren Seite stammt aus Frédéric GonsethsDokumentarfilm «Mission en enfer» (Mis-sion des Grauens) über die SchweizerÄrztemission an der Ostfront, (www.art-film.ch/missionenenfer.php). Als DVD er-hältlich: www.fgprod.ch.

Fortsetzung von Seite 35

Auf einmal müssen meineGspänli früher vom Ausgangheim. Ganz gesunde jungeMenschen bleiben nüchternund gehen um Mitternacht insBett. Weil: «Ich muss morgenum 6 aufstehen, wir macheneine Tour.»Diese Art Tour hat aber nichtsmit Rock'n'Roll zu tun. Nein:Plötzlich gehen alle wandern.Der neue Trendsport. Natur istnicht mehr doof und wäh, son-dern cool und real. Mal abschal-ten vom Job, mal gucken, wodas Biojoghurt herkommt, malvermantschte Sandwiches zumZmittag, mal saubere Luft.Okay, dann tschesé. Ich bleibunterdessen im kaputten 3007,weil mir fehlen für solche Unter-nehmungen Disziplin und Tat-kraft. Ich wandere dafür ab undzu vom Bett zum Grill, saugezwei Mal pro Woche eine Kaker-lake in den Staubsauger, ge-niesse das Grün meiner Zim-merpflanzen, ermorde im Geis-te die Krähen vor meinemSchlafzimmerfenster und grüs-se nachts den Fuchs, der in mei-nem Quartier Babys aufzieht.Das ist ja wohl mehr als genugNatur für ein Menschenleben.

Sarah Pfäffli (27, [email protected]) und Fabian Sommerschreiben hier abwechslungsweiseweiss auf schwarz, wos in ihrer Stadtecht brennt. Sie aus Bern, er aus Biel.

BERN, BABY, BURN

Jean-Marie Musy, altBundesrat und Nazisympathisant

Das alte Bezirksspital Zweisimmen (ganz rechts), in dem Fritz Thönen als Arzt wirkte.

Sarah Pfäffli

zvg/Archiv Gemeinde Zweisimmen

zvg